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Kirche und Kaiser in Antike und Spätantike

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Arbeiten zur
Kirchengeschichte

Begründet von
Karl Holl † und Hans Lietzmann †

Herausgegeben von
Christian Albrecht und Christoph Markschies

Band 136

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Kirche und Kaiser
in Antike und
Spätantike
Festschrift für Hanns Christof Brennecke
zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von
Uta Heil und Jörg Ulrich

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ISBN 978-3-11-052711-7
e-ISBN (PDF) 978-3-11-052791-9
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052720-9
ISSN 1861-5996

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Hanns Christof Brennecke (Foto: Birgit Henne)

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Inhalt
Vorwort   IX

Andreas Lindemann
Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen
Christentum   1

Winrich Löhr
Herrscher und Untertanen als Philosophen
Justin, Marcus Aurelius und philosophisch-politische Diskurse des zweiten
Jahrhunderts   44

Jörg Ulrich
Die Kaiser vor Gericht
Zur Umkehrung des Gerichtsszenarios in der „ersten Apologie“ Justins   61

Ferdinand R. Prostmeier
Die sogenannten Imperatoren in der Weltchronik des Theophilos von
Antiochia   89

Christoph Markschies
Politische Dimensionen des homöischen Bekenntnisses?
Oder: Ursacius und Valens in Sirmium 359 n. Chr.   111

Silke-Petra Bergjan
Athanasius von Alexandrien
Aristoteles-Lektüre im Nachgang zu den Synoden von Rimini und
Seleukia   131

Barbara Müller
Ruhe von Kirche und Kaiser?
Reflexionen zur monastischen Hesychia ausgehend von Athanasius,
Vita Antonii 85   153

Ekkehard Mühlenberg
Kirchenväter und kaiserliches Recht
Das Beispiel der Epistula canonica Gregors von Nyssa   179

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VIII   Inhalt

Adolf Martin Ritter


Konstantin – Theodosius – Justinian
Anmerkungen zum Bild dreier spätantiker Kaiser in der Darstellung Hermann
Dörries’   204

Uta Heil
Konstantin und Jerusalem
Theologische Architekturinterpretationen in neueren
Veröffentlichungen   225

Annette von Stockhausen


Der kommemorierte Kaiser
Das liturgische Gedenken an Theodosius den Großen   249

Thomas Graumann
Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   268

Volker Henning Drecoll


Leo an Pulcheria   305

Pauline Allen
Church and Emperor in the Letters of Hormisdas I, Bishop of Rome (514–523)
Conflict and Negotiation between East and West   320

Mischa Meier
Attila, ἐκ τοῦ γένους τῶν Γηπέδων
Literarische Beziehungen zwischen Johannes Malalas und Prokop?   337

Register   353

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Vorwort
Die Herausgeber freuen sich, vorliegende Festgabe aus Anlass des siebzigsten
Geburtstags von Hanns Christof Brennecke am 15. Februar 2017 vorlegen und
dem Jubilar überreichen zu können. Der Band enthält 15 Beiträge aus der Feder
wissenschaftlicher Weggefährten, Kollegen und Schüler des emeritierten Erlan­
ger Kirchenhistorikers. Sie orientieren sich thematisch an einem derjenigen Pro­
blemkreise, die seit jeher die wissenschaftliche Aufmerksamkeit von Hanns Chri­
stof Brennecke auf sich gezogen haben: am Verhältnis von Kirche und Theologie
einer­seits und der mit ihnen in vielfältiger, differenzierter Weise interagierenden
Staatsmacht andererseits. Da es sich durchweg um wissenschaftliche Beiträge
aus Antike und Spätantike handelt, bot sich als Titel für den Band die knappe,
eingängige Formulierung „Kirche und Kaiser“ an.
Die dargebotenen Aufsätze decken einen Zeitraum vom ersten bis zum
sechsten Jahrhundert ab. Sie nehmen den Osten wie den Westen des Imperium
Romanum und seiner Nachfolgestaaten in den Blick und erörtern das Thema
unter Rückgriff auf eine Vielfalt literarischer Gattungen. Inhaltlich lassen sie sich
wie folgt charakterisieren:
Andreas Lindemann, Bethel, untersucht die „Zinsgroschenperikope“ aus
Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühesten Christentum bis einschließlich Ori­
genes. Im Anschluss an Arbeiten des Jubilars, die von hier aus „eine grundsätz­
liche Akzeptanz des Staates und seiner irdischen Ordnungen“ erkennen, aller­
dings „bei aller Distanz, die diese Ordnungen als nur vorläufig ansehen kann“,
weist auch Lindemann darauf hin, dass nach Inhalt und Intention dieser Perikope
Gott und dem Kaiser zwar nicht die gleiche Würde zugesprochen werden darf,
dass „aber eine Tendenz, aus der notwendigen Unterscheidung von vornherein
einen diametralen Gegensatz abzuleiten, als hätte Jesus in der „Zinsgroschen­
perikope“ zum „Widerstand“ aufgerufen, […] weder die Überlieferungen in den
neutestamentlichen Evangelien noch deren frühe Auslegung erkennen“ lassen.
In Konfrontation mit dem „Kaiserkult“ wird die Perikope jedoch „zum eindeu­
tigen Beleg dafür, dass jede Form religiöser Verehrung des Kaisers für Christen
ausgeschlossen ist.“
Die Aufsätze von Winrich Löhr, Heidelberg, Jörg Ulrich, Halle, sowie von Fer­
dinand R. Prostmeier, Freiburg, befassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven
mit der Frage „Kirche und Kaiser“ in den Texten der frühchristlichen Apologeten.
Winrich Löhr untersucht, ausgehend von Justin und seiner an Antoninus Pius
und Marc Aurel gerichteten Apologie, das Idealbild des Philosophenkaisers, das
Justin ganz offensichtlich am Anfang seiner Apologie aufgreift, um eine Entkri­mi­
nalisierung des Christentums zu erreichen. Eine genaue Analyse der Aussage bei
Marc Aurel selbst indes zeigt, dass Justins Strategie wohlmöglich gar nicht verfan­

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X   Vorwort

gen konnte, denn „Evokation der stoisch umgedeuteten platonischen Utopie (…)
dürfte beim Kaiser auf Skepsis gestoßen sein“  – freilich kann andererseits das
Aufgreifen der zeitgenössischen Paideia- und Philosophia-Ideologie durch
Justin als veritabler Versuch gewertet werden, den politischen Eliten der Zeit die
Anschlussfähigkeit des Christentums an die gebildeten Kreise und die Loyalität
des Christentums gegenüber den Kaisern zu demonstrieren.
Jörg Ulrich macht in seinem Beitrag darauf aufmerksam, dass sich bei Justin
ein spezifisches literarisches Motiv findet, das so bei den anderen Apologeten des
zweiten Jahrhunderts (außer in wiederum eigentümlicher Weise bei Tertullian)
nicht vorkommt, nämlich die Umkehrung des Gerichtsszenarios. Während Justin
die Apologie in der Intention schreibt, den Gerichtsprozessen gegen die Christen
wegen des nomen ipsum ein Ende zu setzen, seine Glaubensgenossen also vor
der vor Gericht drohenden Verurteilung retten will, macht er zugleich – in poli­
tischer wie in eschatologischer Perspektive  – geltend, dass in Wahrheit es die
Kaiser selbst seien, die vor Gericht stehen: Diese müssen sich nämlich zuallererst
einmal des Selbstanspruchs, gerechte und fromme Herrscher zu sein, als würdig
erweisen; und zudem werden sie dereinst, wie alle anderen Menschen auch, vor
dem Gericht Gottes stehen, in dem Gott selbst das Urteil über sie sprechen wird.
Da das genannte Motiv an den prominenten Stellen der Apologie immer wieder
aufscheint, ist es offensichtlich, dass es für Justin einen hohen Stellenwert hat.
Ferdinand R.  Prostmeier schließlich untersucht die von Theophilos von
Antiochia gegen Ende des dritten Buches seiner Trilogie An Autolykos entworfene
erste christliche Weltchronik (Autol. III 16–29). Diese unternimmt offensichtlich
den Versuch, die Wahrheit der christlichen Lehre über die beiden Achsenthemen
des kaiserzeitlichen Diskurses über Religion, Gott und Rettung, zu erweisen. Die
Durchführung dieser Konzeption bei Theophilus hat dabei insofern noch einmal
eine besondere Pointe, als das Christentum sich nicht nur harmonisch in die
„Ereignisse“ der Chronik einfügt, sondern zugleich das Imperium Romanum und
seine sogenannten Imperatoren überflügelt, denn „im Christentum wird seinem
Selbstverständnis nach wie ebenso in seinem Selbstvollzug die Harmonie mit der
durch Gott seiner Schöpfung eingeschriebenen Ordnung offenbar.“
Mit den Aufsätzen von Christoph Markschies, Berlin, Silke-Petra Bergjan,
Zürich, und Barbara Müller, Hamburg, verlagert sich der Focus der Festschrift
vom zweiten ins vierte Jahrhundert. Christoph Markschies fragt nach der poli­
tischen Funktionalität der homöischen Theologie in der Mitte des vierten Jahr­
hunderts und entfaltet dies am „Testfall“ des Wirkens der „Hofbischöfe“ auf der
Synode von Sirmium 359 n. Chr. Wenngleich man angesichts der Unsicherheiten
der Überlieferung und des tendenziellen Charakters der Quellen die präzise Rolle
von Valens und Ursacius nicht mehr ganz wird aufhellen können, so lässt sich
doch ein Zusammenhang zwischen Synode und Bekenntnis einerseits und dem

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Vorwort   XI

kaiserlichen Anliegen andererseits ausmachen, das auf eine Lösung zielte, die
eine möglichst große Zahl von Menschen unter einer programmatischen Formu­
lierung einen sollte – so wie es ja auch den (religions)politischen Traditionen im
Imperium Romanum entsprach. Gegenstand der Untersuchungen von Silke-Petra
Bergjan und Barbara Müller sind jeweils Texte des Athanasius von Alexandrien,
dessen Leben und Werk im Œuvre des Jubilars eine herausragende Rolle spielt.
Silke-Petra Bergjan macht auf die Rolle der Aristoteles-Lektüre und namentlich
der Rezeption der Kategorienschrift des Aristoteles für die späten Texte des Atha­
nasius aufmerksam, besonders im Nachgang zu den Synoden von Rimini und
Seleukia. „Ähnlich“, so Athanasius in seiner Polemik gegen die homöische Theo­
logie, kann über ein Wesen nicht ausgesagt werden, weil von Wesen, ob es sich
um die erste Substanz oder auch die Art oder zweite Substanz handelt, kein Mehr
oder Weniger ausgesagt werden kann. „Ähnlich“ kann sich lediglich auf Formen
und Eigenschaften beziehen. Dann aber ist der Begriff für eine Bestimmung der
Wesenheit Gottes ungeeignet. Dieses Hauptargument für die Ablehnung der
homöischen Lehre durch Athanasius ist aristotelisch geprägt.
Der Aufsatz von Barbara Müller handelt ebenfalls über Athanasius und ana­
lysiert das berühmte 85. Kapitel der Vita Antonii. Im Fokus steht dabei insbeson­
dere der Begriff der ἡσυχία. Dieser gemeinhin als zentraler spiritueller terminus
technicus des frühen Anachoretentums geltende Begriff dürfte allerdings, so die
These Müllers, „bei den frühen ägyptischen Wüstenvätern primär die Angabe
ihres äußeren Wohnortes“ meinen und „frühestens in der zweiten Hälfte des
5. Jahrhunderts zum allgemeinen spirituellen Konzept der kontemplativen Ruhe“
geworden sein. Konsequenterweise sei ἡσυχία in frühmonastischen Quellen
schlicht mit Ruhe zu übersetzen. Bereits „Herzensruhe“ oder gar „Sitzruhe“ sind
demgegenüber Interpretationen, wenn nicht gar mittelalterliche Rückprojektio­
nen, „die an einzelnen Stellen zutreffen mögen, insgesamt jedoch nicht ange­
messen sind“.
Einen Schritt in den Bereich der Kanones und kanonistischen Sammlungen
hinein bietet Ekkehard Mühlenberg, Göttingen. Er setzt ein mit einer Analyse der
Epistula canonica Gregors von Nyssa. Mühlenberg untersucht sowohl das der Epi-
stula inhärierende Konzept als auch die Spuren ihrer Überlieferung in den kano­
nistischen Sammlungen. In diesem Zusammenhang kann er auch auf Anhänge
mit kaiserlicher Gesetzgebung aufmerksam machen und auf Spuren ihrer Rezep­
tion im Nomocanon XIV titulorum verweisen, der „zur Bekräftigung der kanoni­
schen Strafen die entsprechende Kaisergesetzgebung bei den auch zivilen Ver­
gehen anführ(t).“ Fragt man, wie sich die schmerzliche Seelenerziehung in der
Buße zu den körperlichen Strafen der zivilen Gesetzgebung verhält, dann scheint
es so zu sein, dass Gregor „bei der Bußdisziplin die zivilen Strafen gar nicht im
Blick hat, sondern die Bußdisziplin völlig eigenständig denkt“.

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XII   Vorwort

Adolf Martin Ritter, Heidelberg, hat „Anmerkungen“ zu den Bildern dreier


spätantiker Kaiser zusammengestellt: Konstantin, Theodosius und Justinian.
Dabei knüpft er ganz bewusst an die Darstellung dieser Kaiser in den Konstan­
tinbüchern von Heinrich Dörries an, um die neuere Diskussion zu allen drei
Herrscherpersönlichkeiten in den Blick zu nehmen. Ritter zeigt, ganz in der Linie
der Forschungen des Jubilars Brennecke, dass polarisierende Deutungsmodelle
(Okzident versus Orient, Ambrosius von Mailand versus Euseb von Caesarea,
Gelasius I. versus Justinian I.) in die Irre führen. So ist etwa über die Frage nach
Befürwortung oder Ablehnung staatlicher Intervention von Seiten kirchlicher
Amtsträger kaum Grundsätzliches zu sagen – sie hängt vielmehr im je konkreten
Fall schlicht von der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung der eigenen
Position mit der jeweiligen kaiserlichen ab.
Mit Kaiser Konstantin befasst sich Uta Heil, Wien, und reflektiert in ihrem
Beitrag verschiedene theologische Deutungen der kaiserlichen Bauten in Jeru­
salem (Grabeskirche, Eleonakirche) und Bethlehem (Geburtskirche) als „Jesu­
anismus“; „Glaubensbekenntnis in Stein“, Beweis der leiblichen Auferstehung
oder als Symbol für die Einheit der Kirche. Hinter diesen Interpretationen stehen
jedoch anachronistische, irreführende oder problematische Assoziationen, die
nicht für Konstantins Impuls zu diesen Kirchenbauten vorauszusetzen sind. Sie
weist eine Über-Theologisierung des kaiserlichen Bauprogramms zurück, für
das auch nicht der Jerusalemer Bischof verantwortlich gemacht werden könne.
Ihr eigenes Verständnis stellt sie anhand der Grabeskirche vor, die wohl am Ort
der Erinnerung an Golgata errichtet wurde. Allenfalls das gefundene Grab bei
Golgata als Beweis für die Wahrheit und den Sieg des Christentums könne als
theologische Gedankengut herangezogen werden, wofür Heil Referenzen aus den
Schriften Konstantins vorlegt.
Der Aufsatz von Annette von Stockhausen, Erlangen, beschäftigt sich mit
dem Phänomen der bei Theodosius nachweisbaren und weit über die übliche
Kaiserpanegyrik hinausgehenden liturgischen Kommemoration. Der früheste
Beleg hierfür ist das alte Jerusalemer Lektionar/Typikon. Von Stockhausen arbei­
tet die vielfältigen Elemente und Themen dieser Kommemoration in Konstanti­
nopel, Jerusalem und Antiochia heraus. In einem Ausblick wirft sie die (freilich
vom Befund der Quellen her nicht eindeutig zu beantwortende) Fragen nach der
impliziten Botschaft solcher Kommemorationen für die Zeitgenossen und nach
der Bedeutung der erhobenen Befunde für unser Verständnis des Verhältnisses
von Kirche und Staat bzw. Kirche und Kaiser auf.
Thomas Graumann, Cambridge, bietet einen Beitrag zur Religionspolitik des
Theodosius, in dem er Dokumente und Briefe analysiert, die aus der kaiser­lichen
Kanzlei an die verschiedenen Beteiligten der christologischen Kontroversen
geschickt wurden. Die leitende Fragestellung ist die nach der kaiserlichen Selbst­

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Vorwort   XIII

repräsentation in diesen Texten. Es zeigt sich, dass die hier erkennbare verbale
Selbstinszenierung kaiserlicher Herrschaft und Verantwortung gegenüber der
Kirche durchaus auf ein dialogisches Verhältnis abzielt, das Resonanzen mit den
kulturellen Wertesystemen der Adressaten ansprechen und erzeugen soll. Der
Kaiser kann und will sich „nicht autokratisch über kirchliches Selbstbewusst­
sein hinwegsetzen, sondern muss [das] beanspruchte[...] Eigenrecht theologisch-
sachlicher Entscheidungsfindung respektieren.“
Ebenfalls in den Zusammenhang des christologischen Streites und der
späten Theodosiuszeit gehört der Beitrag von Volker Henning Drecoll, Tübin­
gen, der sich eine Analyse des ersten Briefes Papst Leos an die Kaiserin Pulche­
ria angelegen sein lässt. Dessen lateinische Kurzversion (ep. 30) erweist sich als
gekürzte Fassung der Langversion (ep. 31), die aufgrund inhaltlicher wie histori­
scher Gründe mit Leo und den Ereignissen des Jahres 449 in Verbindung gebracht
werden kann. Für den Briefwechsel Leos mit Pulcheria insgesamt bedeutet dies,
dass Leos ep. 45 die eigentliche Eröffnung der Korrespondenz mit Pulcheria ist,
zusammen mit ep. 30. Auch wenn ep. 31 Pulcheria vielleicht nie erreichte, kon­
vergieren die von Leo geltend gemachten Punkte mit den Interessen der Pulcheria
und führten dazu, „dass nach 449 Flavian rehabilitiert, Eutyches verurteilt und
der Tomus Leonis zur kaiserlich erwünschten Grundlage der neuen Lehrerklä­
rung wurde.“
Die letzten beiden Beiträge von Pauline Allen, Bisbane, und Mischa Meier,
Tübingen, führen das Thema des Bandes in eine Epoche hinaus, die ebenfalls
seit langer Zeit das Forschungsinteresse des Jubilars auf sich gezogen hat: in die
Zeit der so genannten germanischen Völkerwanderungsreiche im Westen und
der Blüte des byzantinischen Reiches im Osten. Allen untersucht das Verhältnis
von Kirche und Kaiser anhand der Briefkorrespondenz des römischen Bischofs
Hormisdas mit dem Kaiser Justinian in Konstantinopel. Es zeigt sich, dass ein­
schlägige Dualisierungen, die seit Berkhofs Buch „Kirche und Kaiser“ Einzug in
die wissenschaftliche Diskussion gehalten haben (der Westen gilt als praktisch,
tatkräftig, aktiv; der Osten demgegenüber als denkend, meditativ, spekulativ) für
die nachchalcedonensische Zeit so nicht zu halten sind; die Korrespondenz des
Hormisdas könnte geradezu als Gegenbeispiel hierzu aufgerufen werden. Pas­
sender scheint es zu sein, die Aufmerksamkeit auf die Zwei-Gewalten-Theorie des
Gelasius im Westen und auf Justinians Unterscheidung von Priesterschaft und
Kaisertum im Osten zu lenken, die – so unterschiedlich sie gelagert sind – doch
das Eine gemeinsam haben, dass sie weder für den Westen noch für den Osten
eine Trennung beider Gewalten ins Auge fassten.
Mischa Meier, Tübingen, nimmt sich schließlich in seinem Beitrag der Gemein­
samkeiten und Differenzen zwischen dem Alarich-Kapitel des byzantinischen
Chronisten Johannes Malalas und Prokops episodischer Geschichte der Visigoten

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XIV   Vorwort

an. Es lässt sich hier im Ergebnis einerseits ein eigenständiger literarisch-chro­


nistischer Gestaltungswille des Johannes Malalas erkennen, andererseits aber
auch ein gewisses Desinteresse des Ostens an nicht allzu lang zurückliegenden
Ereignissen im Westen ablesen – was darauf hindeutet, dass „irgendwann zwi­
schen Attilas Gallienzug 451 und der Entstehung der Malalas-Chronik im 6. Jahr­
hundert die Kohärenz des einen, Orient und Okzident umspannenden Imperium
Romanum auch jenseits der politischen Ebene verloren“ gegangen war.

Die Herausgeber freuen sich darüber, dass mit dem Band „Kirche und Kaiser“ ein
bunter Reigen und zugleich eine inhaltlich kohärente Sammlung von Studien ent­
standen ist, die sich bewusst in den Fahrwassern der von Hanns Christof Brenne­
cke immer wieder engagiert bearbeiteten Themen bewegt und die zugleich, dem
Anliegen des Jubilars entsprechend, deren Erforschung weiter vorantreibt. Es
zeigt sich in allen Aufsätzen deutlich, dass ein solches Vorantreiben ohne Rück­
bezug auf die vielfältigen Beiträge, die Hanns Christof Brennecke zu den ein­
schlägigen Fragestellungen vorgelegt hat, nicht geschehen kann. So tragen sich
die Herausgeber mit der begründeten Hoffnung, dass bei der Lektüre des Bandes
zweierlei deutlich werde: Erstens, im welchem Maße die Arbeiten von Hanns
Christof Brennecke Grundlage jeder patristischen Wissenschaft unserer Tage
geworden sind; und zweitens, welch befruchtende Wirkung sie beim Fortgang
dieser Wissenschaft entfalten.
Dem Verlag De Gruyter, insbesondere Karin Mittmann und Stefan Selbmann,
sowie den Herausgebern der Reihe „Arbeiten zur Kirchengeschichte“, Christian
Albrecht und Christoph Markschies, sei herzlich gedankt für die Aufnahme der
Festschrift in ihr Programm! Zum Schluss gebührt noch ein herzliches Danke­
schön den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die an den beiden Fakultäten mit­
geholfen haben, die Manuskripte druckfertig zu machen: Elisa-Victoria Blum,
Franziska Grave, Annemarie Niemann und Malina Teepe in Halle sowie Johannes
Blüher, Michaela Durst, Antje Klein und Leopold Potyka in Wien!

Dass der Jubilar selbst am Fortgang dieser Wissenschaft noch lange aktiv betei­
ligt sein möge, das wünschen ihm die Herausgeber und die Beitragenden dieses
Bandes von Herzen: Ad multos annos! Xρόνια πολλά.

Uta Heil (Wien)


Jörg Ulrich (Halle)

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Andreas Lindemann
Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17
und ihre Auslegung im frühen Christentum
Im Jahre 1942 schrieb Martin Dibelius, dass das in Mk 12,13–17 parr. erzählte
Gespräch über die Steuerzahlung den Christen, „recht verstanden, eine Weisung
für ihr Verhalten zum Staat hätte sein können“. Es gehe hier nämlich nicht
darum, „ob das jüdische Volk außer Gott noch einen irdischen Herrscher ertra-
gen könne“ oder „ob man dem Staat überhaupt Steuern zu zahlen habe“; das
Thema sei vielmehr konkret die von der heidnischen Staatsmacht angeordnete
Kopfsteuer und die sich daraus ergebende „brennende Frage, ob ein frommer
Jude diese Art Steuer zu zahlen habe“. Jesu Antwort sei „ironisch gemeint“, wie
„leicht zu sehen“ sei: Jesus sage, dass „bei der kommenden Weltverwandlung“
auch die kaiserliche Steuerforderung ihr Ende finden werde, dass aber bis dahin
die Steuer gezahlt werden müsse; zugleich verweise Jesus die Juden, die nicht
nach Gott gefragt hatten, „auf die Forderung, die allen anderen übergeordnet ist:
gebt Gott, was sein ist!“ Damit ziele seine Weisung „auf interimistische, eschato-
logisch bedingte Pflichterfüllung“.1 Die Auslegung der Szene in der Alten Kirche
sei dann jedoch einen anderen Weg gegangen: Indem Papyrus Egerton 2 und der
Apologet Justin aus der Erzählung den Befehl ableiten, „die Steuerpflicht vorbe-
haltlos zu erfüllen“, sei „die eschatologische Bedingtheit alles Verhaltens in der
Welt […] vergessen“, und es werde stattdessen „die christliche Pflicht der Loya-
lität“ betont.2 Hanns Christof Brennecke betont aber, schon die in Mk 12,13–17
erzählte Geschichte selber zeige die „eindeutige Bejahung des Staates als noch
notwendiger irdischer Ordnung in der Welt, sogar des Imperium Romanum als
Besatzungsmacht in Judäa“.3

1 M. Dibelius, Rom und die Christen im ersten Jahrhundert, in: id., Botschaft und Geschichte.
Gesammelte Aufsätze 2, hg. von G. Bornkamm, Tübingen 1956, 177–228 (177–178).
2 Dibelius (wie Anm. 1), 180. Es würde sich lohnen, auch die Textauslegungen von Exegeten zu
beachten, die dem NS-Staat nahe standen; aber das wäre ein eigenes Thema.
3 H. C. Brennecke, „An fidelis ad militiam converti possit“? [Tertullian, de idololatria 19,1] Früh-
christliches Bekenntnis und Militärdienst im Widerspruch?, in: id., Ecclesia est in re publica.
Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte im Kontext des Imperium Romanum, hg. von
U. Heil/A. von Stockhausen/J. Ulrich (AKG 100), Berlin 2007, 179–232 (182). Brennecke untersucht
die Frage, ob in frühchristlicher Zeit das Bekenntnis und der Dienst im römischen Militär im Wi-
derspruch zueinander standen, und er kommt zu dem Ergebnis, dass aus den Evangelien „kein
eindeutiger Schluß auf Jesu Stellung zu Militär und Militärdienst“ abzuleiten sei.

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2   Andreas Lindemann

Im Folgenden soll in vier Abschnitten gefragt werden, welches Verhältnis


zur staatlichen Ordnung in Mk 12,13–17 sowie in den unmittelbar literarisch
daran anknüpfenden Fassungen dieser Perikope zu erkennen ist,4 und welche
Tendenzen sich in der Auslegung der Perikope in der frühchristlichen Literatur
abzeichnen:5 Am Anfang (1.) steht die Exegese von Mk 12,13–17; es folgt (2.) die
Auslegung der im MtEv und im LkEv6 sowie im Papyrus Egerton 2 und im Thomas­
evangelium überlieferten Textfassungen.7 Dann werden (3.) Texte von Autoren
des 2. und des frühen 3. Jahrhunderts untersucht, die sich auf die „Zinsgro-
schenperikope“ beziehen oder diese sogar mehr oder weniger ausführlich kom-
mentieren. Abschließend wird (4.) gefragt, ob sich in der Rezeption dieser Peri-
kope in der frühen Kirche eine bestimmte Entwicklung der Auslegung erkennen
lässt.8

4 Knappe Hinweise zu den in der neueren Forschung vorgeschlagenen und diskutierten Ausle-
gungen gibt D.-A. Koch, Die Kontroverse über die Steuer (Mt 22,15–22/Mk 12,13–17/Lk 20,20–26),
in: G. Van Belle/J. Verheyden (eds.), Christ and the Emperor. The Gospel Evidence (BToSt 20),
Leuven 2014, 203–228 (204–206). Vgl. J. D.M. Derrett, Law in the New Testament, London 1970,
313–314: Die Überlieferung werfe große Probleme auf, was bedauerlich sei „as there is no passage
in the New Testament which has so much to teach us about law“.
5 Vgl. dazu die Studie von P. C. Bori, „Date a Cesare quel che è di Cesare […]“ (Mt 22,21). Linee di
storia dell’interpretatione antica, in: CrSt 7 (1986) 451–464, sowie N. Förster, Jesus und die Steu-
erfrage. Die Zinsgroschenperikope auf dem religiösen und politischen Hintergrund ihrer Zeit, mit
einer Edition von Pseudo-Hieronymus, De haeresibus Judaeorum (WUNT 294), Tübingen 2012.
6 Einen knappen synoptischen Vergleich bietet Förster (wie Anm. 5), 9–19. Zur Frage der Über-
einstimmungen („minor agreements“) zwischen Mt und Lk gegen den Mk-Text vgl. A. Ennulat,
Die „Minor Agreements“. Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems
(WUNT 2/62), Tübingen 1994, 269–273. Die Frage, ob alle Abweichungen des Lk- bzw. Mt-Textes
von Mk als jeweils „redaktionell“ anzusehen sind oder sich einer frühen Mk-Bearbeitung verdan-
ken könnten, soll im Folgenden nicht diskutiert werden.
7 Sollte die These richtig sein, dass das JohEv die synoptischen Evangelien kennt, so wäre zu
fragen, warum dort die Szene Mk 12,13–17 parr. ersatzlos entfallen ist.
8 Vgl. W. Schneemelcher, Kirche und Staat im Neuen Testament, in: K. Aland/W. Schneemelcher
(Hgg.), Kirche und Staat. FS Hermann Kunst, Berlin 1967, 1–18; K. Aland, Kirche und Staat in
der alten Christenheit, in: Aland/Schneemelcher (Hgg.) , Kirche und Staat, 19–49; id., Das Ver-
hältnis von Kirche und Staat in der Frühzeit in: ANRW 2/23.1 (1979), 60–246. Knappe Verweise
auf die Rezeptions- und „Wirkungsgeschichte“ der Überlieferung gibt es in den Kommentaren
zu den Evangelien häufig. Eine zusammenfassende thematische Erörterung findet sich selten;
vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25) (EKK 1/3), Düsseldorf 1997, 254 (Anm. 13):
„Eine Auslegungsgeschichte des Textes fehlt leider.“ In der Auslegung im 19. und im 20. Jahrhun-
dert spiegeln sich oft aktuelle kirchliche und nicht zuletzt politische Entwicklungen; vgl. etwa
M. Bünker, „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!“ – Aber: Was ist des Kaisers?, in: Kairos 29
(1987), 85–98 (85–86). J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband Mk 8,27–16,20 (EKK
2/2), Zürich 1979, 154 schreibt: „Selten ist im Lauf der Auslegungsgeschichte der Perikope die Nu-

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 Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   3

1 Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17


Die in Mk 12,13–17 erzählte Szene, in der Jesus auf die ihm gestellte Frage nach
dem census für den Kaiser antwortet,9 steht im Zusammenhang der Schilderung
des Geschehens nach der in Mk 11,15–17 erzählten Vertreibung der Händler und
Geldwechsler aus dem Tempel(vorhof).10 Die Schriftgelehrten und die ἀρχιερεῖς,
die von Jesu Aktion hören, beraten darüber, wie sie Jesus vernichten können
(Mk 11,18a; vgl. 3,6); da sie aber Jesu Popularität fürchten (11,18b), können er und
seine Jünger Jerusalem am Abend unbehelligt verlassen (11,19). Als sie am nächs-
ten Tag wieder in den Tempel gehen (11,27a),11 fragen die in 11,18 genannten Auto-
ritäten sowie die πρεσβύτεροι nach Jesu Vollmacht für sein Handeln (11, 27b.28),
worauf Jesus aber lediglich mit einer Gegenfrage antwortet (11,29–33). Die unmit-
telbar folgende Gleichnisrede (ἤρξατο αὐτοῖς ἐν παραβολαῖς λαλεῖν [12,1a]) aber
lässt sich als eine indirekte Antwort verstehen: Jesus erzählt die dramatische
Geschichte des Konflikts zwischen einem ἄνθρωπος und den von ihm zur Bebau-
ung seines Weinbergs beauftragten γεωργοί, die die Zahlung der Pacht unter
Anwendung von Gewalt verweigern und schließlich sogar seinen Sohn töten,
um den Weinberg an sich zu bringen (12,8), wofür der Eigentümer dann Rache
nehmen wird (12,9). In 12,10–11 sagt Jesus durch das anschließend außerhalb der
im Gleichnis erzählten Handlung angefügte biblische Zitat (Ps 117,22–23 LXX),
dass der „Stein, den die Bauleute verworfen haben“, also der ermordete Sohn
des κύριος τοῦ ἀμπελῶνος, zum „Eckstein“ geworden sei. Da erkennen (12,12) die
Hörer, dass sich die παραβολή gegen sie gerichtet hatte; doch aus Furcht vor dem
ὄχλος verzichten sie auf eine Aktion gegen Jesus, verlassen ihn und „gehen weg“
(ἀφέντες αὐτὸν ἀπῆλθον [12,12]).

ancierung und Brisanz des Wortes Jesu gesehen und herausgestellt worden. Vielleicht erschien
dies zu gefährlich.“
9 Ausführlich zu dieser Perikope U. Mell, Die „anderen“ Winzer. Eine exegetische Studie zur
Vollmacht Jesu Christi nach Markus 11,27–12,34 (WUNT 77), Tübingen 1994, 193–197.205–266, vor
allem zum sozialgeschichtlichen Hintergrund, worauf im vorliegenden Aufsatz nicht näher ein-
gegangen werden soll.
10 Vgl. dazu A. Lindemann, „… und trieb alle aus dem Tempel hinaus“ (Joh 2,15). Gewalt und
Gewaltlosigkeit im Jesusbild der Evangelien, in: id., Glauben, Handeln, Verstehen, Studien zur
Auslegung des Neuen Testaments 2 (WUNT 282), Tübingen 2011, 194–225.
11 Der am Tag zuvor von Jesus verfluchte Feigenbaum (Mk 11,12–14) ist jetzt verdorrt (11,20–25),
offenbar ein symbolisch auf das Schicksal Jerusalems vorausverweisendes Geschehen.

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4   Andreas Lindemann

Aber sie haben ihre Pläne nicht aufgegeben, denn sie schicken „einige der
Pharisäer und der Herodianer“ zu ihm (12,13a).12 Der Erzähler notiert sofort ihre
Absicht, ihn „durch ein Wort“ zu „fangen“ (ἵνα αὐτὸν ἀγρεύσωσιν λόγῳ, 12,13b);
sie erweisen sich damit von vornherein als Gegner Jesu, auch wenn sie das
Gespräch mit einer ausführlichen captatio benevolentiae eröffnen (12,14a). Sie
sprechen Jesus als διδάσκαλος an,13 der stets wahrhaftig (ἀληθὴς εἶ) und objek-
tiv sei (καὶ οὐ μέλει σοι περὶ οὐδενός οὐ γὰρ βλέπεις εἰς πρόσωπον ἀνθρώπων)
und „in Wahrheit“ (ἐπ’ ἀληθείας) den Weg Gottes lehre (12,14b); aber die Hörer
bzw. Leser des Textes wissen durch 12,13b natürlich, dass die so Redenden an
Jesu διδάσκειν gar nicht interessiert sind und dass die doppelte Frage in 12,14c
nur zum Schein gestellt wird. Zuerst fragen sie grundsätzlich, ob es erlaubt oder
nicht erlaubt ist, dem Kaiser die als κῆνσος bezeichnete Steuer zu zahlen (ἔξεστιν
δοῦναι κῆνσον Καίσαρι ἢ οὔ;), dann aber geht es um „unser“ Verhalten (δῶμεν ἢ
μὴ δῶμεν;), und dabei kann sich das „wir“ auf die Fragenden oder allgemein auf
die Juden beziehen, Jesus eingeschlossen.
Dass es hinsichtlich der Zahlung des census zur Zeit Jesu, also auf der Ebene
der erzählten Welt, ein Problem gab, ist vorausgesetzt; den Lesern müssen dazu
keine näheren Informationen gegeben werden, denn die Fragestellung war
auch ihnen zu ihrer Zeit verständlich.14 Das im MkEv nur hier begegnende Wort
Καῖσαρ (Caesar) meint entweder den regierenden, nicht mit Namen genannten
Kaiser,15 oder es bezieht sich auf den sonst im NT auch mit dem Wort βασιλεύς

12 Zur Rolle der Herodianer vgl. Förster (wie Anm. 5), 145–152. Die Verbindung der beiden auf
Jesu Vernichtung zielenden Gruppen war schon im Anschluss an die beiden Sabbatkonflikte
(Mk 2,23–3,5) erwähnt worden (3,6), so dass sie hier nicht erstaunt.
13 Im Mund von Gegnern bzw. Kritikern Jesu begegnet diese Anrede nur hier und in der nächs-
ten Szene (Mk 12,19) sowie am Ende des Gesprächs über „das erste aller Gebote“ (12,32).
14 Dass die Frage zumindest in Judäa alles andere als irrelevant war, zeigt der im Jahre 6 n. Chr.
durch Judas Galiläus initiierte Versuch der Steuerverweigerung (Josephus, Antiquitates Judai­
cae 18,3). Ausführlich über die römische Praxis der Steuererhebung informiert W. Stenger, „Gebt
dem Kaiser, was des Kaisers ist …!“ Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zur Besteuerung
Palästinas in neutestamentlicher Zeit (BBB 68), Frankfurt/M. 1988, 129–146. Er betont die hohen
materiellen und vor allem auch die ideellen Belastungen, die mit der Steuer im römischen Pa-
lästina verbunden waren; inwieweit in Mk 12,13–17 diese Perspektive beim Erzähler und bei den
Adressaten (und bei den in der Erzählung handelnden Personen!) vorausgesetzt ist, kann man
fragen. Vgl. zu den „historischen Rahmenbedingungen“ Koch (wie Anm. 4), 206–217 (mit Münz-
abbildungen).
15 Explizite Hinweise auf den Namen eines regierenden Kaisers gibt es nur bei Lukas: Lk 2,1;
3,1; Apg 11,28.

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 Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   5

bezeichneten Rang.16 Das Lehnwort κῆνσος bezeichnet sehr genau „the Roman
census, a tax upon agricultural yield (tributum soli) and personal property (tribu­
tum capitis). The tributum capitis was collected through census, or registration
(Lk 2.1–5; Acts 5.37), and probably amounted to one denarius a year.“17 Eigentlich
hätte es genügt, nur vom κῆνσος zu sprechen, aber offenbar soll ausdrücklich
die Person genannt werden, die diesen κῆνσος erhält. Die zuerst gestellte grund-
sätzlich formulierte Frage (ἔξεστιν δοῦναι κτλ.) bezieht sich natürlich nicht auf
die staatlich gegebene Rechtslage, sondern auf die Tora (vgl. τὴν ὁδὸν τοῦ θεοῦ
διδάσκεις): „The question that will be raised in vv. 14–15 concerns what is ‚per-
mitted‘ or ‚lawful‘ (ἔξεστιν) and thus the interpretation of the Law“.18 Die Frage
ist so formuliert, als würden die Fragenden nicht nur Jesu Meinung erkunden
wollen, sondern seine Antwort als verbindlich akzeptieren. Dieser Aspekt wird
durch die dann „persönlich“ formulierte Wiederholung der Frage (δῶμεν κτλ.)
unterstrichen.
In 12,15a sagt der Erzähler, Jesus habe die „Heuchelei“ (ὑπόκρισις) der Fra-
genden erkannt.19 Jesus stellt dementsprechend zuerst die rhetorische Frage τί με
πειράζετε; (12,15b)20, und dann fordert er die Fragesteller auf: „Bringt mir einen
Denar, damit ich ihn sehe“ (12,15c). Diese Aufforderung wird in der Exegese unter-
schiedlich gedeutet: Soll hier gesagt werden, dass Jesus selbst kein (römisches)
Geld besitzt?21 Oder will er seinerseits die Fragenden „versuchen“ und als Heuch-
ler erweisen, indem er sie auffordert, ihm ein Geldstück zu bringen, dessen Besitz
im Tempelbereich nicht erlaubt war?22 Aber dass der Besitz einer solchen Münze
im Tempelbereich unzulässig gewesen wäre, geht aus dem Text nicht hervor; es
ist auch ganz unwahrscheinlich, denn schon die Rolle der Wechsler setzt eine

16 In Mk 13,9 spricht Jesus in der apokalyptischen Rede vom „Stehen“ der Jünger ἐπὶ ἡγεμόνων
καὶ βασιλέων, wobei die βασιλεῖς generell irdische Herrscher sind, die Caesaren eingeschlossen.
17 W. D. Davies/D. C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel According to
Saint Matthew 3. Commentary on Matthew XIX–XXVIII, Edinburgh 1997, 214.
18 A. Yarbro Collins, Mark: A Commentary, Minneapolis 2007, 556.
19 ὑπόκρισις im MkEv nur hier, ὑποκριτής nur in Mk 7,6 gegen „die Pharisäer und einige der
Schriftgelehrten, die aus Jerusalem gekommen waren“ (7,1).
20 In Mk 8,11 schreibt der Erzähler, die Pharisäer hätten von Jesus ein „Zeichen vom Himmel“
gefordert, πειράζοντες αὐτόν, also in der Absicht, ihn zu einer falschen Handlungs- oder Rede-
weise zu verleiten; ebenso 10,2.
21 So u.  a. Bünker (wie Anm. 8), 95.
22 So D. Lührmann, Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987, 202: „Mk berücksichtigt
dabei nicht die angenommene Situation im Jerusalemer Heiligtum, wo ja gerade derartige Mün-
zen nicht zugelassen waren, sondern eingewechselt werden mußten.“

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6   Andreas Lindemann

andere Praxis voraus.23 William D. Davies und Dale C. Allison folgern aus 12,15b,
dass „evidently Jesus and his followers have no money on them, or at least not
the right type of coin“.24
Als die Münze gebracht wird (12,16a), fragt Jesus, was sie zeigt. Matthias
Konradt meint, damit werde den Fragenden der Vorwurf gemacht, dass sie
solches Geld im Tempel bei sich tragen,25 und überdies werde „aufgedeckt […],
dass die Gegner selbst Steuern zahlen“.26 Bärbel Bosenius verweist auf „die Dop-
pelfunktion antiker Münzen: zum einen als Zahlungsmittel, zum anderen als
Propagandainstrument“; ging es in der an Jesus gerichteten Frage um die Zah-
lungsfunktion des Geldes, so beziehe sich die Antwort „in erster Linie auf die
Propagandafunktion“. Aber lässt der Text die unterschiedliche Interpretation der
Münze so eindeutig erkennen?27 Bosenius meint, da der (Silber-)Denar in Judäa
nicht häufig gebraucht wurde, sei es nicht erstaunlich, dass Jesus eine solche
Münze nicht besaß; die Fragenden hingegen würden „visuell und haptisch ihrer

23 Die Ablehnung von Kaiserbildern im Tempel bedeutete für die Besucher sicherlich nicht,
dass sie mitgebrachte und nicht für den Kauf der Opfergaben benötigte Münzen vor Betreten des
Tempelareals irgendwo zu deponieren oder umzutauschen hatten. Im Übrigen trugen die für die
Opfergaben im Tempel verwendeten Münzen das Bild des tyrischen Stadtgottes Melkart.
24 So Davies/Allison (wie Anm. 17), 215.
25 So M. Konradt, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015, 345 zu der insoweit
unveränderten Mt-Parallele. Ähnlich Davies/Allison (wie Anm. 17), 215: Jesu Gegner „have no
qualms about using pagan money – and even bring a coin with the emperor’s image and blas-
phemous inscription into the holy precincts of the temple.“
26 So aber Konradt (wie Anm. 25), ebd. Vgl. Luz (wie Anm. 8), 258: Es geht nicht darum, dass
sie das Bilderverbot übertreten hatten, denn ihre Münze wird „im Tempelvorhof, wo die Buden
der Geldwechsler standen, nicht die einzige gewesen sein“. Aber „dadurch, daß sie eine solche
‚Steuermünze‘ besitzen, zeigen sie, daß sie selbst Steuern bezahlen und die Frage, die sie Jesus
stellen, für sich selbst längst entschieden haben.“ Die Pointe sei, „daß sie eine Münze benut-
zen, die mit politischen und religiösen Symbolen der Macht des römischen Kaisers versehen ist“
und dass sie damit „dessen Machtanspruch längst anerkannt haben“. Richtig aber Koch (wie
Anm. 4), 220: Der Besitz eines einzelnen Denars belegt nicht, dass man die Steuern auch tat-
sächlich bezahlt hat.
27 Umfassende Information bietet S. Alkier, „Geld“ im Neuen Testament – Der Beitrag der Nu-
mismatik zu einer Enzyklopädie des Frühen Christentums, in: id./J. Zangenberg (Hgg.), Zeichen
aus Text und Stein. Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments (TANZ 42),
Tübingen 2003, 308–335. Alkier verweist darauf, dass die Münzinschrift auch die Bezeichnung
des Kaisers als divi filius enthielt; Markus habe darin eine Konkurrenz zum εὐαγγέλιον gesehen,
das gemäß Mk 1,1 von Jesus als dem Sohn Gottes spricht. Im Übrigen habe der Evangelist be-
wusst auf die Nennung eines (Kaiser-)Namens verzichtet, so dass „viele Lesegenerationen […]
ihre Erfahrungen mit den politischen und religiösen Botschaften der jeweiligen Kaiser und ihrer
Münzen in den Text einlesen“ konnten (330).

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 Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   7

Heuchelei“ überführt, weil sie eine solche Münze sofort vorweisen konnten.28
Dietrich-Alex Koch dagegen meint, die Szene ziele nicht darauf ab, die Fragestel-
ler dadurch als unglaubwürdig zu entlarven, dass ihnen implizit vorgeworfen
wird, sie selber hätten ihre Frage längst mit „Ja“ beantwortet.29 Die Aufforderung
φέρετε (12,15b) und die Feststellung ἤνεγκαν (12,16a) deutet tatsächlich eher an,
dass die Fragenden eine solche Münze nicht sofort zur Hand hatten, sondern dass
sie erst gebracht werden musste.30 Adela Yarbro Collins meint, im Hintergrund
stehe „an incident in the life of the historical Jesus“; auch Mk und seine Adressa-
ten „were sufficiently familiar with the denarius to know that Roman taxes were
calculated in terms of denarii“, und man wusste, dass die Münze die εἰκών und
die ἐπιγραφή des Kaisers trug.31 Auch wenn das vermutlich zutrifft, so ist doch
zu beachten, dass der Text selber den Lesern/Hörern die entsprechende Infor-
mation vermittelt – sowohl durch die von Jesus in V. 16a gestellte (rhetorische)
Frage τίνος ἡ εἰκὼν αὕτη καὶ ἡ ἐπιγραφή; wie auch durch die in V. 16b gegebene
Antwort: Καίσαρος. Dass alle Beteiligten die Münze kennen, dürfte vorausgesetzt
sein; indem der Denar gleichwohl explizit beschrieben wird, soll er „sichtbar“ in
die erzählte Handlung eingeführt werden.
Jesus reagiert (12,17a) mit einer an die Fragenden gerichteten (εἶπεν αὐτοῖς)
doppelten Weisung: τὰ Καίσαρος ἀπόδοτε Καίσαρι καὶ τὰ τοῦ θεοῦ τῷ θεῷ. Das
im MkEv nur hier belegte Verb ἀποδιδόναι meint nicht, die Fragenden hätten das
Geld vom Kaiser erhalten und müssten es ihm also zurückgeben32, sondern durch
ἀποδιδόναι wird die Wendung δοῦναι κῆνσον variiert.33

28 B. Bosenius, Der literarische Raum des Markusevangeliums (WMANT 140), Neukirchen-


Vluyn 2014, 380–381.
29 Koch (wie Anm. 4), 220 (mit Zitat von K. Wengst). Diese Auslegung auch bei W. Weiß, „Eine
neue Lehre in Vollmacht“. Die Streit- und Schulgespräche des Markus-Evangeliums (BZNW 52),
Berlin 1989, 214 und bei Alkier (wie Anm. 27), 328: Die Fragesteller werden „vom Erzähler als
von vornherein im Bunde mit der römischen Besatzungsmacht markiert“. Dagegen Koch (wie
Anm. 4), ebd.: „Die Scheinheiligkeit der Fragesteller besteht nicht im Besitz des Denars, sondern
in der Absicht, die hinter ihrer Fragestellung steht.“
30 Liest man die Szene genau, so könnte der Denar sogar geliehen sein – vom Besitz des Geld-
stücks ist nicht gesprochen.
31 Yarbro Collins (wie Anm. 18), 554.
32 So W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukir-
chen-Vluyn 22008, 387: „Er appelliert an die Leute, die mit dem Denar mit den Zeichen des kai-
serlichen Herrschaftsanspruchs Eigentum des Kaisers bei sich tragen, sich davon zu trennen und
die Münze dem Kaiser zurück[zu]erstatten.“
33 M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 653–654 betont „die semantische
Unschärfe“ des Verbs ἀποδιδόναι, das sich auf die Steuerzahlung beziehe, aber „auch ganz all-
gemein den Verpflichtungscharakter des Gebens akzentuieren“ kann. Durch das Simplex διδόναι

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8   Andreas Lindemann

Der erste Teil der von Jesus gegebenen Antwort besagt, dass der Kaiser im
Sinne der in 12,14 gestellten Frage tatsächlich Anspruch auf das durch den Denar
symbolisierte Geld hat.34 Der zweite Teil der Antwort geht aber über die gestellte
Frage hinaus: „(Gebt) Gott, was Gottes ist“, wobei die Aufforderung ἀπόδοτε nicht
explizit wiederholt wird, aber natürlich mitzulesen ist. Wie ist der Verweis auf τὰ
τοῦ θεοῦ zu verstehen? Wird der vorangegangene Verweis auf τὰ Καίσαρος fak-
tisch aufgehoben, handelt es sich also nicht um zwei parallele Aussagen, sondern
um eine Alternative? Oder wird entsprechend der Regel des Achter­gewichts die
erste Aussage durch die zweite zumindest eingeschränkt? Oder stehen beide
Aussagen so nebeneinander, dass zwar eine Unterscheidung ausgesagt wird,
nicht aber eine Hierarchie beider Bereiche? Bosenius sieht einen antithetischen
Parallelismus: Jesus „dissoziiert also Kaiser und Gott – wohingegen im antiken
Herrscherkult Kaiser und Gott gleichgesetzt werden“; folglich liege „eine Demon-
tage des imperialistischen Herrscher-Verständnisses“ vor, denn „für Jesus gibt es
nur einen Gott, und der ist nicht mit dem römischen Kaiser identisch“.35 Wenn
in der Frage ἔξεστιν κτλ. die Tora im Blick ist, dann fällt auf, dass Jesus in seiner
Antwort darauf indirekt Bezug nimmt, insofern in seinem Hinweis auf Gott das
Erste Gebot des Dekalogs anklingt. Aber die Szene lässt nicht erkennen, dass Jesu
Gesprächspartner gemeint haben könnten, dass der Kaiser womöglich als Gott-
heit zu verehren sei; ein solcher Gedanke braucht nicht einmal zurückgewiesen
zu werden.
Stefan Schreiber meint, die Steuerfrage sei für Jesus ein „brisantes Politi-
kum seiner Zeit“ gewesen. Die „symbolische Valenz“ der Überlieferung belege,
„dass dabei die Legitimation der römischen Herrschaft überhaupt infrage steht“;
es gehe um den Konflikt zwischen der Herrschaft Gottes und der Macht Roms,
„und unausgesprochen steht die Frage nach bewaffnetem Widerstand im Hinter-
grund“. Jesus spreche in 12,17 „aus der Perspektive der beherrschten jüdischen
Bevölkerung“, und dabei nehme er eine „subtile Differenzierung“ vor zwischen
dem, was dem Kaiser, und dem, was Gott zukommt: Auf der Oberfläche werde die
Steuerzahlung befürwortet, doch unter der Oberfläche werden „kritische Töne
laut: Was bleibt noch für den Kaiser im Angesicht Gottes?“ Jesu basileia-Verkün-

könnte das Missverständnis aufkommen, man müsse „das Geld [dem Cäsar] geben [sc. und
nichts behalten].“
34 Bünker (wie Anm. 8), 95: Das Verb ἀποδιδόναι impliziert die Aufforderung zur Umkehr, womit
immer auch Besitzverzicht verbunden ist. „In der Steuerfrage steckt also auch die Frage nach der
Stellung zu Systemen von Geld und Gewalt. Jesus ruft seine Gegner auf, ihre Kollaboration mit
den Römern aufzugeben, dem Kaiser mit der Münze sein ganzes Steuersystem und seinen Unter-
drückungsapparat zurückzugeben und sich damit vom Geld-Gewalt System befreien zu lassen.“
35 Bosenius (wie Anm. 28), 383.

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 Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   9

digung impliziere „die völlige Entmachtung der Mächtigen“, und eben darum sei
es „möglich, die unumgängliche Steuer zu bezahlen, ohne die eigene Identität
preiszugeben“.36
Doch diese Erwägungen gehen über das im Text Gesagte hinaus: Die Aus-
sagen über den Kaiser und über Gott stehen nebeneinander, wobei der zweiten
Aussage natürlich das entscheidende Gewicht zukommt, insofern der Anspruch
Gottes über dem des Kaisers steht; aber dem Kaiser wird dennoch zugestanden,
dass er legitimerweise Steuern einzieht. Die Szene hatte für das MkEv und dessen
Adressaten also wahrscheinlich „the effect of dissociating Jesus and his followers
from the program of the Zealots“.37 Jesu Antwort entspricht der Forderung, gegen-
über der staatlichen Macht loyal zu sein, wie sie auch in jüdischer Weisheitslitera-
tur begegnet.38 Jesus steht also nicht auf der Seite derer, die den census ablehnen,
und zugleich wird indirekt auch der römische Staat „als gegeben hingenommen“.39
„Das ist zwar noch keine umfassende Aussage über das Verhältnis von Religion
und Staat überhaupt, ist aber in der damaligen Konfliktlage eine eindeutige Stel-
lungnahme und impliziert immerhin eine Absage an jedes Theokratiemodell.“40
Die Frage, ob der Kaiser über den κῆνσος hinaus möglicherweise weitere Forde-
rungen stellt, die ebenfalls erfüllt oder aber verweigert werden müssten, ist nicht
im Blick.41 In 12,17b notiert der Erzähler nur noch knapp, dass sich die Fragenden
über Jesus „gewundert“ hätten, wobei das Imperfekt (ἐξεθαύμαζον) offenbar ein

36 S. Schreiber, Der politische Jesus. Die Jesusbewegung zwischen Gottesherrschaft und Impe-
rium Romanum, in: MThZ 64 (2013) 174–194 (184–185). Schreiber folgert daraus eine „Gegen-
Gesellschaft um Jesus“ (185–189).
37 Yarbro Collins (wie Anm. 18), 555. Die Frage, ob Pred 8,2–3 LXX im Hintergrund steht (στόμα
βασιλέως φύλαξον καὶ περὶ λόγου ὅρκου θεοῦ μὴ σπουδάσῃς ἀπὸ προσώπου αὐτοῦ πορεύσῃ μὴ
στῇς ἐν λόγῳ πονηρῷ ὅτι πᾶν, ὃ ἐὰν θελήσῃ, ποιήσει), lässt sich nicht beantworten, zumal un-
klar ist, wie diese Mahnung zu interpretieren ist.
38 Vgl. Spr 24,21 LXX: φοβοῦ τὸν θεὸν, υἱὲ, καὶ βασιλέα καὶ μηθετέρῳ αὐτῶν ἀπειθήσῃς. Der heb-
räische Text in der Übers. von L. Zunz: „Fürchte den Ewigen [JHWH], mein Sohn, und den König;
mit Veränderlichen lasse dich nicht ein.“ Man muss nicht annehmen, dass sich Jesu Aussage in
Mk 12,17 hieran orientiert.
39 Lührmann (wie Anm. 22), 202. Zu der Frage, ob Jesus selber römische Steuern bezahlt hat,
siehe Koch (wie Anm. 4), 206: „Jesus war Untertan des Klientelkönigs von Galiläa, Antipas, und
wenn, dann zahlte er an diesen, jedoch nicht an die Steuerbehörden der römischen Provinz Syria
Steuern“. Für die historische Authentizität des Logions in 12,17 sei „ein positiver Nachweis nicht
einfach zu führen“, es sei „höchstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit“ zu erreichen (so Koch
[wie Anm. 4], 226–227).
40 Koch (wie Anm. 4), 223.
41 Koch (wie Anm. 4), 226.

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10   Andreas Lindemann

andauerndes Unverständnis anzeigt. Ihr Versuch, Jesus zu „fangen“, ist jeden-


falls gescheitert.42
In dem in 12,18 beginnenden Textabschnitt ändert sich die Szene nicht:
Σαδδουκαῖοι kommen zu Jesus und konfrontieren ihn mit einer in der Argumen-
tation bewusst absurd formulierten dogmatischen Frage nach der Auferstehung;
Jesus sagt, Gott sei „Gott der Lebenden“, und er bescheinigt ihnen abschließend,
dass sie auf völlig falschem Wege seien (12,27: πολὺ πλανᾶσθε).
Der vom Evangelisten geschaffene Kontext der „Zinsgroschenperikope“ lässt
die erzählerische Absicht des Evangelisten erkennen: In dem in 12,1–12 erzählten
Gleichnis weigerten sich die Pächter, dem Weinbergbesitzer „von den Früchten
des Weinbergs“ zu geben, obwohl dieser darauf Anspruch hatte43; die Ermordung
seines Sohnes werde zu ihrer Vernichtung durch den „Herrn des Weinbergs“
führen (12,9b), sagt Jesus, und aus dem in 12,10–11 zitierten Psalmwort erfah-
ren die Hörer dann, dass der „verworfene Stein“ in Wahrheit der „Eckstein“ ist.
In 12,13–14 fragen nun diejenigen, „gegen“ die Jesus die παραβολή gesprochen
hatte (12,12), nach ihrer auf den Kaiser bezogenen Abgabenpflicht. Diese Pflicht
wird von Jesus bejaht (12,17a), aber der über die gestellte Frage hinausgehende
Nachsatz […] καὶ τὰ τοῦ θεοῦ τῷ θεῷ macht deutlich, dass auch und vor allem
Gott einen Anspruch hat, wie es ja schon zuvor in dem Weingärtner-Gleichnis
gesagt worden war. Zwischen dem Kaiser und Gott wird unterschieden, aber kein
Gegensatz aufgerichtet; dass man mit der Steuerzahlung in einen Widerspruch zu

42 Nach Förster (wie Anm. 5), 18, ist die Nachbemerkung „verzichtbar“; der Text „bildet in ge-
wisser Weise eine Art überschießenden Anhang, hat im Wortlaut zwischen den drei Evangelisten
keinerlei Gemeinsamkeiten und gehört damit ganz eindeutig der Schriftlichkeit an. Er ist schon
bei Markus als redaktionell zu betrachten.“ Aber auf der Ebene des MkEv ist die Nachbemerkung
wichtig: θαυμάζω bezeichnet in Mk 5,20 die Reaktion der Menschen in der Dekapolis, die das
κηρύσσειν des von seiner Besessenheit geheilten Geraseners hören, in Mk 6,6 „wundert“ sich
Jesus über die ἀπιστία der Bewohner seiner Vaterstadt Nazareth. Das steigernde Kompositum
ἐκθαυμάζω ist nur hier im NT bezeugt. R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition
(FRLANT 29), Göttingen 101995, 25 sieht in Mk 12,13–17 „ein einheitlich konzipiertes und ausge-
zeichnet geformtes Apophthegma“, das nicht auf Gemeindebildung zurückgehe; Jesu Wort in
12,17 sei vermutlich nicht „isoliert überliefert“ gewesen, „nur in V. 13 [sei] mit der redaktionellen
Arbeit des Mk zu rechnen“. Weiß (wie Anm. 29), 203 wendet ein, dass die Pointe in V. 17 und
die vorangegangene Szene einander nicht entsprechen. R. C. Tannehill, Types and Functions of
Apophthegms in the Synoptic Gospels, in: ANRW 2/25.2 (1984), 1792–1829 (1820) rechnet den
Text zu den „Inquiry Stories“. Die Leser sind gespannt, „whether Jesus will be able to escape
the trap and meet the test“. Entscheidend ist „the movement from a dangerous question which
tests Jesus’ courage and insight to disclosure of how Jesus met the test successfully“ (1823). Ein
ähnlicher „Test-Text“ ist Mk 11,25–33.
43 Zwar steht im Mk-Text nicht, dass die γεωργοί etwas „geben“ sollen, aber in 12,2 wird gesagt,
dass der Weinbergbesitzer die Abgaben „erhalten“ will (ἵνα […] λάβῃ […]).

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 Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   11

Gottes Geboten geraten könnte, ist nicht im Blick. Aber Jesu Antwort bestätigt die
schon in dem vorangegangenen Gleichnis bildlich ausgesprochene Pflicht, Gott
das zu geben, was Gott zusteht.
Ein früher Beleg für eine Aufnahme der in Mk 12,17 erstmals literarisch als
Jesus-Logion überlieferten Aussage ist möglicherweise schon Röm 13,1–7.44 Mit
Blick auf das Verhalten gegenüber den ἐξουσίαι ὑπερεχοῦσαι (13,1) erwähnt
Paulus ausdrücklich die Steuerzahlung (13,6), wobei er sie nicht problematisiert,
sondern als Praxis voraussetzt (διὰ τοῦτο γὰρ καὶ φόρους τελεῖτε); die Emp-
fänger der Steuern werden als „Gottes Diener“ bezeichnet. Die den Gedanken-
gang abschließende Bemerkung in 13,7a (ἀπόδοτε πᾶσιν τὰς ὀφειλάς) wird in
13,7b konkretisiert in vier parallel formulierten Weisungen: Die beiden ersten –
(ἀπόδοτε) τῷ τὸν φόρον τὸν φόρον, τῷ τὸ τέλος τὸ τέλος – beziehen sich offen-
bar auf den „Staat“, die beiden folgenden – (ἀπόδοτε) τῷ τὸν φόβον τὸν φόβον,
τῷ τὴν τιμὴν τὴν τιμήν – haben das Verhältnis zu Gott im Blick,45 es liegt also
eine ähnliche Unterscheidung vor wie in Mk 12,17. Zwar ist eine direkte Beziehung
zu der Überlieferung, wie sie in Mk 12,17 begegnet, unwahrscheinlich,46 aber ein
traditionsgeschichtlicher Zusammenhang ist nicht ausgeschlossen. Dass Paulus
die Aussage auf Jesus zurückführt, ist aber nicht erkennbar.47

44 Paulus leitet den Gedankengang in Röm 13,1 mit der grundsätzlichen Feststellung ein, dass
sich „jeder“ (πᾶσα ψυχή) den ἐξουσίαι ὑπερεχοῦσαι unterordnen müsse (ὑποτασσέσθω). Dazu
E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, 359: „Paulus hat die gegebenen Ver-
hältnisse im Römischen Reich vor Augen, die den Normalfall darstellen – nicht aber extreme
Situationen, wie sie einige Zeit danach eintraten, so daß es galt, die Grenze zu markieren, bis zu
der der Gehorsam reichen kann, der den staatlichen Behörden zu erweisen ist.“
45 Anders Lohse (wie Anm. 44), 357: Bei den zweimal in zwei Gliedern konkret benannten Ab-
gaben geht es zuerst (wie in V. 6) um „die direkten und indirekten Steuern“, und dann spricht
Paulus von den geschuldeten Abgaben „hinsichtlich des allgemeinen Respekts in zu erweisen-
der Furcht und Ehre“.
46 Lohse (wie Anm. 44), 358: Die Vermutung, hier liege ein Anklang an das Herrenwort Mk 12,17
vor, trifft nicht zu. „Denn ein etwaiger Anklang geht nicht darüber hinaus, daß an beiden Stel-
len die Wörter ἀποδιδόναι und φόρος verwendet werden.“ Die Aussagen in Röm 13,1–7 weisen
hinsichtlich des verwendeten Vokabulars bemerkenswerte Übereinstimmungen mit Mk 12,13–17
auf; vgl. C. E.B. Cranfield, A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle to the Romans 2
(ICC), Edinburgh 1982, 670: „If there is real possibility of a connexion between this verse and the
logion which we have in Mk 12.17, then it would seem natural at least to raise the question whe-
ther perhaps (as in the logion) there is in this verse a reference to the debt which is owed to God.
Could it be that Paul intended by τῷ τὸν φόβον not the human authority but God?“
47 Förster (wie Anm. 5), 247, betont, dass Paulus die Weisung Jesu „nicht etwa zitiert, sondern
in sehr eigenen Worten wiedergibt“. Ihm sei bewusst gewesen, „dass Jesu Worte auf die Frage,
ob das römische Weltreich von Gott im Moment eingesetzt sei oder nicht, keine Antwort gibt“.
Nach Dan 2,21 konnte Gott die Könige auch wieder absetzen, und dann wären „in einer solchen

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12   Andreas Lindemann

Die Aussagen in 1 Petr 2,13–17 zum Verhalten der Adressaten gegenüber den


„staatlichen“ Mächten enden in 2,17 mit der vierfachen Aufforderung πάντας
τιμήσατε, τὴν ἀδελφότητα ἀγαπᾶτε, τὸν θεὸν φοβεῖσθε, τὸν βασιλέα τιμᾶτε. Die
Weisung „fürchtet Gott“ entspricht Spr 24,21, die Mahnung τὸν βασιλέα τιμᾶτε
(vgl. 1 Petr 2,13: ὑποτάγητε […] βασιλεῖ) impliziert einerseits dessen Anerkennung,
aber die Wiederholung der einleitenden Aussage πάντας τιμήσατε zeigt anderer-
seits, dass dem Kaiser keine größere Ehre gebührt als allen Menschen überhaupt.
Ebenso wie in Mk 12,17 sind die Beziehung zu Gott und die Beziehung zum Kaiser
voneinander unterschieden; auch hier fehlt der Gedanke, der Kaiser selber könne
als Gottheit verstanden werden, oder er erhebe einen solchen Anspruch, dem
dann zu widersprechen wäre.48
In Tit 3,1 richtet „Paulus“ an „Titus“ die Mahnung, er solle die Gemeinden auf
Kreta daran „erinnern“, sich den ἀρχαὶ ἐξουσίαι unterzuordnen (ὑποτάσσεσθαι).
Der Titusbrief ist sicher später entstanden als das MkEv, aber in 3,1 ist weder
Mk 12,13–17 noch die zugrunde liegende Tradition im Blick. Möglicherweise ist
aber die Kenntnis von Röm 13 vorausgesetzt, so dass daran nur „erinnert“ zu
werden braucht. Dass es für die Gemeinden, von denen hier gesprochen wird,
einen Konflikt geben könnte zwischen der Loyalität gegenüber dem Kaiser
(konkret: den ἀρχαὶ ἐξουσίαι) und der Bindung an Gott, ist nicht zu erkennen;
Anzeichen für einen Kaiserkult, dem sich die Christen dann zu widersetzen
hätten, gibt es offenbar nicht.49

Übergangsperiode auf der Schwelle zum Reich Gottes“ die Steuerzahlungen „überflüssig und
Widerstand durchaus erlaubt“; vor einer derart gefährlichen Deutung der Gegenwart habe Pau-
lus warnen wollen.
48 N. Brox, Der erste Petrusbrief (EKK 21), Zürich 1979, 119: κτίσις ist im vorliegenden Zusam-
menhang „allein auf die politischen Institutionen zu beziehen“, also eher im Sinn von „Einrich-
tung“ als von „Schöpfung“ zu verstehen.
49 Das ist eine ganz andere Situation als in der Johannesoffenbarung, wo der Kaiserkult ein
brennendes aktuelles Problem ist (z.  B. Apk 13), wo aber eine Aussage wie die in Mk 12,17 über-
lieferte weder aufgenommen noch zurückgewiesen wird.

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   13

2 Die älteste literarische Rezeption der


markinischen Zinsgroschenperikope
Die direkte Rezeptions- und Auslegungsgeschichte von Mk 12,13–17 beginnt mit
den synoptischen Parallelen in Mt 22,15–22 und in Lk 20,20–2650; in den Textfas-
sungen im Papyrus Egerton 2 sowie im Thomasevangelium (Logion 100) setzt sie
sich offenbar direkt fort.

2.1

Mt hat in 21,23–22,22 die Szenenfolge von Mk 11,27–12,17 übernommen, aber


ergänzt. Auf die auch hier von Jesus nicht beantwortete Vollmachtsfrage
(Mt 21,23–27/Mk 11,27–33) folgt in 21,28–31a als Sondergut die Parabel von den
beiden ungleichen Söhnen, die dann in 21,31b.32 auf die Frage nach Jesu Voll-
macht bezogen wird.51 Das dann folgende Winzergleichnis (21,33–46/Mk 12,1–12)
weist neben einigen Kürzungen eine Erweiterung gegenüber Mk auf, indem Jesus
in 21,43 die Parabel direkt auf die Hörer bezieht und sie mit den γεωργοί identi-
fiziert (ἀρθήσεται ἀφ’ ὑμῶν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ· καὶ δοθήσεται ἔθνει ποιοῦντι
τοὺς καρπὸυς αὐτῆς). Die Notiz in Mk 12,12, die Hörer hätten dieses Gleichnis
als an sie gerichtet verstanden ([…] πρὸς αὐτοὺς τὴν παραβολὴν εἶπεν), ist in
Mt 21,45.46 modifiziert: οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι hörten „seine Gleichnisse“
(τὰς παραβολὰς αὐτοῦ), und sie verstanden, „dass er von ihnen sprach“ (περὶ
αὐτῶν λέγει).52 Zu dieser pluralischen Formulierung passt, dass Mt anschließend
das vermutlich aus Q stammende (redaktionell?) bearbeitete Gerichtsgleichnis
vom königlichen Hochzeitsmahl eingefügt hat (22,1–14).
In 22,15–22 nimmt der Evangelist den nach Mt 21,46 verlassenen Mk-Faden
wieder auf, mit einigen Änderungen gegenüber Mk 12,13–17: Die Pharisäer gehen
weg (πορευθέντες) und fassen den Beschluss (συμβούλιον ἔλαβον), Jesus ἐν λόγῳ

50 Die hier gewählte Abfolge der Darstellung bedeutet nicht, dass das MtEv als chronologisch
früher als das LkEv eingeordnet wird.
51 Jesus wirft den Führern des Volkes vor, dass sie dem ἐν ὁδῷ δικαιοσύνης (Mk 21,32) zu ihnen
gekommenen Täufer nicht geglaubt haben (οὐκ ἐπιστεύσατε αὐτῷ [vgl. 21,25]), im Gegensatz zu
den Zöllnern und Dirnen (ἐπίστευσαν αὐτῷ [21,32]).
52 Mt bietet zeitlos λέγει statt εἶπεν, den Plural τὰς παραβολὰς αὐτοῦ statt τὴν παραβολήν und
περὶ αὐτῶν statt πρὸς αὐτούς.

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14   Andreas Lindemann

zu fangen (22,15).53 Sie schicken zu ihm ihre μαθηταί54 zusammen mit den Hero-
dianern (22,16a); diese wenden sich zuerst mit einer Mk 12,14a entsprechenden
captatio benevolentiae an Jesus (22,16b)55, aber dann folgt (22,17a) eine weitere
Höflichkeitsfloskel, indem sie Jesus ausdrücklich bitten, er solle ihnen seine
(begründete) Meinung sagen (εἰπὲ οὖν ἡμῖν τί σοι δοκεῖ;).56 Erst danach (22,17b)
wird die konkrete Frage gestellt, ob die Steuerzahlung an den Kaiser erlaubt ist
oder nicht (ἔξεστιν δοῦναι κῆνσον Καίσαρι ἢ οὔ; vgl. Mk 12,14b); da die Wieder-
holung der Frage (δῶμεν κτλ.) entfallen ist,57 geht es offensichtlich allein um die
Grundsatzfrage.58
Auch im MtEv weiß der Erzähler, dass Jesus59 die Gedanken derer „kennt“,
die ihn fragen.60 Ihre Einstellung wird in 22,18a nicht als ὑπόκρισις (so Mk 12,15)
bezeichnet, sondern als πονηρία, aber in seiner Frage „Was versucht ihr mich?“
spricht Jesus sie ausdrücklich als ὑποκριταί an (22,18b).61 Die Aufforderung, man
solle ihm eine Münze zeigen (22,19a), ist gegenüber Mk 12,15 modifiziert: Jesus
fordert nicht: φέρετέ μοι δηνάριον ἵνα ἴδω, sondern er sagt: ἐπιδείξατέ μοι τὸ
νόμισμα τοῦ κήνσου62, wobei die Genitivverbindung τὸ νόμισμα τοῦ κήνσου exakt

53 Der Wechsel der mk Formulierung ἵνα αὐτὸν ἀγρεύσωσιν λόγῳ (Mk 12,13) zu ὅπως αὐτὸν
παγιδεύσωσιν ἐν λόγῳ (Mt 22,15) soll offenbar „die Hinterhältigkeit des Vorgehens der Gegner
Jesu unterstreichen“ (Luz [wie Anm. 8], 253 Anm. 10).
54 Nach Konradt (wie Anm. 25), 344, steht dahinter der Gedanke, dass es, „um die Erfolgsaus-
sichten zu erhöhen […] ‚unverbrauchter‘ Gesichter“ bedarf.
55 Die Textdifferenzen sind, bis auf einige Wortumstellungen, gering.
56 Die Frage τί σοι δοκεῖ; begegnet auch in Mt 17,25; 18,12; 22,42; es wird nach einer definitiven
Meinung, geradezu nach einem Urteil gefragt.
57 Dieser kürzere Text ist auch in Lk 20,22 überliefert. Allerdings lautet die Frage in Lk 20,22:
ἔξεστιν ἡμᾶς Καίσαρι φόρον δοῦναι ἢ οὔ; (siehe dazu unten). Haben Mt und Lk eine andere Text-
fassung des MkEv benutzt oder haben sie unabhängig voneinander, aber aus vergleichbaren Mo-
tiven heraus den Text gekürzt? Ennulat (wie Anm. 6), 271, rechnet diese mt/lk Übereinstimmung
gegen Mk zu den Fällen, wo keine eindeutige Entscheidung möglich ist.
58 Nach Ennulat (wie Anm. 6) ebd. zeigt sich in dem Dativobjekt ἡμῖν „der direkte Bezug der
Fragenden auf sich selbst“, wodurch „der allgemeingültige Charakter in der Frage“ zurücktrete.
Aber die Bitte εἰπὲ οὖν ἡμῖν impliziert nicht, dass es den Fragenden um ihr eigenes Verhalten
geht.
59 Ὁ Ἰησοῦς als Subjekt begegnet bei Mt etwas häufiger als bei Mk (vgl. aber Mt 22,21 diff.
Mk 12,17).
60 Statt εἰδώς heißt es in Mt 22,18 γνούς, was aber offenbar nur eine sprachliche Variante ist.
61 Als kritische Anrede wird ὑποκριταί außerdem in Mt 15,7 sowie mehrfach in Mt 23,13–29 ver-
wendet, bei Mk nur in 7,6.
62 Stenger (wie Anm. 14), 11, sieht in Mt 22,19 eine verfeinerte Rhetorik des Mt, denn er lasse
„Jesus nicht einmal den Namen des Geldstückes in den Mund nehmen […], das seine Gegner in
klingender Münze im Gewandbausch mit sich tragen“.

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   15

die „Steuermünze“ bezeichnet; die Aufforderung ἐπιδείξατέ μοι (statt φέρετέ μοι)
setzt voraus, dass ein solches Geldstück sofort zur Hand ist, und dementspre-
chend schreibt Mt nicht: οἱ δὲ ἤνεγκαν (so Mk 12,16), sondern es heißt jetzt: οἱ
δὲ προσήνεγκαν αὐτῷ δηνάριον. Die ausdrücklich „Denar“ genannte Münze wird
also nicht „herbeigetragen“, sondern sie wird Jesus „übergeben“.63 Kritik daran,
dass jemand eine solche Münze im Tempel bei sich trägt,64 oder ein Hinweis
darauf, „dass die Gegner selbst Steuern zahlen“65 oder dass Jesus und die Seinen
zumindest nicht dieses Geld ihr Eigen nennen, ist auch bei Mt nicht zu erkennen.
Nicht anders als im MkEv geht es auch bei Mt lediglich darum, die Münze für die
Hörer/Leser „anschaulich“ in die Handlung einzuführen.
Die (Schein-)Frage Jesu (22,20) und die Antwort darauf (22,21a) folgen der
Mk-Vorlage; auch hier ist vorausgesetzt, dass alle Beteiligten die Münze kennen.
Jesu Reaktion (22,21b) entspricht leicht modifiziert Mk 12,17b; jetzt erscheint die
Aufforderung ἀπόδοτε […] Καίσαρι als eine aus der Gestaltung des Denars abge-
leitete logische Folgerung (οὖν). Auch hier meint das Verb ἀποδιδόναι nicht, die
Fragenden müssten ihren gesamten (Geld-)Besitz dem Kaiser (zurück-)geben66;
aber durch die von Mk abweichende Voranstellung der Aufforderung ἀπόδοτε
wird noch deutlicher, dass sich das ἀποδιδόναι sowohl auf den Kaiser als auch
dann auf Gott bezieht.67
Der Abschluss der Szene in Mt 22,22 ist gegenüber Mk 12,17b deutlich ver-
ändert: Die Hörer (ἀκούσαντες) wunderten sich (Aor. ἐθαύμασαν statt Impf.
ἐθαύμαζον wie bei Mk), aber darüber hinaus notiert der Erzähler, dass sie Jesus

63 Davies/Allison (wie Anm. 17), 215: „Many Jews would have used the coin without much
thought, despite its having a ‚graven image‘.“
64 Konradt (wie Anm. 25), 345. Ähnlich Davies/Allison (wie Anm. 17), 215: Jesu Gegner „have no
qualms about using pagan money – and even bring a coin with the emperor’s image and blas-
phemous inscription into the holy precincts of the temple.“ Aber hätten Besucher des Tempels
das von ihnen mitgebrachte Geld außerhalb deponieren sollen? Vgl. Luz (wie Anm. 8), 258: Es
geht nicht darum, dass sie das Bilderverbot übertreten hatten, denn ihre Münze wird „im Tem-
pelvorhof, wo die Buden der Geldwechsler standen, nicht die einzige gewesen sein“.
65 So aber Konradt (wie Anm. 25), ebd. Ähnlich Luz (wie Anm. 8), 258: „Dadurch, daß sie eine
solche ‚Steuermünze‘ besitzen, zeigen sie, daß sie selbst Steuern bezahlen und die Frage, die sie
Jesus stellen, für sich selbst längst entschieden haben.“ Die Pointe sei, „daß sie eine Münze be-
nutzen, die mit politischen und religiösen Symbolen der Macht des römischen Kaisers versehen
ist“ und dass sie damit „dessen Machtanspruch längst anerkannt haben“.
66 Zu ἀποδιδόναι verweisen Davies/Allison (wie Anm. 17), ebd. auf Mt 21,41.
67 Davies/Allison (wie Anm. 17), 216, meinen, dass Mt durch die gegenüber Mk veränderte Wort-
stellung (jetzt heißt es: ἀπόδοτε οὖν τὰ Καίσαρος Καίσαρι καὶ τὰ τοῦ θεοῦ τῷ θεῷ) „has increased
the parallelism“.

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16   Andreas Lindemann

verließen und weggingen (καὶ ἀφέντες αὐτὸν ἀπῆλθαν).68 Die nun ausdrücklich
mit einer Zeitangabe eingeleitete folgende Perikope über die „Sadduzäerfrage“
(Mt 22,23: ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ προσῆλθον αὐτῷ Σαδδουκαῖοι statt καὶ ἔρχονται
Σαδδουκαῖοι, Mk 12,18) ist daher nicht einfach die Fortführung der Handlung
durch das Hinzukommmen weiterer Gesprächspartner, sondern es beginnt etwas
definitiv Neues.
Auch in der Mt-Fassung der „Zinsgroschenperikope“ wird keine „Staatslehre“
entworfen, es gibt aber auch keine Verwerfung der staatlichen Macht.69 Aber die
gegenüber Mk 12,14b verkürzte Frage in Mt 22,17b zeigt, dass es jetzt nicht mehr
darum geht, ob „wir“ – also Pharisäer, Herodianer und andere Bewohner Judäas,
möglicherweise auch Jesus selber – den census entrichten sollen, sondern jetzt
wird generell gefragt, ob das δοῦναι κῆνσον Καίσαρι „erlaubt“ ist (ἔξεστιν) oder
nicht. Der bei Mk erkennbare Bezug zwischen dem Winzergleichnis und der
„Zinsgroschenperikope“ ist durch die Einfügung des Gastmahlgleichnisses bei
Mt nicht mehr gegeben. Aber das ἀπόδοτε […] τῷ θεῷ lässt sich auch hier durch-
aus auf den Kontext beziehen: Wenn die zur Hochzeit des Sohnes Eingeladenen
die Einladung tatsächlich annehmen (und ein Feiertagsgewand tragen), dann
geben sie „Gott, was Gottes ist“. Dass der Kaiser und Gott in Konkurrenz oder
gar im Widerspruch zueinander stehen könnten, ist auch bei Mt nicht im Blick.70
Aber deutlicher noch als bei Mk richtet sich die Weisung Jesu jetzt an die Adres-
saten des Textes, denn auf der Erzählebene „verlassen“ die ἀκούσαντες Jesus und
„gehen weg“, sie fühlen sich also von seiner Antwort nicht angesprochen; die
Hörer/Leser des MtEv dagegen sind aufgefordert, ihrerseits über die angemes-
sene Zuordnung dessen, was „des Kaisers“ und dessen was „Gottes“ ist, zu ent-
scheiden.

68 Die Wendung entspricht Mk 12,12b; in der Parallele hatte Mt sie weggelassen. Vgl. Konradt
(wie Anm. 25), 345: „Die souveräne Reaktion Jesu auf die Steuerfrage erschien dem Evangelisten
als ein geeigneter Ort, um die Notiz nachzutragen und so den Misserfolg der Kontrahenten zu
unterstreichen.“
69 Luz (wie Anm. 8), 260: Jesus meint nicht, „daß die eine Hälfte des Menschen dem Kaiser ge-
hört, z.  B. die materielle oder kulturelle oder die äußerliche, die mit dem ‚Reich der Welt‘ zu tun
hat, und Gott die andere, z.  B. die geistliche, die persönliche oder die innerliche. Schon gar nicht
will er das Steuerzahlen oder gar den Gehorsam gegenüber dem Staat überhaupt als besonderes
Gebot Gottes herausheben. Vielmehr will er sagen: ‚Geld mögt ihr dem Cäsar geben – das ist sein
Gebiet –, aber Gott ist der Herr‘“ (Zitat von L. Ragaz).
70 Luz (wie Anm. 8), ebd. nennt „die von Röm 13,1–7 herkommende traditionelle protestantische
Lektüre des Textes“ einen „Irrweg“; die katholische Auslegungstradition, in der der Gehorsam
gegen Gott über den Gehorsam gegen den Staat gestellt wird, stehe dem Text näher und werde
erst „problematisch […] wenn an die Stelle der Vorordnung Gottes diejenige der Kirche tritt“.

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   17

2.2

Im LkEv ist in 20,1–26 die Erzählfolge von Mk 11,27–12,17 unverändert übernom-


men worden; es gibt aber Änderungen in einigen Details. So wird in der Winzer-
Parabel (20,9–19) in 20,10 ausdrücklich gesagt, dass die γεωργοί dem Besitzer des
Weinbergs von der Frucht „geben“ sollen (ἵνα […] δώσουσιν αὐτῷ), womit jetzt
auch begrifflich die Perspektive der folgenden „Zinsgroschenperikope“ aufscheint
(20,22). Auf die Ankündigung Jesu, der κύριος τοῦ ἀμπελῶνος (20,15) werde die
Pächter vernichten und den Weinberg anderen geben, reagieren die Zuhörer mit
dem Ausruf μὴ γένοιτο (20,16); Jesu Antwort (ὁ δὲ ἐμβλέψας αὐτοῖς εἶπεν, 20,17) mit
dem Zitat von Ps 118,22 erfolgt in Form einer rhetorischen Frage, so dass der Ein-
druck eines Dialogs entsteht. Die in Lk 20,1 als Jesu Gesprächspartner eingeführ-
ten Personen (entsprechend Mk 11,27b: οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ γραμματεῖς, Lk ergänzt:
σὺν τοῖς πρεσβυτέροις) werden in 20,19 nochmals genannt mit einer ähnlichen
Feststellung wie in Mk 12,12, aber anders als in Mk 12,12b entfernen sie sich nicht.
Die dann in Lk 20,20–26 erzählte „Zinsgroschenperikope“ ist eingangs
gegenüber der Mk-Vorlage (12,13) erheblich verändert:71 Weder Pharisäer72 noch
Herodianer werden erwähnt,73 sondern „sie“, die in 20,19 genannten Perso-
nen, die das Geschehen beobachtet hatten (παρατηρήσαντες), schicken nun
„Spitzel“ (ἀπέστειλαν ἐγκαθέτους), die Jesus bei einem λόγος „fassen“ sollen
(ἵνα ἐπιλάβωνται αὐτοῦ λόγου) (20,20). Der Erzähler weiß, dass sie sich selbst
heuchlerisch als „Gerechte“ einschätzen; dadurch wird die mit dem geplanten
ἐπιλαμβάνεσθαι λόγου verbundene Absicht noch schärfer hervorgehoben, denn
jetzt wird ausdrücklich gesagt, sie wollten Jesus an den Statthalter als den Reprä-
sentanten der römischen Staatsmacht ausliefern (παραδοῦναι αὐτὸν τῇ ἀρχῇ καὶ
τῇ ἐξουσίᾳ τοῦ ἡγεμόνος [20,20b]).74

71 H. Klein, Das Lukasevangelium (KEK 1/3), Göttingen 2006, 629: Lk hat sachlich wenig, aber
sprachlich viel verändert. F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas. 4. Teilband Lk 19,28–24,53
(EKK 3/4), Neukirchen-Vluyn 2009, 90: „Es handelt sich hier in der Tat um eine Einheit, die sich
nicht auseinandernehmen lässt.“ Nach Wolter (wie Anm. 33), 650, handelt es sich bei dem Lk-
Text „um eine durch den Dialog in V. 24 erweiterte Chrie (Pronouncement story)“.
72 Pharisäer waren zuletzt in Lk 19,39 erwähnt worden, danach ist von ihnen nicht mehr die
Rede.
73 Wolter (wie Anm. 33), 650: Lukas „tilgt die Mitwirkung der Pharisäer aus Mk 12,13“ vielleicht
deshalb, weil „Jesu Ankläger vor Pilatus sich in lügnerischer Weise auf diese Episode beziehen
(23,2) und Lukas die Pharisäer nicht mit in dieses Vorgehen gegen Jesus hineinziehen wollte“.
74 Pilatus wird in der Passionserzählung im LkEv nicht als ἡγεμών bezeichnet, aber in der Apg
wird dieser Titel mehrfach korrekt gebraucht; Lk kann annehmen, dass die Leser die Bezeich-
nung richtig deuten.

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18   Andreas Lindemann

Die die Frage einleitende captatio benevolentiae (20,21) ist gegenüber


Mk 12,14a noch gesteigert (διδάσκαλε, οἴδαμεν ὅτι ὀρθῶς λέγεις); die dann in
20,22 gestellte Frage (ἔξεστιν ἡμᾶς Καίσαρι φόρον δοῦναι ἢ οὔ;) weist gegenüber
Mk 12,14b zwei signifikante Änderungen auf: Zum einen sprechen die Fragenden
von Anfang an nur von sich selbst (ἔξεστιν ἡμᾶς […] δοῦναι […]), sie sprechen
also von dem Volk, „das Gott erwählt hat und dem er die Beachtung der Wei-
sungen aufgegeben hat, die es von den Völkern unterscheidet“.75 Damit geben
sie sich als an einer von Jesus kommenden halachischen Weisung interessiert,76
aber durch ihre Charakterisierung in 20,20 ist für die Leser bereits deutlich, dass
ein solches Interesse in Wahrheit gar nicht besteht. Zum andern fällt auf, dass
sie nicht nach dem κῆνσος fragen, sondern nach dem φόρος, es geht also allge-
mein um die steuerlichen Abgaben, auf die der Kaiser Anspruch erhebt.77 Das
ist ein Vorgriff auf 23,2, wo Jesu Ankläger Pilatus gegenüber behaupten werden,
Jesus wolle die Leute daran hindern, dem Kaiser Abgaben zu entrichten (φόρους
Καίσαρι διδόναι).
Auch im LkEv weiß der Erzähler, dass Jesus die Verschlagenheit (jetzt
πανουργία statt ὑπόκρισις) der Fragenden durchschaut (jetzt κατανοήσας statt
εἰδώς); die rhetorische Frage τί με πειράζετε; ist aber entfallen,78 Jesus sagt viel-
mehr sofort (20,24): δείξατέ μοι δηνάριον79; und dann folgt übergangslos die
gegenüber Mk 12,16 nur leicht modifizierte Frage, wessen Bild und Aufschrift die
Münze trägt (τίνος ἔχει εἰκόνα καὶ ἐπιγραφήν;), mit der Antwort: Καίσαρος. Es
ist noch deutlicher als bei Mk, dass die Beteiligten von etwas sprechen, was alle
kennen. Die Reaktion Jesu in 20,25 entspricht Mk 12,17a, aber jetzt wird eine logi-
sche Verknüpfung hergestellt: Der Denar trägt Bild und Aufschrift des Kaisers,
und folglich (τοίνυν, vgl. οὖν in Mt 22,21) haben die Fragenden dem Kaiser das zu

75 Wolter (wie Anm. 33), 652.


76 Wolter, ebd.: „Da die Frage der Entrichtung von Steuern an eine fremde Macht nicht in der
schriftlichen Tora geregelt war, macht sie eine halachische Entscheidung erforderlich. Ihre poli-
tische Brisanz liegt auf der Hand.“ Wolter betont, dass es in 20,22 nicht um das Steuerproblem als
solches geht, sondern darum, ob „wir“ den φόρος dem Kaiser geben sollen, d.  h. es geht um die
Person „des von den Fragestellern als Empfänger der Steuer ins Spiel gebrachten Caesar“ (653).
77 Vgl. K. Weiß, φόρος, in: ThWNT 9 (1973), 81–86 (83): „Hing dem Begriff des φόρος bei den
Griechen das Odium der Unfreiheit an, so verband sich für die Juden damit die Alternative von
Treue oder Verrat gegenüber Gott als dem einen und alleinigen Herrn.“ Förster (wie Anm. 5), 15,
meint, die Differenz zwischen κῆνσος und φόρος mache „für die Strategie keinen Unterschied“.
Paulus verwendet in Röm 13,6–7 den Begriff φόρος (siehe unten).
78 In den meisten Handschriften ist sie ergänzt worden; die vermutlich älteste lk Textfassung
(ohne τί με πειράζετε;) bezeugen die Codices Sinaiticus und Vaticanus sowie Codex L und etliche
Minuskelhandschriften.
79 Zu Mt 22,19 gibt es ein „minor agreement“ (ἐπιδείξατε), aber δηνάριον entspricht Mk 12,15.

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   19

geben, was ihm zusteht.80 Zugleich fordert Jesus, dass Gott das ihm Zustehende
erhält,81 wobei sich seine Weisung auf der Erzählebene direkt an die Fragenden
richtet.
Der Erzähler notiert abschließend (20,26), dass „sie“, also die in 20,20
genannten Personen, in dem in aller Öffentlichkeit (ἐναντίον τοῦ λαοῦ) geführten
Gespräch ihr Ziel nicht zu erreichen vermochten,82 sondern dass sie „sich wun-
derten“ (θαυμάσαντες, vgl. Mk 12,17)83; dabei wird Jesu Aussage nun ausdrück-
lich als „seine Antwort“ qualifiziert ([…] ἐπὶ τῇ ἀποκρίσει αὐτοῦ), wodurch sie
einen geradezu „offiziellen“ Charakter erhält.84 Überdies sagt der Erzähler auch
noch, dass sie schwiegen (ἐσίγησαν), wodurch er ihr Scheitern endgültig doku-
mentiert. Ähnlich wie in Mk 12,18 kommen „einige der Sadduzäer“ hinzu (20,27:
προσελθόντες), aber da zuvor von Pharisäern nicht gesprochen worden war, ist
der bei Mk (und auch bei Mt) deutliche Aspekt, dass Jesus nacheinander zuerst
Pharisäer und dann Sadduzäer belehrt, im LkEv entfallen.
In der Lk-Fassung der „Zinsgroschenperikope“ wird erzählt, dass Jesus öffent-
lich mit der Frage nach der Pflicht zur Steuerzahlung für den Kaiser konfrontiert
wurde, ausdrücklich in der Absicht, ihn vor staatlichen Instanzen anzuklagen;
durch geschickte Argumentation gelang es ihm aber, diese Absicht zu vereiteln
und jeden weiteren Versuch unmöglich zu machen (ἐσίγησαν). „Die Episode zeigt,
dass Jesus die Lehre des Judas Galilaios abgelehnt hat, wonach Gottesglaube und
Steuerzahlung an die römische Obrigkeit unvereinbar sind.“85 Auf der Ebene der
erzählten Welt nennt Jesus im LkEv seinen Zeitgenossen einen unwiderleglichen
Maßstab für ihr Handeln gegenüber den Forderungen des „Kaisers“ und Gottes.
Die Schilderung geschieht also in einer Weise, die dem Prolog des Evangeliums
(1,1–4) entspricht. Sicher sollen Jesu Worte auch in der Gegenwart der Leser/

80 Die eindeutigere Wortfolge in Lk 20,25 entspricht der in Mt 22,21 (siehe oben).


81 Wolter (wie Anm. 33), 654, hält es für möglich, dass das καί in 20,25b epexegetisch zu ver-
stehen ist: Indem ihr den Denar dem Caesar (zurück)gebt, „gebt ihr Gott, was ihm zusteht“. Vgl.
J. A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke, New York 1986, 1297: „The Lucan Jesus does not
forbid the use of material possessions to pay taxes to a secular ruler […] But his instruction in
this episode does not counter his utterance of 16:13d, ‚You cannot serve both God and mammon,‘
because tribute to Caesar is not the same as ‚mammon‘.“
82 Die Aussagen in 20,26 (οὐκ ἴσχυσαν ἐπιλαβέσθαι αὐτοῦ ῥήματος) und in 20,20 (ἵνα
ἐπιλάβωνται αὐτοῦ λόγου) entsprechen einander.
83 Wolter (wie Anm. 33), 654: θαυμάζειν meint hier, wie auch sonst bei Lk, dass sie „die Antwort
Jesu nicht wirklich verstanden haben“.
84 Dazu J. D.M. Derrett, Luke’s Perspective on Tribute to Caesar, in: id., Studies in the New Tes-
tament 4: Midrash, the Composition of Gospels, and Discipline, Leiden 1986, 196–206 (197):
ἀπόκρισις meint „a responsum, a technical answer to a technical question“.
85 Klein (wie Anm. 71), 629.

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20   Andreas Lindemann

Hörer des LkEv gelten; aber es fällt auf, dass das Thema in der Apostelgeschichte
gar keine Rolle spielt, dass es also in der frühen Geschichte der Gemeinden im
Römischen Reich möglicherweise kein Diskussionsgegenstand war.

2.3

In dem fragmentarisch erhaltenen Unbekannten Evangelium (Papyrus Egerton 2),86


das die kanonisch gewordenen Evangelien vermutlich voraussetzt,87 wird in
Fragment 2 recto eine Szene überliefert, die sich eng mit der „Zinsgroschenperi-
kope“ berührt; allerdings fehlt eine Mk 12,17 parr. entsprechende abschließende
Aussage Jesu. Nicht näher genannte Personen wenden sich an Jesus und „for-
schend versuchten sie ihn“ (ἐξεταστικῶς ἐπείραζον αὐτόν).88 Sie bezeichnen
ihn als διδάσκαλος und sprechen, ebenso wie in den Textfassungen der synop-
tischen Evangelien, eine captatio benevolentiae aus, die jetzt aber an die Worte
des Nikodemus in Joh 3,2 erinnert: „Lehrer Jesus, wir wissen, dass du von Gott
gekommen bist.“89 Es heißt dann weiter: „Denn was du tust, legt Zeugnis ab über
alle Propheten hinaus.“ Die dann folgende Frage, offenbar durch die Aufforde-
rung „Sage uns nun“90 eingeleitet, lautet: „Ist es recht, den Königen das der Herr-
schaft Geziemende zu geben? Sollen wir ihnen geben oder nicht?“91 Die Wendung
ἀποδῶμεν ἢ μή; hat nur im MkEv eine Entsprechung, es ist also offenbar dessen
Textfassung vorausgesetzt. Gefragt wird aber nicht nach der Steuerzahlung für
den Kaiser, sondern gefragt wird grundsätzlich, ob „wir“ den Königen „das der
Herrschaft Geziemende“ (τὰ ἀνήκοντα τῇ ἀρχῇ) zu geben haben; es geht also um
„unser“ Verhältnis zu den βασιλεῖς92 mit Bezug auf das, was nach allgemeiner

86 Text und Übersetzung zitiert nach D. Lührmann/H. Schlarb, Fragmente apokryph geworde-


ner Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache (MthS 59), Marburg 2000. Die Ergänzun-
gen Lührmanns sind stillschweigend übernommen. Vgl. Förster (wie Anm. 5), 273–278.
87 Vgl. Ennulat (wie Anm. 6), 269: Papyrus Egerton 2 und Thomasevangelium 100 „repräsentie-
ren keine unabhängigen Traditionen“. Die Frage der Datierung der erhaltenen Manuskriptfrag-
mente kann hier außer Betracht bleiben; der Papyrus wurde 1935 ediert und auf die zweite Hälfte
des 2. Jahrhunderts datiert. Es fehlt „ein Gesamtzusammenhang, dem sich diese Fragmente zu-
ordnen ließen“ (Lührmann [wie Anm. 86], 143).
88 Vgl. Jesu rhetorische Frage τί με πειράζετε; in Mk 12,15 bzw. Mt 22,18.
89 Es gibt eine Reihe von Bezügen zum JohEv, vgl. Lührmann (wie Anm. 86), 143.
90 Die Wendung εἰπὲ οὖν (oder λέγε οὖν) ist ergänzt, aber ἡμῖν ist erhalten.
91 Der griechische Text lautet in Lührmanns Rekonstruktion: ἐξὸν τοῖς βασιλεῦσιν ἀποδοῦναι
ἀνήκοντα τῇ ἀρχῇ; ἀποδῶμεν αὐτοῖς ἢ μή;
92 Zu den βασιλεῖς gehört natürlich auch der Kaiser, der im NT bisweilen als βασιλεύς bezeich-
net wird. Davies/Allison (wie Anm. 17), 219: „The generalizing ‚kings‘ certainly does not strike

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   21

Überzeugung „das Gebotene“ ist. Ebenso wie in den neutestamentlichen Evan-


gelien weiß der Erzähler, dass Jesus ihre Absicht erkannte; dabei entspricht die
partizipiale Wendung εἰδώς dem Mk-Text, aber die Bezeichnung des Plans als
διάνοια ist, verglichen mit den in den kanonischen Evangelien hier verwendeten
Worten ὑπόκρισις, πονηρία und πανουργία, sehr zurückhaltend. Ohne Parallele
ist die Bemerkung, Jesus sei zornig geworden (ἐμβριμησάμενος).93 Mit einer an
Lk 6,46 erinnernden Formulierung erhebt er den Vorwurf: „Was nennt ihr mich
mit eurem Mund Lehrer, hört aber nicht was ich sage?“ Es folgt die ironische Fest-
stellung: „Treffend (καλῶς) hat Jesaja über euch prophezeit […]“ mit dem Zitat
von Jes 29,13 LXX: „Dieses Volk ehrt mich mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist weit
von mir – umsonst verehren sie mich.“94 An dieser Stelle bricht der Text ab; ob
es eine Reaktion der Fragenden und vor allem auch ein Schlusswort Jesu gab, ist
nicht zu erkennen. Möglich ist allerdings, dass die an Jesus gerichtete Frage von
ihm gar nicht mehr beantwortet wurde, weil der Hinweis genügte, dass Jesus die
mit der Frage nach „τὰ ἀνήκοντα für die Könige“ verbundene Absicht erkannt
hatte. François Bovon nimmt an, der Autor habe „in der mündlichen Überliefe-
rung eine polemische Fassung der Episode gefunden und von ihr wiederum nur
die Verurteilung gebracht“; der Text beschreibe „einen anklagenden Jesus“, denn
mit den Worten aus Jes 29 verurteile Jesus „das Gott nur mit seinen Lippen vereh-
rende Volk“.95 Das Wort aus Jes 29,13 soll aber vermutlich eher als auf Jesus und
nicht als auf Gott bezogen verstanden werden; andernfalls wäre der Verweis auf
Gott unausgesprochen zu ergänzen.
In der Textfassung des Papyrus Egerton steht nicht die Zahlung des κῆνσος
oder des φόρος zur Diskussion, sondern es geht um τὰ ἀνήκοντα τῇ ἀρχῇ. Nach
Förster bezieht sich aber auch dieser Begriff auf die „den Herrschenden verbind-
lich zustehende[n] Abgaben“, wie aus 1 Makk 10,42 und anderen LXX-Stellen her-
vorgehe; so könne Jesus die an ihn gerichtete Frage „nur als Beleg für die Heu-
chelei der Opponenten auffassen“, weil sie ihn mit „Selbstverständlichkeiten […]
belästigen, die keiner Nachfrage wert waren“. Dieses Verhalten habe sich aus der
Perspektive dieses Textes „auch gegen Gott selbst“ gerichtet, „in dessen Autori-
tät Jesus lehrte, wie das Zitat von Jes 29,13 hervorhebt“. So belege diese Textfas-

us as pristine but rather secondary“, und im Übrigen lasse Papyrus Egerton an anderen Stellen
einen Einfluss des MtEv erkennen.
93 Das Verb ἐμβριμᾶσθαι ist in den ntl. Evangelien fünfmal belegt, dabei nur in Mk 14,5 nicht
im Zusammenhang mit Jesus; in den synoptischen Textfassungen der Perikope hat es keine Ent-
sprechung.
94 Jesu Worte entsprechen fast wörtlich der Polemik in Mk 7,6–7 gegen die in 7,1 eingeführten
„Pharisäer und einige Schriftgelehrte“.
95 Bovon (wie Anm. 71), 91.

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22   Andreas Lindemann

sung, dass für die Christen im 2. Jahrhundert die Steuerzahlung „keine offene
Frage mehr“ war.96 Aber die Begriffe τὸ ἀνῆκον bzw. τὰ ἀνήκοντα sind jedenfalls
nicht von vornherein auf den Bereich steuerlicher Abgaben zu beziehen. So sagt
Josua in seiner Abschiedsrede in Jos 23,14 LXX, die Hörer sollten erkennen, dass
kein Wort des Herrn hinfällig geworden ist und dass es „im Blick auf alles, was
euch anbelangt (πρὸς πάντα τὰ ἀνήκοντα ὑμῖν), keine Unstimmigkeit“ gab. In
2 Makk 14,8 erklärt der frühere Hohepriester Alkimos, er sei gekommen, „erstens
weil ich aufrichtig an (meine) Pflicht gegenüber dem König denke (ὑπὲρ τῶν
ἀνηκόντων τῷ βασιλεῖ γνησίως φρονῶν), zweitens aber auch in Rücksicht auf die
eigenen Mitbürger“.97 τὰ ἀνήκοντα meint also offenbar allgemein „das sich Gezie-
mende“, und so geht es in der in Papyrus Egerton 2 gestellten Frage offensichtlich
um die grundsätzliche Frage der Beziehung zu den βασιλεῖς. Die Fragenden sind
dabei jedenfalls als Juden zu denken, und so enthält das von Jesus angeführte
Zitat von Jes 29,13 den Vorwurf, dass sie an seiner Antwort gar nicht interessiert
sind. Angesichts der fragmentarischen Textüberlieferung muss offen bleiben, ob
bzw. wie Jesus die Frage nach dem, was den Königen zusteht, beantwortet hat.

2.4

Das Thomasevangelium aus Nag Hamadi (NHC 2,2) lässt an vielen Stellen direkte
Beziehungen zu den neutestamentlichen Evangelien erkennen. Als Logion 100
ist eine an die „Zinsgroschenperikope“ erinnernde Szene überliefert.98 Nicht aus-
drücklich genannte Personen zeigen Jesus eine Goldmünze und sagen: „Die zum

96 Förster (wie Anm. 5), 277.


97 Vgl. 1 Makk 10,40–42: Demetrios verspricht (V. 40), jährlich einen großen Betrag zu zahlen
„von den Einnahmen des Königs aus den entsprechenden Orten“ (κἀγὼ δίδωμι κατ’ ἐνιαυτόν […]
ἀπὸ τῶν λόγων τοῦ βασιλέως ἀπὸ τῶν τόπων τῶν ἀνηκόντων); bisherige Geldforderungen
(V. 42) sollen „erlassen werden, weil sie den diensttuenden Priestern zustehen“ (καὶ ταῦτα
ἀφίετα διὰ τὸ ἀνήκειν αὐτὰ τοῖς ἱερεῦσιν τοῖς λειτουργοῦσιν). Ferner 1 Makk 11,35: Demetrios
erklärt, er werde „bei allen uns von nun an zustehenden (τὰ ἀνήκοντα ὑμῖν) Zehnten und den
uns zustehenden Zöllen und den Salzteichen und den uns zustehenden Kranzsteuern (τοὺς
ἀνήκοντας ὑμῖν στεφάνους)“ Beihilfe gewähren. Die spezielle Bedeutung ergibt sich nur aus
dem Zusammenhang.
98 Die Übersetzung folgt Hans-Gebhard Bethge, in: C. Markschies/J. Schröter (Hgg.), Antike
christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung 1: Evangelien und Verwandtes, Teilband 1,
Tübingen 2012, 507–522 (521). H. Greeven/A. Huck (Hgg.), Synopse der ersten drei Evangeli-
en, Tübingen 1981, 205, gibt folgende Rückübersetzung des koptischen Textes: ἐπέδειξαν τῷ
Ἰησοῦ χρυσίον καὶ εἶπον αὐτῷ οἱ τοῦ Καίσαρος ἀπαιτοῦσιν ἀφ’ ἡμῶν τοὺς φόρους. εἶπεν αὐτοῖς·
ἀπόδοτε τὰ Καίσαρος Καίσαρι. ἀπόδοτε τὰ τοῦ θεοῦ τῷ θεῷ. καὶ τὰ ἐμὰ ἀπόδοτε ἐμοί.

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   23

Kaiser gehören, fordern von uns Steuern.“ Damit dürfte unausgesprochen die
Frage verbunden sein, ob dieser Forderung nachzukommen sei.99 Wer die Fra-
genden sind, wird nicht gesagt; nach dem Kontext (Logion 99) handelt es sich um
Jesu Jünger.100 Jesus antwortet unmittelbar: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.
Gebt Gott, was Gottes ist. Und das, was mein ist, gebt mir.“ Zunächst entspricht
diese Antwort der synoptischen Überlieferung Mk 12,17 parr.,101 das imperativi-
sche „gebt“ wird allerdings wiederholt102; aber dann folgt eine signifikante Ver-
änderung, nämlich die abschließende Forderung Jesu: „[…] und das, was mein
ist, gebt mir“.103 Wolfgang Schrage betont, dass die hier scheinbar zu erkennende
Überordnung Jesu über Gott nicht bedeutet, dass mit „Gott“ der Demiurg gemeint
ist, von dem im EvThom auch „sonst nichts zu erkennen ist“.104 Die Wendung
„das, was mein ist“ beziehe sich auf den „in die Welt der Materie gesunkene[n]
Lichttropfen“, dem „der Erlöser den Wiederaufstieg in die Lichtwelt des Vaters
ermöglichen“ will; diesen Lichtfunken solle man dem Offenbarer geben.105 Aber
nach dem Kontext liegt eine andere Auslegung näher; als Logion 101 wird Jesu
Wort von der Nachfolge überliefert („Wer nicht seinen Vater und seine Mutter
hassen wird wie ich, wird mir nicht Jünger sein können […]“; vgl. Lk 14,26–27
parr. Mt 10,37–38), und so ist die Aussage am Ende von Logion 100 offenbar von
daher zu erklären – in der Forderung „Und das, was mein ist, gebt mir“ erhebt
Jesus den Anspruch der radikalen Nachfolge.106

99 Das für „Steuer“ verwendete koptische Wort entspricht dem in Lk 20,22 gebrauchten φόρος,
nicht κῆνσος wie bei Mk und bei Mt.
100 Logion 99 erinnert an Mk 3,32–35, aber jetzt sind es Jesu Jünger, die ihn auf seine Brüder und
auf seine Mutter hinweisen.
101 W. Schrage, Das Verhältnis des Thomas-Evangeliums zur synoptischen Tradition und zu
den koptischen Evangelienübersetzungen. Zugleich ein Beitrag zur gnostischen Synoptikerdeu-
tung (BZNW 29), Berlin 1964, 190. J.-É. Ménard, L’Evangile selon Thomas (NHS 5), Leiden 1975,
200 hebt hervor, es sei bemerkenswert, dass EvThom „reflète un même souci d’harmonisation
des parallèles canoniques“.
102 Zu den Entsprechungen und Differenzen im Einzelnen vgl. Schrage (wie Anm. 101), ebd.
103 Schrage (wie Anm. 101), ebd. Dem Thomasevangelium sei „allein an dem abschließenden
Jesuswort“ gelegen.
104 Schrage (wie Anm. 101), 190–191.
105 Schrage (wie Anm. 101), 192. Förster (wie Anm. 5), 268–269, sieht in EvThom 100 „die Zins-
groschenperikope christozentrisch auf das Erlösungswerk Jesu gedeutet“, ebenso in Clemens
von Alexandrien, Excerpta ex Theodoto und in Eclogae ex scripturis propheticis (siehe unten).
106 Vgl. H. J. Klauck, Apokryphe Evangelien. Eine Einführung, Stuttgart 2008, 145: „Manchmal
scheinen die Logien [im EvThom] unverbunden nebeneinander zu stehen“, aber man stößt auch
„auf kleine thematische Gruppierungen, die von mehreren Logien gebildet werden“. Log 99–101
nennt Klauck in diesem Zusammenhang nicht, aber grundsätzlich lässt sich „Redaktion“ im Ev-
Thom offenbar beobachten.

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24   Andreas Lindemann

Wenn es in Logion 100, wie der Kontext nahelegt, vermutlich die Jünger sind,
die die Initiative ergreifen und dabei Jesus nicht einen Denar zeigen, sondern eine
nicht näher bezeichnete Goldmünze, dann deutet das darauf hin, dass sich für
das Umfeld, in dem das EvThom entstand, mit der „Zinsgroschenperikope“ ein
konkreter Konflikt nicht mehr verbunden hat. Die Frage, ob Jesus das Recht oder
die Pflicht zur Steuerzahlung bestätigt oder ob er im Gegenteil durch den Hinweis
auf Gott sich gegen die Steuerzahlung wendet, ist anscheinend nicht mehr aktu-
ell.107 Die Leser/Hörer des EvThom sollen vielmehr verstehen, dass nach dem
Urteil Jesu das dem Kaiser zu zahlende Steuergeld und Gott nichts miteinander
zu tun haben; der Steuer-Forderung braucht man sich nicht zu widersetzen, aber
entscheidend ist es, Jesus zu folgen.108

3 Zur altkirchlichen Auslegung der


„Zinsgroschenperikope“
In der um die Mitte des 2. Jahrhunderts entstandenen Literatur zeigt sich eine
bewusst auf die Evangelientexte bezogene Auslegung der „Zinsgroschenpe-
rikope“. Die Steuerpflicht ist dabei offensichtlich ein geringes Problem, denn
deren Erfüllung steht außer Frage;109 die Anerkennung Roms und der in der Steu-
erforderung zum Ausdruck kommenden kaiserlichen Herrschaft fand „lediglich
im Kaiserkult bzw. in der Idolatrie ihre Grenze“.110 Genau hier aber zeigt sich im
Umgang der Autoren mit der Überlieferung ein neuer Akzent.

107 Bovon (wie Anm. 71), 91, meint, EvThom stütze „sich hier zweifellos nicht auf die synop-
tischen Evangelien, sondern auf eine parallele mündliche Fassung“, die in einigen Punkten
„weniger entwickelt“, an anderen Stelle aber „mehr entwickelt“ sei. „Die meisten Exegeten be-
trachten zu Unrecht die ganze Rezension der Episode im Thomas-Evangelium als eine neue In-
terpretation der ursprünglichen synoptischen Form“ (ebd. Anm. 18).
108 Vgl. R. M. Grant/D. N. Freedman, Geheime Worte Jesu. Das Thomas-Evangelium, Frank-
furt/M. 1960, 174: „Im Vergleich zu dem inneren Menschen, der Jesus gehört, erhalten die Pflich-
ten gegenüber dem Kaiser und Gott geringe Bedeutung. Es ist zu beachten, daß Christus offenbar
mächtiger ist als Gott.“ Dass diese abschließende Feststellung zutrifft, ist wenig wahrscheinlich.
109 Vgl. zum Folgenden G. Schöllgen, Integration und Abgrenzung. Die Christen in der städ-
tischen Gesellschaft, in: D. Zeller (Hg.), Christentum I. Von den Anfängen bis zur Konstantini-
schen Wende (Die Religionen der Menschheit 28), Stuttgart 2002, vor allem 397–402. Einwände
gegen die Steuerzahlung „scheint es lediglich in judenchristlichen Kreisen gegeben zu haben“
(397).
110 Schöllgen (wie Anm. 109), ebd.

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   25

3.1

Justin beschreibt in seiner um 150 verfassten an den Kaiser gerichteten Apolo­


gia111 das Christentum, und dabei bezieht er sich von 1 Apologia 14 an auf Worte
(λόγοι) Jesu, die belegen, dass Jesu Wort δύναμις θεοῦ112 war. In 17,1 betont er,
dass die Christen φόροι καὶ εἰσφοραί zahlen, „wie wir durch ihn belehrt worden
sind (ὡς ἐδιδάχθημεν παρ’ αὐτοῦ)“113, und das erläutert er in 17,2, indem er die
„Zinsgroschen“-Szene recht ausführlich erzählt. Dazu weist er eingangs auf den
geschichtlichen Zusammenhang hin:

Zu jener Zeit (sc. Jesu) kamen Leute zu ihm und fragten ihn, ob man dem Kaiser Steuern
zahlen müsse. Und er antwortete: Sagt mir: Wessen Bild trägt die Münze? Sie aber sagten:
Des Kaisers. Und er wiederum antwortete ihnen: Gebt also das, was des Kaisers ist, dem
Kaiser, und das, was Gottes ist, Gott.114

Justins Darstellung ist nicht als Zitat gekennzeichnet, sie entspricht aber im
Wesentlichen der Mt-Fassung der Perikope.115 In 17,3 nennt Justin die Konsequenz:

Also (ὅθεν) verehren wir allein Gott (θεὸν μὲν μόνον προσκυνοῦμεν), euch aber leisten wir
freudig unseren Dienst (χαίροντες ὑπηρετοῦμεν), indem wir euch als Könige und Herrscher
der Menschen anerkennen (βασιλεῖς καὶ ἄρχοντας ἀνθρώπων ὁμολογοῦντες) und dafür
beten, dass ihr gemeinsam mit eurer königlichen (kaiserlichen) Macht (μετὰ τῆς βασιλικῆς
δυνάμεως) auch als solche gefunden werdet, die vernünftige Einsicht besitzen (σώφρονα
τὸν λογισμὸν ἔχοντας ὑμᾶς εὑρεθῆναι).116

111 Die Frage, ob es sich bei der Apologie um ein Werk handelt oder um zwei, kann hier uner-
örtert bleiben.
112 Justin, 1 Apologia 14,5 (PTS 38, 53,24 Marcovich).
113 Justin, 1 Apologia 17,1 (58,1–2 M.).
114 Justin, 1 Apologia 17,2 (58,2–7 M.): Κατ’ ἐκεῖνο γὰρ τοῦ καιροῦ προσελθόντες τινὲς ἠρώτων
αὐτόν, „εἰ δεῖ Καίσαρι φόρους τελεῖν.“ Καὶ ἀπεκρίνατο·„Εἴπατέ μοι, τίνος εἰκόνα τὸ νόμισμα
ἔχει;“ Οἱ δὲ ἔφασαν· „Καίσαρος.“ Καὶ πάλιν ἀνταπεκρίνατο αὐτοῖς· „Ἀπόδοτε οὖν τὰ Καίσαρος τῷ
Καίσαρι καὶ τὰ τοῦ θεοῦ τῷ θεῷ.“
115 Bovon (wie Anm. 71), 92, meint, die „Zinsgroschenperikope“ sei in zwei Fassungen im
Umlauf gewesen – zum einen in der in den synoptischen Evangelien und in Papyrus Egerton 2
erkennbaren Form, zum andern in der in EvThom 100 und bei Justin bewahrten mündlichen Fas-
sung. „Diese beiden Formen der Erzählung hatten ihre Wurzeln in verschiedenen Weisen, sich
einer Episode zu erinnern.“ Aber die von Justin überlieferte Textfassung ist direkt oder indirekt
aus dem MtEv übernommen worden.
116 Justin, 1 Apologia 17,3 (58,7–10 M.).

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26   Andreas Lindemann

Wenn die Herrscher Fehler machen, so werde das nicht zu Lasten der Christen
gehen (17,4), denn Gott werde die Menschen nach ihren Taten richten.117
Justin sagt also ausdrücklich, dass die Christen durch die Loyalität gegenüber
dem Kaiser in einen Konflikt mit Gott geraten können; deshalb betont er, dass das
προσκυνεῖν allein Gott gebührt, während sich das Verhältnis zu den irdischen
Herrschern auf das ὑπηρετεῖν beschränkt. Durch den Hinweis auf das Gebet um
vernünftige Einsicht der Herrscher wird zugleich indirekt unterstrichen, dass
die βασιλεῖς nicht als gottgleiche Wesen anzusehen sind.118 So ist für Justin die
„Zinsgroschenperikope“ ein Beleg für die Staatstreue der Christen; sie zeigt aber
zugleich auch, dass dem Kaiser göttliche Verehrung nicht zukommt.119

Der Apologet Theophilus (um 180) polemisiert in Ad Autolycum gegen die ägypti-
schen und griechischen Gottheiten, die in Wahrheit keine Götter seien, sondern
nur Götzenbilder, Menschenwerk und unreine Dämonen.120 In 1,11 schreibt er:
„Also will ich lieber den Kaiser ehren, nicht ihn anbetend (οὐ προσκυνῶν αὐτῷ),
sondern für ihn betend (ἀλλὰ εὐχόμενος ὑπὲρ αὐτοῦ).“121 Das ist das Gebet zum
allein wahren Gott, „wissend, dass der Kaiser von ihm geschaffen ist“122. Der
Kaiser „ist nicht Gott, sondern ein Mensch, von Gott eingesetzt, nicht um angebe-
tet zu werden, sondern um gerecht zu richten“123. Hier ist der Bezug zu Röm 13,1–7
deutlich,124 aber es wird weder diese Stelle noch Mk 12,13–17 parr. zitiert. In 1,11
verweist Theophilus auf Spr 24,21–22 als Beleg für das, was „das Gesetz Gottes

117 Beleg ist ein Wort Christi, das an Lk 12,48 anklingt (Justin, 1 Apologia 17,4 [58,15–16 M.]):
ὧι πλέον ἔδωκεν ὁ θεός, πλέον καὶ ἀπαιτηθήσεται παρ’ αὐτοῦ (vgl. Lk 12,48b: παντὶ δὲ ᾧ ἐδόθη
πολύ, πολὺ ζητηθήσεται παρ’ αὐτοῦ, καὶ ᾧ παρέθεντο πολύ, περισσότερον αἰτήσουσιν αὐτόν).
118 Vgl. das Gebet für die Inhaber der staatlichen Macht in 1 Clemens 61,1.2. Vgl. Koch (wie
Anm. 4), 224: Das Gebet erfolgt „nicht allgemein für das Wohlergehen des Kaisers (etwa seine
fortuna), sondern sehr gezielt für das verantwortliche Regierungshandeln des Kaisers, womit
dieses auch indirekt angemahnt wird. Darüber hinaus werden alle Ansprüche, insbesondere re-
ligiöse, strikt abgelehnt.“
119 Gnilka (wie Anm. 8), 154–155, sieht dagegen schon bei Justin das Verständnis, „das das Lo-
gion im Sinne vorbehaltloser Pflichterfüllung gegen die staatliche Gewalt begreift und von deren
letzter Begrenzung nichts mehr verlauten läßt, in Zukunft weithin das herrschende“.
120 Theophilus, Ad Autolycum 1,10,6 (PTS 44, 29,18–19 Marcovich): εἴδωλα […] ἔργα χειρῶν
ἀνθρώπων, καὶ δαιμόνια ἀκάθαρτα.
121 Theophilus, Ad Autolycum 1,11,1 (30,1–2 M.)
122 Theophilus, Ad Autolycum 1,11,1 (30,2–3 M.): εἰδὼς ὃτι ὁ βασιλεὺς ὑπ’ αὐτοῦ γέγονεν.
123 Theophilus, Ad Autolycum 1,11,2 (30,5–6 M.): Θεὸς γὰρ οὐκ ἒστιν, ἀλλὰ ἂνθρωπος, ὑπὸ θεοῦ
τεταγμένος, οὐκ εἰς τὸ προσκυνεῖσθαι, ἀλλὰ εἰς τὸ δικαίως κρίνειν.
124 In Ad Autolycum 3,14,5 wird Röm 13,7 nahezu wörtlich angeführt, mit deutlicher Anspielung
auch auf Röm 13,8.

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   27

sagt“ (λέγει γὰρ ὁ νόμος ὁ τοῦ θεοῦ): „Ehre, Sohn, Gott und den König, und sei
keinem von ihnen ungehorsam, denn schnell werden sie ihre Feinde bestrafen“.125
Man war offensichtlich nicht einmal theoretisch dazu bereit, die „Staatstreue“
über die Treue zu Gott zu stellen.

3.2

In den Acta martyrum Scilitanorum, den Akten der im Jahre 180 hingerichteten
Märtyrer von Scili lässt sich eine Anspielung auf die „Zinsgroschenperikope“
erkennen. Der vor dem Prokonsul Saturninus angeklagte Speratus erklärt, dass
die Christen niemals Böses getan (numquam malefecimus),126 sondern im Gegen-
teil Böses erduldet haben. „Darum gehorchen wir unserem Kaiser“ (propter quod
imperatorem nostrum obseruamus)127. Als Saturninus verlangt, Speratus solle
„beim Genius unseres Herrn, des Kaisers“ (iuramus per genium domni nostri
imperatoris)128 schwören, antwortet dieser, ein Reich dieser Welt erkenne er nicht
an (Ego imperium huius seculi non cognosco)129. Er habe aber niemals einen Dieb-
stahl begangen, und er habe bei jedem Kauf die Steuer entrichtet (siquid emero
teloneum reddo)130, weil er den Kaiser als Herrscher über alle Könige und Völker
anerkennt.131 Der ebenfalls angeklagte Cittinus sagt, dass die Christen allein Gott
verehren (Nos non habemus alium quem timeamus nisi domnum Deum nostrum qui
est in caelis)132. Die Christin Donata ergänzt dies durch die an Mk 12,17 erinnernde
Aussage: Honorem Caesari quasi Caesari; timorem autem Deo.133 Am Ende führt

125 Theophilus, Ad Autolycum 1,11,5 (30,13–14 M.): Τίμα, υἱέ, θεὸν καὶ βασιλέα, καὶ μηδενὶ αὐτῶν
ἀπειθὴς ᾖς· ἐξαίφνης γὰρ τίσονται τοὺς ἐχθροὺς αὐτῶν.
126 Acta martyrum Scilitanorum 2 (OECT, 86,6 Musurillo).
127 Acta martyrum Scilitanorum 2 (86,8 M.).
128 Acta martyrum Scilitanorum 3 (86,10 M.).
129 Acta martyrum Scilitanorum 6 (86,17 M.).
130 Acta martyrum Scilitanorum 6 (86,19 M.).
131 Hegesipp (um 180) berichtet von Nachkommen des Herrenbruders Judas, die unter Domi-
tian angezeigt worden seien und die dabei ihre Verwandtschaft mit König David bestätigten.
Ihr Vermögen sei Ackerland, das „sie mit eigener Hand bewirtschafteten, um davon die Steuern
zu zahlen und ihren Lebensunterhalt zu decken (ἐξ ὧν καὶ τοὺς φόρους ἀναφέρειν καὶ αὐτοὺς
αὐτουργοῦντας διατρέφεσθαι)“. (Euseb, Historia ecclesiastica 3,20,2 [GCS.NF 6,1, 234,3–4
Schwartz/Mommsen/Winkelmann]). Auffällig ist die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Dar-
stellung zufolge Christen der Steuerpflicht nachkommen, ohne dass es dazu einer besonderen
Argumentation bedürfte. Gilt das für die Zeit Domitians oder für die Zeit des Hegesipp?
132 Acta martyrum Scilitanorum 8 (88,3–4 M.).
133 Acta martyrum Scilitanorum 9 (88,5–6 M.).

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28   Andreas Lindemann

das Bekenntnis Christiana sum bzw. Christianus sum dazu, dass die Angeklagten
zum Tode verurteilt und hingerichtet werden.134 Die Christen sind dazu bereit,
dem Kaiser gegenüber loyal zu sein, aber dessen religiöse Verehrung ist für sie
gänzlich ausgeschlossen.135

3.3

Tertullian schreibt in seinem gegen Ende des 2. Jahrhunderts verfassten


Apologeticum,136 die Verweigerung der Verehrung des Kaisers bedeute nicht
dessen Ablehnung. Christen wenden sich im Gegenteil pro salute imperatorum137
an den ewigen, wahren, lebendigen Gott; die Caesaren wüssten ja selber, dass
Gott allein Gott ist, unter dessen Macht sie stehen (sentiunt eum esse Deum solum,
in cuius solius potestate sunt).138 In ihren Versammlungen beten Christen für die
Kaiser (oramus etiam pro imperatoribus),139 für ihre Minister und Mächtigen, für
den Bestand der Welt (pro statu saeculi),140 für allgemeine Ruhe und für den Auf-
schub des (Welt-)Endes (pro rerum quiete, pro mora finis).141 Auf biblische Aus­
sagen wird im Apologeticum nicht hingewiesen.

In seinem in montanistischer Zeit entstandenen Werk De idololatria schreibt


Tertullian, Götzendienst sei in Wahrheit Menschenverehrung; die so verehrten
Götter seien – wie ja auch die Heiden wüssten – früher Menschen gewesen,
und es mache keinen Unterschied, ob man Personen der Vergangenheit oder

134 Acta martyrum Scilitanorum 14–17.


135 Es scheint dieselbe Situation zu sein, die sich etwa auch in Apk 13 spiegelt, ohne dass dort
die „Zinsgroschenperikope“ auch nur anklingt.
136 Deutsche Übersetzungen der Werke Tertullians finden sich auch bei Heinrich Kellner,
Tertullians ausgewählte Schriften ins Deutsche übersetzt (2BKV 7; 24), München 1912; 1915. Zum
Apologeticum außerdem die zweisprachige Ausgabe von Carl Becker, Apologeticum. Lateinisch
und deutsch, München 21961.
137 Tertullian, Apologeticum 30,1 (CChr.SL 1, 141,1 Dekkers).
138 Tertullian, Apologeticum 30,1 (141,5–6 D.).
139 Tertullian, Apologeticum 39,2 (150,7 D.).
140 Tertullian, Apologeticum 39,2 (150,8 D.).
141 Tertullian, Apologeticum 39,2 (150,8–9 D.). Die Legatio pro Christianis des Athenagoras endet
mit der Aussage, dass Christen für die Herrscher beten (37,2), und „dies liegt auch in unserem
eigenen Interesse, damit unser Leben ruhig und ungestört verlaufe und wir alle Anordnungen
bereitwillig vollziehen können“ / τοῦτο δ’ ἐστὶ καὶ πρὸς ἡμῶν, ὃπως ἢρεμον καὶ ἡσύχιον βίον
διάγοιμεν, αὐτοὶ δὲ πάντα τὰ κεκελευσμένα προθύμως ὑπηρετοῖμεν. (37,3 [OECT, 86 Schoedel]).

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   29

aber gegenwärtig lebenden Personen religiöse Verehrung erweise.142 Dann folgt


die Aussage, dass dem Kaiser zu geben ist, was des Kaisers ist (Reddenda sunt
Caesari quae sunt Caesaris),143 die im Kontext fast so klingt, als werde hier eine
Gegenposition zu Tertullians Kritik an der Idololatrie referiert.144 Es sei gut, so
betont Tertullian, dass das Wort nicht allein stehe, sondern eine Fortsetzung
habe (Bene quod apposuit):145 Gebt „Gott, was Gottes ist“ ([…] et quae sunt dei
deo).146 Daraus ergebe sich nun die grundsätzliche Frage: „Was also gehört dem
Kaiser?“ (Quae ergo sunt Caesaris?),147 und daraufhin folgt ein textnahes Referat
der „Zinsgroschenperikope“:

Damals wurde erörtert, ob man dem Kaiser die Steuer zu zahlen habe oder nicht; der Herr
verlangte, man solle ihm eine Münze zeigen, und als er auf die Frage, wessen Bild sie trage,
die Antwort erhielt: des Kaisers, sagte er: Gebt, was des Kaisers ist, dem Kaiser, und was
Gottes ist (gebt) Gott.148

Das bedeute (id est), dass das Bild des Kaisers auf der Münze dem Kaiser gehöre,
aber das Bild Gottes, das im Menschen ist, gehöre Gott (imaginem Caesaris
Caesari, quae in nummo est, et imaginem dei deo, quae in homine est).149 Und
daher gelte, „dass du dem Kaiser Geld gibst, und Gott dich selbst“ (ut Caesari
quidem pecuniam reddas, deo temetipsum).150 In 15,4 folgt die rhetorische Frage:
„Was wird denn Gottes sein, wenn alles dem Caesar zukommt (Alioquin quid
erit dei, si omnia Caesaris)?“151 Tertullian leitet also aus der Zinsgroschenszene

142 Tertullian, De idololatria 15,2. Vgl. dazu K. Thraede, Euhemerismus, in: RAC 6 (1966), 877–
890, zu Tertullian 886–887.
143 Tertullian, De idololatria 15,3 (CChr.SL 2, 1115,22 Reifferscheid/Wissowa).
144 Dafür spricht die indirekte Rede (reddenda sunt etc.), womit nur implizit auf Mk 12,17 bzw.
Mt 22,21 Bezug genommen ist.
145 Tertullian, De idololatria 39,3 (1115,22–23 R./W.).
146 Tertullian, De idololatria 39,3 (1115,23 R./W.).
147 Tertullian, De idololatria 39,3 (1115,23 R./W.).
148 Tertullian, De idololatria 15,3 (1115,24–28 R./W.): Scilicet de quibus tunc consultatio moueba­
tur, praestandusne esset census Caesari an non. Ideo et monetam ostendi sibi dominus postulauit
et de imagine, cuius esset, requisiuit, et cum audisset Caesaris, reddite, ait, quae sunt Caesaris
Caesari, et quae sunt dei deo.
149 Tertullian, De idololatria 15,3 (1115,28–1116,1 R./W.).
150 Tertullian, De idololatria 15,3 (1116,1 R./W.).
151 Tertullian, De idololatria 15,4 (1116,2 R./W.). Koch (wie Anm. 4), 225: „Der Kaiser hat also den
begrenzten Anspruch auf das Geld [faktisch einen Teil des Geldes, nämlich in Höhe des Steu-
eranteils], Gott hat den umfassenden Anspruch auf die Person.“ Damit will Tertullian „einen
Damm dagegen aufrichten, dass die sich auf den Kaiser beziehenden Forderungen an die Chris-
ten ausufern, dass nämlich dem Kaiser ‚alles‘ (omnia Caesaris) gehört.“ Ehrenbezeugungen wie

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30   Andreas Lindemann

eine über das ursprüngliche Thema hinausgehende Entscheidung ab. Überdies


stellt er in 15,8 in Anspielung auf Röm 13 fest, dass es nach Weisung des Apostels
geboten ist, sich den Behörden unterzuordnen; doch das müsse in den Grenzen
der Ordnung (intra limites disciplinae152) geschehen, mit der Folge, dass wir uns
vom Götzendienst fernhalten (ab idololatria separamur).153
In der ebenfalls montanistischen Schrift De corona militis wird die Frage dis-
kutiert, ob ein Christ als Soldat eine womöglich mit einem Geldgeschenk verbun-
dene Ehrung, insbesondere den Kranz, annehmen darf. Tertullian stellt fest, dass
dies angesichts des Wortes Jesu über die Unvereinbarkeit von Gottes- und Mam-
monsdienst keinesfalls in Frage kommt.154 Dasselbe gelte nach Jesu Wort reddite
quae sunt Caesaris Caesari et quae dei deo,155 sofern daraus gefolgert würde, dass
sich der Mensch Gott entzieht und den Denar für den Caesar annimmt. Es besteht
im Konfliktfall also eine Unvereinbarkeit zwischen dem Dienst für Gott und dem
Dienst für den Kaiser:156 Puta denique licere militiam usque ad causam coronae. –
„Wenn es schon christliche Soldaten gibt, dann aber dürfen sie auf keinen Fall
auch nur in irgendeiner Form am heidnischen Kult teilnehmen.“157
In Scorpiace 14,2158 zitiert Tertullian in Auslegung von Röm 13,1–7 die Weisung
reddite, iubens [sc. Paulus in 13,7], cui tributum, tributum. cui uectigal, uectigal,
und darauf folgt übergangslos Mt 22,21: id est quae sunt Caesaris Caesari, et quae
dei deo. Tertullian sagt abschließend, dass sich das, „was Gottes ist“, auf den
ganzen Menschen bezieht (solius autem dei homo),159 womit wieder kein absoluter
Gegensatz, aber doch eine scharfe Unterscheidung beider Bereiche benannt wird.
In Adversus Marcionem, wo sich Tertullian mit Marcions Textfassung des
LkEv auseinandersetzt, geht es in 4,38 um Lk 20,1–8.22–44. In 4,38,3 zitiert Tertul-
lian den Satz Reddite quae Caesaris Caesari, et quae sunt dei deo, und er stellt

die Bekränzung und Illumination der Türen kommen für Christen also nicht in Frage, denn dies
ist nicht etwas Äußerliches, sondern es ist immer mit Idololatrie verbunden.
152 Tertullian, De idololatria 15,8 (1116,30–31 R./W.).
153 Tertullian, De idololatria 15,8 (1116,31 R./W.).
154 Tertullian, De corona militis 12,4.
155 Tertullian, De corona militis 12,4 (CChr.SL 2, 1059,25–26 Kroymann).
156 Tertullian, De corona militis 12,1. Eine Anspielung auf Mt 22,21 findet sich in De resurrectione
mortuorum 22,11 bezogen auf Grabdenkmäler. In De fuga in persecutione 12,9–10 geht Tertullian
auf die Spannung ein, die zwischen dem Empfang von Geld des Caesar und der Zugehörigkeit zu
Gott bestehen kann; es bestehe ein Unterschied, ob man den Denar schuldet, ihn also zu zahlen
verpflichtet ist, oder ob man sich durch Geldempfang an den Caesar bindet.
157 Tertullian, De corona militis 12,1 (1058,4–5 K.). Brennecke (wie Anm. 3), 217: Dies sei „der
leicht resigniert wirkende Schluß“ der Darlegungen Tertullians.
158 Tertullian, Scorpiace 14,2 (CChr.SL 2, 1096,18–21 Reifferscheid/Wissowa).
159 In 14,3 folgt der Verweis auf 1 Petr 2,17.

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   31

dann die Frage: Quae erunt dei, die er mit einer Analogie beantwortet: Der Denar
ist imago und similitudo des Caesar, und entsprechend muss der Mensch dem
Schöpfer zurückgegeben werden, nach dessen Bild er ja geprägt ist (Hominem
igitur reddi iubet creatori, in cuius imagine et similitudine et nomine et materia
expressus est). Solle sich doch der Gott Marcions seine Münze suchen (Quaerat
sibi monetam deus Marcionis), stellt Tertullian polemisch fest – Christus aber gibt
die Anweisung, dass der Mensch den Denar „seinem Kaiser“, also Gott, zurück-
geben muss, nicht einem fremden (Christus denarium hominis suo Caesari iubet
reddi. Non alieno […]).160 Das Verhältnis zum Kaiser ist hier gar nicht im Blick,
wohl aber leitet Tertullian aus dem Logion Mk 12,17 die uneingeschränkte Unter-
ordnung des Menschen unter Gott als seinen Schöpfer ab.

Tertullian betont in seinen Schriften die Unterscheidung zwischen dem Kaiser


und Gott; aber er behauptet keinen unüberbrückbaren Gegensatz. Dass die
Bindung an Gott die Beziehung zum Kaiser vollkommen überbietet, ist selbstver-
ständlich.

3.4

Irenäus von Lyon entwirft in Adversus haereses 3,6–15 eine biblisch begrün-
dete Gotteslehre, wobei sich für ihn der von Paulus verwendete Ausdruck „Gott
dieser Weltzeit“ (2 Kor 4,4) als ein besonders schwieriger Text erweist, den er in
seinem Sinn zu deuten sucht (3,7,1–2).161 Tatsächlich dürfe allein der wahre und
einzige Gott als Gott bezeichnet werden, so wie es Christus in seinem Logion
gesagt habe: qui et „Caesari“ quidem „quae Caesaris reddi“ iubet. „et quae Dei
sunt Deo“;162 Christus habe damit den Caesar als Caesar bezeichnet und zugleich
allein Gott als Gott bekannt (Caesarem quidem Caesarem nominans, Deum uero
Deum confitens).163

160 Tertullian, Adversus Marcionem 4,38,3 (OECT, 476 Evans). Ob Marcion in seinem Evangeli-
um die „Zinsgroschenperikope“ und diesen Satz bietet, wird aus Tertullians Darstellung nicht
deutlich.
161 Irenäus nimmt an, dass in 2 Kor 4,4 mit dem Begriff deus saeculi huius nicht ein anderer
Gott gemeint ist, denn der Text sei so zu lesen: „Gott hat die Sinne der Ungläubigen dieser Welt
verblendet“ – Deus excaecavit mentes infidelium huius saeculi (Adversus haereses 3,7,1 [SC 211,
82,13–14 Rousseau/Doutreleau]).
162 Irenäus, Adversus haereses 3,8,1 (88,5–6 R./D.).
163 Irenäus, Adversus haereses 3,8,1 (88,6–8 R./D.). Ähnliches sage der Herr auch in Mt 6,24
par. Lk 16,13.

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32   Andreas Lindemann

3.5

Tatian fragt in seiner Rede an die ἄνδρες Ἕλληνες,164 warum diese die Christen
wie Staatsfeinde behandeln: „Der Kaiser befiehlt, Steuern zu zahlen (φόρους
τελεῖν); ich bin bereit zu zahlen“,165 und auch Dienst und Gehorsam gegenüber
dem δεσπότης werden anerkannt (τὴν δουλείαν γινώσκω)166. Für Christen gilt:
„Den Menschen muss man auf menschliche Weise ehren, fürchten aber muss
man allein Gott“ (τὸν μὲν γὰρ ἄνθρωπον ἀνθρωπίνως τιμητέον, φοβητέον δὲ
μόνον τὸν θεόν)167. Aber „wenn befohlen wird, ihn zu verleugnen, werde ich nicht
gehorchen, sondern eher sterben, damit ich nicht als Lügner und Undankbarer
erwiesen werde.“168 Auch Tatian unterscheidet also strikt zwischen der τιμή für
den Kaiser und dem φόβος gegenüber Gott.

3.6

In den Excerpta ex Theodoto zitiert Clemens Alexandrinus in 85,1–3 die Aussage des
Apostels, dass die Taufe die Pfeile des Teufels auszulöschen vermag (Eph 6,16).169
Dann folgt übergangslos in 86,1–2 eine freie Anspielung auf Mk 12,13–17 parr.:
Als man dem κύριος eine Münze brachte, habe er nicht gefragt: „Wem gehört das
Geld?“ (τίνος τὸ κτῆμα), sondern seine Frage lautete: „Wessen ist das Bild und die
Aufschrift?“ (τίνος ἡ εἰκὼν καὶ ἡ ἐπιγραφή).170 Jesus habe dann aus der Antwort
„des Kaisers“ gefolgert, dass die Münze demjenigen gegeben wird, dem sie gehört
(οὗ ἐστιν, ἐκείνῳ δοθῇ); und dann folgt eine Anwendung: „So ist auch der Gläu-
bige“ (οὕτως καὶ ὁ πιστός), denn er hat durch Christus als „Aufschrift“ den Namen
Gottes (ἐπιγραφὴν μὲν ἔχει διὰ Χριστοῦ τὸ ὄνομα τοῦ θεοῦ), und als „Bild“ hat er

164 Tatian, Oratio ad Graecos 4,1 (PTS 43, 12,1 Marcovich).


165 Tatian, Oratio ad Graecos 4,2 (12,3–4 M.).
166 Tatian, Oratio ad Graecos 4,2 (12,5 M.).
167 Tatian, Oratio ad Graecos 4,2 (12,5–6 M.).
168 Tatian, Oratio ad Graecos 4,2 (12,7–9 M.): Τοῦτον μόνον ἀρνεῖσθαι κελευόμενος οὐ
πεισθήσομαι, τεθνήξομαι δὲ μᾶλλον, ἳνα μὴ ψεύστης καὶ ἀχάριστος ἀποδειχθῶ.
169 Das Zitat lautet: δεῖ οὖν ὡπλῖσθαι τοῖς κυριακοῖς ὅπλοις ἔχοντας […] ὅπλοις σβέσαι τὰ βέλη
τοῦ διαβόλου δυναμένοις, ὡς φησίν ἀπόστολος (Clemens Alexandrinus, Excerpta ex Theodoto
85,3 [GCS 17, 132,28–30 Stählin]). In Eph 6,16 heißt es: ἐν πᾶσιν ἀναλαβόντες τὸν θυρεὸν τῆς
πίστεως, ἐν ᾧ δυνήσεσθε πάντα τὰ βέλη τοῦ πονηροῦ τὰ πεπυρωμένα σβέσαι. Der Textabschnitt
geht vermutlich auf Clemens selber zurück, nicht auf Theodotus; vgl. F. Sagnard (ed.), Clément
d’Alexandrie. Extraits de Théodote, SC 23, Paris 1970, 210: „Très beau passage, digne de Clément
d’Alexandrie.“
170 Clemens Alexandrinus, Excerpta ex Theodoto 86,1 (133,1–2 S.).

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   33

den Geist (τὸ δὲ πνεῦμά ὡς εἰκόνα).171 So wie die Tiere Zeichen tragen, die ihren
Besitzer erkennen lassen, so trägt die gläubige Seele das Siegel der Wahrheit,
nämlich τὰ στίγματα τοῦ Χριστοῦ (Gal 6,17).172 Von der Steuerfrage ist hier nicht
die Rede, aber auch die Frage einer möglicherweise bestehenden Konkurrenz in
der Beziehung zum Kaiser und zu Gott klingt nicht an.173
In den Eclogae ex scripturis propheticis wird in 24,1–3 eine Verbindung herge-
stellt zwischen Mt 22,21 und 1 Kor 15,49:

Als wir χοϊκοί waren, waren wir des Kaisers. Der Kaiser aber ist der zeitliche Herrscher
(ὁ πρόσκαιρος ἄρχων), und dessen irdisches Bild ist der alte Mensch, zu dem er zurückge-
laufen ist (οὗ καὶ εἰκὼν ἡ χοϊκὴ ὁ παλαιὸς ἄνθρωπος, εἰς ὃν ἐπαλινδρόμησεν). Ihm muss
folglich das Irdische zurückgegeben werden (τούτῳ οὖν τὰ χοϊκὰ ἀποδοτέον), „das wir im
Bild des χοϊκός getragen haben“ (1 Kor 15,49), und (so gilt dann) „das, was Gottes ist, gehört
Gott“ (τὰ τοῦ θεοῦ τῷ θεῷ, Mk 12,17 bzw. Mt 22,21).174

Niklas Förster meint, Clemens sei zu diesen Überlegungen „allem Anschein nach“
durch eine Quelle angeregt worden, die den Excerpta ex Theodoto nahesteht.175
Tatsächlich macht die Argumentation den Eindruck, dass es sich um den Auszug
aus einer Exegese der „Zinsgroschenperikope“ handelt; aber da ein Rahmen

171 Clemens Alexandrinus, Excerpta ex Theodoto 86,1–2 (133,2–4 S.).


172 Clemens Alexandrinus, Excerpta ex Theodoto 86,2 (133,7 S.).
173 Förster (wie Anm. 5), 174 (dort auch eine Übersetzung), sieht hier „bereits eine eindeutig
christliche Exegese“, wenn die Taufe dem Brandzeichen der Tiere in einer Herde gleichgesetzt
wird. „Alle irdischen Konflikte, wie sie die Steuerforderungen des römischen Staats verursach-
ten, waren dagegen für die Gnostiker bedeutungslos“ (175). Er sieht den von Clemens zitierten
Text als valentinianisch an. Es gebe Berührungspunkte mit der in EvThom 100 enthaltenen Fas-
sung (vgl. Förster [wie Anm. 5], 267).
174 Clemens Alexandrinus, Eclogae ex scripturis propheticis 24,1–2 (GCS 17, 143,12–15 Stählin/
Früchtel/Treu). Es heißt dann weiter, jede der πάθη sei wie ein Buchstabe und eine Prägung und
ein Zeichen (ὥσπερ γράμμα καὶ χάραγμα ἡμῖν καὶ σημεῖον). Ein anderes χάραγμα sei jetzt (νῦν)
für uns der κύριος, und es werden andere Namen und Buchstaben eingeprägt (ἄλλα ὀνόματα
καὶ γράμματα ἐνσημαίνετα), nämlich Glaube statt Unglaube und so weiter. So werden wir vom
Stofflichen umgeformt ins Geistliche, indem wir das Bild des Himmlischen tragen (1 Kor 15,49b).
Vgl. Eclogae ex scripturis propheticis 24,1 (143,15–19 S.).
175 Förster (wie Anm. 5), 268: „Das wesentliche Moment seiner Exegese besteht darin, dass er
den Kaiser ausdrücklich mit dem demiurgischen Weltschöpfer gleichsetzt, den er valentinia-
nisch-gnostischer Terminologie folgend als ‚vorübergehenden Herrscher‘ […] tituliert“ und dem
er das Wirken des Christus entgegensetzt, der „bei der Taufe den Christen ein χάραγμα aufprägt“,
und daraus resultiere „die Befreiung des Menschen aus der irdischen Sphäre, was Clemens als
Übergang vom Bereich des Hylischen zur pneumatischen Welt beschreibt, wobei er Paulus zitiert
(1 Kor 15,49)“.

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34   Andreas Lindemann

nicht zu erkennen ist, lässt sich nicht sagen, ob neben der hier zitierten allego-
rischen Auslegung noch eine andere Auslegung als möglich angesehen wird.176

3.7

Eine neue Qualität in der Geschichte der Auslegung der „Zinsgroschenperikope“


ist mit Origenes erreicht, der in In Lucam homilia 39 und vor allem in seinem
Commentarius in Matthaeum hermeneutisch reflektierte Exegesen des biblischen
Textes bietet.177 In Lucam homilia 39,1–4 enthält eine Auslegung der „Sadduzäer­
frage“ Lk 20,27–40, aber Origenes verweist darauf, dass im Kontext auch vom Bild
des Kaisers die Rede ist, und deshalb müsse er kurz darauf eingehen. „Einige
Leute meinen, es sei vom Heiland lediglich gesagt worden: ‚Gebt, was des Kaisers
ist, dem Kaiser‘, und das bedeute: ‚Gebt die Steuerzahlung, die ihr schuldet‘.“
„Indes“, so fragt Origenes, „wer von uns würde dem schon widersprechen, dass
dem Kaiser die Steuern zu zahlen sind (Quis enim nostrum de tributis reddendis
Caesari contradicit?)?“ Folglich müsse der Text einen tieferen Sinn haben (Habet
igitur locus quiddam mystici atque secreti).178
Diesen tieferen Sinn trägt Origenes in In Lucam homilia 39,5–6 vor, wobei
es vor allem um die Auslegung des Begriffs imago geht179: „Zwei Bilder gibt es
im Menschen“ (duae sunt imagines in homine); das eine hat er am Anfang von
Gott erhalten, wie im Buch Genesis geschrieben steht (Gen 1,27: iuxta imagi­
nem et similitudinem Dei), später erhielt er dann das Bild des Irdischen (altera

176 Vgl. R. E. Heine, The Alexandrians, in: F. Young/L. Ayres/A. Louth (eds.), The Cambridge


History of Early Christian Literature, Cambridge 2006, 210–211: „The Excerpta ex Theodoto and
Eclogae Propheticae appear to be notebooks, probably not intended for publication, at least in
their present form. […] Neither contribute much to our understanding of Clement.“
177 Heine (wie Anm. 176), 123: Die traditionelle Unterscheidung der Werke des Origenes in
Kommentare, Homilien und nicht primär exegetische Werke „is an artificial division, for biblical
exegesis lies at the heart of all of Origen’s works, and they are also all equally concerned with
theology. Just as one did philosophy in this period either by writing commentaries on the works
of the classical philosophers, or by treating particular themes exgetically, so Origen did theology
in relation to the Bible.“
178 Origenes, In Lucam homilia 39,4 (GCS 49, 219,18–22 Rauer; übers. in Anlehnung an FC 4/2,
389 Sieben).
179 Förster (wie Anm. 5), 175, sieht bei Origenes „ein besonders treffendes Exempel“ dafür, wie
der „Kern des Konfliktes durch eine spiritualisierende Auslegung entschärft“ wird. So werde Jesu
Antwort „zu einer Ermunterung zur konsequenten Entweltlichung umgedeutet“, weil dem Kir-
chenvater „die Anweisung, den Steuerzahlungen nachzukommen, gar kein Problem anzeigt, das
einer Diskussion wert gewesen wäre“.

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   35

„choici“ postea, vgl. 1 Kor 15,49), nachdem er, auf Grund seines Ungehorsams aus
dem Paradies vertrieben, den Verlockungen des „Fürsten dieser Welt“ (principis
saeculi huius, vgl. Joh 12,31) gefolgt war. „So wie nämlich eine Sesterze oder ein
Denar das Bild der Herrscher der Welt trägt, so trägt der, der die Werke des Beherr-
schers der Finsternis tut (qui facit opera „rectoris tenebrarum“, vgl. Eph 6,12),
dessen imago, da er dessen Werke tut.“ Jesus sage von dieser imago, wir müssten
sie zurückgeben und uns stattdessen jene imago zu eigen machen, gemäß derer
wir am Anfang zur Ähnlichkeit Gottes geschaffen wurden (iuxta quam a principio
ad similitudinem Dei conditi sumus). „Und so geschieht es, dass wir ‚das, was des
Kaisers ist, dem Kaiser, und was Gottes ist, Gott‘ geben“ (Atque ita fit, ut, „quae
Caesaris sunt, Caesari et, quae Dei, Deo“ reddamus).180 Darauf folgt als Erläu-
terung fast wörtlich der Text von Mt 22,19–21a. Eben das habe Paulus gemeint
mit seiner Aussage: „Wie wir getragen haben die imago choici, wollen wir auch
tragen die imago caelestis“ (1 Kor 15,49), und dazu bietet Origenes die Anwen-
dung: „Wenn es also heißt ‚Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist‘, dann meint das
(hoc dicit): Legt die persona des choicus ab, entfernt die irdische imago, damit ihr,
indem ihr die persona des Himmlischen anzieht, ‚das, was Gottes ist, Gott geben
könnt‘.“181 Gott bittet uns (repetit nos Deus), wie aus Dtn 10,12 hervorgehe, indem
er etwas von uns fordert, damit er es für uns zum Heil wendet, nachdem wir es
ihm gegeben haben (postquam ei dederimus, nobis id ipsum tribuat in salutem).182
Die direkt folgende Deutung des Gleichnisses von den anvertrauten Minen zielt
auf die Aussage, Gott fordere etwas von uns, um so zugleich Gelegenheit zum
Schenken zu haben. Die Homilie endet mit dem Gebet, „dass wir würdig seien,
ihm Gaben anzubieten, die er uns zurückerstattet, und dass er uns für die irdi-
schen Gaben himmlische Gaben schenke“.183
Es ist zu beachten, dass die „tiefere“ Auslegung der „Zinsgroschenperikope“
für Origenes nicht die allein richtige ist, da die historische Textdeutung ja voraus-
geht. Er betont abschließend, die Forderung „gebt Gott usw.“ bedeute nicht, dass
der Mensch für Gott einseitig eine Leistung erbringen muss; vielmehr fordere
Gott, um schenken zu können. Mit seiner Auslegung will Origenes vor allem die

180 Origenes, In Lucam homilia 39,5–6 (219,22–220,14 R.; übers. in Anlehnung an FC 4/2 289–391
Sieben). Origenes schreibt, Jesus habe zuvor gesagt ostendite mihi nummum, wofür im MtEv de­
narius stehe. Der Vulgata-Text von Mt 22,19 lautet: ostendite mihi nomisma census at illi obtuler­
unt ei denarium.
181 Origenes, In Lucam homilia 39,6 (221,1–7 R.; übers. in Anlehnung an 391 S.).
182 Origenes, In Lucam homilia 39,6 (221,8.15–16 R.).
183 Origenes, In Lucam homilia 39,7 (222,11–12 R.; übers. in Anlehnung an 393 S.): […] ut digni
simus offerre ei munera, quae nobis restituat et pro terrenis caelestia largiatur […].

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36   Andreas Lindemann

Frage beantworten, was Jesu Weisung Reddite […] quae sunt Dei Deo inhaltlich
bedeutet.
In seiner Schrift Contra Celsum geht Origenes am Ende (8,65–76) auf die von
Celsus erhobene Forderung ein, die Christen müssten den Kaiser unterstützen
und Ämter in der jeweiligen Vaterstadt übernehmen. Brennecke verweist darauf,
dass Origenes hier „die absolute Loyalität der Christen zu Kaiser und Reich“ her-
vorhebt und dabei in 8,65 mit dem Zitat von Röm 13,1–2 betont, „daß für die Chris-
ten alle Obrigkeit von Gott kommt“, dass aber gerade deshalb die Teilnahme an
entsprechenden Kulthandlungen für sie nicht in Frage kommt.184
In seinem umfangreichen Commentarius in Matthaeum185 geht Origenes auf
mögliche unterschiedliche Textdeutungen ein.186 Bei der Exegese der „Zinsgro-
schenperikope“ (17,25–28) stellt er zuerst den zeitgeschichtlichen Zusammen-
hang dar: Die Juden zur Zeit Jesu widersetzten sich den fremden Herrschern, um
das Gesetz Gottes nicht zu übertreten (μὴ παραβῆναι τὸν νόμον τοῦ θεοῦ),187 was
insbesondere auch die Steuerzahlung betraf. Judas Galilaeus habe gelehrt, man
solle die Steuern nicht zahlen und den Kaiser nicht „Herr“ nennen (ἐδίδασκε μὴ
δεῖν διδόναι Καίσαρι φόρον μηδὲ κύριον ἀναγορεύειν τὸν Καίσαρα),188 während
der Tetrarch (Herodes Antipas) das Volk davon zu überzeugen suchte, keinen

184 Brennecke (wie Anm. 3), 218; vgl. 195–197. Die in Mk 12,13–17 parr. geschilderte Szene wird
von Origenes hier nicht erwähnt. Zur Position des Celsus mit Blick auf das Verhältnis der Chris-
ten zur staatlichen Ordnung siehe H. Berkhof, Kirche und Kaiser. Eine Untersuchung der Ent-
stehung der byzantinischen und der theokratischen Staatsauffassung im vierten Jahrhundert
(übers. von H. W. Locher), Zollikon-Zürich 1947, 31–33. Für Celsus sei klar: „Wer die Bürgerpflich-
ten nicht will, muß so konsequent sein, auch die Bürgerrechte nicht zu wollen […]. Existenz und
Werk des Kaisers sind göttliche Segnungen, welche die Untertanen zu dankbarer Verehrung ver-
pflichten“ (32). Die politische Loyalität, die dem von Origenes entgegengehalten werde, lautet:
„keine Anbetung, aber Fürbitte!“ (33).
185 Der von Origenes zitierte und kommentierte Text entspricht weithin der Mt-Fassung, mit der
Differenz, dass Jesus nach dem von Origenes zitierten Text „ihre πανουργία erkennt“, während
das Verhalten der Fragenden in Mt 22,18 als πονηρία bezeichnet wird. Eine deutsche Überset-
zung findet sich auch in: H. J. Vogt, Origenes. Der Kommentar zum Evangelium nach Matthäus 2
(BGrL 30), Stuttgart 1990.
186 Zu Origenesʼ Bibelexegese, in der antike pagan-philologische Auslegungstraditionen auf-
genommen werden, siehe B. Neuschäfer, Origenes als Philologe (SBA 18/1.2), Basel 1987, 30–38.
Origenes habe sich „nicht als Anfänger, sondern als Fortsetzer jüdisch-christlicher Bibelausle-
gung empfunden“, aber man werde „seine Arbeit insofern einen Anfangspunkt der patristischen
Exegese nennen dürfen, als er der erste ist, der mit programmatischer Entschlossenheit eine
auf Vollständigkeit angelegte Kommentierung des Alten und des Neuen Testaments in Angriff
nahm“.
187 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,25 (GCS 40, 654,20 Klostermann).
188 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,25 (655,5–7 K.).

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   37

Krieg (sc. gegen Rom) zu wagen und die Steuern zu zahlen (διδόναι δὲ τοὺς
φόρους).189 Der Text sage das zwar nicht eindeutig (τοῦ εὐαγγελίου λέξις οὐ
σαφῶς), aber doch mit großer Wahrscheinlichkeit; die Absicht der Pharisäer,
Jesus durch ein Wort zu fangen (βουλόμενοι παγιδεῦσαι ἐν λόγῳ),190 setze jeden-
falls voraus, dass in der Frage der Steuerzahlung keine Einigkeit bestand. Die
Pharisäer hätten folglich nicht nur ihre Jünger zu Jesus geschickt, sondern
auch Herodianer; diese waren zur Zahlung bereit, die Pharisäer aber verwei-
gerten die Zahlung, weil sie sich genau an die μαθήματα der Juden hielten,
und so sollte durch diese Konstellation erreicht werden, dass Jesus auf jeden
Fall in Gefahr geriet. Eben diesem Ziel hätten auch die das Gespräch eröffnen-
den lobenden Worte gedient, aber Jesus habe ihre πανουργία durchschaut und
gesagt: τί με πειράζετε, ὑποκριταί191 – er wusste nämlich, dass sie ihm aus seiner
Antwort einen Fallstrick drehen wollten (ἐκ τῆς ἀποκρίσεως ἐπιβουλεύσωσιν
αὐτῷ).192
An dieser Stelle schreibt Origenes, man solle nicht darauf achten, was
„die vielen“ sagen, sondern man müsse den genauen Wortlaut beachten: Als
Jesus gefragt wurde, ob man dem Kaiser die Steuer zu zahlen habe oder nicht
(ζητουμένου τοῦ εἰ δεῖ διδόναι Καίσαρι κῆνσον ἢ μή),193 habe er nicht einfach
seine Meinung geäußert (οὐχ ἁπλῶς ἀπεφήνατο τὸ δοκοῦν ἑαυτῷ),194 sondern er
habe gesagt: „Zeigt mir die Steuermünze“, und dann gefragt: „Wessen Bild und
Inschrift ist das?“195 Angesichts der Antwort „des Kaisers“ habe er erklärt, man
müsse dem Kaiser auf dessen Forderung hin (zurück-?)geben, was ihm gehört
und dürfe ihn nicht unter dem Vorwand der Gottesverehrung seines Eigentums
berauben.196 „Es ist also nicht so, dass man das, was des Kaisers ist, dem Kaiser
geben muss (δεῖ ἀποδιδόναι τῷ Καίσαρι), und nicht auch, das, was Gottes ist,
Gott (οὐχὶ δὲ καὶ τὰ τοῦ θεοῦ τῷ θεῷ); und niemand, der dem Kaiser gibt, was
des Kaisers ist, wird gehindert, Gott zu geben, was Gottes ist (οὐ κωλύεταί τις

189 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,25 (655,12–13 K.).


190 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,25 (655,19–20 K.).
191 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,26 (657,16 K.).
192 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,26 (657,27–28 K.). Origenes stellt an dieser Stelle
ausdrücklich fest, dass der Text im MkEv und im LkEv denselben Sinn hat wie im MtEv.
193 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,26 (658,15–16 K.).
194 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,26 (658,17–18 K.).
195 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,27 (658,18–21 K.): ἀλλὰ εἰπὼν ‚ἐπιδείξατέ μοι
τὸ νόμισμα τοῦ κήνσου‘ ἐπύθετο, ‚τίνος ἡ εἰκὼν καὶ ἡ ἐπιγραφή‘. Der zitierte Text entspricht
Mt 22,19–20 (dort allerdings ἡ εἰκὼν αὕτη).
196 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,26 (658,22–25 K.): ἀπεκρίνατο ὅτι δεῖ ἀποδιδόναι
τῷ Καίσαρι τὰ αὐτοῦ αἰτοῦντι καὶ μὴ ἀποστερεῖν αὐτὸν τῶν ἰδίων φαντασίᾳ θεοσέβειας.

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38   Andreas Lindemann

ἀποδιδοὺς Καίσαρι τὰ Καίσαρος ἀποδιδόναι τῷ θεῷ τὰ τοῦ θεοῦ).“197 So ist also


zwischen dem Anspruch des Kaisers und dem Anspruch Gottes zu unterschei-
den, aber es besteht kein diametraler Gegensatz.
In 17,27 erklärt Origenes dann, dass man den Text auch im übertragenen Sinn
auslegen könne (τροπολογῆσαι).198 Wir bestehen aus Seele und Körper, und wir
müssen dem Herrscher der Körper, welcher „Kaiser“ genannt wird, sozusagen
die „Steuer“ bezahlen, nämlich das, was der Körper benötigt (τὰ ἀναγκαῖα τῷ
σώματι):199 Speise, Obdach, Erholung usw. Die Seele entspricht von Natur aus
dem Bilde Gottes (ἡ ψυχὴ φύσει κατ’ εἰκόνα ἐστὶ θεοῦ);200 darum schulden wir
ihr das, was ihrem Wesen entspricht, nämlich die zur Tugend (ἀρετή) führenden
Wege und die entsprechenden Handlungen (πράξεις). Dazu gebe es unterschied-
liche Meinungen: Die einen sagen, dass man „dem Kaiser die Steuer nicht zahlen“
soll, dass man asketisch auf alles verzichten muss; andere dagegen meinen, man
müsse auch dem Körper das Schuldige geben. Mit dem Logion in Mt 22,21 unter-
scheide unser Heiland, „das Wort Gottes“ (ὁ λόγος τοῦ θεοῦ [Hebr 4,12]), aber
„deutlich zwischen dem, was vernünftigerweise dem Leib geschuldet ist, und dem,
was die Seele schuldig ist […]. Denn das Bild des Kaisers und der leiblichen Dinge
trägt die Steuer, die allein und über die hinaus wir nichts dem Leib schulden.“201
Schließlich gebe es noch eine weitere Auslegung (17,28): In übertragener
Bedeutung (ἐν τροπολογίᾳ)202 werde der „Herrscher dieser Weltzeit“ als Καῖσαρ
bezeichnet, aber der „König (aller) Weltzeiten“ wird, „wenn er nicht im Gleichnis
vorkommt, überall Gott genannt“ ([…] θεὸς πανταχοῦ ὀνομάζεται).203

197 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,26 (658,26–31 K.). Das Verb ἀποδιδόναι meine ver-
mutlich nicht „zurückgeben“, als habe man das Geld zuvor vom Kaiser („leihweise“) erhalten,
sondern im Zusammenhang der Steuer ist deren „Entrichtung“ gemeint, auf die der Empfänger
einen Anspruch hat. Nach der Übersetzung von Vogt (wie Anm. 185), 278–279, schreibt Origenes:
„Es ist also nicht so, daß man ‚nur‘ dem Kaiser zurückgeben müßte, was des Kaisers ist und nicht
auch Gott, was Gottes ist; und niemand, der dem Kaiser zurückgibt, was des Kaisers ist, wird
gehindert, Gott zurückzugeben, was Gottes ist.“
198 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,27 (658,33 K.).
199 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,27 (659,2–3 K.).
200 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,27 (659,12–13 K.).
201 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,27 (660,30–661,4–5 K.): εἰκόνα γὰρ ἔχει Καίσαρος
καὶ σωματικῶν πραγμάτων ὁ φόρος, ὃν μόνον καὶ οὐδὲν πλέον αὐτοῦ ὀφείλομεν τῷ σώματι. Vogt
(wie Anm. 185), 317 Anm. 75, verweist darauf, dass die deutlich längere lateinische Überlieferung
den Sinn erst voll verständlich mache: Wir geben „dem Fürsten der Körper“ (corporum princeps)
nur das, was für den Körper nötig ist, und nichts, „was zur Minderung der Tugenden führen
würde“ (quod pertineat ad minorationem virtutum).
202 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,28 (661,17–18 K.).
203 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,28 (661,23–24 K.).

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   39

Da wir nun manches vom Herrscher dieser Weltzeit an uns haben, nämlich das, was mit der
Schlechtigkeit zu tun hat (τὰ κατὰ κακίαν), und da wir nicht das, was Gottes ist, Gott (zurück)
geben können, bevor wir nicht alle Schlechtigkeit ablegen und so dem Kaiser (zurück)
geben, was des Kaisers ist, deswegen sagt der Heiland, als ihm die Münze und das Bild da-
rauf gezeigt wird: Gebt, was des Kaisers ist, dem Kaiser (zurück), und was Gottes ist, Gott.204

Am Ende gibt Origenes noch ein sehr praktisches Beispiel für den Gewinn, den
man aus dieser Textstelle erhalten könne: Wir können daraus lernen, wie auf
Fragen zu antworten ist, mit denen uns nur eine Falle gestellt werden soll. Dann
dürfe man weder schweigen noch spontan reden, sondern müsse mit Umsicht
und Überlegung antworten; so könne man einerseits den ausgelegten Fallstrick
vermeiden und zugleich andere lehren und retten, die durch das Hören geret-
tet werden wollen (καὶ διδάσκειν ἀνεπιλήπτως τὰ σῴζοντα τοὺς βουλομένους ἐν
τῷ ἀκούειν σῴζεσθαι).205 Die Pharisäer und die Herodianer aber wollten nichts
lernen, sondern sie wollten Jesus ἐν λόγῳ fangen. Sie wunderten sich aber nur
darüber (θαυμάσαντες), dass er ihnen keinen Vorwand gab, gegen ihn vorzuge-
hen, und so blieben sie, anders als die Jünger, nicht bei Jesus; sie gingen aber, so
hebt Origenes hervor, „nicht einfach weg, wie es über andere geschrieben wird,
sondern sie verließen ihn und gingen weg“ (οὐδὲ ἁπλῶς ἀπῆλθαν, ὡς περὶ ἄλλων
γέγραπται, ἀφέντες δὲ αὐτὸν ἀπῆλθαν),206 womit sie offensichtlich eine defini-
tive Trennung vollzogen. „Und von der Art sind diejenigen (τοιοῦτοί γέ εἰσιν), die
den Logos verlassen (οἱ ἀφιέντες τὸν λόγον) und ihm nicht glauben und von ihm
weggehen, nachdem sie ihm zugehört haben“;207 das gleiche gilt von denen, die
gehört haben und doch abgefallen sind (περὶ τῶν μετὰ τὸ ἀκοῦσαι ἀποστάντων),208
während dagegen „wir das Wort der Braut [Hhld 3,4] sprechen wollen: ‚Ich habe
ihn festgehalten und nicht mehr verlassen.‘“
Origenes stellt unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten vor, ohne dass
dabei aber die „historische“ Interpretation als die womöglich weniger wichtige
erscheint. Dass auch die „tropologischen“ Auslegungen nicht darauf zielen,
einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen „Kaiser“ und „Gott“ zu behaupten,
zeigt vor allem der Vergleich mit dem Verhältnis von Körper und Seele.

204 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,28 (661,26 K.). Zum Problem der Übersetzung von
ἀποδιδόναι siehe oben.
205 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,28 (662,14–16 K.).
206 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,28 (663,3–6 K.). Diese Formulierung steht so nur
bei Mt; möglicherweise hebt Origenes die Aussage deshalb so stark hervor, ohne die Differenz zu
Mk und Lk erwähnen zu müssen.
207 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,28 (666,6–7 K.).
208 Origenes, Commentarius in Matthaeum 17,28 (663,11 K.).

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40   Andreas Lindemann

4 Beobachtungen zur frühen Auslegungs­


geschichte der „Zinsgroschenperikope“
Welche Tendenzen sind in der frühen Auslegungsgeschichte der „Zinsgroschen-
perikope“ zu erkennen? Im Ausgangstext Mk 12,13–17 beantwortet Jesus die an
ihn gerichtete Frage, ob es („uns“) erlaubt sei, dem Kaiser den κῆνσος zu geben,
positiv; mit seinem Hinweis auf Gott, nach dem gar nicht gefragt worden war,
nennt er aber zugleich indirekt den Maßstab für jenes „Geben“.209 Dabei erinnert
das Logion in 12,17a im Kontext von Mk 12 mahnend an die im Gleichnis erzählte
Verweigerung des „Gebens“ durch die Weinbergpächter.
In Mt 22,15–22 ist der zeitgeschichtliche Aspekt zurückgetreten, denn Jesus
wird nicht gefragt, ob es „uns“ erlaubt sei, den κῆνσος zu geben. Seine Weisung
ἀπόδοτε κτλ. richtet sich insofern weniger an die Personen in der erzählten Welt
als vielmehr an die Adressaten des Buches, und so wird diese Weisung zu einer
grundsätzlich gültigen Norm. So passt die Szene zu dem, was Jesus in 28,20a den
„elf Jüngern“ sagt: Sie sollen die von ihnen Getauften lehren „zu halten alles, was
ich euch geboten habe“ (τηρεῖν πάντα ὅσα ἐνετειλάμην ὑμῖν).210
In Lk 20,20–26 ist die Szene demgegenüber stärker erzählerisch gestaltet,
vor allem durch die erweiterte Einleitung und durch den gegenüber Mk stark
veränderten Schluss. So zeigt die Erzählung Jesu argumentative Überlegenheit
gegenüber seinen Kritikern, und sie ist ein Beispiel dafür, was Jesus getan und
gelehrt hat (Apg 1,1). Der Bezug zum vorangegangenen Winzergleichnis ist durch
den in beiden Texten enthaltenen Verweis auf das geforderte „Geben“ noch deut-
licher als bei Mk. Die unterschiedliche Rezeption des Mk-Textes durch Mt und Lk
ist möglicherweise auf die inzwischen veränderte historische Situation zurück-
zuführen, aber vielleicht lässt sie sich auch von der individuellen literarischen
Arbeit der Evangelisten her erklären.
In der Textfassung des Papyrus Egerton 2 ist der zeitgeschichtliche Kontext
anscheinend gar nicht mehr von Bedeutung; aber dieser Eindruck könnte auch
darauf zurückgehen, dass der Text nur fragmentarisch erhalten ist. Da Jesu
Antwort auf die gestellte Frage nicht erhalten ist, lässt sich das in dem Fragment

209 Die Frage, ob es sich bei dem Logion in Mk 12,17a um ein authentisches Jesuswort handelt,
lässt sich nicht sicher beantworten. „Gründe, die gegen eine Herkunft von Jesus sprechen, gibt
es nicht, aber damit kann man höchstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit erreichen“ (Koch [wie
Anm. 4], 226).
210 Nach Davies/Allison (wie Anm. 17), 217–218, wurde die Zinsgroschenperikope zu Recht re-
zipiert, um die staatlichen Mächte zu zügeln („[…] has rigthly been cited to curb the powers of
the state“), aber ebenso wie Röm 13,1–7 biete sie „no precise theory of governmental authority“.

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   41

vertretene inhaltliche Ziel nicht ermitteln. Da aber jedenfalls nicht vom Καῖσαρ,
sondern von den βασιλεῖς (Plural) die Rede ist, und es nicht speziell um die
Steuer, sondern um „das Geziemende“ (τὰ ἀνήκοντα) geht, ist eine geradezu zeit-
und ortlose Szene entstanden.
Im Thomasevangelium liegt in Logion 100 eine gegenüber den Textfassungen
in den neutestamentlichen Evangelien stark verkürzte Erzählung vor, aber die
Pointe ist erhalten. Wird Logion 100 zusammen mit den rahmenden Logien 99
und 101 gelesen, zeigt sich deutlich die besondere Tendenz: Die Jünger erhalten
auf ihre Frage von Jesus die Antwort, dass sie die Forderungen des Kaisers und
die Forderungen Gottes erfüllen sollen, zwischen denen es offenbar keine grund-
sätzliche Spannung gibt; vor allem aber sollen sie Jesu Forderung zur Nachfolge
nachkommen. Eine explizit „politische“ Tendenz wird in dieser Textfassung
nicht sichtbar.
Bei Justin in der Apologia ist eine deutlich veränderte Situation zu erkennen:
Die an die Christen gerichtete Loyalitätsforderung gegenüber dem Kaiser kann
die Christen in einen Konflikt mit ihrer Beziehung zu Gott führen. Deshalb betont
Justin, das προσκυνεῖν, auf das mittlerweile auch der Kaiser Anspruch erhebt,
gebühre allein Gott, während den irdischen Herrschern allein das ὑπηρετεῖν
gilt. Die „Zinsgroschenperikope“ ist für Justin also einerseits ein durchaus auch
Außenstehenden vermittelbarer Beleg für die Staatstreue der Christen; sie zeigt
aber andererseits den Lesern und insbesondere dem Kaiser, an den die Apologie
ja adressiert ist, dass ihm göttliche Verehrung keinesfalls zukommt. Die Märtyrer
von Scili berufen sich etwa zur selben Zeit für ihre Verweigerung der Kaiservereh-
rung ausdrücklich auf die Weisung Christi und nehmen dafür den Tod auf sich.
Tertullian, der sich in De idololatria mit einer Auslegung des Logions
Mk 12,17a auseinandersetzt, derzufolge man dem Kaiser geben muss, was des
Kaisers ist, betont vor allem die Fortsetzung dieses Logions „[…] (gebt) und Gott,
was Gottes ist“. Die Frage, was denn dem Kaiser gehöre, beantwortet Tertullian
zunächst mit dem historischen Hinweis, es sei „damals“ um die Steuer gegan-
gen. Es komme aber darauf an, imago richtig zu verstehen: Dem Kaiser muss der
Mensch die Münze geben, da sie das Bild des Kaisers zeigt; Gott aber gibt der
Mensch nicht etwas, sondern sich selbst, denn er ist selbst Gottes imago. Folg-
lich ist eine religiöse Verehrung des Kaisers ausgeschlossen. So leitet Tertullian
aus der „Zinsgroschenperikope“ eine über das in der Vergangenheit diskutierte
Thema hinausgehende grundsätzliche Verhaltensforderung ab, ohne dass jedoch
der ursprüngliche geschichtliche Kontext in Vergessenheit gerät.211

211 Auch in De corona militis folgert Tertullian aus dem Wort Jesu, dass im Konfliktfall der
Dienst für Gott und der Dienst für den Kaiser unvereinbar sind. Und in der Schrift Scorpiace ver-

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42   Andreas Lindemann

Für Irenäus belegt das Logion Mk 12,17a parr., dass allein der wahre und
einzige Gott als Gott bezeichnet werden darf; das Thema „Steuern“ ist dabei gar
nicht im Blick. Tatian schreibt, implizit an die „Zinsgroschenperikope“ anknüp-
fend, dass die Christen ihre Steuern bezahlen; es sei aber genau zu unterscheiden
zwischen der Ehre (τιμή), die der Kaiser als Mensch empfängt, und der Furcht
(φόβος), die allein Gott zukommt.
In den Excerpta ex Theodoto bei Clemens Alexandrinus wird auf die „Zins-
groschenperikope“ angespielt mit der Tendenz, dass demjenigen etwas gegeben
werde, dem es gehört; dabei ist weder das Thema „Steuern“ noch die Frage der
Beziehung zum Kaiser bzw. zu Gott im Blick. In den Eclogae ex scripturis propheti­
cis liegt im Zusammenhang der Verbindung von Mt 22,21 mit 1 Kor 15,49 offenbar
ein Auszug aus einer Exegese der „Zinsgroschenperikope“ vor, in der der Text
allegorisch ausgelegt wird; ob daneben noch eine andere Auslegung im Blick ist,
lässt sich nicht erkennen.
Origenes betont in In Lucam homilia 39, dass die vordergründige Auslegung
des Logions Lk 20,25 – „Gebt (dem Kaiser) die Zahlung, die ihr ihm schuldet“ –
nur eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringe und dass der Text also
einen tieferen Sinn haben müsse. Origenes findet ihn in den unterschiedlichen
Deutungsmöglichkeiten von imago: Jesus sage, dass wir dem Herrscher der Welt,
also dem Kaiser, seine imago, also die sein Bild tragende Münze (zurück)geben
müssen, und dass wir uns stattdessen die uns bei der Schöpfung verliehene
imago zu eigen zu machen haben; eben das habe Paulus in 1 Kor 15,49 gemeint.
Dies ist für Origenes nicht die allein richtige Auslegung; es kommt ihm aber vor
allem auf eine Antwort auf die Frage an, wie die Wendung „Was Gottes ist (gebt)
Gott“ inhaltlich richtig gedeutet wird.
In seinem Commentarius in Matthaeum 17 geht Origenes bei der Auslegung
von Mt 22,15–22 zuerst auf den erkennbaren zeitgeschichtlichen Zusammenhang
der erzählten Szene ein, der für das richtige Textverständnis eine große Rolle
spiele. Die Auslegung des Wortlauts der Perikope ergebe, dass zwischen dem
Anspruch des Kaisers und dem Anspruch Gottes zu unterscheiden ist, ohne dass
eine Unvereinbarkeit besteht. Origenes nennt dann einige weitere Interpretati-
onsmöglichkeiten auf hermeneutisch unterschiedlichen Ebenen. Man könne aus
dieser Textstelle aber auch ganz praktisch lernen, wie auf Fragen zu antworten
ist, die nur das Ziel haben, dem Gesprächspartner eine Falle zu stellen.

bindet er die Auslegung von Röm 13,1–7 mit der aus Mt 22,21 zitierten Weisung quae sunt Caesaris
Caesari, et quae dei deo, und er betont dabei, dass sich das, „was Gottes ist“, auf den ganzen
Menschen bezieht.

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Die „Zinsgroschenperikope“ Mk 12,13–17 und ihre Auslegung im frühen Christentum   43

François Bovon schreibt mit Blick auf die Auslegungsgeschichte des Lk-Texts,
dass sich in der frühen Kirche eine Auslegung durchgesetzt habe, die es Chris-
ten gestattete, „ihre Verantwortung als Bürger gegenüber der römischen Macht
mit gutem Gewissen zu regeln“.212 Die Forderung, dem, was Gott gehört, die
Priorität zu geben, „bedeutete, mit dem Schöpfer zu verkehren und in seinem
eigenen Menschsein die Züge des Bildes Gottes zu entdecken.“213 Die oben refe-
rierten Auslegungen, zumal das Werk des Origenes, zeigen aber, dass auch die
historische und damit im weitesten Sinne „politische“ Interpretation der „Zins-
groschenperikope“ nicht verschwindet; zugleich zielen auch die allegorischen
Auslegungen nicht darauf, einen diametralen Gegensatz zwischen „Kaiser“ und
„Gott“ auszusagen.
Hanns Christof Brennecke sieht eine von Mk 12,13–17 ausgehende und über
Röm 13,1–7 bis 1 Clemens 59–61 laufende Linie, die „eine grundsätzliche Akzep-
tanz des Staates und seiner irdischen Ordnungen“ erkennen lasse, „bei aller
Distanz, die diese Ordnungen als nur vorläufig ansehen kann“. Es sei „von einem
geradezu dialektischen Verhältnis von Distanz und Integration“ zu sprechen –
die Tendenz in Apk 13 mit der „strikten Ablehnung irdischer Ordnungen und
damit auch des Imperium Romanum als Staat“ sei in der Frühzeit „viel weniger
deutlich und seltener belegt“, wenn auch „immer wieder wirksam geworden“.214
Die Zinsgroschenperikope hatte einen nicht unerheblichen Einfluss darauf,
wie in der frühen Kirche die Frage nach dem Verhältnis der Kirche zum Kaiser,
also zum „Staat“, zu beantworten sei. Gott und „dem Kaiser“ darf nicht die
gleiche Würde zugesprochen werden; aber eine Tendenz, aus der notwendigen
Unterscheidung von vornherein einen diametralen Gegensatz abzuleiten, als
hätte Jesus in der „Zinsgroschenperikope“ zum „Widerstand“ aufgerufen, lassen
weder die Überlieferungen in den neutestamentlichen Evangelien noch deren
frühe Auslegung erkennen. In Konfrontation mit dem „Kaiserkult“ wird die Peri-
kope dann aber zum eindeutigen Beleg dafür, dass jede Form religiöser Vereh-
rung des Kaisers für Christen ausgeschlossen ist.

212 Bovon (wie Anm. 71), 98.


213 Bovon (wie Anm. 71), 101: „Das bedeutete ferner, die ideologischen Missbräuche des Kaisers
(seinen Anspruch, ‚Sohn Gottes‘ zu sein) zu entlarven, und die politische Macht auf die Gestal-
tung des Friedens und der Gerechtigkeit zu beschränken.“ Ob dieser Aspekt in der Lk-Fassung
tatsächlich enthalten ist, kann hier offen bleiben.
214 Brennecke (wie Anm. 3), 184.

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Winrich Löhr
Herrscher und Untertanen als Philosophen
Justin, Marcus Aurelius und philosophisch-politische Diskurse
des zweiten Jahrhunderts

Herrschaft braucht zu ihrer Etablierung und Verstetigung nicht nur den Zugriff
auf bestimmte Ressourcen und Machtmittel (oder doch zumindest ein allgemein
anerkanntes Verfahren der Erlangung dieses Zugriffes), sondern auch gewisse
Diskurse, Ideen und Konzepte, die geeignet sind, sie zu rechtfertigen. Es ist eine
alte Frage, inwiefern das antike Christentum einen Beitrag zum ideologischen
Herrschaftsdiskurs der Antike und Spätantike geleistet hat. Die folgenden Beob-
achtungen wollen zur Präzisierung dieser Frage beitragen.

1
Justin der Märtyrer richtete, vermutlich ca. 153 n. Chr.,1 seine „Apologie“ an
die Kaiser Antoninus Pius sowie an dessen Adoptivsöhne Marcus Aurelius und
Lucius Verus2: Er wollte erreichen, dass nicht mehr das Christsein als solches
strafbar ist, sondern dass die Christen nur dann von der Justiz belangt werden
können, wenn ihnen ein bestimmtes Verbrechen nachgewiesen werden kann.
Die Einleitung der Apologie (1 Apologia 1–3) beginnt mit einer ausführlichen
captatio benevolentiae: Die Adressaten werden als Fromme und Philosophen
(εὐσεβεῖς καὶ φιλόσοφοι), Hüter der Gerechtigkeit und Liebhaber der Bildung
(παιδεία) apostrophiert. Sie werden damit als „Philosophenkaiser“ angespro-
chen. Justin ruft die Kaiser auf, über die Christen erst zu richten, nachdem sie
sich gründlich und vorurteilslos informiert haben. Es sei der ὄρθος λόγος, der
ein solches Verfahren fordere. Andernfalls würden die Kaiser entweder Unschul-
digen, die aufgrund bloßer Gerüchte verurteilt würden, Unrecht tun oder sich
selbst, da sie unter Missachtung der Gerechtigkeit und im Banne einer irratio-
nalen Leidenschaft vorgingen. Als Schluss und gleichsam Höhepunkt des rheto-
risch geformten Exordiums zitiert Justin dann eine der bekanntesten Sentenzen

1 C. Munier, Justin Martyr. Apologie pour les chrétiens. Introduction, traduction et commentaire
(SCh 507), Paris 2006, 19–21.
2 Beide werden von Justin in der Adresse als φιλόσοφος bezeichnet.

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 Herrscher und Untertanen als Philosophen   45

aus Platos Staat: „Denn einer der Alten sagte irgendwo: Wenn die Herrschenden
und die Beherrschten nicht philosophieren, so können die Staaten nicht glück-
selig werden.“3
Der zitierte Satz steht in Plato, Res publica 473d–e. Dort heißt es wörtlich und
in voller Länge:

Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt soge-
nannten Könige und Machthaber sich aufrichtig und gründlich mit Philosophie befassen
und nicht dies beides in eins zusammenfällt, politische Macht und Philosophie, von denen
aber, die jetzt getrennt voneinander je eines der beiden Ziele verfolgen, die allermeisten
Naturen notwendig zu völligem Verzicht gezwungen werden, so gibt es, mein lieber Glaukon,
kein Ende des Übels für die Staaten, ja, wenn ich recht sehe, auch nicht für das Menschen-
geschlecht überhaupt, und auch unsere Staatsverfassung, die wir jetzt in Gedanken in der
Rede uns ausgemalt haben, wird nicht eher, soweit überhaupt möglich, ent­stehen und das
Licht erblicken. […] Denn es ist schwierig zu erkennen, dass irgendein anderer Staat glück-
selig werden kann, weder was den Einzelnen noch was das Ganze anlangt.4

Plato formuliert die Hauptbedingung für die Verwirklichung eines gerechten


Staates: Entweder müssen die Philosophen an die Herrschaft gelangen, oder die
Herrscher müssen Philosophen werden.5
Die Differenz zwischen dem Originaltext und dessen anonymer,6 variieren-
der und verkürzender Variation durch Justin fällt unmittelbar ins Auge: Während
Plato für die Realisierung seines Idealstaats die Identität von Herrschern und Phi-
losophen zur Bedingung macht, redet Justin davon, dass sowohl die Herrscher
als auch die Beherrschten Philosophen sein sollen. Das elitäre Ideal Platos ist
hier also geradezu in sein Gegenteil verkehrt worden.

3 Justin, 1 Apologia 3,3 (E. J. Goodspeed [Hg.], Die ältesten Apologeten. Texte mit kurzen Einlei-
tungen, Göttingen 1984, 27): ἒφη γάρ που καί τις τῶν παλαιῶν· „Ἂν μὴ οἱ ἂρχοντες φιλοσοφήσωσι
καὶ οἱ ἀρχόμενοι, οὐκ εἲη τὰς πόλεις εὐδαιμονήσαι.“
4 Platon, Res Publica 473d–e (übers., mit Modifikationen, O. Apelt, Platon. Sämtliche Dialoge 5,
Hamburg 1988, 213): ταῖς πόλεσιν ἢ οἱ βασιλῆς τε νῦν λεγόμενοι καὶ δυνάσται φιλοσοφήσωσι
γνησίως τε καὶ ἱκανῶς, καὶ τοῦτο εἰς ταὐτὸν συμπέσῃ, δύναμίς τε πολιτικὴ καὶ φιλοσοφία, τῶν δὲ
νῦν πορευομένων χωρὶς ἐφ᾽ ἑκάτερον αἱ πολλαὶ φύσεις ἐξ ἀνάγκης ἀποκλεισθῶσιν, οὐκ ἔστι κακῶν
παῦλα, ὦ φίλε Γλαύκων, ταῖς πόλεσι, δοκῶ δ᾽ οὐδὲ τῷ ἀνθρωπίνῳ γένει, οὐδὲ αὕτη ἡ πολιτεία
μή ποτε πρότερον φυῇ τε εἰς τὸ δυνατὸν καὶ φῶς ἡλίου ἴδῃ, ἣν νῦν λόγῳ διεληλύθαμεν. […]
χαλεπὸν γὰρ ἰδεῖν ὅτι οὐκ ἂν ἄλλη τις εὐδαιμονήσειεν οὔτε ἰδίᾳ οὔτε δημοσίᾳ.
5 Vgl. auch Platon, Res publica 487e; 501e; R. B. Rutherford, The Meditations of Marcus Aurelius:
A Study, Oxford 1989, 66.
6 Die Zitateinleitung dürfte als „sophisticated flattery of the educated reader“ zu verstehen
sein, siehe J. Whittaker, Ammonius on the Delphic E, in: id., Studies in Platonism and Patristic
Thought, London 1984, Nr. 5, 186, Anm. 4.

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46   Winrich Löhr

Eine wirkliche Parallele zur Justinschen Modifikation habe ich nicht gefun-
den.7
Sowohl ein Teil der handschriftlichen Tradition als auch einige moderne
Gelehrte haben das Justinzitat nach dem Original korrigieren wollen.8 Aber eine
Emendation des Textes des Zitats ist methodisch nicht statthaft, denn Justin hat
ganz bewusst variiert.9 Im Abschnitt unmittelbar vor dem Zitat heißt es nämlich
(1 Apologia 3,2):

Als eine gute, ja die einzig gerechte Weise zu verfahren, würde es jeder Vernünftige erklären,
wenn die Beherrschten unangreifbare Rechenschaft für ihr Leben und ihre Lehre präsentie-
ren würden, und gleichermaßen die Herrscher nicht auf gewaltsame oder tyrannische Art,
sondern in Übereinstimmung mit Frömmigkeit und Philosophie (εὐσεβείᾳ καὶ φιλοσοφίᾳ
ἀκολουθοῦντας) ihr Urteil fällen würden: So würden sowohl die Beherrschten als auch die
Herrscher in den Genuss des Guten kommen.10

Wenn das von Justin variierte Platozitat also Herrscher und Beherrschte (καὶ οἱ
ἄρχοντες καὶ οἱ ἀρχόμενοι) gleichermaßen anspricht, so nimmt es damit Stich-
worte des unmittelbar vorangegangenen Abschnittes auf. Dort definiert Justin
die Situation seiner Bittschrift: Er, der Untertan, präsentiert seine Rechenschaft
über Leben und Lehre der Christen und bittet die Kaiser als die Adressaten, diese
nicht wie Tyrannen, sondern gemäß den Grundsätzen von „Frömmigkeit und
Philosophie“ zu beurteilen. Damit hat er beiden Parteien ihre Aufgabe zugewie-

7 Vgl. Cicero, Epistulae ad Quintum fratrem, fr. 1,1,29; Philo, De vita Mosis 2,2; Alkinoos, Didaskali­
kos 34 (CUFr, 70 Whittaker/Louis; man beachte Anm. 558); Apuleius, De Platone 2,24; Lactantius,
Divinae Institutiones 3,21,6; Hieronymus, In Jonam 3,6–9 (auf die Macht der Rhetoren bezogen);
Prudentius, Contra Symmachum 1,31–32; Boethius, Consolatio philosophiae 1,4. S. P. Courcelle,
La consolation de philosophie dans la tradition littéraire, Paris 1967, 60–66; Munier (wie Anm. 1),
111–112; Whittaker (wie Anm. 6), ebd.
8 Laut Goodspeeds Apparat (wie Anm. 3), 27, lesen die Sacra Parallela: ἢν μὴ οἱ ἄρχοντες
φιλοσοφήσωσιν, οἱ ἀρχόμενοι οὐκ ἄν εἶεν εὐδαίμονες. W. ­Schmid, Die Textüberlieferung der Apo-
logie des Justin, in: ZNW 40 (1941), 87–138 (91–93) plädiert für diese Lesart.
9 N. Hyldahl, Philosophie und Christentum. Eine Interpretation der Einleitung zum Dialog Jus-
tins, Kopenhagen 1966, 274. H. H. Holfelder, Εὐσέβεια καὶ φιλοσοφία. Literarische Einheit und
politischer Kontext von Justins Apologie, in: ZNW 68 (1977), 48–66. 231–251 (57 Anm. 36), lehnt
die Änderung ebenfalls unter Verweis auf den unmittelbaren Kontext ab, siehe die obigen Aus-
führungen.
10 Justin, 1 Apologia 3,2 (27 G.): καλὴν δὲ καὶ μόνην δικαίαν πρόκλησιν ταύτην πᾶς ὁ σωφρονῶν
ἀποφανεῖται, τὸ τοὺς ἀρχομένους τὴν εὐθύνην τοῦ ἑαυτῶν βίου καὶ λόγου ἄληπτον παρέχειν,
ὁμοίως δ’ αὖ καὶ τοὺς ἄρχοντας μὴ βίᾳ μηδὲ τυραννίδι ἀλλ’ εὐσεβείᾳ καὶ φιλοσοφίᾳ ἀκολουθοῦντας
τὴν ψῆφον τίθεσθαι· οὕτως γὰρ ἂν καὶ οἱ ἄρχοντες καὶ οἱ ἀρχόμενοι ἀπολαύοιεν τοῦ ἀγαθοῦ.

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 Herrscher und Untertanen als Philosophen   47

sen: Erweisen sich die Kaiser trotz der Belehrung durch Justin nicht als gerechte
Richter, so haben sie keine Entschuldigung vor Gott (1 Apologia 3,2–4).
In der Forschung wird gelegentlich angenommen, dass Justin die Adressaten
seiner „Apologie“ zum Christentum bekehren wollte, dass also die Herrscher in
seinen Augen letztlich nur dann ihrer Rolle als kaiserliche Vertreter von Fröm-
migkeit und Philosophie gerecht werden würden, wenn sie die Wahrheit der
Lehre des Logos, der Jesus Christus ist, anerkennen würden.11 Doch dürfte diese
These einzuschränken sein: Einerseits will Justins „gleitende Themenführung“
gewiss vom ὄρθος λόγος, dessen Gebieten die Kaiser folgen sollen, zur Lehre des
Logos und Gottessohnes Jesus Christus überleiten.12 Und natürlich ist laut Justin
in jeder freien vernünftigen Entscheidung zum Guten der Logos-Christus samen-
haft präsent. Andererseits aber will Justin zuerst und vor allem erreichen, dass
die angesprochenen Kaiser vorurteilslos die Sache der Christen prüfen und so zu
dem Ergebnis gelangen, dass diese nicht als solche zu bestrafen seien, sondern
nur, wenn ihnen konkrete Verbrechen nachgewiesen werden. Dies wird nicht nur
aus der Einleitung klar (1 Apologia 1–3), sondern auch am Schluss, wenn Justin
schreibt (1 Apologia 68,1):

Und wenn dieses [das bezieht sich auf seine Darlegung des Christentums in 1 Apologia 4–67]
Euch vernünftig und wahr zu sein scheint, so erweist ihm Eure Wertschätzung, wenn aber
Unsinn, so verachtet es als Unsinn. Aber verhängt nicht die Todessstrafe wie gegen Feinde,
wo sie [die Christen] doch Leute sind, die kein Unrecht getan haben!13

Wenn Justin in 2 Apologia 12,8 die Kaiser auffordert, ihren Sinn zu ändern und
vernünftig zu werden, so gebraucht er – wie Hans H. Holfelder richtig beob-
achtet hat14 – Vokabular, das auch zur Semantik der Konversionsfrömmigkeit
(μετάθεσθε) gehört; aber der unmittelbar vorhergehende Abschnitt macht klar,
dass seine Intervention darauf zielt, dass die Kaiser (und die ihnen unterstellte
Beamtenschaft) aufhören sollen, die Christen zu kriminalisieren. Das gleiche gilt
für 2 Apologia 15,5, wo die Kaiser wiederum aufgefordert werden, über die Chris-
ten recht zu richten.

11 So verstehe ich die sorgfältige Analyse von Holfelder (wie Anm. 9), 60–66.
12 Holfelder (wie Anm. 9), passim.
13 Justin, 1 Apologia 68,1 (76 G.): Καὶ εἰ μὲν δοκεῖ ὑμῖν λόγου καὶ ἀληθείας ἔχεσθαι, τιμήσατε
αὐτά· εἰ δὲ λῆρος ὑμῖν δοκεῖ, ὡς ληρωδῶν πραγμάτων καταφρονήσατε, καὶ μὴ ὡς κατ’ ἐχθρῶν
κατὰ τῶν μηδὲν ἀδικούντων θάνατον ὁρίζετε.
14 Holfelder (wie Anm. 9), 60–66. Auch Holfelder betont allerdings, dass Justin die Entkrimina-
lisierung des nomen ipsum erreichen will.

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48   Winrich Löhr

Justin unterscheidet sich in der letztlich pragmatischen Zielsetzung seiner


Bittschrift nicht – soweit wir wissen – von anderen christlichen „Apologien“, die
bei Kaisern eingereicht oder vorgetragen wurden So hat die Legatio pro Christia­
nis, die der Athener Athenagoras ca. 177 n. Chr. an Marcus Aurelius und dessen
Sohn Commodus richtete, kein anderes Ziel. Das gleiche gilt – nach den wenigen
erhaltenen Fragmenten zu urteilen – für das Buch, das Melito von Sardes an den
Kaiser Marcus Aurelius adressierte. Von der apologetischen Schrift, die ein gewis-
ser Bischof Apolinarius von Hierapolis an denselben Kaiser richtete, ist nichts
erhalten; das Gleiche gilt für eine vermutlich an die Kaiser gerichtete Apologie
eines gewissen Miltiades, die Eusebius von Cäsarea ebenfalls in die Regierungs-
zeit des Marcus Aurelius zu datieren scheint.15
Nach Justins Meinung also würden die Kaiser ihrem Anspruch als Philoso-
phen schon gerecht werden, wenn sie sich soweit von ihren Vorurteilen befreien
würden und sich soweit durch seine Schrift unterrichten ließen, dass sie gerecht
urteilen können.16 Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass laut Justin sich die
im Platozitat evozierte Utopie guter Herrschaft dann realisiert, wenn seine aufklä-
rende Bittschrift bei den kaiserlichen Adressaten ihr Ziel erreicht.

2
Im Folgenden sei versucht, Justins Bitte an die Philosophenkaiser mit ihren Prä-
missen und Nuancen präziser im Kontext zeitgenössischer Diskurse zu verorten
und zu profilieren.
Justin setzt in 1 Apologia 3,2 das erwünschte Verhalten der Adressaten als Phi-
losophenherrscher gegen ein negativ bewertetes Verhalten ab, das als tyrannisch
charakterisiert wird.
Der hier evozierte Kontrast – hier Philosophenherrscher, dort Tyrann – be-
zeichnete zur Zeit Justins zwei schon traditionelle idealtypische Möglichkeiten
der Interpretation des Verhältnisses von Philosoph und Herrscher, von Geist und
Macht: Die eine Möglichkeit ist der Kaiser, der sich mit Philosophen umgibt und
für ihre Ratschläge und Mahnungen offensteht. Die andere Möglichkeit ist die der
offenen und kompromisslosen Konfrontation zwischen dem Geist und der Macht.

15 Eusebius, Historia ecclesiastica 4,26,6 (Melito); 4,26,1 (Apollinaris); 5,17,5 (Miltiades). Vgl.
auch Tertullian, Apologeticum 1,4–9. Zu den von Christen bei Kaisern eingereichten apologeti-
schen Schriften siehe F. Millar, The Emperor in the Roman World, London 22001, 561–566; W. Kin-
zig, Der „Sitz im Leben“ der Apologie in der Alten Kirche, in: ZKG 100 (1989), 291–317.
16 Siehe auch Holfelder (wie Anm. 9), 56.

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 Herrscher und Untertanen als Philosophen   49

Zunächst zur zweiten Möglichkeit: Hier nimmt der Philosoph die Rolle des-
jenigen an, der angesichts der unbeschränkten Gewalt des Kaisers oder seiner
Henker die Wahrheit mit Freimut ausspricht oder stumm die geforderte Unterwer-
fung verweigert und dafür u.  U. Folter und Tod erleidet. Die Vorstellung von phi-
losophischen Märtyrern war gerade in den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr.
besonders in Mode; eine entsprechend Literatur entstand. Philosophische Märty-
rer waren dabei nicht nur diejenigen Philosophen, die von der politischen Macht
entweder hingerichtet wurden oder Selbstmord begingen (wie z.  B. So­krates),
sondern vor allem hervorragende Persönlichkeiten mit Nähe zur Macht, die
Schüler von Philosophen waren und/oder ein philosophisches Lebensideal ver-
traten.17
Das Ideal solcher philosophischen Märtyrer war zumindest einem der Adres-
saten der Petition des Justin, Marcus Aurelius, wohl vertraut. So notiert der Kaiser
in Buch 1,14 seiner bekannten Schrift Ad se ipsum (An sich selbst), dass sein
Lehrer Claudius Severus ihn auf Paetus Thrasea, Helvidius Priscus, Cato, Dion
und Brutus hingewiesen habe: Thrasea war Senator unter dem Kaiser Nero und
wurde von diesem zum Selbstmord gezwungen, sein Schwiegersohn Helvidius
Priscus wurde unter dem Kaiser Vespasian ermordet. Cato beging Selbstmord im
Widerstand gegen Caesar, Brutus ermordete Caesar. Mit Dion dürfte der 354 v. Chr.
ermordete Gegner des Tyrannen von Sizilien, Dionysius, gemeint sein.18
Die von Marcus Aurelius hier aufgezählten Personen haben also gemeinsam,
dass sie alle in der einen oder anderen Form gegen die Tyrannei Widerstand leis-
teten und dies mit ihrem Leben bezahlen mussten; darüber hinaus galten Dion,
Brutus und Cato der Tradition auch als Philosophen; Helvidius Priscus wurde von
Epiktet als Beispiel gefeiert.19 Die Liste evoziert also philosophische Märtyrer,
deren Gedächtnis in den aristokratischen Familien Roms hochgehalten wurde.20
Die politische Wende unter Nerva, die mit der Tyrannei des Domitian brechen
wollte und die sich unter den Nachfolgern fortsetzte, erweckte bei gebildeten

17 Vgl. z.  B. Epictetus, Dissertationes 1,1,19–32; 1,2,19–22 etc.; Rutherford (wie Anm. 5), 65–66
Anm. 58. – J. Hahn, Der Philosoph und die Gesellschaft, Stuttgart 1989, 188–189 Anm. 35 verweist
u.  a. auf das 4. Makkabäerbuch, die Acta Alexandrinorum sowie die sog. Vita Secundi philosophi,
siehe B. E. Perry, Secundus the Silent Philosopher, Ithaca 1964, 70–75. Siehe auch A. Lumpe, Ex-
emplum, in: RAC 6 (1966), 1229–1257 (1248–1249).
18 P. Hadot, La citadelle intérieure, Paris 1992, 314–316; Rutherford (wie Anm. 5), 64 Anm. 51.
19 Hadot (wie Anm. 18), 316.
20 Hadot (wie Anm. 18), 315. Siehe auch R. MacMullen, Enemies of the Roman Order: Treason,
Unrest and Alienation in the Empire, London 1992, 1–94.

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50   Winrich Löhr

römischen Aristokraten die Hoffnung darauf, dass die Märtyrertode besonders


von Thrasea und Helvidius nicht umsonst gewesen waren.21
Marcus Aurelius ruft in Ad se ipsum 1,14 aber nicht nur die exempla der Phi-
losophenmärtyrer auf, sondern formuliert auch, welche Lehren ihr Beispiel für
ihn bereithielten:

Ich bekam die Vorstellung eines durch völlige Gleichheit vor dem Gesetz ausgezeichneten
Staates, der aufgrund Gleichheit und gleicher Mitsprache (πολιτείας ἰσονόμου κατ’ ἰσότητα
καὶ ἰσηγορίαν διοικουμένης) verwaltet wird und einer Monarchie, die vor allem die Freiheit
der Untertanen (τήν ἐλευθερίαν τῶν ἀρχομένων) schätzt.22

Man sieht, welche Werte der geborene römische Aristokrat Marcus Aurelius
schätzte: Die politisch konnotierten Stichworte – ἰσόνομος, ἰσότης, ἐλευθερία –
umreißen ein aristokratisches Freiheitsideal, das zur Zeit des Marcus Aurelius
noch lebendig war und nicht zuletzt auch von der Zweiten Sophistik propagiert
wurde.23
Pierre Vesperini will für die ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte den
Übergang von einem politischen zu einem moralisierenden Konzept aristokrati-
schen Exzellenzstrebens konstatieren; aus der Leidenschaft für die (aristokrati-
sche) Freiheit und der Sorge um die Angelegenheiten des Staates wird die – von
philosophischen Lehrern angeleitete – Sorge um das Selbst.24 Nach der These
Vesperinis ist in dieser Hinsicht ein Bruch zwischen der römischen Republik und
dem Prinzipat zu diagnostizieren: Leisteten die Märtyrer der Republik politischen
Widerstand (und begingen – wie Cato – Selbstmord im Angesicht der politisch-
militärischen Niederlage), so sind Paetius Thrasea und Helvidius Priscus Mora-
listen, die keine genuin politischen Ziele verfolgten und mit dem Selbstmord ihr
tugendhaftes Leben krönen wollten.25

21 Hadot (wie Anm. 18), 317.


22 Marcus Aurelius, Ad se ipsum 1,14 (BSGRT, 4,14,13–17 Dalfen; übers., modifiziert, W. Theiler,
Marc Aurel. Wege zu sich selbst, Zürich 1951, 31): […] φαντασίαν λαβεῖν πολιτείας ἰσονόμου, κατ’
ἰσότητα καὶ ἰσηγορίαν διοικουμένης, καὶ βασιλείας τιμώσης πάντων μάλιστα τὴν ἐλευθερίαν τῶν
ἀρχομένων).
23 C. Horst, Marc Aurel. Philosophie und politische Macht zur Zeit der Zweiten Sophistik, Stutt-
gart 2013, 142–149.
24 P. Vesperini, Comment les philosophes ont légitimé la tyrannie, in: L. Boulègue/H. Casano-
va-Robin/C. Lévy (éds.), Le tyran et sa postérité dans la littérature latine de l’Antiquité à la Re-
naissance, Paris 2013, 35–56 (51).
25 Vesperini (wie Anm. 24), 50: „La conséquence extrême de ce discours moral, c’est le suicide
vertueux […].“

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 Herrscher und Untertanen als Philosophen   51

Doch dürfte die von Vesperini vorgenommene Kontrastierung zu undif-


ferenziert sein. Schon die zitierte Bemerkung von Marcus Aurelius scheint mit
ihr nicht vereinbar zu sein, da der Kaiser das Beispiel der Philosophenmärtyrer
mit einem politischen Ideal in Verbindung bringt. Und Thrasea war Philosoph
und Staatsmann, der politische Ideale vertrat, wie z.  B. die Eigenständigkeit
des Senats.26 Auch sonst war die aristokratische Opposition unter dem Prinzi-
pat (zumindest bis Domitian) – die sich als Nachfolger von Cato und Brutus ver-
stand – keinesfalls auf philosophisches Moralisieren beschränkt: Sie kämpften
für einen Rechtsstaat, in dem der Senat und die Magistraturen mehr als nur Zierat
waren; libertas, Freiheit war ihre Parole.27 Die stoische Philosophie und ihre pro-
fessionellen Lehrer standen dabei nicht für ein spezifisch politisches Programm,
sondern für eine Lebensform, die zu Mut in Gefahr, Ausdauer unter Verfolgung
und freimütiger Kritik gegenüber Autoritäten (und sei es des Kaisers) anleitete.28
Kommen wir zur ersten Möglichkeit der Inszenierung der Beziehung von
Geist und Macht, zu den sogenannten „Philosophenkaisern“.29
Im römischen Reich wurde diese Möglichkeit kaiserlicher Selbststilisierung
von Anfang an realisiert: Areios Didymus hielt sich am Hofe des Augustus auf;
der Platoherausgeber Thrasyllus war Hofphilosoph bei Tiberius. Dion von Prusa
widmete vier Reden über die Herrschaft dem Trajan, Hadrian soll sich u.  a. für
Epiktet interessiert haben usw.30 Nach den Aufzeichnungen des Lucius äußerte
sich Musonius Rufus († vor 106 n. Chr.) – der möglicherweise zum Widerstand
gegen den Kaiser Nero Beziehungen hatte31 – zum Thema „Dass auch die Könige
philosophieren müssen“.32 Plutarch schrieb einen kurzen Traktat unter dem Titel
„Dass der Philosoph sich besonders mit Herrschern unterreden soll“ (Maxime
cum principibus philosopho esse disserendum), in dem er empfahl, dass die Phi-

26 MacMullen (wie Anm. 20), 21–23. MacMullen unterscheidet eine mehr literarisch gebildete
Opposition unter der Julio-Claudischen Monarchie von einer mehr philosophisch gebildeten Op-
position unter den Flaviern.
27 MacMullen (wie Anm. 20), 32–33 Die Oppositionellen waren – wie MacMullen (wie Anm. 20),
42–43, zeigt – verwandtschaftlich untereinander verbunden.
28 MacMullen (wie Anm. 20), 53. 59. 64–65.
29 Vesperini (wie Anm. 24), 46–49, zählt drei Elemente dieses Ideals auf, nämlich die Selbstbe-
herrschung des Kaisers (Zornunterdrückung), dessen Vertrauen in die Vorsehung sowie die enge
Beziehung zwischen Kaiser und Philosoph (familiaritas).
30 Hahn (wie Anm. 17), 185–187; Rutherford (wie Anm. 5), 74–78.
31 M.-O. Goulet-Cazé, Musonius Rufus, in: DPA 4 (2005), 555–572.
32 Musonius, Reliquiae, fr. 8. Musonius belehrt hier einen syrischen König, der Vasall Roms
war.

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52   Winrich Löhr

losophen sich gerade nicht vom politischen Leben fernhalten sollen, sondern die
Herrscher durch ihren Umgang charakterlich verbessern sollen.33
Die Dynastie der Antonine konnte – zumindest im Rückblick – als das her-
vorragendste Beispiel eines Philosophenkaisertums über mehrere Jahrzehnte
hinweg betrachtet werden:
Der Historiker Aurelius Victor behauptet, dass unter der Herrschaft des
Vaters des Marcus Aurelius, Antoninus Pius, das platonische Ideal verwirklicht
worden sei.34
Und von Marcus Aurelius berichtet derselbe Historiker, dass er sich in stän-
diger Diskussion mit Philosophen befand, sogar kurz vor seinem Feldzug gegen
die Markomannen.35
Dio Cassius erwähnt in seiner römischen Geschichte das Interesse des
Marcus Aurelius an der stoischen Philosophie (als Lehrer wird Sextus, der Boetier
genannt, neben Hermogenes als Rhetoriklehrer).36
In der – als Quelle allerdings zumindest problematischen – Historia Augusta
(sie scheint hier auf der Anfang des 3. Jahrhunderts verfassten Vitae Caesarum
des Marius Maximus zu basieren)37 – wird Marcus Aurelius durchgehend als Phi-
losophenherrscher und Philosoph charakterisiert, der durch seine sanctitas allen
übrigen Herrschern überlegen war.38Auch heißt es in der gleichen Quelle, dass
Marcus Aurelius zeit seines Lebens den Satz Platos auf den Lippen gehabt habe,
demzufolge die Staaten blühen, wenn entweder die Philosophen herrschen oder
die Herrscher philosophieren.39
Was Marcus Aurelius betrifft, so ist allerdings auch zu konstatieren, dass –
trotz seiner unbezweifelbaren, vor allem durch den Stoiker Epiktet geprägten
philosophischen Bildung – die Rolle des Philosophen sich nur in eingeschränk-

33 Plutarch, Moralia 776a–779c.


34 Aurelius Victor, Historia abbreviata 15,3; Munier (wie Anm. 1), 111. Für weitere Testimonien,
siehe Rutherford (wie Anm. 5), ebd.
35 Aurelius Victor, Historia abbreviata 16,9–10; vgl. Scriptores historiae Augustae, Avidius Cas-
sius 3,5–6.
36 Dio Cassius, Historia Romana 71,1,1–3.
37 A. R. Birley, Cassius Dio and the Historia Augusta, in: M. van Ackeren (ed.), A Companion to
Marcus Aurelius, Chichester 2012, 13–28 (18–26).
38 Scriptores historiae Augustae, Marcus Antoninus 1,1. Horst (wie Anm. 23), 192–193, benutzt
diese Quelle ohne weiteres für ihre kulturgeschichtliche Analyse des Philosophenherrschers
Mark Aurel.
39 Scriptores historiae Augustae, Marcus Antoninus 27,7 (BSGRT, 71,18–21 Hohl): sententia[m]
Platonis semper in ore illius fuit florere civitates, si aut philosophi imperarent aut imperantes philo­
sopharentur. Vgl. auch 2,1; 4,10; 12,2; siehe Rutherford (wie Anm. 5), 174 Anm. 130 (mit weiteren
Belegen).

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 Herrscher und Untertanen als Philosophen   53

tem Maße in seiner öffentlichen Selbstpräsentation abbildete: Weder der numis-


matische Befund, noch die Inschriften, noch die Skulpturen weisen eine beson-
dere Akzentuierung der Philosophenrolle auf.40 Für die Briefe des Kaisers an den
Rhetoriklehrer Fronto gilt das Gleiche.41 Die angebliche ‚Konversion‘ des jugend-
lichen Marcus Aurelius von der Rhetorik zur Philosophie über der Lektüre des
Ariston von Chios dürfte nicht stattgefunden haben.42 Sein philosophisches Werk
(Ad se ipsum) bestand aus über vermutlich einen längeren Zeitraum verfertigten
Notaten (ὑπομνήματα),43 war wahrscheinlich für den persönlichen Gebrauch
bestimmt und den Gebildeten seines und der unmittelbar folgenden Jahrhun-
derte offenbar weitgehend unbekannt.44
Es ist schwierig, aus der etwas widersprüchlichen Quellenlage ein Resümee
zu ziehen. Zum einen ist umstritten, inwieweit der Kaiser wirklich ein Philosoph
war: Gewichtige Stimmen, wie z.  B. Pierre Hadot und Marcel van Ackeren, bejahen
dies nicht zuletzt aufgrund ihrer sehr gründlichen Analysen von Ad se ipsum ent-
schieden, andere – wie jüngst wieder Pierre Vesperini – ziehen dies in Zweifel.45
Kontrovers ist dabei letztlich, was philosophia als intellektuelle Praxis und Lebens-
form im 2. Jahrhundert genau bedeutete und wie und inwiefern der philosophos
in die Gesellschaft seiner Zeit integriert war: Für den Historiker liegt es nahe, in
dieser Beziehung ein ganzes Spektrum verschiedener Möglichkeiten anzuneh-
men und nicht einzelne normative Äußerungen in den Quellen überzubewerten.
Zum anderen ist auch unklar, inwieweit z.  B. Marcus Aurelius die Paideia-
Ideologie der Zweiten Sophistik nutzen konnte, um sie zur Legitimierung und

40 Siehe folgende Beiträge aus van Ackeren (ed.) (wie Anm. 37): S. Börner, Coins, 278–293 (282)
notiert, dass lediglich das Erscheinen der Göttin Minerva auf den Medaillons und Münzen des
Caesars Marcus Aurelius auf die Philosophie hinweisen könnte – war sie doch nicht nur Kriegs-
göttin, sondern auch Göttin der Weisheit. Siehe weiterhin: P. Kovács, Epigraphic Records, 77–91;
D. Boschung, The Portraits. A Short Introduction, 294–304. Laut Boschung setzten die Porträts
des bärtigen Marcus Aurelius einen bei Hadrian eingeführten Porträttypus fort. Dass damit be-
wusst das Philosophenimage evoziert werden soll, ist allerdings nicht die einzig mögliche Inter-
pretation (296–297).
41 Hadot (wie Anm. 18), 18–21.
42 Hadot (wie Anm. 18), 24–27.
43 Marcus Aurelius, Ad se ipsum 3,14,1.
44 M. Ceporina, The Meditations, in: van Ackeren (ed.) (wie Anm. 37), 45–61 (46–49). Ceporina
bezweifelt, dass die von Themistius, Orationes 6,81c evozierten „Ermahnungen“ (παραγγέλματα)
eine Referenz darstellen, erwähnt aber nicht die Parallele Scriptores historiae Augustae, Avidius
Cassius 3,6–7, wo die praecepta philosophiae bzw. die paraeneseis wohl doch auf Ad se ipsum zu
beziehen sind.
45 Hadot (wie Anm. 18); M. van Ackeren, Die Philosophie Marc Aurels, 2 Bde., Berlin 2011;
P. Vesperini, Droiture et melancholie. Sur les écrits de Marc Aurèle, Paris 2016.

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54   Winrich Löhr

Stabilisierung der eigenen Macht gegenüber den politisch und sozial relevanten
Eliten einzusetzen: Claudia Horst hat diese These mit eindrücklichen Analysen
zu untermauern versucht.46
Wieder eine andere Frage ist diejenige nach dem feststellbaren Einfluss phi-
losophischer Konzeptionen auf das politische Handeln des Marcus Aurelius.47
Nun verfügen wir gerade von Marcus Aurelius immerhin über eine Äußerung,
die Zweifel zumindest daran erweckt, ob und inwieweit er das platonische Ideal
einer Philosophenherrschaft verwirklichen konnte und wollte. Der Kaiser hat sich
offenbar mit der auch von Justin evozierten Utopie des platonischen Idealstaats
beschäftigt und formuliert in Ad se ipsum 9,29 folgende Einschätzung:

Die Ursache des Ganzen ist wie ein reißender Strom, alles trägt es mit sich. Wie wertlos sind
aber auch diese politischen und, wie sie glauben, philosophischen tätigen Menschlein: voll
des Rotzes! Was also, Mensch? Tue, was jetzt die Natur verlangt. Richte den Trieb darauf,
wenn es verstattet ist, und blicke nicht um dich, ob es jemand wissen wird. Hoffe nicht auf
Platons Staat! Sondern sei zufrieden, wenn das Kleinste vorwärtsgehen wird, und bedenke,
dass der Ausgang gerade davon nichts Geringes ist. Denn ihren Grundsatz (δόγμα), wer wird
ihn ändern? Ohne Änderung der Grundsätze aber, was gibt es anderes als die Sklaverei von
Stöhnenden, die nur so tun, als ob sie gehorchen! Los nun, nenne mir Alexander, Philipp
und Demetrios von Phaleron. Meinetwegen sollen sie gesehen haben, was die allgemeine
Natur κοινὴ φύσις) wollte, und sollen sich selber diszipliniert haben; wenn sie aber Theater
spielten, so hat mich niemand verdammt, sie nachzuahmen. Das Werk der φιλοσοφία ist
einfach und zurückhaltend. Führe mich nicht zu einer aufgeblasenen Würde hin!48

Marcus Aurelius kritisiert hier Politiker (darunter möglicherweise sein jugend­


liches Selbst),49 die Politik und Philosophie vermischen, oder die sogar meinen,
als Philosophen Politik treiben zu können. In der Forschung ist darauf hingewie-
sen worden, dass diese abschätzige Bemerkung des Kaisers über Platos Staat in

46 Horst (wie Anm. 23).


47 Für einen knappen Forschungsüberblick siehe Horst (wie Anm. 23), 36–40.
48 Marcus Aurelius, Ad se ipsum 9,29 (82,12–23 D.; übers., modifiziert, 218–219 T.): Χειμάρρους
ἡ τῶν ὅλων αἰτία· πάντα φέρει. ὡς εὐτελῆ δὲ καὶ τὰ πολιτικὰ ταῦτα καί, ὡς οἴεται, φιλοσόφως
πρακτικὰ ἀνθρώπια· μυξῶν μεστά. ἄνθρωπε, τί ποτε; ποίησον, ὃ νῦν ἡ φύσις ἀπαιτεῖ, ὅρμησον,
ἐὰν διδῶται, καὶ μὴ περιβλέπου, εἴ τις εἴσεται. μὴ τὴν Πλάτωνος πολιτείαν ἔλπιζε, ἀλλὰ ἀρκοῦ,
εἰ τὸ βραχύτατον πρόεισι, καὶ τούτου αὐτοῦ τὴν ἔκβασιν, ὡς μικρόν τί ἐστι, διανοοῦ. δόγμα γὰρ
αὐτῶν τίς μεταβαλεῖ; χωρὶς δὲ δογμάτων μεταβολῆς τί ἄλλο ἢ δουλεία στενόντων καὶ πείθεσθαι
προσποιουμένων; ὕπαγε νῦν καὶ Ἀλέξανδρον καὶ Φίλιππον καὶ Δημήτριον τὸν Φαληρέα μοι
λέγε. ὄψομαι, εἰ εἶδον, τί ἡ φύσις ἤθελε, καὶ ἑαυτοὺς ἐπαιδαγώγησαν· εἰ δὲ ἐτραγῴδησαν,
οὐδείς με κατακέκρικε μιμεῖσθαι. ἁπλοῦν ἐστι καὶ αἰδῆμον τὸ φιλοσοφίας ἔργον· μή με ἄπαγε ἐπὶ
σεμνοτυφίαν. Vgl. die Übersetzungen und Interpretationen bei Hadot (wie Anm. 18), 321–323 und
Rutherford (wie Anm. 5), 172–177.
49 Rutherford (wie Anm. 5), 173 Anm. 128.

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 Herrscher und Untertanen als Philosophen   55

eine Tradition der Utopiekritik einzuordnen sei, von der sich Spuren z.  B. auch
bei Cicero und Plutarch finden.50
So bemerkt Cicero in De oratore 1,230–231 über den Prozess gegen den Politi-
ker und Historiographen Publius Rutilius Rufus:

Jetzt haben wir einen solchen Mann verloren, indem seine Sache so geführt wurde, als wenn
die Angelegenheit in jenem erdachten Staat Platos verhandelt würde. Niemand hat aufge-
stöhnt, keiner seiner Verteidiger hat die Stimme erhoben, hat gefleht, nichts hat irgendje-
manden geschmerzt, es gab keine Klage, niemand hat den Staat angefleht oder inständig
gebeten, keiner hat beim Prozess mit dem Fuß aufgestampft, das war so, glaube ich, damit
man es nicht an die Stoiker meldet!51

Rutilius Rufus, ein Schüler des Philosophen Panaetius, verlor seinen Prozess und
wurde 92 v. Chr. aus Rom verbannt, da er es ablehnte, mit über die sachliche Dar-
legung des Falles hinausgehenden rhetorischen Mitteln seine Richter zu beein-
flussen.52 Cicero kritisiert die illusionäre Prämisse eines solchen vorbildlichen
Verhaltens: Politische Prozesse finden nicht im Idealstaat Platos statt, sondern
vor Menschen, die keine stoischen Philosophen sind, sondern emotional beein-
flussbar.
Die zweite Ciceropassage – auf die im zweiten Jahrhundert dann Plutarch,
Phocion 3,2 Bezug nimmt – findet sich im zweiten Buch seiner Epistulae ad
Atticum. Cicero bemerkt dort mit geradezu brutaler Offenheit über seinen Zeitge-
nossen, den römischen Modellstoiker Cato:

Gewiss, unseren Cato schätze ich nicht weniger als Du, aber in seiner anständigen Gesin-
nung und unerschütterlichen Zuverlässigkeit richtet er doch bisweilen Unheil in der Politik
an. Er redet gerade so, als ob er sich in Platos Idealstaat und nicht in Romulus’ Saustall
befände (dicit enim in tamquam in Platonis politieiai, non tamquam in Romuli faece sen­
tentiam). Durchaus berechtigt, dass die zur Verantwortung gezogen werden, die sich als
Geschworene haben bestechen lassen, sicherlich. Dafür trat auch Cato ein, und der Senat
folgte ihm. Aber wo ist der Erfolg?53

50 Hadot (wie Anm. 18), 322–323. Hadot folgen J.-B. Gourinat, Ethics, in: van Ackeren (ed.) (wie
Anm. 37), 420–436 (431–432) sowie G. Reydams-Schils, Social Ethics and Politics, in: van Acke-
ren (ed.) (wie Anm. 37), 437–452 (439–442).
51 Cicero, De oratore 1,230 (CUFr, 83,8–14 Courbaud): Nunc talis vir amissus est, dum causa ita
dicitur, ut si in illa commenticia Platonis ciuitate res ageretur: nemo ingemuit, nemo inclamauit
patronorum, nihil cuiquam doluit, nemo est questus, nemo rem publicam implorauit, nemo suppli­
cauit; quid multa? pedem nemo in illo iudicio supplosit, credo, ne Stoicis renuntiaretur.
52 Rutherford (wie Anm. 5), 69.
53 Cicero, Epistulae ad Atticum 2,1,8 (BSGRT, 52,8,1–6 Shackleton Bailey; übers., leicht modifi-
ziert, H. Kasten [Hg.], Marcus Tullius Cicero, Atticus-Briefe, München ³1980, 88–89): nam Cato­

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56   Winrich Löhr

Wichtig ist, dass diese Kritik an Platos Idealstaat dessen stoische Interpretation
vorauszusetzen scheint, der zufolge dort alle (d.  h. auch die relevanten Bürger
und nicht nur der Herrscher) Philosophen sind. Dazu passt, dass schon der
Stoiker Zeno in seiner Politeia postuliert habe, dass allein die Guten, d.  h. die
Weisen, Bürger und Freunde und Freien, in seinem Idealstaat seien.54 Auch
Musonius Rufus empfiehlt nicht nur den Philosophen-Königen die Tugend der
Selbstbeherrschung (σωφροσύνη), sondern gleichermaßen auch ihren Unter­
tanen: Die Ausschweifung, so meint er, richte sonst beide, den Herrscher und
den gewöhnlichen Bürger, zugrunde.55
Die Auffassung, dass in einem prosperierenden Staatswesen beide, die Herr-
scher und die Untertanen, philosophieren müssen, ist aber just die Interpreta-
tion, welche die Justinsche Modifikation in die einschlägige Platosentenz Res
publica 473d–e einschreibt und damit deren ursprünglichen Sinn in sein Gegen-
teil verkehrt.
Marcus Aurelius schließt sich der bei Cicero sichtbar werdenden kritischen
Einschätzung der so verstandenen platonischen Utopie an. Er weiß, dass sie
keine Chance auf Verwirklichung hat: Die Masse seiner Untertanen sind keine
Philosophen, die ihr Leben und Handeln an den Grundsätzen (δόγματα)56 der
φιλοσοφία ausrichten. Sie bleiben Sklaven, die den Befehlen des Herrschers
widerwillig oder nur zum Schein gehorchen.
Sah sich Marcus Aurelius also – entgegen dem von der Tradition über ihn
geprägten Image – nicht in der Lage, das Ideal eines Philosophenherrschers in
einem Philosophenstaat zu verwirklichen, so lehnte er aber auch, das zeigt seine
Bemerkung über Philipp, Alexander und Demetrius von Phaleron – durchaus im
Einklang mit den politischen Vorstellungen der zweiten Sophistik57 –, das ent-
gegengesetzte Ideal einer an der Glorie des Herrschers ausgerichteten Tyrannei

nem nostrum non tu amas plus quam ego; sed tamen ille optimo animo utens et summa fide nocet
interdum rei publicae; dicit enim tamquam in Platonis πολιτείᾳ, non tamquam in Romuli faece
sententiam. quid verius quam in iudicium venire qui ob rem iudicandam pecuniam acceperit? cen­
suit hoc Cato, adsensit senatus […].
54 Diogenes Laertius, Vitae philosophorum 7,33.
55 Musonius Rufus, Reliquiae, fr. 8 (34 H.).
56 Vesperini (wie Anm. 45), 116–120, macht gegen P. Hadot geltend, dass Marcus Aurelius ein
Schulphilosoph war, dem es um doktrinäre Wahrheit ging. Daher heiße δόγμα bei Marcus Au-
relius oft eher „Urteil“ oder „Entscheidung“ als Lehre oder Grundsatz, ziele also unmittelbar
auf die Gestaltung der Lebenspraxis. Doch auch Vesperini leugnet nicht, dass δόγμα bei Marcus
Aurelius zuweilen auch im „technischen Sinn“ gebaucht wird; in der vorliegenden Passage lässt
sich das m.  E. schwer bestreiten.
57 Horst (wie Anm. 23), 142–149.

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 Herrscher und Untertanen als Philosophen   57

ab.58 Was blieb ihm also als dritter Weg übrig? Offenbar die (durchaus philoso-
phische!) Einsicht, dass der Herrscher sich angesichts des Ursachenzusammen-
hangs der Gesamtnatur, der sich seiner Einwirkung entzieht, sich selbst nicht
allzu wichtig nehmen soll und sich darauf beschränken muss und darf, kleine
Erfolge und Fortschritte zu erzielen. Der weise Herrscher kennt seinen bescheide-
nen Posten im großen Ganzen – der platonische Idealstaat bleibt eine Utopie, die
nur Wichtigtuer beschäftigt.
Wie definierte vor diesem Hintergrund nun der christliche Philosoph Justin
seine Rolle gegenüber den Philosophenkaisern? Gab er sich als ihr Opponent
oder ihr Berater?
Justin stilisiert die eigene Rolle in 1 Apologia 2: Er sieht sich als Freund der
Wahrheit (φιλαλήθης), der ohne Rücksicht auf die eigene Person das Rechte
sagt und tut. Der sonst oft in solchen Zusammenhängen gebrauchte Begriff der
παρρησία fehlt allerdings.59 Und obwohl Justin rhetorische Mittel vertraut waren,
dürfte er sich nicht als Sophist gesehen haben.60 Für Justin leben und agieren
die wahren Philosophen unter Einsatz ihres eigenen Lebens und haben deshalb
Verfolgung zu erleiden. Auch Justin kennt (heidnische) Philosophenmärtyrer:
Obwohl er nicht das von Marcus Aurelius zitierte aristokratische Freiheitsideal
und dessen Wertegefüge teilt, so ruft er die Herrscher auf, Gerechtigkeit walten
zu lassen.61 Seine heidnischen Märtyrerhelden sind nicht Philosophen, die vor
Tyrannen Mut bewiesen, sondern solche, die Anteil am Logos hatten und deshalb
die philosophische Wahrheit des Monotheismus verteidigt haben und dafür von
den Dämonen verfolgt wurden, wie z.  B. Heraklit, Sokrates oder Musonius (1 Apo­
logia 5,3; 46,3; 2 Apologia 7,1). Justin vertritt also eine philosophische-religiöse
Version des Ideals vom Philosophenmärtyrer; ihm geht es nicht um die durch
das Prinzipat gefährdete aristokratisch-politische Freiheit, sondern um die reli-
giös-philosophische Freiheit vom Götzendienst. Die eigentliche Konfrontation
findet in dieser Perspektive auch nicht zwischen dem Philosophen und dem
Herrscher statt, sondern zwischen dem Philosophen und denjenigen (vielen), die

58 Siehe Rutherford (wie Anm. 5), 175–176 zur antiken Kritik besonders an Philipp und Ale­
xander.
59 Vgl. aber Athenagoras, Legatio pro Christianis 11,2 (E. J. Goodspeed [Hg.], Die ältesten Apolo-
geten. Texte mit kurzen Einleitungen, Göttingen 1984, 325).
60 Vgl. 1 Apologia 14,5.
61 Vgl. Plinius der Jüngere, Epistula 1,10,10, wo der princeps provinciae Euphrates die philoso-
phische Betätigung des aktiven Politikers folgendermaßen beschreibt: […] adfirmat etiam esse
hanc philosophiae et quidem pulcherrimam partem, agere negotium publicum, cognoscere iudi­
care, promere et exercere iustitiam […] (SCBO, 17,27–18,2 Mynors). Vgl. Rutherford (wie Anm. 5),
73–74. Vgl. weiterhin Musonius Rufus, Reliquiae, fr. 8.

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58   Winrich Löhr

noch unter der Macht der Dämonen sind und deshalb die Wahrheitsfreunde ver-
folgen.62
Justin moralisiert: Er evoziert die Sorge um das Selbst (Dialogus cum Try­
phone Judaeo 8,2) und ermahnt seine Adressaten: Wer sich von den Dämonen
beherrschen lässt, unterwirft sich nicht nur den Götzen, sondern ergibt sich auch
der Magie und der Ausschweifung (1 Apologia 14,1–3; 27,3–5). Auch die Häretiker
sind von den Dämonen geschickt: Es ist die Aufgabe Justins, die Kaiser darüber
aufzuklären (1 Apologia 26; 56; 2 Apologia 15,1–2). Wenn Justin seine Adressaten
immer wieder an die Freiheit der Entscheidung erinnert und diese warnend in
den Horizont des göttlichen Gerichtes stellt, so ist dies natürlich auch ein mora-
lisierender Akzent.63
Schließlich bewirbt sich Justin in gewissem Sinne auch um eine beratende
Rolle bei den kaiserlichen Adressaten: Indem er sie umfassend über das Christen-
tum aufklärt, hilft er ihnen, die Christen gerecht zu beurteilen und damit ihren
Anspruch, als Philosophenkaiser zu herrschen, einzulösen. Ja mehr noch: Er
bietet sich auch an, die Kaiser bei der Identifizierung von verderblichen Häresien
zu beraten.64

3
Gesetzt den (alles in allem doch eher unwahrscheinlichen) Fall, dass Marcus
Aurelius Justins Schrift überhaupt persönlich gelesen hat – hätte er sich ange-
sprochen gefühlt? Hätte Justin mit seinem augenscheinlich sorgfältig kalkulierten
Aufgreifen des Philosophen-Images der Kaiser und mit seiner Selbststilisierung
als mutiger Wahrheitsfreund eine Chance bei dem intellektuellen Kaiser gehabt?
Die Antwort dürfte m.  E. negativ ausfallen: Schon die Evokation der stoisch
umgedeuteten platonischen Utopie als Höhepunkt der Einleitung dürfte beim
Kaiser auf Skepsis gestoßen sein. Bestenfalls hätte Justin ihm als einer jener
„Menschlein“ oder Wichtigtuer gegolten, die Politik und Philosophie vermischen.
Ja, schlimmer noch, er hätte dem Kaiser wohl als Vertreter einer dubiosen Sekte
gegolten, der Plato und das hehre (und letztliche leere) Ideal der Philosophen-

62 In dieser Frontstellung spiegelt sich die Situation der Christen im zweiten Jahrhundert: Nicht
vom Staate wurden sie aktiv bedroht (siehe das Trajansche conquirendi non sunt), sondern von
Denunziationen, verleumderischen Gerüchten und der Gewalt des Mobs, siehe z.  B. C. Motsch-
mann, Die Religionspolitik Mark Aurels, Stuttgart 2002, 243–251.
63 Holfelder (wie Anm. 9), 65.
64 Justin, 1 Apologia 26,8.

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 Herrscher und Untertanen als Philosophen   59

herrschaft evoziert, um die sehr praktische Forderung nach der eigenen Entkri-
minalisierung durchzusetzen. Darüber hinaus könnte auch eine kurze, vielleicht
auf die Christen zielende Bemerkung in Ad se ipsum 11,3 belegen, dass Marcus
Aurelius den von Justin und anderen vorgetragenen Anspruch, das Christentum
stelle eine neue Philosophie dar, nicht akzeptierte.65 Justin war ja auch spektaku-
lär erfolglos mit seiner Bittschrift – er selbst starb als Märtyrer, wie auch andere
Christen, unter Marcus Aurelius.66
Dennoch verdient es hervorgehoben zu werden, wie Justin als christlicher
Philosoph versucht, die zeitgenössische παιδεία- und φιλοσοφία-Ideologie zu
nutzen, um die Entkriminalisierung des Christentums zu erreichen. Indem er
Elemente der kaiserlichen Ideologie aufgreift und bestätigt, signalisiert er gleich-
zeitig dem Kaiser, den politischen Eliten und auch gebildeten Christen, dass das
Christentum nicht subversiv ist, sondern bereit, die kaiserliche Herrschaft loyal zu
unterstützen und bestimmte Elemente der kaiserlichen Ideologie zu akzeptieren.
Die explizite Apostrophierung der Kaiser als Philosophen findet sich auch
abgesehen von Justin in den erhaltenen Resten der übrigen christlichen Apolo-
getik des zweiten und dritten Jahrhunderts: Zum einen ist hier die Legatio pro
Christianis des Athenagoras zu erwähnen, und zwar zum einen die inscriptio des
Werkes und dann 11,2. Athenagoras zitiert aber nicht Plato, Res publica 473d–e
und redet auch nicht von der φιλοσοφία als etwas, das Herrscher und Untertanen
zum Wohle des Ganzen verbindet: Er bemüht den Topos von den Philosophen-
herrschern lediglich als captatio benevolentiae.
Zum anderen scheint auch Melito von Sardes während einer neuen Verfol-
gungswelle Marcus Aurelius auf sein Philosophenimage angesprochen zu haben.
Melito behauptet gar, dass die christliche Philosophie zusammen mit dem Kaiser-
reich seit Augustus aufwuchs und gedieh. Lediglich die ignoranten Kaiser Nero
und Domitian ließen sich von verleumderischen Männern dazu verführen, die
Christen zu verfolgen. Dieser Irrtum aber wurde von Hadrian (Melito erwähnt
das von Justin 1 Apologia 68 zitierte Reskript an Minucius Fundanus) sowie vom
(Adoptiv-) Vater des Marcus Aurelius, Antoninus Pius, in Schrei­ben an verschie-
dene Städte (Larissa, Thessalonike, Athen) sowie an alle Griechen korrigiert.67
Anders als Justin spricht Melito die Kaiser nicht allgemein auf ihre Affinität zu
παιδεία und φιλοσοφία an, sondern proklamiert mit größerer Aggressivität von

65 Marcus Aurelius, Ad se ipsum 11,3. Dalfen (98,6–7 D.) – wie andere vor ihm – athetiert ὡς
οἱ Χριστιανοί. Die Frage kann hier nicht entschieden werden. Vgl. Motschmann (wie Anm. 62),
264–265.
66 Motschmann (wie Anm. 62), 220–271.
67 Euseb, Historia ecclesiastica 4,26,7–11.

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60   Winrich Löhr

vorneherein die Verbindung von kaiserlicher Herrschaft und christlicher Phi-


losophie. Vielleicht empfanden Christen wie Melito eine verstärkte Isolierung
innerhalb der Schicht der Gebildeten, der sie doch eigentlich angehörten, und
grenzten sich deshalb stärker ab – ohne ihr Ideal einer christlichen φιλοσοφία
aufzugeben.
Von dem christlichen Autor Miltiades heißt es schließlich, dass er für die Phi-
losophie, der er folgte, an die weltlichen Herrscher (κοσμοκοὶ ἄρχοντες) geschrie-
ben habe:68 Hier kann man immerhin vermuten, dass er die Kaiser auch auf ihre
παιδεία und φιλοσοφία ansprach.

68 Euseb, Historia ecclesiastica 5,17,5; siehe oben Anm. 15.

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Jörg Ulrich
Die Kaiser vor Gericht
Zur Umkehrung des Gerichtsszenarios in der „ersten Apologie“
Justins

1
Für die Christen der ersten drei Jahrhunderte war die Bedrohung durch einen
Gerichtsprozess vor den römischen Behörden, der im Falle eines Beharrens auf
dem christlichen Bekenntnis die Hinrichtung zur Folge hatte, allgegenwärtig.
Im Falle nicht-anonym eingegangener Anzeigen wegen des nomen ipsum waren
die römischen Autoritäten aufgrund der Rechtslage geradezu dazu gezwungen,
in Aktion zu treten.1 Auch wenn man gelegentlich den Eindruck gewinnt, als
hätte der römische Staat tendenziell ein Interesse daran gehabt, Hinrichtungen

1 Der Briefwechsel des bithynischen Statthalters Plinius mit dem Kaiser Trajan (Plinius, Epistula
10,96–97) ist unendlich viel diskutiert worden, was an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden
kann und muss. Ich verweise auf J. Engberg, Impulsore Chresto. Opposition to Christianity in the
Roman Empire c. 50–250 AD (ECCA 2), Frankfurt/M. 2007, 173–205 (Lit.!). Der Briefwechsel zwi-
schen Plinius und Trajan zeigt im Ergebnis, dass bei namentlich eingegangenen Anzeigen gegen
Christen wegen des nomen ipsum und bei Eingeständnis der Zugehörigkeit zum Christentum
durch die Angeklagten auf explizite richterliche Frage hin das Todesurteil erfolgte. Die Polemik
eines Tertullian gegen diese Rechtslage und -praxis (man sehe hierzu Tertullian, Apologeticum
1,4–5; 2,6–9.18–20; 3,5–8; 4,4 u. ö., zu den Stellen vgl. den Kommentar von T. Georges, Tertullian,
Apologeticum [KfA 11], Freiburg 2011), ferner Hinweise bei anderen Apologeten wie Theophilus
von Antiochien oder Athenagoras sowie der geschilderte Verlauf einiger dieser Prozesse in den
Märtyrerberichten (man sehe nur das Marinusmartyrium bei Euseb, Historia ecclesiastica 7,15,1–5)
zeigen, dass diese Rechtslage bis weit ins zweite und gar bis ins dritte Jahrhundert hinein je-
denfalls im Kern (und bei Ausnahme der Verfolgungen unter Decius, Valerian und Diokletian)
Bestand hatte, wenn auch mit Engberg darauf hinzuweisen ist, dass die Rechtslage insgesamt
komplexer war und die Behandlung von Christen in Einzelfällen durchaus divergieren konn-
te. Vgl. weiter R. Freudenberger, Das Verhalten der römischen Behörden gegen die Christen im
2. Jahrhundert. Dargestellt am Brief des Plinius an Trajan und den Reskripten Trajans und Had-
rians (MBPF 52), München 21969; D. Minns, The Rescript of Hadrian, in: S. Parvis/P. Foster (eds.),
Justin Martyr and His Worlds, Minneapolis 2007, 38–49; A. Reichert, Durchdachte Konfusion.
Plinius, Trajan und das Christentum, in: ZNW 93 (2002), 227–250; M. Rizzi (ed.), Hadrian and the
Christians (MST 30), Berlin 2010; A.Wlosok, Die Rechtsgrundlage der Christenverfolgungen, in:
R. Klein (Hg.), Das frühe Christentum im römischen Staat (WdF 267), Darmstadt 1982, 275–301.
Vgl. auch A. Schilling, Poena extraordinaria. Zur Strafzumessung in der frühen Kaiserzeit (Frei-
burger rechtsgeschichtliche Abhandlungen. NF 61), Berlin 2010, 285–286.

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62   Jörg Ulrich

zu vermeiden,2 blieb den zuständigen Richtern3 gegenüber sich im Gerichtspro-


zess zu ihrem Glauben bekennenden Christen gar nichts anderes übrig, als die
von Rechts wegen vorgesehenen Todesurteile auszusprechen und vollstrecken zu
lassen. Dies traf die Christen der später als „orthodoxe“ „Großkirche“ konstruier-
ten Richtung ebenso wie andere, in der überlieferten zeitgenössischen Polemik
und in der historiographischen Retrospektive als „Häretiker“ eingestufte4 – die
römischen Behörden machten da keinen Unterschied und scheinen sich für die
im Hintergrund stehenden innerchristlichen Kontroversen auch nicht interessiert
zu haben.
Angesichts der Allgegenwart der Christenprozesse nimmt es nicht Wunder,
dass die Gerichtsthematik in der überlieferten frühchristlichen Literatur eine
erhebliche Rolle spielt. Das gilt für zahlreiche innerkirchliche Debatten wie die
Fragen nach der Möglichkeit des Leugnens oder der Pflicht zum Bekennen vor
Gericht5 oder die Fragen nach der Möglichkeit des Meidens des Gerichts (etwa
durch Flucht)6 oder umgekehrt: der des aktiven Suchens des Martyriums (etwa

2 Man sehe hierzu nur das Scilitanermartyrium vom Ende des zweiten Jahrhunderts: The Acts of
the Christian Martyrs, Text and Translation by H. Musorillo (OECT), Oxford 1972, 86–89. Der Pro-
konsul Saturninus versucht, den sechs angeklagten Christen eine Bedenkzeit von dreißig Tagen
regelrecht aufzudrängen – jedoch vergeblich, weil die „Scilitaner“ unmittelbar nach seinem
Angebot ihr Bekenntnis zum christlichen Glauben unaufgefordert explizit wiederholen (Passio
Scilitanorum 13).
3 Als Prozessführer und Entscheidungsträger erscheinen in den Quellen die Statthalter (Plinius
[siehe Anm. 1] war in Bithynien in außerordentlicher Stellung als kaiserlicher Legat mit konsula-
rischer Vollmacht tätig) sowie die (Stadt)Präfekten (ἀνθύπατος / ἔπαρχος / proconsul, antistes) –
siehe Maryrium Polycarpi 11,1; Martyrium Carpi, Papyli et Agathonicae 1,1; Martyrium Justini 2,1;
Passio Scilitanorum 1, Justin, 2 Apologia 1,1; 2,12.15–16 u. ö.; an die antistites imperii Romani, die
bei der Rechtsprechung den Vorsitz haben [praesidentibus ad iudicandum], wendet sich das Apo­
logeticum Tertullians: Apologeticum 1,1, siehe hierzu T. Georges (wie Anm. 1), 55–57.
4 Justin versucht den Eindruck zu erwecken, als träfen die Urteile der Behörden nur die „ortho-
doxen“, „wahren“ Christen und nicht die „Häretiker“ wie etwa Markioniten (Justin, 1 Apologia
26,7); dies trifft aber nicht zu. Selbst aus „orthodoxen“ Quellen sind Martyrien „nichtorthodoxer“
Christen sicher bezeugt: vgl. die unter Valerian hingerichtete Markionitin (Euseb, Historia eccle­
siastica 7,12). Justins Einlassung ist wahrscheinlich so zu erklären, dass er versucht, die Kaiser
dazu zu bewegen, seine Unterscheidung von „wahren“ und „falschen“ Christen zu übernehmen
und den „wahren“ Christen die freie Ausübung ihrer Religion zu gewähren. Vor diesem Hinter-
grund versteht sich auch sein (durchaus etwas unbedarft anmutendes) Angebot, den Kaisern
ein Exemplar seiner (heute verlorenen) Schrift gegen die Häresien zur Lektüre zur Verfügung zu
stellen (Justin, 1 Apologia 26,8).
5 Eine solche Debatte spiegelt sich z.  B. bei Justin, 1 Apologia 4,6–7.
6 Zu verweisen ist hier zum Beispiel auf Tertullians kleine Schrift De fuga in persecutione (CPL
25), in der sich derlei Debatten widerspiegeln.

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 Die Kaiser vor Gericht   63

durch Selbstanzeige).7 Dies gilt aber noch mehr für die eher nach außen gerichte-
ten Schriften der frühchristlichen Apologeten,8 die unter anderem darauf zielen,
die Ungerechtigkeit und Sinnlosigkeit der Christenprozesse zu erweisen und die
Vernunftwidrigkeit der bestehenden Rechtslage zur Zielscheibe ihrer Kritik und
auch ihrer Polemik und ihres Spottes zu machen. Dabei heben die apologetischen
Texte nicht nur auf eine Diskussion der bestehenden Rechtssituation mit dem
Ziel ihrer Veränderung ab, sondern sie spielen auch rhetorisch und literarisch
mit dem Gerichtsszenario, um ihrer Position Ausdruck zu verleihen. Tertullian
gestaltet bekanntlich sein ganzes umfangreiches Apologeticum als Gerichtsrede,
die sich die Verteidigung der christlichen Religion angelegen sein lässt.9
Eine weitere, bislang wenig gewürdigte Variante dieses literarischen Spie-
lens mit der Gerichtsthematik findet sich bei Justin dem Märtyrer.10 Er bietet in
seiner „ersten Apologie“11 eine rhetorische Umkehrung des Gerichtsszenarios in
doppelter Perspektive: Einerseits stellt er demonstrativ die Kaiser selbst auf den
Prüfstand, was deren Anspruch auf philosophisch-vernunftgemäßes und gottes-
fürchtiges Regierungshandeln angeht. Andererseits stellt er ihnen den Horizont
des eschatologischen Gerichts Gottes vor Augen; in diesem kommenden Gericht
Gottes werden die Kaiser das ihrem Handeln angemessene, gerechte, letztgültige
Urteil empfangen, sei es in Form ewig währenden himmlischen Lohnes, sei es
als niemals endende qualvolle Höllenstrafe. Natürlich hängen beide Perspek-
tiven aus Sicht Justins auf das Engste zusammen, weil sich das einstige Urteil

7 Es ist klar, dass es unter besonders radikalen Christen derlei Tendenzen zum aktiven Suchen
des Martyriums gegeben hat, aber es ist auch klar, dass die Träger gemeindeleitender Ämter der
werdenden „Großkirche“ hiergegen grundsätzliche Bedenken geltend machten. Eine „Martyri-
umssucht“ hat es in der Alten Kirche nicht oder nur an den Rändern der frühen Christenheit
gegeben. Siehe hierzu die Monographie von C. Butterweck, „Martyriumssucht“ in der Alten Kir-
che? Studien zur Darstellung und Deutung frühchristlicher Martyrien (BHTh 87), Tübingen 1995.
8 Siehe M. Fiedrowicz, Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christlichen
Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten, Paderborn 22001; außerdem die Bände von
J. Ulrich/A.-C. Jacobsen/M. Kahlos (eds.), Continuity and Discontinuity in Early Christian Apolo-
getics (ECCA 5), Frankfurt/M. 2009 sowie J. Engberg/A.-J. Jacobsen/J. Ulrich (eds.), In Defence of
Christianity. Early Christian Apologetics (ECCA 15), Frankfurt/M. 2014 (Lit.!).
9 Siehe hierzu die Ausführungen unter 4. und detailliert Georges (wie Anm. 1), 38–44.
10 Zu Justin siehe J. Ulrich, Justin Martyr, in: Engberg/Jacobsen/Ulrich (eds.), In Defence of
Christianity (wie Anm. 8), 51–66; L. W. Barnard, Justin Martyr. His Life and Thought, Cambridge
1967; E. F. Osborn, Justin Marytr, Tübingen 1973. – Die ganze Breite der neueren Forschungsdis-
kussion spiegelt sich in dem Band von S. Parvis/P. Foster (eds.), Justin Martyr and His Worlds,
Minneapolis 2007.
11 Zum literarischen Charakter der „ersten Apologie“, die als an die Kaiser gerichtete Petition zu
identifizieren ist, und ihr Verhältnis zur so genannten „zweiten Apologie“ siehe unten unter II.

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64   Jörg Ulrich

Gottes ganz wesentlich danach bemessen wird, ob die Kaiser sich in ihrer gegen-
wärtigen Haltung zu den Christen als gottesfürchtig erweisen oder nicht. Im
Folgenden werde ich beide Schienen der Umkehrung des Gerichtsszenarios bei
Justin darstellen, zunächst die innerweltliche (2.), dann die eschatologische (3.),
um abschließend auf Grundlage von Vergleichen mit ausgewählten Stellen aus
anderen Texten der frühchristlichen Apologetik (4.) zu zeigen, dass sich auch im
hier dargestellten Punkt wieder einmal die bemerkenswerte Originalität Justins12
erweist, die seiner Stimme im Chor der Apologeten einen besonderen, unver-
wechselbaren Klang verleiht. Am Ende dieses Beitrags steht eine kurze Zusam-
menfassung und Wertung (5.).

2
Der als „erste Apologie“ Justins überlieferte Text13 ist, wie die neue Edition von
Denis Minns und Paul Parvis zu sehen nahegelegt hat,14 eine Petition,15 die,

12 Siehe meinen Aufsatz J. Ulrich, Innovative Apologetik. Beobachtungen zur Originalität


Justins am Beispiel seiner Lehre vom „Logos spermatikos“ und anderer Befunde, in: ThLZ 130
(2005), 3–16.
13 CPG 1073. Leithandschrift ist der Codex Parisinus Graecus 450. Er enthält die „erste Apologie“
und einen (in der handschriftlichen Reihenfolge vor der Apologie stehenden) Appendix, die so
genannte „zweite Apologie“. Diese ist in der Forschung seit Harnack (A. Harnack, Die Überlie-
ferung der griechischen Apologeten des zweiten Jahrhunderts in der alten Kirche und im Mittel-
alter [TU 1,1–2], Leipzig 1882) ziemlich einhellig als „Anhang“, „Nachschrift“ oder „zugefügter
Nachtrag“ zur „ersten Apologie“ identifiziert worden. Die Rede von der „ersten“ und „zweiten“
Apologie wird in diesem Aufsatz aus Gründen der historiographischen Kontinuität beibehalten.
Angesichts der Forschungsergebnisse von Minns/Parvis (siehe die folgende Anm.) wäre es auch
möglich, von einer Apologie und einer „zweiten Apologie“ zu sprechen.
14 Justin, Philosopher and Martyr, Apologies. Edited with a Commentary on the Text by Denis
Minns and Paul Parvis (OECT), Oxford 2009. – Unbeschadet einiger abweichender Beurteilungen
bei einzelnen textkritisch schwierigen Stellen halte ich diese Edition für zu bevorzugen gegen-
über der Vorgängeredition Iustini Martyris Apologiae pro Christianis, ed. M. Marcovich (PTS 38),
Berlin 1994. – Siehe meine Rezension: J. Ulrich, Justin, Philosopher and Martyr: Apologies, eds.
D. Minns/P. Parvis, in: ThLZ 136 (2011), 67–68.
15 Siehe Minns/Parvis (wie Anm. 14), 24–28; die Terminologie für eine solche Petition war fest
fixiert: Man sprach von einem libellus, griechisch βιβλίδιον (1 Apologia 29,2; 67,8; 69,1 [alt: 2 Apo­
logia 14,1]; 2 Apologia 2,8) oder ἔντευξις (1 Apologia 1,1). – Siehe hierzu die epigraphische Studie
von T. Hauken, Petition and Response. An Epigraphic Study of Petitions to Roman Emperors
181–249, Monographs from the Norwegian Institute at Athens 2, Bergen 1998, besonders 305–317.
Haukens gründliche Untersuchung hat neues Licht auch auf die terminologischen Fragen gewor-
fen und die Erkenntnisse zur Terminologie bestätigt und stabilisiert.

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 Die Kaiser vor Gericht   65

einem rechtlich klar fixierten Vorgang folgend,16 die für die Christen nachteilige
Rechtslage als vernunftwidrig zu erweisen sucht. Ihr Anliegen ist es, dass diese
Rechtslage verändert werden möge. Adressaten dieser Apologie sind die Kaiser,
also Antoninus Pius und dessen zwei Adoptivsöhne, Marc Aurel und Lucius.17 An
sie wird die ausführlich begründete Forderung gerichtet, das faktische Verbot
des christlichen Bekenntnisses aufzuheben. Aufgrund einiger innerer Hinweise
kann die Petition auf die Jahre kurz nach 150 n. Chr. sicher datiert werden.18 Die
so genannte „zweite Apologie“ ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine Material-
sammlung von Gedanken und Argumenten Justins.19 Sie wurde möglicherweise
erst nach dem Märtyrertod Justins zusammengestellt.
In der als Petition zu identifizierenden „ersten Apologie“ finden sich nun
immer wieder Bemerkungen und Passagen, die in einer zunächst befremdlich
anmutenden Weise die Gerichtssituation gleichsam umkehren und insinuieren,
dass es die Kaiser selbst sind, die im Fortgang der Argumentation auf dem Prüf-
stand stehen. In 1 Apologia 2,2 heißt es: „Ihr hört zwar überall, dass ihr als fromm

16 Siehe Minns/Parvis (wie Anm. 14), 24–25.


17 Justin, 1 Apologia 1,1 (OECT, 80,1–6 Minns/Parvis): Αὐτοκράτορι Τίτῳ Αἰλίῳ Ἀδριανῷ
Ἀντωνίνῳ Εὐσεβεῖ Σεβαστῷ Καίσαρι καὶ Οὐηρισσίμῳ, υἱῷ, φιλοσόφῳ, καὶ Λουκίῳ, Καίσαρος
φύσει υἱῷ καὶ Εὐσεβοῦς εἰσποιητῷ ἐραστῇ παιδείας ὑπὲρ τῶν ἐκ παντὸς γένους ἀνθρώπων
ἀδίκως μισουμένων καὶ ἐπηρεαζομένων Ἰουστῖνος Πρίσκου τοῦ Βακχείου τῶν ἀπὸ Φλαουΐας Νέας
πόλεως τῆς Συρίας Παλαιστίνης, εἷς αὐτῶν, τὴν προσφώνησιν καὶ ἔντευξιν πεποίημαι. / „An den
Imperator Titus Aelius Hadrianus Antoninus Pius Augustus und an Caesar Verissimus, seinen
Sohn, den Philosophen, und an Lucius, natürlicher Sohn des Caesar und Adoptivsohn des Pius,
den Bewunderer der Bildung, habe ich, Justin, Sohn des Priscus, Enkel des Bacchius, die aus der
Stadt Flavia Neapolis in Syria Palästina stammen, zugunsten der Menschen aus allen Völkern,
die ungerechterweise gehasst und gepeinigt werden, als einer der ihren diese Einrede und Pe-
tition verfasst.“ – Antoninus Pius (86–161; Imperator seit dem Tode des Hadrian im Jahre 138);
Marc Aurel (121–180; 138 von Antoninus Pius adoptiert, Caesar seit 139, Imperator seit dem Tode
des Antoninus Pius im Jahre 161); schließlich Lucius Ceionius Aelius Aurelius Commodus (130–
169), der zeitgleich mit Marc Aurel von Antoninus Pius adoptiert worden und nach dem Tode des
Antoninus Pius nominell gemeinsam mit Marc Aurel Imperator war, wenngleich faktisch ohne
Einfluss. Zur Titulatur in der Apologie insgesamt siehe Minns/Parvis (wie Anm. 14), 34–41. Der
Philosophentitel für Marc Aurel, der sich in Justins Anrede findet, entsprach durchaus dessen
Selbstverständnis (trotz einiger kleiner Unsicherheiten, vgl. unten Anm. 22), war aber natürlich
ein völlig inoffizieller Titel.
18 Minns/Parvis (wie Anm. 14), 44; Marcovich (wie Anm. 14), 11.
19 Minns/Parvis (wie Anm. 14), 26–28 erwägen zwei Theorien: Entweder die „Covering-Speech“-
Theorie, nach welcher die „zweite Apologie“ eine Art Rede sein könnte, die für die Präsentation
der Petition angefertigt oder zu diesem Anlass tatsächlich gehalten worden sei – oder die „Cut-
ting-Room-Floor“-Theorie, nach welcher es sich um (im Verhältnis zur Petition früheres) Material
aus der Schule Justins handelt, das, weil es nicht in den Duktus der Petition passte, später nur
lose verbunden zusammengestellt worden sei.

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66   Jörg Ulrich

und als Philosophen und Wächter der Gerechtigkeit und Freunde der Bildung
bezeichnet werdet; ob ihr das aber auch seid, wird sich zeigen.“20 Von den vier
Bezeichnungen, die Justin hier für die Kaiser wählt, sind drei direkt aus der in
1 Apologia 1,1 vorgetragenen Anrede übernommen; nur die Bezeichnung „Wächter
der Gerechtigkeit“ ist hinzugekommen, die freilich dem Idealbild eines Kaisers
völlig entspricht21 und die voranstehenden Prädikationen lediglich um einen
wichtigen Aspekt ergänzt. Alle vier Prädikationen hätten die Adressaten der Apo-
logie zweifellos der Sache nach für sich in Anspruch genommen, weil sie jenem
Idealbild gerecht zu werden bestrebt waren;22 Justins Satz weist ferner darauf hin,
dass den Kaisern zudem von allen Seiten her bestätigt wurde, jenem Bild auch
tatsächlich zu entsprechen. Allerdings, so Justin, muss der Sachgehalt sowohl
des kaiserlichen Selbstanspruchs als auch der der allgemeinen Meinung kritisch
überprüft werden: Ob beide zu Recht bestehen, soll sich erst erweisen. Das Verb
δείκνυμαι (δειχθήσεται) wird in den Apologien auch sonst im Sinne von „offenbar
werden“ oder „sich erweisen“ benutzt (1 Apologia 12,10; 35,2; 55,2; 57,1; 2 Apologia
8[3],6) und setzt ein belastbares, gründliches, nach sorgfältiger Prüfung gefunde-
nes Urteil voraus. Kriterium, an dem die zu prüfende Aussage sich messen lassen

20 Justin, 1 Apologia 2,2 (80,12–14 M./P.): ὑμεῖς μὲν οὖν, ὅτι λέγεσθε εὐσεβεῖς καὶ φιλόσοφοι, καὶ
φύλακες δικαιοσύνης καὶ ἐρασταὶ παιδείας ἀκούετε πανταχοῦ· εἰ δὲ καὶ ὑπάρχετε, δειχθήσεται.
21 Für Platon siehe Res publica 7,540b in Verbindung mit Protagoras 343a. Für Philo von Alex-
andrien siehe De confusione linguarum 166; Quis rerum divinarum heres sit 180; De somniis 1,49.
22 Zum Idealbild des (philosophischen) Kaisers im zweiten Jahrhundert, v.  a. auch im Hinblick
auf Marc Aurel, siehe den Beitrag von Winrich Löhr „Herrscher und Untertanen als Philoso-
phen – Justin, Marcus Aurelius und philosophisch-politische Diskurse des zweiten Jahrhun-
derts“ in diesem Band. – Justin selbst leitet das Ideal des philosophischen Kaisers aus Platon,
Res publica 5, 473cd ab, wobei er allerdings die platonische Vorlage, die ausschließlich auf das
Philosophieren des Herrschers rekurriert, auf das Philosophieren der Herrscher wie der Regier-
ten ausdehnt (1 Apologia 3,3 [84,6–7 M./P.]: ἔφη γάρ που καί τις τῶν παλαιῶν· „Ἂν μὴ οἱ ἂρχοντες
φιλοσοφήσωσι καὶ οἱ ἀρχόμενοι, οὐκ ἂν εἴη τὰς πόλεις εὐδαιμονῆσαι.“/„Auch von den Alten
hat nämlich irgendeiner irgendwo gesagt: ‚Wenn nicht sowohl die Herrschenden als auch die,
die regiert werden, philosophieren, können die Staaten nicht zu wahrem Glück gelangen.‘“).
Gelegentlich vorgeschlagene textkritische Harmonisierungen des Justinschen „Zitats“ mit dem
Platontext verfehlen die Aussageintention Justins, wie sie im unmittelbaren Kontext 1 Apologia
3,2.4 erkennbar ist, worauf Löhr (s.  o.) und Minns/Parvis (wie Anm. 14), 85 Anm. 5, hingewiesen
haben. Von Marc Aurel ist (freilich in einer nicht ganz unproblematischen Quelle) gesagt, dass
er das Zitat (in der platonischen Variante) schätzte (vgl. Historia Augusta, Marcus Antoninus 27,7;
insgesamt wird Marc Aurel in dieser Quelle als Philosophenherrscher und Philosoph stilisiert,
dem es dank seiner sanctitas gelang, das Ideal zu verwirklichen); hier ist mit Löhr (s.  o.) ein-
schränkend darauf aufmerksam zu machen, dass die Rolle des Philosophen sich in der öffentlich
Selbstpräsentation Marc Aurels nur bedingt widerspiegelt und auch die Selbstaussage in Marc
Aurel, Ad se ipsum 9,29 eher reserviert klingt.

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 Die Kaiser vor Gericht   67

muss, ist der λόγος, also die Vernunft (vgl. 1 Apologia 2,1), die auch die nun auf
den Prüfstand gestellten Adressaten selbstverständlich als „Richterin“ akzeptiert
hätten. Justin unterstreicht dies und fährt in denkbar selbstbewusstem Ton fort
(1 Apologia 2,3):

Denn wir stehen hier nicht vor euch, um euch mit diesen Ausführungen zu schmeicheln
oder um Wohlwollen zu erwirken, sondern um zu fordern, dass ihr gemäß der strengen
und prüfenden Vernunft ein Urteil fällt, damit ihr nicht durch ein Vorurteil oder durch die
Gefallsucht gegenüber Abergläubischen, beeinflusst seid oder auf Basis unvernünftigen
Dranges und eines seit langer Zeit eingewurzelten üblen Gerüchts das Urteil gegen euch
selbst sprecht.23

Während die despektierliche Zurückweisung jedes Verdachts des „Schmeichelns“


und „Erwirkens von Wohlwollen“ sich implizit auf die vorgenannte öffentliche
Meinung zugunsten der Kaiser beziehen dürften, ist die christliche Haltung, wie
Justin sie vertritt, demgegenüber eine völlig andere: Man fordert (ἀπαιτήσοντες),
dass die Urteile in den Christenprozessen anhand des allgemein respektierten
Vernunftkriteriums gefällt werden sollen, auf das die Kaiser selbst sich berufen –
und macht die daraufhin zu erwartende kaiserliche Entscheidung in der Chris-
tensache wiederum zum Kriterium für die Frage, ob die Kaiser ihrem Anspruch
entsprechen oder nicht. Tun sie dies, sind die Christen freizusprechen; tun sie
dies nicht und werden die Christen demzufolge weiterhin verurteilt, so verur-
teilen die Kaiser sich implizit selbst. Sie sprechen de facto ein Urteil gegen sich
selbst (τὴν καθ’ ἑαυτῶν ψῆφον φέροντας), d.  h. sie werden offenbar als solche,
die eben keine frommen Philosophen, Wächter der Gerechtigkeit und Freunde der
Bildung sind. Das Wort ψῆφος, das Justin hier benutzt, bezeichnet sonst genau
das Urteil, das die Kaiser in Wahrnehmung ihrer Aufgaben und aufgrund ihrer
Autorität über andere sprechen (vgl. 1 Apologia 3,2)24 – dieses Urteil würde sich,
falls die Entscheidung in der Christensache vernunftwidrig gefällt werden sollte,
gegen die Kaiser selbst wenden. Das Gerichtsszenario, das angesichts des Anlie-
gens einer Petition eigentlich die Christen als Angeklagte vor Augen haben muss,
wird gleichsam auf den Kopf gestellt. Justin nimmt die Gelegenheit wahr, den
Kaisern in diesem Zusammenhang ihre Aufgabe und die Folgen ihrer Entschei-

23 Justin, 1 Apologia 2,3 (80,14–82,3 M./P.): οὐ γὰρ κολακεύσοντες ὑμᾶς διὰ τῶνδε τῶν γραμμάτων,
οὐδὲ πρὸς χάριν ὁμιλήσοντες, ἀλλ’ ἀπαιτήσοντες κατὰ τὸν ἀκριβῆ καὶ ἐξεταστικὸν λόγον τὴν
κρίσιν ποιήσασθαι προσεληλύθειμεν, μὴ προλήψει μηδ’ ἀνθρωπαρεσκείᾳ τῇ δεισιδαιμόνων
κατεχομένους, ἢ ἀλόγῳ ὁρμῇ καὶ χρονίᾳ προκατεσχηκυίᾳ φήμῃ κακῇ τὴν καθ’ ἑαυτῶν ψῆφον
φέροντας.
24 In etwas späteren christlichen Texten ist das Wort auch für das Urteil Gottes gebräuchlich,
siehe z.  B. Clemens Alexandrinus, Stromateis 7,3,20.

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68   Jörg Ulrich

dung noch einmal einzuschärfen. In 1 Apologia 3,4–5 schreibt er: „Eure Aufgabe
aber ist es, wie die Vernunft mahnt, euch, wenn ihr zuhört, als gerechte Richter
zu erweisen. Denn sobald ihr einmal Kenntnis genommen habt, seid ihr hernach
unentschuldbar bei Gott, wenn ihr nicht das Gerechte tut.“25 An dieser Stelle
klingt erstmals die eschatologische Komponente des Ganzen an,26 die im späte-
ren Verlauf des Textes eine noch größere Rolle spielen wird: Wenn den Kaisern
nachgewiesen werden kann, dass sie in der Christensache vernunftwidrig ent-
schieden haben (obwohl sie, etwa durch die Ausführungen Justins, seriös infor-
miert waren), dann sind sie nicht nur als Philosophen und Wächter der Gerech-
tigkeit diskreditiert, sondern sie sind darüber hinaus auch noch „unentschuldbar
bei Gott“, dem sie – wie alle anderen Menschen auch – im Gericht Rechenschaft
über ihr Tun und Entscheiden werden ablegen müssen. Dass Justin das Adjektiv
ἀναπολόγητος, das natürlich an Röm 2,1 erinnert, ausgerechnet an dieser Stelle
verwendet, zeigt die von ihm vorgenommene Umkehrung der „apologetischen
Situation“: Während es in den zeitgenössischen Christenprozessen die Christen
sind, die der Verteidigung bedürfen, sind es nach Justins Konstruktion die Kaiser,
denen keine Verteidigung mehr zu Gebote steht, wenn sie in der Christenfrage
wissentlich falsch urteilen.
Diese rhetorische Figur, dass es eigentlich die Kaiser sind, die vor Gericht
oder zumindest auf dem Prüfstand stehen, nimmt Justin im 12. Kapitel der „ersten
Apologie“ wieder auf. Es handelt sich hier insofern um eine besonders promi-
nente Stelle, als das 12. Kapitel den ersten großen Hauptteil der „ersten Apologie“
abschließt,27 der für sich eine „Apologia in nuce“ darstellt.28 Justin unterstellt
zunächst, dass die Kaiser, deren Selbstverständnis er ausdrücklich noch einmal
thematisiert, dem Vernunftkriterium entsprechend handeln: „[…] Wir haben
aber nicht angenommen, dass ihr, die ihr euch nach frommer Ehrfurcht und

25 Justin, 1 Apologia 3,4–5 (84,11–86,2 M./P.): ὑμέτερον δέ, ὡς αἱρεῖ λόγος, ἀκούοντας ἀγαθοὺς
εὑρίσκεσθαι κρίτας. ἀναπολόγητον γὰρ λοιπὸν μαθοῦσιν ἢν μὴ τὰ δίκαια ποιήσητε ὑπάρξει πρὸς
θεόν.
26 Siehe zur eschatologischen Dimension die Ausführungen in diesem Beitrag unter 3.
27 Dies zeigt 1 Apologia 12,11 (106,9–11 M./P.): ἦν μὲν οὖν καὶ ἐπὶ τούτοις παυσαμένους μηδὲν
προστιθέναι, λογισαμένους ὅτι δίκαιά τε καὶ ἀληθῆ ἀξιοῦμεν· / „Wir könnten nun hiermit
schließen und nichts weiter hinzufügen, wenn wir bedenken, dass wir Gerechtes und Wahres
fordern.“
28 Zum Aufbau der „ersten Apologie“ siehe unten am Ende dieses Abschnitts. – Es ist gleichfalls
möglich, den Abschnitt 1 Apologia 4–12 als apologetischen Teil in engerem Sinne aufzufassen,
gegenüber dem das lange Stück 1 Apologia 13–70 stärker protreptische Züge hat. Siehe hierzu
Minns/Parvis (wie Anm. 14), 49–50.

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 Die Kaiser vor Gericht   69

Philosophie ausstreckt, irgendetwas Unvernünftiges tut.“29 Er betont, dass die


Kaiser nach Ehrfurcht und Philosophie streben (ὀρέγομαι), womit freilich über
den Erfolg dieser Bestrebungen noch nicht entschieden ist. Justin setzt deshalb
sogleich hinzu, dass sich genau dies erst noch erweisen muss, und erwägt daher
ausdrücklich auch die Möglichkeit, dass die Kaiser ihren eigenen Anspruch ver-
fehlen: „Wenn aber auch ihr, wie die Unverständigen, die Gewohnheit höher als
die Wahrheit achtet, dann tut, was ihr vermögt: Herrscher, die bloße Meinung
höher als die Wahrheit achten, vermögen so viel wie Räuber in der Wüste.“30 Es
besteht also durchaus die Möglichkeit, dass die Kaiser die Prüfung nicht beste-
hen. In dem Falle aber erwiese sich nicht nur die Unangemessenheit ihres
Anspruchs (ὁμοίως τοῖς ἀνοήτοις bezeichnet den exakten Gegensatz zum kaiser-
lichen Selbstanspruch vernunftgemäßen Regierens), sondern auch die faktische
Begrenztheit ihres Einflusses. Justin macht dies in drastischer Weise deutlich:
Schaden können sich die Kaiser mit einem vernunftwidrigen Verhalten allenfalls
selbst, nicht aber denen, über die sie vernunftwidrige Urteile fällen (vgl. auch
1 Apologia 45,6; zitiert unten unter 3.). Ihre Macht ist beschränkt. Das eindrückli-
che Bild von den „Räubern in der Wüste“,31 das in eklatantem Gegensatz zu den
„Philosophen“ und „Wächtern der Gerechtigkeit“ steht, führt dies vor Augen:
Räuber in der Wüste vermögen faktisch nichts auszurichten, schon gar nicht
irgendwelche Beute zu machen. Im Hintergrund dieser Aussage steht der bereits
in 1 Apologia 2,4 frei zitierte Grundsatz des Sokrates: „Ihr könnt uns zwar töten,
schaden aber könnt ihr uns nicht!“32

29 Justin, 1 Apologia 12,5 (104,4–5 M./P.): […] ἀλλ’ οὐχ ὑμᾶς, οἵ γε εὐσεβείας καὶ φιλοσοφίας
ὀρέγεσθε, ἄλογόν τι πρᾶξαι ὑφειλήφαμεν.
30 1 Apologia 12,6 (104,5–8 M./P.): εἰ δὲ καὶ ὑμεῖς ὁμοίως τοῖς ἀνοήτοις τὰ ἔθη πρὸ τῆς ἀληθείας
τιμᾶτε, πράττετε ὃ δύνασθε· τοσοῦτον δὲ δύνανται καὶ ἄρχοντες πρὸ τῆς ἀληθείας δόξαν
τιμῶντες ὅσον καὶ λῃσταὶ ἐν ἐρημίᾳ.
31 Das Bild scheint Justins eigene Kreation zu sein und basiert darauf, dass Räuber in der Wüste,
wo sich keine Opfer finden, typischerweise leer ausgehen. Justin will die Vergeblichkeit der
Nachstellungen und Verfolgungen der Christen illustrieren.
32 Frei nach Platon, Apologia 30c: οὐκ ἐμὲ μείζω βλάψετε ἢ ὑμᾶς αὐτούς. Es handelt sich um
einen zur Zeit Justins weit verbreiteten und gern zitierten popularphilosophischen Gemeinplatz,
vgl. hierzu Minns/Parvis (wie Anm. 14), 83 Anm. 2. Einzelheiten finden sich bei T. Baumeister,
„Anytos und Melitos können mich zwar töten, schaden jedoch können sie mir nicht.“ Platon,
Apologie des Sokrates 30cd bei Plutarch, Epiktet, Justin Martyr und Clemens Alexandrinus, in:
H.-D. Blume/F. Mann (Hgg.), Platonismus und Christentum. FS für Heinrich Dörrie (JbAC.E 10),
Stuttgart 1983, 58–63.

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70   Jörg Ulrich

Im weiteren Verlauf der „ersten Apologie“ stellt Justin die Lehren des Lehrers
Jesus dar, um die ethische Exzellenz des Christentums unter Beweis zu stellen.33
Die ethischen Lehren der Christen sind derart hochstehend, dass jeder Verdacht
auf verbrecherische oder gar staatsgefährdende Machenschaften absurd ist.
Justin bedient sich zunächst längerer Wiedergaben aus der Bergpredigt bzw. Feld­
rede. Schließlich kommt er auch auf die Perikope von der Frage nach dem Steu-
ernzahlen zu sprechen. Er präsentiert eine Harmonisierung aus Mt 22,15–21 und
Lk 20,20–25, die er möglicherweise unter Rückgriff auf Mk 12,13–17 frei kompo-
niert oder aus einer ihm vorliegenden Quelle übernommen hat.34 Dann resümiert
er (1 Apologia 17,3):

Daher beten wir zwar Gott allein an, euch aber dienen wir freudig in den anderen Dingen,
weil wir euch als Kaiser und als Herrscher über die Menschen anerkennen, und wir beten,
dass ihr neben der kaiserlichen Macht auch die vernünftige Einsicht zu haben befunden
werdet.35

Auch an dieser Stelle schwingt mit, dass es die Kaiser sind, die aus Sicht Justins
auf dem Prüfstand stehen. Einerseits werden ihnen – unter Rückgriff auf die bib-
lische Belegstelle – ihre Kaiserherrschaft und die damit verbundene Macht über
die Menschen vorbehaltlos zugestanden. Andererseits aber beten (εὐχόμενοι)
die Christen darum, dass sich die Kaiser zudem in ihren Entscheidungen als ver-
nunftgemäß Handelnde erweisen werden. Die Wendung ὑμᾶς εὑρεθῆναι insinu-
iert, dass gegenwärtig eine Zeit und ein Vorgang des Prüfens im Gange sind, an
deren Ende ein Urteil stehen wird: Wie dieses aussehen wird, muss sich zeigen.
Das Verb εὑρίσκω wird hier – wie häufig im zeitgenössischen Griechisch – als ein
geistiges Finden aufgrund einer Erwägung, Prüfung, Beobachtung oder Unter-
suchung gebraucht.36 εὑρεθῆναι bezieht sich bei Justin sonst noch auf die Chris-
ten, die sich als Befolger und Bewahrer der Lehren und Gebote Jesu zu erweisen
hoffen (1 Apologia 65,1) und auf Justin selbst, der nach eigener Aussage darum
betet und kämpft, sich als würdiger Christ zu erweisen (2 Apologia 13,1). Der

33 Siehe hierzu meinen Aufsatz J. Ulrich, Ethik als Ausweis christlicher Identität bei Justin Mar-
tyr, in: ZEE 50 (2006), 21–28.
34 Eine Synopse und Analyse des von Justin präsentierten Zitats findet sich bei A. J. Bellinzoni,
The Sayings of Jesus in the Writings of Justin Marytr (NT.S 17), Leiden 1967, 83–86.
35 Justin, 1 Apologia 17,3 (120,13–16 M./P.): ὅθεν θεὸν μὲν μόνον προσκυνοῦμεν, ὑμῖν δὲ πρὸς
τὰ ἄλλα χαίροντες ὑπηρετοῦμεν, βασιλεῖς καὶ ἄρχοντας ἀνθρώπων ὁμολογοῦντες καὶ εὐχόμενοι
μετὰ τῆς βασιλικῆς δυνάμεως καὶ σώφρονα τὸν λογισμὸν ἔχοντας ὑμᾶς εὑρεθῆναι.
36 Zu verweisen ist auf die einschlägigen Wörterbücher, die zahlreiche Belegstellen bieten: so
Bauer, WbNT 643–644; Lampe, PGL 574; Liddell/Scott 729–730.

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 Die Kaiser vor Gericht   71

Wunsch und das Gebet der Christen, dass die Kaiser sich als vernunftgemäß Han-
delnde erweisen werden, hat nicht so sehr das Wohlergehen der Christen im Auge
(in dem Sinne, dass der Christenname im Falle vernunftgemäßen Urteilens der
Kaiser nicht länger verboten sein werde),37 sondern bezieht sich auf das Wohler-
gehen der Kaiser selbst, für die ein positiver Ausgang der Prüfung sowohl Selbst-
bestätigung als auch eschatologische Rettung bedeuten würde.
Der Gedanke, dass die Kaiser vor einem imaginären Gericht stehen, wird
auch in 1 Apologia 55,8 angespielt. Hier schreibt Justin: „Und nachdem wir nun
durch Vernunftargument und sichtbare Form euch zugeredet haben, soviel wir
vermochten, wissen wir, dass wir nicht länger verantwortlich sind, auch wenn
ihr im Unglauben bleibt. Denn das Unsere ist geschehen und erledigt.“38 Der
Passus weist klar darauf hin, dass es nun also die Kaiser selbst sind, die am Zuge
sind und zeigen müssen, ob sie dem begründeten Anliegen der Christen39 zuzu-
stimmen geneigt sind. Dass sie dabei selbst zum Glauben kommen oder aber im
Unglauben verbleiben, liegt in ihrer eigenen Verantwortung, weswegen sie auch
rechenschaftspflichtig sind. Dass Justin hier das Zum-Glauben-Kommen und die
Hinwendung zu vernunftgemäßem Leben unter der Hand miteinander identifi-
ziert, liegt in der Gesamtlinie seines Verständnisses der christlichen Religion:
Der Glaube ist die dem Vernunftlogos wie dem Christus-Logos entsprechende
Haltung. Vorausgesetzt ist dabei, dass die Hinwendung zum Glauben auf einer
selbständigen, freien, eigenverantwortlichen Willensentscheidung des Men-
schen beruht, der, wenn er einmal von den Lehren Christi Kenntnis erlangt hat,
zu entscheiden hat, ob er sich ihnen anschließen will oder nicht. Genau hinsicht-
lich dieser Entscheidung, die sie nun richtig oder falsch treffen werden, stehen
die Kaiser, die durch Justins Apologie Kenntnis von den Lehren Christi erhalten
haben, auf dem Prüfstand.
Kommen wir zum Schluss der „ersten Apologie“ (nach der Rekonstruktion
von Minns/Parvis)40! Er lautet wie folgt (1 Apologia 70,3–4 [alt: 2 Apologia 15,4–5]):

37 Diese Interpretation würde dem Grundsatz widersprechen, dass die Kaiser letztlich den
Christen so oder so nichts anhaben können, vgl. 1 Apologia 2,4; 12,6 u. ö.
38 Justin, 1 Apologia 55,8 (226,5–7 M./P.): καὶ διὰ λόγου οὖν καὶ σχήματος τοῦ φαινομένου, ὅση
δύναμις, προτρεψάμενοι ὑμᾶς, ἀνεύθυνοι οἴδαμεν λοιπὸν ὄντες, κἂν ὑμεῖς ἀπιστῆτε· τὸ γὰρ
ἡμέτερον γέγονε καὶ πεπέρανται.
39 Die Wendung „durch Vernunftargument und sichtbare Form“ ist komplementär zu verste-
hen: Gemeint sind der verstandesmäßig nachvollziehbare Argumentationsgang einerseits und
das offenbare Lebenszeugnis der Christen andererseits.
40 In der Rekonstruktion von Minns/Parvis werden die traditionellen Kapitel 2 Apologia 14,1–
15,5 ans Ende der „ersten Apologie“ (= der eigentlichen Apologie) gestellt und dadurch zu 1 Apo­
logia 69,1–70,4. Zur ausführlichen Begründung siehe Minns/Parvis (wie Anm. 14), 27–29.

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72   Jörg Ulrich

Und nunmehr werden wir schließen, nachdem wir getan haben, was wir vermögen, und
auch darum gebetet haben, dass alle Menschen überall der Wahrheit gewürdigt werden.
Möge es also so sein, dass euer Urteil sich der frommen Ehrfurcht und der Philosophie als
würdig erweist und dass es – um eurer selbst willen – gerecht ausfalle.41

Diese abschließenden Formulierungen nehmen Gedanken und Wendungen auf,


die aus den vorgenannten Passagen bereits vertraut sind: Wieder wird betont,
dass die Aufgabe des Apologeten zur vorbehaltlosen Präsentation der christ­lichen
Lehre erledigt ist (wie 1 Apologia 55,8), wieder wird darauf hingewiesen, dass
man für die kaiserlichen Adressaten (wie für alle Menschen in aller Welt) darum
betet, dass sie zur christlichen Wahrheit finden (wie 1 Apologia 17,3), erneut wird
bekräftigt, dass es nun an den Kaisern liegt, das Christentum zu beurteilen (wie
1 Apologia 3,4–5) und sich als wahrhaft Fromme und wahrhafte Philosophen zu
erweisen (wie 1 Apologia 2,2), die sie ja sein wollen und als die sie angesehen
werden. Die eigentliche Pointe der Passage aber liegt in der Parenthese, die Justin
einschiebt: „um eurer selbst willen“ (ὑπὲρ ἑαυτῶν) möge das Urteil der Kaiser
gerecht ausfallen, will sagen: Letztlich sind es die kaiserlichen Richter, letztlich
sind es die in der Christensache Urteilenden, die nach der literarischen Konstruk-
tion der „ersten Apologie“ und der Auffassung ihres Verfassers vor Gericht stehen
(vgl. 1 Apologia 2,3). Ihnen schadet es letztlich, wenn sie sich falsch entscheiden
und vor Gericht scheitern bzw. ihnen nützt es, wenn sie gerecht urteilen und im
Gericht bestehen.
Ist die bloße Auflistung der Stellen in der „ersten Apologie“, die für die rhe-
torische Figur der „Kaiser vor Gericht“ einschlägig sind, an sich schon durch-
aus beeindruckend, so stellen sich ihr Gewicht und ihre Bedeutung noch einmal
besonders deutlich dar, wenn man sich klar macht, an welchen Stellen innerhalb
der Apologie die entsprechenden Bemerkungen von Justin offenbar ganz bewusst
gesetzt und eingesetzt werden. Es handelt sich nämlich fast ausschließlich um
Schaltstellen im Aufbau der „ersten Apologie“, also um prominente Stellen, an
denen ein Thema eingeleitet oder zu einem neuen Thema übergeleitet oder aber
ein Gedankengang zusammengefasst oder resümiert wird, oder anders gesagt:
Gerade an den zentralen Stellen der „ersten Apologie“ findet sich (implizit oder
explizit) der Gedanke, dass de facto über die Kaiser Gericht gehalten wird, in sig-
nifikanter Häufung. Hierzu sei der Aufbau der „ersten Apologie“ skizziert:

41 Justin, 1 Apologia 70,3–4 (268,14–17 M./P.): καὶ παυσόμεθα λοιπόν, ὅσον ἐφ’ ἡμῖν ἦν πράξαντες
καὶ προσεπευξάμενοι τῆς ἀληθείας καταξιωθῆναι τοὺς πάντῃ πάντας ἀνθρώπους. εἴη οὖν καὶ
ὑμᾶς ἀξίως εὐσεβείας καὶ φιλοσοφίας τὰ δίκαια ὑπὲρ ἑαυτῶν κρῖναι.

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 Die Kaiser vor Gericht   73

Der Aufbau der „ersten Apologie“ (vereinfachende Darstellung)42

1. Einleitung (1 Apologia 1,1–3,5)


1.1. Anrede (1 Apologia 1,1)
1.2. Exordium (1 Apologia 2,1–4)
1.3. Petition (1 Apologia 3,1–5)
2. Die Ausarbeitung (apologetischer Teil) (1 Apologia 4,1–12,11)
2.1. Die Auseinandersetzung mit einzelnen strittigen Punkten (1 Apologia
4,1–7,5)
2.1.1. Die Verurteilung wegen des nomen ipsum ist ungerecht (1 Apologia
4,1–5,4)
2.1.2. Der Vorwurf des Atheismus ist unzutreffend (1 Apologia 6,1–2)
2.1.3. Der Einwand, einige Christen hätten sich tatsächlich als Verbre-
cher erwiesen, trifft zwar zu, entspricht aber letztlich nur dem
Anliegen der Petition (1 Apologia 7,1–5)
2.2.  Begründende Darstellung der Lebensweise der Christen, soweit sie
Anlass zu Befremden gab (1 Apologia 8,1–12,8)
2.2.1. Christen ertragen das Martyrium und hoffen auf Gottes jenseitiges
Reich (1 Apologia 8,1–5)
2.2.2.  Christen lehnen die heidnischen Kulte ab und verehren den
wahren Gott (1 Apologia 9,1–10,6)
2.2.3. Christen sind loyale Untertanen und haben tragende Bedeutung
für Staat und Gesellschaft (1 Apologia 11,1–12,8)
2.3. Übergang zur Beweisführung (1 Apologia 12,9–11)
3. Die Beweisführung (protreptischer Teil) (1 Apologia 13,1–67,8)
3.1. Die Lehren Jesu (1 Apologia 13,1–23,3)
3.2. Widerlegung einzelner Vorwürfe gegen die Christen (1 Apologia 24,1–29,4)
3.3. Die prophetischen Weissagungen (1 Apologia 30,1–53,12)
3.4. Vergleich: Die pagane und die prophetische Überlieferung (1 Apologia
54,1–60,11)
3.5. Der christliche Gottesdienst (1 Apologia 61,1–67,8)
4. Schluss (1 Apologia 67,8–70,4)
4.1. Peroratio (1 Apologia 67,8–68,2)
4.2. Dokumentation (1 Apologia 68,3–10)
4.3. Erneuter Vortrag der Petition (1 Apologia 69,1–70,4 [alt: 2 Apologia 14,1–
15,5])

42 Zu vergleichen ist Minns/Parvis (wie Anm. 14), 49–54. Ich verweise ferner auf meinen in Ent-
stehung befindlichen Kommentar in der Reihe „Kommentar frühchristlicher Apologeten“.

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74   Jörg Ulrich

Sieht man sich nun diesen (hier nur vereinfachend dargestellten) Aufbau an, so
stellt man schnell fest, dass auf das Motiv der „Kaiser vor Gericht“ in der Tat häufig
an besonders signifikanten Stellen in Justins Text angespielt wird. Es findet sich
bereits pointiert in der Einleitung am Anfang des Exordiums (1 Apologia 2,2–3) –
mit Hinweis auf die Sorge, dass die Kaiser durch unangemessenes Urteilen gegen
die Christen de facto das Urteil über sich selbst sprechen könnten. Es findet sich in
der Einleitung ein weiteres Mal bei der Ausformulierung der eigentlichen Petition
(1 Apologia 3,4–5). Es findet sich sodann am Ende der Ausarbeitung des apologe-
tischen Teils (der „Apologia in nuce“) in 1 Apologia 12,5–6 vor dem Übergang zur
(eher protreptisch ausgerichteten) Beweisführung. Es findet sich an prominenter
Stelle am Ende der Darstellung der Lehren des Lehrers Jesus (1 Apologia 17,3) und
an der Spitze des Vergleiches zwischen der paganen und der christlichen Überlie-
ferung, nämlich genau da, wo Justin sich über die exzeptionelle und unverwech-
selbare Funktion des Kreuzes geäußert hat (1 Apologia 55,8). Und es schließt die
„erste Apologie“ ab, indem sie beim erneuten Vortrag der Petition noch einmal
ausdrücklich thematisiert wird, ja mehr noch: Die letzten, abschließenden Worte
der „ersten Apologie“ formulieren in provozierender Schärfe, dass das Urteil der
Kaiser letztlich über sie selbst ein Urteil spricht. Der Gedanke durchzieht also
die „erste Apologie“ wie ein roter Faden, der an den zentralen Stellen des Textes
immer wieder sichtbar wird.43 Dass die Gerichtssituation der Christen geradezu
umgekehrt wird und es stattdessen die römischen Autoritäten sind, die sich vor
Gericht befinden und sich beurteilen lassen müssen, ist in der literarischen Kon-
zeption Justins eine Figur von zentraler Bedeutung.
Allerdings hat es mit diesem Resultat noch nicht sein Bewenden. Denn nach
dem bisher erhobenen Befund handelt es sich bei Justins Konzeption im Grunde
um ein literarisch-rhetorisches Konstrukt, wenn man so will um einen fiktiven
Gerichtsprozess. In ihm soll das kaiserliche Urteil, wie immer es ausfällt, als
Urteil über die Berechtigung und Angemessenheit der kaiserlichen Selbstansprü-
che kenntlich werden. Dieses Gericht vollzieht sich aber auf einer vorgestellten,
imaginären Ebene – in Wirklichkeit hatten sich die Kaiser natürlich vor keinem
derartigen Gericht rechtlich zu verantworten. Aber für Justin ist die eingespielte
Figur weit mehr als nur ein literarisches Bonmot und auch mehr als eine rheto-
rische retorsio, die die Situation, sich vor Gericht gestellt zu sehen, an die Kaiser
zurückspielt. Vielmehr steht hinter der literarisch-rhetorischen Figur, dass die
Kaiser vor Gericht gestellt sind, die Glaubensüberzeugung, dass alle Menschen

43 Es ist durchaus als ein zusätzliches (Seiten)Argument für den Rekonstruktionsversuch von
Minns/Parvis anzusehen, dass der Gedanke in der sogenannten „zweiten Apologie“ nicht auf-
taucht.

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 Die Kaiser vor Gericht   75

einschließlich der Kaiser vor dem Gericht Gottes werden Rechenschaft geben
müssen und dass sie dort die ihnen angemessene Strafe oder den ihnen zuste-
henden Lohn empfangen werden – das imaginäre Gericht gegen die Kaiser hat
also auch eine eschatologische Dimension, die aus Sicht Justins höchst real ist.
Diese Dimension war bei der bisherigen Untersuchung nur angeklungen. Sie war
in 1 Apologia 3,4–5 kurz expliziert worden und schwingt am Schluss der „ersten
Apologie“ im ὑπὲρ ἑαυτῶν (1 Apologia 70,4 [alt: 2 Apologia 15,5]) mit. Sie ist nun
genauer in Augenschein zu nehmen.

3
Die Eschatologie und die Vorstellung von einem die Guten belohnenden und die
Bösen bestrafenden göttlichen Endgericht spielt in der gesamten christlichen
Literatur des zweiten Jahrhunderts (nicht zuletzt auch im Zusammenhang der
virulenten zeitgenössischen Auferstehungsdiskussion) eine wichtige Rolle,44 so
auch in den Texten Justins. Die christlichen Vorstellungen muten dabei teilweise
ungewöhnlich massiv an, so dass einige Christentumskritiker den frühen Chris-
ten vorwerfen konnten, sie betrieben mit Hilfe von Angstmacherei unzulässige
Werbung in eigener Sache.45 Justin selbst betont einerseits die grundsätzliche
Vergleichbarkeit platonischer und christlicher Gerichtsvorstellungen und insis-
tiert andererseits darauf, dass die christlichen Vorstellungen von einer schlim-
meren und strengeren Bestrafung der Gottlosen ausgehen als das bei paganen
Parallelkonzepten der Fall ist.46

44 Für die Umwelt und die Voraussetzungen Justins ist zum Thema Eschatologie folgender Sam-
melband wichtig: M. Labahn/M. Lang (Hgg.), Lebendige Hoffnung – ewiger Tod?! Jenseitsvor-
stellungen im Hellenismus, Judentum und Christentum (ABG 24), Leipzig 2007; für die spätere
Zeit siehe den Band T. Klauser/E. Dassmann/K. Thraede (Hgg.), Jenseitsvorstellungen in Antike
und Christentum, Gedenkschrift für Alfred Stuiber (JbAC.E 9), Münster 1982.
45 Siehe hierzu meinen Aufsatz J. Ulrich, Angstmacherei. Beobachtungen zu einem polemi-
schen Einwand gegen das frühe Christentum und zur Auseinandersetzung mit ihm in der apolo-
getischen Literatur, in: F. Prostmeier (Hg.), Frühchristentum und Kultur (KfA.E 1), Freiburg 2007,
111–126. Der Christentumskritiker Kelsos, aber auch die Bemerkung Tertullian, Apologeticum
47,12 zeigen, dass insbesondere intellektuelle Kreise in der zeitgenössischen römischen Gesell-
schaft die strengen Gerichtsvorstellungen der Christen für lächerliche Ammenmärchen hielten.
Als Rekrutierungsstrategie scheinen diese Vorstellungen eher in weniger gebildeten Milieus Wir-
kung entfaltet zu haben.
46 Siehe 1 Apologia 8,3–5.

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76   Jörg Ulrich

Im Folgenden seien einige Passagen vorgestellt, in denen Justin seine eschato-


logischen Gerichtsvorstellungen direkt auf die Kaiser anwendet. In 1 Apologia 4,2,
also gleich am Anfang der Ausarbeitung des apologetischen Teils,47 schreibt er:

Aber weil wir es nun nicht für gerecht halten, falls wir als schlechte Menschen überführt
würden, aufgrund des Namens die Freilassung zu fordern, ist es wiederum an euch, wenn
wir weder aufgrund der Nennung des Namens noch aufgrund unseres Verhaltens als Übel-
täter erfunden werden, euch anzustrengen, dass ihr nicht selbst im Gericht Strafe erleidet,
weil ihr Menschen, die nicht überführt sind, ungerechterweise bestraft.48

Justin spielt hier regelrecht mit den Wörtern κόλασις und δίκη und deren Deri-
vaten. Für das ungerechte Bestrafen von Christen vor den Gerichten werden die
Kaiser im Gericht Strafe empfangen: Allerdings ist mit κόλασις beim ersten Mal
die Todesstrafe gemeint, die von einem weltlichen Gericht ausgesprochen werden
kann, während beim zweiten Mal die ewige Bestrafung gemeint ist, die von Gott
im Jüngsten Gericht ausgesprochen werden wird.49 Die Eigenverantwortung der
Kaiser für ihr eschatologisches Geschick wird eingeschärft – diese haben sich bei
der Suche nach einer gerechten Entscheidung in der Christensache nach Kräften
anzustrengen (ὑμέτερον ἀγωνιᾶσαί ἐστι), damit sie selbst im göttlichen Gericht
bestehen können. Der sachliche Zusammenhang zwischen beiden Entscheidun-
gen, der kaiserlichen einerseits und der göttlichen andererseits, wird von Justin
ausdrücklich hergestellt und den Kaisern in direkter Anrede vor Augen geführt.
Ähnlich verhält es sich in 1 Apologia 17,4, einem Passus, der unmittelbar auf die
oben schon zitierte Stelle über die Frage nach dem Steuernzahlen folgt und der
die dort getroffene Aussage der Sache nach noch zuspitzt. Hier heißt es:

Wenn ihr euch aber um unsere Gebete und darum, dass wir alles öffentlich machen, nicht
schert, wird es uns nicht zum Schaden werden; vielmehr glauben wir und sind überzeugt,
dass ein jeder von euch gemäß dem Wert seiner Taten im ewigen Feuer Strafe bezahlen wird
und nach dem Maß der Kräfte, die er von Gott empfangen hat, zur Rechenschaft gezogen
werden wird […].50

47 Zum Aufbau der Apologie(n) siehe oben unter 2.


48 Justin, 1 Apologia 4,2 (86,5–9 M./P.): ἀλλ’ ἐπεὶ οὐ τοῦτο δίκαιον ἡγούμεθα διὰ τὸ ὄνομα, ἐὰν
κακοὶ ἐλεγχώμεθα, αἰτεῖν ἀφίεσθαι, πάλιν εἰ μηδὲν διά τε τὴν προσηγορίαν τοῦ ὀνόματος καὶ διὰ
τὴν πολιτείαν εὑρισκόμεθα ἀδικοῦντες, ὑμέτερον ἀγωνιᾶσαί ἐστι μὴ ἀδίκως κολάζοντες τοὺς μὴ
ἐλεγχομένους τῇ δίκῃ κόλασιν ὀφλήσητε.
49 Vgl. 1 Apologia 8,4.
50 Justin, 1 Apologia 17,4 (120,16–20 M./P.): εἰ δὲ καὶ ἡμῶν εὐχομένων καὶ πάντα εἰς φανερὸν
τιθέντων ἀφροντιστήσετε, οὐδὲν ἡμεῖς βλαβησόμεθα, πιστεύοντες μᾶλλον δὲ καὶ πεπεισμένοι
κατ’ ἀξίαν τῶν πράξεων ἕκαστον τίσειν διὰ πυρὸς αἰωνίου δίκας καὶ πρὸς ἀναλογίαν ὧν ἔλαβε
δυνάμεων παρὰ θεοῦ τὸν λόγον ἀπαιτηθήσεσθαι […].

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 Die Kaiser vor Gericht   77

Der Sache nach ganz ähnlich gelagert und deswegen in unserem Zusammenhang
mitzulesen ist eine Stelle in 1 Apologia 45,6. Hier formuliert Justin:

Wenn aber auch ihr diese Worte wie Feinde lest, könnt ihr, wie wir bereits gesagt haben,
nicht mehr tun, als zu töten, was uns keinerlei Schaden bringt, euch aber und allen, die
ungerechterweise feindselig sind und sich nicht ändern, die Strafe durch das ewige Feuer
erwirkt.51

Die Parallelen zwischen beiden Stellen sind augenfällig: Die Wenn-Dann-Struk-


tur des Arguments, die die göttliche Strafe als folgerichtige Konsequenz aus der
Entscheidung der Kaiser erscheinen lässt; die direkte Anrede an die Adressaten
als ob ihres möglichen Tuns vom kommenden göttlichen Gericht bedrohte Men-
schen; die Aussage, dass selbst die Todesstrafe den Christen keinen eigentlichen
Schaden erwirken kann (vgl. oben zu 1 Apologia 12,6),52 währenddessen der
Schaden denen blüht, die sich ungerechterweise den Christen und damit dem
Vernunftlogos gegenüber feindlich verhalten; schließlich, dass dieser Schaden
in einer Strafe „im ewigen Feuer“ besteht.53 Letzterer Aspekt ist eine in doppelter
Hinsicht verheerende Drohung: Einerseits, weil diese Feuerstrafe zeitlich unbe-
grenzt ist54 und zweitens, weil aufgrund der leiblichen Auferstehung und der
damit bleibenden Empfindungsfähigkeit des Menschen die Feuerqualen perma-
nent körperlich spürbar sein werden; deswegen kann Justin in 1 Apologia 52,3
auch ausdrücklich sagen, dass das Verweilen im ewigen Feuer im Zustand ewiger
Empfindungsfähigkeit (ἐν αἰσθήσει αἰωνίᾳ) stattfinden wird. Letzteren Gesichts-
punkt hatte Justin schon in 1 Apologia 18,1–2, wo er sich ausdrücklich auf die
Kaiser der Vergangenheit bezieht, um sich mit deren Beispiel an die gegenwärti-
gen Kaiser zu richten. Hier sagt er nämlich:

51 Justin, 1 Apologia 45,6 (198,18–21 M./P.): εἰ δὲ καὶ ὑμεῖς ὡς ἐχθροὶ ἐντεύξεσθε τοῖσδε τοῖς
λόγοις, οὐ πλέον τι δύνασθε, ὡς προέφημεν, τοῦ φονεύειν, ὅπερ ἡμῖν μὲν οὐδεμίαν βλάβην
φέρει, ὑμῖν δὲ καὶ πᾶσι τοῖς ἀδίκως ἐχθραίνουσι καὶ μὴ μετατιθεμένοις κόλασιν διὰ πυρὸς αἰωνίαν
ἐργάζεται.
52 Zu der im Hintergrund stehenden Platonstelle vgl. die Anm. 32.
53 Vom „ewigen Feuer“ spricht Justin noch 1 Apologia 15,2; 16,12 (beide Stellen basieren auf Wie-
dergaben von Jesuslogien, die entweder auf einer Justin vorliegenden Quelle beruhen oder freie
Wiedergaben sind); 1 Apologia 21,6; 28,1; 52,3–5 (der Schluss des Passus ist ein aus Hes 37,7–8 und
Jes 45,23b kombiniertes Zitat); 1 Apologia 52,8 (ein freies Zitat nach Jes 64,24, vgl. Mk 9,48); 1 Apo­
logia 60,9 (ein aus 2 Kön 1,10 und Dtn 5,32 kombiniertes Zitat); 2 Apologia 1,2; 2,2; 6(7),5; 7(8),3–4.
54 Vgl. noch einmal 1 Apologia 8,4, wo im Blick auf die platonische Tradition eine 1000jähri-
ge Strafe ins Auge gefasst wird, der gegenüber die ewige Strafe in der christlichen Vorstellung
schwerer wiegt.

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78   Jörg Ulrich

Denn seht das Ende eines jeden der Herrscher an, die früher gelebt haben! Sie sind gestor-
ben wie alle anderen Menschen: was, wenn der Tod zur Empfindungslosigkeit führte, für
alle Ungerechten wohl ein Vorteil wäre. Da aber sowohl die Empfindung für alle, die einmal
gelebt haben, andauert, als auch die ewige Strafe bevorsteht, so versäumt es nicht, euch
überzeugen zu lassen und zu glauben, dass diese Dinge wahr sind!55

Der Imperativ μὴ ἀμελήσητε insinuiert Dringlichkeit, denn Justin weiß darum,


dass am Tage des Gerichts jede Reue zu spät kommen wird (vgl. 1 Apologia 52,9).
Vor diesem Hintergrund sind die Kaiser gehalten, sich möglichst schnell zuguns-
ten der Christen zu erklären: Nach ihrem Ende, das sie ereilen wird wie jeden
anderen Menschen auch, werden sie unweigerlich vor dem Gericht Gottes erschei-
nen und sich dort beurteilen lassen müssen. Man sieht, wie die Vorstellung, dass
es in Wahrheit die Kaiser sind, die sich einer Gerichtssituation ausgesetzt sehen,
für Justin bei weitem nicht nur ein rhetorischer Kunstgriff ist, sondern sein Wirk-
lichkeits- und Wahrheitsverständnis widerspiegelt, nach welchem der Gott der
Christen der eigentliche Herrscher der Welt ist, dem alle weltlichen Autoritäten
untergeordnet sind und dem sie einst Rechenschaft werden geben müssen.56
Dieses Wahrheitsverständnis bewirkt, dass die Herrschaft der Kaiser – bei aller
Akzeptanz ihrer Autorität – letztlich eine begrenzte, ja sogar gebrochene ist: Wen

55 Justin, 1 Apologia 18,1–2 (122,1–5 M./P.); Ἀποβλέψατε γὰρ πρὸς τὸ τέλος ἑκάστου τῶν
γενομένων βασιλέων, ὅτι τὸν κοινὸν πᾶσι θάνατον ἀπέθανον· ὅπερ, εἰ εἰς ἀναισθησίαν ἐχώρει,
ἕρμαιον ἂν ἦν τοῖς ἀδίκοις πᾶσιν. ἀλλ’ ἐπεὶ καὶ αἴσθησις πᾶσι γενομένοις μένει καὶ κόλασις αἰωνία
ἀπόκειται, μὴ ἀμελήσητε πεισθῆναί τε καὶ πιστεῦσαι ὅτι ἀληθῆ ταῦτά ἐστι. Die Stelle ist unter
anderem auch deshalb interessant, weil sie zeigt, dass es Justin bei weitem nicht nur darum
geht, dass die Kaiser die gegenwärtig obwaltende christenfeindliche Gesetzgebung zurückneh-
men, sondern dass er auf nicht weniger als auf die Konversion auch der Kaiser zum christlichen
Glauben hinzielt. Welchen Realitätsgehalt diese seine Zielvorstellung gehabt haben kann, sei da-
hingestellt – dass Justins „Beweisführung“ Marc Aurel, falls dieser die Apologie je zur Kenntnis
nahm, letztlich nicht überzeugte, hat die geschichtliche Entwicklung gezeigt. Aber es ist nicht
zu bezweifeln, dass es die Zielvorstellung tatsächlich gab, denn die hier benutzte sprachliche
Wendung πεισθῆναί τε καὶ πιστεῦσαι ist genau diejenige Formulierung, mit der Justin auch sonst
die Hinwendung zum und das Festhalten am christlichen Glauben zum Ausdruck bringt. Auch in
2 Apologia 12,8 findet sich in einer Aufforderung an die Kaiser ein Vokabular, das zur Semantik
der Konversionsfrömmigkeit gehört (μετάθεσθε), worauf Löhr (siehe den Beitrag „Herrscher und
Untertanen als Philosophen“ in diesem Band) hingewiesen hat.
56 In diesem Zusammenhang ist auf den „Absolutheitsanspruch“ des frühen Christentums
zu verweisen, der im Kontext der Religion und Religiosität der Römer für massive Irritationen
sorgte. Siehe hierzu H. C. Brennecke, Der Absolutheitsanspruch des Christentums und die re-
ligiösen Angebote der Alten Welt, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität (VWGTh
8), Gütersloh 1995, 380–397 (wiederabgedruckt in: H. C. Brennecke, Ecclesia est in re publica.
Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte im Kontext des Imperium Romanum, hg. von
U. Heil/A. von Stockhausen/J. Ulrich [AKG 100], Berlin 2007, 125–144).

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 Die Kaiser vor Gericht   79

immer sie in der Gegenwart mit welchem Ergebnis vor Gericht stellen lassen – im
kommenden letzten Gericht werden sie selbst als zu Richtende vor Gott stehen
wie jeder andere Mensch auch.
Genau diesen Aspekt betont Justin noch einmal ganz pointiert am Ende der
„ersten Apologie“, in der Peroratio, der dann nur noch die Dokumentation des
Hadrianreskripts als eines angeblichen Präzedenzfalls57 und dann die erneute
Formulierung des Petitionsanliegens folgen.58 In 1 Apologia 68,2 warnt Justin:
„Denn wir warnen euch, dass ihr dem kommenden Gericht Gottes nicht entrin-
nen werdet, wenn ihr in Ungerechtigkeit verharrt; und wir werden dann ausrufen:
‚Was Gott lieb ist, das geschehe!‘“59 Die Stelle zeigt, dass es hier längst nicht mehr
die Christen sind, die vor einem weltlichen Gericht verteidigt werden müssten,
sondern dass es die Kaiser sind, denen eine offene, ernste (und offenbar ernst-
lich wohl gemeinte) Warnung zugedacht wird: Das Verb προλέγω hat hier über
die Grundbedeutung des Vorhersagens hinaus (vgl. 1 Apologia 54,9 über prophe-
tische Weissagungen) einen warnenden Unterton,60 der der Bemerkung Justins
ihren spezifischen Sinn und ihr Gewicht verleiht.61 Die Art und Weise, wie er auf
das „kommende Gericht“ verweist, wirkt in jeder Hinsicht bedrohlich, und mit der
Wendung οὐκ ἐκφεύξεσθε macht Justin in denkbar drastischer Form die Unent-
rinnbarkeit dieses Geschehens deutlich. Abermals zeigt sich, dass sich aus der
Vorstellung des göttlichen Endgerichts ein völlig neues, anderes Wirklichkeits-
verständnis ableitet: Das eigentliche Gericht ist nicht das, in dem sich die Chris-
ten wegen ihres christlichen Bekenntnisses verantworten müssen, sondern das,
in dem Gott einst über alle Menschen und deren Taten sein Urteil sprechen wird,
auch über die gegenwärtigen Machthaber, die Kaiser. Dieses Urteil Gottes wird
ohne Zweifel ein gerechtes sein, das als solches von allen Menschen anzuerken-
nen sein wird. Wenn Justin am Schluss (1 Apologia 68,2) die Christen angesichts
der Verurteilung der Gottlosen den Ausruf „Was Gott lieb ist, das geschehe!“ tun

57 Vgl. Engberg (wie Anm. 1), 206–214; D. Minns, The Rescript of Hadrian, in: Parvis/Foster
(eds.), (wie Anm. 10), 38–49.
58 Zum Aufbau der Apologie(n) siehe oben unter 2.
59 Justin, 1 Apologia 68,2 (262,6–8 M./P.): προλέγομεν γὰρ ὑμῖν ὅτι οὐκ ἐκφεύξεσθε τὴν ἐσομένην
τοῦ θεοῦ κρίσιν, ἐὰν ἐπιμένητε τῇ ἀδικίᾳ, καὶ ἡμεῖς ἐπιβοήσομεν, ὃ φίλον τῷ θεῷ τοῦτο γενέσθω.
60 Belege für diesen Wortgebrauch in der klassischen und nachklassischen paganen Gräzität
bei Liddell/Scott, GEL 1488.
61 Aus diesem Grunde sind die englischen Übersetzungen mit „forewarn“, „warn“ (Barnard
[ACW 56], New York 1997, 72; Minns/Parvis [wie Anm. 14], 263) gegenüber der üblichen und phi-
lologisch natürlich richtigen Wiedergabe mit „voraussagen“ (Veil, Straßburg 1894, 44; Richard
[1BKV], Kempten 18922, 112; Rauschen, [2BKV 12], Kempten 1912, 83) zu bevorzugen. Auch die
französische Übersetzung von Munier in SC 507, Paris 2006, 312, hat „prédisons“.

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80   Jörg Ulrich

lässt, ist daraus wohl kaum der Vorwurf der Schadenfreude zu begründen, wie es
in der Forschung hin und wieder geschehen ist.62 Sondern der von Justin insze-
nierte Schluss illustriert mit allem Ernst die Unabwendbarkeit des Umstands,
dass das, „was Gott lieb ist“, im göttlichen Endgericht zum Sieg gelangen wird,63
und dass man diese Entscheidung Gottes nur zustimmend annehmen kann. Frei-
lich ist auch die ewige Bestrafung derer, die trotz aller Belehrungs- und Bekeh-
rungsversuche und trotz aller Information und Auskunft über die christlichen
Lehren an ihrem gott- und vernunftwidrigen Treiben festgehalten haben, Teil
dessen, „was Gott lieb ist“ – in dem Sinne, dass sich auch an jenen seine Gerech-
tigkeit letztendlich unabwendbar durchsetzt.
Die rhetorische Umkehrung des Gerichtsszenarios bei Justin hat also mit-
nichten nur den Rang eines rhetorischen Spiels. Sie ist vielmehr zu verstehen als
literarisch gewandte und geschickt eingesetzte Ausdrucksform einer christlichen
Wahrheitserkenntnis, nämlich der, dass alle Menschen, die Kaiser eingeschlos-
sen, vor Gott werden Rechenschaft geben müssen und dass sie in diesem Gericht
beurteilt werden nach ihren Taten, für die sie Verantwortung tragen. Diese escha-
tologische Perspektive begründet den eigentümlichen Mut, aber auch die beinahe
fürsorgliche Art, mit denen Justin seine kaiserlichen Adressaten anspricht. Es
sind de facto die Kaiser, die vor Gericht stehen: Bereits jetzt in dem Sinne, dass
sich ihr Anspruch auf fromme und philosophische Herrschaftsausübung als wahr
erweisen muss; bereits jetzt in dem Sinne, dass Gott der letztgültige Beurteiler all
ihres Tuns ist; und in Zukunft in dem Sinne, dass im eschatologischen Endgericht

62 So zuletzt Minns/Parvis (wie Anm. 14), 263 Anm. 7. – Minns/Parvis verweisen auf die Par-
allele bei Tertullian, De spectaculis 30; aber Justins Bemerkung ist wohl einfach als unbedarft-
dankbares Einverständnis mit den Urteilen Gottes zu deuten – der eigentümliche Ernst, mit dem
Justin in seinem Text bemüht ist, seine Adressaten für das Christentum zu gewinnen, schließt
eine solche Schadenfreude im Grunde aus. – Man sehe auch, dass die frühen Christen sogar
Verurteilungen zum Tode vor weltlichen Gerichten mit dem Kommentar „Gott sei Dank!“ zu kom-
mentieren pflegten (Passio Scilitanorum 15–16; Acta Cypriani 4; Martyrium Apollonii 46 u. ö.; vgl.
auch Justin, 2 Apologia 2,19). Möglicherweise ist der Ausruf eine Reminiszenz an die Antwort des
Sokrates an Kriton: εἰ ταύτῃ τοῖς θεοῖς φίλον, ταύτῃ ἔστω / „Wenn es den Göttern so gefällt, so
sei es so“ (Platon, Crito 43d), die zur Zeit Justins den Rang eines geflügelten Wortes innegehabt
haben dürfte (vgl. Barnard [wie Anm. 61] 185 Anm. 423).
63 Ich zögere etwas, der Einschätzung von Winrich Löhr (vgl. den Aufsatz „Herrscher als Unter-
tanen und Philosophen“ in diesem Band) zuzustimmen, dass es einen moralisierenden Akzent
habe, wenn Justin die Entscheidungsfreiheit seiner Adressaten in den Horizont des göttlichen
Gerichts stellt. Der Horizont des göttlichen Gerichts ist für Justin die entscheidende Perspektive
seiner Gottes- und Weltsicht – und aus dieser Sicht geht es für seine Ansprechpartner nicht um
moralische Fragen, sondern um das Sich-in-Beziehung-Setzen zu dieser einen, letztlich alles be-
stimmenden Wirklichkeit.

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 Die Kaiser vor Gericht   81

über alle Menschen das wirkliche, letztgültige Gericht abgehalten werden wird,
in dem die Kaiser ebenso vor ihrem göttlichen Richter erscheinen und Rechen-
schaft geben müssen wie jeder andere Mensch auch.

4
Abschließend unternehme ich einen knappen Vergleich mit ausgewählten Stellen
aus der frühen apologetischen Literatur vor und nach Justin.
Schon die früheste erhaltene christliche Apologie, die die Christenprozesse
nicht explizit thematisiert, sondern recht allgemein von Verleumdungen spricht,
denen sie entgegentreten will, stellt ihr Anliegen selbstbewusst in den Horizont
des eschatologischen Gerichts Gottes. Aristides von Athen64 schreibt am Ende
seiner Ausführungen, in denen er vier Gruppen von vermeintlich oder tatsächlich
gottverehrenden Menschen (Barbaren – Griechen – Juden – Christen) präsentiert
und die Christen schließlich als die beste dieser vier erweist:

Verstummen sollen nun die Zungen derer, die Eitles reden und die Christen verleumden,
und sie sollen jetzt die Wahrheit sagen […]. Und wahrhaft ist Gottes, was durch der Christen
Mund geredet wird, und ihre Lehre ist die Pforte des Lichts. Es sollen sich ihr nun alle die
nahen, die Gott (noch) nicht erkannt haben, und sollen die unvergänglichen Worte aufneh-
men, die von jeher sind und von Ewigkeit. Mögen sie also zuvor kommen dem furchtbaren
Gericht, das durch Jesus Christus über das ganze Menschengeschlecht kommen soll.65

Diese Passage beeindruckt durch die starke Betonung des universalen Wahr-
heitsanspruchs der Christen in Verbindung mit der Massivität der Gerichtsvor-
stellung – an diesem Punkt hat sie mit den späteren Texten Justins eine gewisse
Ähnlichkeit; aber eine explizite Ausrichtung des Gerichtsgedankens auf Hadrian,
ihren kaiserlichen Adressaten (vgl. Aristides, Apologia 1,1), findet sich bei Aristi-
des nicht.

64 Siehe Pedersen, Engberg/Jacobsen/Ulrich (eds.), (wie Anm. 8), 35–49; ferner P. Pilhofer,


Aristides, in: 3LACL (2002), 60–61; Fiedrowicz (wie Anm. 8), 38–39.
65 Aristides, Apologia 17, 6–8. – Die Übersetzung folgt der von Kaspar Julius in 2BKV 12, Kempten
1913, 25–54 (54), die auf der syrischen Überlieferung basiert. Zum Verhältnis von syrischer, arme-
nischer und griechischer Überlieferung des Aristides und zur Aristidesüberlieferung insgesamt
siehe P. Pilhofer (wie Anm. 64), 60–61; außerdem C. Alpigiano, L’Apologia di Aristides e la tradi-
zione papiracea, in: CClCr 7 (1986), 333–357.

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82   Jörg Ulrich

In Tatians Oratio ad Graecos66 findet sich (wie bei Justin und anderen)
das Beispiel der Perikope vom Steuerzahlen. Seine ausdrückliche Erwähnung
dient dazu, den christlichen Respekt vor dem Kaiser im Unterschied zur christ-
lichen Furcht Gottes zu illustrieren: Dem Kaiser gebührt die Ehrerbietung, Gott
gebührt die Anbetung. Das Beispiel soll natürlich die Staatsloyalität der Christen
unterstreichen,67 die so ihren Beitrag zum Gemeinwesen und Gemeinwohl leisten.
Aber weitergehende Überlegungen zur Stellung des Kaisers und seiner Verantwor-
tung liegen nicht im Interesse Tatians. Auch im Diognetbrief bleibt die Thematik
unbearbeitet.68 In Theophilus’ Schrift Ad Autolycum69 wird entsprechend der breit
belegten frühchristlichen Tradition betont, dass der Kaiser von Gott eingesetzt ist
und gehalten ist, recht zu richten, weshalb es auch angemessen ist, ihm Ehre zu
erweisen und Fürbitte für ihn zu halten; anbeten dürfe man ihn als Christ freilich
nicht.70 Eine kritische Reflexion hinsichtlich des kaiserlichen Richtens findet sich
bei Theophilus aber nicht, und auch der Gedanke, dass im Grunde der Kaiser es
ist, der selbst vor Gericht steht, fehlt. Es liegt nahe, diesen Umstand mit der spe-
zifischen Ausrichtung und Adressatenschaft von Ad Autolycum zu erklären, die
sich an einen (fiktiven?) paganen, philosophisch interessierten Leser, nicht aber
an einen politischen Entscheidungsträger wendet; freilich warnt auch Theophi-
lus seinen Adressaten (wie Aristides und Justin die ihren) vor der ewigen Strafe
Gottes, die jedem droht, der sich nicht zum christlichen Glauben hinwenden
wolle.71 Athenagoras, der sich in seiner Legatio pro Christianis72 (wie Justin) direkt
an die Kaiser, nämlich an Marc Aurel und dessen Sohn Commodus, wendet, lobt

66 Siehe hierzu R. Falkenberg, Tatian, in: Engberg/Jacobsen/Ulrich (eds.), In Defence of Chris-


tianity (wie Anm. 8), 67–79; des weiteren P. Bruns, Tatian der Syrer, in: 3LACL (2002), 666–667
sowie M. Fiedrowicz (wie Anm. 8), 52–54.
67 Tatian, Oratio ad Graecos 4,2.
68 Epistula ad Diognetum 5,1–17 behandelt das Thema „Christen und Welt“ und spielt kurz
auf die Staatstreue der Christen an, die als „Beisassen“ (πάροικοι), ohne Bürgerrecht, im Staat
leben (Epistula ad Diognetum 5,5) und den erlassenen Gesetzen gehorchen (Epistula ad Diogne-
tum 5,10). Siehe hierzu H. Lona, An Diognet (KfA 8), Freiburg 2001, 160–163.168–170.
69 Siehe hierzu J. Engberg, Theophilus, in: Engberg/Jacobsen/Ulrich (eds.), In Defence of
Christianity (wie Anm. 8), 101–124; außerdem P. Pilhofer, Theophilus von Antiochien, in: 3LACL
(2002), 690; Fiedrowicz (wie Anm. 8), 54–55.
70 Siehe Theophilus, Ad Autolycum 1,11.
71 Theophilus, Ad Autolycum 1,14.
72 Athenagoras, Legatio pro Christianis, ed. M. Marcovich (PTS 31), Berlin 1990; – Siehe hierzu
A.-C. Jacobsen, Athenagoras, in: Engberg/Jacobsen/Ulrich (eds.), (wie Anm. 8), 81–100; ferner
P. Pilhofer, Athenagoras, in: 3LACL (2002), 76–77; Fiedrowicz (wie Anm. 8), 44–47.

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 Die Kaiser vor Gericht   83

die kaiserliche Regierung in den höchsten Tönen73 und bittet inständig darum,
das kaiserliche Wohlwollen auch auf die Christen auszudehnen74 – eine Kritik an
der kaiserlichen Gesetzgebung gegenüber den Christen findet sich bei ihm aber
nur behutsam und leise.75 Zwar betont auch Athenagoras, dass es die kaiserliche
Pflicht sei, die Christen (wie alle anderen auch) nach ihren Taten und nicht nach

73 Athenagoras, Legatio pro Christianis 1,2 (PTS 31, 22,17–20 Marcovich): Διόπερ τὸ πρᾶον
ὑμῶν καὶ ἥμερον καὶ τὸ πρὸς ἅπαντα εἰρηνικὸυ καὶ φιλάνθρωπου θαυμάζοντες οἱ μὲν καθ’ ἕνα
ἰσονομοῦνται, αἱ δὲ πόλεις πρὸς ἀξίαν τῆς ἴσης μετέχουσι τιμῆς, καὶ ἡ σύμπασα οἰκουμένη τῇ
ὑμετέρᾳ συνέσει βαθείας εἰρήνης ἀπολαύουσιν. / „Daher bewundert auch alles Eure Güte und
Milde, Eure unbegrenzte Friedsamkeit und Menschenliebe. Denn es bekommt nicht nur jeder
einzelne das ihm gebührende Recht, nicht nur jede Gemeinde die ihrer Stellung entsprechende
Anerkennung, sondern dank Eurer weisen Regierung erfreut sich der ganze Erdkreis eines tiefen
Friedens.“ Die Übersetzung folgt der von A. Eberhard (2BKV 12), Kempten 1913, 274. Vgl. Athe-
nagoras, Legatio pro Christianis 2,1 (24,5–6 M.; übers. 275 E.): ὑμῶν ἤδη ἔργον τῶν μεγίστων καὶ
φιλανθρωπ<οτάτ>ων καὶ φιλομαθεστάτων βασιλέων […] / „so ist es nunmehr an Euch, so mächti-
gen, so menschenfreundlichen und einem aufklärenden Worte gewiss zugänglichen Fürsten […]“,
ferner Legatio pro Christianis 7,3 (35,17–18 M.; übers. 282 E.): Εἴποιτε δ’ ἂν καὶ ὑμεῖς, συνέσει καὶ τῇ
περὶ τὸ ὄντως θεῖον εὐσεβείᾳ τοὺς ἄλλους προὔχοντες […] / „Ihr, die ihr durch Eure Einsicht und
durch Eure Frömmigkeit gegen das wahrhaft göttliche die andern überraget […]“ und Legatio pro
Christianis 37,1 (113,1–3 M.; übers. 325 E.): ὑμεῖς δέ, ὦ πάντα ἐν πᾶσι φύσει καὶ παιδείᾳ χρηστοὶ
καὶ μέτριοι καὶ φιλάνθρωποι καὶ τῆς βασιλείας ἄξιοι […] / „Ihr aber, die Ihr Euch in jeder Hinsicht
und in allen Dingen einer tüchtigen Begabung und Bildung erfreut, die Ihr weise Mäßigung mit
Menschenliebe verbindet und wahrhaft würdige Herrscher seid […]“.
74 Athenagoras, Legatio pro Christianis 1,3 (23,21–29 M.; übers. 274 E.): Ἡμεῖς δὲ οἱ λεγόμενοι
Χριστιανοί, ὅτι μὴ προνενόησθε καὶ ἡμῶν, συγχωρεῖτε δὲ μηδὲν ἀδικοῦντας, ἀλλὰ καὶ πάντων
(ὡς προϊόντος τοῦ λόγου δειχθήσεται) εὐσεβέστατα διακειμένους καὶ δικαιότατα πρός τε τὸ
θεῖον καὶ τὴν ὑμετέραν βασιλείαν, ἐλαύνεσθαι καὶ φέρεσθαι καὶ διώκεσθαι, ἐπὶ μόνῳ ὀνόματι
προσπολεμούντων ἡμῖν τῶν πολλῶν, μηνῦσαι τὰ καθ’ ἑαυτοὺς ἐτολμήσαμεν (διδαχθήσεσθε δὲ
ὑπὸ τοῦ λόγου ἄτερ δίκης καὶ παρὰ πάντα νόμον καὶ λόγον πάσχοντας ἡμᾶς), καὶ δεόμεθα ὑμῶν
καὶ περὶ ἡμῶν τι σκέψασθαι, ὅπως παυσώμεθά ποτε ὑπὸ τῶν συκοφαντῶν σφαττόμενοι. / „Leider
aber erstreckt sich Eure Fürsorge nicht auch auf uns, die sogenannten Christen. Obschon wir kein
Unrecht verüben, sondern, wie im Laufe der Rede gezeigt werden soll, sowohl gegen die Gottheit
als gegen Eure Herrschaft das allerpietätvollste, gerechteste Verhalten beobachten, so lasset Ihr
doch zu, dass man uns misshandelt, ausraubt, fortjagt, indem der Pöbel auf den bloßen Namen
hin mit uns Krieg führt. Daher haben wir uns ein Herz gefasst, unsere Angelegenheiten zur Spra-
che zu bringen (diese Rede soll Euch den Nachweis liefern, dass wir widerrechtlich und gegen alle
Satzung und Vernunft Verfolgung leiden), und legen Euch die Bitte vor, auch in unserer Sache
nach dem Rechten zu sehen, damit wir nicht länger mehr Schlachtopfer der Angeber sein müs-
sen.“. – Zur Position des Athenagoras siehe den Beitrag von U. Heil, „… damit wir nicht mehr von
den Verleumdenden abgeschlachtet werden“ (Athenagoras, leg. 1,3). Rhetorik der Drohkulissen in
der christlichen Apologetik des zweiten Jahrhunderts, in: Millennium-Jahrbuch 11 (2014), 1–21.
75 Athenagoras, Legatio pro Christianis 2,2 (24,10 M.; übers. 274 E.): Καὶ γὰρ οὐ πρὸς τῆς ὑμετέρας
δικαιοσύνης […] / „Es entspricht nämlich keineswegs Eurer Gerechtigkeit […]“.

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84   Jörg Ulrich

dem nomen ipsum zu beurteilen,76 aber er verbindet dies nicht wie Justin mit einer
imaginären Prüfung, die das Erfüllen dieser Pflicht verifizieren oder wiederlegen
soll. Zwar betont auch Athenagoras, dass die Menschen einst Gott über ihre Taten
werden Rechenschaft ablegen müssen.77 Aber Athenagoras bezieht dies explizit
nur auf die Christen, um deren Motiv für ihr gutes Handeln darzulegen, nicht
jedoch auf die Kaiser, deren eschatologisches Geschick von ihm überhaupt nicht
thematisiert wird.78 Und anders als Justin verweist Athenagoras am Ende seiner
Apologie auch nicht darauf, dass eine Entscheidung zugunsten der Christen letzt-
lich primär im Interesse der Kaiser selbst liege, weil diese sich so ihrer Ansprü-
che als würdig erweisen und im göttlichen Gericht straffrei ausgehen würden,
sondern er hebt ausschließlich auf die Berechtigung der Bitte der Christen ab und
betont, in deren legitimem Interesse zu argumentieren.79 Dabei versucht er durch-
aus, die Kaiser bei deren „Ehre zu packen“, indem er sie an ihre Wahrheitsliebe
erinnert und sie mahnt, sich nicht von populärer Tagesmeinung beeinflussen zu
lassen: Aber ein Szenario, nach welchem die Kaiser selbst es sind, die entweder
im Sinne einer Prüfung ihrer eigenen Ansprüche oder gar im Sinne des eschato-
logischen Gerichts Gottes selbst vor Gericht stehen, entwirft Athenagoras nicht.80
Abschließend sei ein Blick auf Tertullians81 Apologeticum gestattet, dem
(gemeinsam mit der unmittelbar vorher entstandenen Schrift Ad nationes) ersten
lateinischen Werk aus der Gruppe der frühchristlichen apologetischen Literatur.
Tertullians Werk ist für unsere Fragestellung von besonderem Interesse, weil

76 Athenagoras, Legatio pro Christianis 3,2 (27,12–14 M.; übers. 277 E.): […] πρὸς ὑμῶν λοιπὸν
ἐξέτασιν ποιήσασθαι βίου, δογμάτων, τῆς πρὸς ὑμᾶς καὶ τὸν ὑμέτερον οἶκον καὶ τὴν βασιλείαν
σπουδῆς καὶ ὑπακοῆς, καὶ οὕτω ποτὲ συγχωρῆσαι ἡμῖν οὐδὲν πλέον <ἢ> τοῖς δικώκουσιν
ἡμᾶς. / „[…] so verbleibt Euch die Pflicht, unseren Lebenswandel, unsere Grundsätze, unsere
Ergebenheit und Dienstbeflissenheit gegen Euch und Euer Haus und Eure Regierung zu untersu-
chen und uns so endlich – nicht weiter entgegenzukommen als unsern Verfolgern.“
77 Athenagoras, Legatio pro Christianis 12,1; 31,2. – Die Passage Legatio pro Christianis 12,1 ist
eng an Justin, 1 Apologia 8,4 angelehnt. – Es ist interessant, dass Athenagoras überhaupt kaum
auf die dunkle Seite des Gerichts rekurriert, sondern dass seine Eschatologie weitgehend positiv
ist und auf „Belohnungen“ abhebt. Offenbar kennt er die zeitgenössischen Diskussionen um die
christliche Angstmacherei sehr gut und versucht, diesem Vorwurf etwas entgegenzusetzen. Vgl.
hierzu Heil (wie Anm. 74), 17.
78 Siehe Heil (wie Anm. 74), 16: „Dennoch richtet er (=Athenagoras; Vf.) nie direkt eine […] Dro-
hung an seine Adressaten. Das Gericht Gottes setzt er also nicht als Drohkulisse gegen die Kaiser
oder die nichtchristliche gebildete Elite ein. Das liest man […] ganz anders bei Justin.“
79 Athenagoras, Legatio pro Christianis 37,1.
80 Siehe abermals den Aufsatz von Heil (wie Anm. 74).
81 Zu Tertullian siehe die Darstellung von H. C. Brennecke, Tertullian, in: F.-W. Graf (Hg.), Klas-
siker der Theologie, München 2005, 28–42; außerdem N. Willert, Tertullian, in: Engberg/Jacob-
sen/Ulrich (eds.) (wie Anm. 8), 159–183.

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 Die Kaiser vor Gericht   85

er sein Apologeticum bewusst als fiktive forensische Rede gestaltet.82 Das Sze-
nario, das Tertullian im Apologeticum entwirft, ist eine Gerichtsrede, genauer:
eine Rede an die Gericht haltenden Romani imperii antistites.83 Ihnen gegenüber
tritt Tertullian dafür ein, dass den Christen Recht widerfahren und ihre Wahr-
heit gehört werden soll. Ihnen gegenüber prangert er die Ungerechtigkeit an, die
darin besteht, dass die Christen ohne Prüfung konkreter Straftatbestände einfach
wegen ihres Christennamens verurteilt werden. Tertullian folgt in seiner Widerle-
gung unberechtigter Vorwürfe, die gegen die Christen erhoben wurden, den Argu-
mentationsmustern der älteren Apologeten: Dem Kaiser, so betont er, erweisen
die Christen Anerkennung, sie sind ihm ergeben, halten ihm die Treue, sie sehen
ihn als den von Gott eingesetzten Herrscher an und beten für ihn (Tertullian, Apo­
logeticum 30,1.4; 31,1–3; 33,1; 36,2). Zugleich aber kann kein Zweifel daran beste-
hen, dass die kaiserliche Majestät als die eines Menschen der göttlichen Majestät
als der Gottes untergeordnet ist (Tertullian, Apologeticum 33,3–4). Damit erklärt
Tertullian, warum die Christen den Kaiser nicht anbeten, ihm nicht opfern und
ihn nicht als Gott bezeichnen können und die Kaiserfeste allenfalls in „keuscher“
Form mitfeiern (Tertullian, Apologeticum 28,1–2; 34,3–4; 35,5). Mit dieser Relativie-
rung der kaiserlichen Macht und des kaiserlichen Anspruchs geht es einher, dass
Tertullian – wie alle Apologeten vor ihm – auf das Endgericht Gottes verweist, in
dem alle Menschen Rechenschaft werden geben müssen: Die Auferstehung von
Seele und Leib ermöglicht die Belohnung oder Bestrafung des Menschen an Seele
und Leib (Tertullian, Apologeticum 48,4.5–9), und die strengste Bestrafung droht
all denen, die „gottlos“ sind.84 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Tertul-
lian unter „allen Menschen“ auch die Kaiser und die im Apologeticum direkt

82 Einzelheiten bei Georges (wie Anm. 1). Georges führt überzeugend vor, „dass das apol. auf
der Oberfläche eine forensische Rede darstellt, die den Vorwürfen gegen die Christen entgegen-
tritt, dass es aber mit und hinter dieser Oberfläche eine Struktur zu erkennen gilt, die der Of-
fenbarung des christlichen Glaubens und seiner Wahrheit dient.“ (ebd. 39). – Ich verzichte auf
eingehende eigene Analysen des Tertulliantextes und verweise auf den genannten Kommentar.
83 Tertullian, Apologeticum 1,1; – Siehe hierzu schon die Studie von R. Heinze, Tertullians Apo-
logeticum, Leipzig 1910, sowie die Analysen von Georges (wie Anm. 1), 38–44. – Zu den Entschei-
dungsträgern in den Christenprozessen siehe auch die Angaben oben Anm. 3.
84 Tertullian, Apologeticum 48,13 (CSEL 69, 116,70–76 Hoppe; übers. 703 G.): Ideoque nec mors
iam, nec rursus ac rursus resurrectio, sed erimus idem qui nunc, nec alii post, dei quidem cultores
apud deum semper, superinduti substantia propria aeternitatis; profani vero et qui non integre ad
deum, in poena aeque iugis ignis, habentes ex ipsa natura eius, divina[m] scilicet, subministrati­
onem incorruptibilitatis. / „Und daher gibt es dann auch nicht mehr nochmals einen Tod und
nochmals eine Auferstehung, sondern wir werden dieselben sein, die wir jetzt sind, und nicht
nachher andere: die Anhänger Gottes nämlich immer bei Gott, überkleidet mit der Substanz, die
der Ewigkeit eigen ist; die Gottlosen jedoch und die, welche nicht unbescholten vor Gott stehen,

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86   Jörg Ulrich

angesprochenen Romani imperii antistites eingeschlossen sieht. Und man kann


sicher sagen, dass die Perspektive des Endgerichts am Schluss des Apologeticums
einen bewusst gesetzten Kontrapunkt zum Gericht vor den Statthaltern setzt, von
dem das Exordium des Textes ausgegangen war.85 In diesem Sinne liegt also auch
bei Tertullian eine grundlegende Umkehrung der Gerichtsperspektive vor, und
zwar insofern als am Schluss seiner Schrift die irdischen Verhältnisse auf den
Kopf gestellt werden und implizit ein Appell an die irdischen Ankläger erfolgt:
Diese sollen schon jetzt das kommende Gericht Gottes als das wahre anerkennen,
weil sie eines Tages ohnehin vor diesem göttlichen Gericht erscheinen müssen
und dessen Wahrheit dann nicht mehr werden ausweichen können.86 In dieser
Hinsicht kann man auch bei Tertullian – wie bei Justin – von einer „Umkehrung
des Gerichtsszenarios“ sprechen. Aber bei Tertullian erfolgt diese Umkehrung
implizit, gleichsam auf der Metaebene der literarischen Struktur,87 während sie
bei Justin, wie wir sahen, offen an- und ausgesprochen wird. Justins Vorgehen
ist also wesentlich unmittelbarer, zugespitzter, direkter und freimütiger, während
(der sonst zu Recht immer als besonders sarkastisch und scharfzüngig geltende)
Tertullian sich hier eher auf der mittelbaren Ebene einer literarischen Kompositi-
onsstruktur bewegt, um denselben Grundgedanken zu kommunizieren.

5
Unser kleiner Erkundungsgang durch die Apologie(n) Justins hat einen recht
interessanten Befund zu Tage gefördert. Als erster und eigentlich auch einziger
der frühchristlichen Apologeten inszeniert er seine Verteidigung der christlichen

unter der Qual des ebenso immerwährenden Feuers, wobei sie gerade aus dem Wesen dieses
Feuers, das nämlich göttlich ist, die Unzerstörbarkeit verschafft bekommen.“
85 Darauf hat Georges (wie Anm. 1), 722, aufmerksam gemacht.
86 So id., ebd.
87 Noch einmal Georges (wie Anm. 1), 42: „In dieser Perspektive (= der der maiestas Gottes; Vf.)
haben allein die Christen den rechten Zugang zu religio und maiestas; die Vorwürfe richten sich
gegen die Ankläger, die somit selber unter Anklage stehen. Hier wird erkennbar, wie das foren-
sische Gefüge in die Tiefenstruktur übergreift: Die Szenerie des Gerichts vor den Statthaltern, in
der die Christen angeklagt sind, wandelt sich in die Szenerie des von Gott ausgehenden Gerichts,
in dem die Statthalter angeklagt sind. In Tertullians Augen erschließt sich von der Wiederkunft
Christi her […] die Umkehrung der Verhältnisse. Auf diesen theologisch-eschatologischen Kon-
text verweist die Gerichtsrede; in diesem Kontext bleibt Tertullian nicht bei der Gegenanklage
gegen die antistites stehen, sondern entfaltet vor ihnen den christlichen Gegenentwurf und
drängt sie, zumindest implizit, sich diesem Zugang zu religio und maiestas zu öffnen.“

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 Die Kaiser vor Gericht   87

Religion so, dass in, mit und unter seiner Kritik an den ungerechten Gerichts-
verfahren gegen die Christen zugleich eine zweite Gerichtsszenerie thematisiert
wird, die eine doppelte Ebene hat: Die Kaiser als Träger des gerichtlichen Vor-
gehens gegen die Christen stehen selbst vor Gericht, indem sie einerseits hin-
sichtlich ihres Selbstanspruchs auf fromme und philosophische Herrschaftsaus-
übung geprüft werden und andererseits beständig auf das kommende Gericht
Gottes hingewiesen werden, vor dem sie als Angeklagte erscheinen und Rechen-
schaft über ihr Tun werden ablegen müssen. Dass Justin diesen Gedanken an
den besonders zentralen Stellen seiner Apologie konkret ausspricht, zeigt, wie
sehr er seine theologische Bewertung der Gegenwart bestimmt. Auch die in vieler
Hinsicht zu konstatierende Originalität Justins tritt unter diesem Aspekt noch
einmal neu hervor,88 denn eine konkrete Vorlage für eine faktische Umkehrung
des Gerichtsszenarios ist in der vor Justin zu datierenden frühchristlichen Litera-
tur nicht auszumachen.89 Für die Zeit nach Justin wiederum gilt: Bei den späteren
Apologeten des zweiten Jahrhunderts wird die Figur so nicht rezipiert, wenn-
gleich sich einzelne Elemente finden lassen. Eine gewisse Ausnahme hierbei ist
der sein Apologeticum gezielt als forensische Rede konzipierende Tertullian, der
die Umkehrung des Gerichtsszenarios aber nicht explizit thematisiert, sondern
sie implizit auf der Ebene literarischer Konstruktion ansiedelt, indem er seinen
Text bei den Christenprozessen der Gegenwart einsetzen und mit dem Endgericht
Gottes enden lässt. Man kann fragen, ob die durchaus anspruchsvolle Konstruk-
tion Tertullians durch die Apologie Justins, die Tertullian ja kannte,90 inspiriert
sein könnte – beweisen lassen wird sich das letztlich nicht. Was sich aber bei
beiden frühchristlichen Apologeten, die das Motiv der Umkehrung des Gerichts-
szenarios in unterschiedlicher Form präsentieren, übereinstimmend zeigt, ist
Folgendes: Für beide ist im Glauben an Jesus Christus und an dessen Wieder-

88 Ulrich (wie Anm. 12), 3–16.


89 Zu Aristides siehe oben unter 4. – Hinzuweisen wäre noch auf 1 Petr 4,17, wo die gegenwärti-
gen Verfolgungen als Anfang des eschatologischen Gerichts gedeutet werden, das bei den Chris-
ten beginnt, das sich dann aber in noch viel stärkerem Maße gegen die Nichtchristen wenden
wird.
90 Das bezeugt Tertullian, Adversus Valentinianos 5,1 (namentliche Nennung Justins). Für die
Apologetik Tertullians ist die Benutzung Justins sicher vorauszusetzen, auch wenn der Name
hier nicht genannt wird: Aber Tertullian, Ad nationes 1 liest sich mitunter wie eine Bearbeitung
von Justin, 1 Apologia, und Ad nationes 1 ist wiederum Vorlage für das Apologeticum gewesen
(vgl. hierzu C. Becker, Tertullians Apologeticum. Werden und Leistung, München 1954, 81–83;
Fiedrowicz [wie Anm. 8], 61–62; Georges [wie Anm. 1], 33–34). Dass Tertullian deutlich an seine
griechischen Vorgänger anknüpft, ergibt sich aus der Übereinstimmung der Themen und Ar-
gumentationsfiguren, auch wenn man nicht immer exakt sagen kann, von welchem Verfasser
welche Passagen jeweils konkret abhängen.

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88   Jörg Ulrich

kunft und kommendes Gerichtshandeln ein völlig neues Wirklichkeitsverständ-


nis gegeben, das die Bedeutung der sich gegenwärtig vollziehenden Christenpro-
zesse relativiert. Über allem Ernst und hinter allem argumentativen Aufwand,
mit dem sich die Apologeten zugunsten der Christen engagieren und gegen die
bestehende Rechtslage polemisieren, steht das Glaubenswissen darum, dass das
eigentliche Gericht noch einmal in ganz anderer Weise stattfinden wird und dass
in jenem kommenden Gerichtsprozess die Rolle der jetzt angeklagten Christen die
der Freigesprochenen, die Rolle der jetzigen Ankläger und Richter, so sie nicht
zur Vernunft kommen, aber die der Verurteilten sein wird. Für beide Apologeten
ergab sich die „Umkehrung des Gerichtsszenarios“ aus diesem Wissen, sei es,
dass sie so subtil literarisch inszeniert wurde wie bei Tertullian, sei es, dass sie so
frappierend offen ausgesprochen wurde wie von Justin.

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Ferdinand R. Prostmeier
Die sogenannten Imperatoren in
der Weltchronik des Theophilos von
Antiochia
1 Kontext und Aufbau
Theophilos von Antiochia entwirft gegen Ende des dritten Buches seiner Trilo-
gie „An Autolykos“ die erste christliche Weltchronik (Ad Autolycum 3,16–29).1
Nachdem er das Christentum im Rückblick auf die beiden ersten Bücher und
den ethikgeschichtlichen Diskurs in der ersten Hälfte des dritten Buches als eine
umfassende Lebensordnung (πολιτεία)2 qualifiziert hat, will er ab 3,16 „auch

1 Falls die „Leipziger Weltchronik“ – wovon nur fünf Fragmente (Papyri Lips. 590, 1228, 1229, 1231,
1232) einer ursprünglich einzigen Papyrusrolle aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts er-
halten sind (vgl. D. Colomo u.  a., Die älteste Weltchronik. Europa, die Sintflut und das Lamm, in:
APF 56 [2010], 1–25; W.  Luppe, Korrekturen und Ergänzungen zur Leipziger Weltchronik, in: APF 56
[2010], 200–206; L. Popko/M. Rücker, P.Lips. Inv. 1228 und 590. Eine neue ägyptische Königsliste
in griechischer Sprache, in: ZÄS 138 [2011], 43–62) – nicht christlichen Ursprungs ist, worüber ein
heftiger Streit entbrannt ist (vgl. A. Weiß, Die Leipziger Weltchronik – die älteste christliche Welt-
chronik? in: APF 56 [2010], 26–37; R. W. Burgess, Another Look at the Newly-Discovered ‚Leipzig
World Chronicle‘, in: APF 58 [2012], 16–25), dann war das von Theophilos verfasste Geschichtswerk,
auf das er in seiner Trilogie Ad Autolycum wiederholt verweist (2,28,8; 2,30,7b.10; 2,31,3a; 3,19,3–
4), das älteste bekannte Chronograph. Dieses mehrbändige Geschichtswerk (2,30,7b [PTS 44,
80,22 Marcovich]: ἐν τῇ πρώτῃ, βίβλῳ τῇ περὶ ἱστοριῶν) ist verloren wie ebenso seine bei Euseb
(Historia ecclesiastica 4,24) erwähnten Streitschriften Πρὸς τὴν αἵρεσιν Ἑρμογένης und Κατὰ
Μαρκίωνος sowie sein Kommentar zu Proverbien. Am Schluss der Trilogie Ad Autolycum, dem
jüngsten Werk von Theophilos, entstanden zwischen 180–182 n. Chr. in Antiochia am Orontes, ist
indes eine Weltchronik enthalten, deren Kernstück eine exakte Zeitberechnung von der Erschaf-
fung der Welt bis zum Tod von Marc Aurel ist. Solange die Bruchstücke des Leipziger Chrono-
graphen nicht zweifelsfrei als christlich erwiesen sind – was schwierig sein dürfte –, liegt in Ad
Autolycum 3,16–29, womöglich eine Epitome aus Theophilos’ Geschichtswerk (wie Anm. 25), die
älteste christliche Weltchronik vor. Alle als eigenständiges Chronograph konzipierten frühchrist-
lichen Werke sind jünger, nämlich die verlorene fünfbändige Weltchronik des Iulius Africanus
(160/170 – ca. 240), die bis zum Jahr 221 gereicht haben soll, also wohl bis zum Tod des Septi-
mus Severus, sowie die Chronik des Hippolyt von Rom (170–235), die bis 234/235 reicht. Näheres
vgl. M. Wallraff/W. Adler (Hgg.), Julius Africanus und die christliche Weltchronistik (TU 157),
Berlin 2006; A. Bauer/R. Helm (Hgg.), Hippolytus. Werke 4: Die Chronik (GCS 36), Berlin ²1955.
2 Theophilus, Ad Autolycum 3,15,6 (115,17–18 M.): Πολλὰ μὲν οὖν ἔχοντες λέγειν περὶ τῆς καθ᾿
ἡμᾶς πολιτείας καὶ τῶν δικαιωμάτων τοῦ θεοῦ καὶ δημιουργοῦ πάσης <τῆς> κτίσεως / „Vieles ist
zwar nun noch zu sagen über das, was unsere Lebensordnung angeht, und über die Satzungen

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90   Ferdinand R. Prostmeier

die Chronologie genauer darlegen“.3 Damit kommt Theophilos keineswegs


einer bloßen Chronistenpflicht nach. Die Weltchronik dient nämlich demselben
Zweck, den seine drei Bücher insgesamt verfolgen: Die christliche Lehre als „älter
und wahrer“ zu erweisen, denn daraus ist ihre „Göttlichkeit zu ersehen“.4 Der
prononcierte Anspruch auf Anciennität und Wahrheit rahmt die Weltchronik5
und ordnet sie in die protreptisch-apologetische Disposition der Trilogie ein. Die
Weltchronik ist somit als Schlussakkord dieser Einführung ins Christentum für
Eliten6 avisiert.
Damit die Weltchronik diesen Anspruch und diese Funktion erfüllt, ist aus
der Sicht des Theophilos eine genauere Berechnung der „Zeiten und Zeitläufe“
(3,17,5b)7 zwingend. Während bisherige Weltchroniken erst nach der Sintflut ein-
setzen und sich mit Vermutungen über die Geschichte vor der Sintflut überbieten,
will Theophilos „nach Möglichkeit die Zahl der gesamten Jahre der Welt“ vom
„fernsten Anfang der Schöpfung der Welt“ an „vorführen“ (3,23,5–6).8 In diesem

Gottes und Urhebers der ganzen Schöpfung“. – Zum Lexem πολιτεία vgl. F. Passow, Handwörter-
buch der griechischen Sprache, Bd. 2/1, Leipzig 1852, 990a.
3 Theophilus, Ad Autolycum 3,16,1a (116,1–3 M.): Θέλω δέ σοι καὶ τὰ τῶν χρόνων θεοῦ παρέχοντος
νῦν ἀκριβέστερον ἐπιδεῖξαι.
4 Theophilus, Ad Autolycum 3,29,1a (135,2–3 Μ.): ὁρᾶν ἔστιν τὴν ἀρχαιότητα τῶν προφητικῶν
γραμμάτων καὶ τὴν θειότητα τοῦ παρ’ ἡμῖν λόγου.
5 Zum Auftakt (3,16,1b) und zum Abschluss (3,29,1b) wird durch die beiden Komparative
ἀρχαιότερος καὶ ἀληθέστερος diese zweifache Vorzüglichkeit der christlichen Tradition hervor-
gehoben und durch das Adversativum ἀλλά der griechischen Überlieferung und den chrono-
graphischen Entwürfen ihrer Sachwalter entgegengesetzt. Entsprechend werden diese Entwürfe
als widersprüchliche Vermutungen entkräftet und als Fabeleien entlarvt. Sofern prominente
Vorstellungen der griechischen Tradition über „Zeiten und Zeitläufe“ doch einmal christlichen
Aussagen gleichen, ist Theophilos darauf bedacht, die Deszendenz der griechischen Tradition
zu vermerken.
6 Näheres zum Zielpublikum vgl. J. Lössl, Bildung? Welche Bildung? Zur Bedeutung der Aus-
drücke „Griechen“ und „Barbaren“ in Tatians „Rede an die Griechen“. In: F. R. Prostmei-
er (Hg.), Frühchristentum und Kultur (KfA.E. 2), Freiburg 2007, 127–153; id., „Zeig mir deinen
Gott.“ Einführung in das Christentum für Eliten, in: ebd. 155–182; id., Der Logos im Paradies.
Theophilos von Antiochia und der Diskurs über eine zutreffende theologische Sprache, in:
F. R. Prostmeier/H. E. Lona (Hgg.), Logos der Vernunft – Logos des Glaubens (MSt 31), Berlin
2010, 207–228; id., Tatians Oratio ad Graecos und der Diskurs über „Religion“ in der frühen Kai-
serzeit, in: H.-G. Nesselrath (Hg.), Gegen falsche Götter und falsche Bildung. Tatian, Rede an die
Griechen (SAPERE), Tübingen 2016, 193–223.
7 Theophilus, Ad Autolycum 3,17,5b (117,13 M.): περί τε χρόνων καὶ καιρῶν.
8 Theophilus, Ad Autolycum 3,23,5 (126,21–23 M.): εἰς τὸ καὶ τῶν ἁπάντων <ἐτῶν> κατὰ τὸ
δυνατὸν εἰπεῖν ἡμᾶς τὸν ἀριθμόν, <τὴν ἀρχὴν> νυνὶ ποιησόμεθα ἀναδραμόντες ἐπὶ τὴν ἀνέκαθεν
ἀρχὴν τῆς τοῦ κόσμου κτίσεως.

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 Die sogenannten Imperatoren in der Weltchronik des Theophilos von Antiochia   91

chronographischen Programm markiert das Ende des Babylonischen Exils


(3,25,4–5; 3,27,1a) die Epoche, auf die nahtlos die römische Ära folgt (3,27,1b).
Anhand der Lebensaltersangaben in den Geschlechterregistern der Ur- und
Patriarchengeschichte sowie der biblischen Geschichtswerke (3,24–25) berech-
net Theophilos die „Zeit und Zeitläufe“ bis zum Ende des Exils. Außerbiblische
Herrschertabellen und chronographische Angaben werden vor und nach dieser
Chronologie kritisch besprochen und – sofern sie passen – verarbeitet. Die römi-
sche Geschichte beginnt nicht ab urbe condita, sondern folgt direkt auf das Baby-
lonische Exil. Roms Anfänge und Aufstieg sind also nicht römisch initiiert. Für
die Berechnung der Zeiten und Zeitläufe ab urbe condita beruft sich Theophilos
indes auf einen Zeitgenossen: Χρύσερος ὁ Νομεγκλάτωρ,9 ein libertus10 des Marc
Aurel. Chryseros habe in seinen ἀναγραφαί die „Namen und Zeiten“ aller Regen-
ten bis zum Tod von Marc Aurel verzeichnet. Den Schluss der Weltchronik bildet
eine Tabelle der römischen Kaiser (3,27,4b–5). Nach dem Vorbild von Sueton, dem
anscheinend Chryseros in seinem Verzeichnis gefolgt ist, beginnt auch bei Theo-
philos die römische Kaiserzeit mit der Alleinherrschaft des Gaius Iulius Caesar
(09. 12. 47 bis 15. 03. 44 v. Chr.).11 Anschließend notiert Theophilos auf den Tag

9 Theophilus, Ad Autolycum 27,3 (132,16–17 M.). Der Eigenname Χρύσερως sowie die Bezeich-
nung ὁ Νομεγκλάτωρ sind außerhalb von Ad Autolycum 3,27,3b nicht belegt. Lexicographen be-
ziehen sich daher stets auf diese knappe Personalnotiz und „schreiben sie aus“; vgl. J. H. Zadler,
Chryserus (GVUL 5 [1733], Sp. 2279–2280); F. Jacoby, Chryseros (FGrH 1 [1923]), Nr. 96); V. Costa,
Chryseros (BNJ 1 [2012], Nr. 96); Passow und Liddell/Scott verzeichnen das Lexem Νομεγκλάτωρ
nicht. Es ist ein Latinismus und bezeichnet einen Sklaven, der seinem Herrn unterwegs oder im
Haus die Namen von Besuchern ansagen musste (vgl. K.-E. Georges, Der Neue Georges 2, 3280–
3281). Wegen der auffälligen Funktionsbezeichnung ὁ Νομεγκλάτωρ ist es unwahrscheinlich,
dass Χρύσερως eine Verschreibung des Namens Χρύσερμος ist, womit entweder ein Arzt gemeint
ist, der u.  a. bei Sextus Empiricus, Galen, Plutarch und Diogenes erwähnt wird, oder „ein Korin-
thier, der ein Werk über die Flüsse u. eine persische Geschichte geschrieben hat“ (Passow [wie
Anm. 2], 2, 2526). Ebenso kaum vorstellbar (und handschriftlich nicht belegt) ist Χρύσερως als
Korruptele eines ursprünglichen χυρσέρως. Mit der Figur des reichen Geldwechslers Chryseros
in Apuleius, Metamorphoseon 4,9,10 und 4,10,12 hat der „Namennenner“ Χρύσερως / Chryseros
aus der Zeit von Marc Aurel nichts zu tun.
10 Die Personalnotiz zu Chryseros, er sei ein Freigelassener von Kaiser Marc Aurel (Theophilus,
Ad Autolycum 27,3 [132,17 M.]: ἀπελεύθερος γενόμενος Αὐρηλίου Οὐήρου), zeigt nicht nur seinen
früheren und aktuellen Status an, sondern zugleich seine ungebrochene Bindung an den Kaiser
als seinen patronus. Darin mag auch eine feine Kritik anklingen, dass das Namensregister, das
Chryseros für seinen Herrn angefertigte, die seit Augustus beförderte Selbststilierung Roms nicht
rundweg unterstützt. Dieser Sachverhalt ist für jedermann in den „Aufzeichnungen“ des ehema-
ligen Namennenners nachzulesen.
11 Vgl. Suetonius, De vita Caesarum 1,76,1 (BSGRT, 37,9–13 Ihm): non enim honores modo nimios
recepit: continuum consulatum, perpetuam dictaturam praefecturamque morum, insuper praeno­

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92   Ferdinand R. Prostmeier

genau die Regentschaftszeiten aller siebzehn Augusti bis zum Tod von Marc Aurel
(17. März 180). Anhand dieser Notizen errechnet Theophilos, dass die römische
Kaiserzeit nun genau 225 Jahre währt.12 Beschlossen wird die Weltchronik von
einer Aufstellung der in der vorausgehenden Chronologie berechneten Zeitab-
schnitte.13 Diese in zwei Dreiergruppen angeordnete Tabelle14 teilt die Weltzeit
bis zum Ende des Exils in fünf Abschnitte, die sich an den Zäsuren der biblischen
Ur- und Patriarchengeschichte sowie der Geschichte Israels orientieren. Für die
zweite Weltzeit, die Ära Roms, errechnet Theophilos 741 Jahre. Auffälligerweise
beginnt die römische Ära bereits mit dem Regierungsantritt des persischen Groß-
königs Kyros (3,28,6), nach einer anderen Datierung beginnt sie mit dessen Tod
(vgl. 3,27,6b). Durch beide Datierungen wird die kritische Deutung des imperialen
Selbstbildes Roms bekräftigt, wonach Roms Aufstieg allein Gott zu verdanken ist
(3,27,1b).
Die Kaisertabelle in Ad Autolycum 3,27,4b–5 unterscheidet sich signifikant
von allen anderen Lebensalter- und Regentschaftslisten, die in der Chronologie
angeführt sind.15 Zum einen sind die Zeitangaben so präzise wie möglich, nämlich

men Imperatoris, cognomen Patris patriae, statuam inter reges, suggestum in orchestra. / „Denn
nicht genug, dass er alle, ihm im Übermaß angetragenen Ehrenstellen, wie die stete Wiederwahl
zum Konsul, die immerwährende Diktatur, das oberste Sittenamt, dazu den Vornamen Impera-
tor, den Beinamen Vater des Vaterlandes, die Aufstellung seines Standbildes und den Königen,
den Thronsitz in der Orchestra, annahm.“
12 Theophilus, Ad Autolycum 3,27,6a (133,31–32 M.): Γίνεται οὖν ὁ χρόνος τῶν Καισάρων μέχρι<ς>
Οὐήρου αὐτοκράτορος τελευτῆς ἔτη <σ>κε΄.
13 Mittels einer Form von γίνομαι gefolgt von οὖν und ἔτη sowie einer Jahreszahl wird entweder
die jeweilige Etappe oder die erreichte Weltzeit festgehalten.
14 Die erste Dreiergruppe markiert die Zeitabschnitte mittels ἀπό (δέ) – ἔως, die zweite durch
ἀπὸ δέ – μέχρι. Die Wiederholung des Namens oder des Ereignisses, mit dem der jeweilige Zeit-
abschnitt endet (Sintflut, Abrahamssohn/Isaak, Mose, David, Exil/Kyros), am Beginn des folgen-
den Zeitintervals soll den Eindruck vermitteln, dass die Chronologie lückenlos ist.
15 Dazu gehören die Pharaonenliste des „Neuen Reiches“ von Tethmosis bis Ramesses (Ad
Autolycum 3,20,1–5), wofür sich Theophilos auf einen ägyptischen Priester und Chronographen
namens Manethos (3. Jh. v. Chr.) beruft (3,20,1a; 3,21,1–6); vgl. C. Hornung, Manethon, in: RAC 24
(2012), 1–6. Für die Königsliste der Tyrrhenier (3,22,3–6) bedient er sich der Aufzeichnungen
des Eratosthenes’ Schüler Menander von Ephesus (vgl. Josephus, Contra Apionem 1,116–117)
sowie Notizen des tyrrhenischen Staatsarchivs über den Bau des Salomonischen Tempels, die
von König Hieromos selbst stammen sollen, womit wiederum auf die etruskische Vorgeschichte
Roms angespielt ist; vgl. auch Platon, Timaios 25b. Die Schrift ist Quelle für die Genealogie der
Nachkommen Adams, der Nachkommen Noas, den Aufenthalt in Ägypten, Exodus und Land-
nahme (3,24), für die Abfolge der Fremdherrschaften (3,24,4), sodann für die Richter- und die
Königszeit (3,24,1–25,2) und schließlich für das Babylonische Exil (3,25,3–5).

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 Die sogenannten Imperatoren in der Weltchronik des Theophilos von Antiochia   93

auf den Tag genau,16 und zum anderen unterstellt sie durch ihre Überschrift (οἱ
αὐτοκράτορες καλούμενοι)17 alle Kaiser einem gemeinsamen Merkmal und qua-
lifiziert dieses Signum. Nachdem Theophilos daran erinnert hat, dass in der
römischen Republik über viereinhalb Jahrhunderte das Imperium auf Konsuln,
Tribune und Ädilen verteilt war (3,27,3a) und durch Wahl stets nur für Dauer eines
Jahres verliehen wurde (3,27,3a.4a), lenkt er den Blick auf die Kaiser. Aus der Pers-
pektive des Theophilos ist für sie bezeichnend, dass sie das Imperium unbefristet
besitzen und daher als Imperatoren (οἱ αὐτοκράτορες) tituliert werden.18 Ange-
sichts der doxologisch-apologetischen Zweckbestimmung der Weltchronik und
ihrer prominenten Platzierung gewissermaßen als Schlussakkord der gesamten
Einführung ins Christentum drängt sich die Frage auf, ob das Partizip Medium
καλούμενοι in der Rubrik nur das Faktum ihrer intitulatio besagen soll oder auf
Reserven gegen den Anspruch hinweist, den die Kaiser mittels der intitulatio als
αὐτοκράτωρ erheben.

2 Quellen und Anspruch


Weil die Weltchronik demselben Zweck dienen soll, den die drei Bücher Ad Auto­
lycum insgesamt verfolgen, nämlich die Wahrheit der christlichen Lehre über die
beiden Achsenthemen des kaiserzeitlichen Diskurses über Religion zu erweisen,
Gott und Rettung, gilt entsprechend dasselbe Ethos der Redlichkeit und Wahr-
heitsliebe, das Theophilos seiner Trilogie voranstellt (1,1,1.2a), auch für die Auf-
findung und Auswahl der für die Weltgeschichte zuverlässigen Quellen sowie für

16 Signifikante Abweichungen von den gesicherten Regentschaftszeiten (vgl. D. Kienast, Rö-


mische Kaisertabelle. Grundzüge einer römischen Kaiserchronologie, Darmstadt ²1996, 61–146)
weist die Chronologie für das „Vierkaiserjahr“ auf (3,27,4b–5). Während die Regentschaft des
Galba (8. 6. 68 bis 15. 1. 69) exakt mit μῆνας ἑπτά, ἡμέρας ςʹ / „7 Monate 6 Tage“ (133,25 M.) und
die des Otho (15. 1. bis 16. 4. 69) ziemlich genau mit μῆνας γʹ, ἡμέρας εʹ / „3 Monate 5 Tage“
(133,25–26 M.) ausgewiesen sind, weichen die Angaben zu den Regierungszeiten von Vitellus
(2. 1. bis 20. 12. 69) und Vespasian (1. 7. 69 bis 23. 6. 79) ab (3,27,4–5). Dabei zeigt sich, dass die
für Vitellus notierte Regentschaftszeit von μῆνας ςʹ, ἡμέρας κβʹ / „6 Monate 22 Tage“ (133,26 M.)
seine Herrschaft fast auf den Tag genau auf die Erhebung des Vespasian zum Imperator am 1. Juli
69 in Alexandria terminiert.
17 Theophilus, Ad Autolycum 3,27,4 (133,21 M.).
18 Vgl. Passow (wie Anm. 2), 1, 449, der das Kompositium αὐτοκράτωρ mit „Selbstherrscher, Al-
leinherrscher, Herrscher mit unumschränkter Gewalt“ übersetzt. Gemeint sind selbstverständ-
lich die römischen Kaiser, wie sie in der in der Tabelle 3,27,4–5 aufgelistet sind. Insofern ist impe­
rator das entsprechende Pendant innerhalb der intitulationes der römischen Kaiser.

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deren Auswertung (3,16,1a; 23,7a). Der apologetisch-doxologische Skopus ver-


langt selbstredend nicht nur, dass die Berechnung der Weltzeit genauer ist als
in allen bisherigen Chronologien, sondern genauso, dass die Darstellungsweise
selbst Zuverlässigkeit ausstrahlt. Die Genauigkeit19 und die angemessene Form
gelten als Indikatoren der Zuverlässigkeit der Chronologie und sind daher Krite-
rien für die Wahrheit der christlichen Lehre.

Erneut wird Platon als Kronzeuge wider die griechische Tradition in Anspruch
genommen,20 hier nun gegen die Zuverlässigkeit und damit gegen den Wahrheits-
wert aller bisherigen Weltchroniken. Wenn nämlich Platon, „der als Weisester der
Griechen gehalten wird“,21 nicht auszuschließen vermag, „über die Zeiten und
Zeitläufe“ (3,17,5b) nur eine Vermutung (εἰκασμός) geäußert zu haben (3,16,4),
dann trifft dieser Makel ebenso die Geschichtsentwürfe und Chronologien aller
Historiker, Dichter und Philosophen.22 Aus diesem vorgeblichen Konsens über die
Unzuverlässigkeit der in griechischen Traditionen verwurzelten weltgeschichtli-
chen Entwürfe hebt Theophilos als gemeinsame Überzeugung mit Platon hervor,
dass die Zuverlässigkeit der Quellen die unverzichtbare Voraussetzung ist für
eine zutreffende Chronologie und dass ihr Wahrheitsanspruch und ihre Überzeu-
gungskraft wesentlich darauf beruhen, ab welchem Anfangspunkt eine genaue
Berechnung der Weltzeit einzusetzen vermag. Alle Chronologien, auch die aus
griechischer Hand, sind darum aus mehreren Gründen proteisch. Einige erfassen
„bloß die Geschichte nach der Flut“,23 andere spekulieren über die Zeit davor,
allerdings ohne auch nur einen Hauch von Wahrheit beanspruchen zu können
(3,16,4; 3,17,5c; 3,18,1–4), immer aber beruhen ihre Angaben auf unzureichenden
oder unzuverlässigen Quellen. Für die insgesamt defizitäre Quellenlage aller bis-
herigen Chronologien sind „Faseleien“24 über die Zeit vor der Flut schlagende

19 Vgl. Punkt „Zuverlässigkeit und Wahrheitsanspruch“, siehe unten.


20 So bereits in Ad Autolycum 2,4,4–5 (Widersprüchlichkeit Kosmologien); 3,2,4a (Nutzlosigkeit
der Paideia); 3,6,2 (Unmoral); 3,7,1–2 (Widersprüche); 3,18,1 und 3,26,3b (Widerspruch und Irrtum
über die Dauer der Flut); 3,29,6b (Platon ist wie einer „der übrigen Lügenschriftsteller“ [ψευδῶς
ἀναγράψαντες, 136,34 M.]).
21 Theophilus, Ad Autolycum 3,16,3a (116,9 M.): Πλάτων δέ, ὁ δοκῶν Ἑλλήνων σοφώτερος
γεγενῆσθαι.
22 Diese vorsichtige Kritik versammelt Theophilos im Schlusskapitel seiner Trilogie zu dem Ver-
dikt, dass „die Griechen von der wahren Geschichte nichts wissen“ (3,30,1a [137,1 M.]: Τῶν δὲ τῆς
ἀληθείας ἱστοριῶν Ἕλληνες οὐ μέμνηνται) und, umnebelt von theologischem Irrtum und mora-
lisch verderbt, „die Weisheit Gottes verloren und die Wahrheit nicht gefunden haben“ (3,30,3c
[137,5 M.]: περὶ θεοῦ μὴ ποιούμενοι τὴν μνείαν).
23 Theophilus, Ad Autolycum 3,23,5a (126,20 M.): τὰ μετὰ κατακλυσμὸν ἱστοροῦντες.
24 Vgl. Theophilus, Ad Autolycum 3,16,3a; 3,17,5a.

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 Die sogenannten Imperatoren in der Weltchronik des Theophilos von Antiochia   95

Beweise. Den evidenten Mängeln aller Chronologien kann nur durch verbürgte
Quellen abgeholfen werden, und dass sie in Redlichkeit ausgewertet werden. En
passant stellt Theophilos in diesen Abschnitten die Wahrheitsliebe der Bildungs-
eliten in Zweifel. Sie alle haben sich dazu hinreißen lassen, entweder unvoll-
ständige Chronologien abzuliefern oder pure Spekulationen als zuverlässige und
plausible Weltgeschichte auszugeben.
Gegenüber der gesamten griechisch-römischen Tradition erkennt nun Theo-
philos in den Zeugnissen der Ordnung, die Gott seiner Schöpfung eingeschrie-
ben hat, die zuverlässige Quelle für eine Weltchronik. Damit knüpft seine Argu-
mentation an die beiden Achsenthemen an, die im ersten Buch erläutert und im
zweiten Buch mit der biblischen Urgeschichte profiliert worden sind: Gott ist der
Schöpfer und der Retter, der in der Ordnung gegenwärtig ist, die er seiner Schöp-
fung gegeben hat. Diese Quelle nennt er „Gesetzgebung Gottes“25. Gemeint ist die
Schrift (3,17,1b; vgl. 3,20,6).26 Mose nämlich, „unser Prophet und Diener Gottes,
erzählt in seiner Geschichte die Erschaffung der Welt, auf welche Weise die Sintflut
auf der Erde eintrat, ferner, welche die näheren Umstände dabei waren“.27 Diese
eminente Position des Mose qualifiziert die Schrift und verleiht ihr als Erkennt-
nisquelle unbedingte Zuverlässigkeit mit einer unüberbietbaren Autorität.28

25 Theophilus, Ad Autolycum 3,17,1a (117,1 M.): τῆς νομοθεσίας τοῦ θεοῦ.


26 Was Theophilos unter „Schrift“ subsumiert, welche Corpora er unterscheidet, ob z.  B. den
sogenannten weisheitlichen Schriften dieselbe argumentative Kraft zugebilligt ist wie dem Pen-
tateuch und den Propheten (vgl. 3,13–14; 3,17; 3,20,6; passim) oder ob gar die Werke, die er unter
dem Titel „Stimme des Evangeliums“ anführt, „Schrift“ oder „Heilige Schrift“ genannt werden,
muss hier offen bleiben; vgl. auch F. R. Prostmeier, Die Jesusüberlieferung bei Theophilos von
Antiochia „An Autolykos“, in: M. Lang (Hg.), Ein neues Geschlecht. Entwicklung des frühchrist-
lichen Selbstbewusstseins (FS Wilhelm Pratscher zum 65. Geburtstag) (NTOA 105), Göttingen
2014, 179–214.
27 Theophilus, Ad Autolycum 3,18,5 (118,11–14 M.; übers. in Anlehnung an ²BKV 14, 93 Leitl):
Ὁ δὲ ἡμέτερος προφήτης καὶ θεράπων τοῦ θεοῦ Μωσῆς περὶ τῆς γενέσεως τοῦ κόσμου ἐξιστορῶν
διηγήσατο τίνι τρόπῳ γεγένηται ὁ κατακλυσμὸς ἐπὶ τῆς γῆς, οὐ μὴν ἀλλὰ καὶ τὰ <μετὰ> τὸν
κατακλυσμὸν ᾧ τρόπῳ γέγονεν.
28 Wenn auch nur in formaler Hinsicht, so scheint für Theophilos doch mit Platon darüber
Konsens zu bestehen, dass eine solche Relationalität Autorität begründet und die Wahrheit der
Erkenntnis garantiert. Der Sachwalter par excellence der griechischen Tradition betont nämlich,
dass das Zutreffende unmöglich zu erkennen ist, „außer wenn es Gott durch sein Gesetz lehrt“
(Ad Autolycum 3,17,1b [117,2–3 M.): ἐὰν μὴ ὁ θεὸς διδάξῃ διὰ τοῦ νόμου.), so dass die „Idee des
Guten erblickt wird“ und „anerkannt“ als „die Ursache alles Richtigen und Schönen“ und „al-
lein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend“ (Platon, Res publica 517b–c: ἐν τῷ
γνωστῷ τελευταία ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα καὶ μόγις ὁρᾶσθαι, ὀφθεῖσα δὲ συλλογιστέα εἶναι ὡς ἄρα
πᾶσι πάντων αὕτη ὀρθῶν τε καὶ καλῶν αἰτία, […] αὐτὴ κυρία ἀλήθειαν καὶ νοῦν παρασχομένη).
Darauf scheint Platon in die Auslegung seines Höhlengleichnisses hinzuweisen (Res publi­

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96   Ferdinand R. Prostmeier

Die Schrift ist indes nicht nur die autoritative Quelle zur Berechnung der Zeit
bis zur Sintflut (3,19,5a.6c), sondern auch für die Anfänge der Menschheits- und
Kulturgeschichte. Nach der Sintflut setzt nämlich mit den Hebräern die urbane
Zivilisation ein (3,20,1a.6), denn als Sklaven haben sie zur Zeit des Pharaos
Tethmosis in Ägypten die ersten Städte erbaut. Daher ist die Kultur der Hebräer
sogar älter als die der Ägypter.29 Weil aber die Hebräer „unsere Voreltern sind“
und wir von ihnen „die heiligen Bücher haben“,30 ist die Schrift, die das Gesetz
Gottes enthält und als Quelle für die Berechnung der Weltzeit dient, „älter als
alle Schriftsteller“.31 Darum muss jede Berechnung „der Zeiten und Zeitläufe“ mit
der Schrift einsetzen und an ihr müssen sich alle weiteren Zeugnisse messen.32
Jede Disharmonie gegenüber der Schrift entlarvt ihre Verfasser, gleich ob es sich
um prominente Schriftsteller und Philosophen handelt oder um Namenlose, als
„armselig, gottlos und töricht“33 und stellt ihre Werke auf eine Stufe mit purer
Phantasie. Hingegen gestattet die Schrift wegen ihrer Herkunft und ihres Alters
die erstrebte akribische und zuverlässige Darstellung der gesamten Weltzeit.
Berechtigten Anspruch auf Wahrheit haben alle aus dieser Quelle gewonnenen

ca 516b.c; 517b), ferner in Res publica 533a, wo er seinem Bruder Glaukon zusagt, „nicht mehr
nur ein Bild dessen, wovon die Rede ist, sehen, sondern die Sache selbst (οὐδ᾽ εἰκόνα ἂν ἔτι
οὗ λέγομεν ἴδοις, ἀλλ᾽ αὐτὸ τὸ ἀληϑές)“. Die „Schau“ der „Idee des Guten“ besitzt daher höhe-
ren Wahrheitswert als jede Belehrung über sie. Diese unverstellte Wirklichkeitserkenntnis, die
eine plötzliche, unvermutete und unmittelbare Erleuchtung darstellt (vgl. Epistula 7,341c6–d2),
gelingt nicht ohne die „Gewöhnung“ (Res publica 516a: συνηθεία) an den von Paideia getrage-
nen diskursiven Erkenntnisprozess. Bei Platon erwächst Gottesschau aus der Paideia. Zu dieser
von Platon keineswegs mythisch aufgefassten Einsicht in die theologische Wahrheit vgl. auch
F. Wagner, Erleuchtung, in: TRE 10 (1982), 164–174 (164–166).
29 En passant wird damit griechisches Bildungswissen aufgerufen, wonach die griechische Kul-
tur jünger ist als die ägyptische (vgl. Ad Autolycum 1,10,1), und sofort als Argument gegen den
Wert griechischer Chronologien verwendet.
30 Vgl. Theophilus, Ad Autolycum 3,20,6b (121,22–23 M.): οἱ καὶ προπάτορες ἡμῶν, ἀφ’ ὧν καὶ τὰς
ἱερὰς βίβλους ἔχομεν. Vgl. auch Ad Autolycum 3,17,4.
31 Theophilus, Ad Autolycum 3,20,6b (121,23–24 M.): ἀρχαιοτέρας οὒσας ἁπάντων <τῶν>
συγγραφέων.
32 In der Weltchronik werden erwähnt: Apollonius (3,16,2; 3,26,3c; 3,29,6b); Platon (3,16,3–4;
3,18,1; 3,26,3b; 3,29,6b); Homer, Hesiod und Orpheus (3,17,2); Seher und Propheten (3,17,3); Mane-
thos (3,21,1; 3,23,1); Hieromos (3,22,2); Menander (3,22,3; 3,23,1); Josephus (3,23,1); Phönizier und
Ägypter (3,23,1); Herodot, Thukydides und Xenophon (3,26,1); Pythagoras (3,26,4a); Chryseros
(3,27,3b); Thallus (3,29,2a); Berosus (3,29,7); Jeremias und Daniel (3,29,8).
33 Vgl. Theophilus, Ad Autolycum 3,18,4 (118,9–10 M.): Ὅτι μὲν οὖν ἄθλιοι, καὶ πάνυ δυσσεβεῖς,
καὶ ἀνόητοι εὑρίσκονται οἱ τὰ τοιαῦτα συγγράψαντες, καὶ φιλοσοφήσαντες ματαίως. Das Attri-
but ἄϑλιος ist von Ad Autolycum 1,1,1 her ein Etikett der auf eitlem Selbstruhm bedachten Konzer-
tredner, deren Wahrheitsliebe konstitutionell mehr als nur in Zweifel steht.

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 Die sogenannten Imperatoren in der Weltchronik des Theophilos von Antiochia   97

Berechnungen allerdings nur, wenn dem Ethos des Wahrheitsliebenden Genüge


getan ist (3,17,5a; 3,23,7a). Dieser Anspruch ist für Theophilos Gebot. Darum
unterstellt er in einer Art Selbstverpflichtung seine chronographischen Anstren-
gungen wiederholt der Hilfe Gottes.34

3 Zeiten und Zeitläufe


Auf der Grundlage dessen, was Mose „über die Schöpfung und Entstehung der
Welt, des ersten Menschen und die folgenden Ereignisse erzählt“, will Theophi-
los die gesamte Weltzeit nicht nur seit der Sintflut, sondern auch die Jahre, „die
vor der Sintflut verflossen sind“35, berechnen. Für diese Berechnung gliedert er
die Weltgeschichte in zwei große Abschnitte. Für beide Weltzeitalter will Theophi-
los zeigen, dass sich bei exakter Auswertung der biblischen Quellen „der ganze
Verlauf der Zeit und der Jahre darlegen lässt“,36 und zwar präziser als es allen
Schriftstellern, Dichter und Chronisten möglich war.37 Anhand von Geschlechts-

34 Vgl. ϑεοῦ παρέχοντος in Ad Autolycum 3,16,1 und 3,23,5a.


35 Theophilus, Ad Autolycum 3,23,6 (126,24–27 M.): Εἰπὼν γὰρ τὰ περὶ κτίσεως <τοῦ> κόσμου
καὶ γενέσεως τοῦ πρωτοπλάστου ἀνθρώπου καὶ [τὰ] τῶν ἑξῆς γεγενημένων, ἐσήμανεν καὶ τὰ πρὸ
κατακλυσμοῦ ἔτη γενόμενα.
36 Theophilus, Ad Autolycum 3,26,4b (131,22 M.): ὁ πᾶς χρόνος καὶ τὰ ἔτη δείκνυται τοῖς
βουλομένοις πείθεσθαι. Im Anschluss an die Auslegung der Paradies- und der Sündenfallge-
schichte nach Gen 2,7–3,21 in Ad Autolycum 2,22–28 verfolgen die Kapitel 2,29–30 die Urgeschich-
te bis zur Geburt des Set (vgl. Gen 4,25–5,5). Die Geschichte über Noe und die Sintflut (Gen 6,1–
9,26) ist sodann der Subtext für die Erzählung in 2,31 über die ältesten Stadtgründungen und die
ersten Könige. Ad Autolycum 2,31,15c (83,69–70 M.) zufolge sind diese Gründungsnotizen sowie
die dynastischen Angaben „im Hinblick auf unsere Literatur durchaus so ziemlich neu“ / καίπερ
ταῦτα, ὡς πρὸς τὰ ἡμέτερα γράμματα, πάνυ νεώτερά ἐστιν. Theophilos holt damit nach, was
er in seinem Geschichtswerk „übergangen hat“ (2,31,3b; vgl. 2,30,10). Im ersten Band seines
Geschichtswerks können „Wissbegierige“ allerdings die Genealogien nachschlagen (2,30,7.10;
2,31,3a). Die Weltchronik in 3,16–29 scheint Angaben sowohl dieses verschollenen Geschichts-
werks vorauszusetzen als auch Sequenzen aus der biblischen Paradiesgeschichte bis zur Sintflut-
geschichte sowie der Mosegeschichte mit Exodus bis zum Salomonischen Tempel (2,19–31). Dar-
aus erklärt sich, dass z.  B. die Lebensalterangaben für Adam (Gen 5,3–5; Ad Autolycum 3,24,1) und
seine Nachkommen bis Noe nur partiell mit den Altersangaben in Gen 5,1–32 übereinstimmen.
37 Theophilos hat dafür eine nur vordergründig überzeugende Erklärung parat, die an
1 Kor 1,18–23 erinnert: Die Sachwalter der griechischen Tradition hätten „das Wahre sagen kön-
nen, da sie viel später lebten.“ Die Christen hingegen „werden vom Hl. Geist belehrt, der in den
Hl. Propheten gesprochen und alles vorherverkündet hat“ (Ad Autolycum 2,33 [85,1–3.12–14 M.]:
Τίς οὖν πρὸς ταῦτα ἴσχυσεν τῶν καλουμένων σοφῶν καὶ ποιητῶν <καὶ> ἱστοριογράφων τὸ ἀληθὲς

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98   Ferdinand R. Prostmeier

registern (3,24,1–25,2) „von dem ersten Menschen an“38 sowie mittels Herrscherta-
bellen (3,20,1–5; 3,22,3–6; 3,27,4–5) und Personalnotizen (3,23,4–5)39 errechnet
Theophilos die Weltzeit auf „insgesamt 5695 Jahre.“40 Die Epoche zwischen den
beiden Weltzeiten wird allerdings nicht wie in fast allen Chronologien durch das
Ende der Sintflut markiert. Das erste Weltzeitalter reicht bei Theophilos vielmehr
von der Erschaffung der Welt und dem ersten Menschen bis zum Fall Babylons
im Jahr 539 v. Chr. unter dem Achämeniden Kyros dem Großen (reg. 559–530),
und dem Ende des Exils (3,24–25).41 An dieser Nahtstelle treffen die offenere Reli-
gionspolitik der Perser gegenüber Fremdkulten sowie die Ausweitung ihrer geo-
politischen und ökonomischen Interessen auf den mediterranen Raum auf die
politischen Interessen des aufstrebenden Rom. Die zweite Weltzeit ist folglich
die Ära Roms. Sie beginnt mit der mythischen Gründung der Tiberstadt durch
Romulus und setzt sich fort in der römischen Königszeit und Republik. Beide
Zeitabschnitte der römischen Geschichte scheinen indes nur die Vorgeschichte zu
sein, die auf die Gegenwart der Kaiserzeit zu führt. Der „Tod des Kaisers Verus“,42

εἰπεῖν, πολὺ μεταγενεστέρων αὐτῶν γεγενημένων […] οἵτινες ὑπὸ πνεύματος ἁγίου διδασκόμεθα,
τοῦ λαλήσαντος ἐν τοῖς ἁγίοις προφήταις καὶ τὰ πάντα προκαταγγέλλοντος.)
38 Theophilus, Ad Autolycum 3,23,7b (126,31 M.): ἀπὸ τοῦ πρωτοπλάστου ἀνθρώπου τὴν ἀρχὴν
ποιησάμενος.
39 Vgl. Anm. 11. Ad Autolycum 3,23,3–4 enthält zwei Synchronismen. In V. 3 wird Solon in
Relation zur Regierungszeit Kyros und Darius sowie dem Propheten Zacharius datiert und in
V 4 werden Lykurgos, Drakon und Minos dadurch zeitlich eingeordnet, dass sie in Relation zur
Regentschaft des Zeus über Kreta und dem Ilischen Krieg gestellt werden. Skopus der beiden
Datierungen ist es, das höhere Alter der Schrift zu illustrieren.
40 Vgl. Theophilus, Ad Autolycum 3,28,7a (134,11 M.): τὰ πάντα ἔτη ͵εχϟεʹ; vgl. 3,29,6c.
41 Die beinahe glorifizierende jüdische Deutung der Religionspolitik des Kyros (vgl. 2 Chr 36,2–3;
Esra 1,1–3; Jes 44,24–45,1), speziell die angebliche Erlaubnis für die judäischen Exulanten, sich
in Jerusalem niederzulassen und dort einen Tempel zu errichten (vgl. Ad Autolycum 3,25,4b–5a),
ist womöglich durch das idealisierende Kyrosbild der griechischen Überlieferung (vgl. Aeschy-
lus, Persae 472; 768–772; Aristoteles, Athenaion politeia 5,8; 5,15; Xenophon, Institutio Cyri) ange-
regt worden; vgl. H. Cancik, Kyros, in: DNP 6 (2003), 1015.
42 Mit „Verus“ ist Kaiser Marc Aurel (7. März 161 bis 17. März 180) gemeint, der von Geburt Ca­
tilius Severus hieß und seit der Adoption durch Antoninus Pius (10. Juli 138 bis 7. März 161) am
25. Februar 138 den Namen Marcus Aelius Aurelius Verus trug (Näheres vgl. Kienast [wie Anm. 11],
137; K. Christ, Geschichte der römischen Kaiserzeit. Von Augustus bis zu Konstantin, München
³1995, 332–345). Seit seiner Erhebung zum Kaiser wurde er Imp. Caes. M. Aurelius Antoninus Aug.,
Pontifex Maximus genannt. Am selben Tag erhob Marc Aurel den Lucius Ceionius Commodus, der
seit Mitte 136 als sein Adoptivbruder den Namen Lucius Aelius Commodus trug, zum Mitkaiser
(7. März 161 bis Anfang 169) unter dem Namen Imp. Caes. Lucius Aurelius Verus Aug., Pontifex

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 Die sogenannten Imperatoren in der Weltchronik des Theophilos von Antiochia   99

der erst kurze Zeit verstrichen scheint,43 markiert den Schluss der Weltchronik.
Die sehr präzisen Angaben zu den Regentschaftszeiten der Augusti signalisieren,
dass das Hauptinteresse der Kaiserzeit gilt.

4 Zuverlässigkeit und Wahrheitsanspruch


Theophilos demonstriert die Zuverlässigkeit auf mehrfache Weise. 1. Seine chro-
nologischen Angaben sind umso genauer, je näher sie seiner Gegenwart sind. In
der Zeittafel am Schluss der Chronologie weist er für die vier Abschnitte „von der
Erschaffung der Welt […] bis zum Tod unseres Stammvaters David 498 Jahre“44
aus. Der folgende Zeitabschnitt „bis zum babylonischen Exil umfasst 518 Jahre
6 Monate 10 Tage“45 und „von der Herrschaft des Kyros bis zum Tode des Impe-
rators Aurelius 741 Jahre.“46 Die genauesten Angaben liegen in der Liste mit den

(vgl. Cassius Dio, Historia Romana 71,1; Näheres vgl. Kienast [wie Anm. 11], 143–144; K. Rosen,
Marc Aurel und Lucius Verus, in: M. Clauss, Die römischen Kaiser, München ²2001, 145–158),
nicht zu verwechseln mit Lucius Aelius Commodus (17. März 180 bis 31. Dezember 192), dem Sohn
und Nachfolger von Marc Aurel (vgl. Kienast [wie Anm. 11], 147–151; M. Stahl, Commodus, in:
M. Clauss, Die römischen Kaiser, München ²2001, 159–169). Die Bezeichnungen Οὐῆρος in Ad
Autolycum 3,27,5–6 und Οὐήρου αὐτοκράτορος in 3,28,6 könnten irrtümlich auf Imp. Caes. Lu­
cius Aurelius Verus Aug. gedeutet werden, weil erstens L. Aurelius Verus seit dem Frühjahr 162
„Profectio in den Osten“ war und sich bis 166 in Syrien aufhielt (vgl. Cassius Dio, Historia Roma­
na 71,1,2b–71,3a) und zweitens beide Augusti als αὐτοκράτωρ bezeichnet wurden. Lediglich die
Angabe über die Dauer der Regentschaft (Ad Autolycum 3,27,5), nämlich „19 Jahre, 10 Tage“ (ἔτη
ιϑ΄, ἡμέρας ι΄), und die Berechnung der Ära der römischen Kaiser (Ad Autolycum 3,27,6; 3,28,6) er-
laubt die sichere Deutung des Namens Οὐῆρος auf Kaiser Marc Aurel. Flankierend kommt hinzu,
dass Justin seine Apologie und Petition an Antonius Pius καὶ Οὐηρισσίμῳ υἱῷ φιλοσόφῳ (1 Apo­
logia 1,2) richtet, womit zweifelsfrei Marc Aurel gemeint ist.
43 Diese Annahme ergibt sich aus den historisch zuverlässigen Angaben über die Regierungs-
zeiten der Kaiser bis Marc Aurel und dem Fehlen jedes Hinweises auf Commodus (17. März 180
bis 31. Dezember 192) oder auf Vorgänge während seiner Herrschaft. Deshalb neigt man dazu, die
Trilogie auf die Jahre 180 bis 182 zu datieren.
44 Theophilus, Ad Autolycum 3,28 (134,2.6–7 M.): Ἀπὸ δὲ καταβολῆς κόσμου […] μέχρι τελευτῆς
Δαυίδ, τοῦ πατριάρχου <ἡμῶν>, ἔτη υϟη’.
45 Theophilus, Ad Autolycum 3,28,5 (134,7–8 M.): […] μέχρι τῆς παροικίας τοῦ λαοῦ ἐν γῇ
Βαβυλῶνος ἔτη φιη’, μῆνες ς’, ἡμέραι ι’.
46 Theophilus, Ad Autolycum 3,28,6 (134,8–10 M.): Ἀπὸ δὲ τῆς Κύρου ἀρχὴς μέχρι<ς> αὐτο-
κράτορος Αὐρηλίου Οὐήρου τελευτῆς ἔτη ψμα’.

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100   Ferdinand R. Prostmeier

Herrschaftszeiten der römischen Kaiser vor. 2. Die bis zum Tod des Mose notierten
und addierten Lebensalterangaben werden ab der Landnahme abgelöst durch
Regentschaftszeiten. Das geschieht zuerst für Josua (Ad Autolycum 3,24,3d),
dann für die Richter- und Königszeit (3,24,4–25,2) sowie für das Exil (3,25,4–5)
und schließlich für die Regenten im sechsten Weltzeitalter, der Herrschaft Roms
(3,27).47 3. Zwischen- und Schlussbemerkungen zu kalendarischen Berechnun-
gen und Relationen bekräftigen den Anspruch auf Genauigkeit. Die Quellen
des Theophilos lassen nicht nur genaue Zeitangaben zu,48 sondern erlauben es
auch, die näheren Umstände anzugeben.49 Die Detailkenntnis dient, unabhängig
davon, ob sie tatsächlich oder vorgeblich ist, nicht nur der Ethopoiie. Sie ist vor
allem flankierendes Argument für die Zuverlässigkeit der „Zeiten und Zeitläufe“.
Diese Angaben sind subtile Inszenierungen, die Versiertheit in verschiedensten
Traditionen andeuten, um Theophilos als gebildet und weltläufig erscheinen
lassen. So soll die Synchronisierung des Todesjahres von Kyros mit der Olym-
piadenzählung50 die Zuverlässigkeit seiner Berechnung der Herrschaftszeit des
Großkönigs bestätigen. Die Koinzidenz beider Datierungen belegt beispielhaft
die Zuverlässigkeit biblischer Zeitangaben und zeigt den Kenntnisreichtum
von Theophilos. Sowohl der Zuverlässigkeit als auch der Ethopoiie dienen die
Datierung der mythischen Gründung Roms in die siebte Olympiade (752–548)51

47 Von diesem Wechsel gibt es in dem Abschnitt, der der eigentlichen Weltchronik (Ad Autoly­
cum 3,24–27) vorgeschaltet ist, nämlich der Zeitabschnitt vom Exodus bis zum Bau des Salomo-
nischen Tempels, zwei Abweichungen: Zum einen die von Manethos erstellte Pharaonenliste
(3,20,1–5) aus dem Übergang von der 18. zur 19. Dynastie des „Neuen Reiches“, zum anderen eine
Regentenliste für das Königreich der Tyrrhener – womit die Etrusker gemeint sein werden –, in
der sowohl Lebens- als auch Herrschaftszeiten notiert sind. Beide Listen sind wohl aus Josephus,
Contra Apionem 1,94–103 und 1,106–127 übernommen; vgl. J. G. Müller, Des Flavius Josephus
Schrift gegen den Apion, Hildesheim 1969, 30.126.136–139; F. Siegert, Über die Ursprünglichkeit
des Judentums (Contra Apionem), Göttingen 2008, 1,34–36.70.114–123; 2,41–47.
48 Vgl. Theophilus, Ad Autolycum 3,16,1a: ἀκριβέστερον; 3,17,1 τὸ ἀκριβὲς; und pejorativ gegen-
über paganen Quellen: Ad Autolycum 3,21,1 (122,1–4 M.): Μαναιϑὼς […] οὐχ εὗρεν τὸ ἀκριβὲς τῶν
χρόνων εἰπεῖν; 3,21,4a (123,12 M.): Περὶ δὲ τοῦ πεπλανῆσθαι τὸν Μαναιθῶ περὶ τῶν χρόνων.
49 Vgl. Theophilus, Ad Autolycum 3,18,5a (118,12–14 M.): τίνι τρόπῳ γεγένηται und ᾧ τρόπῳ
γέγονεν.
50 Vgl. Theophilus, Ad Autolycum 3,27,1a (132,2 M.): τότε οὔσης Ὀλυμπιάδος ἑξηκοστῆς δευτέρας.
51 Nach varronischer Zeitrechnung datiert Roms Gründung auf den 21. April 753 v. Chr., nach
der von Cato begründeten capitolinischen Berechnung auf das erste Jahr der siebten Olympiade,
vgl. C. Colpe, Hintergründe der christlichen Zeitrechnung. Theologischer Begriff und politische
Absicht im Kalender des Dionysius Exiguus, in: BThZ 16 (1999), 232–357; P. Christesen, Olympic
Victor Lists and Ancient Greek History, Cambridge 2007; J. Rüpke, Kalender und Öffentlichkeit.

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 Die sogenannten Imperatoren in der Weltchronik des Theophilos von Antiochia   101

sowie der scheinbare Umrechnungshinweis, dass „das Jahr damals zehn Monate
zählte.“52 Mit dieser Notiz ist entweder auf das romuleische Zehnmonatsjahr
angespielt, mit dem antike Historiker die einzelnen Kalenderjahre des römischen
Kalenders in der Königszeit des sagenhaften Romulus bezeichneten, oder auf das
von den Etruskern benutzte Mondjahr Bezug genommen, das für zehn Monate
295 bis 296 Tage zählte und das in den römischen Kalender für den Zeitraum
von Januar bis Oktober eingegangen sein wird. Der Skopus dieser Notiz über das
Zehnmonatsjahr ist kaum darin zu sehen, dem Leser eine Umrechnungsformel
in die Hand zu geben. Vielmehr will sich Theophilos als Gebildeter zu erkennen
geben. Zugleich zeigen alle bekannten Chronologien schon durch ihre unverein-
baren Widersprüchlichkeiten, dass sie nicht zuverlässig sein können. Derselben
Intention sind die Tabelle der sechs Weltzeiten (Ad Autolycum 3,28,1–7a) und die
Schlussbemerkung zu allen Berechnungen verpflichtet. Die Klausel „und die
nebenherlaufenden Monate und Tage“53 bedeutet keineswegs eine Relativierung,
sondern sie bekräftigt den Anspruch auf überbietende Präzision, und zwar auf-
grund der zuverlässigen Quellen.
Der Wahrheitsanspruch der Chronologie beruht indes nicht nur auf der
Zuverlässigkeit der Quellen und ihrer versierten Auswertung. Grundbedingung
ist die Integrität des Wahrheitssuchenden und die Beachtung von zwei Prinzi-
pien zur Wahrheitsfindung. Für den ersten Gesichtspunkt ist in Ad Autolycum
3,17,5 mittels des Wortspiels φιλομαθεῖς – φιλαληθεῖς das Ideal des Wahrheits-
liebenden aus Ad Autolycum 1,1,1–2a aufgerufen. Die beiden Prinzipien sind zum
einen die überlieferte oder durch Erfahrung bestätigte Kohärenz zwischen Vor-
hersage von Ereignissen und ihrem Eintreten. Hierdurch wird die Zuverlässigkeit
der eigenen Quellen für die gesamte Weltgeschichte und somit auch für die Zeit
vor der Sintflut beansprucht. Zum anderen beruft sich Theophilos auf pagane
Quellen. Je nach Bedarf macht er sich diese zu eigen54 oder er bedient sich ihrer,
um die Unzuverlässigkeit außerbiblischer Quellen aufzudecken.

Die Geschichte der Repräsentation und religiösen Qualifikation von Zeit in Rom (RVV 40), Berlin
1995, 201; A. Wolkenhauer, Sonne und Mond, Kalender und Uhr. Studien zur Darstellung und
poetischen Reflexion der Zeitordnung in der römischen Literatur (UALG 103), Berlin 2010.
52 Theophilus, Ad Autolycum 3,27,1 (132,5–6 M.): τοῦ ἐνιαυτοῦ τότε δεκαμήνου ἀριθμουμένου.
53 Theophilus, Ad Autolycum 3,28,7b (134,11–12 M.): καὶ οἱ ἐπιτρέχοντες μῆνες καὶ ἡμέραι.
54 In Theophilus, Ad Autolycum 3,19,1 wird referiert, dass nach den biblischen Quellen eine
zweite Sintflut weder geschehen noch angekündigt ist. Ersteres belege auch die Erinnerung und
letzteres stehe auch in keiner anderen Quelle.

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102   Ferdinand R. Prostmeier

5 Auffälligkeiten und Leerstellen der Weltchronik


An diesem Abriss55 der Weltgeschichte56 „von der Erschaffung der Welt […] bis zum
Tod des Imperators Aurelius Verus“57 ist zweierlei auffällig: Die erste Auffälligkeit
ist die Deutung des Aufstiegs Roms zur Weltmacht. Die Epoche in Theophilosʼ
Chronologie, nämlich das Ende des Babylonischen Exils, passt zwar formal zur
Aufteilung in Vergils Aeneis in eine odysseische und eine iliadische Hälfte, die
auf die Gründung Roms hinführt, und sie fügt sich auch, wenn nicht zur tatsäch-
lichen, so doch zur perspektivischen Verlagerung des kulturellen und politischen
Zentrums der mediterranen Welt vom Osten in den Westen. Doch anders als Roms
imperiales Gründungsepos erzählt, „wurden die Römer allmählich groß, indem
Gott ihnen Macht verlieh.“58 Roms Größe und Herrschaft gründen nicht auf der
Abstammung von Aeneas, dem Sohn der Aphrodite aus trojanischem Geschlecht,
sondern sind allein von Gott verfügt. Darauf, nicht aber auf Roms vermeintlicher
Bestimmung, durch römisches Recht der Welt Frieden zu bringen,59 beruht die
Legitimation von Roms Herrschaft. Gottes Verfügung zugunsten von Rom ist
zugleich die Norm jener staatlichen Autorität.
Diese geschichtstheologische Romkritik wird in Ad Autolycum 3,27,1c durch
zwei sich ergänzende Hinweise bekräftigt. Zuerst wird Roms imperiales Selbst-
bild, dazu bestimmt zu sein, über die Welt zu triumphieren, mit der Romulus-
legende konfrontiert. Die Geschichte Roms, die mit einem Brudermord beginnt,

55 In Theophilus, Ad Autolycum 3,23,5a nennt er seine Weltchronik ἀπόδειξις τῶν καιρῶν καὶ
χρόνων (126,19 M.) und in 3,23,7a nennt er sie ἐντυγχάνων (126,29 M.). Letzterem zufolge wäre die
Weltchronik nicht nur allgemein als „Schrift“ aufzufassen, sondern als „Petition“ (vgl. Liddell/
Scott 578). Doch ist Autolykos nicht in der Position, um Adressat einer Petition zu sein. Sollte
dennoch diese speziellere Bedeutung vorliegen, dann würde Theophilos sich hier Ironie gönnen.
Zugunsten dieser Interpretation spricht freilich der Wandel des Kommunikationsverhältnisses
zwischen Gleichen zu Anfang der Trilogie hin zur Schülerrolle des Autolykos im dritten Buch.
56 Der Plural τά in Ad Autolycum 3,16,1a (116,1–2 M.: θέλω δέ σοι καὶ τὰ τῶν χρόνων ϑεοῦ
παρέχοντος, νῦν ἀκριβέστερον ἐπιδεῖξαι […]) könnte auf 3,15,6a (115,17–18 M.: Πολλὰ μὲν οὖν
ἔχοντες λέγειν περὶ τῆς καϑ᾿ ἡμᾶς πολιτείας, καὶ τῶν δικαιωμάτων τοῦ ϑεοῦ, καὶ δημιουργοῦ
πάσης κτίσεως) zurückweisen. Ad Autolycum 3,16,1a zufolge gibt es „Rechtssatzungen Gottes
und des Urhebers der Schöpfung“ bezüglich der Zeiten (τῶν χρόνων), und nun beabsichtigt
Theophilos, diese „akribisch darzustellen.“
57 Vgl. Theophilus, Ad Autolycum 3,28,1a.6b (134,1.7 M.): Ἀπὸ δὲ καταβολῆς κόσμου […] μέχρι
αὐτοκράτορος Αὐρηλίου Οὐήρου.
58 Theophilus, Ad Autolycum 3,27,1b (132,2–3 M.): ἔκτοτε ἤδη οἱ Ῥωμαῖοι ἐμεγαλύνοντο τοῦ
Θεοῦ κρατύνοντος αὐτούς.
59 Vgl. Vergil, Aeneis 6,851; zum imperialen Selbstbild vgl. W. Dahlheim, Geschichte der römi-
schen Kaiserzeit, München ³2003, 1–30.

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 Die sogenannten Imperatoren in der Weltchronik des Theophilos von Antiochia   103

wird hierdurch von Roms imperialem Selbstbild abgehoben. Vor dem Hintergrund
der präzisen Datierung des Endes des Babylonischen Exils als epochales Ereignis
(3,25,3–5; 3,27,1a), auf das die Ära Roms folgt, wird durch das aus römischer Tra-
dition bestätigte Gründungsdatum (3,27,1c) evident, dass diese Gründung nichts
Anderes war als ein geschichtliches Ereignis.60 Vergils Glorifizierung des imperi-
alen Roms, worauf alle Geschichte zustrebt, ist aus Roms alter Tradition über ihre
Gründung gerade nicht zu ersehen. Sollte also Vergils Bild von Rom als imperium
sine fine61 zutreffend sein – und unter Marc Aurel konnte man wohl diese goldene
Zuversicht noch einmal so wie unter Octavian hegen –, dann offenkundig nur
deshalb, weil Gott den Römern die Macht dazu verliehen hat. Das kann man dann
sogar durch Vergil bestätigt finden, schließlich lässt er Juppiter sagen: rex Iuppi­
ter omnibus idem. fata viam invenient.62 Weil Roms Gründung und Aufstieg nicht
in der Götterversammlung beschlossen oder gar von Juppiter verfügt worden ist,
vielmehr die Römer ihre Stellung in der Welt peu à peu errungen haben, ist also
das Gründungsepos durchaus ambivalent: Zum einen unterstreicht es das augus-
teische Selbstbild, dass Rom diese Herrschaft sich selbst zu verdanken hat und
es Roms Auftrag ist, die Welt zu beherrschen. Zum anderen erscheint nun die
Deutung und Restriktion weltlicher Macht in Ad Autolycum 3,27,1b.c, dass „die
Römer allmählich groß wurden, indem Gott ihnen Macht verlieh“,63 mehr als
zutreffend. Wenn aber Roms Macht letztlich auf dem Willen Gottes gründet, dann
untersteht das Imperium Romanum der Ordnung, die Gott seiner Schöpfung
eingeschrieben hat. Wie die staatliche Ordnung, so sind alle Repräsentanten
und Institutionen des Staates dieser der Schöpfung innewohnenden und daher
unverfügbaren Ordnung64 verpflichtet. Sie haben ihre Macht nicht aus sich selbst,
weder qua Herkunft, noch qua Amt, sondern sie ist ihnen von Gott verliehen. Mit
dieser Position schreibt sich Theophilos en passant in die Traditionen über das

60 Theophilus, Ad Autolcyum 3,27,1c (132,3–6 M.): ἐκτισμένης τῆς Ῥώμης ὑπὸ Ῥωμύλου, τοῦ
παιδὸς ἱστορουμένου Ἄρεως καὶ Ἰλίας, Ὀλυμπιάδι ζ’, τῇ πρὸ ι’ καὶ α’ Καλανδῶν Μαΐων, τοῦ
ἐνιαυτοῦ τότε δεκαμήνου ἀριθμουμένου. / „Rom aber war gegründet von Romulus, dem Sohn
des Ares und der Ilia, wie erzählt wird, in der 7. Olympiade, am 15. Mai; das Jahr zählte damals
10 Monate.“
61 Vergil, Aeneis 1,279.
62 Vergil, Aeneis 10,112.
63 Theophilus, Ad Autolycum 3,27,1b (132,2–3 M.): ἔκτοτε ἤδη οἱ Ῥωμαῖοι ἐμεγαλύνοντο τοῦ θεοῦ
κρατύνοντος αὐτούς.
64 Theophilos setzt in seiner Weltchronik voraus, dass Gebildete wie Autolykos diese Relativie-
rung jeder staatlichen Ordnung als zwingende Konsequenz aus der in den ersten beiden Büchern
gewonnenen Vorstellung von Gott als Schöpfer und Retter erkennen; vgl. Ad Autolycum 1,4–7,
insbesondere den Lobpreis in Ad Autolycum 1,7,1 auf Gott, den lebensstiftenden Schöpfer und
allgegenwärtigen Weltherrn.

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104   Ferdinand R. Prostmeier

Spannungsverhältnis zwischen Loyalität und Ablehnung gegenüber dem Staat


ein, die christlicherseits in Röm 13,1–7, in 1 Petr 2,11–12, Offb 13,1–10 oder auch in
Logien wie Mk 12,17 parr. die ältesten Zeugnisse besitzt und die von ihm in Ad
Autolycum 1,11–12 ausgeführt worden ist.
Die zweite Auffälligkeit ist das Schweigen über Vorgänge, die entweder Welt-
geschichte geschrieben haben, während Rom erste Schritte auf dem Weg zur
mediterranen Weltmacht setzte, oder deren Erwähnung in einer christlichen
Weltchronik zu erwarten sind. Theophilos schweigt über die Eroberungen durch
Alexander und über die Hellenisierung der mediterranen Welt. Für eine „Einfüh-
rung ins Christentum für Eliten“ noch erstaunlicher ist, dass die Geschichte des
Judentums fehlt. Das ist angesichts der Auseinandersetzungen schon unter pto-
lemäischer Oberhoheit, sodann der Aufstandsbewegung gegen die Seleukiden
und vor allem des jüdisch-römischen Krieges und der antirömischen Aufstände
in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts sehr verwunderlich, zumal Theophilos
die Werke von Flavius Josephus kennt und deren Kenntnis auch bei den Lesern
seiner Weltchronik vorauszusetzen scheint.
Der Grund für diese auffälligen Leerstellen ist ein auf das Christentum zen-
triertes Offenbarungsverständnis. Ad Autolycum 3,9,6a.b zufolge hat Mose „das
göttliche Gesetz“ der „ganzen Welt im Allgemeinen“ vermittelt. Darin ist er „der
Diener Gottes“. In dieser Funktion ist Mose auch „Vermittler dieses göttlichen
Gesetzes“ an „die Hebräer, auch Juden genannt.“65 Dasselbe gilt von der prophe-
tischen Tradition. Der jesajanische Umkehrruf ist zwar „im allgemeinen zu allen
Menschen, ausdrücklich aber zu diesem Volk“66 gesprochen. Ziel der Argumen-
tation in Ad Autolycum 3,11,1–7 ist es, die „Heilige Schrift“67 als an das „ganze
Menschengeschlecht“ gerichtet zu erkennen zu geben, denn in der Schrift finden
sich „unzählige Stellen über die Buße“68 sowie über die Zuwendung Gottes zu
allen Menschen. Der Skopus dieser Universalisierung der Schrift ist freilich, die
unbedingte Gültigkeit der Schrift als Quelle der Wahrheitsfindung aus der Schrift
selbst zu belegen.
Eine Geschichte des Judentums, die mit dem Ende des Babylonischen Exils
einzusetzen hätte, scheint aus Sicht des Theophilos aus vier Gründen nicht

65 Theophilus, Ad Autolycum 3,9,6a (110,24–26 M.): Τούτου μὲν οὖν τοῦ θείου νόμου διάκονος
γεγένηται Μωϋσῆς, ὁ καὶ θεράπων τοῦ θεοῦ, παντὶ μὲν τῷ κόσμῳ, παντελῶς δὲ τοῖς Ἑβραίοις
(τοῖς καὶ Ἰουδαίοις καλουμένοις).
66 Theophilus, Ad Autolycum 3,11,3a (111,9–10 M.): Περὶ μὲν οὖν τῆς μετανοίας Ἠσαΐας ὁ
προφήτης κοινῶς μὲν πρὸς πάντας, διαρρήδην δὲ πρὸς τὸν λαὸν λέγει.
67 Vgl. dazu Anm. 18.
68 Theophilus, Ad Autolycum 3,11,7 (111,26 M.): Πολλὰ μὲν οὖν, μᾶλλον δὲ ἀναρίθμητά ἐστιν τὰ
ἐν ταῖς ἁγίαις γραφαῖς εἰρημένα περὶ μετανοίας.

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 Die sogenannten Imperatoren in der Weltchronik des Theophilos von Antiochia   105

zweckdienlich zu sein. 1. Die Juden sind Hebräer, und die Hebräer sind – aus der
Perspektive des Theophilos – ohnehin älter als die Ägypter. Daher würde eine
Judentumsgeschichte die Gefahr bergen, das Anciennitätsargument zu torpedie-
ren. 2. Die Schrift ist nicht exklusiv für die Hebräer. Gott bekundet sich in ihr
vielmehr allen Menschen und beansprucht sie. 3. Die Geschichte des Judentums
ist aus der weltgeschichtlichen Perspektive des Theophilos und damit für die
doxologisch-apologetische Zielsetzung nur eine nationale Kultgeschichte, die
die universale Gültigkeit und die Zuverlässigkeit der Schrift als Quelle einer Welt-
chronik zwar partiell illustrieren könnte, aber selbst keine epochalen Ereignisse
beinhaltet. 4. Theophilos will durch den unmittelbaren Anschluss der römischen
Geschichte an das Babylonische Exil jede Erinnerung an die Konfliktgeschichte
eliminieren, die das Judentum und das aus ihm erwachsene Christentum mit den
Diadochen und mit Rom hatte. Nur so kann Theophilos die Argumentation des
Philon von Alexandria adaptieren,69 dass „wir“, sobald Roms Aufstieg begonnen
hat, stets die „besseren“ Römer waren.
Wie aus der Geschichte des Judentums kein unstrittiges weltgeschichtliches
Datum zu gewinnen ist, so ist für den Erweis der theologischen Wahrheit auch
nicht entscheidend, dass das Christentum in nachaugusteischer Zeit als eine
marginalisierte jüdische Bewegung im Osten der mediterranen Welt aufkommt.
Weder aus den Vorgängen in Galiläa und Judäa rund 150 Jahre bevor Theophilos
seine Weltchronik schreibt noch aus dem Missionserfolg und der faktischen Aus-
breitung des Christentums lassen sich relevante und überzeugende Daten für die
Berechnung weltgeschichtlich prägender Zeiten und Zeitläufe gewinnen. Daran
wird deutlich, dass Theophilos das Christentum nicht aus einer ekklesialen Bin-
nenperspektive als epochales Ereignis profiliert, wie es der lukanische Synchro-
nismus versucht. Das Ziel seiner gesamten Weltchronik besteht vielmehr darin,
dass auch aus ihr „die Göttlichkeit unserer Lehre ersehen“70 wird. Diese primär
doxologische Intention korrespondiert mit einem apologetischen Zweck. Wie
nämlich die Schrift über die von Gott der Schöpfung eingestiftete Ordnung Aus-
kunft gibt, so dass auch anhand von Zeiten und Zeitläufen, die mittels der Schrift
und den mit ihr übereinstimmenden Quellen genau zu berechnen sind, die theo-
logische Wahrheit über Gott, den Schöpfer und Retter, ersehen werden kann, so
wird im christlichen Selbstverständnis und Selbstvollzug (vgl. 1,1.3.7.11–14) die
Harmonie mit der durch Gott seiner Schöpfung eingeschriebenen Ordnung offen-

69 Im Zentrum steht für Philon das Problem der doppelten Loyalität; Näheres vgl. F. R. Prostmei-
er, Handlungsmodelle im ersten Petrusbrief (fzb 63), Würzburg 1990, 295–299.
70 Theophilus, Ad Autolycum 3,29,1a (135,2–3 M.): ὁρᾶν ἔστιν […] τὴν θειότητα τοῦ παρ’ ἡμῖν
λόγου.

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bar. Das Christentum ist also nicht nur der Skopus der Weltchronik; die Weltord-
nung weist vielmehr auf das Christentum selbst.

6 Kritik am imperatorischen Anspruch


Roms Aufstieg zur Weltmacht sowie die Rechtmäßigkeit seines imperialen
Anspruchs erklären sich nicht aus seinen Gründungslegenden, denn „die Römer
wurden groß, indem Gott ihnen Macht verlieh“ (3,27,1b).71 Theophilos zieht mit
diesem Diktum theologische Linien aus, die er in den vorausgehenden beiden
Büchern und den ersten fünfzehn Kapiteln des dritten Buches entwickelt hat,
und wendet sie nun – nochmals – auf das Verhältnis zwischen Christentum und
Staat an, um damit Roms Anfänge von allem Numinosen zu entzaubern. Die
distanzierte Haltung gegenüber den Ansprüchen Roms ist eine Konsequenz aus
seinen Darlegungen über die theologischen Achsenthemen. Fast holzschnittar-
tig zeigt er das in seiner Behandlung der römischen Königszeit sowie des repu-
blikanischen Zeitalters. Dabei zeichnet sich nicht nur die Kontingenz von Roms
Macht ab, sondern zugleich wird am Beispiel der Königszeit, die aus grauer Ver-
gangenheit unter dem Namen des Tarquinius in übler Erinnerung ist, und ebenso
in der Verteilung und Befristung des Imperiums, wie sie in republikanischer Zeit
bis Gaius Iulius Caesar als rechtens galt, die Ambivalenz der Ausübung staat­
licher Macht evident. Selbstverständlich müssen diese Etappen zur Berechnung
der Zeiten und Zeitläufe genauestens registriert werden. Sie lassen bereits ahnen,
was in der Zeit der sogenannten Imperatoren offen zu Tage liegt. Im Fokus des
Interesses steht nämlich, dass sich nicht nur die Kontingenz staatlicher Macht,
die durch das Diktum über den Aufstieg der Römer ihrer gesamten weiteren
Geschichte eingeschrieben ist, in allen Etappen römischer Geschichte verfolgen
lässt, sondern immer auch die Ambivalenz der Machtausübung, und dass beide
in der imperialen Machtkonzeption der Kaiserzeit verstärkt hervortreten.
Die Ignoranz gegenüber der Relativität kaiserlicher Macht zeigt Theophilos
mittels der auffälligen Einleitung zu seiner Kaiserliste an: Ἔπειτα οὕτως ἦρξαν
οἱ αὐτοκράτορες καλούμενοι.72 Weder die intitulatio noch das in seiner Funktion
nur scheinbar changierende Partizip Medium sind zufällig gewählt.73 Das zeigt

71 Theophilus, Ad Autolycum 3,27,1b (132,2–3 M.): ἔκτοτε ἤδη οἱ Ῥωμαῖοι ἐμεγαλύνοντο τοῦ θεοῦ
κρατύνοντος αὐτούς.
72 Theophilus, Ad Autolycum 3,27,4 (133,20–21 M.).
73 Seit Trajan gehören zur kaiserlichen Titulatur: Caesar, Augustus, Pontifex Maximus, Pater Pa­
triae.

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 Die sogenannten Imperatoren in der Weltchronik des Theophilos von Antiochia   107

schon die auf den Tag genaue Notierung der Regierungszeiten der Kaiser. Dem
ersten Eindruck nach scheinen die Berechnungen bei obligatorischen inaugura-
torischen Akten einzusetzen. Den Regentschaftszeiten in Ad Autolycum 3,27,4b–5
zufolge sind entweder die imperatorische Akklamation (Octavius/Octavian,74
Otho, Vitellus, Vespasian), die Wahl zum Pontifex Maximus (Tiberius) oder die
Erhebung zum Augustus (Gaius Iulius Caesar, Claudius, Nero, Galba, Titus, Nerva,
Trajan, Hadrian, Antoninus Pius, Marc Aurel) für die Übernahme der kaiserlichen
Funktion und damit für die Berechnung der Regierungszeit maßgeblich gewe-
sen.75 Allerdings beginnt die Kaisertabelle (3,27,4–5) nicht mit der Übertragung
des Augustusnamens auf Octavian. Die Kaiserliste folgt vielmehr der Geschichts-
konstruktion, die Sueton in hadrianischer Zeit schafft und die wohl auch bei der
Namenliste des Chryseros federführend war, wonach Gaius Iulius Caesar der erste
Alleinherrscher war. Offensichtlich ist weder die Ehrung mit dem Augustustitel
noch die Verleihung des Amtes des Pontifex Maximus oder einer der weiteren
kaiserlichen Titel entscheidend. Für die Datierung ist der imperatorische Status
maßgeblich, sei er kraft der Akklamation durch einzelne oder mehrere Legionen
oder durch die Praetorianer beansprucht, sei er durch senatorische Proklamation
legitimiert. Die Chronologie ist an keinem Werdegang interessiert, das Augen-
merk gilt ebenso wenig den politischen Konstellationen, die den Betreffenden in
die staatliche Spitzenposition gehoben haben, wie auch die Amtsführung oder
deren Bedrohung durch Usurpationsversuche kein Thema sind. Von Interesse
ist der Zeitpunkt, an dem der Status des monarchischen Imperators erlangt und
anerkannt war. Das geht nicht nur aus der rubrikalen Notiz in 3,27,4b hervor,76 die
auf alle weiteren usuellen oder persönlichen Titel römischer Kaiser verzichtet.77
Drei weitere Auffälligkeiten bestätigen dieses Berechnungskriterium. 1. Gaius
Iulius Caesar erscheint nicht unter den Konsuln.78 Für die Weltchronik wird er
erst mit seiner Alleinherrschaft von Bedeutung.79 2. Die Berechnung der Regent-

74 Vgl. Kienast (wie Anm. 11), 61: „Name: C. Octavius […] der Beiname Octavianus wurde vom
jungen Caesar nicht geführt und auch von seinen Anhängern nicht gebracht. Er findet sich jedoch
bei Cicero bis zum November 44 v. Chr. Später verwendet auch Cicero nur den C. Caesar […]“.
75 Näheres vgl. Kienast (wie Anm. 11), 23–44.61–146.
76 Vgl. Theophilus, Ad Autolycum 3,27,4 (133,20–21 M.): Ἔπειτα οὕτως ἦρξαν οἱ αὐτοκράτορες
καλούμενοι.
77 Näheres vgl. Kienast (wie Anm. 11), 25–44.
78 Vgl. Theophilus, Ad Autolycum 3,27,3a.
79 Theophilus, Ad Autolycum 3,27,4b regierte (ἐβασίλευσεν) Gaius Iulius ἔτη ιγʹ, μῆνας ςʹ,
ἡμέρας κηʹ / „3 Jahre 4 Monate und 6 Tage“ (133,23–24 M.). Sofern Theophilos hierin dem Na-
mensverzeichnis des Chryseros vertraute, hätte die Alleinherrschaft des Gaius Iulius Caesar und
damit die römische Kaiserzeit am 09. Dezember 48 v. Chr. begonnen. Mit diesem Stichtag muss

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108   Ferdinand R. Prostmeier

schaftszeit des Octavius/Octavian, die der Weltchronik zufolge „56  Jahre, 4  Monate
und 1 Tag“80 währte, setzt nicht mit seiner Ehrung durch den Augustusnamen am
16. Januar 27 v. Chr. ein. Maßgeblich ist offenkundig die erste seiner insgesamt
21 Imperatorischen Akklamationen, die ihm am 16. April 43 v. Chr. zuteil wird.81
3. Im Vierkaiserjahr 69 n. Chr. mit Galba, Otho, Vitellius und Vespasian war allem
Anschein nach nicht die Akklamation durch die Legion entscheidend, um als
Kaiser anerkannt zu sein, sondern die Ausrufung durch den Senat. 4. Seitdem
die Erhebung zum Augustus kombiniert ist mit der imperatorischen Akklamation
oder zumindest zeitlich in nächster Nähe vollzogen wird, was zum ersten Mal
bei Gaius (Caligula) der Fall ist (18. März 37), gilt der Vollzug beider inaugura-
torischer Akte, bisweilen verbunden mit der Wahl zum pontifex maximus sowie
einem förmlichen Entschluss über Annahme oder Ablehnung des Pater-Patriae-
Titels, als Beginn der Regentschaft. Legitim ist sie jedoch nur, wenn die impera-
torische Akklamation erfolgt und anerkannt ist. Insofern nennt die Überschrift
der Kaiserliste tatsächlich das gemeinsame Kennzeichen der 18 monarchischen
Regenten, inklusive Gaius Iulius Caesar.
In der Einleitung zur Kaiserliste scheint allerdings die Formulierung οἱ
αὐτοκράτορες καλούμενοι (3,27,4b) nicht nur eine rubrikale Funktion zu besit-
zen. Das Kompositium zeigt vielmehr einen deutlichen Vorbehalt gegenüber
dem Anspruch an, die römischen Kaiser seien „Selbstherrscher, Alleinherrscher,

aber nicht auf ein bestimmtes Ereignis Bezug genommen sein. Womöglich will dieses Datum vor
allem signalisieren, dass man sich bald schon nach dem Sieg Caesars am 9. August 48 über das
Heer des Gnaeus Pompeius Magnus (29. 09. 106 bis 28. 09. 48) und schließlich dessen Ermor-
dung der militärischen und politischen Faktenlage allgemein bewusst geworden ist und dass
man spätestens in hadrianischer Zeit die sich damals rasch abzeichnenden staatspolitischen
Folgen auch nomenklatorisch fixiert hat. „Alle verfassungs- und staatsrechtlichen Fragen um
Caesars Stellung in Staat und Gesellschaft wurden durch die Macht entschieden. Caesars Macht
aber beruhte in erster Linie auf seinem Oberbefehl, zuletzt über das gesamte römische Heer […].
Sie fußte weiter auf einer denkbar breiten Klientel und nicht zuletzt auf seiner Verfügungsgewalt
über immense materielle Mittel […].“ K. Christ, Caesar, in: M. Clauss (Hg.), Die römischen Kaiser.
55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian. München 1997, 22; vgl. id., (wie Anm. 30), 46.
Der Beginn von Caesars Autokratie in Theophilos’ Weltchronik und damit der Wechsel von der
aristokratischen Republik als Staatsform zum Prinzipat folgt dieser höfischen Darstellung der
imperatorischen Anfänge und blendet konsequent völlig aus, dass Caesar nach Pompeius’ Nie-
derlage in der Schlacht von Pharsalos um seine herausragende Position kämpfen musste und
dabei in einer ganzen Kette von kriegerischen Auseinandersetzungen, u.  a. in Ägypten, Nord­
afrika, Spanien, verwickelt war.
80 Theophilus, Ad Autolycum 3,27,4 (133,22–24 M.): Ἔπειτα Αὔγουστος ἔτη νς’, μῆνας δ’, ἡμέραν
μίαν.
81 Vgl. Kienast (wie Anm. 11), 61.66; zu Octavius/Octavians Aufstieg und seinem Prinzipat als
Augustus vgl. K. Christ (wie Anm. 30), 47–177; W. Dahlheim (wie Anm. 43), 1–30.

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 Die sogenannten Imperatoren in der Weltchronik des Theophilos von Antiochia   109

Herrscher mit unumschränkter Gewalt.“82 Das Partizip Medium καλούμενοι83 ist


nämlich zum einen im Licht der geschichtstheologischen Deutung zu lesen, dass
die Römer „groß wurden, indem Gott ihnen Macht verlieh.“84 Diesem initium der
Ära Roms zufolge ist das imperiale Selbstbild der römischen Kaiser von Grund
auf irrig. Zum anderen ist das καλούμενοι im Zusammenhang mit Ad Autolycum
1,11 zu sehen. Theophilos hatte dort die Differenzierung zwischen der Ehrenbe-
zeugung für den Kaiser als angemessener Ausdruck von Loyalität einerseits und
der Weigerung andererseits, dem Kaiser jene Verehrung entgegenzubringen, die
allein Gott gebührt, als eine Konsequenz der christlichen Vorstellung von Gott als
Schöpfer und Retter dargelegt. Der Kaiser ist „nicht Gott, sondern ein Mensch,
von Gott bestellt, […] um ein gerechter Richter zu sein“.85 Diese elementare Unter-
scheidung zwischen gebotener Loyalitätsbekundung und der kultischen Vereh-
rung, die allein Gott gebührt, mag auch darin zur Geltung kommen, dass das
Handeln der Regenten mit Formen von ἄρχω und βασιλεύω bezeichnet wird (vgl.
3,27), nie aber mittels αὐτοκρατορεύω. Entsprechend hat Theophilos erläutert,
dass dem Kaiser „von Gott die Verwaltung anvertraut worden ist“.86
Die präskriptive Stellung des Diktums, dass der Aufstieg Roms zur Macht auf
dem Willen Gottes gründet, deckt auf, dass Roms Macht tatsächlich deszendent
ist. Sie besitzt ihren Wert und die Norm zu ihrer Ausübung exklusiv von ihrer
Gründung her. Diese Bindung staatlicher Macht und ihre Restriktion gilt unab-
hängig von der Staatsform, die Roms Geschick bestimmt. Das zeigt Theophilos
durch die Anlage seiner Chronologie der Geschichte Roms. Wiewohl Theophilos
in seiner „Einführung ins Christentum für Eliten“ bezüglich der Wahrnehmung
der Christen im öffentlichen Raum die Kontinuität mit biblisch-jüdischen und
frühchristlichen Traditionen über das Verhältnis von Kirche und Staat wahrt,
wagt er mit seiner Kaiserliste eine Fundamentalkritik, die – gegen den Augen-
schein – die harsche Kritik der Johannesoffenbarung wider einen totalitären

82 Vgl. Passow (wie Anm. 2) 1,449.


83 Die Form καλούμενοι kann neutral verwendet sein, um einen Namen oder eine Bezeichnung
als „gängig“ anzuzeigen, z.  B. Ad Autolycum 2,15,6 (οἱ καὶ πλάνητες καλούμενοι) und 2,24,4b für
Orte, Gewässer, Völker (Hebräer) und Bürger einer Polis. Einen pejorativen Ton hat die Form in
Bezug auf Christen (1,12,1.3c) und Gottesfürchtige (3,4,1d), wobei dieser negative Ton sofort als
üble Nachrede aufgedeckt wird. Abgesehen von den römischen Kaisern werden keine anderen
Regenten mit abwertendem Ton genannt.
84 Vgl. Theophilus, Ad Autolycum 3,27,1b (132,2–3 M.): ἔκτοτε ἤδη οἱ Ῥωμαῖοι ἐμεγαλύνοντο τοῦ
θεοῦ κρατύνοντος αὐτούς.
85 Theophilus, Ad Autolycum 1,11,2b (30,5–6 M.): Θεὸς γὰρ οὐκ ἔστιν, ἀλλὰ ἄνθρωπος, ὑπὸ θεοῦ
τεταγμένος, […], ἀλλὰ εἰς τὸ δικαίως κρίνειν.
86 Theophilus, Ad Autolycum 1,11,2c (30,7 M.): παρὰ θεοῦ οἰκονομίαν πεπίστευται.

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110   Ferdinand R. Prostmeier

Staat und einer ebensolchen Kultur als widergöttliche Erscheinungen überflü-


gelt. Theophilos etikettiert weder den römischen Staat noch dessen Repräsen-
tanten, die Kaiser, als dämonisch. In der Kritik stehen nicht die Herrschertugen-
den und ebenso nicht die Amts- oder Lebensführung der einzelnen Augusti, was
zumal im Vergleich mit dem Amtsmissbrauch und den Attitüden auffallen muss,
die Theophilos über den letzten Etruskerkönig Roms, Tranquinius Superbus, zu
berichten weiß (Ad Autolycum 3,27,2; vgl. 3,21,2–3; 3,22,2.5). Mit ihrem autokra-
tischen Selbstverständnis stellen sie sich vielmehr außerhalb der Ordnung, die
Gott seiner Schöpfung eingeschrieben hat. Womöglich sind sie sogar ahnungslos,
dass sie mit ihrem autokratischen Anspruch jene Ordnung negieren, unter deren
Konditionen Rom nach Gottes Willen zur Weltmacht aufgestiegen ist. Weil sich
die Kaiser als Alleinherrscher mit unumschränkter Gewalt begreifen und wohl
auch entsprechend handeln, was bedeutet, dass sie sich de facto unabhängig von
der Schöpfungsordnung sehen, konkurrieren sie mit Gott, dem Schöpfer.
Theophilos lässt keinen Zweifel daran, dass nicht die imperiale Staatsform
per se wider die Schöpfungsordnung steht, denn die Augusti dürfen als rechtmä-
ßige Repräsentanten des Staates die Loyalität aller Bewohner erwarten und einfor-
dern. Darum ist es auch für Christen eine selbstverständliche Pflicht, den Kaiser
zu ehren. Aus demselben Zusammenhang in Ad Autolycum 1,10 ist evident, dass
eine autokratische Amtsauffassung und Amtsführung die kosmische Ordnung
verkennt und die den Menschen einzig angemessene Haltung gegenüber Gott,
dem Schöpfer und Retter, verfehlt. Theophilos illustriert mit seiner Weltchronik
somit Zweierlei. Zum einen zeigt er, dass die Ordnung, die Gott seiner Schöpfung
eingeschrieben hat, zutreffend erkannt werden kann. Zum anderen führt er am
Beispiel der Geschichte Roms vor, dass sich Menschen der theologischen Wahr-
heit zwar verschließen können, dass jedoch gerade dadurch ihre Bindung an die
geschöpfliche Ordnung offenkundig wird. Genau das leisten die exakten Regent-
schaftszeiten der Kaiser; ihre Zeit ist bemessen.
Gewiss ist darin auch Unglaube zu erkennen, dem Theophilos mit seinen Dar-
legungen abhelfen will. Im Blick auf das geistig-soziale Milieu, das von Autolykos
repräsentiert ist, rückt indes die Unbildung und theologische Ahnungslosigkeit
all jener ins Zentrum, die sich den Anspruch zu eigen machen, der mittels der
intitulatio als imperator erhoben ist, und sich über das Christentum echauffieren.
Die intitulatio deckt paradoxerweise auf, was die staatliche Macht nicht ist. Im
völligen Missverhältnis zum Anspruch der römischen Staatsgewalt versteht sich
nämlich das Christentum als umfassende Lebensordnung. Im Christentum wird
seinem Selbstverständnis nach wie ebenso in seinem Selbstvollzug die Harmonie
mit der durch Gott seiner Schöpfung eingeschriebenen Ordnung offenbar. Damit
überflügelt das Christentum das Imperium Romanum und seine sogenannten
Imperatoren.

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Christoph Markschies
Politische Dimensionen des homöischen
Bekenntnisses?
Oder: Ursacius und Valens in Sirmium 359 n. Chr.

1
Unser Thema hat, wie die meisten spannenden Themen, eine längere Geschichte.
1935 publizierte der in Rom zum Katholizismus konvertierte frühere Bonner
Neutestamentler und Kirchenhistoriker Erik Peterson (1890–1960) seinen
wohl bekanntesten Traktat unter dem Titel „Der Monotheismus als politisches
Problem“.1 Peterson skizziert bekanntlich in diesem Text eine Linie von der
aristotelischen Kritik an der Herrschaft vieler (οὐκ ἀγαθὸν πολυκοιρανίη)2 hin
zur – wie er sagt – „arianischen“, in Wahrheit homöischen, subordinatianischen
Konzeption göttlicher Monarchie, der Peterson wie jedem Konzept dieser Linie
einen „politischen Sinn“ bescheinigt.3 Da dem urbildlich einen einzigen göttli-
chen Monarchen der abbildlich eine Kaiser im Reich entspricht, passte die ins-
besondere von dem „politischen Publizisten“ Eusebius4 vertretene „arianische“,
in Wahrheit homöische Theologie bestens zur politischen Theologie des Impe­
rium Romanum, und umgekehrt bedrohte „die orthodoxe Trinitätslehre“ mit ihrer
strikten Gleichordnung dreier Personen „in der Tat die politische Theologie des

1 E.  Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, in: id., Ausgewählte Schriften 1:
Theologische Traktate, mit einer Einleitung von B. Nichtweiß, Würzburg 1994, 23–81. – Der vor-
liegende Beitrag entstand ursprünglich für eine Konferenz am 21./22. Mai 2009 über die „Glau-
bensformel von Sirmium aus dem Jahre 359 n. Chr.“ an der Katholisch-theologischen Fakultät im
kroatischen Đakovo, die Teil der Universität Josip Juraj Strossmayer in Osijek ist, und wurde in
einer kroatischen Übersetzung veröffentlicht: C. M., Urzacije i Valens i sirmijska formula vjere,
in: Ephemerides theologicae Diacovenses 19 (2011), 19–27. Für einen (englischen) Vortrag anläss-
lich der feierlichen Aufnahme als ordentliches Mitglied in die „Accademia di Sant’Ambrogio“ der
„Biblioteca Ambrosiana“ in Mailand am 2. April 2012 wurde der Text gründlich durchgesehen
und erheblich erweitert; er wird hier, nochmals verändert, als kleines Zeichen des Dankes für
nunmehr fast dreißig Jahre Anregungen und Freundschaft veröffentlicht.
2 Aristoteles, Metaphysica 12, 10 1076 a 4; vgl. Homer, Ilias 2, 204–205.
3 Peterson (wie Anm. 1), 43. – Für diese Differenzierung vgl. besonders: H. C. Brennecke, Art.:
Homéens, in: DHGE 24 (1993), 932–960 und U.  Heil, The Homoians, in: G. M.  Berndt/R.  Stei-
nacher (eds.), Arianism: Roman Heresy and Barbarian Creed, Farnham 2014, 85–115.
4 Peterson (wie Anm. 1), 80.

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112   Christoph Markschies

Imperium Romanum“.5 Diese These Petersons von der Aufgipfelung der politi-
schen Theologie in der homöischen Theologie und ihrem endgültigen Ende in
der (neu-)nizänischen Trinitätstheologie ist so bekannt, dass wir sie hier ebenso
voraussetzen dürfen wie den Versuch ihrer Widerlegung durch eine Gruppe um
den Züricher Patristiker Alfred Schindler im Jahre 1978.6 Und genauso ist natür-
lich deutlich, dass sowohl das bei Peterson als auch in den Veröffentlichungen
der Gruppe um Schindler vorausgesetzte Bild des römischen Reiches allzu sehr
nach dem Modell einer neuzeitlichen absoluten Monarchie gezeichnet ist und
das Reich viel zu wenig als jeweils neu ausgehandeltes kooperatives Netzwerk
von „shared powers“ vorgestellt wird.7 Wenn das Imperium allerdings eher so
zu beschreiben ist, wird man ohnehin kaum davon ausgehen, dass eine einzige
„politische Theologie“ – und sei es die der sogenannten Arianer, die wir heute
präziser Homöer nennen  – von letztlich entscheidender politischer Durch-
schlagskraft gewesen sein kann.
Mich interessiert hier, sehr viele Jahre nach dem Versuch Petersons, die poli-
tische Funktionalität der homöischen Theologie zu beschreiben, und auch viele
Jahre nach dem allgemein akzeptierten Versuch, diese These zu widerlegen, ob
die spezifische Struktur der homöischen, subordinatianischen Trinitätstheolo-
gie tatsächlich eine politische Funktionalität und von daher ihre Funktion für
bestimmte Kaiser hatte. Da diese Fragestellung für einen so kurzen Beitrag zu
umfangreich ist, beschränke ich mich auf einen einzigen historischen Testfall
und seine Vorgeschichte: auf das Wirken der sogenannten homöischen „Hofbi-
schöfe“ Ursacius und Valens auf der Synode von Sirmium im Jahre 359 n. Chr.8

5 Peterson (wie Anm. 1), 57.


6 J. Badewien, Euseb von Cäsarea, in: A. Schindler (Hg.), Monotheismus als politisches Prob-
lem? Erik Peterson und die Kritik der politischen Theologie (SEE 14), Gütersloh 1978, 43–49 (45):
„Die Theologie Eusebs von Cäsarea hat die Rolle des Kronzeugen für Petersons These zu über-
nehmen. […] Die direkte Parallelsetzung von Gott und Kaiser findet sich nur in der Trizennats-
rede, während sich die übrigen Elemente der politischen Theologie häufig wiederholen. Daher
sollte sich eine Beurteilung Eusebs nicht zuerst auf diesen Gedanken stützen.“
7 Diesem Modell folgt beispielsweise P. Heather, Der Untergang des römischen Weltreichs (Ori-
ginal: The Fall of the Roman Empire. A New History, London 2005), übers. v. K. Kochmann, Stutt-
gart 2006, 46–66, auch wenn man in der Erklärung der Krisen des vierten Jahrhunderts lieber
den sensiblen Beobachtungen von B. Ward-Perkins, Der Untergang des Römischen Reiches und
das Ende der Zivilisation (Original: The Fall of Rome and the End of Civilization, Oxford 2005),
übers. v. N. V. Montenegro, Darmstadt 2007, folgen sollte als den eher monokausalen Erklärun-
gen bei Heather.
8 Zum Begriff „Hofbischof“ und den damit bezeichneten Sachverhalten schon C. Markschies,
Die politische Dimension des Bischofsamtes im vierten Jahrhundert, in: J.  Mehlhausen (Hg.),
Recht – Macht – Gerechtigkeit (VWGTh 14), Gütersloh 1998, 438–469 und unten Anm. 60.

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 Politische Dimensionen des homöischen Bekenntnisses?   113

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Dazu muss ich zunächst sehr kurz in die historische Situation einführen und
beginne bei Athanasius von Alexandrien: In seiner Schrift De synodis Arimini et
Seleuciae, deren Abfassung unterschiedlich nahe zu den berichteten Ereignissen
auf 359 oder 363 n. Chr. datiert wird, vermutlich aber auf die Jahre 359/360 n. Chr.
anzusetzen ist,9 berichtet der Bischof von Alexandrien nicht nur über die Ereig-
nisse auf dem west-östlichen Doppelkonzil von Rimini und Seleukia, sondern
zitiert auch die präzise auf den 22. Mai 359 datierte sogenannte vierte Formel von
Sirmium, das „datierte Bekenntnis“ – „während des Konsulates der erlauchtes-
ten Flavier, Eusebius und Hypatius, in Sirmium am elften Tage vor den Kalenden
des Juni“10 – und gibt einen durchaus polemischen, ja zornigen Bericht über den
historischen Kontext der Entstehung dieses theologischen Textes. Am Anfang
seiner Schrift werden erstmals zwei illyrische Bischöfe erwähnt, nämlich „aus
Pannonien Ursacius und Valens“.11 Sie tauchen gleich zu Beginn der Geschichts-
polemik des Athanasius auf, weil sie offenbar mit der kaiserlichen Einladung zu
jenem Doppelkonzil von Seleukia und Rimini in Verbindung standen. Der alex-
andrinische Bischof stellt sie daher als klassisches Beispiel jener „Arianer“ vor,
die sich mit eben dieser theologischen und kirchenpolitischen Orientierung vom
Christentum insgesamt losgesagt haben – jedenfalls in der Optik der häresiolo-
gischen Konstruktion des Athanasius.12 Die beiden Namen Ursacius und Valens

9 U. Heil, Art.: Athanasius von Alexandrien, in: 3LACL (2002), 69–76 (72); A. Martin, Athanase
d’Alexandrie et l’église d’Égypte au IVe siècle (328–373) (CEFR 216), Rom 1996, 531–532.827.
10 Athanasius, De synodis 8,3 (Athanasius Werke = AW 2,6, Die „Apologien“, hg. v. H. G. Opitz,
Berlin 1940, 235,21–23) und Socrates, Historia ecclesiastica 2,37,18 (GCS.NF 1, 154,6–8 Han-
sen) =  Dok. 57.2 (AW 3,1,4 Dokumente zur Geschichte des arianischen Streites 318–328,
hg. v.  H. C.  Brennecke/A. v.  Stockhausen/Ch. Müller/U.  Heil/A.  Wintjes, Berlin/Boston 2014,
421,14–422,1): Ἐξετέθη ἡ πίστις ἡ καθολικὴ ἐπὶ παρουσίᾳ τοῦ δεσπότου ἡμῶν τοῦ εὐσεβεστάτου
καὶ καλλινίκου βασιλέως Κωνσταντίου Αὐγούστου τοῦ αἰωνίου Σεβαστοῦ ὑπατείᾳ Φλαυίων
Εὐσεβίου καὶ Ὑπατίου τῶν λαμπροτάτων ἐν Σιρμίῳ τῇ πρὸ ιαʹ καλανδῶν Ἰουνίων.
11 Athanasius, De synodis 1,3 (231,13–15 O.): οἱ δὲ ταύτην παρασχόντες εἰσὶν ἀπὸ μὲν τῆς Παννονίας
Οὐρσάκιος καὶ Οὐάλης καὶ Γερμίνιός τις, ἀπὸ δὲ τῆς Συρίας Ἀκάκιος, Εὐδόξιος καὶ Πατρόφιλος ὁ
ἀπὸ τῆς ἐπωνύμου τῶν Σκυθῶν πόλεως τυγχάνων. – Alle relevanten Quellen zu der Synode von Sir-
mium sind jetzt kritisch ediert bei H. C. Brennecke/A. v. Stockhausen/C. Müller/U. Heil/A. Wint-
jes (Hgg.), Athanasius Werke 3,1: Dokumente zur Geschichte des arianischen Streites, 4. Lfg., Bis
zur Synode von Alexandrien 362, Berlin 2014, 420–425, zur Synode selbst (mit Hinweisen auf
die Forschungsgeschichte): D. H. Williams, Ambrose of Milan and the End of the Nicene-Arian
Conflicts (OECS), Oxford 1995, 22–37.
12 Athanasius, De synodis 1,4 (231,15–232,2 O.): οὗτοι γὰρ ἀεὶ τῆς Ἀρείου μερίδος ὄντες καὶ μὴ,
νοοῦντες μήτε πῶς πιστεύουσι μήτε περὶ τίνων διαβεβαιοῦνται’ (1 Tim 1,7), ἀπατῶντες δὲ ἕκαστον
ἠρέμα καὶ σπέρματα τῆς αἱρέσεως ἑαυτῶν ἐπισπείροντες ὑφήρπασάν τινας, τῶν δοκούντων

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114   Christoph Markschies

werden bei Athanasius und anderswo mit dem Bischof Germinius von Sirmium
gern zu einer topischen Trias verbunden, die Michel Meslin  – dem es um eine
Rehabilitierung der beiden Bischöfe Ursacius und Valens als Theologen ging –
einprägsam „das illyrische Trio“ genannt hat.13 Der irische Patristiker und Bischof
Richard P. C.  Hanson hat Ursacius und Valens einmal scherzhaft als „a pair of
leading Homoian Arians who almost always appear together in our sources, like
Damon and Pythias (or Laurel and Hardy!)“ bezeichnet.14 Hansons ironische
Charakterisierung war der Grund, genau diese beiden Bischöfe als Testfall für
meine erneute Überprüfung der Thesen Erik Petersons zur politischen Funktiona-
lität der homöischen Theologie heranzuziehen und mit Blick auf die neuzeitliche
Forschungsgeschichte zu fragen: Spielen die beiden illyrischen Bischöfe insbe-
sondere im Blick auf die datierte Formel von Sirmium in dieser Forschungsge-
schichte nur noch die Rolle, die ihnen Athanasius in seinen polemischen Texten
zugewiesen hat: die Rolle von betrügerischen Schurken, die gleichwohl in dieser
Stilisierung nur Schemen bleiben? Oder spielen sie gar nur mehr eine Rolle als
eine Art Komiker, als Vertreter einer intellektuell minderwertigen, rein auf Kom-
promiss gestimmten, blutleeren kaiserlichen Kompromisstheologie, einem Pro-
grammwort verpflichtet, das schon per se notorisch unklar und unbestimmt
bleibt – Homöer, weil sie das Verhältnis von Vater und Sohn unter dem Stichwort

εἶναί τι’ (Gal  2,6) καὶ αὐτὸν τὸν βασιλέα Κωνστάντιον αἱρετικὸν ὄντα σχηματισάμενοι περὶ
πίστεως, ὥστε ποιῆσαι γενέσθαι σύνοδον, νομίζοντες δύνασθαι καλύψαι τὴν ἐν Νικαίᾳ σύνοδον
καὶ τοὺς πάντας μεταπείθειν, ὥστε τὴν ἀσέβειαν ἀντὶ τῆς ἀληθείας κρατῆσαι πανταχοῦ; sowie
De synodis 3,1 (232,23–26 O.): Τί γὰρ ἔλειπε διδασκαλίας εἰς εὐσέβειαν τῇ καθολικῇ ἐκκλησίᾳ,
ἵνα νῦν περὶ πίστεως ζητῶσι καὶ τὴν ὑπατείαν τῶν παρόντων χρόνων προτάσσωσι τῶν παρ’
αὐτῶν ἐκτιθεμένων ῥημάτων δῆθεν περὶ πίστεως; Οὐρσάκιος γὰρ καὶ Οὐάλης καὶ Γερμίνιος καὶ
οἱ σὺν αὐτοῖς πεποιήκασιν ὃ μήτε γέγονε μήτε ἠκούσθη πώποτε παρὰ Χριστιανοῖς. Zur Sache
vgl. M. Wiles, Attitudes to Arius in the Arian Controversy, in: M. R. Barnes/D. H. Williams (eds.),
Arianism after Arius. Essays on the Development of the Fourth Century Trinitarian Conflicts,
Edinburgh 1993, 31–43 (36–38).
13 M. Meslin, Les Ariens d’Occident 335–430 (PatSor 8), Paris 1967, 68; über das Zerbrechen des
Trios ebd. 296–299. Kritische Bemerkungen zu dieser Tendenz der „Rehabilitierung“ bei Meslin
in einer (ansonsten äußerst wohlwollenden) Rezension bei Y.-M. Duval, Sur l’Arianisme des Ari-
ens d’Occident, in: MSR 26 (1969), 145–153 = id., L’extirpation de l’Arianisme en Italie du Nord
et en Occident (CSS 611), Aldershot 1998, no. I; vgl. auch id., Aquilée et Sirmium durant la crise
arienne (325–400), in: AAAd 26 (1985), 331–379 =  id., L’extirpation de l’Arianisme en Italie du
Nord et en Occident, no. X.
14 R. P. C. Hanson, The Search for the Christian Doctrine of God. The Arian Controversy 318–381,
Edinburgh 1988, 591.

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 Politische Dimensionen des homöischen Bekenntnisses?   115

ὅμοιος beschrieben, das nun einmal „gleich“ oder „ähnlich“ heißen kann und
unter dessen semantischem Schirm gleichsam alle Katzen grau sind?15

3
Mir kann es hier nicht darum gehen, die Biographie der beiden Bischöfe zu
rekonstruieren oder die sogenannte datierte Formel von Sirmium in die gesamte
Entwicklung der Trinitätstheologie oder gar der Synodalgeschichte des vierten
Jahrhunderts einzuordnen; vor allem Letzteres haben Winrich A. Löhr und Hanns
Christof Brennecke in ihren beiden Qualifikationsarbeiten vor längerer Zeit bereits
mustergültig versucht und es sind seither allerlei weitere Beiträge erschienen.16
Mir geht es vielmehr, wie gesagt, ausschließlich darum, den Anteil der beiden
Bischöfe an der erwähnten sogenannten vierten Formel von Sirmium etwas näher
in den Blick zu nehmen. Dazu müssen wir zunächst eine Vorfrage beantworten:
Welche Quellen besitzen wir – neben Athanasius – für ein Zusammentreffen von
Bischöfen in Sirmium 359 n. Chr.?
Genannt werden gewöhnlich vier Quellen: Erstens wird meist ein Textstück
bei Epiphanius, nämlich ein längerer Traktat, von Gummerus und Holl als Brief
des Georg von Laodicaea angesprochen und gern auch Basilius von Ancyra zuge-
schrieben (CPG 3, 2826),17 mit dem Treffen in Sirmium in Verbindung gebracht.

15 Die deutlich positivere Sicht von Meslin unterstützt Williams (wie Anm. 13), 29–30 mit Hin-
weis auf eine Aussage des Bischofs Valens in der Aktenüberlieferung der Synode von Rimini bei
Hieronymus, die er für glaubhaft hält, vgl. Hieronymus, Altercatio contra Luciferianos 18 (CChr.
SL 79B, 44,630–631 Canellis = Dok. 59.11 [AW 3,1,4, 479,20–480,3 Brennecke/von Stockhausen/
Müller/Heil/Wintjes]): Denique ipso in tempore cum fraudem fuisse in expositione rumor populi
uentilaret, Valens, Mursensis episcopus, qui eam conscripserat, praesente Tauro, praetorii praefec­
to, qui ex iussu regis synodo aderat, professus est se Arianum non esse et penitus ab eorum blas­
phemiis abhorrere. Res secrete gesta opinionem uulgi non extinxerat. – Zum Problem der Überlie-
ferung der Akten bei Hieronymus zuletzt Brennecke et al. (Hgg.), Athanasius Werke 3,1, 477–478.
16 H. C.  Brennecke, Studien zur Geschichte der Homöer. Der Osten bis zum Ende der homöi-
schen Reichskirche (BHTh 73), Tübingen 1988, 5–23; W. A. Löhr, Die Entstehung der homöischen
und homöusianischen Kirchenparteien. Studien zur Synodalgeschichte des 4. Jahrhunderts
(BBKT 2), Bonn 1986, 99–102 (siehe auch id., The Homoiousian Church Party, in: Barnes/Wil-
liams [wie Anm. 12], 81–100).
17 Epiphanius, Panarion [Adversus haereses] 73,12,1–22,8 (GCS 3, 284,11–295,32 Holl/Dummer
= Dok. 58 [AW 3,1,4, 427–444 Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes]); zu den Autoren
und dem Text u.  a. H. C. Brennecke, Art.: Georg von Laodicaea, in: 4RGG 3 (2000), 692; J. Gum-
merus, Die homöusianische Partei bis zum Tode des Konstantius. Ein Beitrag zur Geschichte des
arianischen Streites in den Jahren 356–361, Leipzig 1900, 122–134; J. N. Steenson, Basil of Ancyra

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116   Christoph Markschies

Hanson bestreitet für den genannten Text diese Verbindung, da er ihn bereits auf
358 n. Chr. datiert.18 Morales interpretiert ihn dagegen als persönliche Reaktion
des Basilius von Ankyra auf das erwähnte datierte Credo von Sirmium 359 n. Chr.19
Die Herausgebenden der „Dokumente zur Geschichte des Arianischen Streites“,
Hanns Christof Brennecke, Annette von Stockhausen und Uta Heil, datieren den
Text „aufgrund der […] Bezüge zu den Ereignissen in Sirmium“ dagegen „wohl
auf den Frühsommer 359“. Am Ende dieses Textes sind Subskriptionen zu einer
Glaubensformel (in der Logik Hansons: zur verlorenen Formel einer sirmischen
Synode von 358 n. Chr.; aber eher doch zu unserem sogenannten „datierten
Credo“ vom Mai 359 n. Chr.20) zitiert, darunter die des Bischofs Valens von Mursa,
der erst aufgrund von kaiserlichem Druck bereit ist, das ὅμοιον τὸν υἱὸν τῷ πατρί
durch ein κατὰ πάντα zu ergänzen und damit von der reinen homöischen Glau-
bensformel „abzufallen“, wodurch er gemäßigten Homousianern, vielleicht auch
den Homöusianern21 nachgegeben hätte. Löhr hat das (wenn auch ohne Begrün-
dung auf 359 n. Chr. bezogen) als Anekdote im Rahmen einer homöusianischen
Uminterpretation des homöischen Treffens von Sirmium abgetan und so den

on the Meaning of Homoousios, in: R. C. Gregg (ed.), Arianism. Historical and Theological Reas-
sessments. Papers from the 9th International Conference on Patristic Studies, September 5–10,
1983, Oxford, England (PatMS 11), Philadelphia 1985, 267–279; L. Ayres, Nicaea and its Legacy. An
Approach to Fourth-Century Trinitarian Theology, Oxford 2004, 150–151 und jetzt M. DelCoglia-
no, George of Laodicea: A Historical Reassessment, in: JEH 62 (2011), 667–692 (683–690).
18 Hanson (wie Anm. 14), 366–371. Der Synode, die die „vierte sirmische Formel“ verabschie-
dete, zugewiesen bei Löhr, Entstehung (wie Anm. 16), 99.213 mit Anm. 38, dazu eine Glosse aus
der Subskriptionsliste von Seleukia Epiphanius, Panarion [Adversus haereses] 73,26,1 (299,26–
28 H./D. =  Dok. 60.2 [AW 3,1,4, 501,1–4 Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes]): Τῇ
πίστει ὑπέγραψαν οἱ παρόντες· Βασίλειος, Μάρκος καὶ Γεώργιος ὁ τῆς Ἀλεξανδρείας ἐπίσκοπος,
Παγκράτιος καὶ Ὑπατιανὸς καὶ οἱ πλεῖστοι ἐπίσκοποι τῆς δύσεως.
19 X. Morales, La théologie trinitaire d’Athanase d’Alexandrie (ÉAug 180), Paris 2006, 31–40 (32–
34). 114–115. 272–283. 308 sowie id., Identification de l’auteur des citations néo-ariennes dans le
Traité de Basile d’Ancyre, in: ZAC 11 (2007), 492–499 (492).
20 So auch die Herausgebenden der Dokumente (wie Anm. 11), die daher diesen Teil auch als
Dokument 57.3 abdrucken (AW 3,1,4, 424–425).
21 Epiphanius, Panarion [Adversus haereses] 73,22,6 (295,11–19 H./D. =  Dok. 57.3 [AW 3,1,4,
424,14–27 Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes]): Μετὰ δὲ ταῦτα οἰκείῳ ἔθει
ὑπογράψαντος Οὐάλεντος καὶ προστεθεικότος τῇ ὑπογραφῇ ὅμοιον τὸν υἱὸν τῷ πατρί, μὴ
προστεθεικότος δὲ κατὰ πάντα καὶ δείξαντος ὅπως ἢ συνέθετο τοῖς προγεγραμμένοις ἢ τὸ
ὁμοούσιον πῶς νοεῖ, ἐπισημηναμένου τε τοῦτο τοῦ εὐσεβοῦς βασιλέως καὶ ἀναγκάσαντος αὐτὸν
προσθεῖναι τὸ κατὰ πάντα, ὅπερ καὶ προστέθεικε, Βασίλειος ὑποπτεύσας καὶ τὸ κατὰ πάντα [μὴ]
ἰδίῳ νῷ αὐτὸν προστεθεικέναι εἰς τὰ ἴσα, [ἃ] ἐσπούδασαν οἱ περὶ Οὐάλεντα λαβεῖν, ἐφ’ ᾧ τε
ἀποκομίσαι εἰς τὴν κατὰ Ἀρίμινον σύνοδον, ὑπέγραψεν οὕτως […].

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 Politische Dimensionen des homöischen Bekenntnisses?   117

historischen Quellenwert dieser Passage bezweifelt.22 Wenn Löhr recht haben


sollte, wissen wir freilich über das ursprüngliche Agieren des Bischofs Valens
in Sirmium praktisch gar nichts mehr. In jedem Fall stellt die Formulierung in
unserer Quelle, es habe „der gottesfürchtige Kaiser (sc. den Bischof Valens) geta-
delt und gezwungen“, den Ausdruck κατὰ πάντα, „in allem“ hinzuzufügen, einen
Kommentar zu der Unterschriftenliste dar, der vielleicht von Epiphanius (oder
eher einer Quelle des Epiphanius) stammt; er darf daher nicht einfach zur Beur-
teilung der Aufrichtigkeit des Valens herangezogen werden.
Ähnliche Probleme bestehen bei einem zweiten Quellenkomplex, denn es
ist ebenfalls unsicher, ob ein knapper Abschnitt bei Sozomenus die Ereignisse
von 359 n. Chr. oder nicht vielmehr doch auch wieder nur das Bischofstreffen im
Jahr zuvor beschreibt (so wieder Hanson und jetzt Brennecke mit von Stockhau-
sen und Heil).23 Davon ist nochmals eine weitere Notiz bei Sozomenus über eine
Synode in Sirmium (351 n. Chr.) zu unterscheiden.24 In der ersten Notiz wird von
Sozomenus behauptet, die Bischöfe hätten (das präzise Datum fällt allerdings
nicht) in einem Schriftstück „die Beschlüsse gegen Paul von Samosata und Pho-

22 Löhr, Entstehung (wie Anm. 16), 99.


23 Sozomenus, Historia ecclesiastica 4,15,1–3 (GCS.NF 4, 158,1–19 Bidez/Hansen = FC 73,2, 476,18–
478,14 Bidez/Hansen): Οὐ πολλῷ δὲ ὕστερον ἐπανελθὼν ἐκ τῆς Ῥώμης εἰς Σίρμιον ὁ βασιλεὺς
πρεσβευσαμένων τῶν ἀπὸ τῆς δύσεως ἐπισκόπων μετακαλεῖται Λιβέριον ἐκ Βεροίας, παρόντων
τε τῶν ἀπὸ τῆς ἕω πρέσβεων, συναγαγὼν τοὺς παρατυχόντας ἐν τῷ στρατοπέδῳ ἱερέας, ἐβιάζετο
αὐτὸν ὁμολογεῖν μὴ εἶναι τῷ πατρὶ τὸν υἱὸν ὁμοούσιον. ἐνέκειντο δὲ καὶ τὸν κρατοῦντα ἐπὶ τοῦτο
ἐκίνουν  πλείστην παρ’ αὐτῷ παρρησίαν ἄγοντες Βασίλειος καὶ Εὐστάθιος καὶ Ἐλεύσιος. οἳ δὴ
τότε εἰς μίαν γραφὴν ἀθροίσαντες τὰ δεδογμένα ἐπὶ Παύλῳ τῷ ἐκ Σαμοσάτων καὶ Φωτεινῷ τῷ ἐκ
Σιρμίου καὶ τὴν ἐκτεθεῖσαν πίστιν ἐν τοῖς ἐγκαινίοις τῆς Ἀντιοχέων ἐκκλησίας, ὡς ἐπὶ προφάσει
τοῦ ὁμοουσίου ἐπιχειρούντων τινῶν ἰδίᾳ συνιστᾶν τὴν αἵρεσιν, παρασκευάζουσι συναινέσαι
ταύτῃ Λιβέριον, Ἀθανάσιόν τε καὶ Ἀλέξανδρον καὶ Σευηριανὸν καὶ Κρίσκεντα, οἳ ἐν Ἀφρικῇ
ἱέρωντο. ὁμοίως δὲ συνῄνουν καὶ Οὐρσάκιος καὶ Γερμάνιος ὁ Σιρμίου καὶ Οὐάλης ὁ Μουρσῶν
ἐπίσκοπος καὶ ὅσοι ἐκ τῆς ἕω παρῆσαν. ἐν μέρει δὲ καὶ ὁμολογίαν ἐκομίσαντο παρὰ Λιβερίου
ἀποκηρύττουσαν τοὺς μὴ κατ’ οὐσίαν καὶ κατὰ πάντα ὅμοιον τῷ πατρὶ τὸν υἱὸν ἀποφαίνοντας.
ἡνίκα γὰρ τὴν Ὁσίου ἐπιστολὴν ἐδέξαντο Εὐδόξιος καὶ οἱ σὺν αὐτῷ ἐν Ἀντιοχείᾳ τῇ Ἀετίου
αἱρέσει σπουδάζοντες, ἐλογοποίουν οἱ σὺν αὐτῷ ἐν Ἀντιοχείᾳ τῇ Ἀετίου αἱρέσει σπουδάζοντες,
ἐλογοποίουν ὡς καὶ Λιβέριος τὸ ὁμοούσιον ἀπεδοκίμασε καὶ ἀνόμοιον τῷ πατρὶ τὸν υἱὸν δοξάζει.
Vgl. Dok. 56.1 (AW 3,1,4) unten Anm. 25.
24 Sozomenus, Historia ecclesiastica 4,6,4 (143,24–144,3 B./H. = Dok. 58 [AW 3,1,4, 440,12–19]);
Löhr, Entstehung (wie Anm. 16), 213 Anm. 38 nennt in seiner Aufzählung der Quellen für Sir-
mium 359 n. Chr. nur diese Stelle, vgl. aber Brennecke et al. (Hgg.) (wie Anm. 11), 344 (Regest
zu Dokument 47.4) und 420. Zur Synode schon H. C.  Brennecke, Hilarius von Poitiers und die
Bischofsopposition gegen Konstantius II. Untersuchungen zur dritten Phase des arianischen
Streites (337–361) (PTS 26), Berlin 1984, 91–107.

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118   Christoph Markschies

tinus von Sirmium mit dem anlässlich der Einweihung der Kirche in Antiochia
verfassten Glaubensbekenntnis“ zusammengestellt und approbiert.25 Der ganze
Rest des Abschnittes beschäftigt sich mit dem Verhalten des römischen Bischofs
Liberius, das uns hier nicht kümmern muss. Interessanter ist, dass Sozomenus
bemerkt, dass „Ursacius und die Bischöfe Germinius von Sirmium und Valens
von Mursa“ das kombinierte Schriftstück gebilligt hätten,26 in dem – jedenfalls
nach Ansicht des Sozomenus  – das Bekenntnis der Kirchweihsynode von 341
n. Chr. nochmals zitiert wurde.27 Wenn diese Angabe zutrifft, hätten wir jeden-
falls das verlorene Glaubensbekenntnis der Synode von Sirmium des Jahres 358
n. Chr. – es wäre in Wahrheit die sogenannte zweite antiochenische Formel28 mit
den in Sirmium angehängten Anathematismen,29 die erneut bekräftigt und viel-
leicht auch ergänzt wurde. Damit würde aber auch Sozomenus aus der Reihe der
angeblichen Quellen für die Synode in Sirmium im folgenden Jahre ausscheiden.
Es bleibt unter den Quellen für die Synode von Sirmium 359 n. Chr. drittens
dann noch eine Passage, die Hilarius von Poitiers in seinem bis auf Fragmente
verlorenen großen Werk „Gegen Ursacius und Valens“ zitiert.30 Es handelt sich
um Zitate aus einem Brief, den Germinius von Sirmium 366 n. Chr. geschrieben
hat. Dort beschreibt Germinius, man habe in Gegenwart der Bischöfe Georg
von Alexandrien, Pancratius von Pelusium, Basilius von Ankyra samt Ursa-
cius, Valens und eben ihm selbst, Germinius, nach einer Disputation über den

25 Sozomenus, Historia ecclesiastica 4,15,2 (GCS.NF 4, 158,7–14 B./H. =  FC 73,2, 476,26–478,7


B./H. =  Dok. 56.1 [AW 3,1,4, 410,1–14 Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes]); Zitat
158,7–9 B./H. = 476,26–29 B./H. = 410,1–4 B./v.S./M./H./W. In den Dokumenten zur Geschichte
des arianischen Streites (wie Anm. 11), 410 im Apparat zur Stelle finden sich Erwägungen zur
Frage, welche Dokumente gemeint sind.
26 Sozomenus, Historia ecclesiastica 4,15,2 (158,12–14 B./H. = 478,5–6 B./H. = 410,11–14 B./v.S./
M./H./W.): ὁμοίως δὲ συνῄνουν καὶ Οὐρσάκιος καὶ Γερμάνιος ὁ Σιρμίου καὶ Οὐάλης ὁ Μουρσῶν
ἐπίσκοπος καὶ ὅσοι ἐκ τῆς ἕω παρῆσαν.
27 T. D. Barnes, Athanasius and Constantius. Theology and Politics in the Constantinian Empire,
Cambridge Mass. 1993, 232; so auch in ihrem Kommentar Brennecke et al. (Hgg.) (wie Anm. 11),
410 Apparat zur Stelle; die Formel als Dok. 41.4 (AW 3,1,3, 144–148).
28 So die vertraute Zählung bei A.  Hahn/G. L.  Hahn/A.  Harnack (Hgg.), Bibliothek der Sym-
bole und Glaubensregeln der Alten Kirche, Breslau 1897 (=  Hildesheim 1962), § 154 (184–186),
eine kritische Edition des mehrfach überlieferten Textes nun bei H. C.  Brennecke/U.  Heil/
A. v. Stockhausen/A. Wintjes (Hgg.), Dokumente zur Geschichte des Arianischen Streites. 3. Lfg.
Bis zur Ekthesis Makrostichos, Athanasius Werke 3,1, Berlin 2007, 145–148 als Dokument 41.4.
29 Diese Anathematismen (=  BSGR § 160, 196–198) bei Brennecke et al. (Hgg.) (wie Anm. 11),
Dok. 56.3 (AW 3,1,4, 412–415) aus Hilarius, De synodis 12–25 (PL 10, 490B–499C).
30 Zu diesem Werk vgl. Brennecke, Hilarius (wie Anm. 24), 248–312 und P. F. Smulders, Hilary
of Poitiers’ Preface to his Opus historicum: Translation and Commentary (SVigChr  19), Leiden
1994, 1–28.

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 Politische Dimensionen des homöischen Bekenntnisses?   119

Glauben, die bis Mitternacht dauerte, Marcus von Arethusa gebeten, eine Glau-
bensformel zu notieren ad certam regulam perductam, „entsprechend einem vor-
gegebenen Muster“.31 Dieser letzte Halbsatz ist bisher noch gar nicht ausgewertet
und wir müssen nochmals auf ihn zurückkommen. Sodann zitiert Germinius in
lateinischer Sprache aus dem bei Athanasius griechisch überlieferten datierten
Symbol von 359 den Schlusssatz ὅμοιον δὲ λέγομεν τὸν υἱὸν τῷ πατρὶ κατὰ πάντα,
ὡς καὶ αἱ ἅγιαι γραφαὶ λέγουσί τε καὶ διδάσκουσιν.32 Dieses Zitat macht aber deut-
lich, dass die Nachtsitzung, über die Germinius berichtet, im Mai 359 n. Chr. in
Sirmium stattfand und Hilarius in dem sieben Jahre später verfassten Brief des
Bischofs Germinius eine Quelle überliefert, die für uns einschlägig ist.
Es bleibt als vierte Quelle der bereits erwähnte, überaus polemische Bericht
des Athanasius – Polemik gegen das von ihm so genannte und zitierte „datierte
Bekenntnis“ durchzieht seine ganze Schrift gegen das Doppelkonzil von Seleukia
und Rimini: Mit der Datierung der Formel verrät sich für den alexandrinischen
Bischof der neuerungssüchtige Glaube des illyrischen Trios; bestand doch aus
seiner Sicht gar keine Notwendigkeit, angesichts der Suffizienz von Nizäa ein
neues Bekenntnis aufzustellen.33 Athanasius bestreitet, dass das datierte Credo
„eine Erklärung des allgemeinen, katholischen Glaubens“ sei, wie am Eingang
geschrieben (in der Formulierung ἐξετέθη ἡ καθολικὴ πίστις), und erklärt die kom-
binierte Kaiser- und Konsular-Datierung auf den 22. Mai 359 n. Chr. als überheb-

31 Hilarius, Collectanea Antiariana Parisina B 6,3 (CSEL 65, 163,12–22 Feder) = Dok. 57.1 (AW 3,1,4,
420,1–421,13 Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes): nam sub bonae memoriae Con­
stantio imperatore, quando inter quosdam coeperat esse de fide dissensio, in conspectu eiusdem
imperatoris, praesentibus Georgio episcopo Alexandrinorum ecclesiae, <Pancratio episcopo Pelu­
sinorum> Basilio episcopo tunc Anquiritano, praesente etiam ipso Ualente et Ursatio et mea parui­
tate, post habitam usque in noctem de fide disputationem ad certam regulam perductam Marcum
ab omnibus nobis electum fidem dictasse, in qua fide sic conscriptum est: „filium similem patri per
omnia, ut sanctae dicunt et docent scripturae“, cuius integrae professioni omnes consensimus et
manu nostra suscripsimus. – Der Name des Pancratius wurde durch Coustant hinzugefügt und
findet sich seither auch in neueren kritischen Ausgaben.
32 Athanasius, De synodis 8,7 (236,14–15 O.) = Socrates, Historia ecclesiastica 2,37,19 (154,15–16
H.) =  Hahn, BSGR § 163, 205. Das ganze Bekenntnis, die sogenannte vierte Sirmische Formel,
ediert als Dok. 57.2 (AW 3,1,4, 421,14–423,31 Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes).
Zum Text Brennecke, Studien (wie Anm. 16), 5–23 sowie Löhr, Entstehung (wie Anm. 16), 99–102
und Barnes (wie Anm. 27), 144–151.
33 Athanasius, De synodis 3,2 (232,26–28 O.): Γράψαντες γὰρ ὡς ἤθελον αὐτοὶ πιστεύειν
προέταξαν τὴν ὑπατείαν καὶ τὸν μῆνα καὶ τὴν ἡμέραν τοῦ παρόντος χρόνου, ἵνα δείξωσι πᾶσι
τοῖς φρονίμοις ὅτι μὴ πρότερον, ἀλλὰ νῦν ἐπὶ Κωνσταντίου ἀρχὴν ἔχει τούτων ἡ πίστις. πάντα
γὰρ πρὸς τὴν ἰδίαν αἵρεσιν βλέποντες ἔγραψαν. πρὸς τούτοις περὶ τοῦ κυρίου προσποιούμενοι
γράφειν ἄλλον δεσπότην ὀνομάζουσιν ἑαυτοῖς Κωνστάντιον· αὐτὸς γὰρ ἦν ὁ τὴν δυναστείαν τῆς
ἀσεβείας αὐτοῖς παρέχων· καὶ αἰώνιον δὲ αὐτὸν βασιλέα εἰρήκασιν οἱ τὸν υἱὸν ἀίδιον ἀρνούμενοι.

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120   Christoph Markschies

liche Imitation biblischer Datierungen.34 Er besteht demgegenüber auf der Suffi-


zienz der Schrift, der heiligen Väter und des nizänischen Synodalbekenntnisses
gegen die Häresie des Arianismus und gegen die Unterstützer dieser Häresie in
Gestalt der Eusebianer. Und dann berichtet Athanasius, dass auf dem italischen
Teil des Doppelkonzils von Seleukia-Rimini, auf dem Ende Mai 359 n. Chr. mehr
als vierhundert Bischöfe versammelt waren, Germinius, Valens, Ursacius, Demo-
philus und Gaius ein Schriftstück vorzeigten (οὗτοι χάρτην ἐπεδείκνυον)35 und
verlangten, dass keine weiteren Beratungen mehr stattfinden sollten, sondern
allein dieses Schriftstück – eben das datierte Bekenntnis vom 22. Mai 359 n. Chr. –
nostrifiziert werden solle, das Athanasius im unmittelbaren Anschluss zitiert. Die
folgenden Passagen der Schrift des Athanasius sind für uns nicht einschlägig, da
der Autor hier nur Polemik nachreicht: Ursacius und Valens hätten jenen Text
nur verfasst, um das nizänische Symbol zu verdrängen – eine direkte persönli-
che Verfasserschaft des „datierten Credos“ allein durch die beiden Bischöfe von
Singidunum und Mursa wird man aus dieser Zeile sicher nicht ableiten dürfen.36

34 Athanasius, De synodis 3,6 (233,10–15 Ο.): οὗτοι δὲ οἱ νῦν σοφοὶ οὐχ ἱστορίας ἐξηγούμενοι
οὐδὲ τὰ μέλλοντα προλέγοντες, ἀλλὰ γράψαντες ἐξετέθη ἡ πίστις ἡ καθολικὴ εὐθὺς προσέθηκαν
καὶ τὴν ὑπατείαν καὶ τὸν μῆνα καὶ τὴν ἡμέραν, ἵνα, ὥσπερ οἱ ἅγιοι τῶν ἱστοριῶν καὶ τῆς ἑαυτῶν
διακονίας τοὺς χρόνους ἔγραφον, οὕτως οὗτοι τῆς ἑαυτῶν πίστεως τὸν χρόνον σημάνωσι. καὶ
εἴθε περὶ τῆς ἑαυτῶν ἔγραφον νῦν γὰρ ἤρξατο καὶ μὴ ὡς περὶ τῆς καθολικῆς ἐπεχείρουν· οὐ γὰρ
ἔγραψαν οὕτω πιστεύομεν, ἀλλ’ ὅτι ἐξετέθη ἡ καθολικὴ πίστις.  – Die Formulierung ἐξετέθη
ἡ καθολικὴ πίστις auch in Athanasius, De synodis 8,3 (235,21 Ο.) =  Dok. 57.2 (AW 3,1,4, 421,14
Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes).
35 Athanasius, De synodis 8,2 (235,16–20 Ο.): ἀλλὰ τῶν ἐπισκόπων πάντων διαλεγομένων
ἀπὸ τῶν θείων γραφῶν οὗτοι χάρτην ἐπεδείκνυον καὶ τὴν ὑπατείαν ἀναγινώσκοντες ἠξίουν
ταῦτα προκρίνεσθαι πάσης συνόδου καὶ τούτων μηδὲν πλέον ζητεῖν παρὰ τῶν αἱρετικῶν μηδὲ
ἐρευνᾶσθαι τὴν ἐκείνων διάνοιαν, ἀλλ’ ἀρκεῖσθαι τούτοις μόνοις. καὶ ἔστι τὰ γραφέντα παρ’
αὐτῶν ταῦτα·– Opitz (im Apparat zur Stelle) nimmt irrigerweise an, hier sei von einer Vorlage
des Textes in Seleukia die Rede, gemeint ist vermutlich Rimini.
36 Athanasius, De synodis 9,1 (236,18–20 Ο.): Τούτων ἀναγνωσθέντων οὐ μακρὰν ἐγνώσθη τῶν
γραψάντων ἡ πανουργία. Τῶν γὰρ ἐπισκόπων προτεινάντων ἀναθεματισθῆναι τὴν ἀρειανὴν
αἵρεσιν μετὰ καὶ τῶν ἄλλων αἱρέσεων πάντων τε ἐπὶ τούτῳ συνθεμένων Οὐρσάκιος καὶ Οὐάλης
καὶ οἱ σὺν αὐτοῖς ἀνένευον. καὶ λοιπὸν κατεγνώσθησαν ὡς οὐ γνησίως, ἀλλ’ ἐπ’ ἀναιρέσει τῶν ἐν
Νικαίᾳ πραχθέντων γράψαντες ταῦτα, ἵνα τὴν δυσώνυμον αἵρεσιν ἀντεισάξωσι. – Vgl. auch die
Verurteilung des illyrischen Trios sowie von Gaius (von Sabaria?) durch die Synode von Rimini
359 n. Chr. De synodis 11,1 (238,39–239,2 Ο.; vgl. die etwas ausführlichere lateinische Überlie-
ferung bei Hilarius, Collectanea Antiariana Parisina A 9,3 [96,15–97,13 F.] = Dok. 59.4 [AW 3,1,4,
453,2–454,22 Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes], die den von Athanasius zitier-
ten Satz als wörtliches Zitat eines Bischofs aus Umbrien einführt): Ἕως προσῆκον ἦν καὶ δυνατόν,
ἀδελφοὶ τιμιώτατοι, ἡ καθολικὴ σύνοδος καὶ ἡ ἁγία ἐκκλησία τῇ ἰδίᾳ ὑπομονῇ καὶ ἀνεξικακίᾳ
ἤνεγκεν οὐκ ἀγενῶς Οὐρσάκιον καὶ Οὐάλην καὶ Γάιον καὶ Γερμίνιον καὶ Αὐξέντιον, οἵτινες ἄλλοτε
ἄλλα φρονοῦντες πάσας τὰς ἐκκλησίας συνετάραξαν, οἳ καὶ νῦν ἐπιχειρῆσαι τετολμήκασι τὸν

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 Politische Dimensionen des homöischen Bekenntnisses?   121

4
Aus dieser – im Grunde relativ dürftigen – Quellenüberlieferung muss man die
Ereignisse rekonstruieren, die zum datierten Credo geführt haben, und die Rolle
der beiden homöischen „Komiker“ Ursacius und Valens bestimmen. Das Treffen
gehört, so viel müssen wir uns klarmachen, in den Kontext der ambitionierten
Reichskirchenpolitik des Kaisers Konstantius. In jenen Jahren reiste der Kaiser
viel, und in seiner Begleitung fand sich meist eine größere Gruppe von Bischöfen.
Im Mai 357 verließ Konstantius Rom und blieb für zwei Jahre in seiner Geburts-
stadt Sirmium  – den Ort nutzte er als Basis umfangreicher religionspolitischer
Aktivitäten, aber auch für allerlei militärische Aktionen.37 Vielleicht stand im
Mai des Jahres 359 n. Chr. schon fest, dass der Monarch im Februar 360 n. Chr.
einen feierlichen Akt zu den Enkainien der schon von seinem Vater begonnenen
großen Kirche in Konstantinopel feiern wollte, vermutlich plante er auch damals
schon ein Reichskonzil und brauchte dazu eine befriedete Kirche.38 Man geht
wahrscheinlich nicht fehl, das Treffen in Sirmium im Mai 359 n. Chr. als Vorbe-
reitungstreffen für das Reichskonzil zu interpretieren:39 Wir haben, wenn man
dieser Sicht folgt, mit Hilfe der zuvor erwähnten Quellen das Glück, einmal einen
Blick in die Vorbereitung einer Reichssynode werfen zu können, und gewinnen
durch die Polemik des Athanasius und andere eher kritische (oder im Fall des
Germinius enttäuschte) Stimmen Einblick in eine kleine Kommissionssitzung
vor der größten Synode, die die Marschroute für das Reichskonzil festzulegen
versucht – der umgangssprachliche Ausdruck „Kungelrunde“ mag eine Note zu
scharf formuliert sein, beschreibt vermutlich aber das Anliegen des Treffens nicht
gänzlich falsch. Stand der Kaiser hinter diesem Treffen, konnte er das Verfahren
über die offizielle Tagesordnung sanktionieren; mir scheint, dass es gute Gründe
gibt, dies anzunehmen. Dass es sich bei dem Treffen um eine regelrechte Synode
mit formeller Einladung, Tagesordnung und Konstitution handelte, wird  – wie
Timothy D.  Barnes richtig bemerkte  – bei unseren einschlägigen genannten
Quellen, bei Athanasius, Epiphanius, Hilarius und Sozomenus, nirgendwo deut-
lich gesagt; Barnes spricht im Blick auf die moderne Forschungsliteratur sinn­

αἱρετικὸν λογισμὸν τῇ τῶν ὀρθοδόξων πίστει συνάψαι καὶ διαλῦσαι τὴν ἐν Νικαίᾳ σύνοδον, ἥτις
ἀντίμαχος ὑπάρχει τῇ τῶν Ἀρειανῶν αἱρέσει, ἔξωθεν ἰδίαν τινὰ καὶ ἀλλοτριωτάτην τῆς ἁγιωτάτης
ἐκκλησίας συγγραφεῖσαν πίστιν προσφέροντες, ἥντινα ἡμᾶς δέξασθαι ἀθέμιτον ἡγησάμεθα.
37 P. Barceló, Constantius II. und seine Zeit. Die Anfänge des Staatskirchentums, Stuttgart 2004,
148–158.
38 Brennecke, Studien (wie Anm. 16), 6 mit Nachweisen in Anm. 8.
39 So jetzt auch Brennecke et al. (Hgg.) (wie Anm. 11), 420 (Einleitung zu Dokument 57.1).

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122   Christoph Markschies

voller­weise von einem „alleged council“.40 Kelly bezeichnet das Ganze wahr-
scheinlich vollkommen zutreffend als kleinen Ausschuss,41 der durch unsere
Tendenz, die Theologiegeschichte des vierten Jahrhunderts als Abfolge von
Bekenntnissen und Synoden zu rekonstruieren, zur „dritten sirmischen Synode“
stilisiert wurde.42
Die Quellen verlocken dazu, sich den Ablauf des Treffens durchaus recht
konkret vorzustellen: Man rang, wie Germinius in seinem erwähnten Bericht
einige Jahre nach den Ereignissen überliefert, bis in die Nacht, um am Pfingst-
morgen gemeinsam Gottesdienst feiern zu können.43 Anwesend waren Basilius
von Ankyra als Vertreter der sogenannten Homöusianer, die Homöer Ursacius,
Valens samt Germinius, und mit dem alexandrinischen Bischof Georg sogar ein
früherer Unterstützer der Anhomöer. Alle Genannten stammten, wie Brennecke
richtig beobachtet, aber ursprünglich aus den Kreisen der letztlich auf Origenes
zurückführbaren, durch Eusebius popularisierten Drei-Hypostasen-Theologie.44
Allerdings fehlen im sogenannten datierten Credo alle Bezüge auf diese Drei-

40 Barnes (wie Anm. 27), 232.318 no. 14.


41 J. N. D. Kelly, Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie, Göttingen 1972
(= Early Christian Creeds, London 31972, übers. v. K. Dockhorn unter Mitarbeit von A. M. Ritter),
285.
42 Gegen diese Interpretation könnte eingewendet werden, was bei Epiphanius am Ende
der Unterschriftenliste zu lesen steht: ἀνεγνώσθη ἡ ὑπογραφὴ καὶ ἐδόθη Οὐάλεντι, παρόντος
Μάρκου, Γεωργίου, Οὐρσακίου, Γερμανοῦ, Ὑπατιανοῦ ἐπισκόπων καὶ πρεσβυτέρων καὶ διακόνων
πλειόνων (Epiphanius, Panarion [Adversus haereses] 73,22,8 [295,30–32 H./D. =  Dok. 57.3 (AW
3,1,4, 425,20–23 Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes)]). „Sehr viele Bischöfe und
Presbyter und Diakone“ möchten schlecht zu einer kleinen Kommissionssitzung passen; aber
aus der Sachlogik des Abschnittes kann es sich auch um die Übergabe der vierten sirmischen
Formel an Valens vor dessen Abreise zum (Teil-)Konzil von Rimini handeln, auf dem bekanntlich
eine große Zahl von Bischöfen anwesend war (vgl. die Quellennachweise bei Brennecke et al.
[Hgg.] [wie Anm. 11], 445).
43 usque in noctem de fide disputationem – vgl. den oben Anm. 31 zitierten Text des Briefes von
Germinius. Natürlich ist im strikten Sinne nicht auszuschließen, dass es sich bei dieser Zeitanga-
be um eine topische Beschreibung des engagierten Ringens um einen Kompromiss handelt, aber
es mag auch die tatsächlichen Verhältnisse beschreiben: Brennecke (wie Anm. 16), 13.
44 Brennecke (wie Anm. 16), 15.  – Zu dieser Form der Theologie vgl. beispielsweise C.  Mark-
schies, Der Heilige Geist im Johanneskommentar. Einige vorläufige Bemerkungen, in: E. Prinzi-
valli (Hg.), Il Commento a Giovanni di Origene: Il testo e i suoi contesti. Atti dell’ VIII Convegno
di Studi di Gruppo Italiano di Ricerca su Origene e la Tradizione Alessandrina (Biblioteca di Ada-
mantius 3), Villa Verucchio 2005, 277–299 = id., Origenes und sein Erbe. Gesammelte Studien (TU
160), Berlin 2007, 107–126 sowie H. Strutwolf, Die Trinitätstheologie und Christologie des Euseb
von Caesarea. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung seiner Platonismusrezeption und Wir-
kungsgeschichte (FKDG 72), Göttingen 1999, 134–135.225–226.

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 Politische Dimensionen des homöischen Bekenntnisses?   123

Hypostasen-Theologie (übrigens auch im Unterschied zur in Sirmium 358 n. Chr.


nostrifizierten theologischen Erklärung der antiochenischen Kirchweihsynode
341 n. Chr. mit den zusätzlichen Anathematismen:45 ὡς εἶναι τῇ μὲν ὑποστάσει
τρία, τῇ δὲ συμφωνίᾳ ἕν)46  – alle solche Bezüge hätten nämlich jede Verstän-
digung mit den abendländischen Bischöfen unmöglich gemacht, die bekannt-
lich eine Ein-Hypostasen-Theologie vertraten und schon in den voraufgehen-
den Jahren äußerst harsch gegen entsprechende Tendenzen reagiert hatten.47
Was wissen wir aber nun über Ursacius und Valens? Im Grunde, wenn man die
Polemik abzieht, nicht sehr viel.

5
Die beiden, die Patricia Just in ihrer Arbeit über das Verhältnis von Staatsgewalt
und christlicher Kirche vielleicht doch etwas untertreibend „Nebenfiguren im ari-
anischen Streit“ nennt,48 treten erstmals auf der Synode von Tyrus 335 n. Chr. in
den Blick und starben nach 371 n. Chr.49 In Tyrus gehörten sie zur Untersuchungs-
kommission gegen Athanasius (was seine polemischen Invektiven über zwanzig
Jahre später bestens erklärt), behielten diese gegen Athanasius gerichtete Posi-
tion auf dem großen Reichskonzil in Serdica 342/343 n. Chr. bei und wurden dafür
in der Ekthesis der westlichen Teilsynode als „zwei Vipern aus der arianischen

45 Entweder die zweite antiochenische Formel: Dok. 41.4 (AW 3,1,3, 145,1–147,27 Brennecke/Heil/
von Stockhausen/Wintjes) oder die nicht eindeutig zuordenbare vierte antiochenische Formel:
Dok. 42 (AW 3,1,3 176,1–178,6); die Anathematismen: Dok. 41.4 (AW 3,1,3 412,8–415,17 Brennecke/
Heil/von Stockhausen/Wintjes).  – Brennecke (wie Anm. 16), 17 denkt, es sei die vierte Formel
nostrifiziert worden, Brennecke et al. (Hgg.) (wie Anm. 11) lässt offen, ob es die zweite oder vierte
Formel war.
46 Aus der theologischen Erklärung der Kirchweihsynode, hier zitiert nach Athanasius, De sy­
nodis 23,6 (AW 2,7 Die „Apologien“, hg. v. H. G. Opitz, Berlin 1940, 249,23) = Dok. 41.4 (AW 3,1,3,
147,7–8 Brennecke/Heil/von Stockhausen/Wintjes). Die vierte Formel zitiert dagegen den nizä-
nischen Anathematismus τοὺς δὲ λέγοντας ἐξ οὐκ ὄντων τὸν υἱὸν ἢ ἐξ ἑτέρας ὑποστάσεως καὶ
μὴ ἐκ τοῦ θεοῦ, hier zitiert nach Athanasius, De synodis 25,5 (251,14–15 O.) = Dok. 42 (AW 3,1,3,
178,4–5 Brennecke/Heil/von Stockhausen/Wintjes).
47 Brennecke (wie Anm. 16), 17 Anm. 71 mit Verweis auf id., Hilarius (wie Anm. 24), 17–25.
48 P. Just, Imperator et Episcopus. Zum Verhältnis von Staatsgewalt und christlicher Kirche zwi-
schen dem 1. Konzil von Nicaea (325) und dem 1. Konzil von Konstantinopel (381) (PAwB 8),
Wiesbaden 2003, 68–78.
49 So B. Windau, Art.: Valens von Mursa, in: 3LACL (2002), 710; anders Just (wie Anm. 48), 69.

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124   Christoph Markschies

Giftschlange“ bezeichnet, exkommuniziert und abgesetzt.50 Sodann bekannten


sie auf den Synoden von Mailand 345 und 347 n. Chr. ihre Schuld, wechselten
das Lager und wurden einige Zeit später auf einer römischen Synode restitu-
iert51 – so muss man jedenfalls dann formulieren, wenn man die Geschichte aus
der Perspektive des späten Athanasius betrachtet und gelegentliche neue Koa-
litionen nicht für ein normales Phänomen bischöflichen Verhaltens im vierten
Jahrhundert hält. Die beiden Bischöfe bedauerten, den gehässigen Gerüchten
über Athanasius geglaubt zu haben, und verurteilten die, die sagen, „es gab eine
Zeit, als der Sohn nicht war“ (teilen also einen verbreiteten Anathematismus
gegen Anhänger des Arius).52 Weitere Bemerkungen zur Trinitätslehre finden
sich in ihrem Widerruf nicht. Ob dieser ihr „Kurswechsel“ und die Aufnahme
der Kirchengemeinschaft mit Athanasius übrigens, wie Patricia Just vor einiger
Zeit zutreffend bemerkte, gegen die klassische Sichtweise von zwei Hofbischöfen
spricht, die ihr Mäntelchen jeweils nach dem Wind hängen, der aus kaiser­licher
Richtung gerade weht, könnte man nur entscheiden, wenn man jenseits der

50 Aus der Theologischen Erklärung der westlichen Synode (Theodoret, Historia ecclesiastica
2,8,37–52 [GCS.NF 5, 112,16–188,4 Parmentier/Hansen = Dok. 43.2 (AW 3,1,3, 206,1–212,6 Brenne-
cke/Heil/von Stockhausen/Wintjes)]): καὶ ὑπόγυον δὲ δύο ἔχεις ἀπὸ τῆς ἀσπίδος τῆς Ἀρειανῆς
ἐγεννήθησαν, Οὐάλης καὶ Οὐρσάκιος· οἵ τινες καυχῶνται καὶ οὐκ ἀμφιβάλλουσι λέγοντες ἑαυτοὺς
Χριστιανοὺς εἶναι καὶ ὅτι ὁ λόγος καὶ ὅτι τὸ πνεῦμα καὶ ἐσταυρώθη καὶ ἐσφάγη καὶ ἀπέθανεν καὶ
ἀνέστη καί, ὅπερ τὸ τῶν αἱρετικῶν σύστημα φιλονεικεῖ, διαφόρους εἶναι τὰς ὑποστάσεις τοῦ
πατρὸς καὶ τοῦ υἱοῦ καὶ τοῦ ἁγίου πνεύματος καὶ εἶναι κεχωρισμένας. – Das Referat der Positi-
on der beiden ist natürlich polemisch, vgl. zur Kommentierung auch J. Ulrich, Die Anfänge der
abendländischen Rezeption des Nizänums (PTS 39), Berlin 1994, 51 bzw. 56 (Text und Überset-
zung) und 63–65 (Kommentierung).
51 Vgl. ihre briefliche Erklärung an Bischof Julius von Rom: Hilarius, Collectanea Antiariana
Parisina B 2,6 (143,4–144,14 F.) = Dok. 46 (AW 3,1,4, 323,1–324,6 bzw. 324,12–325,27 Brennecke/von
Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes). Weitere Belege in den Regesten bei Brennecke et al. (Hgg.)
(wie Anm. 11) und bei Just (wie Anm. 48), 72–73.
52 Hilarius, Collectanea Antiariana Parisina B 2,6 (144,6–13 F.) = Dok. 46 (AW 3,1,4, 323,25–324,9
Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes): Hereticum uero Arium, sed et satellites eius,
qui dicunt: „Erat tempus, quando non erat filius“, et qui dicunt „ex nihilo filium“, et qui negant Dei
filium ante saecula fuisse, sicut per priorem libellum nostrum, quem apud Mediolanum porrexi­
mus, et nunc et semper anathematizasse hac manu nostra, qua scripsimus, profitemur. et iterum
dicimus heresim Arrianam, ut superius diximus, et eius auctores in perpetuum damnasse. Interes-
santerweise verschärft das lateinische Original der Erklärung den klassischen antiarianischen
Anathematismen-Satz „ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν ὁ υἱὸς“, καὶ ὅτι ἐκ τοῦ μὴ ὄντος ὁ υἱός ἐστι καὶ τοὺς
ἀρνουμένους τὸν Χριστὸν θεὸν εἶναι θεοῦ υἱὸν πρὸ αἰώνων (Athanasius, Apologia secunda contra
Arianos 58,4 [AW 2,4, Die „Apologien“, hg. v. H. G. Opitz, Berlin 1938, 138,15–17], aus dem Exem-
plar des Paulinus von Trier) durch die Einfügung eines tempus in „ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν ὁ υἱὸς“
deutlich verschärft: „Es gab eine Zeit, […]“.

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 Politische Dimensionen des homöischen Bekenntnisses?   125

geprägten Sprache der Quellen ihre wahren Motive kennen würde.53 Bei der For-
mierung der synodalen Kompromisse nach dem spektakulären Zusammenbruch
der homöischen Reichskirchenpolitik in den sechziger Jahren waren sie tatsäch-
lich nur noch „Nebenfiguren“ im Streit, so bedeutend oder unbedeutend, wie es
ihre illyrischen Bischofssitze waren, wenn sie dann überhaupt noch lebten.
Von schlechterdings zentraler Bedeutung für das Leben der beiden illyri-
schen Bischöfe scheint mir ein Erlebnis des Bischofs Valens mit dem neuen Kaiser
Konstantius zu Beginn der fünfziger Jahre zu sein, auf das wir noch kurz eingehen
müssen: Jener Herrscher empfing die erste Meldung über seinen so entscheiden-
den Sieg in der überaus grausamen und blutigen Schlacht von Mursa am 28. Sep-
tember 351 n. Chr. von Bischof Valens.54 Man sollte dies nicht ohne Umschweife
vor dem Hintergrund einer grundsätzlich politikkritischen Wertung kirchlichen
Handelns als reinen politischen Opportunismus abtun, wie Just vollkommen
zutreffend bemerkt hat;55 schließlich handelte es sich bei Valens von Mursa
sozusagen um den pastor loci und er nahm in der Schlacht und danach seine
kirchlichen Funktionen im Rahmen einer Reichskirche wahr. Ob die beiden durch
dieses Erlebnis aber tatsächlich „Hofbischöfe“ im klassischen pejorativen Sinne
dieses problematischen Begriffs wurden, gar Architekten der Reichskirchenpoli-
tik des Kaisers, kann man nur sehr schlecht begründet entscheiden. Athanasius
jedenfalls wollte seine Leser eben dies glauben machen und hat dabei auch bei
vielen neuzeitlichen Wissenschaftlern Erfolg gehabt.56
Nun haben wir sowohl die Quellen für eine Beurteilung des Bischofstreffens
in Sirmium im Jahre 359 n. Chr. und seiner theologischen Erklärung gemustert
als auch historische und theologische Kontexte zusammengestellt – wir können
nun also nochmals die Frage nach der Rolle der beiden Bischöfe Ursacius und
Valens aufgreifen: Angesichts der nun schon mehrfach betonten Unsicherhei-
ten der Überlieferung und Problematik der Quellen kann man allerdings leider
kaum noch beurteilen, wie stark genau der Einfluss von Ursacius und Valens auf
die theologische Kompromissformel des Treffens in Sirmium war, die präzise auf

53 Just (wie Anm. 48), 72.


54 Sulpicius Severus, Chronica 2,38,5 (CSEL 1, 91,21–28 Halm): nam eo tempore, quo apud Mur­
sam contra Magnentium armis certatum, Constantius descendere in conspectum pugnae non ausus
in basilica martyrum extra oppidum sita, Valente tum eius loci episcopo in solatium assumpto,
diversatus est. ceterum Valens callide per <agros> suos disposuerat, ut quis proelii fuisset eventus
primus cognosceret, vel gratiam regis captans, si prior bonum nuntium detulisset, vel vitae con­
sulens, ante capturus fugiendi spatium, si quid contra accidisset. – Zur Schlacht von Mursa bei-
spielsweise Barceló (wie Anm. 37), 99–112.
55 Just (wie Anm. 48), 74.
56 Just (wie Anm. 48), 74 mit Nachweisen in Anm. 30.

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126   Christoph Markschies

den 22. Mai 359 n. Chr. datiert ist, das von Athanasius so polemisch kommentierte
„datierte Bekenntnis“. Relativ wahrscheinlich ist, dass wir es, wie wir sahen
(im Unterschied zur Polemik des alexandrinischen Bischofs, der die Forschung
gern gefolgt ist), nicht mit einem regelrechten „Bekenntnis“ einer „Reichssyn-
ode“ zu tun haben, das in die bekannte deutsche Typologie von Synodal- und
Privatbekenntnissen einzuordnen wäre,57 obwohl natürlich Elemente jener Texte
aufgegriffen werden  – Markus Vinzent hat von einem „Baukastensystem“ von
Formeln gesprochen, die auf den Bischofs- und Theologentreffen anlassbezogen
in Anknüpfung und Widerspruch (re-)kombiniert wurden.58 Mir scheint, dass mit
dieser Begriffsprägung ziemlich exakt eine Formulierung aus der Überlieferung
zum Bischofstreffen von 359 n. Chr. aufgegriffen ist, auf die schon hingewiesen
worden war: Es heißt, dass dort eine Glaubensformel aufgesetzt wurde ad certam
regulam perductam, „entsprechend einem vorgegebenen Muster“.59
Noch einmal gefragt: Welchen Einfluss hatten die beiden Bischöfe auf die
Konstruktion der Erklärung nach dem vorgegebenen Muster des Baukastensys-
tems? Welchen Einfluss nahm der Kaiser, welchen Druck übten seine Beamten
aus? Knapp formuliert: Wir wissen es nicht, obwohl wir einen scheinbar so präzi-
sen Einblick in das Geschehen auf dem Bischofstreffen nehmen und die Bischöfe
förmlich in der nächtlichen Kommissionsarbeit zusammensitzen sehen können.
Denn unsere Quellen sind parteiisch: Athanasius hatte, wie wir sahen, in seiner
gesamten Schrift über das doppelte Reichskonzil ein durchgängiges Interesse
daran, alte Intimfeinde zu denunzieren, und überzeichnete die Rolle von Ursa-
cius und Valens in der Vorberatung der Bischöfe in Sirmium im Jahre 359 n. Chr.
möglicherweise deutlich. Auf der anderen Seite wird ihr Beitrag wahrscheinlich
auch nicht ganz klein zu veranschlagen sein: Der Kaiser war seit einer Reihe von
Jahren im Inneren unangefochtener Herrscher seines Teilreiches; Bischöfe seiner
unmittelbaren Umgebung dürften ihren Einfluss gehabt haben (um den proble-
matisch konnotierten Begriff „Hofbischöfe“ hier zu vermeiden).60

57 Dazu C. Markschies, On Classifying Creeds the Classical German Way: ‚Privat-Bekenntnisse‘


(‚Private Creeds‘), in: StPatr 63 (2013), 259–271.
58 Vinzent spricht (etwas missverständlich) von einem „antilogischen Baukastenmodell“, denn
die Rekombinationen erfolgen ja sowohl in Anknüpfung als auch im Widerspruch: vgl. die For-
schungsgeschichte zur These bei M. Vinzent, Der Ursprung des Apostolikums im Urteil der kriti-
schen Forschung (FKDG 89), Göttingen 2006, 312–329; vgl. auch unten Anm. 63.
59 Hilarius, Collectanea Antiariana Parisina B 6,3 (163,12–22 F.) = Dok. 57.1 (AW 3,1,4, 420,1–421,13
Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes); Text wie oben Anm. 31.
60 Vgl. dazu E. Hunt, Did Constantius II. have „Court Bishops“?, in: StPatr 19 (1989), 86–90 und
Markschies (wie Anm. 8), 449–451.

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 Politische Dimensionen des homöischen Bekenntnisses?   127

Hilft der erhaltene Text der Erklärung an dieser Stelle weiter? Wenn man
den griechischen Text des Bekenntnisses mustert – ein lateinisches Original ist,
obwohl dies Sokrates behauptet, wenig wahrscheinlich61  –, fällt zunächst auf,
wie deutlich im Text die Abgrenzungen vollzogen sind: Einmal gegenüber Arius,
wenn es heißt: „der leidlos gezeugt wurde vor allen Zeiten und vor allem Anfang
und vor aller denkbaren Zeit“ (Dok. 57.2 [AW 3,1,4, 422,6–8: […] πρὸ πάντων τῶν
αἰώνων καὶ πρὸ πάσης ἀρχῆς καὶ πρὸ παντὸς ἐπινοουμένου χρόνου […]); eine drei-
fache Versicherung gegen das Arius zugeschriebene ἦν πότε, ὅτε οὐκ ἦν.62 Im Text
wird aber auch mit erkennbaren Bezügen beispielsweise auf die Kompromissfor-
mel der Kirchweihsynode von Antiochia operiert, die zugleich knapp zehn Jahre
später den Kern der sogenannten ersten sirmischen Formel von 351 n. Chr. bildet:
Markus Vinzent hat, wie wir bereits sahen, im Blick auf diese literarischen wie
inhaltlichen Bezüge von einem „antilogisch-traditionellen Baukastenmodell der
Genese von Glaubensbekenntnissen“ gesprochen.63 Mit diesem etwas künstlich
wirkenden Begriff ist die vergleichsweise schlichte Tatsache bezeichnet, dass
die meisten entsprechenden Bekenntnisse des vierten Jahrhunderts in konkreter
Apologetik bestimmte Positionen zurückweisen, sich aber zugleich auch bewusst
in eine bestimmte Glaubenstradition einordnen. Beides geschieht im sogenann-
ten „datierten“ Credo selbstverständlich. Es verwundert natürlich auch kaum,
dass ein von einem syrischen Bischof  – Markus von Arethusa  – zusammenge-
stellter Text syrische Eigenarten aufweist. Insgesamt wirkt aber das Bekenntnis
viel papierener und um theologische Korrektheit bemüht, viel stärker wie eine
gelehrte Schreibtischarbeit als die meisten Texte der klassischen Sammlungen
solcher Literatur von Hahn bis Brennecke – beispielsweise sind die Jünger Jesu
erwähnt und vieles andere mehr, was ich hier nicht vertiefen kann.
Es ist hier auch nicht der Ort, um ausführlich über die namensgebende Formel
im sogenannten datierten Bekenntnis zu sprechen (ὅμοιον τῷ γεννήσαντι αὐτὸν

61 Socrates, Historia ecclesiastica 2,37,17 (154,4–5 H.): ἣν ἐν Σιρμίῳ προτυπώσαντες ἐκεῖ μέν,
ὡς καὶ πρότερον ἔφην, Σιρμίῳ προτυπώσαντες ἐκεῖ μέν, ὡς καὶ πρότερον ἔφην, ἐταμιεύσαντο,
τότε δὲ ἐν τῇ Ἀριμήνῳ φανερὰν τε πεποιήκασιν· ἥτις ἐκ Ῥωμαϊκοῦ μὲν ἡρμηνεύθη, ἐστὶ δὲ ἐν
τούτοις τοῖς ῥήμασιν.  – Kritisch zu einer lateinischen Urfassung auch Brennecke et al. (Hgg.)
(wie Anm. 11), 421 (im Regest zu Dokument 57.2, der griechischen Erklärung).
62 Auch hier findet sich in der Paraphrase der klassischen Anathematismen die explizite Einfü-
gung des Stichwortes „Zeit“, vgl. oben Anm. 52.
63 M.  Vinzent, Die Entstehung des „römischen Glaubensbekenntnisses“, in: W.  Kinzig/
C. Markschies/M. Vinzent (Hgg.), Tauffragen und Bekenntnis. Studien zur sogenannten „Traditio
Apostolica“, zu den „Interrogationes de fide“ und zum „Römischen Glaubensbekenntnis“ (AKG
74), Tübingen 1999, 185–410 (235); ähnlich G.  Riedl, Hermeneutische Grundstrukturen früh-
christlicher Bekenntnisbildung (TBT 123), Berlin 2004, 3–6.

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128   Christoph Markschies

πατρὶ κατὰ τὰς γραφάς) – in ihr wird bekanntlich scheinbar naiv ein notorisch
unklarer Begriff (nämlich das der Bewegung den Namen gebende ὅμοιος) durch
den summarischen Verweis auf die biblischen Schriften erläutert. Zusammen
mit den Passagen, die am Ende festlegen, den Gebrauch des im Volk missver-
standenen Terminus οὐσία zu „entfernen“, hat man aus diesen Sätzen im ersten
erhaltenen homöischen Bekenntnis und vergleichbaren Texten auf einen „naiven
Biblizismus“ der Homöer schließen wollen. Ob dies tatsächlich auch auf Ursa-
cius und Valens zutrifft, ist mangels Quellen kaum zu entscheiden, wir besitzen
schließlich keine im eigentlichen Sinne theologischen oder gar trinitätstheologi-
schen Texte von beiden Illyrern. Winrich Löhr hat allerdings darauf hingewiesen,
dass eine entsprechende Tendenz, auf die Suffizienz der Heiligen Schriften zu
verweisen, eine ganze Reihe von Synodalbekenntnissen und Glaubensformeln
des vierten Jahrhunderts prägt, beispielsweise auch die sogenannte zweite sir-
mische Formel.64 Von einem „naiven Biblizismus“ würde ich als evangelischer
Theologe natürlich angesichts einer solchen Argumentation niemals sprechen;
es kommt schließlich immer darauf an, wie der nämliche Gedanke begründet
wird. Entsprechende Begründungen  – mindestens aus der Feder von Ursacius
und Valens – sind uns leider nicht explizit erhalten, bestanden aber vermutlich
aus einem Hinweis auf die Applikationsfähigkeit und Verständlichkeit der Formel
für die Gemeinden. Die Formeln der Homöer sind so wirkmächtig und zugleich
theologisch so blutleer wie es Kompromissformeln nun eben einmal sind, damals
wie heute.65 Solche Formeln begründen Interpretationsschleifen; ein schönes
Beispiel für diesen Zusammenhang ist der Versuch des Basilius von Ankyra,
das ὅμοιος κατὰ πάντα bei seiner Unterschrift zu präzisieren, der in der erwähn-
ten Subskriptionsliste bei Epiphanius überliefert wird: Die Formel meint seiner
Ansicht nach nicht nur κατὰ τὴν βούλησιν, sondern κατὰ τὴν ὑπόστασιν καὶ τὴν
ὑπάρξιν καὶ κατὰ δὲ εἶναι ὡς υἱὸν κατὰ τὰς γραφάς […].66 Eine solche Interpreta-
tion aber war für einen Homöer von echtem Schrot und Korn natürlich inakzep-

64 Löhr, Entstehung (wie Anm. 16), 101.


65 Ayres (wie Anm. 16), 144–167.
66 Epiphanius, Panarion [Adversus haereses] 73,22,7–8 (295,20–22 H./D.) = Dok. 57.3 (AW 3,1,4,
425,1–19 Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes): Βασίλειος ἐπίσκοπος Ἀγκύρας·
<οὕτως> πιστεύω καὶ συνευδοκῶ  τοῖς προγεγραμμένοις, ὅμοιον ὁμολογῶν τὸν υἱὸν τῷ πατρὶ
κατὰ πάντα· κατὰ πάντα δέ, οὐ μόνον κατὰ τὴν βούλησιν, ἀλλὰ κατὰ τὴν ὑπόστασιν καὶ κατὰ τὴν
ὕπαρξιν καὶ κατὰ τὸ εἶναι ὡς υἱὸν κατὰ τὰς θείας γραφάς, πνεῦμα ἐκ πνεύματος, ζωὴν ἐκ ζωῆς,
φῶς ἐκ φωτός, θεὸν ἐκ θεοῦ, ἀληθινὸν υἱὸν ἐξ ἀληθινοῦ <πατρός>, σοφίαν υἱὸν ἐκ σοφοῦ θεοῦ
καὶ πατρός, καὶ καθάπαξ κατὰ πάντα τὸν υἱὸν ὅμοιον τῷ πατρί, ὡς υἱὸν πατρί. καὶ εἴ τις κατά τι
λέγει ὅμοιον, ὡς προγέγραπται, ἀλλότριον εἶναι τῆς καθολικῆς ἐκκλησίας, ὡς μὴ κατὰ τὰς θείας
γραφὰς ὅμοιον τὸν υἱὸν τῷ πατρὶ λέγοντα.

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 Politische Dimensionen des homöischen Bekenntnisses?   129

tabel und verlangte nach neuen institutionalisierten wie informellen Diskursen.


Darüber hinaus markierte sie im Grunde das Scheitern der Reichskirchenpolitik
des Kaisers Konstantius, das nach dem Abschluss des Doppelkonzils von Seleu-
kia-Rimini offensichtlich wurde.

6
Die Frage, welche Rolle Ursacius und Valens in Sirmium Ende Mai 359 n. Chr.
spielten, lässt sich also nicht mehr wirklich aufhellen. Aber wir haben nun
immerhin nachvollziehen können, dass es systematische Gründe gibt, warum ihr
Auftritt mit der Formel von Sirmium auf dem westlichen Teilkonzil von Rimini
in die Katastrophe führte – einen Auftritt, den wir hier nur anspielen, aber nicht
noch ausführlich diskutieren können.
Aus diesen Gründen kann man nun aber, wie eingangs vermutet, tatsäch-
lich allgemeiner rückschließen auf die politische Funktionalität des homöischen
Bekenntnisses und seine faktische politische Funktion am Ende der fünfziger
Jahre des vierten Jahrhunderts: Offenbar gab es tatsächlich einen engen Zusam-
menhang zwischen der Synode und ihrem Glaubensbekenntnis einerseits und
dem kaiserlichen Anliegen andererseits, die Kirche nach einer äußerst konflikt­
reichen Zeit wieder so zu einigen, wie es der (religions-)politischen Tradition im
Imperium entsprach.67 Aber ganz offenkundig bildete für den Kaiser nicht eine
einzige theologische Richtung bzw. Lehrbildung (und insbesondere nicht ein
einziger, spezifischer Typus von Trinitätstheologie) das inhaltlich leitende Para-
digma für diesen Versuch einer Einigung. Vielmehr ging es, wie auch gern heute
in politischen Zusammenhängen, um das Interesse, eine möglichst große Zahl
von Menschen unter einer gemeinsamen Programmformulierung oder Parole zu
einigen. Man wird also eher institutionensoziologisch nach der Dynamik syno-
daler Versammlungen fragen müssen, anstatt sofort nach der inhaltlichen Struk-
tur einer Trinitätstheologie zu suchen. Gerade die inhaltlichen Einzelheiten, die
im Zentrum einer spezifischen Lehrbildung stehen und um die sich Theologen
aller Zeiten gern streiten, müssen schließlich in einem solchen Versuch der Kon-
sensbildung auf möglichst breiter Basis verschliffen, ja vernachlässigt werden.
Ob man eine solche am Kompromiss orientierte Haltung als gute oder schlechte
Theologie charakterisiert, hängt natürlich von eigenen Vorentscheidungen ab
und steht nicht ein für alle Mal als Norm fest, die in der historischen Analyse

67 K. Thraede, Art. Homonoia (Eintracht), in: RAC 16 (1994), 176–289 (259–276).

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130   Christoph Markschies

zugrundegelegt werden darf.68 Wenn man schließlich doch nach Details fragt,
die die homöische Theologie für solche Zwecke einer konsensualen Einigung
auf möglichst breiter Basis geeignet machten, dann wird man sicherlich nicht
zuerst (wie seinerzeit Peterson) ihre subordinatianische Fassung der christlichen
Trinitätstheologie nennen wollen (die zudem in den erhaltenen Quellen auch
wenig Profil gewinnt), sondern viel eher den antispekulativen Impetus dieser
Theologie, ihr Interesse, die gerade aktuellen wie umstrittenen Begriffe der zeit-
genössischen theologischen Debatten zu vermeiden und inhaltlich allzu explizite
Polemik gegen andere theologische Konzepte. Es überrascht wenig, dass ambitio-
niertere Theologen wie Ambrosius von Mailand mit einem solchen Modell primär
kon­sens­orien­tier­ter Theologie, in der der Burgfrieden zwischen verschiedenen
Gruppen von größerer Bedeutung ist als inhaltliche Stringenz einer theologi-
schen Argumentation, ihre Schwierigkeiten hatten. Aber man darf an dieser Stelle
natürlich auch nicht allzu sehr bestimmte Schematisierungen einführen: Ambro-
sius hatte, solange er selbst in Sirmium und damit am Wirkungsort eines ein-
flussreichen homöischen Theologen tätig war, durchaus auch Gelegenheit, das
politische Scheitern dieser am Kompromiss orientierten Theologie zu verfolgen.
Es mag also zunächst auch ein rein politisches Urteil gewesen sein, das er über
die Versuche von Ursacius, Valens und ihren Mitstreitern fällte, bevor er dann
seit dem Jahre 374 n. Chr. dieses kritische Urteil zunehmend theologisch zu fun-
damentieren begann.69 Insofern eignet er sich auch an dieser Stelle nicht dazu,
als aufrechter westlicher Heros nizänischer Theologie gemeinsam mit Athanasius
einem moralisch zweifelhaften illyrischen homöischen Paar entgegengestellt zu
werden, so vertraut uns solche Schematisierungen sein mögen und so bequem
sie einst für den akademischen Unterricht waren.

68 Eine zeitgenössische Debatte zum Thema erschien vor einiger Zeit: W. Huber (Hg.), Was ist
gute Theologie?, Stuttgart 2004 (darin C. Markschies, Evangelische Theologie in der Universität,
99–112).
69 C. Markschies, Ambrosius von Mailand und die Trinitätstheologie. Kirchen- und theologiege-
schichtliche Studien zu Antiarianismus und Neunizänismus bei Ambrosius und im lateinischen
Westen (364–381) (BHTh 90), Tübingen 1995, 45–57 (Ambrosius und Sirmium) sowie 84–212 (neu-
nizänische Theologie nach der Bischofsweihe); zum Verhältnis von „Theologie“ und „Kirchen-
politik“ siehe id., War der Bischof Ambrosius von Mailand ein schlechter Theologe?, in: JAWG
1994 (1995), 63–66.

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Silke-Petra Bergjan
Athanasius von Alexandrien
Aristoteles-Lektüre im Nachgang zu den Synoden von Rimini
und Seleukia

1
Die Person des Athanasius möge hinreichender Grund sein, die folgenden Beob-
achtungen mit dem Thema der Eingriffe des Staates in die Belange der Kirchen zu
verknüpfen. In der Zeit, in den beginnenden 40er Jahren des 4. Jahrhundert, als
Athanasius und Markell in den Dokumenten in einem Atemzug genannt wurden1
und beide in Rom von Bischof Julius aufgenommen und auf einer Synode reha-
bilitiert wurden,2 erscheint Markell von Anfang an als Bischof,3 der als Theologe

1 Siehe vor allem den Brief von Julius von Rom (Dok. 41.8 [Athanasius Werke = AW 3,1,3, Do-
kumente zur Geschichte des arianischen Streites 318–328, hg. v. H. C. Brennecke/U. Heil/A. von
Stockhausen/A. Wintjes, Berlin 2007, 160,14–27]). Wiederholt werden beide genannt im Rund-
brief der „westlichen“ Synode von Serdica, Theodoret, Historia ecclesiastica 2,8,1–36 (GCS.NF 5,
101,4–112,15 Parmentier/Hansen) = Dok. 43.1 (AW 3,1,3, 188–205 Brennecke/Heil/von Stockhau-
sen/Wintjes); siehe außerdem die Erklärung der östlichen Synode von Serdica (überliefert von
Hilarius von Poitiers, Collectanea Antiariana Parisina Series A,4 [CSEL 65, 48,9–78,10 Feder]) =
Dok. 43.11 (AW 3,1,3, 250–272 Brennecke/Heil/von Stockhausen/Wintjes), besonders Dok. 43.11,11
und 43.11,13–15; außerdem Sozomenus, Historia ecclesiastica 3,8,1 (GCS.NF 4, 110,17–21 Bidez/
Hansen); 3,24,3 (138,30–139,2 B./H.). Auch Markell wird mit der Synode von Tyrus 335 in Ver-
bindung gebracht: Sozomenus, Historia ecclesiastica 2,33,2 (98,22–26 B./H.), vgl. 3,12,1 (115–116
B./H.). Vgl. J. T. Lienhard, Contra Marcellum. Marcellus of Ancyra and Fourth-Century Theology,
Washington 1999, 2–3; S. Parvis, Marcellus of Ancyra and the lost years of the Arian controversy
325–345, Oxford 2006, 123–127.
2 Brief des Julius von Rom an in Antiochien versammelte Bischöfe (Dok. 41.8,27 [164,12–21 B./
H./v.S./W.]) = Athanasius, Apologia secunda 27,1 (Athanasius Werke = AW 2,3, Die „Apologien“,
hg. v. Hans-Georg Opitz, Berlin 1938, 107,1–5). J. T. Lienhard (wie Anm. 1), 1–8; A. Martin, Atha-
nase d’Alexandrie et l’Église d’Égypte au IVe Siècle (328–373) (Collection de l’École Française de
Rome 216), Rom 1996, 410–422.
3 Die Absetzung von Markell auf einer Synode in Konstantinopel wird mit Verweis auf neue, von
Markell eingeführte Lehren und dessen Schrift gegen Asterius begründet. Siehe Sozomenus, His­
toria ecclesiastica 2,33 (98,12–99,8 B./H.) = Dok. 40 (AW 3,1,3, 134,13–136,3 Brennecke/Heil/von
Stockhausen/Wintjes), sowie vor allem den Bericht über die Synode in Konstantinopel (Socrates,
Historia ecclesiastica 1,36 [GCS.NF 1, 86–87 Hansen]), der in die Erklärung der östlichen Synode
von Serdica Eingang gefunden hat (Hilarius von Poitiers, Collectanea Antiariana Parisina Series

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132   Silke-Petra Bergjan

umstritten war, verurteilt und wieder rehabilitiert wurde und dessen Theologie
Niederschlag im Bekenntnis der westlichen Synode von Serdica fand und so
weithin in die westliche Theologie gewirkt hat. Die Synode in Konstantinopel,
noch unter Konstantin einberufen, verurteilt Markells Lehre, der jedoch perdura­
bat enim et contradicebat rectae fidei.4
Athanasius hingegen war kontinuierlich damit beschäftigt, sich gegen die
Vorgänge um seine Verurteilung auf der Synode von Tyrus von 3355 zu verteidi-
gen. Es gab von Anfang an Zweifel an der Amtsführung von Athanasius verbun-
den mit der von den Meletianern6 vorgebrachten Anklage, dass Athanasius mit
Gewalt und militärischer Unterstützung gegen die anderen Kirchen in Ägypten
vorgehe.7 Obwohl die dramatischen Vorwürfe vom Mord an Bischof Arsenius und

A,4,2 [49,22–50,17 F.] = Dok. 43.11,3 [AW 3,1,3, 251,33–255,23 B./H./v. St./W.]). Zur Synode von Kon-
stantinopel siehe Parvis (wie Anm. 1), 127–132.
4 Dok. 40 (133,17–18 B./H./v.S./W.); Dok. 43.11,4 (253,14 B./H./v. St./W.).
5 Vgl. Martin (wie Anm. 2), 341–389; R. P. C. Hanson, The Search for the Christian Doctrine of
God. The Arian Controversy 318–381, Edinburgh 1988, 246–262; T. D. Barnes, Athanasius and
Constantius. Theology and Politics in the Constantinian Empire, Cambridge/MA 1993, 19–33;
P. Barceló, Zur Synodaltätigkeit im 4. Jahrhundert. Die Affäre Athanasius, in: P. Eich/E. Faber
(Hgg.), Religiöser Alltag in der Spätantike (Potsdamer Altertumswissenschaftliche Untersuchun-
gen 44), Stuttgart 2013, 79–93. Aus der Perspektive der Gegenseite das Schrei­ben der östlichen
Synode von Seleucia in Dok. 43.11,6–8 (AW 3,1,3, 255,5–257,12 B./H./v. St./W.).
6 Zu den Meletianern siehe Martin (wie Anm. 2), 303–319.
7 Zum meletianischen Schisma siehe L. W. Barnard, Athanasius and the Meletian Schism in
Egypt, in: JEA 59 (1973), 181–189; M. DiMaio, Imago veritatis aut verba in speculo. Athanasius, the
Melitian Schism, and Linguistic Frontiers in Fourth Century Egypt, in: R. W. Mathisen/H. S. Sivan
(eds.), Shifting Frontiers in Late Antiquity, Alderhot 1996, 277–284. Ein Beleg für gewaltsame
von Athanasius zu verantwortende Taten vor allem gegen die Melitianer bietet London Papy-
rus 1914, veröffentlich und kommentiert von H. I. Bell/E. W. Crum (eds.), Jews and Christians
in Egypt, London 1924, 38–71. Zur Interpretation von London Papyrus 1914 siehe vor allem die
Arbeiten von Hans Hauben, z.  B. Catholiques et Mélitiens à Alexandrie à la vielle du Synode de
Tyre (335), in: M. Immerzeel/J. Van der Vlies (eds.), Coptic Studies on the Threshold of a New
Millenium. Proceedings of the Seventh International Congress of Coptic Studies, Leiden, 27 Au-
gust – 2 September 2000 (OLA 133), Louvain 2004, 905–922 (ND in: Hans Hauben, Studies on the
Melitian Schism in Egypt [AD 306–335], ed. P. van Nuffelen, London 2012). Auf London Papyrus
1914 beziehen sich in kritischer Abgrenzung zu Bell die älteren Arbeiten von D. W.-H. Arnold,
Sir Harold Idris Bell and Athanasius. A Reconsideration of London Papyrus 1914, in: StPatr 21
(1989), 377–383; ead., The Early Episcopal Career of Athanasius of Alexandria (Christianity and
Judaism in Antiquity 6), Notre Dame 1991, 81–89. Sie verweist auf Athanasius’ schriftliche Äuße-
rungen gegen Gewaltanwendungen. Ein Athanasiusbild außerhalb der politischen Machtkämpfe
und jenseits von den Fragen, die Papyrus London 1914 aufwirft, zeichnet M. Tetz, Zur Biogra-
phie des Athanasius von Alexandrien, in: id., Athanasiana. Zu Leben und Lehre des Athanasius
(BZNW 78), hg. W. Geerlings/D. Wyrwa, Berlin 1995, 23–60.

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 Athanasius von Alexandrien   133

dem Zerbrechen des Abendmahlskelches durch den Presbyter Ischyras aus der
Mareotis leicht zu widerlegen waren und Athanasius wohl auch deswegen nicht
müde wird, mit zahllosen Dokumenten aus den 30er und 40er Jahren in der Apo­
logia contra Arianos8 darzulegen, dass die Synode von Tyrus parteiisch handelte,
blieben die Vorwürfe an seiner Person hängen.
Athanasius zitiert gleich zu Anfang der Apologia contra Arianos das aus-
führliche Schrei­ben der Synode von Alexandrien 338,9 in dem die bekannten
Widerlegungen betreffend des Arsenius-Mordes und der Bechergeschichte in
der Mareotis, verhandelt auf der Synode von Tyrus, zur Sprache kommen,10 was
Athanasius veranlasst haben mag, diesen Text in die Sammlung aufzunehmen.
In dem Schrei­ben kommen jedoch auch die Gegner des Athanasius mit weiteren
Anklagen zu Wort, so zum Beispiel, dass es nach der Rückkehr von Athanasius
aus Gallien zu Morden gekommen sei,11 dass Athanasius verantwortlich sei für
problematische Gerichtsurteile12 und Getreidelieferungen nach Konstantinopel
verzögert oder verhindert habe. Es heißt: „Euseb nahm die Verleumdung nicht
öffentlich zurück, sondern schwor vielmehr, dass Athanasius reich, mächtig und
zu allem fähig sei, so dass man daraus schließen konnte, dass Athanasius auch
jenes angeordnet habe.“13 Athanasius entzieht sich 339 einer weiteren Verban-
nung, verlässt wiederum Alexandrien und geht nach Rom, nicht ohne gegen
die neueren Entwicklungen in Alexandrien zu schreiben. Die drastischen Worte
in der Epistula encyclica14 über die angeblichen Ausschreitungen,15 die mit der

8 Die Apologia secunda ist ein Text, der sukzessive von Athanasius ergänzt wurde. Der älteste
Kern ist nach Barnes im Zusammenhang mit der Verteidigung von Athanasius auf der Synode von
Alexandria von 338 und wenig später auf der Synode von Rom entstanden (Barnes [wie Anm. 5],
192–195). Leslie W. Barnard datiert die Schrift in die Jahre 357/358 (id., Studies in Athanasiusʼ
Apologia secunda, Bern 1992).
9 Athanasius, Apologia secunda 3–19 (88–101 O.).
10 Athanasius, Apologia secunda 8,4–5 (94,16–30 O.); 11,1–14,4 (96,3–98,28 O.).
11 Athanasius, Apologia secunda 5,1 (90,41–91,3 O.).
12 Athanasius, Apologia secunda 5,4 (91,13–23 O.).
13 Athanasius, Apologia secunda 9,4 (95,16–18 O.): Εὐσέβιος οὐδὲ δημοσίᾳ παραιτησάμενος τὴν
διαβολὴν ὤμνυε τὸν Ἀθανάσιον εἶναι πλούσιον καὶ δυνατὸν καὶ ἱκανὸν πρὸς πάντα, ἵνα ἐκ τούτων
κἀκεῖνα εἰρηκὼς Ἀθανάσιος νομισθῇ.
14 Zur Interpretation der Epistula encyclica siehe J. Hahn, Gewalt und religiöser Konflikt. Studi-
en zu den Auseinandersetzungen zwischen Christen, Heiden und Juden im Osten des Römischen
Reiches (von Konstantin bis Theodosius II.) (Klio.B.NF 8), Berlin 2004, 48–55; D. M. Gwynn, The
Eusebians. The Polemic of Athanasius of Alexandria and the Construction of the ‚Arian Contro-
versy’, Oxford 2007, 51–57; Barnes (wie Anm. 5), 47–55; Barnard (wie Anm. 8), 23–53.
15 Hahn (wie Anm. 14), 51–54.

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134   Silke-Petra Bergjan

Einführung von Gregor als neuem Bischof von Alexandrien verbunden waren,
sollten andere Bischöfe davon abhalten, diesen als Bischof anzuerkennen.16
In Rom können Presbyter aus Alexandrien Julius von Rom von der Unschuld
des Athanasius überzeugen. In dem Schrei­ben, in dem Julius von Rom über die
Rehabilitation von Athanasius und Markell durch eine römischen Synode infor-
miert, werden wieder der lebendige Arsenius und die Vorgänge in der Mareo-
tis17 als hinreichend für eine Verteidigung des Athanasius und die Erklärung der
Synode von Tyrus als ungültig ausgegeben: „Von Athanasius aber wurde uns
bezeugt, dass er auch in Tyrus nicht verurteilt wurde, in der Mareotis aber nicht
anwesend war, wo das belastende Material gegen ihn herstammt, wie es heißt. Ihr
wisst aber, Geliebte, dass einseitiges Material keine Beweiskraft hat.“18 Dennoch
wurde das Urteil der Synode von Tyrus, Sozomenus berichtet ausführlich,19 unter
Constantius wiederholt aufgebracht, so dass eine Apologia contra Arianos, auch
Apologia secunda genannt, durch Athanasius nötig wurde.20 Seinen politischen
Schriften ist zu entnehmen, dass Athanasius lange an dem Bild der Ereignisse,
wie sie Julius von Rom zusammenfasste, arbeitete. Dies war aber letztlich nicht
möglich, ohne dass Athanasius seine eigene nachnizänische Position entwi-
ckelte.
Zunächst geschieht dies in der polarisierenden Darstellung der Vorgänge
um die Synode von Tyrus und der Einsetzung von Gregor als Nachfolger in Ale-
xandrien sowie seiner eigenen Exile in Trier und Rom. Athanasius sieht sich als
Opfer der Machenschaften der Eusebianer (οἱ περὶ Εὐσέβιον). In Tyrus sollen
es die Melitianer sein, die sich mit den Eusebianer verbünden,21 welche die mit

16 So auch Barnes (wie Anm. 5), 48.


17 Brief des Julius von Rom an in Antiochien versammelte Bischöfe (Dok. 41.8,28–38 [164,21–
167,29 B./H./v. St./W.] = Athanasius, Apologia secunda 27,2–28,7 [107,5–108,26 O.]). Vgl. Sozome-
nus, Historia ecclesiastica 3,8,1–3 (110–111 B./H.) und 3,10,1–3 (112,29–113,10 B./H.) über den Brief
des Julius an die orientalischen Bischöfe.
18 Brief des Julius von Rom an in Antiochien versammelte Bischöfe (Dok. 41.8,14 [160,22–27
B./H./v. St./W., mit Übers.] = Athanasius, Apologia secunda 23,3–4 [104,35–37 O.]): Ἀθανάσιος δὲ
ἐμαρτυρήθη μηδὲ ἐν Τύρῳ καταγνωσθείς, ἐν δὲ τῷ Μαρεώτῃ μὴ παρεῖναι, ἔνθα τὰ ὑπομνήματα
κατ’ αὐτοῦ γεγενῆσθαι λέγεται. οἴδατε δέ, ἀγαπητοί, ὅτι τὰ κατὰ μονομέρειαν ἰσχὺν οὐκ ἔχει, ἀλλ’
ὕποπτα τυγχάνει. Vgl. Sozomenus, Historia ecclesiastica 3,12,1 (115,22–116,2 B./H.).
19 Sozomenus, Historia ecclesiastica 2,25 (84,11–87,14 B./H.); Barnes (wie Anm. 5), 8.
20 Zu den Vorgängen siehe: Barnes (wie Anm. 5) 19–33; T. George, Der Bischof von Alexandrien,
in: P. Gemeinhardt (Hg.), Athanasius Handbuch, Tübingen 2011, 82–93.
21 Athanasius, Apologia secunda 63 (Athanasius Werke = AW 2,4, Die „Apologien“, hg. v. Hans-
Georg Opitz, Berlin 1938, 142,24–143,14).

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 Athanasius von Alexandrien   135

der Untersuchung in der Mareotis beauftragte Kommission stellen.22 Zwar schil-


dert Athanasius in der Zeit um Tyrus das Wirken von Euseb von Nikomedien,23
wendet sich aber vor allem einer Gruppe von Bischöfen zu, die er für die Anklage
gegen ihn selbst verantwortlich macht und die er als Eusebianer bezeichnet.24 Die
In­trigen der Eusebianer gegen ihn sind, so Athanasius, nun nicht nur als solche
zu verurteilen, vielmehr verschärft er seine Polemik noch weiter und macht aus
den Eusebianern Häretiker, auf einer Synode rechtmäßig verurteilt. Athana-
sius scheint zwischen Eusebianern und Arianern zu unterscheiden und spricht
auch noch lange nach dem Tod von Euseb von Nikomedien von Eusebianern.25
Bei den Arianern handelt es sich aber um keine andere Gruppe als um Eusebia-
ner. Euseb von Nikomedien erscheint als Kopf der Arianer, das Konzil von Nizäa
wird mit der Verurteilung der Arianer identifiziert und die Eusebianer sind nicht
nur die Gegner von Athanasius, dem rechtmäßigen Bischof von Alexandrien, so
der Anspruch von Athanasius, sondern verurteilte Arianer. Athanasius erzählt
nicht nur polarisierend die Geschichte der 30er Jahre, was, wie Hans Lietzmann
schreibt, „für die Praxis des Athanasius“ bedeutet, „daß er jeden Gegner, mögen
seine Motive sein, welche sie wollen, als Arianer brandmarkt und auf diese Weise
von vornherein ins Unrecht setzt,“26 sondern konzipiert das Arianerargument.
Das Konzil von Nizäa, zunächst ist nur von der Synode der 300 die Rede, ist für
Athanasius in der Apologia contra Arianos nichts anderes und nichts mehr als die
Verurteilung der Arianer. David M. Gwynn spricht von „the construction of the
‚Arian controversy‘“.27 Sara Parvis schreibt: „Marcellus and Athanasius together
created the full-blown myth of Arianism“,28 ein Mythos, der für die Leser nach-
vollziehbar war und zumindest eine mögliche Interpretation der Ereignisse dar-
stellte. Das Argument findet sich voll entfaltet bereits in der Epistula encyclica.
Gregor, der an die Stelle von Athanasius als Bischof von Alexandrien trat, ist,

22 Vgl. das von Athanasius aufgenommene Schrei­ben Athanasius, Apologia secunda 73 (152,8–
153,24 O.).
23 Z. B. Athanasius, Apologia secunda 60,4 (140,22–141,1 O.).
24 Z. B. Athanasius, Apologia secunda 65,4 (144,20 O.); 71,2 (149,1–2 O.).
25 So wiederholt in De decretis Nicaenae synodi, z.  B. 18,1 (Athanasius Werke = AW 2,1, Die „Apolo-
gien“, hg. v. Hans-Georg Opitz, Berlin 1935, 15,9); 19,1 (16,1 O.) und noch in Athanasius, Epistula ad
Afros episcopos 5,4 (Athanasius Werke = AW 2,8, Die „Apologien“, hg. v. H. C. Brennecke/U. Heil/
A. von Stockhausen, Berlin 2006, 330,16).
26 H. Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche 3, Berlin 1938, 183.
27 Gwynn (wie Anm. 14); vgl. id., Athanasius of Alexandria. Bishop, Theologian, Ascetic, Fa-
ther, Oxford 2012, 76–93 (78).
28 Parvis (wie Anm. 1), 180.

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136   Silke-Petra Bergjan

so Athanasius, ein Arianer, von Arianern zu Arianern geschickt.29 Die Kirchen


wurden, nachdem Gregor in Alexandrien angekommen war, mit Gewalt in Besitz
genommen und den Arianern gegeben, so Athanasius. Das Volk stand vor der
Alternative, die Kirche zu betreten und mit den Arianern Gemeinschaft zu halten,
oder eben keine Kirche zu betreten.30 All dies sei ein Werk der Eusebianer, die
nicht nur zu den Arianern gehören, sondern die Häresie der Ariomaniten sich zu
eigen gemacht haben.31 Die Eusebianer stünden hinter seiner Verbannung nach
Gallien,32 und dies, obwohl „ihr alle oft die Gottlosigkeit“ der Ariomaniten „per-
sönlich und gemeinsam öffentlich verurteilt habt.“33

2
Wenn man auch in dem wiederholten Verweis auf die Tatsache der Verurteilung
der Arianer in der Epistula encyclica rückblickend das Konzil von Nizäa wieder-
erkennen kann, ist deutlich, dass Nizäa zunächst für nicht mehr steht als die
Verurteilung der Arianer. Die Aufgabe, nun auch in der Sache denjenigen ent-
gegenzutreten, die nach Athanasius ihre Argumente aus der Thalia des Arius
bezogen,34 nimmt Athanasius in den Orationes contra Arianos auf. Die arianische
Gegenposition lässt sich in den Orationes contra Arianos recht gut nachzeichnen.
Ausdrücklich nennt Athanasius in seiner Widerlegung Asterius,35 gegen den auch
Markell seine Schrift verfasste. Athanasius entwickelt seine Position in der Trini-
tätslehre in Abgrenzung zu einer weiterentwickelten „arianischen“ Lehre. Er legt
das ganze Gewicht seiner Argumentation auf den Begriff der Zeugung. Der Sohn
ist vom Vater gezeugt und als solcher hat er nicht nur Anteil am Wesen des Vaters,
sondern hat das Wesen des Vaters zu eigen. Der von Athanasius wiederholt

29 Athanasius, Epistula encyclica 6,1 (Athanasius Werke = AW 2,5, Die „Apologien“, hg. v.
H.-G. Opitz, Berlin 1940, 175,7).
30 Athanasius, Epistula encyclica 5,4 (174,11–15 O.).
31 Athanasius, Epistula encyclica 7,1 (176,11–14 O.).
32 Athanasius, Epistula encyclica 2,3 (171,5–7 O.).
33 Athanasius, Epistula encyclica 7,1 (176,11–12 O.): πολλάκις γὰρ αὐτῶν τὴν ἀσέβειαν ἰδίᾳ καὶ
κοινῇ πάντες ἀπεκρύξατε.
34 Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 4–9 (Athanasius Werke = AW 1,1,2, Die Dogmatischen
Schriften, hg. v. K. Metzler/K. Savvidis, Berlin 1998, 112–118).
35 Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 30,7–31,2 (140,22–141,8 M./S.); 32,1–2; Athanasius, Oratio
2 contra Arianos 37,2–3 (AW 1,1,2, 214,7–28 Metzler/Savvidis); Athanasius, Oratio 2 contra Arianos
40,2 (216,6–217,10 M./S.); Athanasius, Oratio 3 contra Arianos 2,1 (Athanasius Werke = AW 1,1,3,
Die Dogmatischen Schriften, hg. v. K. Metzler/K. Savvidis, Berlin 2000, 307,1–308,5).

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 Athanasius von Alexandrien   137

gebrauchte und bevorzugte Begriff ἴδιον steht dem Begriff der Teilhabe entgegen,
den die gegnerische Seite aufgebracht hat, so kann man Athanasius entnehmen.
Der Gedankengang der Gegenseite wird von Athanasius folgendermaßen skiz-
ziert36: Gott habe einen Schöpfungsmittler37 geschaffen und ihn Logos, Sohn und
Weisheit genannt. Dies ergebe eine Zweistufigkeit, nämlich, so die Zuspitzung
durch Athanasius, „zwei Sophien“,38 zuerst die eigene Sophia des weisen Gottes,
die in und mit Gott ist, und auf der anderen Seite der Sohn, der durch die Sophia
entstand, an ihr teilhat und lediglich Logos und Sophia genannt werde. Ganz ent-
sprechend heißt es über den Sohn und Logos, dass nach arianischer Lehre der
Sohn in Gott zu unterscheiden ist von einem (zweiten) Sohn, der an dem ersten
teilhat und lediglich Sohn und Logos genannt werde, nämlich der Gnade nach.
Dieser Sohn sei folglich nicht wahrer Sohn, sondern werde nur Sohn genannt
und sei als solcher „dem Wesen und der Eigentümlichkeit des Vaters fremd und
ungleich in jeder Hinsicht“ (ἀνόμοιος κατὰ πάντα τῆς τοῦ πατρὸς οὐσίας καὶ
ἰδιότητός ἐστι).39 Während der Thalia zu entnehmen ist, dass der Sohn nicht ἴδιος
τῆς οὐσίας τοῦ πατρός, nicht ἀληθινὸς θεός und ὀνόματι μόνον λέγεται λόγος sei,
sind damit auch die Schlagworte genannt, die Athanasius positiv benutzt. Gegen
die Thalia ist der Sohn nach Athanasius vor allem eines, nämlich ἴδιος τῆς οὐσίας
τοῦ πατρός, außerdem ἀληθινὸς θεός40, und dies bedeutet nicht nur dem Namen
nach Sohn.41
Der Begriff der Teilhabe kann, so Athanasius, im Rahmen der Inkarnations­
lehre Verwendung finden oder auch die Menschen in ihrem Gottesbezug
beschreiben, aber nicht zur Darstellung des Vater-Sohn-Verhältnisses herange-
zogen werden. Da der Begriff der Teilhabe von der Gegenseite in die Diskussion
eingeführt wurde, konnte und durfte Athanasius nicht auf diesen platonischen
Gedanken in seiner Argumentation zurückgreifen. Dennoch verwendet Athana-
sius auch selbst die Metaphern der Quelle und des Lichts und spricht vom Sohn
als Bild des Vaters. Er sucht aber sicherzustellen, dass keiner dieser Begriffe im
Sinne einer Teilhabe des Sohnes missverstanden werden kann. Für Athanasius
ist es nur überzeugend, dass beispielsweise der Abglanz des Lichtes kein anderes

36 Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 5,4–5 (114,16–20 M./S.); vgl. ganz ähnlich Athanasius,
Oratio 2 contra Arianos 37,1 (214,5–7 M./S.) mit einem anschließenden Zitat von Asterius. Vgl. De
synodis 15,3 (Athanasius Werke = AW 2,7, Die „Apologien“, hg. v. H.-G. Opitz, Berlin 1941, 243,3–7).
37 Vgl. Athanasius, Oratio 2 contra Arianos 26,2 (203,6–15 M./S.).
38 Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 5,5 (114,18 M./S.): δύο […] σοφίας.
39 Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 6,1–2 (115,1–6 M./S.).
40 Vgl. Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 9,5–7 (118,15–21 M./S.); vgl. Athanasius, Oratio 1 con­
tra Arianos 16,1 (125,1–4 M./S.).
41 Hierzu zusammenfassend C. Stead, Homoousios, in: RAC 16 (1994), 364–433 (414).

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138   Silke-Petra Bergjan

Licht als das Licht, dessen Abglanz es ist, sein kann und folglich eine Metapher
für die Gleichheit und Einheit von Vater und Sohn ist.42 Die genannten Meta-
phern deutet Athanasius im Sinne von Ursprungsbeziehungen, die gerade keinen
Unterschied im Wesen begründen, wie Johannes Zachhuber jüngst gezeigt hat.43
In der älteren Forschung44 verstand man die Metaphern als Ausdruck für eine
Kontinuität des Seins im Sinne einer organischen Kontinuität, wobei die in den
Metaphern implizierte Asymmetrie als gegeben vorausgesetzt wurde. Das Argu-
ment der Usprungsbeziehungen funktioniert bei Athanasius aber nur, wenn man
diese Asymmetrie ausblendet und versteht, dass die Metaphern primär die Natur-
gleichheit der beiden Glieder aufzeigen sollen. Die Bedeutung, die bei Athanasius
die Argumentation um Ursprungsbeziehungen einnimmt, macht das Gewicht
verständlich, das er den Begriffen Zeugung und Erzeugtes gibt.
Der Begriff der Zeugung hat bei Athanasius wiederum einen anti-arianischen
Bezugspunkt. Athanasius referiert deren Argument: Gesetzt den Fall, dass der
Sohn ewig wäre, ergäbe dies zwei ewige Prinzipien oder man müsste annehmen,
dass Vater und Sohn auf ein anderes vorausgehendes Prinzip zurückzuführen
seien und nicht mehr Vater und Sohn seien. Athanasius erwidert, das Wesen des
Vaters sei nicht unvollständig und dann um sein ἴδιον im Sinne der Akzidenz
ergänzt worden.45 Anders als bei den Menschen sei Gott nicht Vater geworden,
sondern der Vater existiere (ὕπαρξις) immer. Jedoch wie bei den Menschen der
Sohn ein eigenes Kind des Vaters ist, das kein anderes Wesen, sondern das urei-
genste Wesen des Vaters hat, ist nach Athanasius auch der Sohn Gottes aus dem
Wesen des Vaters, ἐκ τῆς οὐσίας τοῦ πατρὸς γέννημα.46 Ein Vater erzeugt kein
ihm fremdes Wesen, Vater und Sohn sind vielmehr gleichen Wesens. Athanasius

42 Athanasius, Oratio 2 contra Arianos 32–37 (208–214 M./S.); vgl. Athanasius, Oratio 3 contra
Arianos 5,3 (311,16 M./S.): ἀπαράλλακτος γάρ ἐστιν ἡ ἐν τῇ εἰκόνι τοῦ βασιλέως ὁμοιότης.
43 J. Zachhuber, Derivative Genera in Apollinarius of Laodicea. Some Remarks on the Philoso-
phical Coherence of his Thought, in: S.-P. Bergjan/B. Gleede/M. Heimgartner (Hgg.), Apollinari-
us und seine Folgen (STAC 93), Tübingen 2015, 111–135.
44 Siehe: Hanson (wie Anm. 5), 443. Er fasst Christopher Steads (Divine Substance, Oxford 1977,
260–266) Ergebnisse über den Begriff Usia bei Athanasius folgendermaßen zusammen: „What
the term means is (in the words of a XIXth century editor of Athanasius, Robertson), the full,
unbroken continuation of being. But even so the relationship is asymmetrical. A common stuff
manifests itself in different forms, as with the spring and the stream, the sun and the ray, the
branch and the shoot. The idea is not one of a single reality, but of organic continuity.“
45 Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 14,5 (124,14–15 M./S.).
46 Diese von Athanasius bevorzugte Wendung sollte nicht vorschnell mit dem nizänischen
ὁμοούσιος in einen zu engen Zusammenhang gebracht werden. Man wird sie eher im Sinne einer
Zurückhaltung gegenüber dem noch nicht zum Schlagwort gewordenen ὁμοούσιος verstehen
müssen.

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 Athanasius von Alexandrien   139

schreibt mehrfach, man solle Eltern fragen, die dies bezeugen werden. Gerade über
die Ursprungsbeziehung leitet Athanasius die Gleichheit des Wesens von Vater
und Sohn ab. Der Sohn ist ἴδιος καὶ ὅμοιος im Hinblick auf das Wesen des Vaters.47

3
Bereits in den Arianerreden führt Athanasius aus, dass, eben weil der Sohn
Erzeugnis des Wesens des Vaters ist, es unbezweifelbar sei, dass entsprechend
der Ähnlichkeit mit dem unveränderlichen Vater auch der Logos unwandelbar ist
(καθ᾿ ὁμοιότητα τοῦ ἀτρέπτου πατρὸς ἄτρεπτός ἐστι καὶ ὁ λόγος).48 Wie für den
Vater gelten auch für den Sohn die Prädikate „unveränderlich“ und „ungewor-
den“, und zwar nicht im Sinne veränderlicher Akzidenzien, die erworben werden,
d.  h. einer spezifischen Substanz nach Gnade oder Tugendhaltung zukommen.49
Athanasius bezieht sich hier auf eine Diskussion, die seine Kontrahenten ange-
regt haben. Der Niederschlag dieser Diskussion in den drei Schriften De decretis
Nicaenae synodi, De synodis Arimini et Seleuciae und Epistula ad Afros soll im Fol-
genden nachgezeichnet werden. Es geht um die Fortführung des Arguments der
Ursprungsbeziehungen für die Gleichheit im Wesen, um die Entwicklung einer
Alternative zum platonischen Teilhabegedanken, den die Gegner des Athanasius
in die Trinitätslehre integrierten, und beginnend mit der Schrift De synodis um die
Abwehr des Begriffs ὅμοιος mithilfe der aristotelischen Lehre von den Qualitäten.
In den Arianerreden geht Athanasius nur selten über Formulierungen wie
ἴδιος τῆς οὐσίας τοῦ πατρός hinaus, um Ähnlichkeit und Selbigkeit von Vater und
Sohn zum Ausdruck zu bringen. Er spricht, wie häufig beobachtet wurde, noch
unbefangen von ὅμοιος.50 ὅμοιος erscheint oft als Gegensatz zum arianischen
ἀνόμοιος. Es heißt, dass der Sohn als Sohn Gottes Gott ähnlich (ὅμοιος) ist,51 die
Wendung ὅμοιος κατὰ πάντα fällt,52 oder Athanasius schreibt: διὰ τὸ ἴδιον τῆς
οὐσίας καὶ τὴν κατὰ πάντα ὁμοιότητα τοῦ υἱοῦ πρὸς τὸν πατέρα.53

47 Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 26,5 (136,26 M./S.).


48 Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 39,5 (149,20 M./S.).
49 Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 36,4 (146,20–25 M./S.).
50 Athanasius, Oratio 2 contra Arianos 82,2 (259,7 M./S.).
51 Athanasius, Oratio 2 contra Arianos 17,2 (194,7 M./S.).
52 Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 40,4 (150,19 M./S.); vgl. im gleichen Zusammenhang noch
einmal Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 44,1 (154,4 M./S.).
53 Athanasius, Oratio 2 contra Arianos 22,2, (198,9–10 M./S.); vgl. Athanasius, Oratio 2 contra
Arianos 34,3 (211,14 M./S.): τὸ ὅμοιον καὶ ἀίδιον τοῦ γεννήματος τῆς οὐσίας; vgl. Athanasius, Ora­

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140   Silke-Petra Bergjan

Von dem recht einheitlichen Bild, das in den drei Arianerreden zu finden ist,
heben sich zwei Texte ab. In Kapitel 36 der dritten Arianerrede erläutert Atha-
nasius, dass die Gleichheit von Vater und Sohn sich nicht in Selbigkeit auflöse
und zu dem sabellianischen Irrtum führe. Es handelt sich um einen der wenigen
Abschnitte in den Arianerreden, in denen sich Athanasius zur Differenz zwischen
Vater und Sohn äußert. Mit der Wendung ἐκ τῆς ἀπαραλλάκτου ὁμοιότητος καὶ
ταυτότητος54 von Vater und Sohn stößt Athanasius an die Grenze der Ununter-
scheidbarkeit von Vater und Sohn, um sogleich richtigzustellen, dass Vater und
Sohn wirklich Vater und Sohn sind und dass die Verwendung des Terminus
ὅμοιος Raum für Unterschiedenheit von Vater und Sohn zulässt. Als zweiter Text
ist ein kurzer, sehr prägnanter Text zu nennen, der an prominenter Stelle in den
ersten Kapiteln der ersten Arianerrede erscheint und ebenfalls bereits des öfteren
Aufmerksamkeit gefunden hat, weil die Ausführungen einerseits exakt der in
den Arianerreden von Athanasius entwickelten Position entsprechen, anderseits
aber nur hier das nizänische διὸ θεός ἐστιν ἀληθινὸς ἀληθινοῦ πατρὸς ὁμοούσιος
ὑπάρχων integriert wird.55
Erläutert wird das nizänische ὁμοούσιος erst in der Schrift De decretis Nicae­
nae synodi. Die Schrift steht in der Kontinuität der Arianerreden. Athanasius
benutzt weiterhin das Argument der Ursprungsbeziehungen für die Gleichheit
von Vater und Sohn. Die Begriffe von Zeugung und Erzeugnis stehen im Mit-
telpunkt der Argumentation. Die Gegner, so der Vorwurf von Athanasius, spre-
chen vom Sohn „nur dem Namen nach“,56 während nach Athanasius das aus
einer bestimmten Natur und nicht von außen erworbene Gezeugte mit „Sohn“
bezeichnet wird.57 Für Athanasius garantiert das Herkommen, aufgenommen in
der Wendung ἐκ τῆς οὐσίας, die allerdings jetzt dem Terminus ὁμοούσιος neben-

tio 3 contra Arianos 11,1–3 (318,1–319,13 M./S.); Athanasius, Oratio 3 contra Arianos 44,4 (356,19–
20 M./S.), besonders Athanasius, Oratio 3 contra Arianos 36,1–3 (347,1–348,13 M./S.).
54 Athanasius, Oratio 3 contra Arianos 36,1 (347,1–2 M./S.).
55 Vgl. Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 26,5 (136,26 M./S.): ὁ δὲ υἱὸς ἐξ ἐμοῦ ἐστι καὶ τῆς ἐμῆς
οὐσίας ἴδιος καὶ ὅμοιος; und Athanasius, Oratio 1 contra Arianos 9,1–2 (117,1–118,9 M./S.): υἱὸς
ἀληθινὸς φύσει καὶ γνήσιός ἐστι τοῦ πατρός, ἴδιος τῆς οὐσίας αὐτοῦ, σοφία μονογενὴς καὶ λόγος
ἀληθινὸς καὶ μόνος τοῦ θεοῦ οὗτός ἐστιν· οὐκ ἔστι κτίσμα οὐδὲ ποίημα, ἀλλ’ ἴδιον τῆς τοῦ πατρὸς
οὐσίας γέννημα· διὸ θεός ἐστιν ἀληθινὸς ἀληθινοῦ πατρὸς ὁμοούσιος ὑπάρχων. τὰ δὲ ἄλλα, οἷς
εἶπεν·ἐγὼ εἶπα θεοί ἐστε, μόνον μετοχῇ τοῦ λόγου διὰ τοῦ πνεύματος ταύτην ἔχουσι τὴν χάριν
παρὰ τοῦ πατρός, χαρακτήρ ἐστι τῆς τοῦ πατρὸς ὑποστάσεως καὶ φῶς ἐκ φωτὸς καὶ δύναμις καὶ
εἰκὼν ἀληθινὴ τῆς τοῦ πατρὸς οὐσίας.
56 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 16,1 (13,19–20 O.).
57 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 10,4 (9,22–23 O.). Athanasius benutzt hier den Be-
griff φύσις zur Bezeichnung des Ursprungsverhältnisses, siehe hierzu J. Zachhuber, Physis, in:
RAC (2016), 21–22 (im Druck).

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 Athanasius von Alexandrien   141

geordnet wird,58 die Gleichheit von Vater und Sohn. Hier beginnen aber bereits
die Unterschiede gegenüber den Arianerreden.
Der von Athanasius bevorzugte Terminus ἴδιος, z.  B. in der Wendung τὸ ἴδιον
αὐτοῦ γέννημα,59 der das Argument des Herkommens aus dem Vater noch ver-
stärkte, wird zwar weiterverwendet, tritt aber zurück. So wie man vom eigenen
Sohn spricht, ist auch in De decretis Nicaenae synodi deutlich, dass ἴδιος in den
Argumentationszusammenhang um die Zeugung des Sohnes durch den Vater
gehört, was es für Athanasius jetzt auch nahelegt, den Begriff der Natur zu ver-
wenden. Er spricht auch von der ἑνότης καὶ φυσίκη ἰδιότης.60 Der Logos, so Atha-
nasius, ist das einzige eigene und natürliche Erzeugnis des Vaters,61 als solches
ungetrennt vom Vater62 und als einziges dem Vater ähnlich (ὅμοιος).63 Es ist
diese unverwechselbare Ähnlichkeit, die Athanasius auch hier wieder mit dem
Bild von Licht und Abglanz wiedergibt.64 Man erkennt die Linien aus den Aria-
nerreden wieder, und Vertrautes kommt Athanasius noch einmal in die Feder,
aber die Verwendung des Terminus ὅμοιος ist strittig geworden. Aus „ähnlich“ ist
das „nur ähnlich“ geworden, da die Eusebianer, so Athanasius, einwenden, dass
das „ähnlich“ auch den Menschen als Bild Gottes bezeichnen kann. Woraufhin
die Bischöfe noch einmal deutlicher formulieren mussten, so Athanasius über
die Synode von Nizäa, und schrieben, dass der Sohn dem Vater wesensgleich
(ὁμοούσιος) sei in Abgrenzung gegen ein „nur ähnlich“ (ἵνα μὴ μόνον ὅμοιον τὸν
υἱόν, ἀλλὰ ταὐτὸν τῇ ὁμοιώσει ἐκ τοῦ πατρὸς εἶναι σημαίνωσι).65
Dies hat auch zur Folge, dass Athanasius, so fundamental für ihn das Her-
kommen die Gleichheit von Gott Vater und Gott Sohn garantiert, die Plausibi-
lität dieses Arguments in De decretis doch nicht mehr voraussetzen kann. Er
betont, dass die Ähnlichkeit des Sohnes mit dem Vater eine fundamental andere

58 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 1,1 (1,11 Opitz); 3,2 (3,9–11 O.); 3,4 (3,17 O.). Nach
Ayres bleibt es in De decretis Nicaenae synodi allerdings dabei, dass ὁμοούσιος für Athanasius
kein zentraler theologischer Begriff wird. „Ὁμοούσιος can thus hardly be described as funda-
mental to Athanasius’ theology; we can only understand its role against the background of a
set of other terms, images, and phrases taken by Athanasius himself to be at heart of Christian
belief.“ (L. Ayres, Athanasius’ initial defence of the term Ὁμοούσιος: Rereading the De Decretis,
Early Christian Studies 12, 2004, 339 [337–359]).
59 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 12,1 (10,24 O.); 17,4 (14,18 O.); 19,1 (15,38 O.); 23,1–2
(19,14–16 O.).
60 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 24,2 (20,11–12 O.).
61 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 21,3 (18,9–10 O.).
62 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 23,1 (19,14 O.).
63 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 17,5 (14,19 O.).
64 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 24,1 (19,33–20,1 O.).
65 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 20,3 (17,9–10 O.).

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142   Silke-Petra Bergjan

sei als die Ähnlichkeit unter Menschen. „Ähnlichkeit“ lässt unter den Kindern
eines Vaters bei den Menschen eine große Bandbreite an Unterschieden zu und
schließt die unterschiedlichsten Söhne ein.66 Das Argument der Ursprungsbezie-
hungen bedurfte der Nacharbeit. Die Widerlegung der Verwendung von ὅμοιος
als Bezeichnung für die Beziehung zwischen Gott Vater und Sohn gelingt Athana-
sius erst später. Athanasius verweist aber bereits in De decretis auf die verschie-
denen Metalle, die man äußerlich für „ähnlich“ halten kann, obwohl sie ungleich
sind.67 Diese Art von Ähnlichkeit, was Athanasius in De synodis präzisieren wird,
kennzeichne nicht das Verhältnis von Gott Vater und Gott Sohn, der ungetrennt
und eins sei mit dem Vater. Im Unterschied zu ὅμοιος, so erklärt Athanasius in
De decretis, lässt ὁμοούσιος keinen Raum für Zweideutigkeit. ὁμοούσιος, und
dies muss man nicht nur auf die Diskussion auf der Synode von Nizäa, sondern
auch auf Diskussionen in der Zeit der Abfassung von De decretis Nicaenae synodi
beziehen,68 wurde notwendig, um Missverständnisse auszuschließen und insbe-
sondere das bloße ἐκ θεοῦ zu korrigieren. Athanasius’ Gegner konnten einwen-
den, dass alles, so auch die Menschen und die ganze Geschöpflichkeit, aus Gott
ist.69 Es war notwendig, so erklärt Athanasius, den Begriff des Wesens hinzuzu-
nehmen und klarzustellen, dass der Sohn Gottes als ἐκ τῆς οὐσίας τοῦ πατρός
bezeichnet werden muss, was auf der Synode von Nizäa geschah.70 In der Schrift
De decretis Nicaenae synodi erklärt Athanasius den Begriff ὁμοούσιος fast aus-
schließlich über dessen Funktion, wie Ayres durchaus zurecht beobachtet.71
Der Begriff ὁμοούσιος ist strittig und erklärungsbedürftig, und die Schrift
De decretis Nicaenae synodi setzt eine Reihe von Gegenargumenten voraus. Dazu
gehört der Verweis, dass der Begriff ὁμοούσιος ungeeignet, fremd, nicht schrift-
gemäß und, mehr noch, dass er bereits von Autoritäten verhandelt und abgewie-
sen worden sei. Athanasius reagiert auf die Schriften des Asterius und sucht sei-
nerseits die nizänische Position durch Dokumente abzusichern – ein Verfahren,
das aus vielen anderen Schriften von Athanasius bekannt ist. De decretis Nicae­
nae synodi repräsentiert einen Diskussionsstand, den man nicht zu früh anset-
zen sollte, wahrscheinlich frühestens in der Mitte der 50er Jahre.72 Aber auch

66 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 20,4 (17,12–13 O.).


67 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 23,3 (19,23–26 O.).
68 Siehe unten Anm. 70. Für einen kurzen Überblick über die Vorgänge siehe W. Löhr, Der „aria-
nische“ Streit, in: P. Gemeinhardt (Hg.), Athanasius Handbuch, Tübingen 2011, 64–73.
69 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 19,1 (16,1–2 O.).
70 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 19, 2 (16,6–7 O.). Ebenso Epistula ad Afros episcopos 5,5.
71 Ayres (wie Anm. 58), 337–379 (346).
72 Die Datierung von De decretis Nicaenae synodi ist umstritten. Einen Überblick über die Dis-
kussion gibt U. Heil, De decretis Nicaenae synodi, in: P. Gemeinhardt (Hg.), Athanasius Hand-

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 Athanasius von Alexandrien   143

wenn Athanasius den entscheidenden Schritt zu einer Interpretation des Begriffs


ὁμοούσιος erst in De synodis Arimini et Seleuciae vollzieht, liegen wichtige Grund-
überlegungen bereits in De decretis vor, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
In De synodis Arimini et Seleuciae73 wirbt Athanasius für das nizänische
Bekenntnis, sucht Argumente, die von der Bedeutung des ὁμοούσιος überzeugen
sollen, und setzt sich gegen die mit dem Ergebnis der Synoden von Rimini und
Seleukia und den Unterschriften in Nike und Konstantinopel entstandene homö-
ische Orthodoxie zur Wehr. Athanasius breitet die Vielzahl der östlichen Bekennt-
nisse aus, die mit der Kirchweihsynode 341 in Antiochien einsetzen und zu den
sirmischen Synoden führen. Ihnen ist nach Athanasius zunächst einmal eines
vorzuwerfen, nämlich die vielen Varianten von ähnlichen Bekenntnissen, die
deren Autorität nicht gerade stützen. Soeben hat man ein Bekenntnis formuliert,
und sogleich korrigiert man dieses auf der nächsten Synode. All diese Bekennt-
nisse laufen dem zentralen Anliegen von Athanasius entgegen, indem sie den
Verzicht des Begriffs der οὐσία zur Bestimmung des Verhältnisses von Gott Vater

buch, Tübingen 2011, 210–211. Es ist deutlich, dass De decretis Nicaenae synodi vor 358, der Sy-
node von Ancyra, und bevor sich eine Gruppe von „Homoiousianern“ um Basilius von Ancyra
zusammengetan habt, geschrieben wurde. Plausibler Anhaltspunkt für eine Datierung bleibt,
wie Uta Heil gezeigt hat, die Entsprechung des Themas von De decretis Nicaenae synodi, nämlich
das von Athanasius referierte Argument der Gegner, dass ὁμοούσιος nicht schriftgemäß sei, mit
dem in der sirmischen Formel von 357 repräsentierten Diskussionsstand. De decretis setzt nicht
notwendig die Synode von 357 voraus, gehört aber in den Kontext der durch die 2. sirmische
Formel belegten Diskussion. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Athanasius De decretis zusammen
mit einer Reihe von weiteren Schriften (Apologia ad Constantium, Historia Arianorum, Apologia
de fuga sua), die in diese Zeit datiert werden, verfasst hat. In die Zeit nach 356, evtl. sogar deut-
lich später, datiert die Schrift H. C. Brennecke, Hilarius von Poitiers und die Bischofsopposi­
tion gegen Konstantius II. Untersuchungen zur dritten Phase des arianischen Streites (337–361)
(PTS 26), Berlin 1984, 11. Ebenso Hanson (wie Anm. 5), 438; U. Heil, Athanasius von Alexandri-
en, De sententia Dionysii. Einleitung, Übersetzung und Kommentar (PTS 52), Berlin 1999, 30–35.
Neuerdings wird die Schrift mit Eduard Schwartz (id., Zur Geschichte des Athanasius. Gesammel-
te Schriften, Berlin 1959, 385) häufiger wieder früher datiert, so: Barnes (wie Anm. 5), 198–199,
der in dem von Athanasius referierten Argument der Gegner, dass ὁμοούσιος nicht schriftgemäß
sei, keinen Hinweis auf die sirmische Formel von 357 sieht. Barnes nimmt seinen Ansatzpunkt
vielmehr in dem Adressaten der Schrift, den er mit Liberius identifiziert, der 352 Bischof von Rom
wurde, so dass er De decretis Nicaenae synodi in die Zeit nach 352, aber deutlich vor 357 datiert.
Ebenso Gwynn (wie Anm. 27), 86. Aber auch wenn man zwischen den beiden Optionen letztlich
nicht entscheiden kann, wie Ayres zu bedenken gibt, wird man Ayres darin zustimmen: „Thus, in
either case, Athanasius’ decision to make Nicaea and the homoousios central to his theology has
its origins in the shifting climate of the 350s and the structure of emerging Homoian theology.“
(Nicaea and its Legacy. An Approach to fourth-century Trinitarian Theology, Oxford 2004, 144).
73 Zu Fragen des Textes siehe U. Heil, De synodis Arimini in Italia et Seleucia in Isauria, in:
P. Gemeinhardt (Hg.), Athanasius Handbuch, Tübingen 2011, 221–226.

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144   Silke-Petra Bergjan

und Gott Sohn verlangen und ausdrücklich auch die Begriffe ὑπόστασις und
ὁμοούσιος als ungeeignet und nicht schriftgemäß verurteilen.74 Es ist folgerich-
tig, dass Athanasius der Gruppe um Basilius von Ancyra entgegenkommt, welche
dennoch an der fundamentalen Bedeutung des Begriffs der οὐσία festhalten will,
auch wenn sie sich mit dem Begriff ὁμοούσιος schwer tut.75 Man hat diese Äuße-
rungen von Athanasius im Sinne von Koalitionsbemühungen verstanden.76 Dabei
darf man aber nicht übersehen, dass Athanasius die Nähe der Position des Basi-
lius von Ancyra zur nizänischen Lehre hervorhebt, allerdings nur um am Ende
der Schrift dessen Position zu widerlegen. In der Sache setzt Athanasius sich in
De synodis insbesondere mit der Formulierung ὅμοιος κατ’ οὐσίαν auseinander.
Der Grundgedanke ist aristotelisch.77 „Ähnlich“78 kann nicht von Wesen aus-
gesagt werden,79 weil von Wesen, ob es sich um die erste Substanz oder auch
die Art oder zweite Substanz handelt, kein Mehr oder Weniger ausgesagt werden
kann. Ein bestimmter Mensch ist nicht mehr oder weniger Mensch als ein anderer
Mensch. Der entscheidende Beleg findet sich in der Kategorienschrift des Aris-
toteles.80 Athanasius verweist in De synodis 41 zunächst auf scheinbare Ähn-
lichkeiten zwischen Zinn und Silber, zwischen Wolf und Hund oder Kupfer und
Gold81 und hält der Gruppe um Basilius zugute, dass sie, wenn sie den Begriff des
Wesens aufnehmen, nicht weit vom Ausdruck ὁμοούσιος entfernt seien und doch
eigentlich nichts Anderes meinen können als ὁμοούσιος. So wohlmeinend Atha-
nasius hier einzusetzen scheint, so sehr er betont, zu Brüdern und nicht zu Aria-
nern zu reden, so klar ist bereits hier der Fehler identifiziert, der nach Athanasius
den Homoiousianern82 unterlaufen ist.83 Die detaillierte Widerlegung folgt in den

74 Zur sirmischen Synode von 357 und der zweiten sirmischen Formel siehe Brennecke (wie
Anm. 72), 312–325.
75 Athanasius, De synodis 41,1 (266,29 O.).
76 Zu Athanasius’ Verhältnis zu Basilius von Ancyra, dem Nachfolger von Marcell, siehe Gwynn
(wie Anm. 27), 94–96.
77 Aristoteles, Categoriae 10b 26–11a 19.
78 Zur Definition von διάφορα, ὅμοια und ἀνόμοια siehe Aristoteles, Metaphysica 5,9 1018a
12–19.
79 Aristoteles, Categoriae 11a 16–20.
80 S.o. Anm. 77.
81 Athanasius, De synodis 41,3 (267,3–7 O.).
82 Die Wendung ὅμοιος κατ’ οὐσίαν und die Gegenüberstellung von ὁμοούσιος und ὁμοιούσιος
findet sich Athanasius, De synodis 41,3–4 (267,3–11 O.).
83 Anders Stead (wie Anm. 41), 421: „Athanasius irrt freilich, wenn er behauptet, Ähnlichkeit
könne sich nicht auf Substanzen beziehen [ebd. 53,2 …], obgleich decr. 23,3 [19] so klingt, daß
ihre Ähnlichkeit nur angenommen wird [νομίζεται]. Dem liegt gewiß die Absicht zugrunde, auf
die Unangemessenheit reiner ‚Ähnlichkeit‘ hinzuweisen.“

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 Athanasius von Alexandrien   145

letzten Kapiteln der Schrift, in denen Athanasius noch einmal auf die Begriffe
ὁμοιοούσιος und ὅμοιος zurückkommt. Hier sagt Athanasius jetzt ausdrücklich,
dass ὅμοιος nicht von Wesenheiten ausgesagt werden kann, sondern sich aus-
schließlich auf Formen und Eigenschaften bezieht. Im Fall von Wesenheiten kann
nicht Ähnlichkeit,84 sondern nur Selbigkeit ausgesagt werden. Im Unterschied
zu ὁμοούσιος, das hier eine inhaltliche Erklärung findet,85 enthält ὁμοιοούσιος
einen Widerspruch in sich.86

οἴδατε γὰρ καὶ ὑμεῖς καὶ οὐδ’ ἄν τις ἀμφιβάλλοι ὅτι τὸ ὅμοιον οὐκ ἐπὶ τῶν οὐσιῶν, ἀλλ’ ἐπὶ
σχημάτων καὶ ποιοτήτων λέγεται ὅμοιον· ἐπὶ γὰρ τῶν οὐσιῶν οὐχ ὁμοιότης, ἀλλὰ ταυτότης
ἂν λεχθείη.87

Athanasius stellt einen Zusammenhang her zwischen Ähnlichkeit, Qualität


und Substanz. Für seine Argumentation entscheidend ist, dass er den Begriff
„ähnlich“ den Eigenschaften und damit den Akzidenzien zuordnet. Aristoteles
spricht in der Kategorienschrift nur an einer Stelle von gleich bzw. ungleich als
Aussage über die Beschaffenheit einer Sache:

Τῶν μὲν οὖν εἰρημένων οὐδὲν ἴδιον ποιότητος, ὅμοια δὲ καὶ ἀνόμοια κατὰ μόνας τὰς
ποιότητας λέγεται· ὅμοιον γὰρ ἕτερον ἑτέρῳ οὐκ ἔστι κατ’ ἄλλο οὐδὲν ἢ καθ’ ὃ ποιόν ἐστιν.88

Für Athanasius war die Identifikation von ὅμοιον und ποιόν ein wichtiges Argu-
ment gegenüber der Position der Homoiousianer, vor allem aber taucht ὅμοιον bei
den Kritikern auf, die auf die bunte Vielfältigkeit und Ähnlichkeit unter Kindern
mit ihren Eltern hinweisen, um Athanasius’ Argument, aus Herkunft Naturgleich-
heit abzuleiten, zu schwächen. Athanasius antwortet, dass, wenn Menschen sich
ähnlich sind, Eigenschaften und Eigentümlichkeiten gemeint sind. Menschen

84 In Abgrenzung nimmt Athanasius, was in dieser Form nach De synodis nicht zu erwarten
wäre, die Wendung ὅμοιος κατ’ οὐσίαν noch einmal auf in Athanasius, Epistula ad Afros episco­
pos 7,2–4 (333,5–17 B./H./v. St.).
85 Anders Ayres (wie Anm. 58), 339, nach dem ὁμοούσιος lediglich als polemischer Begriff auf-
genommen und später zu einem Marker der Orthodoxie wurde.
86 Vgl. zu diesem Abschnitt A. von Stockhausen, Athanasius von Alexandrien. Epistula ad
Afros. Einleitung, Kommentar und Übersetzung (PTS 56), Berlin 2002, 263. Annette von Stock-
hausen hat in ihrem Kommentar auf die Bezüge zur aristotelischen Kategorienschrift, die im Fol-
genden besprochen werden, soweit ich sehe, bisher als einzige hingewiesen.
87 Athanasius, De synodis 53,2 (276,24–26 O.).
88 Aristoteles, Categoriae 11a 15–18. Zu einer vergleichbaren Aussage kommt Nemesius, De na­
tura hominis 2,78 (BSGRT, 21,4–5 Morani): Wie gleich(viel) und ungleich zur Quantität gehören,
so gehören ähnlich und unähnlich zur Qualität.

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146   Silke-Petra Bergjan

sind sich nicht in Hinblick auf Natur und Wesen ähnlich, sondern in Hinblick auf
bestimmte Eigenschaften. Athanasius knüpft hier an die Auseinandersetzung mit
einer stoischen Position in der Lehre von den Qualitäten an, die auch das Vater-
Sohn Beispiel kennt und dabei fragt, worin Vater und Sohn ähnlich sind und,
wenn es um eine Handbewegung oder die krumme Nase89 geht, wie Ähnlichkeit
an diesem Beispiel zu verstehen ist.90 Durch die Aufnahme der Frage nach den
Qualitäten erhält das für Athanasius so entscheidende Argument der Herkunfts-
beziehungen eine Weiterführung.

4
Nach Aristoteles sind Aussagen, die das Wesenswas betreffen und Auskunft
geben, was eine Sache wirklich ist, zu unterscheiden von ergänzenden Aussa-
gen über die Beschaffenheit einer Sache, wobei die Eigenschaft immer von einer
zugrundeliegenden Sache (ὑποκείμενον) ausgesagt wird91 und nicht umgekehrt.92
Diese Unterscheidung ist so grundlegend wie verbreitet, und man kann die Kennt-
nis von dieser Unterscheidung bei Athanasius voraussetzen.93 Entscheidend in
diesem Zusammenhang ist aber, wie der Begriff der Qualität hinzutritt. Porphy-
rius schreibt in der Isagoge, dass die Akzidenzien von dem Subjekt nicht im Sinne
des Was, sondern vielmehr im Sinne der Qualität oder Beschaffenheit ausgesagt
werden.94 Die Eigenschaft oder Qualität einer Sache – Aristoteles benutzt als Bei-
spiel gern „weiß“ oder „warm“95 – ist sinnlich erfahrbar insofern, als sie einen
Affekt bewirkt,96 und veränderlich ist. Was warm war, kann kalt sein (παθητικαὶ

89 Porphyrius, Isagoge et in Aristotelis Categorias commentarium 3a 19.


90 Nemesius, De natura hominis 2,77 (20,14–17 M.) referiert das Argument des Stoikers Clean-
thes, dass Menschen ihren Eltern nicht nur dem Körper nach ähnlich sind, sondern auch der
Seele nach, also in Emotion, Charakter oder Anlage. Da Ähnlich und Unähnlich folglich Sache
des Körpers sind und nicht unkörperlich genannt werden können, schließt er, dass die Seele ein
Körper ist. Zur Literatur zu diesem Problem siehe in der Übersetzung Nemesius, On the Nature of
Man, übersetzt von R. W. Sharples/P. J. van Eijk, Liverpool 2008, 57 Anm. 278.
91 Aristoteles, Categoriae 1b 1–6, vgl. z. B. Alkinoos, Didaskalikos 11 (CUFr, 26,16–19 Whittaker).
92 Aristoteles, Analytica Posteriora 1,22 83a.
93 So auch C. Stead, einer der wenigen, der die Aristotelesbezüge bei Athanasius untersucht hat
(The Significance of Homoousios, in: StPatr 3 [TU 78] (1961), 397–412 [408]).
94 Porphyrius, Isagoge et in Aristotelis Categorias commentarium 1b 19–25.
95 Aristoteles, Categoriae 2a 29–34.
96 Aristoteles, Categoriae 9b 4–5. Hinzu kommen allerdings auch solche Qualitäten, die nicht
einen Affekt bewirken, sondern durch einen Affekt hervorgerufen werden (9b 10–11).

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 Athanasius von Alexandrien   147

δὲ ποιότητες λέγονται).97 Daher nennt Aristoteles unter den Defini­tionen der


Affektion (πάθος) zuerst die Qualität (πoιότης),98 und zwar in Hinblick darauf,
dass sie Veränderung erfahren kann.99 Als veränderliche Kategorie100 ist die Qua-
lität daher notwendig zufällig und unbegrenzt vielfältig. Aristoteles kommt mehr-
fach auf das Thema zurück. In Physica 5 unterscheidet Aristoteles drei Formen
der Veränderung, darunter an erster Stelle die Veränderung hinsichtlich der
Qualität, außerdem der Anzahl und des Ortes.101 Veränderlichkeit unterscheidet
die Qualität als Akzidenz von der Substanz.102 Während Substanz kein Mehr oder
Weniger zulässt,103 ist es gerade das Proprium der Eigenschaften, veränderlich zu
sein.104 Als Beispiel nennt Aristoteles das Weiße und Gerechte, und es ist dieser
Zusammenhang, in dem Aristoteles ὅμοιον und ποιόν einander zuordnet.105 Bevor
wir wieder zu Athanasius zurückkehren, sei noch einmal auf Porphyrius verwie-
sen, der den Sachverhalt folgendermaßen zusammenfasst:

Die Differenzen, die für sich bestehen, werden im Wesensbegriff erfasst und bewirken ein
anderes, die Differenzen im Sinne der Akzidenz werden nicht im Wesensbegriff erfasst und
bewirken kein anderes, sondern ein Andersbeschaffenes. Die für sich bestehenden Diffe-
renzen können kein Mehr oder Weniger annehmen, die akzidentiellen aber, auch wenn sie
nicht abtrennbar sind, können Steigerung und Nachlassen erfahren.106

97 Aristoteles, Categoriae 9a 35–36.


98 Die Begriffe Pathos und Qualität stehen einander bei Aristoteles nahe und können zum
Teil synomym verwendet werden. Vgl. L. Jansen, poion / Wiebeschaffen; poiotês / Qualität, in:
O. Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 472–474. Zu berücksichtigen ist, dass Aristoteles in
Categoriae 8 die Qualitäten, die auf eine schwerbewegliche, permanente Affektion zurückgehen
(Categoriae 9b 19–21), von der Schnelllebigkeit der Affekte unterscheidet (Categoriae 9b 29).
99 Aristoteles, Metaphysica 5,18 1022b 15–21. Diesen Textabschnitt nimmt auf: P. Stoellger, Pas-
sivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer „categoria non grata“ (Hermeneutische Unter-
suchungen zur Theologie 56), Tübingen 2010, 40–41. Vgl. Aristoteles, Categoriae 8 8b 35–9a 4.
100 Aristoteles, Physica 5 226a 27–29.
101 Aristoteles, Physica 5 225b 7–9.
102 Vgl. Porphyrius, Isagoge et in Aristotelis Categorias commentarium 4a 25–26.
103 Aristoteles, Categoriae 3b 33–4a 9; 10b 26–11a 3.
104 Aristoteles, Categoriae 10b 26: Ἐπιδέχεται δὲ καὶ τὸ μᾶλλον καὶ τὸ ἧττον τὰ ποιά.
105 Aristoteles, Categoriae 11a 15–19.
106 Porphyrius, Isagoge et in Aristotelis Categorias commentarium 3a 41–45 (Commentaria
in Aristotelem Graeca 4,1, 9,14–18 Busse) (αἱ μὲν οὖν καθ’ αὑτὰς προσοῦσαι ἐν τῷ τῆς οὐσίας
λαμβάνονται λόγῳ καὶ ποιοῦσιν ἄλλο, αἱ δὲ κατὰ συμβεβηκὸς οὔτε ἐν τῷ τῆς οὐσίας λόγῳ
λαμβάνονται οὔτε ποιοῦσιν ἄλλο ἀλλὰ ἀλλοῖον. καὶ αἱ μὲν καθ’ αὑτὰς οὐκ ἐπιδέχονται τὸ μᾶλλον
καὶ τὸ ἧττον, αἱ δὲ κατὰ συμβεβηκός, κἂν ἀχώριστοι ὦσιν, ἐπίτασιν λαμβάνουσι καὶ ἄνεσιν·).

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148   Silke-Petra Bergjan

Die Frage nach dem „Mehr oder Weniger“ führt zurück zu Athanasius, und zwar
zu Argumentationslinien, die sich bereits in De decretis Nicaenae synodi finden.
Ist es überhaupt möglich, die Natur der Menschen als Metapher zu benutzen,
um über die Natur des Sohnes Gottes zu sprechen? In De decretis 10 führt Atha-
nasius aus, dass es für das Argument keinen Unterschied mache, ob jener, der
Sohn Gottes, „mehr habe“ und „zuerst sei“, die Menschen geringer und später
geboren sind, weil das „Mehr und Weniger“ keine Naturdifferenz anzeige. In die
Situation des „Mehr oder Weniger“ versetze vielmehr die Ausübung der Tugend
jeden einzelnen. Die Natur erkenne als Sohn das, was aus der Natur von jeman-
dem gezeugt wurde, und nicht das, was von außen erworben wurde.107 Der Natur
werden veränderliche Eigenschaften gegenübergestellt, die, wie der Hinweis auf
die Tugend zeigt, erworben werden können und so von außen kommen. Athana-
sius weist gern auf den Gegensatz von Natur und Wesen auf der einen Seite und
Tugend und Gnade auf der anderen. Der Unterschied zwischen dem Sohn Gottes
und den Menschen liege nicht im Maß, bzw. dem höheren Maß, der Tugend.108 Der
Sohn Gottes sei nicht durch Tugend und Gnade, sondern von Natur aus Sohn des
Vaters.109 Die Zeugung, also das Herkommen aus dem Vater, zeige die Natur- und
Wesensgleichheit an: ἄν τε γὰρ τὸν υἱὸν εἴπῃς, τὸ ἐξ αὐτοῦ φύσει δεδήλωκας.110
Bezeichnend ist, dass Athanasius in der Fortführung den Gegnern vorwirft, einen
zusammengesetzten Gott zu schaffen, von Akzidenz und Wesen spricht und die
Unveränderlichkeit und Einfachheit Gottes betont, dessen Sohn nichts Äußer­
liches oder Fremdes darstelle.111 Eine Reihe von Details in diesen Ausführungen
von Athanasius fügen sich auf dem Hintergrund der aristotelischen Gegenüber-
stellung von Wesen und Eigenschaft zusammen.
In Metaphysica 5 unterscheidet Aristoteles letztlich zwei Weisen, die Beschaf-
fenheit (τὸ ποιόν) auszusagen, nämlich einmal in Hinblick auf den Unterschied
des Wesens, sodann im Hinblick auf die Affektion bewegter, veränderlicher
Wesen, der auch die Tugend bzw. die Schlechtigkeit zuzuordnen sei.112 Athana-
sius weist wiederholt auf die Tugend in Abgrenzung zur Natur hin und betont
genau in diesem Zusammenhang die Unveränderlichkeit Gottes, die mit keinen,
per definitionem, veränderlichen Akzidenzien zusammengebracht werden kann.

107 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 10,2 (9,10–13 O.); 10,4 (9,22–23 O.).
108 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 6,4 (6,14–15 O.).
109 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 22,1–2 (17,29–18,7 O.).
110 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 17,4 (14,14–15 O.).
111 Athanasius, De decretis Nicaenae synodi 22,1–2 (17,29–18,7 O.).
112 Aristoteles, Metaphysica 5,14 1020a 33–1020b 14.

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 Athanasius von Alexandrien   149

In der Epistula ad Afros findet sich noch einmal ein Abschnitt, der kompri-
miert den Sachverhalt wiedergibt.113 Ähnlichkeit, Teilhabe und Tugend stellt
Athanasius zur Diskussion und fährt fort, dass der Sohn, wenn er Allherrscher,
ewig, unveränderlich und Schöpfer ist, dies nicht via Tugend, sondern offensicht-
lich seinem Wesen nach ist, das nicht aus einem anderem Wesen, sondern aus
dem Wesen des Vaters ist. Und wenn das, was dem Wesen des Vaters eigen ist,
auch von dem Erzeugnis aus diesem Wesen gilt, dann sagt man nichts anderes als
ὁμοούσιος.114 Auch wenn jemand durch Tugend und Wille Gott ähnlich geworden
ist und den freien Willen hat, trifft dies nicht die Beziehung zwischen Gott Vater
und Gott Sohn. Der Sohn ist nicht zum Teil und wie wir Gott ähnlich. Obwohl
Menschen aufgefordert sind, vollkommen zu werden, Gott nachzuahmen, besser
im Sinne der Tugend zu werden, können Menschen Gott nicht dem Wesen nach
ähnlich werden.115 Diese Negation kehrt Athanasius nun nicht um. Es heißt
nicht, dass man das, was man den Menschen absprechen muss, dem Sohn Gottes
zusprechen muss, dass also der Sohn, im Unterschied zu den Menschen, Gott
dem Wesen nach ähnlich sei, da Athanasius sonst hinter De synodis zurückgehen
würde. Vielmehr unterscheidet Athanasius hier ausdrücklich zwischen „Ähnlich-
keit“, „Beschaffenheit“ und „Wesen“. Wenn der Sohn dem Vater wie die Men-
schen ähnlich wäre, würde dies die Eigenschaften betreffen und würde in der
Vorstellung ein zusammengesetzter Gott aus Eigenschaften, d.  h. Akzidenzien,
und Wesen entstehen. Gottes Wesen ist aber einfach, mehr noch, ohne Verände-
rung und nicht einmal ein Schatten einer Veränderung kann ihm zugeschrieben
werden (Jak 1,17), ja überhaupt keine Qualität. Strikt genommen müsste Gott jen-
seits von Qualität sein, aber diese Frage verfolgt Athanasius nicht.116 Danach zu

113 Bisher hat einzig Annette von Stockhausen (wie Anm. 86, 261) auf die Beziehung von Atha-
nasius, Epistula ad Afros episcopos 8,3 (335,2–9 B./H./v. St.) zur Kategorienschrift des Aristote-
les aufmerksam gemacht. Sie verweist auf den gesamten Abschnitt Aristoteles, Categoriae 8b
25–11a 38 und zitiert daraus Categoriae 11a 16–19. Michael Frede widmet sich dem Thema der
Rezeption der Kategorienschrift bei den griechischen christlichen Schriftstellern, geht in die-
sem Zusammenhang aber nicht auf Athanasius ein (M. Frede, Les Catégories d’Aristote et les
Pères de l’Église Grecs, in: Les Catégories et leur histoire, hg. v. O. Bruun/L. Curto, Paris 2005,
135–174).
114 Athanasius, Epistula ad Afros episcopos 8,2 (334,18–22 B./H./v. St.).
115 Athanasius, Epistula ad Afros episcopos 7,4 (333,13–14 B./H./v. St.).
116 Nach Stead (wie Anm. 41), 370 kann man „eine klare Unterscheidung zwischen den kol-
lektiv verstandenen Gattungen (z.  B. menschliche Rasse) und ihren spezifischen Formen bzw.
charakteristischen Merkmalen“ im aristotelischen Sinne für die Zeit des Athanasius nicht als
allgemein oder weitgehend bekannt voraussetzen.

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150   Silke-Petra Bergjan

fragen, ob Athanasius οὐσία im Sinn der aristotelischen ersten oder zweiten Sub-
stanz versteht, ist müßig. Wie G. Christopher Stead gezeigt hat, ist Athanasius in
seiner Verwendung des Begriffs οὐσία nicht auf eine Bedeutung festgelegt. Man
muss daraus auch schließen, dass er die Isagoge von Porphyrius nicht gekannt
hat. Dennoch ist mit Stead festzuhalten: „It is surely out of question that Atha-
nasius was aquainted with the works of Aristotle“. Er benutzt dieses Wissen, um
jede Vorstellung von Ähnlichkeit (ὅμοιος) wegzufegen, οὐ γὰρ ποιότης ἐν τῷ θεῷ
οὔτε ἐν τῷ υἱῷ – und lässt an die Stelle das δηλονότι τῆς οὐσίας ἴδιος treten.117

5
Athanasius kann hiermit sein Argument der Ursprungsbeziehungen vertiefen,
ein ihm vorliegendes Problem lösen und eine Alternative zur Verwendung des
Teilhabegedankens in der Trinitätslehre bieten. Die aristotelische Eigenschafts-
lehre war präsent durch platonische und aristotelische Schriften gegen die stoi-
sche These von der Körperlichkeit der Eigenschaften.118 Diese Schriften belegen,
in welche Richtung Athanasius dachte, sie belegen vor allem aber einen Bil-
dungshorizont, der Athanasius zur Verfügung stand,119 und sie zeigen, wie Atha-
nasius durchaus eigenständig seine Trinitätslehre seit der Begegnung mit Markell

117 Athanasius, Epistula ad Afros episcopos 8,4 (335,9–10 B./H./v. St.).


118 Alkinoos, Didaskalikos 11 (26 W.); Alexander von Aphrodisias, De anima libri mantissa 6
(Alexander Aphrodisiensis, De anima libri mantissa. A New Edition of the Greek Text with In-
troduction and Commentary, hg. R. W. Sharples [Peripatoi 21], New York 2008, 63–66). Gleich
zu Anfang zieht Alexander den in diesem Zusammenhang relevanten Schluss, der darin endet,
dass Qualität weder Wesen noch Körper ist: ἡ ποιότης οὐκ οὐσία, ἑτέρας γὰρ φύσεως. τοῦτο δὲ
τῇ ἐπαγωγῇ πιστωτέον· πάσης γὰρ οὐσίας ἑτέρα ἡ περὶ αὐτὴν ποιότης. ἀλλὰ μὴν τὸ πρῶτον,
τὸ ἄρα δεύτερον. ἡ ποιότης οὖν ἕτερον οὐσίας, τὸ ἕτερον οὐσίας οὐκ οὐσία, ἡ ποιότης ἄρα οὐκ
οὐσία. ἀλλὰ εἰ πᾶν σῶμα οὐσία, ἡ δὲ ποιότης οὐκ οὐσία, οὐκ ἄρα ἡ ποιότης σῶμα (63 S.). Siehe
außerdem: Pseudo-Galen, De qualitatibus incorporeis libellus. Zu dem schwer einzuordnenden
Text: R. B. Todd, The author of the De qualitatibus incorporeis. If not Albinus, Who?, in: AnCl 46
(1977), 198–204. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist Nemesius von Emesa, De natu­
ra hominis 2 (Περὶ ψυχῆς). Zu den Quellen siehe die Angabe von R. W. Sharples/P. J. van der Eijk
in der Übersetzung, Nemesius, On the Nature of Man (wie Anm. 90) 53, no. 263.
119 Kritisch gegenüber Athansius’ Maß an Bildung z.  B. Barnes (wie Anm. 5), 11. Er schreibt mit
Verweis auf Gregor von Nazianz’ Panegyrikos: „Athanasius received a thorough grounding in the
scriptures and in biblical exegesis, which formed the basis of his thought and writings throug-
hout his life. His education, however, probably did not include close study of the classics of
Greek literature.“

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 Athanasius von Alexandrien   151

entwickelte. Man wird aber dennoch davon ausgehen können, dass Athanasius
sich auf eine bestehende Diskussion bezieht, allerdings handelt es sich dabei
nicht um die Auseinandersetzung mit Eunomius. Athanasius entwickelt seinen
Gedankengang ausschließlich in Hinblick auf den Begriff der Ähnlichkeit, aber
wie steht es um den Begriff ἀνόμοιος? Aristoteles sagt in dem oben gegebenen
Zitat aus der Kategorienschrift,120 dass man beides, „ähnlich“ und „unähnlich“,
nur in Hinblick auf die Eigenschaften aussagen kann.
In der Tat haben die Ausführungen von Athanasius eine Fortsetzung gefun-
den in der Auseinandersetzung mit Eunomius bzw. den Eunomianern. Folgt man
Cyrill von Alexandrien (Assertio 11 im Thesaurus de sancta et consubstantiali
Trinitate)121, hat sich Eunomius genau das von Athanasius benutzte Argument
zu Eigen gemacht. Cyrill verwendet viel Mühe und umfangreiche Seiten darauf,
Eunomius zu widerlegen. Eunomius zeigt, dass man die aristotelischen Über-
legungen, von Cyrill als solche identifiziert,122 auch anders anwenden konnte.
Cyrill beginnt mit einem Zitat, das er Eunomius zuschreibt. Dieser zieht folgen-
den Schluss: Er setzt damit ein, dass Dinge, die dasselbe Wesen haben und von
gleicher Natur sind, kein Mehr oder Weniger haben können. Ein Mensch sei dem
Wesen nach nicht mehr Mensch als ein anderer und das gleich gelte beispiels-
weise von Pferden. Wenn es nun in Joh 14,28 heißt, dass der Sohn gesagt habe,
der Vater sei größer als er, etwas Gleichwesentliches aber nicht größer sein kann
als ein anderes Gleichwesentliches nach dem Gesetz des Wesens, folgt daraus
notwendig, dass Vater und Sohn nicht gleichwesentlich sind.123 Cyrill entkommt
dem Schluss des Eunomius, indem er mit Bezügen auf Christologie und Hypos-
tasenlehre darauf verweist, dass Größer und Geringer einen Vergleich implizie-

120 Wie Anm. 88.
121 PG 75, 140B–C. Ich danke Milorad Marjanovic für den Hinweis auf diese Stelle in Assertio
11. Mit Assertio 11 beschäftigt sich auch Marie-Odile Boulnois, Le Paradoxe Trinitaire chez Cyrille
d’Alexandrie. Herméneutique, analyse philosophiques et argumentation théologique (Collection
des Études Augustiniennes, Série Antiquité 143), Paris 1994, 197–209. Siehe außerdem H. van
Loon, The Dyophysite Christology of Cyril of Alexandria (SVigChr 96), Leiden 2009, 106–113. Sei-
nen Überlegungen zu einem mangelhaften Verständnis von Aristoteles auf Seiten von Cyrill wird
man allerdings nicht folgen können.
122 Cyrill von Alexandrien, Thesaurus de sancta et consubstantiali Trinitate, Assertio 11 (PG 75,
145B–D; 147A–B).
123 Cyrill von Alexandrien, Thesaurus de sancta et consubstantiali Trinitate, Assertio 11 (PG 75,
140B–C): Τὰ τὴν αὐτὴν οὐσίαν λαχόντα, φησὶν, ὁμοφυῆ τε ὄντα οὐκ ἔχουσι καθ’ ἑαυτῶν φυσικῶς
τὸ μεῖζον, ἀλλ’ οὔτε τὸ ἔλαττον. Οὐ γὰρ μείζων ἄνθρωπος ἀνθρώπου κατὰ τὸν τῆς οὐσίας λόγον,
ἀλλ’ οὐδὲ ἵππος ἵππου τυχόν. Εἰ τοίνυν ἑαυτοῦ μείζονά φησιν ὁ Υἱὸς εἶναι τὸν Πατέρα, ὁμοούσιον
δὲ ὁμοουσίου οὐκ ἂν εἴη μεῖζον κατὰ τὸν τῆς οὐσίας λόγον, οὐκ ἄρα ὁμοούσιος αὐτῷ ἐστιν.

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152   Silke-Petra Bergjan

ren, aber nur Gleiches, also Gleichwesentliches verglichen werden kann, so dass
auch für Gott Vater und Gott Sohn gilt, dass sie nicht nach dem Wesen, sondern,
so muss man schließen, im Sinne der Akzidentien Größer und Geringer genannt
werden können.124 Veranlasst durch Eunomius ist der Argumentationsbogen125
ein anderer und führt über Athanasius hinweg und weiter in die Christologie.126

124 Cyrill von Alexandrien, Thesaurus de sancta et consubstantiali Trinitate, Assertio 11 (PG 75,
144B–D).
125 Vgl. die Zusammenfassung bei van Loon (wie Anm. 121), 107–113.
126 Cyrill von Alexandrien, Thesaurus de sancta et consubstantiali Trinitate, Assertio 11 (PG 75,
152C).

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Barbara Müller
Ruhe von Kirche und Kaiser?
Reflexionen zur monastischen Hesychia ausgehend von
Athanasius, Vita Antonii 85

Das 85. Kapitel der Vita Antonii mit seinem Fisch-Apophthegma ist in vielfacher
Hinsicht bedeutsam,1 enthält es doch eine prägnante und für die Vita Antonii und
Athanasius typische Beschreibung des Verhältnisses zwischen tätigem Einsatz in
und für die Welt und abgeschiedener monastischer Kontemplation. Im Folgenden
wird das athanasische Fischwort (Vita Antonii 85,3–4) im Kontext abhängiger und
ähnlicher Quellen interpretiert. Im Fokus steht dabei insbesondere der Begriff
der ἡσυχία. Dieser gilt gemeinhin als zentraler spiritueller terminus technicus des
frühen Anachoretentums.2 Die vorliegende Untersuchung stellt diese Meinung
allerdings in Frage. Vertreten wird hier vielmehr die These, wonach ἡσυχία bei
den frühen ägyptischen Wüstenvätern primär die Angabe ihres äußeren Wohnor-
tes meint und frühestens in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zum allgemei-
nen spirituellen Konzept der kontemplativen Ruhe wurde. Konsequenterweise ist
ἡσυχία in frühmonastischen Quellen schlicht mit „Ruhe“ zu übersetzen. Bereits
„Herzensruhe“, oder gar „Sitzruhe“,3 sind demgegenüber Interpretationen, wenn
nicht gar mittelalterliche Projektionen, die an einzelnen Stellen zutreffen mögen,
insgesamt jedoch nicht angemessen sind.
Sich der historischen Untersuchung eines geflügelten monastischen Wortes
zuzuwenden, erscheint dabei kein müßiges Verweilen bei „Einleitungsfragen“.4

1 Athanasius, Vita Antonii 85,3–4 (SC 400, 354,7–12 Bartelink). Ich danke Prof. Dr. Chiara Farag-
giana für den wertvollen Einblick in die Manuskripte von Apophthegma Antonius 10 und Jochen
Oldörp für diverse Hilfe!
2 Z. B. P. Miquel, Lexique du désert. Etude de quelques mots-clés du vocabulaire monastique
grec ancien (Spiritualité orientale 44), Bégrolles-en-Mauges 1986, 143–180.
3 P. Gemeinhardt, Antonius. Der erste Mönch, München 2013, 28; id., Wie kann man das Leben
eines Heiligen schreiben? Hagiographische Verlegenheiten damals und heute, in: id., Die Kirche
und ihre Heiligen. Studien zur Ekklesiologie und Hagiographie in der Spätantike, Tübingen 2014,
291–307 (301); id., „Wie der Fisch ins Meer, so muss der Mönch ins Kellion eilen.“ Die Anfänge der
Wüstenaskese im spätantiken Ägypten, in: BThZ 32 (2015), 60–83 (77). – Wenn schon: ruhiger
Wohnsitz.
4 Gemeinhardt geht es in seinem, vom gleichen Text ausgehenden Aufsatz entsprechend nicht
um die historische Analyse der Quellen („nachrangige Rolle“), sondern „um das Zusammenspiel
verschiedener Quellen, die den Blick auf die spätantike christliche Askese prägen.“ Gemein-
hardt, Fisch (wie Anm. 3), 65.

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154   Barbara Müller

Weiter wird damit auch nicht bezweckt, eine tatsächlich unmöglich fassbare, von
Samuel Rubenson mit Recht problematisierte ursprüngliche, wahre und echte
Tradition gegenüber einer späteren, potentiell für weniger wertvoll eingeschätz-
ten Überlieferungen zu isolieren und hervorzuheben.5 Dahinter steckt vielmehr
das historische Interesse, wie im Verlauf der Zeit eine bestimmte Unterweisung
unterschiedlich formuliert und gelesen wurde, also keine Urknalltheorie. Im
konkreten Fall zeigt sich, dass in der späteren monastischen Tradition, wie sie
die großen Apophthegmensammlungen repräsentieren, das in der platonischen
Philosophie zentrale Konzept der ἡσυχία in christlich-meditativer Bedeutung
benutzt wird. Dieser Vorgang wird als solcher fassbar, wenn diverse Quellen ver-
glichen und kontrastiert werden. Es zeigt sich auch, dass der historische Antonius
des 4. Jahrhunderts wahrscheinlich kein Lehrer der Hesychia war, gleichzeitig,
dass der im 6. Jahrhundert verehrte Antonius sicher ein Lehrer der Hesychia war
bzw. als solcher wahrgenommen wurde. Dies ist eine historisch und heuristisch
bedeutsame Einsicht, die zugleich völlig wertfrei ist. Der jüngere Zugang zur früh-
monastischen Tradition, wie ihn insbesondere die Forschergruppe um Samuel
Rubenson vertritt, mit ihrem Fokus auf der Flüssigkeit der Überlieferung leuch-
tet gerade im Kontrast zu Urknalltheorien ein.6 Allerdings gibt es keinen Anlass,
nicht dennoch nach historischen Phasen und Schichten zu fragen. Wie sollte ein
Prozess ohne möglichst präzise Einzelkoordinaten erfasst werden können?

1 Vita Antonii 85,3–4

1.1 „Wie der Fisch ins Meer […]“ – Athanasius, Vita Antonii 85,3

Vita Antonii 84–85 beschreiben das öffentliche Wirken des geläuterten Antonius,
der zu jener Zeit bereits auf seinem „inneren Berg (τὸ ἔσω ὄρος)“ wohnt bzw.
„sitzt (καθήμενος)“.7 Er verlässt diesen zwar regelmäßig, jedoch nur widerwillig
und bisweilen regelrecht dazu gedrängt. In Vita Antonii 84–85 wird die Störung
thematisiert, die eine solche Ortsverschiebung und der Andrang für Antonius und

5 S. Rubenson, The Formation and Re-formations of the Sayings of the Desert Fathers, in: StPatr
55 (2013), 5–22.
6 Rubenson (wie Anm. 5), 12. Als Urknalltheorie könnte man Boussets (W. Bousset, Apophtheg-
mata. Studien zur Geschichte des ältesten Mönchtums, Tübingen 1923) Modell bezeichnen, vgl.
Rubenson (wie Anm. 5), 9.
7 Athanasius, Vita Antonii 51,1 (272,1 B.). Sitzen auf dem Berg z.  B. Athanasius, Vita Antonii 60,1;
66,1; 84,1.

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   155

dessen vorzugsweise abgeschieden kontemplatives Leben bedeuten. In diesem


Sinne wird in Vita Antonii 85 geschildert, wie Antonius dem Druck der Menge,
seinen Sitz zu verlassen, schließlich nachgibt. Auf dem äußeren Berg angelangt
unterweist er kurz die Menge, um sich unverzüglich wieder auf den Heimweg zu
machen. Der anwesende Beamte bittet ihn zu verweilen, worauf ihn Antonius mit
einer „geistreichen Illustration“ (παραδείγματι χαρίεντι [354,7 B.]) von der Unsin-
nigkeit längeren Bleibens überzeugt:

Wie die Fische, wenn sie eine Weile auf dem trockenen Land liegen, verenden, so ermatten
die Mönche, wenn sie sich länger bei euch aufhalten und Umgang mit euch haben. Es ist
daher notwendig, dass wir gleich wie der Fisch ins Meer auf den Berg eilen, damit wir nicht
länger verweilend die inneren Dinge vergessen.8

Diese Unterweisung beeindruckt den Beamten. Blitzartig erkennt er, dass Anto-
nius „wahrhaft ein Diener Gottes“ ist.9 Vergleichbar dem Hauptmann nach
dem Tode Jesu (Mt 27,54) wird ihm die höchste Begnadung des Antonius offen-
bar. Äußerlich betrachtet legt Antonius dem Beamten und der Menge dar, was
ein Mönch ist: nämlich einer, der sich örtlich und sozial von der Welt entfernen
muss. Um das zu vermitteln, benutzt er ein Bildwort, das sich auf ein „außeror-
dentlich billiges Nahrungsmittel“ bezieht, nämlich den Fisch, und insofern dem
Alltag entnommen ist.10 Wahrscheinlich nimmt Athanasius damit eine populäre
Redewendung auf, die er in einer neuen, auf das monastische Leben hin orien-
tierten Weise interpretiert. Die Fischsymbolik war in der Antike verbreitet; die
entsprechende Bildsprache wurde in der christlichen Literatur gerne allegori-
siert.11 Dabei funktionieren diese Allegorisierungen in alle Richtungen. So ist
z.  B. nach Eusebius von Emesa die Rettung eines Fisches außerhalb des Wassers
wahrscheinlicher als diejenige der Seele ohne Christus.12 Der Fisch muss also
nicht unbedingt ins Wasser zurück! Angesichts der Allgemeinheit des Bildinhal-
tes erscheint es müßig, nach einer Quelle für das Fischbild in Vita Antonii 85 zu
suchen. Entsprechend sind auch ähnliche Passagen in anderen Quellen primär

8 Athanasius, Vita Antonii 85,3–4 (354, 7–12 B.): Ὥσπερ οἱ ἰχθύες ἐγχρονίζοντες τῇ ξηρᾷ γῇ
τελευτῶσιν, οὕτως οἱ μοναχοὶ βραδύνοντες μεθ’ ὑμῶν καὶ παρ’ ὑμῖν ἐνδιατρίβοντες ἐκλύονται. Δεῖ
οὖν, ὥσπερ τὸν ἰχθὺν εἰς τὴν θάλασσαν, οὕτως ἡμᾶς εἰς τὸ ὄρος ἐπείγεσθαι, μήποτε βραδύνοντες
ἐπιλαθώμεθα τῶν ἔνδον. Vgl. D. Brakke, Athanasius and Asceticism, Baltimore 1995, 239.
9 Athanasius, Vita Antonii 85,5 (354,14 B.): […] ἀληθῶς εἶναι τοῦτον δοῦλον τοῦ θεοῦ.
10 J. Engemann, Fisch, Fischer, Fischfang, in: RAC 7 (1969), 959–1097 (961).
11 Beispiele bei Engemann (wie Anm. 10), 1030–1041.
12 Engemann (wie Anm. 10), 1040.

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156   Barbara Müller

als Gleichklänge und nicht als Rezeptionen aufzufassen. Von einer eigentlichen
Rezeption kann erst bei übereinstimmender Deutung die Rede sein.

1.2 Der Vergleich von Vita Antonii 85,3 mit Apophthegma


Antonius 10
Ähnlich wie Vita Antonii 85,3–4 lautet ein Antonius-Apophthegma:

Er [=Antonius, B. M.] sagte wiederum: Wie die Fische, wenn sie eine Weile auf dem Tro-
ckenen liegen, verenden, so erschlaffen auch die Mönche, die sich außerhalb des Kellions
aufhalten oder mit Weltlichen Umgang haben, in der Spannung der Ruhe (ἡσυχίας τόνον).
Nötig ist nun, dass auch wir ins Kellion eilen wie der Fisch ins Meer, damit wir nicht länger
draußen verweilen und die Bewachung des Inneren vergessen.13

Zweifellos beziehen sich Apophthegma Antonius 10 und Vita Antonii 85,3–4 im


Kern auf dieselbe Unterweisung, stimmen sie doch teils bis auf den Wortlaut
überein. Dabei bezieht sich die wörtliche Übereinstimmung vor allem auf das
Bild. Auffälliger Weise ist die athanasische, potentiell pleonastische Version mit
dem „trockenen Land“ als Gegenstück zum Meer schlechter gelungen als Apoph­
thegma Antonius 10, wo das Meer schlicht und elegant mit dem Trockenen kon-
trastiert wird. Um ein Wort länger ist demgegenüber der zweite Bildteil in Apo­
phthegma Antonius 10, wo dem Bezug auf die Mönche durch ein zusätzliches καί
Nachdruck verliehen wird.14 Quantitativ ist somit das Bildwort in Vita Antonii 85,3
und Gerontikon 10 gleich, qualitativ erscheint es in Apophthegma Antonius 10
gegenüber Vita Antonii 85,3 verbessert.
Weitaus ausführlicher als in Vita Antonii fällt in Apophthegma Antonius 10
die Interpretation aus. Über den schieren Umfang hinaus unterscheidet sie sich
terminologisch auffällig von Vita Antonii 85,3–4. Sie zeichnet sich insbeson-
dere durch eine ausgefeiltere, monastisch-technische Sprache aus. Die Begriffe

13 G (= Gerontikon/Alphabetikon)/Antonius 10 (PG 65, 77B–C): Εἶπε πάλιν· Ὥσπερ οἱ ἰχθύες


ἐγχρονίζοντες τῇ ξηρᾷ τελευτῶσιν, οὕτως καὶ οἱ μοναχοὶ, βραδύνοντες ἔξω τοῦ κελλίου, ἢ μετὰ
κοσμικῶν διατρίβοντες, πρὸς τὸν τῆς ἡσυχίας τόνον ἐκλύονται. Δεῖ οὖν, ὥσπερ τὸν ἰχθὺν εἰς τὴν
θάλασσαν, οὕτως καὶ ἡμᾶς εἰς τὸ κελλίον ἐπείγεσθαι, μήποτε βραδύνοντες ἔξω ἐπιλαθώμεθα τῆς
ἔνδον φυλακῆς. E. Schweitzer (Hg.), Apophthegmata Patrum (Teil 1). Das Alphabetikon – die
alphabetisch-anonyme Reihe (Weisungen der Väter 14), Beuron 2012, 23, übersetzt die schwieri-
ge Passage wörtlich: „Sie lösen die Anspannung der hesychia auf.“ Miller interpretiert demge-
genüber: „[…] dann lösen sie sich aus dem Zug der Beschauung.“ B. Miller, Weisung der Väter
(Sophia 6), Trier 31986, 16.
14 G 10/Antonius 10 (PG 65, 77–BC): οὕτως καὶ ἡμᾶς.

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   157

κελλίον, ἡσυχία, ἔνδον φυλακή und κοσμικοί fehlen allesamt in der athanasi-
schen Version. Zwei dieser Unterschiede wird im Folgenden ausführlicher nach-
gespürt; dabei liegt der Schwerpunkt auf der ἡσυχία.

1.2.1 Berg (ὄρος) versus Kellion (κελλίον)

Bei Athanasius ist der örtliche Fluchtpunkt des Mönchs nicht das κελλίον,
sondern der Berg (ὄρος).15 Dies entspricht dem weiteren Befund in der Vita
Antonii: Athanasius verortet Antonius häufig auf dem Berg; bisweilen ist auch von
dessen μοναστήριον die Rede, nie jedoch von einem Kellion.16 In der konkreten
Situation, in der sich Antonius im Anschluss an die Unterweisung zurückzieht,
meint ὄρος den inneren Berg des Antonius. Antoniusʼ Unterweisung beansprucht
jedoch allgemeine Gültigkeit. Was ist also ὄρος? In den frühen monastischen
Quellen bezeichnet ὄρος den Gegensatz zum kultivierten Land.17 Es kann sich
dabei durchaus um Flachland handeln; möglich sind aber auch hügelige Aufwer-
fungen, wie sie in den ägyptischen Wüstenlandschaften häufig vorkommen. Eine
topographische Angabe ist ὄρος dennoch nur sekundär, vielmehr ist es einfach
ein Ort, an dem die Mönche ihr asketisches Leben führen. Mit demselben Begriff
kann entsprechend auch eine monastische Gruppierung bezeichnet werden.
Insgesamt lässt also Athanasius in Vita Antonii 85,4 offen, wohin genau sich der
einzelne Mönch begeben soll: ob in eine Behausung – welcher Art auch immer –
oder in die offene Wüste. Klar ist nur, dass der Trubel der Welt der falsche Ort ist.
Rubenson fokussiert in seinem Vergleich von Vita Antonii 85 mit Gerontikon 10
ὄρος und κελλίον und somit die unterschiedlichen Bezeichnungen des monas-
tischen Aufenthaltsortes.18 Für ihn resultiert daraus die historische Priorität von
Vita Antonii 85: Kellion findet sich seinen Analysen nach in den Quellen erst am
Ende des 4. Jahrhunderts. Im Gegensatz dazu werden monastische Siedlungen
bereits am Anfang des 4. Jahrhunderts als ὄρος bezeichnet. Überdies verfügt ὄρος

15 Dies verbindet ihn mit dem Mann Gottes Elia, 2 Kön 1,9. Die zahlreichen Erwähnungen von
ὄρος finden sich im Index der Textedition (SC 400, 413 Bartelink).
16 Dieser Begriff bildet typischerweise diverse Behausungen ab: Die Festung des jungen Anto-
nius: Athanasius, Vita Antonii 12,4 (168,19 B.); die Mönchsbehausungen allgemein: Athanasius,
Vita Antonii 44,2.4 (254,7.16 B.). Zu μοναστήριον vgl. E. Wipszycka, Moines et communautés mo-
nastiques en Egypte (IVe – VIIIe siècles) (JJP.S 11), Warschau 2009, 281–282.
17 Wipszycka (wie Anm. 16), 110–111.283.
18 S. Rubenson, The Letters of St. Antony. Monasticism and the Making of a Saint, Studies in
Antiquity and Christianity, Minneapolis 1995, 161–162.

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158   Barbara Müller

über ein koptisches Begriffsäquivalent.19 Die Rede vom Kellion, wie in Apoph­
thegma Antonius 10, verweist also auf eine spätere monastische Phase.

1.2.2 ἡσυχία

Mindestens so auffällig wie die unterschiedlichen Bezeichnungen des monasti-


schen Aufenthaltsortes ist das Fehlen der Wendung τὸν τῆς ἡσυχίας τόνον in Vita
Antonii 85. In der Literatur wird gemeinhin nur auf das Fehlen von ἡσυχία hinge-
wiesen.20 Dies ist jedoch ein verengter Blick, da der Fokus dieser Wendung nicht
eindeutig ist. Grammatikalisch formuliert: Handelt es sich bei ἡσυχίας um einen
Genitivus subiectivus? In diesem Falle wäre die ἡσυχία die zentrale Thematik
und es ginge in Apophthegma Antonius 10 um die Art und Weise, wie die ἡσυχία
praktiziert wird. Nicht minder bedenkenswert und sogar wahrscheinlicher ist das
Vorliegen eines Genitivus obiectivus. In diesem Falle wäre der τόνος und damit
die Anspannung bzw. Anstrengung – worin auch immer – der Hauptgegenstand.
Für letzteres lassen sich diverse Argumente anführen:
Zum einen spricht eine handschriftliche Variante dafür, τόνος als das überge-
ordnete Konzept zu betrachten. Parisinus graecus 919, eine gegenüber der ältes-
ten Überlieferung von Apophthegma Antonius 10 in Vaticanus graecus 2592 zwar
spätere Variante, bietet an dieser Stelle τὸν τῆς ἀσκήσεως τόνον.21 Historisch
gesehen bezieht sich ἡσυχία ursprünglich auf τόνος. In der späteren Variante
des Parisinus graecus 919 ist es die Askese. Obgleich überlieferungsgeschicht-
lich sekundär, ist doch aufschlussreich, wo variiert wurde. Naheliegender Weise
geschah dies in der Präzisierung und nicht im Grundanliegen, welches dann aber
der τόνος ist. Der Schreiber von Parisinus graecus 919 bezog die aufzuwendende
Kraft auf die Askese und nicht auf die ἡσυχία. In beiden Fällen steht die Anstren-
gung des Mönchs im Vordergrund.
Dieser Sicht der Dinge entspricht Vita Antonii 3,5, dem zweiten Argument für
die Vorrangigkeit von τόνος gegenüber ἡσυχία. Dort beschreibt Athanasius das

19 Rubenson (wie Anm. 18), 161.


20 Dörries zitiert immerhin den ganzen Ausdruck, um aber doch nur kurz auf die ἡσυχία einzu-
gehen: H. Dörries, Die Vita Antonii als Geschichtsquelle, in: id., Wort und Stunde 1, Göttingen
1966, 151–152; Rubenson (wie Anm. 18), 161; Gemeinhardt, Leben (wie Anm. 3), 302–304.
21 Apophthegmata Patrum, alphabetica-anonyma derivata apud Parisinus graecus 919: Ὥσπερ οἱ
ἰχθύες χρονίζοντες τῇ ξηρᾷ τελευτῶσιν, οὕτως καὶ μοναχοὶ βραδύνοντες ἔξω τοῦ κελλίου ἢ μετὰ
κοσμικῶν διατρίβοντες πρὸς τὸν τῆς ἀσκήσεως τόνον ἐκλύονται. δεῖ οὖν ὥσπερ τὸν ἰχθὺν εἰς τὴν
θάλασσαν, οὕτω καὶ ἡμᾶς εἰς τὸ κελλίον ἐπήγεσθαι [sic], μήποτε βραδύνοντες ἔξω ἐπιλαθόμεθα
[sic] τῆς ἔνδον φυλακῆς.

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   159

asketische Projekt des jungen Antonius in grundsätzlicher Weise: Dieses bestand


im Verzicht auf familiäre Beziehungen und Besitz, in geistiger Wachsamkeit, dem
Eremitenleben, der spirituellen Schülerschaft, dem Tugendweg, Handarbeit,
ständigem Gebet und aufmerksamer Schriftlektüre. Athanasius fasst folgender-
maßen zusammen: „Die Anfänge verlebte er hier und festigte seine Gesinnung,
um nicht zu seinem elterlichen Besitz zurückzukehren noch sich seiner Verwand-
ten zu erinnern. Seine ganze Sehnsucht aber und seinen ganzen Eifer richtete er
auf die Anstrengung in der Askese (τὸν τόνον τῆς ἀσκήσεως).“22 Für Athanasius
ist also das asketische Leben insgesamt τόνος, d.  h. ein kräftezehrendes Vorha-
ben. Τόνος ist hier sicher keine Maßangabe, sondern der umfassende Einsatz für
die asketisch-monastische Lebensweise.
Ein drittes Argument enthält die koptische Version (Apophthegmata Patrum,
Collectio bohairica = Bo 12) von Apophthegma Antonius 10. Rubenson weist darauf
hin, dass sich in Bo 12 kein begriffliches Äquivalent zu ἡσυχία findet, obschon der
Spruch sonst sehr nahe bei der griechischen Version liegt. Auch für den kopti-
schen Übersetzer bildete offensichtlich nicht die Ruhe das Zentrum des Spruchs.23
Erwähnenswert ist weiter Apophthegma Antonius 13. Hier wird die spiritu-
elle Leitung mit der Praxis des Bogenschießens verglichen: Wie der Schütze den
Bogen nicht überdehnen soll, „so ist es auch beim Werk für Gott. Wenn wir bezüg-
lich der Brüder über das Maß spannen, brechen sie bald.“24 Das aus diversen
antiken Quellen bekannte Motiv des Bogenspannens kreist begrifflich zentral um
den τόνος bzw. das Verbum τείνω.25 Der monastische πόνος wurde offensichtlich
bildlich auch als τόνος wahrgenommen.

22 Athanasius, Vita Antonii 3,5 (136,20–138,1 B.): Ἐκεῖ τοίνυν τὰς ἀρχὰς διατρίβων, τὴν διάνοιαν
ἐστάθμιζεν, ὅπως πρὸς μὲν τὰ τῶν γονέων μὴ ἐπιστρέφηται μηδὲ τῶν συγγενῶν μνημονεύῃ·
ὅλον δὲ τὸν πόθον καὶ πᾶσαν τὴν σπουδὴν ἔχῃ περὶ τὸν τόνον τῆς ἀσκήσεως. Bartelink übersetzt
„effort ascétique“, ebd. 137.
23 Rubenson (wie Anm. 18), 161 Anm. 2.
24 G 13/Antonius 13 (PG 65, 80A). Οὕτως καὶ εἰς τὸ ἔργον τοῦ Θεοῦ· ἐὰν πλεῖον τοῦ μέτρου
τείνωμεν κατὰ τῶν ἀδελφῶν, ταχὺ προσρήσσουσι. Vom Gegenteil, nämlich Spannungslosig-
keit (ἀτονία) in Folge von mangelndem Einsatz, handelt G 311/Apophthegma Theodora 3 (PG
65, 201B–D). Dieses Apophthegma ist relativ schwach bezeugt: Es fehlt nicht nur in der Apoph-
thegmensammlung des Pelagius und Johannes (PJ), wo die sieben im Gerontikon überlieferten
Aussprüche der Theodora gänzlich fehlen, sondern selbst im Hesychia-Kapitel (= Kap. 2) der
späteren systematischen Sammlung, vgl. W. Bousset (wie Anm. 9), 98. Theodora wird in G 309/
Apophthegma Theodora 1 (PG 65, 201A) mit Theophilos von Alexandria in Verbindung gebracht.
Zu Theodora vgl. M. Heine, Die Spiritualität von Asketinnen. Von den Wüstenmüttern zum städ-
tischen Asketentum im östlichen Mittelmeerraum und in Rom vom 3. bis zum 5. Jahrhundert,
Berlin 2008, 47–54.
25 Zahlreiche Belege bei Schweitzer (wie Anm. 13), 332.

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160   Barbara Müller

Man muss sich also beim Vergleich von Vita Antonii 85,4 und Apophthegma
Antonius 10 weniger darüber wundern, dass Athanasius die ἡσυχία nicht erwähnt,
als dass er nichts von der monastischen Anspannung oder Mühe schreibt. Das
Mehr von Apophthegma Antonius 10 gegenüber Vita Antonii 85,4 besteht als erstes
im τόνος und nicht in der ἡσυχία; diese – so ist zu spekulieren – kam sekundär
dazu. Vom τόνος schreibt Athanasius aber, wie oben dargelegt, durchaus. Seine
ganze Antonius-Vita kann als Beschreibung der Anstrengungen des Antonius
gesehen werden. Letzteres zeigt sich typischerweise auch daran, dass selbst
in der letzten Würdigung des Antonius post mortem auf seinen von der Jugend
bis ins Alter nicht nachlassenden Eifer in der körperlichen Askese hingewiesen
wird.26 Selbst wenn er, was andere Quellen nahelegen, gegen Lebensende keine
asketischen Höchstleistungen mehr vollbringen konnte, verharrte er im Vorsatz
der Askese.27 Plausibel ist dies aus der eschatologischen Grundhaltung der frühen
Christen, die Ruhe in diesem Leben nicht vorsieht. Damit übereinstimmend endet
die Vita Antonii in eschatologischer Perspektive, nämlich mit einem Bekenntnis
zu Jesus Christus und dessen ewiger Herrschaft.28 Dieser Befund entspricht dem
weiteren athanasischen Denken.
Hesychia steht sowohl als theologisches als auch als monastisch-philoso-
phisches Konzept außerhalb des athanasischen Denkhorizonts.29 Der Begriff
ἡσυχία findet sich in der Vita Antonii nicht. Bei der Durchsicht des athanasischen
Gesamtwerks fällt auf, dass ἡσυχία überhaupt recht selten vorkommt – und
wenn, dann in einem allgemeinen und äußerlichen Sinne, etwa als Ruhe und
Friede in der Kirche.30 Vergleichbar ist Athanasiusʼ Verwendung von ἡσυχία bei-
spielsweise derjenigen Eusebs, der unter Benutzung des Begriffs ἡσυχία beson-
ders häufig von Ruhe und Friede oder Ruhe und Ordnung spricht; Garant dafür
ist für Euseb vor allem Konstantin, der gleichsam der Ruhebringer ist.31 Sowohl
für Athanasius als auch Euseb hat ἡσυχία aber keinerlei theologische Bedeutung.

26 Athanasius, Vita Antonii 93,1.


27 A. Crislip, Thorns in the Flesh: Illness and Sanctity in Late Ancient Christianity, Philadelphia
2013, 135–136.
28 Athanasius, Vita Antonii 94,2.
29 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf meinen Art. Ruhe, der demnächst in RAC
erscheint.
30 Z. B. Athanasius, Apologia secunda 39,1 (Athanasius Werke = AW 2,3, hg. v. H.-G. Opitz, Berlin
1938, 117,30). – Im monastischen Kontext verbindet sich bei Athanasius allenfalls Schweigen mit
ἡσυχία und hat damit einen biblischen Bezug in 1 Tim 2,12, vgl. Brakkes (wie Anm. 8) Überset-
zungen syrischer Athanasius-Texte, 295–297.
31 Eusebius, De vita Constantini 2,56,1, mit ähnlicher Friedensabsicht: 3,12,4; 3,13; 1,44; in der
Vita Constantini sind ἡσυχία und εἰρήνη eng verwandt.

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   161

Selbst was Konstantin bringt, ist für Euseb nicht die wahre, nämlich ewige Ruhe.
Diese – und es handelt sich dann nicht um ἡσυχία, sondern um den biblisch profi-
lierten Begriff ἀνάπαυσις (Mt 11,28) – ist bei allen altkirchlichen Autoren letztlich
eine eschatologische Größe. Ruhe erscheint inkompatibel mit der Grundhaltung
der frühen Christen, die darin bestand, sich nach der jenseitigen Erquickung zu
sehnen, im Hier und Jetzt allenfalls eine vorläufige und insofern oberflächliche
Ruhe im Sinne einer geduldigen Gelassenheit zu finden.
Ἡσυχία ist weder ein biblisch noch theologisch prägnanter Begriff. Umso
wichtiger ist er in der griechischen Philosophie. Seit Platon war das hesychas-
tische Leben gleichsam Synonym für die Existenz des Philosophen. Die vorher
verpönte Weigerung, sich mit vollen Kräften aktiv für das Gemeinwesen einzu-
setzen, wird von da an positiv bewertet als Konzentration auf das Geistige.32 Aus
der vormals negativ bewerteten Untätigkeit (ἀπραγμοσύνη) wird eine Tugend;
umgekehrt wird Geschäftigkeit bzw. Vielbeschäftigtheit (πολυπραγμοσύνη) zum
negativ konnotierten Gegenpol des philosophischen Lebens.33
Nun kann man Athanasius nicht vorwerfen, in der Vita Antonii keine phi-
losophische Terminologie zu benutzen – gerade auch, um seines Helden ausba-
lancierten Seelenzustand zu beschreiben. Vielmehr lobt er Antonius mehrfach in
philosophischen Termini.34 Diese Termini sind allerdings meist negativ; positive
Ausdrücke sind demgegenüber selten dem philosophischen Vokabular entnom-
men. Zu den nicht-philosophischen positiven Ausdrücken gehört insbesondere
Reinheit.35 Einer bestimmten philosophischen Richtung zuordnen lässt sich die
philosophische Gelassenheits-Terminologie des Athanasius nicht, da die Gemüts-
ruhe in der Spätantike eine Thematik ist, die sich in allen philosophischen Syste-
men wiederfindet.36 Athanasius verzichtet darauf, Antonius mit einem positiven
Ruhebegriff zu versehen. Antonius ist bei ihm auf alle Fälle kein Hesychast.
Angesichts der in der Vita Antonii vorliegenden Terminologie der Nicht-
Unruhe lässt sich schließen, dass Athanasius offensichtlich kein Freund eines
gänzlich ruhigen monastischen Lebens war. Dies bestätigt allein schon das hier
im Fokus stehende Kapitel Vita Antonii 85. Antonius präsentiert sich hier zwar als
konsequent rückzugswillig; dennoch verlässt er seinen privaten Sitz und kümmert
sich um das innere und äußere Wohl der Menschen. Vergleichbare Verhaltens-

32 L. B. Carter, The Quiet Athenian, Oxford 1986, 155–194.


33 Ähnlich der Rat eines unbekannten Abbas: Ἡσύχασον δὲ ἀπὸ παντὸς πράγματος (Collectio
systematica 2,33 [SC 387, 142,3–4 Guy]).
34 Geballt in Athanasius, Vita Antonii 36; vgl. 43 (252,8 B.): ἀταραξία.
35 Athanasius, Vita Antonii 7,12; 14,3; vgl. Brakke (wie Anm. 8), 242.
36 H. D. Betz, Plutarchʼs Ethical Writings and Early Christian Literature (SCHNT), Leiden 1978,
198–199.

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162   Barbara Müller

weisen – von Schlichtung bei Rechtshändeln über Begleitung von Märtyrern zur
Hinrichtung bis zu Wunderheilungen – finden sich in der Vita Antonii zuhauf.37
Weltfremd ist Antonius nicht. Und ἡσυχία im Sinne von Schweigen, einer eben-
falls konstitutiven Bedeutung des Begriffs, pflegt er allenfalls in seiner Frühzeit
als Rekluse, wenn er in dieser Phase nicht gerade den angreifenden Dämonen
auch lautstark Paroli bietet.38 Spätestens, nachdem Antonius zum angesehenen
Altvater wird und umfangreiche Reden hält, ist es mit seinem Schweigen vorbei.
Gibt Athanasius in seiner wahrscheinlich urtümlicheren Beschreibung des
monastischen Lebens die Lehre des historischen Antonius wieder? Bietet Apo­
phthegma Antonius 10 eine elaborierte Version von Vita Antonii 85? Stellt Vita
Antonii 85,3 die Vorlage für Apophthegma Antonius 10 dar?39
Dies erscheint wahrscheinlich. Zu bedenken ist allerdings auch, dass Atha-
nasius kein neutraler Biograph ist. Vielmehr stellt er Antonius in der Perspektive
seiner Theologie dar, die er ihm bisweilen direkt in den Mund legt.40 Bezogen auf
Vita Antonii 85 könnte dies heißen, dass es im Sinne des Athanasius war, Anto-
nius als Verteidiger eines nur phasenweise ungestörten monastischen Lebens zu
porträtieren, nicht jedoch als Vertreter eines konsequenten monastischen Ruhe­
ideals. Das Fehlen von ἡσυχία in Vita Antonii 85,3–4 erlaubt somit eine sichere
Aussage über Athanasius, nicht jedoch zwingendermaßen über den historischen
Antonius und dessen monastisches Milieu. Ist es doch denkbar, Athanasius hätte
Lehrstücke, die asketischen Quietismus suggerieren könnten, nicht in seine Dar-
stellung aufgenommen oder redaktionell von der entsprechenden Terminologie
gesäubert. Gegen diese Sicht, in Athanasius einen Zensor der ἡσυχία zu sehen,
spricht allerdings die weitere Quellenlage (s.  u.). Es ist also wahrscheinlich, dass
entweder im Verlaufe der Zeit im Zuge mündlicher Tradierung oder in einem ein-
maligen redaktionellen Akt Vita Antonii 85 in der oben beschriebenen Weise zu
einem autonomen Antonius-Apophthegma erweitert wurde. Die Kompilatoren des
Gerontikons schätzten dabei als den zentralen Begriffs des Apophthegmas ἡσυχία
ein. Bildet ἡσυχία doch das Bindeglied zum anschließenden Antonius-Apoph-

37 Müller spricht deshalb von „ethischer Ausrichtung der Spiritualität“: A. Müller, Askese und
Spiritualität, in: P. Gemeinhardt (Hg.), Athanasius Handbuch, Tübingen 2011, 104–111 (107).
38 Z. B. Athanasius, Vita Antonii 9,1.
39 So sieht es Heussi, Der Ursprung des Mönchtums, Tübingen 1936, 107, der Athanasius, Vita
Antonii 85 als „älteste Fassung“ einschätzt; ebenso Rubenson (wie Anm. 18), 161. Gerade umge-
kehrt schätzt Dörries (wie Anm. 20), 151, das historische Verhältnis ein: „Die Fassung des Apoph-
thegmas in der Vita Antonii ist fraglos sekundär.“
40 Besonders deutlich erkennbar in Athanasius, Vita Antonii 68,2–3.

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   163

thegma: „Wer in der Wüste wohnt und ruht, der ist drei Kämpfen entrissen […].“41
Hinsichtlich dieser Stelle wird es aufschlussreich sein, im Zuge der kritischen
Edition des Gerontikons die handschriftlichen Varianten zu sehen. Sind es doch
insbesondere die Einleitungsformeln, in denen die Sprüche in den diversen
Handschriften variieren.42

1.3 Das Fischwort in der lateinischen Übersetzung der


Vita Antonii

In der lateinischen, von Evagrius von Antiochien besorgten Übersetzung der


Vita Antonii ist das Fisch-Rhema unschwer auffindbar. Dies ist nicht selbstver-
ständlich, da Evagrius weder wörtlich noch seine gesamte Vorlage übersetzt. Was
Athanasius, Vita Antonii 84–85 entspricht, findet sich bei Evagrius komprimiert
in Kapitel 53. Die Fisch-Passage, das gratum exemplum, lautet dabei folgender-
maßen:

Sicuti pisces ab aqua extracti, mox in arenti terra morerentur, ita et monachos cum saecula­
ribus retardantes, humanis statim resolvi confabulationibus. Ob id ergo, inquit, convenit ut
pisces ad mare, ita nos ad montem festinemus, ne tardantibus nobis aliqua propositi succedat
oblivio.43

Zwei Befunde sind bemerkenswert: Zum einen bezeichnet Evagrius das Gegen-
über der Mönche als saeculares. Damit entfernt er sich von der athanasischen
pronominalen (μεθ’ ὑμῶν) Vorlage und formuliert gleich wie Apophthegma Anto­
nius 10 (μετὰ κοσμικῶν). Dies ist allerdings die einzige Gemeinsamkeit mit Apo­
phthegma Antonius 10. Es ist nicht davon auszugehen, Apophthegma Antonius 10
hätte Evagrius vorgelegen. Vielmehr verbessert und präzisiert er die athanasi-
sche Aussage bloß in gleicher, naheliegender Weise wie der Redaktor von Apo­
phthegma Antonius 10. Besonders interessant ist Evagriusʼ Wiedergabe von τῶν
ἔνδον mit propositum, also mit Vorsatz oder Hauptanliegen. Der griechische Aus-

41 G 11/Antonius 11 (PG 65, 77C): Εἶπε πάλιν, ὅτι Ὁ καθήμενος ἐν τῇ ἐρήμῳ καὶ ἡσυχάζων […].
Bedenkenswert ist Schweitzers Übersetzung (wie Anm. 13), 23: „Wer in der Wüste wohnt und
Stille sucht […]“, 23.
42 R. Draguet, Les apophtegmes des moines d’Egypte. Problèmes littéraires, in: Académie Royale
de Belgique, Bulletin de la classe des lettres et des sciences morales et politiques, 5e série 47
(1961), 134–148 (144–146).
43 Evagrius von Antiochien, Vita Antonii 53 (PL 73, 164C). Auffällig hier auch die gegenüber der
ägyptischen Vorlage unterschiedliche Fischfangtechnik.

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164   Barbara Müller

druck ist nicht zwingend auf Seelisches zu beziehen. Es ist durchaus vertretbar,
ihn auf Dinge hin zu deuten, und somit auf diejenigen Dinge, die auf dem inneren
Berg von primärer Wichtigkeit sind. Dies ist das monastische Leben im Kontrast
zum weltlichen Tun. Der zeitgenössische Leser von Vita Antonii 85,3 verstand die
Wendung „die inneren Dinge nicht vergessen“ (ἐπιλαθώμεθα τῶν ἔνδον) also
nicht zwingend spirituell.

2 Kontext

2.1 Die Antonius-Briefe

Bei der Lektüre der Antonius-Briefe auf die Begrifflichkeit der Ruhe hin fällt deren
völliges Fehlen auf. Ähnlich wie der athanasische Antonius weist Antonius stetig
auf die Kämpfe und Versuchungen der Mönche hin und fordert sie dazu auf, in
ihren Anstrengungen nicht nachzulassen. Die Stimmung erscheint nachgerade
dramatisch: Die Kämpfe, die die Mönche ausfechten, sind derart anspruchsvoll,
dass sie sogar die Engel und Heiligen im Himmel ihrer Ruhe berauben: „Truly, my
beloved in the Lord, let this word be manifest to you, that you may do good, and
so give rest to all the saints and readiness to the ministry of angels, and rejoice at
the coming of Jesus, for because of us none of them has yet found rest.“44 Nach
Rubenson steht hinter „give rest“ im Griechischen das Verbum ἀναπάυω.45 Dies
würde bedeuten, dass die Ruhe sogar im Jenseits und zwar nachhaltig gestört ist.
Nicht nur in ihrer oberflächlichen Gelassenheit sind die Engel gestört, sondern
gar in ihrer grundsätzlichen Ruhe. Der Antonius der Briefe kennt und lehrt kein
monastisches Leben der Ruhe.

2.2 Evagrios Pontikos

Umfangreiches Schrifttum ist von Evagrios Pontikos überliefert. Sollte die Ruhe
bei den ägyptischen Anachoreten des 4. Jahrhunderts ein zentrales Thema
gewesen sein, müssten sich Spuren davon in dessen Werk finden. Evagrios
benutzt zwar den Begriff ἡσυχία, allerdings selten. Er führt ihn zur Bezeichnung

44 Antonius, Epistula 5,8 (Rubenson [wie Anm. 18], 212).


45 Rubenson (wie Anm. 18), 213 Anm. 10.

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   165

für das äußerliche monastische Leben auf.46 Insgesamt gehört ἡσυχία aber nicht
zu den konstitutiven Elementen der evagrianischen Theorie des monastischen
Lebens. Die wesentlichen Ziele sind für Evagrios vielmehr ἀπάθεια und γνῶσις
sowie das jenseitige Himmelreich.47 Was den Kampf gegen die Dämonen bzw.
die λογισμοί betrifft, ist Evagrios zweifellos optimistischer als der Antonius der
Briefe, vergleichbar eher Athanasius und dessen Beschreibung der Reinheit des
Antonius.48 Wo Athanasius von Reinheit spricht, fällt bei Evagrios ἀπάθεια, die
ihrerseits durch einen seelischen Reinigungsprozess zu erreichen ist.49 Evagrios
benutzt ἡσυχία unspezifisch; auf alle Fälle gehört sie nicht zu seinen Schlüssel-
begriffen. Es entspricht dieser Befund auch der Lehre seines ägyptischen Abbas,
Makarios dem Ägypter, für den ἡσυχία das äußerliche Wüstenleben meint, wie
sein folgender Rat veranschaulicht: „‚Aber wenn du (Abbas Mose) ruhen willst,
dann geh in die innere Wüste nach Petra, dort hast du Ruhe.‘ Und so machte
er es und er fand Ruhe.“50 Wie in Vita Antonii 85 und Apophthegma Antonius 10
liegt hier das Problem des sozialen Andrangs vor, das als erstes durch eine Orts-
verschiebung – und damit eine äußerliche Maßnahme – anzugehen ist. Auffäl-
liger Weise reüssierte Mose, nachdem er den Rat des Makarios befolgte, in der
ἀνάπαυσις. Wahrscheinlich bezieht sich dieser letzte Satz nicht mehr nur auf das
gelöste Wohnproblem, sondern würdigt Moses insgesamt als einen, der schließ-
lich Ruhe bei Gott fand. Der von Evagrios hochgeschätzte Makarios, der Ägypter,
verkörpert seinerseits nicht den Typus des nachmaligen hesychastischen Mönchs.
Zum einen war er sozial stark involviert, zum anderen focht er heftige Kämpfe
mit den Dämonen aus, gegen die er nicht die Heranbildung von Ruhe empfiehlt,
sondern Demut und Zerknirschung.51 Aufhorchen lässt schließlich auch eine in
einem Evagrios-Apophthegma vorfindliche Formulierung, wo vom „Vorsatz der

46 Z. B. Evagrius Ponticus, De oratione 111 (PG 79, 1192C) über einen Mönch, der in der Wüste
lebt: Ἑτέρῳ τινὶ […] ἁγίῳ ἐν ἐρήμῳ ἡσυχάζοντι. Ebenso Evagrius Ponticus, Rerum monachalium
rationes 2.
47 Evagrius Ponticus, Capita practica ad Anatolium 2–3 (SC 171, 498–500 Guillaumont). Apa­
theia ist nicht mit Ruhe im Sinne von Stillstand gleichzusetzen – vgl. Evagrius Ponticus, Capita
practica ad Anatolium 67 –, sondern mit der Fähigkeit, die seelischen Kräfte gezielt einzusetzen;
die Seele agiert dann naturgemäß (κατὰ φύσιν); Evagrius Ponticus, Capita practica ad Anatolium
86 (676 G.).
48 Athanasius, Vita Antonii 14,3–4.
49 „Die Praktike ist die spirituelle Methode, um den leidenschaftlichen Teil der Seele zu reini-
gen“ (Πρακτική ἐστι μέθοδος πνευματικὴ τὸ παθητικὸν μέρος τῆς ψυχῆς ἐκκαθαίρουσα). Evagri-
us Ponticus, Capita practica ad Anatolium 78 (666 G.).
50 G 475/Makarios der Ägypter 22 (PG 65, 272B): […] ἀλλ’ ἐὰν θέλῃς ἡσυχάσαι, ὕπαγε εἰς τὴν
ἔρημον ἔσω εἰς τὴν Πέτραν, κἀκεῖ ἡσυχάζεις. Καὶ τοῦτο ἐποίησε, καὶ ἀνεπάη.
51 Z. B. G 464/Makarios der Ägypter 11; G 480/Makarios der Ägypter 27.

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166   Barbara Müller

Ruhe“ (μένειν ἐν τῇ προθέσει τῆς ἡσυχίας) im Kontrast zur Welt die Rede ist.52
Es gemahnt diese Formulierung an den τόνoς und damit die monastische Ent-
schiedenheit und Anstrengung. Auch mit Blick auf Evagrios kommt der ἡσυχία
eine vornehmlich äußerliche Bedeutung zu.53 Es geht um das von der Menge im
rechten Maß abgeschiedene monastische Leben, nicht jedoch um eine spirituelle
Technik.

2.3 Das Fischwort im frühen Zellenmönchtum

2.3.1 Johannes Cassian

Johannes Cassian bietet eine monastische Fischunterweisung in seiner letzten


Collatio patrum. Collatio 24 beschreibt eine Unterredung mit Abbas Abraham, der
sich zwar explizit auf Antonius bezieht, jedoch dessen Fischwort nicht zitiert.54
Den roten Faden der 24. Collatio bildet der Wohnort des Mönches, unter besonderer
Berücksichtigung der Soziabilität: Wie viel Wüsteneinsamkeit ist nützlich? Wann
stören und schaden soziale Einflüsse das monastische Leben? Das Fischwort in
diesen Kontext einzufügen, ist naheliegend. Allerdings benutzt Cassian es sehr
frei – so frei, dass man schwerlich von Rezeption sprechen kann. Zum einen
enthält Cassians Version den Fischfang, zum anderen deutet er das Bild unmit-
telbar auf das Innenleben des Mönchs. Cassian vergleicht den Mönch mit einem
Fischer (velut piscator), der im „ruhigsten Grund seines Herzens“ (tranquillis­
simo cordis sui profundo) nach Gedanken Ausschau hält und die schädlichen wie
„böse und schädliche Fische“ (malos et noxios pisces) verachtet.55 Vom monasti-

52 G 227/Evagrios 1 (PG 65, 173B). In G 228/Evagrios 2 (PG 65, 173D) = Collectio systematica 2,14
(132 G.) ist von τὸν τῆς ἡσυχίας […] τρόπον die Rede; aufgrund der philologisch unzureichenden
Erschließung der Apophthegmata Patrum kann keine Aussage darüber gemacht werden, wie sich
die doch ähnlichen Wörter τόνος und τρόπος in den Manuskripten zueinander verhalten.
53 Ein ähnlicher Befund ergibt sich mit Blick auf die Historia Lausiaca des Palladius, eines
Freundes des Evagrios. Hier ist durchweg von Kampf und Versuchung die Rede, nicht jedoch von
einem geruhsam kontemplativen Leben.
54 Johannes von Cassian, Collatio 24,11 (CSEL 13, 684,24–25 Petschenig/Kreuz): […] beati Antonii
sententiam. Abbas Abraham gehört zu den Anachoreten von Diolkos im Nildelta, vgl. C. Stewart,
Cassian the Monk, New York 1998, 135. Zu dieser Stelle vgl. H.-O. Weber, Die Stellung des Johannes
Cassianus zur außerpachomianischen Mönchstradition (BGAM 24), Münster/W. 1961, 97–98. Weber
geht von der heute überholten historischen Priorität Cassians gegenüber der Vita Antonii sowie
der heute fraglichen Priorität der großen Apophthegmensammlungen gegenüber Cassian aus.
55 Johannes von Cassian, Collatio 24,3,2 (677,24–678,4 P./K.); zur Parallelstelle im Physiologus
vgl. Engemann (wie Anm. 10), 1036.

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   167

schen Wohnort ist nicht die Rede. Dieser ist allerdings im weiteren Rahmen von
Collatio 24 präsent. Cassians Fischunterweisung ist einerseits weit entfernt vom
Textlaut von Vita Antonii 85 und Apophthegma Antonius 10. Andererseits könnte
man sie doch als interpretative Zwischenstufe einschätzen. Blendet Cassian doch
aufgrund seiner koinobitischen Ausrichtung die äußere Wüsteneinsamkeit, die
Vita Antonii 85 suggeriert, aus und fokussiert stattdessen das Innenleben. Dazu
benutzt er gerade auch einen Begriff der Ruhe (tranquillus), wie er sich auch in
Apophthegma Antonius 10 findet. Solchermaßen macht Cassian das oder besser
ein Fischwort für einen koinobitischen Mönch tauglich, dessen Eremitentum im
Zellenleben besteht.
Auf welcher Quelle basiert Cassians Text? Cassian kannte die Vita Antonii, die
er aber an dieser Stelle weder paraphrasiert noch zitiert. Es ist davon auszugehen,
dass ihm mündliches oder schriftliches Spruchmaterial über Antonius vorlag.56
Gerade Collatio 24 mutet gleichsam als Durchgang durch Antonius-Material an.
Aus solchem Spruchmaterial hätte er auch den Begriff ἡσυχία beziehen können,
der potentiell hinter tranquillus steckt, falls er ihn nicht selbständig eingefügt hat.
Ἡσυχία mit tranquillus zu übersetzen, entspräche einem philosophisch gebilde-
ten Mönch wie Cassian, der sich überdies nicht an augustinischer Terminologie
orientiert.57 Sollte Cassian die monastische Ruhe in einem Fischwort vorgefun-
den haben, dann existierte ein solches bereits um das Jahr 400 herum, als er
Ägypten verließ.58 Die Cassianʼsche Fischunterweisung ist allerdings derart weit
entfernt von beiden Antonius-Worten, dass der Befund mehr zu Spekulationen
als zu Klärungen führt.

2.3.2 Jesaja von Gaza

Sowohl die Person als auch das Werk Jesajas von Gaza sind nicht exakt fass-
bar.59 Jesaja von Gaza, ein Emigrant aus der Sketis und möglicher Schüler des

56 Vgl. die von Weber (wie Anm. 54), 42–50.108–109 untersuchten Stellen, deren traditionsge-
schichtliche Basis allerdings neu bedacht werden muss.
57 Cassians monastische Lehre gemahnt insgesamt an Senecas Lehre von der tranquillitas animi.
58 Vgl. Stewart (wie Anm. 54), 12.
59 Die kritische Edition des griechischen Werkes wird in Göttingen vorbereitet. Derzeit existiert
eine Ausgabe von Augustinos Iordanites, Tou hosiou patros hemon abba Esaiaou logoi 29, Je-
rusalem 1911, sowie ein Nachdruck davon von S. Schoinas, Volos 1962 – beide waren mir nicht
zugänglich. Die hier zitierte französische Übersetzung, die bisweilen einen Blick auf das Griechi-
sche ermöglicht, basiert auf Ms. Coislin 123, ergänzt und korrigiert durch weitere Manuskripte,
vgl. L. Regnault, Introduction, in: Abbé Isaïe, Recueil ascétique, übersetzt von H. de Broc (Spi-

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168   Barbara Müller

Poimen (ca. 340–350), lebte bis ca. 490 in Gaza. Einige seiner Sätze über die
ἡσυχία finden sich im entsprechenden Kapitel der von Jean-Claude Guy edier-
ten, unten beschriebenen relativ späten systematischen Apophthegmen-Samm-
lung.60 Sowohl aus diesen Sätzen, bei denen es sich um Ausschnitte aus seinen
Logoi handelt, als auch aus seinen weiteren Äußerungen geht ein spezifisches
Verständnis von ἡσυχία hervor, das sowohl an die frühen Wüstenväter gemahnt
als auch über sie hinausweist, nämlich in Richtung einer aktiv gestalteten Ruhe.
In traditionell anachoretischer Weise verbindet sich für Jesaja das hesychas-
tische Leben mit der Anstrengung, sich gänzlich von der Welt zu befreien.61 Leben
in ἡσυχία meint somit schlicht und einfach einen von der Welt abgeschiedenen
Lebensort, sicherlich keinen Quietismus. In Logos 26,3 rät er demjenigen, „qui vit
dans la retraite“ die ständige Selbstprüfung.62 Furcht vor der Begegnung mit Gott
soll der Atem sein, dessen „qui vit dans la retraite“.63 Auf die Frage: „Quʼest-ce
que vivre en retraite de la cellule?“ antwortet er: „[…] cʼest de se jeter devant Dieu
et faire son possible pour résister à toute mauvaise pensée suggérée par lʼennemi.
Car cʼest cela, fuir le monde.“64
Ruhe erscheint Jesaja hassenswert.65 Körperliche Ruhe gehört zur Welt, die
der Mönch hinter sich lässt.66 Noch der sterbende Jesaja bekennt sich zur Mühe
statt zur Ruhe.67 Ruhe ist für ihn eine jenseitige Größe „afin que nous trouvions
le repos avec les saints au jour du jugement“.68 Was im Hier und Jetzt Not tut, ist
steter Kampf, stetige Buße, kurz: monastisches Mühen.69 Selbst wer sich erfolg-

ritualité orientale 7 bis), Bégrolles-en-Mauges 31985, 39. Zu Editionen in weiteren Sprachen vgl.
Regnault, Introduction, 3. Zur Komposition des Jesajanischen Corpus siehe auch J. Chryssavgis,
Abba Isaiah of Scetis. Aspects of Spiritual Direction, in: StPatr 35 (2001), 30–40 (30–33).
60 Collectio systematica 2,15–17 (132;134 G.). Zur Einfügung von Apophthegmen Jesajas in diverse
Apophthegmensammlungen vgl. J.-C. Guy, Recherches sur la tradition grecque des Apophtheg-
mata patrum (SHG 36), Brüssel 1962, 183–184.
61 Jesaja von Gaza, Logos 26,14.
62 Jesaja von Gaza, Logos 26,3 (übers. SpOr 7bis, 237 de Broc). Übereinstimmend beginnt die
Parallelstelle Collectio systematica 2,16 (134,1 G.; übers. 135,1): „Il dit encore: Celui qui vit dans le
receuillment […]“ (Εἶπε πάλιν ὅτι χρὴ τὸν ἡσυχάζοντα […]).
63 Jesaja von Gaza, Logos 26,6 (übers. 238 de B.).
64 Jesaja von Gaza, Logos 21,13 (übers. 165 de B.); mit einigen Veränderungen aufgenommen in
Collectio systematica 2,15 (132,1–2 G.), wo die einleitende Frage lautet: Πῶς χρὴ ἡσυχάζειν ἐν τῷ
κελλίῳ;
65 Jesaja von Gaza, Logos 20,3 (161 de B.): „haïr le repos“; dahinter steckt aufgrund des Kontras-
tes mit dem Mühen möglicherweise ἀνάπαυσις.
66 Jesaja von Gaza, Logos 26,16.
67 Jesaja von Gaza, Logos 26,32.
68 Jesaja von Gaza, Logos 28,35 (übers. 265 de B.).
69 Jesaja von Gaza, Logos 26,43.

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   169

reich von der Welt löst, der gewinnt damit aber nicht Ruhe, sondern er wird ein
Fremder. Für Jesaja kontrastiert κόσμος mehr mit ξενιτεία als mit ἡσυχία.70
Typisch für das koinobitische Zellenmilieu in Gaza klingt in Jesajas Worten
häufig – mehr als in den Texten der frühen Wüstenväter – das Leben in der Zelle
an. Die Zelle ist dabei nicht nur ein äußerer Ort, sondern eine Kraft.71 In diesem
Kontext fällt bisweilen auch der Begriff ἡσυχία. Aber selbst hier geht es nicht um
ein beschauliches Leben, sondern um die Anstrengung. Bei Jesaja findet sich also
eine Spur, die in die Richtung der nachmaligen monastischen Zellenruhe führt;
insgesamt ist bei ihm aber das hesychastische Leben nicht durch Ruhe, sondern
maßgeblich durch Kampf und somit Unruhe gekennzeichnet.
In Logos 25,10 bietet Jesaja ein Fischwort, das Vita Antonii 85 und Apoph­
thegma Antonius 10 auf der Bildebene gleicht. Falls die bekannte Antonius-Tradi-
tion dahinter steht, dann handelte es sich hier allerdings um eine freie Adapta-
tion. Geht es doch ausschließlich um die Natur der Seele.

Mais si elle (= Seele, BM) abandonne sa propre nature, elle meurt, comme les animaux
meurent si on les plonge dans lʼeau, car ils ont une substance terrestre. Et de même les pois-
sons, si on les remonte à terre, meurent, car ils ont une substance aquatique; ainsi encore
les oiseaux sont à lʼaise quand ils sont en lʼair, mais lorsquʼils veulent atterrir, ils craignent
d’être capturés. Telle est lʼâme parfaite qui demeure dans sa nature: si elle abandonne sa
nature, elle meurt aussitôt.72

Anhand der Aussprüche des Jesaja von Gaza zeigt sich somit, dass selbst in einem
koinobitischen Milieu, in dem die Zellenfrömmigkeit zunehmend wichtig wird,
diese nicht in passiver Ruhe besteht, sondern in einem aktiven Bemühen, nach-
gerade einem Kampf um sie. Die ägyptisch-monastische Bewegung ist nicht als
Einheitsblock vorzustellen; die eine Stimme Jesajas gibt also „die“ ägyptische
Lehre keinesfalls wider. Dennoch ist gerade Jesaja besonders interessant, da er
sich um die Tradierung der ägyptischen Unterweisungen bemühte. Seine Aus-
sprüche, nicht zuletzt mit ihren Zitaten früherer Väter, bauen dezidiert auf einem
breiteren Unterweisungsstrom auf. Hier zeigt sich, dass die kontemplative Ruhe
kein altes und schon gar kein Mehrheitskonzept darstellt. Vielmehr entspricht die
Reflexion über die ἡσυχία einer späteren Phase.

70 Eine Definition von ξενιτεία bietet Jesaja von Gaza, Logos 30,6B.
71 Jesaja von Gaza, Logos 4,52–53: „vertu de la cellule“; dahinter steckt offensichtlich δύναμις
(übers. 62–63 de B.); 8,60: „repos de la cellule“ (ebd. 99), vgl. G. Couilleau, Entre Scété et Gaza.
Un monachisme en devenir. L’Abbé Isaïe, Annexe, in: L. Regnault und H. de Broc (eds.), Abbé
Isaïe, Recueil ascétique (SpOr 7bis), Bégrolles-en-Mauges 1976, 337–367 (355).
72 Jesaja von Gaza, Logos 25,10 (übers. 213 de B.).

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2.4 Außenperspektive: Bloß nicht in die Stadt!

2.4.1 Sozomenus

In Historia ecclesiastica 1,13 referiert Sozomenus recht ausführlich die Biographie


des Antonius. Seine Ausführungen basieren offensichtlich auf der Vita Antonii.
Dabei bietet er auch eine einigermaßen freie Adaption von Vita Antonii 85:

Wenn er wirklich einmal notgedrungen in eine Stadt kam, um Hilfesuchenden beizuste-


hen, kehrte er nach der Regelung des Anlasses für sein Kommen unverzüglich in die Wüste
zurück. Die Fische, pflegte er zu sagen, lebten vom feuchten Element, der Mönche Zier sei
die Wüste, und so wie die Fische, gerieten sie ins Trockene, umkommen müssten, zerstörten
diese ihre Würde als Mönche, wenn sie in die Städte gingen.73

Übereinstimmend mit Vita Antonii 85 greift Sozomenus den Kontrast zwischen


monastischem und nicht-monastischem Biotop auf, wobei für letzteres hier in
Abänderung von Vita Antonii 85 und auch im Unterschied zu Apophthegma Anto­
nius 10 die Stadt steht. Wessen die Mönche, wie die Fische auf dem Trockenen, ver-
lustig gehen, wird hier sehr allgemein als die Ehrwürdigkeit oder Würde bezeich-
net. Sozomenus schreibt an dieser Stelle nichts von ἡσυχία. Andernorts bezeichnet
er die ägyptischen Mönche als diejenigen, welche die „Ruhe lieben (ἡσυχίας
ἐρῶντας)“, definiert sie solchermaßen über ihren Wohnort.74 Sozomenusʼ Darstel-
lung ist im Vergleich zu den Paralleltexten durch eine Außenperspektive bestimmt.
Im Zentrum steht die Frage nach dem für den Mönch angemessenen Lebensort.

2.4.2 Die canones von Chalcedon (451)

In den canones, die das monastische Leben regulieren, werden die Mönche meist
als μονάζοντες bezeichnet und die einzelnen Klöster als μοναστήριον.75 Im zen-

73 Sozomenus, Historia ecclesiastica 1,13,10 (GCS.NF 4, 28,27–29,6 Bidez/Hansen; übers. FC 73/1,


152,24–30 Hansen): εἰ δὲ καὶ βιασθείς ποτε εἰς πόλιν ἦλθεν ἐπικουρῆσαι δεομένοις, διαθεὶς ὅτου
χάριν παρεγένετο αὐτίκα ἐπὶ τὴν ἔρημον ἐπανῄει. τοὺς μὲν γὰρ ἰχθύας ἔλεγε τὴν ὑγρὰν οὐσίαν
τρέφειν, μοναχοῖς δὲ κόσμον φέρειν τὴν ἔρημον, ἐπίσης τε τοὺς μὲν ξηρᾶς ἁπτομένους τὸ ζῆν
ἀπολιμπάνειν, τοὺς δὲ τὴν μοναστικὴν σεμνότητα ἀπολλύειν τοῖς ἄστεσι προσιόντας. Nach
G. C. Hansen, Einleitung, in: Sozomenus, Historia Ecclesiastica, FC 73/1, Turnhout 2004, 9–84
(56–57), gehörten Apophthegmensammlungen nicht zu Sozomenusʼ Quellen.
74 Sozomenus, Historia ecclesiastica 6,20,1 (261,12 B./H; übers. nach FC 73/3, 734,1 Hansen).
75 Relevant sind v.  a. Canones 3–4, 7–8, 16; 23–24 (Concilium Universale Chalcedonense, Gesta
actionis VII [ACO 2,1,2, 158–162 Schwartz]). Unergiebig ist leider die Studie von B. Meinhardt,

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   171

tralen canon 4, der u.  a. die Unterordnung der Klöster und Mönche unter den
Bischof vorschreibt, fällt auch der Begriff ἡσυχία:

Überall in Stadt und Land sollen die Mönche dem Bischof unterstellt sein, die Ruhe (τὴν
ἡσυχίαν) schätzen, und sich nur auf das Fasten und das Gebet konzentrieren, und sich an
denjenigen Orten verharren, wo sie der Welt entsagt haben, sie sollen sich in die kirchlichen
und öffentlichen Angelegenheiten nicht einmischen, es sei denn, sie erhalten aus irgendei-
nem zwingenden Grund vom Bischof der Stadt die Erlaubnis dazu.76

Freut sich der Antonius der Vita Antonii über seine Ungestörtheit, so muss diese
etwa 100 Jahre später den Mönchen schmackhaft gemacht und sogar befohlen
werden.77 Anders als der athanasische Antonius, der dazu gedrängt werden
muss, sich mit Weltlichem zu beschäftigen, müssen im 5. Jahrhundert die
Mönche offensichtlich davon ferngehalten werden, insbesondere von der Stadt.78
In diversen canones von Chalcedon werden die Mönche sowohl auf ihren eigenen
monastischen Ort als auch auf ihre spezifischen monastischen Verhaltenswei-
sen behaftet. In diesem Kontext stellt die zitierte ἡσυχία-Stelle eine Besonder-
heit dar, insofern nämlich, als hier das monastische Leben konkreter und positiv
beschrieben wird: Der Mönch soll fasten, beten und in seinem Kloster bleiben.
Wer wahrhaft so leben will, der bedarf als Grundvoraussetzung der Ruhe, die
entsprechend zu begrüßen ist. Ἡσυχία beschreibt hier die äußeren Lebensum-
stände und idealen Lebensbedingungen des Mönchs. Was mit ἡσυχία sicherlich
nicht gemeint ist, ist ein meditativer terminus technicus. Das Gebet wird in canon
4 pauschal als προσευχή bezeichnet; ἡσυχία ist eine äußere Charakterisierung
des idealen monastischen Lebens. Dieses besteht maßgeblich in der örtlichen
Trennung von der Welt und einem Leben, das eigenen sozialen Normen folgt, die
kirchlich definiert werden. Es entspricht die chalcedonensische Definition des
monastischen Lebens zahlreichen der oben beschriebenen Texte aus dem 4. Jahr-

Fanatiker oder Heilige? Frühchristliche Mönche und das Konzil von Chalcedon (EHS.T 909),
Frankfurt 2011.
76 Concilium Universale Chalcedonense, Gesta actionis VII 4 (ACO 2,1,2, 159,15–19 S.): […] τοὺς
δὲ καθ’ ἑκάστην πόλιν καὶ χώραν μονάζοντας ὑποτετάχθαι τῶι ἐπισκόπωι καὶ τὴν ἡσυχίαν
ἀσπάζεσθαι καὶ προσέχειν μόνηι τῆι νηστείαι καὶ τῆι προσευχῆι, ἐν οἶς τόποις ἀπετάξαντο,
προσκαρτεροῦντας, μήτε δὲ ἐκκλησιαστικοῖς μήτε βιωτικοῖς παρενοχλεῖν πράγμασιν ἢ
ἐπικοινωμεῖν καταλιμπάνοντας τὰ ἲδια μοναστήρια, εἰ μή ποτε ἄρα ἐπιτραπεῖεν διὰ χρείαν
ἀναγκαίαν ὑπὸ τοῦ τῆς πόλεως ἐπισκόπου. Vgl. D. Caner, Wandering, Begging Monks. Spiritual
Authority and the Promotion of Monasticism in Late Antiquity, Berkeley 2002, 206–212.
77 Vgl. Athanasius, Vita Antonii 84,2.
78 Einige hielten sich ohne bischöfliche Anordnung gar länger in der Kaiserstadt auf: Concilium
Universale Chalcedonense, Gesta actionis VII 23.

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hundert: ἡσυχία ist maßgeblich an den abgeschiedenen Wohnort der Mönche


gebunden. Im hesychastischen Leben realisiert sich die kirchlich gebotene Nicht-
Einmischung in kirchliche und öffentliche Angelegenheiten.

2.5 Hesychia in den Apophthegmata Patrum79

Bei der Durchsicht der Apophthegmata Patrum fällt auf, dass zu unterscheiden
ist zwischen dem Konzept der Hesychia, verstanden als monastisch-kontempla-
tiver Praxis, und dem Begriff ἡσυχία, legen die Quellen doch eine Veränderung
des Begriffsverständnisses nahe. Was anfänglich vor allem die abgeschiedene
monastische Wohnsituation beschrieb, wurde im Verlaufe der Zeit zum spiri-
tuellen terminus technicus, nämlich zu einer aktiv zu gestaltenden maßgeblich
inneren Ruhe. Diese Entwicklung präzis nachzuzeichnen ist angesichts der his-
torisch nach wie vor unzureichenden Erschließung der Apophthgemata Patrum
derzeit nur in Ansätzen möglich.

2.5.1 Hesychia im Gerontikon (G)

Die ältesten Apophthegmen-Sammlungen folgen der alphabetischen Anordnung.


Insofern legt sich als erstes ein Blick in das Gerontikon (G) nahe. In 39 von 948
Apophthegmen findet sich hier eine Form der Wurzel ἡσυχ-. In den Sprüchen von
25 Altvätern sowie je einem von Amma Theodora und Amma Synkletike findet
sich der Begriff einmal oder mehrfach. Vier Sprüche, und damit am meisten,
entfallen auf Abbas Arsenios; allerdings sind auch andere Väter mit mehreren
ἡσυχία-Sprüchen vertreten, z.  B. Poimen und Johannes Kolobos mit je drei Apo-
phthegmen.
Aus der Sammlung G ist ausgehend von den ἡσυχ-Stellen keine kohärente
Lehre der Hesychia ablesbar. Wie erwähnt bezeichnet der Begriff ἡσυχία Ver-
schiedenartiges. Beispielsweise in Apophthegma Gelasios 2 meint er schlicht den
nächtlichen Schlaf.80 Häufig bezieht er sich auf den monastischen Wohnort. Ent-
sprechend reflektiert etwa Abbas Netra über seinen Umzug aus dem „Kellion auf
dem Berg Sinai“ (τὸ κελλίον αὐτοῦ ἐν τῷ ὄρει τῷ Σινᾷ) an seinen Bischofssitz:

79 Die Darstellung der Apophthegmata Patrum an dieser späten Stelle begründet sich durch die
Entstehung der großen Sammlungen in nach-chalcedonensischer Zeit.
80 G 178/Gelasios 2 (PG 65, 148D–149B); körperliches Ausruhen in G 858/Silvanos 3 (PG 65, 296B–
C) und G 900/Synkletike 9 (PG 65, 425A).

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   173

„Dort war die Wüste, die Ruhe und die Armut […]. Nun aber ist es die Welt […].“81
Oder Sisoes begründet seinen Umzug von der Sketis auf den Antoniusberg damit,
dass die Sketis überlaufen war: „Da machte ich mich auf und kam hierher auf
den Berg. Da ich hier Ruhe fand, ließ ich mich für einige Zeit nieder.“82 Abbas
Chairemons Höhle in der Sketis lag so weit entfernt, dass er zwar die Wasserkrüge
weit schleppen musste, ansonsten oder vielmehr deshalb „ein ruhiges Leben
führte“.83 Daneben finden sich in Gerontikon die gleichsam klassischen ἡσυχία-
Sprüche, die die allgemeine und populäre Sicht auf die Apophthegmata prägen,
damit aber zugleich verengen, z.  B. das folgende Rufos-Apophthegema: „Was ist
die Hesychia und was ist ihr Nutzen? Der Greis sagte: Die Hesychia bedeutet im
Kellion zu sitzen mit Furcht und Erkenntnis Gottes und sich fernzuhalten von der
Erinnerung an Erlittenes und von Hochmut. Eine solche Ruhe ist die Mutter aller
Tugenden […].“84 In besonderer, nicht nur quantitativer Weise verbindet sich die
Hesychia mit Abbas Arsenios, dessen Leben der Stimme folgte: „Arsenios, fliehe,
schweige, ruhe!“85 Entsprechend lehrte er, etwa in seinem berühmten Schilf-
Spruch: „Wahrlich, wenn jemand in der Stille wohnt, wird er die Stimme des
Sperlings hören und das Herz wird nicht diese Ruhe haben. Um wie viel mehr ihr,
die ihr das Getöse dieses Röhrichts habt.“86
Gerade das Gerontikon ist philologisch und historisch nicht ausreichend
erschlossen. Soviel kann aber immerhin gesagt werden, dass etwa die drei
ἡσυχία-Sprüche des Poimen oder Apophthegma Agathon 18, da sie in Vaticanus
graecus 2592 nicht überliefert sind, nicht zum ältesten Bestand gehören.87 Amma
Theodora und Amma Synkletike können schwerlich der Wüste im engeren Sinne
zugeordnet werden. Bei den Sprüchen Apophthegma Dulas 2 und Apophthegma
Evagrios 2 handelt es sich um Dubletten.88 Die Situation ist also alles andere als

81 G 564/Netra (PG 65, 312A): Ἐκεῖ ἔρημος ἦν, καὶ ἡσυχία, καὶ πτωχεία […]. Νῦν δὲ κόσμος.
82 G 831/Sisoes 28 (PG 65, 401A–B): […] ἦλθον ὧδε εἰς τὸ ὄρος· καὶ εὑρὼν τὰ ὧδε ἡσυχάζοντα,
μικρὸν ἐκάθισα χρόνον.
83 G 932/Chairemon (PG 65, 436C): […] καὶ ἐκαθέζετο, καὶ ἡσύχαζεν.
84 G 801/Rufos 1 (PG 65, 389B–C): Τί ἐστιν ἡσυχία, καὶ τίς ἡ ὠφέλεια αὐτῆς; Ὁ δὲ γέρων λέγει
αὐτῷ· Ἡσυχία ἐστὶ, τὸ καθεσθῆναι ἐν τῷ κελλίῳ μετὰ φόβου καὶ γνώσεως Θεοῦ, ἀπεχόμενος
μνησικακίας καὶ ὑψηλοφροσύνης. Ἡ τοιαύτη ἡσυχία γεννήτρια οὖσα πασῶν τῶν ἀρετῶν […].
85 G 40/Arsenios 2 (PG 65, 88C): Ἀρσένιε, φεῦγε, σιώπα, ἡσύχαζε·
86 G 63/Arsenios 25 (PG 65, 96A–B): Φύσει ἐὰν κάθηταί τις ἐν ἡσυχίᾳ, ἀκούσει δὲ φωνὴν
στρουθίου, οὐκ ἔχει ἡ καρδία τὴν αὐτὴν ἡσυχίαν· πόσῳ μᾶλλον ὑμεῖς ἔχοντες τὸν σεισμὸν τῶν
καλάμων τούτων. Schweitzers (wie Anm. 13), 37, hier übernommene Übersetzung ist wörtlich –
im Gegensatz zu Millers „wenn einer die Herzensruhe übt“, Miller (wie Anm. 13), 30.
87 Vgl. die Übersicht bei G. Schulz und J. Ziemer, Mit Wüstenvätern und Wüstenmüttern im Ge-
spräch. Zugänge zur Welt des frühen Mönchtums in Ägypten, Göttingen 2010, 316.
88 G 195/Dulas 2 (PG 65, 161C); G 228/Evagrios 2 (PG 65, 173D).

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befriedigend. Weiter hilft in dieser Situation der Blick auf die systematischen
Sammlungen, wo aufgrund eines eigenen Kapitels über die ἡσυχία von einem
konzeptionellen Interesse der Organisatoren der Sammlungen auszugehen ist.

2.5.2 Hesychia in den systematischen Apophthegmen-Sammlungen

Das 2. Buch der Apophthegmen-Sammlung des Pelagius und des Johannes: PJ 2


Die älteste überkommene systematische Apophthegmen-Sammlung ist die
lateinische Übersetzung, die die beiden römischen Diakone Pelagius und Johan-
nes aus dem 6. Jahrhundert auctore graeco incerto anfertigten.89
PJ 2, überschrieben mit De quiete (PL 73, 853A), umfasst 16 Sprüche: 14
namentlich zuordenbare und zwei anonyme (PJ 2,15–16 [PL 73, 860A–C]). Fünf
und damit über ein Drittel der namentlich überlieferten Sprüche stammen von
Arsenios (ca. 354–449).90 Mehrere Arsenios-Apophthegmen, die von Anfang an
in die systematischen Kapitel über die Ruhe aufgenommen wurden, beschreiben
seine Ablehnung von Besuch aus der Welt, ohne dass darin aber der Begriff quies
bzw. in der griechischen Parallelstelle ἡσυχία fällt.91 Oder es wird, ebenfalls ohne
Nennung von ἡσυχία, die Abgelegenheit seines Kellions betont.92
Auffälliger Weise bezeichnen die lateinischen Übersetzer ἡσυχία durchwegs
als quies. Anders als die griechischen Sammlungen und daher wohl auch ihre
Vorlage benutzen sie dafür einen biblischen Terminus. Damit entfernen sie sich
von der philosophischen Terminologie ihrer Vorlage. Konsequent wäre ἡσυχία
insbesondere mit tranquillitas zu übersetzen gewesen. Wenn realistischer Weise
davon ausgegangen werden kann, dass Pelagius und Johannes theologisch
beschlagen waren und somit insbesondere Augustin und dessen Ausführungen
über die tranquillitas und vor allem die (re-)quies kannten, dann leuchtet diese
Übersetzung unmittelbar ein. Für lateinische Christen steht ἡσυχία bzw. tranquil­
litas nämlich nahe bei Apatheia und damit einem philosophischen Konzept, das
potentiell abgelehnt wird.93

89 PL 73, 852.


90 Zu Arsenios: B. Müller, Der Weg des Weinens. Die Tradition des „Penthos“ in den Apophtheg-
mata Patrum (FKDG 77), Göttingen 2000, 46–50.
91 Collectio systematica 2,7; 9; 10.
92 Collectio systematica 2,9.
93 H.-J. Sieben, Augustinus zum Thema „Ruhe“ unter Berücksichtigung der Termini quies und
requies. Ein chronologischer und systematischer Überblick, in: ThPh 87 (2012), 161–192. Dem-
nächst auch id., quies/requies, in: Augustinus Lexikon 4 (im Druck).

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   175

Apophthegma Antonius 10 findet sich in PJ 2 an erster Stelle. Dies erstaunt nicht,


beginnen doch 11 von 18 Kapiteln in PJ mit einem Antonius-Spruch.

Dixit abbas Antonius: Sicut pisces, si tardaverint in sicco, moriuntur; ita et monachi tardantes
extra cellam, aut cum viris saecularibus immorantes, a quietis proposito revolvuntur. Oportet
ergo sicut piscem in mari, ita et nos ad cellam recurrere; ne forte foris tardantes, obliviscamur
interioris custodiae.94

PJ 2,1 stimmt fast wörtlich mit der griechischen Version von Apophthegma Anto­
nius 10 überein. Unterschiede beziehen sich auf die Einleitung, die im Falle von
PJ 2,1 den Namen des Antonius nennt. Weiter übersetzt Pelagius – falls seine
Vorlage mit Apophthegma Antonius 10 vergleichbar war – μετὰ κοσμικῶν mit
cum viris saecularibus, was zu einer geschlechtlichen Eindeutigkeit und damit
auch Verengung führt. Möglicherweise lag Pelagius die umständlichere Formu-
lierung in der Vorlage vor, denn in PJ 2,14 führt er auch den Spruch einer abba­
tissa matrona auf (PL 73, 860A).95 Man kann ihm also kein prinzipielles Bestreben
vorwerfen, Frauen auszuklammern. Die Spannung der Hesychia (ἡσυχίας τόνος)
übersetzt er mit quietis propositum. Mit propositum benutzt er denselben Begriff
wie Evagrius von Antiochien, Vita Antonii 53 (s.o).

Collectio systematica 2
Umfangreicher ist das Kapitel über die Hesychia in der späteren, von Jean-Claude
Guy herausgegebenen griechischen systematischen Sammlung.96 Guy präsen-
tiert in Collectio systematica 2 insgesamt 37 Apophthegmen.97 Der Begriff ἡσυχία

94 PJ 2,1 (PL 73, 858A). Apophthegma Antonius 10 begegnet weiter in De vitis patrum 3,109
(PL 73, 781B). Dort wird es Abbas Moses in den Mund gelegt, im Anschluss an eine explizit auf
das Ausharren hin gestaltete Version seines Kellion-Spruchs: „Geh, setz dich in deine Zelle, und
die Zelle kann dich alles lehren, wenn du dort bleibst“ / Vade, et sede in cella tua. Cella autem
tua omnia te potest instruere, si ibi permanseris: Sicut enim piscis ex aqua eductus statim moritur;
ita et monachus perit, si foris cellam suam voluerit tardare. Der Fischspruch ist in dieser sicher
späteren Version um seine ursprüngliche, längere und kompliziertere Belehrung gekürzt. Der
Kontrast lässt sich in zwei Begriffen fassen: cella und foris.
95 In Collectio systematica 2,27 der Synkletike zugeschrieben. Es ist davon auszugehen, dass
sich der Name im griechischen Manuskript befand, Pelagius ihn aber nicht als solchen ein-
schätzte und somit mit matrona übersetzte.
96 Die von J.-C. Guy edierte Sammlung ist zweifellos jünger als PJ, es handelt sich deutlich um eine
erweiterte Version, vgl. J.-C.  Guy, Introduction, in: id. (Hg.), Les Apophthegmes des Pères. Collection
systématique, Kap.  1–9 (SC 387), 13–87 (84–87). Kritisch zu Guys Edition: Rubenson (wie Anm.  5), 15.
97 Collectio systematica 2,1–35. Guys Nummerierung nach sind es nur 35; allerdings enthält Coll­
ectio systematica 2,21 drei Sprüche, die hier einzeln gezählt werden. Demgegenüber enthält PJ 2
nur 16 Apophthegmen (vgl. PL 73, 858A–860C).

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fällt dort einmal oder mehrmals in 19 Stücken; umgekehrt gesagt: in 18 von 37


Stücken des Kapitels über die ἡσυχία begegnet er nicht. Neun der 37 Sprüche
und damit ¼ der Hesychia-Unterweisung stammen von Arsenios. Allerdings fällt
nur in zwei dieser neun Arsenios-Sprüche auch der Begriff ἡσυχία. Nicht einmal
der „Typos der Hesychia“ benutzt konsequent diesen Begriff.98 Faraggiana geht
davon aus, dass schriftliches Material über Arsenios, das sich dann auch in den
Arsenios-Apophthegmen wiederfindet, am Ende des 5. Jahrhunderts in Paläs-
tina entstanden ist; verfasst wurde es von seinen Schülern, insbesondere Abbas
Daniel.99 Zwei Sprüche in Collectio systematica 2 stammen von Abbas Mose. Die
beiden Kellion-Sprüche passen inhaltlich in das Kapitel über die ἡσυχία, ohne
diesen Begriff allerdings zu enthalten. Die meisten Nennungen von ἡσυχία in
Collectio systematica 2 entfallen auf eine lange anonyme Passage, die als verlän-
gerte Version von Apophthegma Rufos 1 ein eigentliches Loblied auf die ἡσυχία
darstellt. Nach Guy ist es jedoch unmöglich zu beurteilen „si cette exhortation
est raccourcie par Alph. (BM = Alphabetikon), ou si au contraire elle n’est qu’une
glose postérieure.“100

Aus dem Befund der systematischen Sammlungen geht Folgendes hervor:


1. Hesychia als spirituelles Konzept, wie es spätestens den Redaktoren der
systematischen Sammlungen offensichtlich ein Anliegen war, verbindet sich
in den Apophthegmata Patrum vor allem mit Abbas Arsenios. Möglicherweise
handelt es sich bei dieser innerlich verstandenen Hesychia weniger um ein
in Ägypten als ein in Palästina prominentes Konzept. Vielleicht war es in den
Kreisen der in Palästina wirkenden Sammler, dass das ursprünglich philosophi-
sche Konzept der ἡσυχία nun auch auf die christlichen Philosophen, als welche
die Mönche durchaus zu sehen sind, übertragen und angepasst wurde.
2. Der Begriff ἡσυχία scheint aber selbst für Arsenios und damit bis ca. in die
Mitte des 5. Jahrhunderts nicht von besonderer technischer Wichtigkeit gewesen
zu sein. Dies änderte sich zur Zeit der Kompilation der großen Sammlungen in
nach-chalcedonensischer Zeit.
3. Zur Zeit der Entstehung der großen Sammlungen meint Hesychia eine see-
lische Ruhe, wie sie vor allem im Kellion aktiv zu üben ist.

98 Joannes Climacus, Scala paradisi 27 (PG 88, 1112D): ἡσυχίας δὲ τύπος ὁ μέγας καὶ ἰσάγγελος
ἡσυχαστὴς Ἀρσένιος.
99 C. F. di Sarzana, Apophthegmata Patrum: Some Crucial Points of their Textual Transmission
and the Problem of a Critical Edition, in: StPatr 29 (1997), 455–467 (456).
100 Anm. 1 zu Collectio systematica 2,35 (Guy, Les Apophthegmes [wie Anm. 96], 147).

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 Ruhe von Kirche und Kaiser?   177

3 Fazit und Ausblick


Typisch für das athanasische Werk fehlt im Fischapophthegma von Vita Antonii
85,3–4 der Begriff ἡσυχία. Dieser ist für Athanasius sowohl theologisch als auch
spirituell irrelevant. Diese Position deckt sich mit derjenigen des Antonius der
Briefe, wo das monastische Leben gänzlich unvereinbar erscheint mit Ruhe.
Sowohl für Antonius als auch für Athanasius ist das monastische Leben Anstren-
gung und Kampf bis zum letzten Atemzug. Dies zeigt sich bei Athanasius u.  a. in
der Benutzung des Begriffes τόνος zur Bezeichnung des monastischen Werkes, der
in den bisherigen Vergleichen von Vita Antonii 85 mit Apophthegma Antonius 10
zu Unrecht unbelichtet blieb.
In der anachoretischen Theologie des ausgehenden 4. Jahrhunderts, bei
Evagrios Pontikos, bezeichnet ἡσυχία vornehmlich die äußere, durch den abge-
schiedenen Wohnort charakterisierte Lebensweise des Mönchs.101 In dieser
frühen Phase erscheint ἡσυχία als etwas, das sich durch die Anachorese von
selbst ergibt – nämlich Ruhe von der Welt. In dieser Weise findet sich der Begriff
noch in den Canones von Chalcedon, nämlich als das abgeschiedene Biotop des
Mönchs, das im Kontrast steht zu demjenigen der Weltmenschen. Ἡσυχία meint
also bei den ägyptischen Wüstenvätern ursprünglich die äußere monastische
„Sonderwelt“.102 Im Verlauf der Zeit wandelte sich die Bedeutung von ἡσυχία
weg vom nur äußerlichen monastischen Wohnort hin zur spirituellen Praxis des
Mönches, wie sie vor allem in der Zelle geübt wird. Hesychia wird nun vom Mönch
aktiv gestaltet.
Dieser Übergang lässt sich im Werk des Jesaja von Gaza beobachten, in dem
sowohl das Loblied des Zellenlebens und damit auch der ἡσυχία gesungen als
auch im Stile der frühen Väter der monastische Kampf betont wird. Noch in den
ältesten systematischen Apophthegmensammlungen findet sich der Begriff
ἡσυχία überraschend selten. Als Konzept war Hesychia den Kompilatoren der
Sammlungen offensichtlich geläufiger als den frühen monastischen Lehrern und
Autoren. Von einer spirituellen Praxis der aktiv gepflegten Ruhe kann bei den
meisten ägyptischen Wüstenvätern nicht die Rede sein. Eine solche kam vielmehr
erst in nach-chalcedonensischer Zeit auf. In jener Zeit verbindet sich der in der
platonischen Philosophie gebräuchliche Begriff ἡσυχία mit dem kontemplativ-
monastischen Leben. Ein griechisch-philosophischer Begriff bürgert sich somit
im monastischen Kontext ein und prägt fortan die monastische Praxis und Lehre.

101 Vgl. P. Adnès, Hésychasme, in: DSp 7 (1969), 381–399 (384).


102 Analog zu Heussi (wie Anm. 39), 53. Bedacht wird dabei, dass von Anfang an verschieden-
artig lebende Religiöse als „Mönche“ bezeichnet wurden.

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178   Barbara Müller

Umfangreiche Ausführungen über die Hesychia, z.  B. von Dorotheus von Gaza,


Johannes Klimakos oder Isaak von Ninive entstanden entsprechend erst relativ
spät.
Die Erwähnungen von ἡσυχία in den Apophthegmata des Antonius erschei-
nen gegenüber dessen eigener und der frühen monastischen Tradition, wie sie
Vita Antonii 85 eher repräsentiert, sekundär. Die in der Überschrift gestellte Frage
ist an dieser Stelle also sicher zu verneinen: Ruhe vor dem Kaiser und der Kirche,
d.  h. der Welt, war für Antonius und die frühen Anachoreten weder möglich noch
erwünscht, selbst an einem noch so abgeschieden monastischen Wohnsitz.

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Ekkehard Mühlenberg
Kirchenväter und kaiserliches Recht
Das Beispiel der Epistula canonica Gregors von Nyssa

1 Der kanonische Brief


Zu dem heiligen Fest gehört auch dieses Eine, den gesetzlichen und kanonischen Heilsplan
für die, welche sich verfehlt haben, zu bedenken, so dass jede seelische Krankheit, durch
Sünde entstanden, geheilt werden kann. Denn dieses allgemeine Fest der Schöpfung, in der
ganzen Welt jährlich zu bestimmter Zeit im Jahreszyklus angesetzt, feiert die Auferstehung
des Gefallenen. Die Sünde aber ist das Fallen, die Wiederaufrichtung des sündigen Fallens
ist das Auferstehen. Deswegen ist es wohl gut, an diesem Tag nicht nur diejenigen zu Gott
zu führen, welche aus der Wiedergeburt durch das Gnadenbad verwandelt sind, sondern
auch diejenigen, welche durch Reue und Umkehr von ihren toten Werken wieder auf den
lebendigen Weg zurückgekehrt sind. Gerade diese sind zur rettenden Hoffnung zu geleiten,
von der sie durch die Sünde entfremdet waren.
Es ist aber eine große Aufgabe, bei der Bußdisziplin zu einem richtigen und sicheren
Urteil zu kommen. Der Prophet befiehlt nämlich, die Untersuchung überlegt auszuführen,
damit „man nicht“, wie es heißt, „in Ewigkeit wankt, sondern ewig als Gerechter erinnert
wird“ (Ps 111,5–6).1

1 Gregor von Nyssa, Epistula canonica (Gregorii Nysseni Opera = GNO 3,5, Gregorii Nyssenii Epis-
tula canonica, hg. v. E. Mühlenberg, Leiden 2008, 1,4–20): Ἓν καὶ τοῦτο τῶν εἰς τὴν ἁγίαν ἑορτὴν
συντελούντων ἐστὶ τὸ κατανοῆσαι ἡμᾶς τὴν ἔννομόν τε καὶ κανονικὴν ἐπὶ τῶν πεπλημμεληκότων
οἰκονομίαν, ὅπως ἂν θεραπευθείη πᾶν ἀῤῥώστημα ψυχικὸν τὸ διά τινος ἁμαρτίας ἐπιγινόμενον·
ἐπειδὴ γὰρ ἡ καθολικὴ καὶ αὕτη τῆς κτίσεως ἑορτή, κατὰ τὴν τεταγμένην περίοδον τοῦ
ἐνιαυσιαίου κύκλου καθ’ ἕκαστον ἔτος ἐν παντὶ πληρουμένη τῷ κόσμῳ, ἐπὶ τῇ ἀναστάσει τοῦ
πεπτωκότος ἐπιτελεῖται (πτῶσις δέ ἐστιν ἡ ἁμαρτία, ἀνάστασις δὲ ἡ ἐκ τοῦ πτώματος τῆς
ἁμαρτίας ἀνόρθωσις), καλῶς ἂν ἔχοι κατὰ τὴν ἡμέραν ταύτην οὐ μόνον τοὺς ἐκ παλιγγενεσίας
μεταστοιχειουμένους διὰ τῆς τοῦ λουτροῦ χάριτος τῷ θεῷ προσάγειν, ἀλλὰ καὶ τοὺς διὰ τῆς
μετανοίας τε καὶ ἐπιστροφῆς ἀπὸ τῶν νεκρῶν ἔργων εἰς τὴν ζῶσαν ὁδὸν πάλιν ἐπανιόντας, καὶ
τούτους χειραγωγεῖν πρὸς τὴν σῴζουσαν ἐλπίδα ἧς διὰ τῆς ἁμαρτίας ἀπεξενώθησαν. ἔστι δὲ οὐ
μικρὸν ἔργον τὸ τοὺς περὶ τούτων λόγους οἰκονομῆσαι ἐν τῇ ὀρθῇ τε καὶ δεδοκιμασμένῃ κρίσει
κατὰ τὸ παράγγελμα τοῦ προφήτου τὸ κελεῦον δεῖν οἰκονομεῖν Τοὺς λόγους ἐν κρίσει, ἵνα, καθὼς
ἔχει τὸ λόγιον, μήτε σαλευθῇ εἰς τὸν αἰῶνα καὶ Εἰς μνημόσυνον αἰώνιον γένηται δίκαιος. Orige-
nes benutzt auch das Bild vom toten Sünder, der zur Auferstehung geleitet werden müsse; vgl.
Origenes, Contra Celsum 3,51. Darauf wurde ich aufmerksam durch K. Holl, Enthusiasmus und
Bußgewalt beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon dem neuen Theologen, Leipzig
1898, 231.

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180   Ekkehard Mühlenberg

1.1 Das Konzept

Gregor von Nyssa legt sein Konzept der Bußdisziplin in einem Traktat vor, den
er als Brief an Letoius, Bischof von Melitene, als Ostergabe schickt, wie es im
Postscriptum heißt. „Brüder“ hätten ihn zur Eile aufgefordert; deswegen habe er
„in Eile“ (κατὰ σπουδήν) seine Antwort geschrieben und sich auf das beschränkt,
„was ihm zuhanden war“ (ἐκ τῶν προχείρων συνθέντες).2 Die Ausführungen
erwecken nicht den Eindruck von Vordergründigkeit, sondern das Konzept ist
durchdacht, und hinsichtlich der Väterüberlieferung, auf die er sich wiederholt
beruft, ist ihm kein Fehler unterlaufen. Der Brief ist in die späteren 380er Jahre
zu datieren, als Otreius gestorben und in Melitene Letoius sein Nachfolger gewor-
den war. Mit Otreius hatte Gregor um 380 n. Chr. sehr freundschaftlich korres­
pondiert.3
Im Anschluss4 an die zitierte Eingangspassage verweist Gregor auf die
Heilmethoden der erfahrenen Ärzte. Ein Arzt bemisst seine Heilmethode sehr
genau an der Krankheit, die er zu behandeln hat. Entsprechend müsse auch er
die Krankheiten der Seele genau identifizieren, um eine wirkungsvolle Heilbe-
handlung anwenden zu können. Gregor sieht also seine Aufgabe darin, eine der
ärztlichen Heilkunst, die den menschlichen Körper zum Gegenstand hat, ent-
sprechende für die menschliche Seele zu entwickeln. Die Parallele wird durch
das griechische Wort πάθη möglich, weil dieses Wort „Leiden“ wie Krankheiten
verstehen lässt. Und wie der gute Arzt müsse auch er die Leiden, die zu heilende
Krankheiten sind, genau bestimmen. Dazu greift er auf die platonische Seelen-
lehre zurück. Die Seele bestehe aus drei Bewegungen, auch „Teile“ genannt:
Das Vernunfthafte, das Begehrende und das Leidenschaftliche (τὸ λογιστικόν,
τὸ ἐπιθυμητικόν, τὸ θυμοειδές). Zu jedem dieser drei Teile bestimmt er die treff-
liche Leistung (κατόρθωμα) und das Versagen (πτῶμα). „Die treffliche Leistung
des vernunfthaften Teils der Seele ist die rechte Vorstellung von Gott und das
Wissen, das Gutes vom Schlechten unterscheiden kann, und die klare Ansicht
über die Natur der Dinge, nämlich zu erkennen, was zu ergreifen und was zu
verabscheuen ist.“5 Das Gegenteil sei die Gottlosigkeit, das Versagen des Urteils
über das wahre Gute und die Täuschung über die Wirklichkeit.

2 Gregor von Nyssa, Epistula canonica (12,15–17 M.).


3 Siehe Gregor von Nyssa, Epistulae 10 und 18.
4 Vgl. zum Folgenden Gregor von Nyssa, Epistula canonica (1,20–4,3 M.).
5 Gregor von Nyssa, Epistula canonica (2,25–3,2 M.): κατόρθωμα μὲν τοῦ λογιστικοῦ τῆς ψυχῆς
μέρους ἐστὶν ἡ εὐσεβὴς περὶ τὸ θεῖον ὑπόληψις καὶ ἡ τοῦ καλοῦ τε καὶ κακοῦ διακριτικὴ ἐπιστήμη
καὶ ἡ τρανήν τε καὶ ἀσύγχυτον ἔχουσα περὶ τῆς φύσεως τῶν ὑποκειμένων τὴν δόξαν, τί μέν ἐστιν
αἱρετὸν ἐν τοῖς οὖσιν, τί δὲ βδελυκτὸν καὶ ἀπόβλητον.

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   181

Die beiden anderen Seelenteile werden in gleicher Weise bestimmt. Das


Begehrende (τὸ ἐπιθυμητικόν) ist die Bewegung der Seele. Seine tugendhafte
Bewegung führt zum Verlangen nach dem wahrhaft Guten und betätigt sich im
beständigen Eros nach der Tugend und seiner Quelle. Ihre Verkehrung verleitet
zur eitlen Ruhmsucht oder zur äußeren Schönheit der Körper. Daraus entstehe
z.  B. die Geldgier und die Vergnügungssucht. Der leidenschaftliche Seelenteil
(τὸ θυμοειδές) ist eine Haltung der Seele. Die treffliche Aktivität vollendet sich
im Hass auf das Böse, im Kampf gegen die Leiden/Affekte (πάθη), im Aushal-
ten vermeintlicher Übel wie Todesdrohung und Folter und tapferer Abwehr von
Lustverlockungen. Das Fehlverhalten (ἀποπτώματα) ist Neid, Zorn, Streitlust
und Rachegelüst. In diesem Zusammenhang erwähnt Gregor die ethische Über-
legung; wenn die ethische Überlegung ungebildet sei, könne sie diese von Gott
gegebene Abwehrwaffe nur zum eigenen Verderben gebrauchen.
Das Grundschema arbeitet mit Begriffen, die teils von der stoischen Philo-
sophie herkommen. Klemens von Alexandrien und Origenes benutzen sie. Die
Begriffe sind kaum ins Deutsche zu übersetzen.6 Ich skizziere schematisch:
allgemein: τὰ κατορθώματα – τὰ πτώματα
τὸ λογιστικόν: τὰ κατορθώματα – ἡ κακία
τὸ ἐπιθυμητικόν: ἡ ἐνάρετος κίνησις – παρατροπὴ καὶ ἁμαρτία
τὸ θυμοειδές: τὸ κατόρθωμα – τὰ ἀποπτώματα

1.2 Die acht Kanones

Die Textüberlieferung teilt Gregors Anwendungen auf Fehlhandlungen in acht


Kanones. Die Einteilung ist sachgemäß und sprachlich markiert.
τὸ λογιστικόν – Abfall/Apostasie can. 1
– Zauberer, Wahrsager can. 2
τὸ ἐπιθυμητικόν – Ehebruch, Unzucht can. 3
τὸ θυμοειδές – Mord, Totschlag can. 4
– Eucharistieempfang in Sterbestunde can. 5
– Habgier, Räuber, Diebe can. 6
– Grabschänder can. 7
– Sakrileg can. 8

6 Vgl. M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 21959, 128–133; er
lässt sie unübersetzt.

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182   Ekkehard Mühlenberg

Gregor beschreibt jeweils zuerst den Sachverhalt der Fehlhandlung und bringt
dann Unterscheidungen an. Die wichtigste Unterscheidung ist „freiwillig“ oder
„unfreiwillig“. Diese Unterscheidung ist beim vernunfthaften Teil der Seele und
beim leidenschaftlichen Teil der Seele durchgeführt. Dagegen wird beim begeh-
renden Teil der Seele ganz anders unterschieden, und hierfür führt er eine neue
Überlegung ein, für die es in der Tradition der Väter kein Vorbild gibt. Betreffs des
begehrlichen Teiles der Seele behandelt er nur Ehebruch (μοιχεία) und Unzucht
(πορνεία). Gregor verweist darauf, dass in der Überlieferung die beiden Fälle
gleichgesetzt wurden, weil ja beide Fälle gegen Gottes Gebot verstoßen. Aber
er will sie unterscheiden. Dazu zieht er den Gedanken des Unrechts gegenüber
einem anderen ein und weist darauf hin, dass eine andere Person hintergangen
werde, also Arglist vorliege. Man müsse ja den Ehebruch von Unzucht unter-
scheiden, weil die Väter die Unzucht milder als den Ehebruch gestraft hätten. Bei
Unzucht „befleckt“7 der Täter nur sich selber; er befriedigt seinen Geschlechts-
trieb. Mir scheint, dass Gregor an den Gang zur Prostituierten denkt. Durch Reue
und Umkehr soll die Verwirrung der Lustgefühle geheilt werden. Dazu bestimmt
der Kanon die Bußzeit, und zwar in Stufen. Gregor geht so schematisch vor wie
niemand vor ihm: Drei Jahre Ausschluss aus der Gottesdienstgemeinschaft, drei
Jahre Teilnahme am Hören, das ist Teilnahme am Predigtgottesdienst, und drei
Jahre Teilnahme an dem Gebet der Büßer, danach die Vollaufnahme mit Eucharis-
tieempfang.8 Dies ist bei Gregor die Mindestbußfrist = 3 + 3 + 3 Jahre. Wegen des
Unrechttuns wird für Ehebruch die Bußzeit verdoppelt. Die Mindestbußzeit wird
von Gregor mehrmals aufgerufen: „Buße und deren Stufen wie bei Unzucht“. Ein
Verlängern der angegebenen Bußzeiten ist nirgends erwogen, dagegen – abge-
sehen vom Vollausschluss bei Abfall vom christlichen Glauben (can. 1 und 2) –
immer das Verkürzen bei entsprechendem Heilungsfortschritt. Gregors Verweis
aufs Verkürzen fällt besonders im Falle von Mord auf. Die Bußzeit für Mord soll
„dreifach“ (εἰς τριπλασίονα χρόνον)9 sein, dreifach die Strafzeit bei Unzucht. Das
heißt: neun Jahre vollkommen aus der Kirche ausgeschlossen, neun Jahre unauf-

7 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 3 (6,8–9 M.): […] τῶν ἐν πορνείᾳ μολυνθέντων […].
8 Gregor kennt nicht des Basilius Bußstufe der „Mitstehenden“. Hier irrt K. Koschorke, Spu-
ren der alten Liebe. Studien zum Kirchenbegriff des Basilius von Caesarea (Par. 32), Freiburg/
Schweiz 1991, 172, Anm. 77. Gregor sagt an der angegebenen Stelle (Gregor von Nyssa, Epistula
canoncia 2 [PG 45, 225C] = Epistula canonica 1 [4,11–13 M.]), warum der Apostat von der Eucharis-
tiefeier ausgeschlossen bleibt, weil dort die Eucharistiegebete ihren Platz haben, der büßende
Apostat aber immer alleine beten soll. – Der folgende Verweis auf Bußfristen „wie bei Unzucht“ = 
Gregor von Nyssa, Epistula canonica 1 (διὸ τῷ μέτρῳ τῶν ἐν πορνείᾳ πλημμελησάντων […] [4,20–
21 M.]); vgl. 3 (6,10; 7,14–15 M.); 4 (8,11–13; 9,6–7 M.); 6 (11,4 M.); 7 (11,23–12,1 M.).
9 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 4 (8,11–12 M.).

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   183

fällig mit der Gottesdienstgemeinschaft „die Lehrer und die Schriftlesungen“


(τῶν διδασκάλων καὶ τῆς τῶν γραφῶν)10 hören, dann neun Jahre zu den Büßern
gehören. Als Verkürzungen bei Fortschritten in der Umkehr nennt Gregor acht
oder sieben oder sechs oder auch nur fünf Jahre auf jeder Bußstufe.11 Der Hei-
lungsfortschritt sei zu beurteilen von dem, „der die Kirchendisziplin verwaltet“
(παρὰ τοῦ οἰκονομοῦντος τὴν ἐκκλησίαν),12 also vom Bischof.13
Man fragt sich, wie die innere Haltung eines Büßers erkannt werden kann.
Einmal sagt Gregor, dass die Lebensführung den Fortschritt der Umkehr anzeige.14
Ansonsten ist man angewiesen auf die spärlichen Hinweise aus anderen Schrif-
ten Gregors. Von König Saul heißt es einmal: „Er versteckte sich aus Scham über
das Verbrechen und zeigte durch Weinen und Tränen seine innere Abkehr von
der Bosheit.“15 Sehen könnte man das Beten der Büßer. Bei der Behandlung der
Vergehen wegen der Lustgier16 und bei einfachem Diebstahl17 weist er darauf hin,
dass das freiwillige Bekenntnis schon den Heilungsprozess eingeleitet habe. Viel-
leicht darf man so erläutern, wie es in der Predigt zum 6. Psalm beschrieben wird.

1.3 Die Predigt zu Psalm 6

Die Predigt dürfte in die Zeit nach den Büchern gegen Eunomius fallen. Denn es
wird Philipper 3,13, das Pauluswort über den unendlichen Aufstieg, gleich am
Anfang zitiert. Es ergibt sich also, dass die Predigt über diesen Psalm ein Nach-
trag zu In inscriptiones Psalmorum ist. In der biblischen Psalmenüberschrift steht:
„Über die Achtheit“ (ΠΕΡΙ ΤΗΣ ΟΓΔΟΗΣ).18 Mit drei Argumenten versucht Gregor,
die Achtheit zu erklären. Das erste Argument ist die Abfolge der Psalmen, wie sie

10 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 4 (8,16 M.).


11 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 4 (8,19–9,2 M.).
12 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 4 (8,20 M.).
13 Gregor nennt im kanonischen Brief kein Amt. Er schreibt einmal „Priester“ (Gregor von
Nyssa, Epistula canonica 5 [11,7 M.]): „Dem Priester seine geheimen Sünden offen legen“ (δι’
ἐξαγορεύσεως τὸ πλημμέλημα ἑαυτοῦ τῷ ἱερεῖ φανερώσας). Ich schreibe diese Aufgabe der
priesterlichen Aufgabe des Bischofs zu.
14 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 3 (7,1–3 M.).
15 In inscriptiones Psalmorum (Gregorii Nysseni Opera = GNO 5, hg. v. J. Mc Donough, Lei-
den 1962, 154,11–14): οἷα γὰρ μετὰ ταῦτα πρὸς τὸν νικητὴν ἀποφθέγγεται ὑπ’ αἰσχύνης
τῶν τετολμημένων καταδυόμενος καὶ θρήνῳ καὶ δάκρυσι τὴν ἐνδιάθετον αὐτοῦ τῆς κακίας
ἀποστροφὴν ἐνδεικνύμενος.
16 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 3 (6,14–19 M.).
17 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 6 (11,6–8 M.).
18 Gregor von Nyssa, In sextum Psalmum (GNO 5, hg. v. J. Mc Donough, Leiden 1962, 187,2).

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184   Ekkehard Mühlenberg

Gregor durch die griechischen Überschriften thematisiert hatte. Der fünfte Psalm
war über die „Erbin“, der sechste Psalm handelt über die „Austeilung des Erbes“.
Das zweite Argument ergibt sich daraus, dass das jüdische Verständnis der
Achtheit als des achten Tages nach einer Geburt spiritualisiert wird. Hatten die
Juden den achten Tag für die Beschneidung des Männlichen und zur Reinigung
der Mutter durch Opfer festgesetzt, so verstehen die Christen, Beschneidung und
Reinigung in eins setzend, die Achtheit als die Beschneidung mit dem Messer aus
Felsstein und der Fels(stein) ist Christus. Folglich soll die Achtheit die Reinigung
von allem Lebensschmutz sein, nämlich die Verwandlung ins Göttlichere.
Das dritte Argument ist aus den sieben Schöpfungstagen herausgelesen. Die
Schöpfungswelt währe sieben Tage und am achten Tag beginne die veränderungs-
lose Zeit, wo die wahre Sonne aufgegangen ist und die Reinigung von allem Sün-
denschmutz sich ereignet. Nach Gregors Logik „liegt am ‚achten Tag‘ das Erbe für
die Würdigen bereit, aber es findet auch das gerechte Gottesgericht statt, das jedem
zuteilt, was ihm zukommt“.19 Jetzt kommt der Clou: „Sehr richtig hat der Prophet
bei der Erinnerung an den ‚achten Tag‘ den Gedanken der Reue eingefügt.“20
Gregor beschreibt erst allgemein, dann hangelt er sich Vers für Vers an den
Sprachformulierungen vorwärts, um den Vorgang der Reue zu erläutern.
Der Beginn ist die Erinnerung an das schreckliche Gericht Christi. Und je
mehr jemand daran denkt, umso mehr ergreift ihn die Angst und hält ihn gefan-
gen. Dadurch werde der Geängstete gedrängt, sich an Gott zu wenden und zu
erbitten, dass er nicht dem Zorngericht übergeben werde. Gregor nimmt die Stich-
worte aus dem ersten Psalmvers vorweg und weiß deswegen, dass die Zornesstra-
fen eine Zuchtmaßnahme (παίδευσις) sind, um jemanden seiner Fehlhandlungen
zu überführen (ἔλεγχος). Es sei wie bei den Folterungen im gerichtlichen Beweis-
verfahren: Der Schmerz von den Peitschenhieben zwinge den Verdächtigen,
gegen seinen Willen das geheime Unrecht preiszugeben. Und genau das nehme
der Beter des Psalmes durch seine Entscheidung (προαίρεσις) freiwillig vorweg;
er spreche die verborgene Verfehlung offen aus, weil seine Reue (μετάνοια) ihn
geißele. Er entscheide sich durch sein Bekenntnis, der Notwendigkeit der Zornes-
strafen zuvorzukommen.21

19 Gregor von Nyssa, In sextum Psalmum (190,4–6 McD.): ἡ δὲ κληρονομία ἐν τῇ ὀγδόῃ τοῖς
ἀξίοις ἀπόκειται, ἐν ταύτῃ δὲ καὶ ἡ δικαία τοῦ θεοῦ γίνεται κρίσις ἑκάστῳ τὸ κατ’ ἀξίαν νέμουσα.
20 Gregor von Nyssa, In sextum Psalmum (190,6–8 McD.): καλῶς ὁ προφήτης τῇ περὶ τῆς ὀγδόης
μνήμῃ τὸν περὶ τῆς μετανοίας συνεισήγαγε λόγον.
21 Von Origenes ist zu Psalm 6 nichts erhalten. Aber zu Psalm 37 (LXX) gibt es zwei Homilien
in der lateinischen Übersetzung Rufins (ed. E. Prizivalli, Origène. Homélies sur les Psaumes 36 à
38 [SC 411], Paris 1995). Dort behandelt Origenes die Reue/Buße. Origenes versteht das Bekennt-
nis der Sünden als einen Prozess, der in der Vorstellung von Gottes Endgericht im Bekenner

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   185

Nach diesem Anfang sieht Gregor den Beter beim Erbarmen Gottes Zuflucht
nehmen. Aber wofür braucht der Beter, der sich zum Bekenntnis seiner verborge-
nen Sünde entschlossen hat, Gottes Barmherzigkeit? Der Vers 3 („Erbarme dich
meiner, Herr, denn ich bin schwach“)22 gibt Gregor das Stichwort: Schwachheit.
Die Schwachheit sei die Ursache des Übels, aber, so wird festgestellt, nicht so
sehr die Schwachheit der Entscheidungskraft, sondern die Schwachheit der
menschlichen Natur. Denn der Beter meine, dass er aus Schwachheit in das
Erleiden (πάθος) des Bösen gekommen sei. Was soll geschehen sein? In phan-
tastischer Spiritualisierung deutet Gregor die Knochen („Meine Knochen sind
ausgerenkt“)23 auf die besonnenen Gedanken, die die Seele eigentlich stützen.
Also „ist“, wie der Vers hinzufügt, „meine Seele verstört“.24 Eine Krankheit habe
die Seele befangen. Hilfe zur Heilung brauche der Beter, und zwar jetzt. Denn nur
solange er lebe, könne das Sündenbekenntnis wirksam sein. Deswegen folgt die
Bitte, die Gregor formuliert: Gott, akzeptiere, dass ich durch die Umkehr meiner
Seele das endzeitliche Aufdecken meiner geheimen Sünden vorweggenommen
habe. Denn in der Todeszeit vor dem Endgericht (Hades) kann die Heilung durch
Erinnerung an die Höllenstrafen (Gehenna) ja nicht mehr stattfinden. Das Beken-
nen der geheimen Sünden ist nur während des Lebens hier auf Erden wirksam,
nicht mehr im Hades.
Zu dieser Bitte um die Barmherzigkeit Gottes will Gregor zwei Gedan-
ken einschieben, wie es ihm durch den Psalmvers: „In meinem Seufzen mühe
ich mich ab; ich reinige mein Sündenlager mit dem Wasser meiner Tränen“
(Vers 7)25 gegeben zu sein scheint. Zum einen will er einschieben, dass der
Reuige etwas tut, um Gottes Erbarmen zu erreichen und sich Gott gnädig zu
stimmen. Er selber arbeite hart an seiner Reue. Zum andern will Gregor ein-
sichtig machen, warum Gottes Erbarmen für die Heilung der Fehlhandlungen
gebraucht wird, und schiebt dabei unvorbereitet den Begriff Krankheit (νόσος)
ein, deren Heilung es bedarf. Deswegen fährt er fort, den Zustand und die Reak-
tion des Reuigen zu beschreiben. Das Stichwort dafür kann Gregor dem fol-
genden Vers entnehmen, den er so wiedergibt: „Durch den Zorn ist mein Auge

Schmerzen hervorruft. Die Schmerzen werden ertragen und werden ausgeführt in der Tötung des
Fleisches, so dass das Fleisch, der Anlass der Sünde, keine Kraft mehr besitzt: Das ist der Hei-
lungsprozess. Über die konkreten Handlungen, die das Fleisch abtöten, sagt Origenes in diesem
Zusammenhang fast nichts.
22 Ps 6,3 LXX: ἐλέησόν με, κύριε, ὅτι ἀσθενής εἰμι.
23 Gregor von Nyssa, In sextum Psalmum (191,13–14 McD.): Ἐξηρθρώθη τὰ ὀστᾶ μου.
24 Gregor von Nyssa, In sextum Psalmum (191,18 McD.): Ἡ ψυχή μου ἐταράχθη σφόδρα.
25 Ps 6,7 bei Gregor von Nyssa, In sextum Psalmum (191,28–30 McD.): Ἑκοπίασα ἐν τῷ στεναγμῷ
μου, καὶ ἐκπλυνῶ τὴν ἐξ ἁμαρτίας στρωμνὴν τῷ τῶν δακρύων ὕδατι.

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186   Ekkehard Mühlenberg

verstört.“26 Es ist der Affekt des Zorns (θυμός); durch diesen Affekt wird die Seele
nicht nur krank, sondern der „Fäulnis“27 ausgeliefert. Den Reuigen ergreift die
Furcht vor diesem Affekt. Denn der Affekt des Zorns verursacht viele Verfehlun-
gen. Und wenn auch noch der Affekt der Begierde (ἐπιθυμία) betrachtet wird,
der ebenso viele Verfehlungen bewirken kann, dann verschlingt den Reuigen
die Angst, und jegliche Hoffnung auf Rettung entschwindet. Aber der Reuige
reagiert (Vers 9a) und schreit den verderbenden Affekten zu: „Entfernt euch!“
(Ἀπόστητε)28. Bei dieser Reaktion, sagt Gregor, werde der Reuige sich des „Wohl-
wollens Gottes“29 bewusst. Ihm ist Hoffnung auf Heilung geschenkt worden; Gott
hat sein Flehen erhört (Vers 9b+10). Die feindseligen Affekte können vertrieben
werden, und zwar sofort.
Gregor weiß auch zu erklären, welchem Seelenzustand die geschenkte Hoff-
nung entspricht. Denn der nächste Psalmvers (Vers 11) gibt ihm den Begriff der
Scham. Die Scham und ihre Wirkung ist Gregor bekannt. Er hatte Scham exkurs-
artig in der dritten Ecclesiasteshomilie eingeführt und dort entsprechend erläu-
tert, dass Scham sich einstellt, wenn jemand sich zu widersinnigem Verhalten
bekennt oder eines Fehlverhaltens überführt wird.30 Hier, in der Beschreibung,
wie Reue sich vollzieht, steht – den Psalmversen folgend – die Scham am Ende
und entspricht dem Gottesgeschenk der Hoffnung. Scham, Böses getan und die
Furcht vor den endzeitlichen Zuchtmaßnahmen erlitten zu haben, bewahrt end-
gültig vor erneutem Unrechttun. Durch Scham werden die Anläufe des Bösen
ferngehalten; die Scham ist der erzieherische Begleiter (παιδαγωγός) des Men-
schen, der Reue vollbracht hat (τὸ ἐκ μετανοίας κατόρθωμα). Wenn die Feinde
des Menschen durch Scham vertrieben sind, dann wird dem Menschen nach dem
Vollzug der Reue auch „die Hoffnung auf die Herrlichkeit des Herrn“31 zuteil, eine
Hoffnung, die nicht in Scham endet, sondern darüber hinausführt.
In Homilie 3 zu den Seligpreisungen legt Gregor aus: „Selig sind die Trau-
ernden, denn sie sollen getröstet werden“ (Mt 5,4). Auf den ersten Blick, meint
Gregor,32 könne sich die Seligpreisung auf die Menschen beziehen, die eigener
Sünde innegeworden sind und ihr schlechtes Leben bejammern. Gregor begnügt

26 Ps 6,8a LXX: ἐταράχθη ἀπὸ θυμοῦ ὁ ὀφθαλμός μου. Gregor schreibt: ὅτι ἐν θυμῷ, φησίν, ὁ
ὀφθαλμός μου ἐταράχθη (191,30–192,1 McD.).
27 Gregor von Nyssa, In sextum Psalmum (192,3 McD.): […] τὴν σηπεδόνα […].
28 Gregor von Nyssa, In sextum Psalmum (192,10 McD.).
29 Gregor von Nyssa, In sextum Psalmum (192,15 McD.): τῆς τοῦ θεοῦ περὶ αὐτὸν εὐμενείας.
30 Gregor von Nyssa, In Ecclesiasten Homilia 3 (GNO 5, hg. v. P. Alexander, Leiden 1962, 315,8–
317,12).
31 Gregor von Nyssa, In sextum Psalmum (193,20 McD.): ἡ ἐλπὶς τῆς δόξης.
32 Gregor von Nyssa, De beatitudinibus, oratio 3 (GNO 7,2, hg. v. J.F. Callahan, Leiden 1992).

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   187

sich aber nicht mit diesem Hinweis, sondern erklärt, wie das Innewerden
zustande kommt und welcher Vorgang sich abspielt, der zum Seligsein führt. Ein
Bild aus der Medizin wendet er an und geht aus von einer Metapher des Apos-
tels Paulus: Wer durch Sünden tot sei, der sei schmerzunempfindlich und taub
für die Tugend geworden. Die Ärzte wenden auf ein Körperglied, das durch eine
Verletzung taub geworden ist, brennend heiße und ätzende Heilmittel an, um
die Empfindsamkeit wieder herzustellen. So sei auch der Sünder zu behandeln.
Durch Tadel (ἐπίπληξις, sonst auch ἐπιτίμησις) sei ihn das Fürchten zu lehren
durch die Vorstellungen von „Gehenna, dem sich nicht verzehrenden Feuer, dem
Gewissenswurm, dem Klappen der Zähne, dem unaufhörlichen Schreien, der
nackten Finsternis“.33 Und wenn die Furcht sich in die Seele des Sünders einge-
bohrt habe, dann sei die Lähmung und Taubheit, die von der Sünde verursacht
wurde, geheilt. Eine Zeitspanne, die die Trauer über die eigene Missetat dauern
sollte, ist nicht angedeutet, aber es ist eine begrenzte Zeit. Denn nach der Zeit der
Trauer ist ein solcher Mensch wieder unter den Seligen. Hier wird ein Handeln
Gottes mit keinem Wort erwähnt; es könnte der Heilsplan der Bußdisziplin sein.
Der kanonische Brief erwähnt nirgends die göttlichen Strafen für die Fehlhand-
lungen, eben auch nicht das Endgericht. Basilius dagegen schließt seinen dritten
kanonischen Brief (Epistula 217) mit dem Verweis auf Gottes Zorngericht. Gregor
denkt Gottes Zorngericht aber mit, wie seine Erläuterungen zu Reue zeigen.
Gregor bietet verschiedene Erläuterungen, wie durch Reue die Verfehlungen
geheilt werden. Ich halte die Predigt über Psalm 6 für die intensivste Reflexion.
Man müsste die späten Schriften wie De vita Moysis und die Homilien zum Hohen­
lied nach Andeutungen durchsehen.

1.4 Zusätzliche Bemerkungen

Ich vermerke, dass es bei Gregor nirgends einen belastbaren Hinweis auf ein
öffentliches Sündenbekenntnis in der Gottesdienstgemeinschaft gibt; das
Schamgefühl ist rein innerlich beim Bekenner und hat insofern nichts mit öffent-
licher Schande zu tun. Bei Gregor fehlt ja auch die anfängliche Bußstufe, die sein
Bruder Basilius eingeführt hat und vorsieht, dass sich die Büßer vor der Kirchen-
tür im Nartex aufstellen und weinend um Fürbitte flehen.34 Man möchte gerne

33 Gregor von Nyssa, De beatitudinibus, oratio 3 (100,26–28 C.): […] γεέννης φόβον καὶ πῦρ μὴ
σβεννύμενον καὶ ἀτελεύτητον σκώληκα καὶ βρυγμὸν ὀδόντων καὶ κλαυθμὸν ἀδιάλειπτον καὶ
σκότος ἐξώτερον […].
34 Vgl. Basilius von Cäsarea, Epistula 217 = Epistulae canonicae, can. 56 und 75.

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wissen, wie Gregor auf das Dreierschema gekommen ist. Und man möchte auch
gerne wissen, warum er wie auch seine „Väter“ sich so sicher sind, dass die Rei-
nigung von Sünde und die Heilung des „Leidens“ in der festgesetzten Bußzeit
abgeschlossen ist. Denn eine abschließende Prüfung der inneren Einstellung des
Büßers ist in seinen Bußkanones nirgends vorgesehen.
Zwei Sachbemerkungen seien noch hinzugefügt. Erstens versteht Gregor
unter Kanon die festgesetzte Strafe in Form von Bußfristen. Zweitens beruft sich
Gregor mehrfach auf die „Väter“.35 Heinz Ohme36 hat gezeigt, dass überhaupt
nicht an bestimmte Überlieferungen zu denken sei, die in uns bekannten Kanones
des Konzils von Nicäa und der lokalen Synoden von Ankyra, Neocäsarea, Antio-
chien, Laodicea und Gangra überliefert sind. Die „Apostolischen Kanones“
können außer Betracht bleiben. Heinz Ohme stellt fest, dass bei Kanones an das
in der Kirche Gültige zu denken sei und dass man auch nicht uns unbekannte
Provinzialsynoden postulieren müsse. Es kann vermutet werden, dass Gregor von
den kanonischen Briefen seines Bruders Basilius wusste, aber einen handfesten
Beweis habe ich bisher nicht gesehen. Dagegen ist ersichtlich, dass Gregor sich
über die Tradition nicht irrt, jedenfalls soweit uns die Kanones in den Samm-
lungen bekannt sind. In Kanon 6 behandelt Gregor die Habgier (πλεονεξία) und
stellt fest, dass „die Väter“ dieses Übel übersehen hätten.37 Das stimmt. Denn in
dem kanonischen Brief, der unter dem Namen Gregor Thaumaturgos läuft, wird
in Kanon 2 die Habgier genannt, aber keine Bußfrist festgesetzt. Basilius hatte
denselben Mangel in der überlieferten Bußdisziplin, den Gregor vornehm formu-
liert, sarkastisch beklagt:

Also hat uns jene äusserst üble Gewohnheit irregeleitet, also ist uns jene verdrehte Men-
schenüberlieferung zur Ursache grosser Übel geworden, die die einen Sünden zwar ver-
wirft, die andern aber unterschiedslos wählt, und gegen einige – wie Mord und Ehebruch
und derartiges – heftigen Abscheu vorgibt, anderes aber nicht einmal blossen Tadels für
wert erachtet wie Zorn oder Schmähsucht oder Trunkenheit oder Habgier und was es der-
artiges mehr gibt, obwohl der in Christus redende Paulus sich dagegen ausspricht: „Die
derartiges tun, sind des Todes würdig“ (Rm 1,32).38

35 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 1 (4,5–6; 4,18 M.); 2 (5,8 M.); 3 (5,11.24 M.); 4 (7,19.23–24
M); 5 (9,13 M.); 6 (9,19–20; 10,9 M.); 8 (12,10 M.).
36 H. Ohme, Kanon ekklesiastikos. Die Bedeutung des altkirchlichen Kanonbegriffs (AKG 67),
Berlin 1998, Kap. 24.
37 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 6 (9,19–20; 10,9 M.).
38 Basilius von Cäsarea, De iudicio dei 7 (PG 31,669A–B [Übers. zitiert nach Koschorke (wie Anm. 8),
156–157]): Ἄρα γε ἠπάτησεν ἡμᾶς ἡ κακίστη συνήθεια· ἄρα κακῶν αἰτία ἡμῖν μεγάλων γέγονεν ἡ
διεστραμμένη τῶν ἀνθρώπων παράδοσις, τὰ μὲν παραιτουμένη δῆθεν τῶν ἁμαρτημάτων, τὰ δὲ
ἀδιαφόρως αἱρουμένη· καὶ κατὰ μέν τινων σφοδῶς ἀγανακτεῖν προσποιουμένη, οἷον φόνου, καὶ

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   189

Gregor sagt in Kanon 8, dass die Vätertradition das Sakrileg nicht ausreichend
bestraft habe. Nach dem Alten Testament (Jos 7,25) werde Sakrileg, d.  h. „wer sich
aneignet, was Gott gewidmet ist“,39 mit Steinigung bestraft, aber die Väter hätten
eine geringere Strafe als für Ehebruch festgesetzt. Geht man die Synodalkano-
nes und die kanonischen Briefe der Väter durch, so taucht das Wort „Sakrileg“
(ἱεροσυλία) nur in Kanon 44 des Basilius (2. kanonischer Brief) auf: Eine Dia-
konisse treibt mit einem Heiden Unzucht, und das wird Sakrileg genannt, weil
der Leib der Diakonisse Gott geweiht sei. Die Bußstrafe ist bei Basilius 7 Jahre,
was der Strafe bei Unzucht entspricht (vgl. Epistula 217 = Epistulae canonicae,
can. 59), während Basilius auf Ehebruch 15 Jahre ansetzt (vgl. Epistula 217 = Epi­
stulae canonicae, can. 58). Es muss völlig offen bleiben, ob Gregor auf diese
Bestimmung seines Bruders anspielt. Aber es ist ein schöner Gedanke, Gregors
Beschreibung auf „Gott geweihte Jungfrauen oder Frauen“ zu beziehen, so dass
sein Verweis auf die Bußstrafe für Ehebruch nicht nur ein formaler Vergleichs-
maßstab wäre. Gregor selber gibt keine Bußfrist an, setzt also keinen Kanon. Aber
er gibt zu bedenken, dass jede Bußmaßnahme sich an der inneren Einstellung
der Büßenden zu orientieren habe.
Es gibt noch einen anderen Fall, wo Gregor keinen Kanon festlegt. In Kanon 6
behandelt er, wie gesagt, die Habgier. Die Väter hätten für diese Verfehlung
keinen Kanon vorgesehen. Aber, sagt Gregor, gemäß dem Apostel Paulus sei die
Habgier nichts weniger als eine Form des Götzendienstes (Kol 3,5; Eph 5,5). Und
dreifach sei die Seele involviert, d.  h. mit allen drei Teilen. Da jedoch die Väter
keinen Kanon festgesetzt hätten, sei es ihm nicht möglich, dafür einen Kanon
festzulegen. Er besitze nicht die Autorität, Kanones zu bestimmen. Gregor hält
sich also an das in der Kirche Gültige. Jedoch will er diese Sünde heilen, obwohl
es keine Bußbestimmung gebe. Durch öffentliche Predigt und Schriften will er
wirken, dass „die Krankheiten der Habgierigen wie Leiden der Völlerei“ „durch
das reinigende Wort“ geheilt werden könnten.40 Gregor hat ein solches „reini-
gendes Wort“ in der Predigt vorgelegt, die geführt wird unter dem Titel: Contra
Usurarios41 und gewöhnlich übersetzt wird: „Gegen die Wucherer“, richtig ist
der griechisch überlieferte Titel aber: „Gegen die Zinsnehmer“. Für eindringli-

μοιχείας, καὶ τῶν τοιούτων· τὰ δὲ οὐδὲ ψιλῆς γοῦν ἐπιτιμήσεως ἄξια κρίνουσα, οἷον ὀργήν, ἢ
λοιδορίαν, ἢ μέθην, ἢ πλεονεξίαν, καὶ ὄσα τοιαῦτα, καθ’ ὧν ἁπάντων καὶ ἀλλαχοῦ ἔδωκε τὴν αὐτὴν
ἀπόφασιν ὁ ἐν Χριστῷ λαλῶν Παῦλος, εἰπὼν ὅτι· Οἱ τὰ τοιαῦτα πράσσοντες ἄξιοι θανάτου εἰσίν.
39 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 8 (12,5–6 M.): ὁ τὰ ἀνατεθέντα τῷ Θεῷ ὑφελόμενος.
40 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 6 (10,11–12 M.): […] ὥσπερ τινὰ πάθη πληθωρικὰ τὰς
πλεονεκτικὰς ἀῤῥωστίας διὰ τοῦ λόγου καθαίροντος. Zu πάθη πληθωρικά siehe F. Mann (ed.),
Lexicon Gregorianum VII, Leiden 2009, 456b. Vgl. auch Origenes, In Psalmum 37 Homilia 2,6.
41 Ediert in Gregorii Nysseni Opera = GNO 9, hg. v. E. Gebhardt, Leiden 1967, 195–207.

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190   Ekkehard Mühlenberg

cher halte ich übrigens des Basilius Predigt über dasselbe Thema (Homilia 2 in
Psalmum 14).

2 Gregors Brief in den kanonistischen


Sammlungen

2.1 Syntagma XIV titulorum

Gregors kanonischer Brief ist in den kanonistischen Sammlungen überliefert


worden.42 Eduard Schwartz43 hat vermutet, dass es schon vor den kanonistischen
Sammlungen des 6. Jahrhunderts die Sammlung von entsprechenden Väterbrie-
fen gegeben habe, aber sein Beweis ist schwach. Im Prolog zur dritten kanonisti-
schen Sammlung (um 580 n. Chr.), dem Syntagma XIV titulorum,44 dem Prologus 1,
heißt es, dass eine vorherige Sammlung (Synagoga L titulorum) mehrere Nach-
teile aufweise, u.  a. die Vernachlässigung der Väter. Die Synagoga L titulorum
fügt den Kanones der Apostel und den 10 Synoden nur Basilius hinzu und zwar
die Kanones aus dem 2. und 3. kanonischen Brief; das sind nach herkömmlicher
Zählung die Kanones 17–84. Dagegen fügt der Verfasser des Syntagma XIV titul­
orum etwa ein Dutzend Väter hinzu, darunter auch den 1. kanonischen Brief des
Basilius und eben Gregors von Nyssa Epistula canonica mit 8 Kanones. Die genaue
Zahl der zugefügten Väter ist (bisher?) nicht ergründet. Wir sind auf die Angabe
des Trullanum (691/692) in Kanon 2 angewiesen, dessen kanonische Väterauto-
ritäten mit der handschriftlichen Überlieferung übereinzustimmen scheinen.45
Das Syntagma XIV titulorum besteht aus mehreren Teilen.46 Zu ihnen gehören
integral in der Überlieferung die Zusammenstellung der Synoden und Väter, deren

42 Siehe meine Praefatio in GNO 3,5 (wie Anm. 1), Kapitel 5 (XCVI–CX).


43 E. Schwartz, Bußstufen und Katechumenatsklassen, Straßburg 1911, wieder abgedruckt in:
id., Gesammelte Schriften V, Berlin 1963, 274–362 (322).
44 Edition nach Redaktion III von V. Beneševič, Drevne-slavjanskaja Kormčaja XIV titulov bez
tolkovanij, Sankt Petersburg 1906 (Nachdruck Leipzig 1974); dort Prolog 1 S. 1–4. Prolog 1 auch
bei I. B. Pitra, Iuris Ecclesiastici Graecorum Historia et Monumenta II, Rom 1868 (Nachdruck
1963), 445–447.
45 Vgl. V. Beneševič, Kanoničeskij Sbornik XIV titulov so vtoroj četverti VII věka do 883g., Sankt
Petersburg 1905 (Nachdruck Leipzig 1974), 232–233; vgl. meine Edition GNO 3,5 (wie Anm. 1),
Prae­fatio, XLI.
46 Vgl. K. E. Zachariae von Lingenthal, Die griechischen Nomokanones (1877), in: id., Kleine
Schriften zur römischen und byzantinischen Rechtsgeschichte I, Leipzig 1973, 614–631 (Ab-

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   191

Kanones aufgenommen sind (Pinax). Zu ihnen gehört der Prologus 1, der aber
nicht integral mit der Sammlung in der Überlieferung vorangestellt ist. Der Prolo­
gus 1 beschreibt sein Vorgehen folgendermaßen: Sein Vorgänger – ein Name wird
nicht genannt, es ist Johannes Scholasticus – habe bei seiner Systematisierung
der in der Kirche gültigen Kanones 50 Titel eingeführt, unter die er die Kanones
verteilt habe, damit die vielfältige Überlieferung übersichtlich nach Titeln geord-
net und ohne Capitula unterteilt für jeden das betreffende Material auffindbar
mache. Das sei des Guten zu viel; er selber mache das Material unter 14 Titeln (mit
Unterteilung in Capitula) zugänglich. Eine derartige Systematisierung war vom
Kaiser Justinian für das Reichsrecht in den Jahren 529–534 durchgeführt worden
und hatte den musterbestimmenden Codex Iustinianus zum Ergebnis. Der Codex
Iustinianus teilt den Stoff in 12 Bücher mit entsprechenden Titeln und Capitula,
die den Inhalt der dann folgenden einzelnen Gesetze zusammenfassen.
Die Reduzierung der Zahl der Titel von 50 auf 14 ist aber nicht die einzige Leis-
tung, deren sich der Verfasser von Prologus 1 für seine Arbeit rühmt. Er bemängelt
auch die formale Ausführung. Denn der Vorgänger hatte sich in Synagoga L titulo­
rum auf das Muster des Codex Iustinianus berufen und entsprechend die origina-
len Texte der Kanones ausgeschrieben. Das habe, so der Verfasser von Prologus 1
zum Syntagma XIV titulorum, zu dem Nachteil geführt, dass erstens dieselben
Texte mehrmals unter verschiedenen Titeln ausgeschrieben sind und dass zwei-
tens die Kanonestexte zerstückelt worden seien, weil Teile von ihnen an verschie-
denen Stellen erscheinen. Er selber erfindet 14 Titel, unterteilt sie in Capitula mit
Inhaltsangaben und lässt die Kanones nur in Ziffern folgen. Der Text der Kanones,
nach Synoden und Vätern jeweils chronologisch geordnet, folgt auf den systema-
tischen Teil, so dass sich ein Repertorium und eine Kanonessammlung ergeben.

2.2 Das Repertorium47

Ich gebe ein Verzeichnis der Orte, an denen die Kanones von Gregors Epistula
canonica aufgerufen werden:
– Titel 1: Über Theologie, den orthodoxen Glauben, die Kanones und die Kon-
sekrationen; cap. 4: Dass die Kanones nicht von einem Bischof, sondern von
ihnen gemeinsam festgestellt werden: can. 6.

schnitt 1–6); V. Beneševič, Kanoničeskij Sbornik XIV titulov (wie Anm. 45), 86–93; N. van der
Wal/J. H.A. Lokin, Historiae Iuris Graeco-Romani Delineatio. Les sources du droit byzantin de
300 à 1453, Groningen 1985, Kapitel IV 2 und V 2.
47 Texte nach V. Beneševič, Drevne-slajanskaja Kormčaja XIV titulov (wie Anm. 44), 5–60.

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– Titel 9: Über Fehlhandlungen und Prozesse von Bischöfen und Klerikern,


über Ausschluss und Absetzung und Buße; welche Fehlhandlungen die
Handauflegung wieder gut macht; cap. 39: Über Buße und wer die Befugnis
hat, die Büßenden zu versöhnen, und dass es dem Priester erlaubt ist, die
Strafen zu verringern oder zu erhöhen: can. 3; 4; 7; 8.
– Titel 13: Über die Laienchristen; cap. 5: Über Unzucht, Ehebruch, Vergewalti-
gung und Knabenschändung: can. 3; cap. 20: Über Apostaten und Opfernde,
Magier und Zauberer, Sterndeuter, Wahrsager, Seher und Amulette: can. 1;
2; cap. 23: Über Diebe, Grabschänder, Räuber, und wer ein Sakrileg begeht:
can. 6; 7; 8.
– Titel 14: Über Menschen allgemein; cap. 1: Über Habgier: can. 6; cap. 2: Über
Sodomie: can. 6; cap. 3: Über Mörder und Räuber: can. 4; cap. 3: Über die
Notwendigkeit, Exkommunizierten in der Sterbestunde die Eucharistie zu
geben, und darüber, was geschieht, wenn sie dann nicht sterben: can. 5.

2.3 Vergleich mit Synagoga L titulorum48

Man kann fragen, ob Gregors Kanones in der Synagoga L titulorum hätten unter-
kommen können. Gregor hat nur, was Eduard Schwarz „Kapitalsünden“ genannt
hat.49 Gregor geht auf Fragen der kirchlichen Verwaltung und Amtsträger über-
haupt nicht ein; dieser ganze Bereich und damit die Titel 1–11 des Syntagma XIV
titulorum sind für einen Vergleich ausgeklammert. Dagegen sind nach den Titel­
angaben aus dem Syntagma XIV titulorum die folgenden Titel aufgehoben:
– Titel 13,5 aufgehoben in Titel 41 und 42;
– Titel 13,20 aufgehoben in Titel 39;
– Titel 13,23 aufgehoben in Titel 45;
– Titel 14,2 aufgehoben in Titel 44;
– Titel 14,3 3 aufgehoben in Titel 40.

2.4 Einordnung im Syntagma XIV titulorum

Bei Gregor kommt Häresie nicht vor. Nur die Manichäer nennt er in Kanon 1, aber
diese ordnet er unter „Gottlosigkeit“ ein. Somit ist Gregor in Titel 12: „Über Häreti-

48 Text ediert von V. Beneševič, Ioannis Scholastici Synagoga L titulorum ceteraque eiusdem
opera iuridica I (ABAW.PH 14), München 1937.
49 Vgl. Schwartz (wie Anm. 43), 289 u. ö.

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   193

ker und Juden und Heiden“ nicht aufgenommen. Dagegen kann man die Orte her-
ausholen, wo zu Gregor nur wenige andere Kanones oder gar keine erscheinen.
Kanon 6 in Titel 1,4 hat nur eine Parallele in Basilius Kanon 47. Ebenfalls ist nur
eine Parallele zu Titel 14,4 zu Gregors Kanon 5 angegeben, nämlich Nicäa, can.
13. Überhaupt sind die Angaben der Kanones zu den Capitula wie ein Register
zu lesen, obwohl sie in Einzelheiten und vor allem in den Bußfristen differieren.

3 Anhänge mit kaiserlicher Gesetzgebung


Es handelt sich um drei Anhänge, die meist zusammen mit der Synagoge oder
dem Syntagma oder den Nomocanones angehängt sind. Welcher Sammlung sie
wann angehängt wurden, ist der handschriftlichen Überlieferung nur schwer zu
entnehmen.

3.1 Collectio XXV capitulorum50

Von der Forschung wird die Sammlung mit Auszügen aus den ersten vier Titeln
von Buch 1 des Codex Iustinianus genannt: Collectio XXV capitulorum. Die Über-
schrift ist aufschlussreich. Die Überschrift lautet: „Konstitutionen ziviler Gesetze,
entnommen den Novellen Kaiser Justinians. Sie bestätigen und setzen in Kraft die
kirchlichen Kanones der heiligen Väter.“51 21 Konstitutionen werden mit Inskrip-
tionen und Subskriptionen angeführt. Nicht mehr im Codex Iustinianus stehen
die vier Novellen, die den 21 Konstitutionen folgen; sie sind auch später als der
Codex (Nr. 22 = Novelle 137, ist im Jahre 565 erlassen). Man nimmt deswegen an,
dass sie von demjenigen zugefügt wurden, der in der Überschrift irrtümlich von
„Novellen“ aller Stücke spricht. Der Teil aus dem Codex Iustinianus könnte schon
der nicht erhaltenen Synagoga LX titulorum angehängt gewesen sein. Johannes
Scholasticus, dem die nächste Sammlung, die Synagoga L titulorum zugeschrie-
ben wird, könnte sie als Anhang Nr. 2 übernommen und ergänzt haben. Die
Collec­tio XXV capitulorum steht in der handschriftlichen Überlieferung immer an
zweiter Stelle. In Buch 1 des Codex Iustinianus ist in 13 Titeln das Reichskirchen-
recht kodifiziert. Jeder Titel beginnt mit alten Konstitutionen seit Kaiser Konstan-

50 Ediert von G. E. Heimbach, Anekdota II, Leipzig 1840 (Nachdruck Aalen 1969), 145–201.
51 Collectio XXV capitulorum (145 H.): ΔΙΑΤΑΞΕΙΣ ΝΟΜΩΝ ΠΟΛΙΤΙΚΩΝ ΕΚ ΤΩΝ ΝΕΑΡΩΝ
ΙΟΥΣΤΙΝΙΑΝΟΥ ΒΑΣΙΛΕΩΣ ΣΥΝΗΓΟΡΟΥΣΑΙ ΚΑΙ ΕΠΙΚΥΡΟΥΣΑΙ ΤΟΥΣ ἉΓΙΩΝ ΠΑΤΕΡΩΝ
ΕΚΚΛΗΣΙΑΣΤΙΚΟΥΣ ΚΑΝΟΝΑΣ.

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tin und fast immer stehen am Ende die aktuellen Constitutiones Kaiser Justinians
bis zum Jahre 534, die Früheres korrigieren oder ergänzen.
Die Collectio XXV capitulorum wäre auf ihre Auswahl zu analysieren, aber es
fehlt eine textkritische Ausgabe.

3.2 Collectio LXXXVII capitulorum52

Diese Sammlung enthält Novellen Kaiser Justinians, Angelegenheiten der Kirche


betreffend und erlassen zwischen den Jahren 535 und 546. Die Novellen sind teils
wörtlich, teils in eigenen Zusammenfassungen vorgelegt. In den Capitula 28–87
wird die jüngste Novelle (Nov. 123) ausführlich zerlegt. Die Einleitung platziert
die Sammlung und lässt annehmen, dass Johannes Scholasticus der Verfasser
sein könnte und die Sammlung einer Neuausgabe der Synagoga L titulorum in
seiner Patriarchatszeit 565–577 nach dem Tod Justinians angehängt habe. Die
Einleitung lautet nach der Übersetzung von Zachariä von Lingenthal,53 die ich
(kursiv) vervollständigt habe:

Zur Ehre des großen Gottes und unseres Heilandes Jesus Christus haben wir jetzt etwas
zusammengestellt hinter den heiligen Kanones der heiligen und seligen Apostel und der
ihren Fußstapfen in jeder Synode folgenden frommen Väter. Das ist abgeschrieben aus den
einzeln vorhandenen und nach dem Codex von Justinian göttlichen Andenkens bekannt
gemachten Novellen, welche nicht nur den Kanones unserer orthodoxen Väter folgen,
sondern denselben auch kraft kaiserlicher Machtvollkommenheit Bestätigung verleihen
mit gesetzlichen und gottgefälligen Zusätzen. Die Novellen des Kaisers haben gottnachah­
mend das Wohl der ganzen von Gott geschaffenen Menschheit fest im Blick.

52 Vgl. Zachariae von Lingenthal (wie Anm. 46), 618. Text ediert von G. E. Heimbach, Anekdo-
ta II (wie Anm. 50), 202–234; Pitra II (wie Anm. 44), 385–405. In der Edition der Novellen von
R. Schoell/G. Krol, Corpus Iuris Civilis III, Berlin 1895 (viele Nachdrucke) sind die Übernahmen
in den Nomokanon verzeichnet.
53 Zachariae von Lingenthal (wie Anm. 46), 618. Ich lege zugrunde den Text von V. Beneševič,
Sinagogá v 50 titulov i drugie juridičeskie sborniki Ioanna Scholastika, Sankt Petersburg 1914
(Nachdruck Leipzig 1972), 288–289: Εἰς δόξαν τοῦ μεγάλου θεοῦ καὶ σωτῆρος ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ
καὶ τὰ νῦν συντεθειμένα μετὰ τοὺς ἱεροὺς κανόνας τῶν τε ἁγίων καὶ μακαρίων ἀποστόλων καὶ
τῶν τοῖς ἴχνεσιν αὐτῶν καθ’ ἑκάστην σύνοδον ἀκολουθησάντων ὁσίων πατέρων μετεγράφη
ἐκ τῶν σποράδην κειμένων καὶ ἐκφωνηθεισῶν ὑπὸ τοῦ τῆς θείας λήξεως Ἰουστινιανοῦ μετὰ
τὸν κώδικα θείων νεαρῶν διατάξεων, αἵτινες οὐ μόνον τοῖς τῶν ὀρθοδόξων ἡμῶν πατέρων
κανόσιν ἀκολουθοῦσιν, ἀλλὰ γὰρ καὶ τὴν ἐκ βασιλικῆς ἰσχύος αὐθεντίαν χαρίζονται μετὰ
προσθήκης ἐννόμου τε καὶ θεαρέστου τὸ συμφέρον πάσῃ τῇ ἀνθρωπίνῃ κτίσει θεομιμήτως
περισκοποῦσαι.

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   195

Der Autor sagt sehr viel über die kaiserliche Gesetzgebung, die er anhängt. Uner-
klärt bleibt übrigens die Angabe über Synoden und Väter, weil man hier an eine
Sammlung der Kanones denken kann. Ich entnehme seiner Angabe über die Rei-
henfolge, dass es eine Reihenfolge der Normen ist. Denn der Synagoga L titulo­
rum folgte ja ursprünglich nicht in einem zweiten Teil die Kanonessammlung,
sondern die Kanones befanden sich ausgeschrieben bei den 50 Titeln im syste-
matischen Teil.
Weiterhin hält der Autor fest, dass der Kaiser „den orthodoxen“ Vätern folgt
und es keine Devianz gibt. Er vermerkt, dass der Kaiser durch seine Gesetze die
Angaben über kirchliche Angelegenheiten erweitert. Damit habe er die „Väter“
bestätigt. Das Erweitern besteht wohl darin, dass es zusätzlich zu den Kanones
eben auch Gesetze gibt, die die Kirche ins Reichsrecht einbinden.54 Ich nehme
zur Erläuterung die Praescriptio zu Novelle 6 (datiert ins Jahr 535) hinzu, die diese
Sammlung als Capitulum 1 aufgenommen hat. Dort erklärt der Kaiser, dass Gott
den Menschen zwei große Geschenke gegeben habe, nämlich die heilige Pries-
terschaft und das Kaiserreich. Er, der Kaiser, habe sich um die Ehre der Pries-
terschaft zu bemühen und werde dabei den Glaubenslehren und den Kanones
der Apostel und ihrer Nachfolger folgen. Was also die priesterliche Institution
angeht, so ist sie eine Aufgabe der kaiserlichen Gesetzgebung und die Norm dafür
sind die kirchlichen Kanones.

3.3 Collectio tripartita

Einverständlich wird die Collectio tripartita zum Anhang der Erstausgabe des Syn­
tagma XIV titulorum erklärt. Der Text der Sammlung ist ziemlich gut erforscht;
die Edition, die Nico van der Wal und Bernardus H. Stolte besorgt haben (Gronin-
gen 1994),55 bietet (fast) alle Materialien zum weiteren Studium. Der Prolog 1, der
zum Syntagma XIV titulorum gehört, macht Angaben, die diesem Anhang in zwei
Punkten56 entsprechen, nämlich dass es Zusammenfassungen der kaiserlichen
Verordnungen und nicht Volltexte seien, und dass auch von den „Interpretati-

54 Einen Eindruck von dem, was in den Nomocanon L titulorum aus der Collectio LXXXVII capi­
tulorum aufgenommen und welchen Titeln es zugeordnet ist, vermittelt eine tabellarische Über-
sicht bei V. Beneševič, Sinagogá v 50 titulov (wie Anm. 53), 293–312. Vgl. zum Nomocanon XIV
titulorum bei V. Beneševič, Kanoničeskij Sbornik (wie Anm. 45), 221–230. Wir brauchen eine text-
kritische Edition!
55 N. van der Wal/B. H. Stolte, Collectio Tripartita. Justinian on Religion and Ecclesiastical Af-
fairs, Groningen 1994.
56 Siehe Wal/Stolte (wie Anm. 55), XVII.

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196   Ekkehard Mühlenberg

onen der klassischen Rechtsgelehrten“57 Zusammenfassungen gemacht wurden


(d.  h. aus den Digesten). In Prologus 1 wird im letzten Absatz gesagt (Übersetzung
von Zachariä, meine Ergänzungen kursiv)58:

Wo ich übrigens die weltlichen Gesetze für diese kanonischen Schriften nützlich gefunden
habe, habe ich kurze Abschnitte der Ersteren den verwandten Kapiteln der Letzteren in
einem gesonderten Theile des gegenwärtigen Buches hinzugefügt, indem ich eine kurze
Sammlung dessen gemacht habe, was sich theils in den kaiserlichen Verordnungen, theils
in den Schriften der Rechtsgelehrten auf die Ordnung der kirchlichen Angelegenheiten
bezieht, um diese einerseits ins Gedächtnis zu rufen und andererseits den Lesern eine voll­
kommene Nachforschung zu ermöglichen.59

Faktisch hat die Collectio tripartita drei Teile, woher die herkömmliche Bezeich-
nung kommt. In Teil 1 sind Summarien aus den ersten 13 Titeln des Buches 1 des
Codex Iustinianus gesammelt; die Quelle soll eine frühe Summe des Codex sein.
Teil 2 sind Fragmente aus den Digesten und aus der Institutio Justinians. Auch
hier wird eine Quelle angenommen, über deren Autor gibt es Vermutungen.60
Teil 3 ist die Übernahme von Novellen aus dem Novellensyntagma des Athana-
sius (abgeschlossen kurz nach dem Jahr 572). Wohl später angefügt sind vier
Novellen (datiert 612 und die letzte 629) von Kaiser Heraclius; da die erste Novelle
in den Nomocanon XIV titulorum bei Titel 1 cap. 30 aufgenommen ist, nimmt man
an, dass dieses Werk um 630 n. Chr. abgeschlossen wurde. Wie der Autor seine
Texte die Kirche betreffend ausgesucht hat – und wie es im Nomocanon XIV ein-
gesetzt und ergänzt wurde –, bleibt eine zukünftige Aufgabe. Immerhin weisen
die Groninger Editoren darauf hin, dass zum Thema „orthodoxer Glaube“ vier

57 Wal/Stolte (wie Anm. 55), XVII: „τῶν σοφῶν ἑρμηνείαι, ‚the interpretations of classical ju-
rists’“.
58 Siehe meine Praefatio in GNO 3,5 (wie Anm. 1), XXXVII. Die Teilübersetzung bei Zachariae
von Lingenthal (wie Anm. 46), 619.
59 Syntagma XIV titulorum, Prologus 1 (4,25–39 B.): Εἴ που δὲ χρειώδη πρὸς τὰς τοιαύτας
κανονικὰς συγγραφὰς τὴν πολιτικὴν νομοθεσίαν ὐπείληφα, ταύτης βραχέα τε καὶ συντετμημένα
τοῖς συγγενέσι κεφαλαίοις προσήρμοσα ἐν ἰδιάζοντι μέρει τῆσδε τῆς βίβλου τῶν εἰς
ἐκκλησιαστικὴν ἀνηκόντων εὐταξίαν ἔν τε τοῖς βασιλικοῖς θεσπίσμασιν ἔν τε ταῖς τῶν σοφῶν
ἑρμηνείαις, σύντομον ἐν συναγωγῇ ποιησάμενος ἔκθεσιν, ἅμα μὲν εἰς ἀνάμνησιν ἅμα δὲ πρὸς
τελείαν αὐτῶν ἀνάγων τοὺς ἐντυγχάνοντας ἔρευναν. Zu meiner Abweichung von Wal/Stolte vgl.
meine Praefatio in GNO 3,5 (wie Anm. 1), XXXVI–XXXVIII.
60 Vgl. B. H. Stolte, The Digest Summa of the Anonymus and the Collectio Tripartita, in: Sub-
seciva Groningana 2 (1985), 47–58; zu Athanasius vgl. D. Simon/S. Troianos (Hgg.), Das Novel-
lensyntagma des Athanasios von Emesa, Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte 16,
Frankfurt am Main 1989.

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   197

Konstitutionen aus dem Codex voll ausgeschrieben sind, während es sonst nur
Summarien sind; das sei das Werk des Autors und nicht seiner Vorlage.61

4 Gregors von Nyssa Epistula canonica im


Nomocanon XIV titulorum
Dieses Werk ist um 630 n. Chr. entstanden, auf jeden Fall vor dem Trullanum.
Der Nomocanon XIV titulorum ist in der Edition von I. B. Pitra, Iuris Ecclesias-
tici Graecorum Historia et Monumenta II, Rom 1868 (Nachdruck 1963), 458–637,
gedruckt. Es sind zwar eine Unzahl von Handschriften (Pitra nennt 92 [442–443])
benutzt und Varianten verzeichnet, aber nach den Untersuchungen von Vladi-
mir N. Beneševič wird man nur sehr bedingt mit diesem Text arbeiten können.
Ich habe den Codex Oxoniensis Laudianus graecus 39 (10. Jh.)62 zur Kontrolle
eingesehen. Immerhin darf festgestellt werden, dass sowohl die Titel wie auch
die Capitula mit dem Repertorium der Kanones einigermaßen stabil aus dem
vorausgehenden Syntagma übernommen sind. Ähnliches gilt von der Überlie-
ferung der Gesetze im Nomocanon, die hinzugefügt wurden und in Summarien
mit Herkunftsort angeführt werden. Für die überlieferungsgeschichtliche Einord-
nung sind allerdings die Details der Differenzen wichtig. Man muss aus meinen
Angaben in Teil 3 entnehmen, was die Interessen an den entsprechenden Geset-
zen zu den Themen der Kanones gewesen sein könnten.
Einen Einstieg bietet der Anfang mit Titel 1. Nachdem in Capitulum 1 der
orthodoxe Glaube bestimmt wurde, folgt in cap. 2: „Welche Kanones gültig sein
sollen“ (Πόσους δεῖ κρατεῖν κανόνας [460 P.]). Die alte Antwort des Syntagma XIV
titulorum lautet: Alle Kanones der Vätersynoden, angegeben durch Chalcedon,
can. 1, und Karthago, can. 1. Nun die nomokanonische Ergänzung aus dem
Reichsrecht (ich setze jeden Satz ab und ergänze in Klammern die Daten):

Die 3. Konstitution (Novelle 131,1; 545) des 2. Titels der Novellen lässt die Kanones der vier
Synoden und ihre Lehrbestimmungen gültig sein wie die Heilige Schrift.

In dem ersten Buch des Codex Titel 3 Konstitution 44 (530) und in den Novellen Titel 1 Kon-
stitution 1 (Novelle 6; 535) und 4 (Novelle 83; 539) heißt es einerseits, dass die Kanones wie
zivile Gesetze gelten, andererseits dass die Gesetze den Kanones folgen.

61 Wal/Stolte (wie Anm. 55), 16. Einen Eindruck von den Übernahmen vermittelt V. Beneševič,
Kanoničeskij Sbornik (wie Anm. 45), 208–209.
62 Zu diesem Codex vgl. V. Beneševič, Kanoničeskij Sbornik (wie Anm. 45), 177–188.

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198   Ekkehard Mühlenberg

Und der Codex Buch I Titel 2 Konstitution 12 (451) sagt, dass alle Gesetzesausführungen, die
den Kanones zuwiderlaufen, ungültig sind.63

Die Angaben finden sich alle in Collectio tripartita, die Formulierungen sind von
dort adaptiert, und die Novellen sind nach dieser Sammlung indiziert. Festge-
stellt wird also, dass die Kanones auch im Reichsrecht normativ sind und reichs-
rechtliche Autorität besitzen. Aus dem Kontext verstehe ich, dass die Kanones
reichsrechtlich geschützt und nicht vom Kaiser antastbar sind. Ich lese nicht
heraus, dass den Kanones erst durch das Reichsrecht Gültigkeit zukommt. Ein
Konflikt über das Verhältnis zur kaiserlichen Gesetzgebung kam erst unter dem
Patriarchen Photius und der makedonischen Herrschaft auf.64
Titel 1 cap. 4: „Kanones werden nicht von einem einzelnen Bischof festge-
setzt, sondern von deren Gesamtheit.“ (Ὅτι οὐχ ὑφʼ ἑνὸς ἐπισκόπου, ἀλλʼ ὑπὸ τῆς
κοινότητος οἱ κανόνες ἐκτίθενται [462 P.]). Dazu werden die Bemerkungen des
Basilius im 2. kanonischen Brief an Amphilochius (Epistula 199 = Epistulae cano­
nicae, can. 47) und Gregors von Nyssa in Kanon 6 angegeben. Bemerkenswert
ist, dass dieses Capitulum in das Syntagma XIV titulorum aufgenommen wurde.
Der Autor von Prolog 1 hatte ausdrücklich auf die Problematik hingewiesen, als
er rechtfertigte, auch Väterbriefe in seine Sammlung einzuschließen; er hatte die
Väterbriefe als Erklärungen zu den Synodalkanones qualifiziert, aber sie könnten
auch Anstoß für neue Synodalbeschlüsse geben. Eine kaiserliche Gesetzgebung
zu diesem Capitulum ist nicht vermerkt.
Im Zusammenhang kirchlicher Verwaltungsangelegenheiten kommt Gregors
kanonischer Brief nur an einer Stelle vor, wie oben in Abschnitt 2.3 dargelegt.
Zur Befugnis des Priesters, Strafen zu vergrößern oder zu verringern (Titel 9,39),
werden viele Kanones angeführt, vor allem von der Synode Ankyra – vom Vergrö-
ßern der kanonischen Bußzeit ist nirgends die Rede. Basilius hatte im Abschluss
seines 3. kanonischen Briefes (Epistula 217 = Epistulae canonicae, can. 84) gesagt,
dass die kanonische Bußzeit nicht das Hauptkriterium sei, sondern die Art der
Reue. Gregor formuliert am Schluss ähnlich: Man solle nicht meinen, dass die
Zeit die Heilung gewähre; es sei vielmehr die Sinnesänderung zu beachten.65 Die

63 Nomocanon XIV titulorum (460 P.): Ὁ νόμος. Ἡ γ΄ διάταξις τοῦ β΄ τίτ. τῶν νεαρῶν τοὺς τῶν
ἑπτα συνόδων κανόνας θέλει κρατεῖν καὶ τὰ δόγματα αὐτῶν ὡς τὰς θείας γραφάς· ἐν δὲ τῷ α΄
βιβλίῳ τοῦ κώδικος τίτ. γ΄ διατάξει μδ, καὶ τῇ α΄ καὶ β΄ διατάξει τοῦ α΄ τίτλου τῶν νεαρῶν, πῆ μὲν
ὅτι οἱ κανόνες ὡς νόμοι κρατοῦσι, πῆ δὲ ὅτι τοῖς κανόσιν οἱ νόμοι ἀκολουθοῦσι· καὶ βιβλ. α΄ τίτ. β΄
διατάξει ιβ΄, ὅτι οἱ τοῖς κανόσιν ἐναντιούμενοι πραγματικοὶ τύποι ἄκυροί εἰσιν.
64 Vgl. A. Schminck, Studien zu mittelbyzantinischen Rechtsbüchern (FBRG 13), Frankfurt/M.
1986, Kapitel 1.
65 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 8 (12,10–14 M.).

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   199

Gesetze, soweit sie sich nur auf diesen Punkt beziehen, sind nur zwei. Ich zitiere
den Satz aus dem Nomocanon 9,39:

Die 34. Konstitution aus Buch I des Codex Titel 4 und die 2. Konstitution aus Titel 1 der
Novellen hat dem Bischof die Befugnis gegeben, die Bußzeit zu verringern und den Kleriker
vor Ableistung der Bußzeit wieder in sein Amt einzusetzen, wenn er die Reue eines Kleri-
kers, der Würfel gespielt hat oder ins Theater gegangen ist, abwägt. Diese Befugnis kommt
nur den Bischöfen zu.66

Danach wird dargelegt, wie die Gesetze den Ermessensspielraum für weltliche
Richter bestimmen. In den angeführten Konstitutionen nennt die Stelle aus dem
Codex nur die Philanthropie, während die Novelle 123,10 „Befugnis“ (ἄδεια)
explizit sagt. Hier ist aus einem spezifischen Fall ein allgemeiner Rechtsgrund-
satz gemacht. Der Passus über die „Befugnis“ und Freiheit des Bischofs steht
übrigens nicht in der Collectio tripartita, auch nicht in seiner Quelle, dem Novel-
lensyntagma des Athanasius. Der Nomocanon hat also seine Information neu
gefunden; vielleicht hatte es Diskussion über diese Befugnis gegeben.
In Titel 13 sind die christlichen Laien das Thema, und Capitulum 5 führt
die Kanones zu Sexualvergehen an. Fast ausschließlich wird Basilius genannt
(15 Kanones), dann Gregor von Nyssa mit Kanon 3. Die entsprechende Gesetzge-
bung ist umfangreich zusammengestellt (in der Ausgabe von Pitra [wie Anm. 44]
616–619). Es beginnt mit der einfachen Feststellung:

Über Schändung und Ehebruch und homosexuelle Akte bestimmt das Gesetz im Codex
Buch IX Titel 9 und in den Digesten 48,5 die Todesstrafe für diese Vergehen. Dort ist gesagt,
dass Ehebruch nicht nur bei Schändung der gesetzmäßigen Ehefrau bestraft wird, sondern
auch bei verbotener Ehe, bei Verlobung oder Konkubinat.67

Die genannten Gesetze sind jeweils unter der Rubrik: Lex Iulia (de adulteriis) mit
ihren vielfältigen Auslegungen und Wiederaufnahmen zusammengefasst. Es
springt in die Augen, dass die kirchlichen Kanones milder sind, wenn jemand
sich zur Buße meldet oder angezeigt wird. Ebenfalls auffällig ist der folgende

66 Nomocanon XIV titulorum 9,39 (576 P.): Ἡ δὲ λδ΄ διάταξ. τοῦ δ΄ τίτ. τοῦ α΄ βιβλίου τοῦ κώδικος,
καὶ ἡ β΄ διάταξ. τοῦ α΄ τίτ. τῶν νεαρῶν ἄδειαν τῷ ἐπισκόπῳ δέδοκε θεωροῦντι μετάνοιαν τοῦ
κυβεύσαντος κληρικοῦ ἢ θέαις παρεμβαλόντος μειοῦν τὸ ἐπιτίμιον, καὶ πρὸ συμπληρώσεος τοῦ
ὁρισθέντος χρόνον ἀποκαθιστᾶν αὐτὸν τῇ θείᾳ λειτουργίᾳ. Τοῦτο δὲ περὶ ἐπισκόπων ἰδικόν ἐστιν·
67 Nomocanon XIV titulorum 13,5 (616 P.): Περὶ φθορᾶς καὶ μοιχείας καὶ ἀῤῥενοκοιτίας διαλαμβάνει
ὁ νόμος βιβλίῳ θ΄ τοῦ κώδικος τίτ. θ΄ καὶ βιβλίῳ μη΄ τίτ. ε΄, κεφαλικὴν τοῖς ταῦτα πλημμελοῦσιν
ἐπάγων τιμωρίαν· ἔνθα εἴρηται ὅτι τὸ μοιχικὸν οὐ μόνον ἐπὶ φθορᾷ νομίμου γαμετῆς κινεῖται,
ἀλλὰ καὶ ἐπὶ ἀσυστάτου καὶ ἀθεμίτου γάμου καὶ μνηστείας καὶ παλλακισμοῦ.

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200   Ekkehard Mühlenberg

Abschnitt eingeleitet: „Die Unzucht wird im öffentlichen Recht nicht empfoh-


len, aber auch nicht verboten.“ (Ἥ μέν τοι πορνεία οὐκ ἐπαινεῖται μὲν παρὰ τῷ
πολιτικῷ νόμῳ, οὐκ ἀπηγόρευται δέ [617 P.]). Dazu werden Ausführungen aus
Schenkungs- und Erbgesetzen in den Digesten angegeben, welche Prostituierte
betreffen. Interessant ist das Engagement des Verfassers in der sprachlichen For-
mulierung über den Konkubinat, zu dem sich der dritte Abschnitt äußert: „Der
Konkubinat gilt vor dem Gesetz, und wir können ohne Gesetzesverstoß eine
nichteheliche Lebensgefährtin haben“ (Ὅ μέν τοι παλλακισμὸς νόμιμός ἐστι,
κἀκείνας ἔχειν δυνάμεθα παλλακὰς ἄνευ ἐγκλήματος [617 P.]), außer den vom
Gesetz verbotenen Verbindungen. Es wird noch eins draufgesetzt: „Auch unsere
eigene Sklavin können wir als nichteheliche Lebensgefährtin haben“ (Καὶ δούλας
δὲ ἰδίας δυνάμεθα παλλακεύεσθαι [618 P.]), betrifft natürlich in beiden Fällen nur
nichtverheiratete Personen.
Zu Titel 13,20 (in der Ausgabe von Pitra [wie Anm. 44] 625–626) über verschie-
dene Formen der Apostasie werden vor allem Kanones der Synode Ankyra und
der ganze kanonische Brief des alexandrinischen Bischofs Petrus aufgezählt. Für
das Gesetz wird auf die Ausführungen bei Titel 9,25 verwiesen, wo alles gesam-
melt ist, was Kleriker angeht, aber darüber hinaus gültig sein soll. Dort finden
sich mehrere Angaben, die auch in der Collectio tripartita stehen.
In derselben Weise wird über „Diebe, Grabschänder, Räuber und das Sakrileg“
verfahren (Titel 13,23: Περὶ κλεπτῶν καὶ τυμβωρύχων καὶ λῃστῶν καὶ ἱεροσύλων
[628 P.]). Nur zwei Kanones des Basilius gibt es neben den drei Kanones (can. 6;
7; 8) Gregors. Gregor hatte zu Recht geschrieben, dass die Heilung des leiden-
schaftlichen Seelenteils von den Vätern nicht sorgfältig genug bedacht worden
sei – abgesehen von Mord.68 Das Gesetz, so begnügt sich der Nomocanon, sei
zu lesen bei Titel 9,27. Dort gibt es Notate zu Diebstahl und zu Grabschändung.
Bis auf eine Stelle aus dem Codex kommt keine der Angaben aus der Collectio
tripartita.
In Titel 13,30 steht zum letzten Mal eine Gesetzgebung. Die Capitula 31–40
und alle sieben Capitula von Titel 14 bleiben ohne Gesetze. In Titel 14,1 steht
Gregor von Nyssa zur Habsucht alleine (can. 6), und er setzte keinen Kanon
auf. Daran scheint sich bis zu den Zeiten des Kommentators Balsamon (ca. 1180
n. Chr.) nichts geändert zu haben. Zur Tierkopulation (Titel 14,2) treten zu Gregor
(can. 3) die frühe Synode Ankyra (can. 16 und 17) und Basilius (can. 63).
Gregor hatte geschrieben, dass die Väter den Mord explizit mit Bußfrist beleg-
ten (Epistula canonica 4) und der Nomocanon (wie auch das Syntagma) geben
ihm Recht (Titel 14,3) (Apostolischer Kanon 65 [66], Ankyra und Basilius).

68 Gregor von Nyssa, Epistula canonica 4 (7,18–24 M.).

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   201

Zu Gregors Kanon 5 weiß auch der Nomocanon wie schon das Syntagma
(Titel 14,4) nur Nicäa (can. 13) zu nennen, so dass die Gabe der Eucharistie an
lebenslang ausgeschlossene Büßer in deren Sterbestunde schon immer gegeben
wurde und dass sie bei Nichtsterben trotz des Empfanges der Eucharistie wieder
in den Büßerstatus versetzt werden.

5 Schlussbetrachtung
Gregor von Nyssa wehrt sich in einer Predigt gegen solche, die gegen seine Kir-
chenzucht aufbegehrten, und beschreibt sein eigenes Verhalten.69 Er hatte einige
getadelt, andere ausgeschlossen, weil sie sich den Ausschweifungen des heid-
nischen Neujahrsfestes hingegeben hatten. Offensichtlich waren die Reaktionen
heftig. Er selber macht das Psalmwort gegen die Empörten geltend: „Seid nicht
wie Rosse und Maultiere, die keinen Verstand haben; ihnen muss man Zaum und
Zügel ins Maul legen“ (Ps 31,9 LXX).70 Und mit platonischer Metapher (Phaedrus
254d) erläutert er:

Rase nicht in die Zügel beißend in den Abgrund, sondern biege deinen Nacken um und lassʼ
dich von der Hand des Reiters auf den Weg der Rettung lenken.71
Wir schlagen dich nicht wie einen Haussklaven, sondern wir erziehen dich wie einen
Freien […]. Durch Tadel wie gegenüber einem Freien, der sich verfehlt hat, fügen wir dir
Schmerz zu. Aber wir schinden nicht den Körper, sondern quälen die Seele. […] Wie sollten
wir dich sonst erziehen?72

69 Gregor von Nyssa, Adversus eos qui castigationes aegre ferunt. Die Predigt ist datierbar auf
den 2. Januar 382, so nach Daniélou bei J. Bernardi, La prédication des pères cappadociens. Le
prédicateur et son auditoire (Publications de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines de
l’Université de Montpellier 30), Paris 1968, 270–271.
70 Gregor von Nyssa, Adversus eos qui castigationes aegre ferunt (Gregorii Nysseni Opera = GNO
10,2, hg. v. D. Teske, Leiden 1996, 328,17–19): Μὴ γίνεσθε, φησίν, ὡς ἵππος καὶ ἡμίονος, οἷς οὐκ
ἔστι σύνεσις· ἐν κημῷ καὶ χαλινῷ τὰς σιαγόνας αὐτῶν ἄγξαι.
71 Gregor von Nyssa, Adversus eos qui castigationes aegre ferunt (328,24–329,2 T.): μὴ τὸν
χαλινὸν ἐνδακὼν ὁρμήσῃς ἐπὶ τὸν κρημνὸν ἢ τὸ βάραθρον, ἀλλὰ περιαχθεὶς τὸν αὐχένα τῇ χειρὶ
τοῦ ἀναβάτου ἐπὶ τὴν σῴζουσαν ὁδὸν κατευθύνθητι.
72 Gregor von Nyssa, Adversus eos qui castigationes aegre ferunt (329,20–330,2 T.): οὐ γὰρ
τύπτομέν σε ὡς οἰκέτην, ἀλλὰ παιδεύομεν ὡς ἐλεύθερον· […] διὰ τοῦτο ταῖς ἐλευθερίοις
ἐπιτιμήσεσι λυποῦμέν σε πλημμελοῦντα οὐ σῶμα ξαίνοντες ἀλλὰ ψυχὴν ἀνιῶντες. […] πῶς σε
παιδεύσομεν;

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202   Ekkehard Mühlenberg

Wie verhält sich die schmerzliche Seelenerziehung zu körperlichen Strafen der


zivilen Gesetzgebung? Ich finde bei Gregor keine explizite Antwort, aber mir
scheint, dass er bei der Bußdisziplin die zivilen Strafen gar nicht im Blick hat,
sondern die Bußdisziplin völlig eigenständig denkt. Dann müsste ihn für seinen
Bußkatalog gar nicht interessieren, was der Nomokanon tut, nämlich zur Bekräf-
tigung der kanonischen Strafen die entsprechende Kaisergesetzgebung bei den
auch zivilen Vergehen anzuführen.
Gregor beruft sich in der genannten Predigt auf den Schlüssel, den Christus
durch Petrus den Bischöfen gab: „Wisse, dass der Befreite frei sein soll und der
Gebundene mit unsichtbaren Fesseln gebunden sein soll“ (vgl. Mt 16,19).73 Frei
ist doch, wer voll in die Eucharistiegemeinschaft aufgenommen ist. Das Binden
dagegen ist die Bußdisziplin; sie soll durch Strafen, die in Bußfristen bestehen,
zu dem Ziel der Reue führen, dass die Tatsünden wie Krankheiten der Seele aus-
gelöscht werden. Nur die Seele ist durch den Tadel betroffen. Von Vergebung der
Sünden – sie ist natürlich Gottes Tun – ist nicht die Rede. Denn Sünden sind als
Krankheiten der Seele verstanden. Sünden können vergeben werden, Krankhei-
ten müssen geheilt werden.74 Irgendwie schwebt über dem Bußvorgang die Ver-
gebung, wie es in einer rhetorischen Volte an die Katechumenen, die ihre Taufe
hinauszögern, durchscheint:

Bei der Wahl zwischen zwei Übeln ist es vorteilhafter, dass der des rettenden Taufwas-
sers Gewürdigte wieder in eine Sünde verfällt als dass man ohne diese Gnade das Leben
beendet. Denn die Fehlhandlung wird vielleicht auch der Verzeihung oder Güte für wert
erachtet werden.75

73 Gregor von Nyssa, Adversus eos qui castigationes aegre ferunt (327,26–328,1 T.): γίνωσκε ὅτι
λυθεὶς λέλυσαι καὶ δεθεὶς τοῖς ἀοράτοις δεσμοῖς κατασφίγγῃ. Origenes spricht vom Vergeben; vgl.
Holl (wie Anm. 1), 231–234 (z.  B. De oratione 28).
74 Es muss einmal festgehalten werden, dass der historische Blickwinkel von Eduard Schwarz
(wie Anm. 43), zumindest von Gregor von Nyssa her gesehen, total verfehlt ist. E. Schwartz un-
terstellt, dass Kirche wie eine Anstalt „der Gemeinde der Heiligen“ die Unwürdigen aus ihrer
Gemeinschaft ausschloss, dass die bischöfliche und metropolitane Kirche wie eine Obrigkeit
in „einem instinktiven Machtwillen“ (284) durch die Bußdisziplin auf die Unterwerfung ihrer
Mitglieder drängte und dass im Rückblick zu urteilen sei: „die Bußkanones waren nichts ande-
res mehr als eine unvollständige, versteinerte Kodifikation des kirchlichen Kriminalrechts und
schafften die Sünden so wenig aus der Kirche heraus wie ein Strafgesetzbuch die Verbrechen
aus dem Staat“ (361). Gregor war mit Gründen davon überzeugt, dass die Verfehlungen der Gläu-
bigen durch den „Tadel“ des Bischofs, der die Vorstellung der schrecklichen Höllenstrafen in
Erinnerung ruft, in der „Reue“ wie Krankheiten geheilt werden können. Eine analoge Grundvor-
stellung hat in der Geschichte der Kirche immer wieder Bußprediger beseelt.
75 Gregor von Nyssa, Adversus eos qui baptismum differunt (GNO 10,2, hg. v. H. Polack, Leiden
1996, 363,14–18): Αἱρετώτερον ἐν κακῶν ἐκλογῇ ἀξιωθέντα τινὰ τοῦ σωτηρίου λουτροῦ γενέσθαι

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 Kirchenväter und kaiserliches Recht   203

Aber Rettung ohne Wiedergeburt durch die Taufe ist ausgeschlossen.


Nach meinem Verständnis des Evangeliums ist Vergebung eine wirkungs-
mächtige Gottestat für den Menschen, der in Reue Gottes Erbarmen anruft. Aber
das vermag wohl nur der Glaubende, den Gottes Freispruch im Herzen erreicht
hat, so dass der Glaube die Sünden überdeckt.

πάλιν ἐν ἁμαρτήματι ἢ τῆς χάριτος ἀμέτοχον τελευτῆσαι τὸν βίον· τὸ μὲν γὰρ πλημμέλημα τυχὸν
καὶ συγγνώμης ἢ φιλανθρωπίας ἀξιωθήσεται. Über Buße und Vergebung vgl. meinen Aufsatz:
E. Mühlenberg, Der kanonische Brief Gregors von Nyssa und sein Ort im Bußwesen der Alten
Kirche, in: B. R. Suchla (Hg.), Von Homer bis Landino. Beiträge zur Antike und Spätantike sowie
deren Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Festgabe für Antonie Wlosok zum 80. Geburtstag,
Berlin 2011, 207–242.

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Adolf Martin Ritter
Konstantin – Theodosius – Justinian
Anmerkungen zum Bild dreier spätantiker Kaiser in der
Darstellung Hermann Dörries’

Vorbemerkung: Dass ich für meinen Beitrag zur Ehrung von Hanns Christof
Brennecke, dem Siebzigjährigen, dies Thema auswählte, hat nicht nur mit einem
klar erkennbaren Schwerpunkt seiner Forschungsinteressen zu tun.1 Vielmehr
kehre ich damit gewissermaßen auch zu den eigenen wissenschaftlichen Anfän-
gen zurück. Als ich nämlich gegen Ende meines Studiums nach Göttingen über-
wechselte, um dort das 1. Theologische Examen anzusteuern, hatte ich auch ein
Thema für eine patristische Dissertation im Gepäck, mit dem ich jedoch je länger,
desto weniger glücklich wurde. Es war nur natürlich, dass ich am neuen Studi-
enort alsbald die Nähe des dortigen Patristikers, Hermann Dörries (1895–1977),
suchte. Wie in den 50er Jahren (an den von mir besuchten Universitäten zumin-
dest) üblich, ging es in dem Kreis, der sich um ihn sammelte, immer wieder
auch um Fragen der „Vergangenheitsbewältigung“. Dabei war die Vergangenheit
unseres „Meisters“ kein Tabu. Und er stellte sich unseren Rückfragen!2 Fiel mir
hier das Verstehen über die Generationengrenzen hinweg nicht leicht, so fas-
zinierte mich zunehmend an dem Lehrer, zu erleben, wie ihm „im besonderen
Maße die für einen Historiker so nötige Tugend der Geduld“ zu Gebote stand. „Er
hat“, so formulierte ich im Rückblick,

das Gespräch mit seinem leibhaftigen ebenso wie seinem historischen Gegenüber fortge-
setzt, wo es andere, Ungeduldigere, Selbstgewissere, längst abgebrochen hätten. Er hat das
Gespräch auch und gerade mit den Unzeitgemäßen, den Stillen, den Grüblern, Randsied-
lern: mit Eri(u)gena, Gottfried Arnold, Louis Harms und vor allem Symeon von Mesopota-
mien gesucht und geführt, auch mit denen, über die das Urteil scheinbar längst feststand,
über die die „Weltgeschichte“ scheinbar längst „Gericht“ gehalten hatte: mit Kaiser Kon­
stan­tin oder dem Luther der Bauernkriegsschriften […] So sind denn auch, meines Erach-

1 Daran wird in der Einleitung zu dieser Festschrift so eingehend erinnert, dass es weiterer Be-
lege nicht bedarf.
2 Vgl. dazu jetzt die vorbildlich umsichtige, quellengesättigte Darstellung von P. Gemeinhardt,
„Bekennende Kirche“ in Geschichte und Gegenwart. Hermann Dörries’ Erleben und Deuten des
„Kirchenkampfes“, in: I. Mager (Hg.), Überliefern – Erforschen – Weitergeben. FS für Hans Otte
zum 65. Geburtstag (JGNKG 113), Hannover 2015, 343–360. Damit, dass Dörries, wie dem Schü-
lerkreis bewusst war, die „Bekennende Kirche“ unterstützte, war in der Tat „nur ein Teil der
Geschichte erzählt“ (344).

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 Konstantin – Theodosius – Justinian   205

tens, die Ergebnisse seiner historischen Untersuchungen in ungewöhnlichem Maße voller


Überraschungen!3

Es war dieser Göttinger Lehrer, der auch dem unsicher Gewordenen ein neues
Dissertationsthema zu erwägen gab. Es lautete: „Konstantin – Theodosius – Jus-
tinian“! Dabei sollte es, erwartungsgemäß, in erster Linie um den Vergleich ihrer
Positionen zum Verhältnis „Kaiser – Kirche“ gehen. Da aber zu Konstantin binnen
weniger Jahre allein drei Buchveröffentlichungen aus seiner Feder erschienen,4
stand zu befürchten, es werde nicht ganz leicht sein, Abstand zu seiner Sicht-
weise zu gewinnen und – zu wahren. So setzte ich zunächst bei Theodosius an.
Die nähere Befassung mit dessen Edikt Cunctos populos und dem Konzil von Kon-
stantinopel 381, die nur als Einstieg gedacht war, ließ diese jedoch rasch zum
eigenen, eigentlichen Thema werden. Darüber geriet der kleinteilige Vergleich
mit den Konzeptionen der beiden anderen genannten Kaiser fürs erste aus dem
Blick. Allein, mein Interesse an der Fragestellung ist nie wieder erloschen.5
Ich gedenke nun, im Folgenden so vorzugehen, dass ich jeweils zu den drei
spätantiken Kaisern an jenes Bild anknüpfe, das die Dörriesschen Konstantinbü-

3 In meinem Nachruf auf ihn, gehalten während der Trauerfeier am 10. 11. 1977 namens der
Schülerschaft; abgedruckt in: A. M. Ritter, Charisma und Caritas. Aufsätze zur Geschichte der
Alten Kirche, hg. von A. Dörfler-Dierken u.  a., Göttingen 1993, 333–334.
4 Das Selbstzeugnis des Kaisers Konstantin (AAWG.Ph 3,34), Göttingen 1954; Konstantin der
Große (ub 29), Stuttgart 1958; Constantine and Religious Liberty (Terry Lectures), transl. by R. H.
Bainton, New Haven 1960. Letztere sind, fast zu einer Monographie ausgebaut, Jahre später,
als Eröffnungsbeitrag zu den drei Bänden seiner gesammelten Aufsätze zur Kirchengeschichte
(unter dem Titel „Wort und Stunde“), auch in Deutsch vorgelegt worden (Konstantinische Wende
und Glaubensfreiheit, in: H. Dörries [Hg.], Wort und Stunde, I. Gesammelte Studien zur Kirchen-
geschichte des vierten Jahrhunderts, Göttingen 1966, 1–117).
5 Es war daher nicht verwunderlich, dass, als Schüler und Freunde mir ein Forschungskollo-
quium anlässlich meines 65. Geburtstages auszurichten gedachten, sie als Thema „Beginn und
Ende des Konstantinischen Zeitalters“ wählten (späterer Obertitel: „Christen und Nichtchristen
in Spätantike, Neuzeit und Gegenwart“; veröffentlicht als Band VI in der Reihe „Texts and Stu-
dies in the History of Theology“ und herausgegeben von A. Dörfler-Dierken u.  a., Mandelbach-
tal 2001). Mein fortgesetztes Interesse am Thema wird ferner belegt durch die zweisprachige
Textlese „Kirche und Staat“ im Denken des frühen Christentums. Texte und Kommentare zum
Thema Religion und Politik in der Antike (TC 13), Bern 2005 sowie drei verschiedene Konstantin-
Vorträge, die ich im Jahr 2013, aus Anlass der 1700. Wiederkehr der Publikation des sog. „Mai-
länder Edikts“, in Rumänien gehalten habe; sie sind allesamt in rumänischen Sammelbänden
veröffentlicht worden; der dritte, in Sibiu/Hermannstadt gehaltene („Konstantin, Eusebius und
die Zukunft des Christentums“) ist in überarbeiteter und erweiterter Gestalt in der Festschrift für
H. Ohme (R. Flogaus/J. Wasmuth [Hgg.], Orthodoxie im Dialog [AKG 130], Berlin 2015, 293–309)
auch in Deutsch erschienen. Ich komme auf diese Publikationen gelegentlich zurück.

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206   Adolf Martin Ritter

cher aufscheinen oder doch wenigstens in Umrissen erkennen lassen, um dann –


übergangslos und lediglich exemplarisch – die aktuelle Diskussion in den Blick
zu nehmen. Denn dass in einem Aufsatz von begrenztem Umfang, zumal bei
einem so weitgesteckten Thema wie dem oben angezeigten, nichts Erschöpfendes
geboten werden kann, versteht sich wohl von selbst (darum nur „Anmerkungen“).

1 Konstantin
Am intensivsten hat sich Herrmann Dörries bekanntlich mit Leben, Werk und
Wirkung dieses ersten „christlichen Kaisers“ beschäftigt. Er hat davon ein Bild
von großer Geschlossenheit entworfen, das bis heute seinen Eindruck nicht ver-
fehlt. Es ist durch seine „Terry Lectures“ in New Haven (1960), die ihm der Freund
Roland H. Bainton (1894–1984), hochangesehener Kirchen-, besonders Reforma-
tionshistoriker an der Yale-Universität,6 vermittelte – er fungierte hierbei auch als
sein Übersetzer –, gerade auch in der englischsprachigen Welt bis heute präsent.7
Diesem Dörriesschen Konstantinbild ist es zu einem nicht geringen Teil zuzu-
schreiben, dass das in Jakob Burckhardts erstem Hauptwerk „Die Zeit Constantin’s
des Großen“8 vermittelte gegenwärtig, soweit zu sehen, unter Wissenden kaum
noch ungeteilten Beifall findet, auch wenn sich nach wie vor mancher allenfalls
zu dem Urteil aufzuschwingen vermag: „Ja, Konstantin war ein Christ, […] aber,
o Gott, was für ein Christ“! Mit diesen Worten schloss vor vielen Jahren der große
Römischrechtler und Theologe Arnold A. T. Ehrhardt (1903–1965) die Rezension

6 Verfasser u.  a. einer vielgelesenen Lutherbiographie (Here I stand. A Life of Martin Luther, Nas-
hville 1950; seither vielfach neu aufgelegt); bereits 1952 erschien bei Vandenhoeck & Ruprecht
in Göttingen eine deutsche Übersetzung, besorgt von H. Dörries, unter dem Titel: Martin Luther,
die ebenfalls zahlreiche Neuauflagen erlebte und noch immer lieferbar ist, genauso wie das ame-
rikanische Original.
7 Vgl. P. L. Leithart, Defending Constantine, Downers Grove, 2010; E. L. Smither (ed.), Rethin-
king Constantine. History, Theology, and Legacy, Cambridge 2014; in beiden Publikationen wird
die Vorlesungsreihe nicht nur zitiert, sondern auch breit rezipiert. Leithart beruft sich hierfür auf
den Rat so erstklassiger Fachleute wie T. R. Barnes und R. L. Wilkens.
8 Basel (1853) 21880 = Gesammelte Schriften 1, Darmstadt 1970 = H. Leppin u.  a. (Hgg.), Jakob
Burckhardt Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 1, München 2013; dort auch das Wichtigste
zu der Aufnahme des Buches zu Lebzeiten des Autors und den Änderungen zwischen Erst- und
Zweitauflage (vgl. 569–582). Zu einer differenzierenden Würdigung s. etwa H. Leppin, Constantin
der Große und das Christentum bei Jacob Burckhardt, in: D. Hein u.  a. (Hgg.), Historie und Leben.
Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse (FS für Lothar Gall zum 70. Geburtstag), Mün-
chen 2006, 441–451.

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 Konstantin – Theodosius – Justinian   207

eines Buches über dieses Thema.9 Dörries indes glaubte, über Gründe dafür zu
verfügen, dass sich Konstantin in mancher Hinsicht, zumal was die Freiheit der
Glaubensforderung anlangt, als der bessere Christ erwies, verglichen mit nicht
wenigen Theologen und Bischöfen seiner Zeit, selbst mit Augustin.10
Heutzutage ist in der Forschung, wenn ich recht sehe, kaum noch umstrit-
ten, was bereits Dörries klar erkannt hat, dass nämlich die sog. „Konstantinische
Wende“ zwar nur als ein sich mindestens über ein Jahrhundert hinziehender
Prozess verstanden werden kann, mit dem Kaisertum Konstantins gleichwohl
ein markanter Wechsel der „Reichsreligion“ zumindest eingeleitet war,11 wie
immer der Anteil Konstantins selbst an dieser „Wende“ zu bestimmen sein mag.

9 Es handelte sich um Dörries’ Buch „Das Selbstzeugnis des Kaisers Konstantin“; vgl. die Be-
sprechung in: GGA 1955, 100–109 (das Zitat findet sich auf der letzten Seite), und dazu, zur
Verdeutlichung von Erhardts Konstantinbild den Band II seiner Politische(n) Metaphysik von
Solon bis Augustin, Tübingen 1959, Kap. VII: Konstantin und Euseb; ferner seinen gewichtigen
Beitrag Constantin der Grosse. Religionspolitik und Gesetzgebung, in: ZSRG.R 72 (1955), 127–190.
Zu dem Rezensenten und Verfasser siehe das informative Vorwort des Freiburger Studiengenos-
sen von einst, Franz Wieacker, zu Band III, Tübingen 1969; daraus nur so viel: Der habilitierte
Römischrechtler Arnold Ehrhardt musste aus Gründen der nationalsozialistischen Rassenpoli-
tik aus Deutschland weichen, setzte das (von Lörrach aus) in Basel (bei K. Barth) begonnene
Theologiestudium in England fort und nahm nach Erlangung des PhD in Cambridge eine Tä-
tigkeit als anglikanischer Gemeindepfarrer in einem Arbeiterviertel Manchesters auf; daneben
aber blieb er der Wissenschaft, nun ausschließlich der theologisch-kirchengeschichtlichen, treu
und konnte noch bis zu seinem frühen Tod (1965) mit bedeutenden Werken aufwarten, z.  B. mit
der dreibändigen Monographie Politische Metaphysik von Solon bis Augustin, I–III, Tübingen
1959–1969. – Selbstverständlich hat Dörries die Kritik besonders an seiner Interpretation der
Rechtsquellen durch einen ausgewiesenen Fachmann wie Ehrhardt ernstgenommen und sie in
seinen späteren Veröffentlichungen zu Konstantin berücksichtigt, ohne sich jedoch in seinen
Grundannahmen beirren zu lassen. Es bedeutete ihm viel, dass er mit diesen, trotz völlig ver-
schiedenen Hintergrundes, auch einen Mann wie den Pazifisten und Quäkerfreund R. Bainton
zu überzeugen vermochte.
10 Vgl. Dörries u.  a. (wie Anm. 4), 18–45.56–63.
11 Vgl. dazu etwa meine Nachgedanken besonders zu den Begriffen „Konstantinische Wende“
und „Konstantinisches Zeitalter“ in: Christen und Nichtchristen (wie Anm. 5), 221–233, sowie
K. Piepenbrink in ihrem Beitrag zu: H. Schlange-Schöningen (Hg.), Konstantin und das Chris-
tentum, Darmstadt 2007, 245–261, unter der allerdings reichlich missverständlichen Überschrift
„Konstantin der Große – wendet sich nicht dem Christentum zu“; ferner die gehaltvolle Ein-
leitung von B. Bleckmann zur kommentierten zweisprachigen Ausgabe von Eusebs Vita Cons­
tantini (FC 83, Turnhout 2007), 7–106 (7); schließlich J. Rist, Konstantin – Gelasius – Justinian.
Überlegungen zum Verhältnis von Staat und Kirche in der Spätantike, in: id./C. Breitsameter
(Hgg.), Kirche und Staat. Geschichte und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses,
Münster/W. 2015, 29–60; sowie vor allem eine Mehrzahl von Beiträgen zur gerade erschienenen
Aufsatzsammlung (darunter mehrere Erstveröffentlichungen) von K. M. Girardet, Studien zur
Alten Geschichte der Europäer, Bonn 2016, samt der dort zitierten älteren Arbeiten desselben,

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208   Adolf Martin Ritter

Fest steht (für die meisten zumindest) ferner, dass Konstantin, während er (wie
zahlreiche andere Kaiser vor ihm12) für seine Bauvorhaben Tempel beraubte, aus-
drücklich auch den „Heiden“ Religionsfreiheit13 zugestand, am eindeutigsten
und eindrucksvollsten in seinem „Lehrbrief“ an die Bürger der östlichen Provin-
zen des Reichs im unmittelbaren Anschluss an seinen Sieg über Licinius (324),
so, wie ihn Euseb in seinem „Konstantinsleben“ (Euseb, De vita Constantini 2,48–
60) überliefert hat.14
Was aber waren die Motive der „konstantinischen Toleranz“, von der, mit
Dörries, in der Tat zu sprechen ist?15 Darüber gibt es noch immer keinen Konsens
(wenn er denn je erreichbar sein sollte16). Uns interessiert jetzt nicht länger die
„Duldung“, die den erstmals seit den Kaisern Decius und Valerian reichsweit ver-
folgten Christen im spätantiken Römischen Reich (bereits unter Gallienus, Maxen-

besonders das Buch „Die Konstantinische Wende. Voraussetzungen und geistige Grundlagen der
Religionspolitik Konstantins des Großen“, Darmstadt 2006.
12 Wie hätte sonst der Christ Arnobius, Zeitgenosse der diokletianischen Christenverfolgung in
Adversus nationes 1,64,2 (CSLP, 60–61 Marchesi [zitiert bei S. Rebenich, Vom dreizehnten Gott
zum dreizehnten Apostel? Der tote Kaiser in der Spätantike, in: ZAC 4 (2000), 300–324 (302)])
wagen können zu behaupten: „Eure Tyrannen und Könige, sobald sie die Furcht vor den Göttern
hintangesetzt haben, plündern die Weihegaben und zerstören die Tempel […] (qui postposito
deorum metu donaria spoliant populanturque templorum […])“.
13 Vgl. dazu A. M. Ritter, Kaiser Konstantin und das Problem der Toleranz in historischer und
theologischer Sicht, in: M. Simion/C. Sonea (Hgg.), Faith and Politics: Constantine and Helen –
Promotors and Defenders of the Freedom of Faith, Cambridge 2014 (in Wirklichkeit erst 2016);
der Beitrag soll gleichfalls erscheinen in: G.-V. Gârdan/A. Marinescu (Hgg.), Istorie și Teologie. In
honorem Pr. Prof. univ. dr. Ioan-Vasile Leb, Cluj-Napoca 2014 (in Wirklichkeit 2016).
14 Zitiert sei daraus nur eine besonders aussagekräftige Passage De vita Constantini 2,56 (GCS
Eusebius 1,1, 70,32–71,8 Winkelmann): „Es ist mein Wunsch, dass dein Volk [Konstantins Schrei­
ben ist gegen Ende in Gebetsform gehalten] um des allgemeinen Besten des Erdkreises und aller
Menschen willen in Frieden leben und ohne Spaltung bleiben möge. Gleichen Frieden und glei-
che Ruhe wie die Gläubigen (οἱ πιστεύοντες) sollen aber auch die Irrenden erhalten und freudig
genießen. Diese Wonne (γλυκύτης) der Gemeinschaft nämlich wird auch diese zu bessern und
auf den rechten Weg zu bringen vermögen. Keiner soll den andern belästigen; wie sein Herz be-
gehrt, so soll es ein jeder haben und halten. Die Gutgesinnten (τοὺς δ᾿ εὖ φρονοῦντας) seien sich
dessen freilich gewiss, dass nur diejenigen heilig und rein leben, die du selbst rufst, in deinen
heiligen Gesetzen zu ruhen. Die sich dem jedoch entziehen, sollen die Tempel ihres Trugs nach
ihrem Willen behalten; wir (aber) besitzen das lichte Haus deiner Wahrheit, das du naturent-
sprechend (κατὰ φύσιν) verliehen. Diesen (Besitz) erflehen wir auch für jene, damit auch sie die
innige Freude erfahren mögen, wie sie aus der allgemeinen Eintracht erwächst.“
15 Anders jetzt wiederum M. Wallraff, Sonnenkönig der Spätantike. Die Religionspolitik Kons-
tantins des Großen, Freiburg 2013.
16 Vgl. Bleckmann (wie Anm. 11), 8.

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 Konstantin – Theodosius – Justinian   209

tius und Galerius und dann erst recht unter Konstantin17) zugute kam. Vielmehr
ist jetzt die Frage, wie es um die Toleranz gegenüber dem Heidentum bestellt sei,
gewährt durch einen Kaiser, der sich zunehmend als Christen zu erkennen gab.
Das ist ja erst der Ernstfall der Toleranz, nicht, wenn sie von Machtlosen18 einge-
fordert, sondern wenn sie von denen gewährt wird, die auch die Macht haben,
sie zu versagen!
Konstantins zunehmend eindeutiges Bekenntnis zum Christentum19 setze ich
hier, wiederum mit Dörries, als unstrittig voraus, wenngleich ich weiß, dass es noch
immer vereinzelt angezweifelt wird. Jetzt aber geht es um seine Haltung gegenüber
dem Heidentum. Diese spricht sich in voller Deutlichkeit nicht nur in literarischen,
sondern auch in nichtliterarischen Quellen aus. Als Beispiel für erstere diene das
erwähnte ausführliche Lehrschreiben über die Toleranz, mit dem sich der Kaiser
324 geradezu wie ein christlicher Missionar an die Bewohner der östlichen Reich-
sprovinzen wendet, geschrieben nach seinem Sieg über Licinius. Man bekommt
beim Lesen immer mehr das Gefühl, als widersetze sich Konstantin insgeheim
dem (wohl auch von Christen in seiner Umgebung vorgetragenen) Wunsch, jetzt –
nach dem Gewinn der Alleinherrschaft – das Christentum zur „Staatsreligion“ zu
machen.20 Aufschlussreich ist besonders der in Gebetsform gehaltene Schluss-
teil (ab Kap. 55), in dem Konstantin deutlich macht, auf wessen Seite er steht:

17 Vgl. dazu außer meinem Klausenburger Vortrag (wie Anm. 13) besonders K. M. Girardet, Ver-
folgt – geduldet – anerkannt. Die Situation der Christen in diokletianisch-konstantinischer Zeit,
in: RQ 108 (2014), 171–191; wiederabgedruckt in: id., Studien (wie Anm. 11), 393–419.
18 Wie z.  B. Tertullian und Laktanz (s. Anm. 37).
19 Vgl. die Testimoniensammlung von K. M. Girardet in seinem Aufsatz „Ein spätantiker ‚Son-
nenkönig‘ als Christ (statt einer Rezension)“, in: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 16
(2013), 371–381; wieder abgedruckt in: id., Studien (wie Anm. 11), 421–433.
20 In seiner (von Dörries wie von Girardet für echt gehaltenen und von letzterem auf Karfreitag 314
datierten sowie in Konstantins ursprünglichem Regierungssitz Trier lokalisierten) „Rede an die Ver-
sammlung der Heiligen“ (Oratio ad sanctorum coetum) (vgl. H. Dörries, [wie Anm. 4], 129–161; Eu-
sebius Caesariensis, Konstantins Rede an die Versammlung der Heiligen, übersetzt von K. M. Girar-
det, Freiburg 2013 [FC 55]) ist ausdrücklich nur von der Langmut Gottes und seines C ­ hristus mit
des Menschen Torheit und Sündhaftigkeit, nicht von einem Akt kaiserlicher Großmut die Rede,
wenn es in 11,7 heißt: „Geht also hin, ihr Gottlosen, – es wird euch ja zugestanden, weil eure Ver-
fehlung ungeahndet bleibt (ἐφεῖται γὰρ ὑμῖν διὰ τὴν ἀτιμώρητον ἁμαρτίαν) – zu den Tieropfern,
Schmäusen, Fest- und Trinkgelagen, indem ihr euch unter Vortäuschung von Religionsausübung
(προσποιούμενοι μὲν θρησκείαν) voll Eifer Lüsten und Zügellosigkeiten hingebt […]“ (Euseb, Ora­
tio ad sanctorum coetum 11,7 [GCS 7, 167,29–32 Heikel]). Aber es ist in der Tat naheliegend, einen
Zusammenhang zwischen beidem, göttlicher und kaiserlicher „Toleranz“ (ἔφεσις), herzustellen.
Aus gutem Grund hat freilich Dörries „– in vielleicht übergroßer Vorsicht –“ dafür plädiert, die
fragliche „Rede“ „nur als subsidiäre Quelle“ zu verwenden „und nur soweit zu Worte kommen“
zu lassen, „wie ihre Aussagen durch andere Zeugen bestätigt werden“ (Dörries [wie Anm. 4], 161).

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210   Adolf Martin Ritter

der des „Gottesvolkes“ der Christen, dessen Leben in Frieden und Eintracht auch
dem gesamten Erdkreis zugute komme. In etwas zornigem, frostigem Ton wird
allerdings auch das Toleranzversprechen der Mailänder Vereinbarung gegenüber
den Nichtchristen, speziell den Heiden,21 wiederholt. Auch sie sollen sich des
gleichen Friedens erfreuen wie die Gläubigen, in der Erwartung, dass das ihnen
zum Ansporn diene, sich zu „bessern“ (ἐπανορθώσασθαι) und auf „den rechten
Weg“ (πρὸς τὴν εὐθεῖαν ἀγαγεῖν ὁδὸν) zu begeben. Sie sollen freilich in jedem
Fall, wenn sie es denn wünschen, „die Tempel ihres Trugs“ (τὰ τῆς ψευδολογίας
τεμένη) behalten, während sich der Kaiser denen zugehörig weiß, die „das lichte
Haus der Wahrheit“ (τὸν φαιδρότατον τῆς σῆς ἀληθείας οἶκον) bewohnen.22
Und dabei blieb es. Konstantin wich von dieser Linie nie mehr ab. Er
schwächte wohl das Heidentum, indem er beispielsweise Tempel ihrer Statuen
berauben ließ, um seine neue Hauptstadt Konstantinopel damit zu verschönern,
indem er als „unsittlich“ betrachtete Riten oder als politisch gefährlich verdäch-
tige Praktiken wie die private Haruspizien (Vogelschau) abzustellen befahl.23
Doch die allgemeine Struktur der überlieferten Religion blieb davon unberührt.
Ja, er schuf ganz bewusst für die heidnische Mehrheit unter seinen Untertanen
Identifikationsmöglichkeiten mit dem „neuen Reich“ und seinem Kaiser als
lebendiger Brücke zwischen irdischer und himmlischer Welt.24
Das zeigt sehr schön eine zweite, diesmal nichtliterarische Quelle, eine
Inschrift (CIL XI 5265/ILS 705),25 1733 in Spello im italienischen Umbrien gefun-

21 S. Laktanz, De mortibus persecutorum 48,2–3; vgl. Euseb, Historia ecclesiastica 10,5,2–4.


22 Vgl. De vita Constantini 2,56 (70,32–71,8 W.).
23 Vgl. K.-L. Noethlichs, Die gesetzgeberischen Maßnahmen der christlichen Kaiser des vierten
Jahrhunderts gegen Häretiker, Heiden und Juden (Phil.Diss. Köln 1971); id., Heidenverfolgung,
in: RAC 13 (1986), 1149–1190 (1151–1155).
24 Es trifft es m.  E. nicht ganz, wenn Girardet seine Überlegungen zum kaiserlichen Reskript an
die Hispeller (wie Anm. 25–28) bündelt in dem Satz: „Der Kaiser ist kein Gott. Er ist ein Herrscher,
für den man beten kann – aber nicht jemand, zu dem man beten kann“ (K. M. Girardet, Das Ver-
bot von „betrügerischen Machenschaften“ beim Kaiserkult in Hispellum [CIL 11, 5265/ILS 705],
zuerst erschienen in: ZPE 182 [2012] 297–311; wieder abgedruckt in: id., Studien [wie Anm. 11],
449–476 [475]); den Hispellern war nicht verwehrt, sich bei dem ihnen Zugestandenen mehr zu
denken als der kaiserliche Stifter!
25 Sie steht keineswegs allein. In ähnlichem Sinne gestattete Konstantin vielmehr in einem un-
datierten Erlass (bezeugt von Aurelius Victor, Historia abbreviata 11,28) ein sacerdotium der gens
Flavia in Afrika, entpaganisierte den Kaiserkult aber dadurch, dass er sein Bildnis aus den Tem-
peln entfernen ließ; ferner benannte er das nordafrikanische Cirta (nach seinem Sohn Constan-
tin) in Constantina, wie die Stadt (französisiert) noch heute heißt, und ließ dort später sicherlich
wie in Hispellum eine aedis Flaviae gentis errichten und wohl gleichzeitig eine christliche Basilika
(Optatus Melivitanus, Appendix 10); auch für Rom selbst sind pontifices Flaviales bezeugt (CIL 6,
1690; 1691; 1694).

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 Konstantin – Theodosius – Justinian   211

den, die eine Eingabe der Stadt mit dem antiken Namen Hispellum mitsamt Kon-
stantins „Antwort“ (Reskript)26 enthält. Weil unter den Söhnen und Mitkaisern
(Constantinus [II.], Constantius und Constans) der älteste nicht mehr genannt
wird, kann das Reskript frühestens dem letzten Lebensjahrzehnt Konstantins,
der Zeit nach Ermordung seines Ältesten, Crispus (326), angehören.27 Die Hispel-
ler, so ist zu erfahren, waren samt ihrer Provinz (Umbrien) derart an die Nach-
barprovinz Tuszien gekoppelt, dass von ihnen gemeinsam Priester (sacerdotes)
gewählt wurden, die in dem tuszischen Volsinii (heute Volsena) Schauspiele und
Gladiatorenkämpfe (ludi scenici et gladiatorum munus) auszurichten hatten. Im
Hinblick auf die Mühsale des Gebirgsweges hielten es nunmehr die Hispeller für
ihren Priester nicht länger zumutbar, dass dieser sich nach Volsinii begab, um
dort besagte Veranstaltungen (editiones) zu leiten. So baten sie denn den Kaiser,
er möge aus seinem Zu- oder Beinamen (cognomen), nämlich Constantinus, der
Stadt einen neuen Namen geben und gestatten, dass dort ein templum seines
Geschlechts in einer dessen würdigen Ausstattung (opere magnifico nimirum
pro amplitudinem [sic] nuncupationis) errichtet werde, damit jener in jährlichem
Wechsel gewählte umbrische Priester Spiele und Wettkämpfe veranstalte. In
Tuszien möge dann der Brauch erhalten bleiben, dass der dort gewählte Priester
in Volsinii die vorgenannten Schauspiele abhält.
Die Antwort des Kaisers:28 Er stimmt dem in sein Reskript vollständig integ-
rierten Begehren der Hispeller insoweit zu, als er sich mit der erbetenen Namens-

26 CIL XI 5265/ILS 705, 768. S.  die Überschrift: „E(xemplar).S(acri).R(escripti)“ über das Praescript
desselben; sacer ist hier, wie in der späteren Latinität häufig, als „kaiserlich“ zu verstehen.
27 Auffällig ist allerdings das Fehlen des Caesarentitels für die Konstantinssöhne; vgl. dazu wie
überhaupt zu Datierungs- und Deutungsfragen in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion
Girardet (wie Anm. 24).
28 Bis auf die darin aufgenommene Petition lautet das Reskript bzw. seine „Abschrift“ aus CIL
XI 5265/ILS 705, 768, folgendermaßen: E(xemplum) s(acri) r(escripti). Imp. Caes(ar) Fl(avius)
Constantinus Max(imus) Germ(anicus) Sarm(aticus) Got(icus) victor triump(hator) Aug(ustus) et
Fl(avius) Constantinus |et Fl(avius) Iul(ius) Constantius et Fl(avius) Constans: omnia quidem, quae
humani generis societate(m) tuentur, pervigilium curae cogitatione conplectimur, sed pro|visionum
nostrarum opus maximus est, ut universae urbes, quas in luminibus provinciarum <h>ac regionum
omnium species et forma distinguitur, non modo dignitate(m) pristinam teneant sed etiam ad me­
liorem statum beneficentiae nos|trae munere pro[v]e(h)antur. […] Nam civitati Hispello aeternum
vocabulum nomenq(ue) | venerandum de nostra nuncupatione concessimus, scilicet ut in posterum
praedicta urbs Flavia Constans vocetur, in cuius gremio aedem quoque Flaviae hoc est nostrae
gentis, ut desideratis, magnifico opere perfici | volumus ea observatione perscripta, ne aedis nostro
nomini dedicata cuiusquam contagios(a)e superstitionis fraudibus polluatur; consequenter etiam
editionum in praedicta civitate exhibend[a]rum vobis | licentiam dedimus, scilicet ut, sicuti dictum
est, per vices temporis sollemnitas editionum Vulsinios quoque non deserat, ubi creati[s] e Tuscia
sacerdotibus memorata celebritas exhibenda est. Ita quippe nec | veteribus institutis plurimum

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212   Adolf Martin Ritter

änderung einverstanden erklärt, ihrer Stadt jedoch den Namen Flavia (ent-
sprechend der Namengebung [nuncupatio] von Konstantins Geschlecht [gens]),
nicht, wie sie erbaten, Constantina (nach seinem Zu- oder Beinamen [cognomen])
beilegt;29 auch erlaubt er ihr, – statt, wie erbeten, ein templum – eine aedis Flaviae
gentis zu errichten, untersagt allerdings mit starken Worten – nicht „pagane Kult-
handlungen“ schlechthin,30 wohl aber – die Befleckung „durch den Trug anste-
ckenden Aberglaubens“ (fraudes contagios[a]e superstitionis); vermutlich ist
gemeint die Durchführung von blutigen, d.  h. Tieropfern, an denen Konstantin
nicht nur das störte, dass ihn deren abscheulicher Gestank einfach anekelte.31

videbitur derogatum et vos, qui ob praedictas causas nobis supplices extitistis, ea, quae inpendio
postulastis, impetrata esse gaudebitis. / „Abschrift eines kaiserlichen Reskriptes: Imperator Cae-
sar Flavius Constantinus Maximus, Sieger und Triumphator in der Bekämpfung der Germanen,
Sarmaten und Gothen, Augustus, und Flavius Constantinus, Flavius Iulius Constantius und Fla-
vius Constans. Allem, was geeignet ist, die menschliche Gemeinschaft zu schützen, gilt unsere
rastlose Sorge; unsere größte Aufmerksamkeit aber ist auf die Förderung der durch Größe und
Aussehen sich auszeichnenden Städte in sämtlichen Provinzen gerichtet, damit sie nicht allein
ihre vormalige Würde bewahren, sondern fortschreiten zu einer besseren Verfassung, dank des
Liebesdienstes unserer Güte […]. [Im Einklang mit dem Begehren der Bürger von Hispellum]
gestatten wir die für immer gültige Umbenennung der Stadt unter Benutzung unseres vereh-
rungswürdigen Namens (nomen, sc. der Flavier), das heißt, dass die Stadt fortan ‚Flavia Cons-
tans‘ heißt; in ihrem Mittelpunkt soll eine Kultstätte für das flavianische, d. h. unser Geschlecht
(gens), errichtet werden, in einem weiträumigen Bauwerk, so wie es euer Begehren war, nur dass
die Regel schriftlich festgelegt werden muss, dass das unserem Namen geweihte Gebäude nicht
durch den Trug eines ansteckenden Aberglaubens (fraudes contagios[a]e superstitionis) befleckt
werde. Wir haben euch dementsprechend die Erlaubnis erteilt, Spiele zu veranstalten in der
vorgenannten Stadt, auf dass mit demselben Recht die feierlichen Spiele zu ihrer Zeit auch in
Volsinii gefeiert werden, wo die vorgenannte Feier durch die in Tuscien gewählten Priester auszu-
richten ist. So werden augenscheinlich die altüberkommenen Einrichtungen keinerlei Einbußen
erleiden, wie auch ihr erlangen und euch dessen erfreuen werdet, was euer Begehren war“.
29 Der Zusatz „(Flavia) Constans“ im neuen Städtenamen deutet nach Girardet (Das Verbot [wie
Anm. 24], 462), angesichts vergleichbarer Entscheidungen, sehr wahrscheinlich darauf hin, dass
die Stadt Hispellum „in dem 335 festgelegten Aufgabenbereich des Caesars Constans liegt“, was
auch Rückschlüsse auf die Datierung von Petition und Reskript (nicht aber unbedingt auf die
Ausführung der Inschrift) erlaubt (vgl. ebd., 451–456).
30 Anders zunächst, genauso wie vor ihm Dörries (Das Selbstzeugnis [wie Anm. 4], 211) und
viele andere, auch K. M. Girardet, Der Kaiser und sein Gott. Das Christentum im Denken und in
der Religionspolitik Konstantins des Großen (MST 27), Berlin 2010, 100; später (in: Das Verbot
[wie Anm. 24], 474–476) hat er das korrigiert. Auch Dörries sah im fraglichen kaiserlichen Re-
skript einfachhin den „Kaiserkult in seiner mit Opfern begangenen heidnischen Form“ ausge-
schlossen.
31 So gesteht es Konstantin in seinem apologetischen Schrei­ben an den Perserkönig Šapur II.
zugunsten der Christen in dessen Reich (erhalten bei Euseb, De vita Constantini 4,9–13).

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 Konstantin – Theodosius – Justinian   213

Was heißt dies alles nun? Es heißt, dass der Kaiserkult, in gewissem Umfang
zumindest, im Interesse der heidnischen Mehrheit der Bevölkerung des römischen
Reiches unter dem christlichen Kaiser Konstantin fortbestand! Denn genau so wie
Galerius konnte sich Konstantin einfach nicht vorstellen, dass das Gemeinwohl
(salus publica) als das oberste Ziel allen Regierungshandelns noch gewährleis-
tet sei, wenn sich ein Großteil der Bevölkerung beim Gebet um den Segen des
Himmels ausgeschlossen fühlen müsste; in diesem Falle wäre das sogar die über-
große Mehrheit (mindestens 90 Prozent Nichtchristen werden in der Forschung
für den Anfang des 4. Jahrhunderts – und damit auch den des sog. „konstanti-
nischen Zeitalters“ – für möglich gehalten). Für den traditionsbewussten Römer
aber bestand die Fürbitte für die Obrigkeit, wie überhaupt das Gebet, in erster
Linie in der Darbringung von Opfern, die die Himmlischen günstig stimmen
sollen. Und eben dies hat Konstantin, der Christ, bewusst zugelassen, soweit es
ihm als unanstößig erschien, in welcher Hinsicht auch immer.
Man darf nie vergessen (was freilich auch in Dörries’ Konstantinbild nicht
genügend zu seinem Recht kommt): Konstantin blieb über seiner Zuwendung
zum Christentum römischer Kaiser mit allen traditionell mit seinem Amt verbun-
denen Pflichten (einschließlich denen des Pontifex Maximus); und die römische
Bevölkerung blieb noch über seinen Tod hinaus ganz überwiegend heidnisch. So
ist seine Toleranz gegenüber dem Heidentum gewiss nicht zuletzt politisch moti-
viert gewesen. Es dürfte dem Politiker Konstantin hoch anzurechnen sein, dass
er bei aller Sympathie mit dem Christentum und aller Förderung der Kirchen nie-
manden überforderte,32 erst recht die Bevölkerungsmehrheit nicht, sosehr er sie
ihres Heidentums wegen gelegentlich in grober Weise beschimpfen mochte. Er
ließ den Heiden vielmehr Identifikationsmöglichkeiten mit dem „neuen Reich“.33
Aber es werden auch religiöse Motive erkennbar, zumal in seinen Selbstzeugnis-

32 Ohne seine oft genug bewiesene politische Klugheit wäre bereits sein Einzug (adventus) in
Rom im Herbst 312, einen Tag nach seinem Sieg über Maxentius, aller Wahrscheinlichkeit nach
in einer Katastrophe geendet; vgl. L. Giuliani, Des Siegers Ansprache an das Volk. Zur politischen
Brisanz der Frieserzählung am Constantinsbogen, in: C. Neumeister / W. Raeck (Hgg.), Rede und
Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen (Frankfurter Archäologische Schrif-
ten 1), Möhnesee 2000, 269–287.
33 Bis zu seinem Tod blieb er dieser Linie treu. So wurde denn auch nach seinem Tod, sicher
auf seine Anweisung hin, eine Münze geprägt, die seine Konsekrierung, d.  h. seine Aufnahme in
göttliche Sphären, propagierte und damit einer langen Tradition folgte. Man sieht auf der Vor-
derseite den Kaiser mit (wie beim Opfer) verhülltem Haupt. Die Rückseite „zeigte, wie Konstantin
als Wagenlenker auf einem Viergespann fahrend von einer Hand, die von oben herab sich ihm
entgegenstreckt, aufgenommen wurde“ (Euseb, De vita Constantini 4,73 [150,18–20 W.]: θατέρου
δὲ μέρους ἐφ’ ἃρματι τεθρίππῳ ἡνιόχου τρόπον, ὑπὸ δεξιᾶς ἂνωθεν ἐκτεινομένης αὐτῷ χειρὸς
ἀναλαμβανόμενον.). Das ließ sich heidnisch deuten und mit dem Sonnengott assoziieren, genau

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214   Adolf Martin Ritter

sen (in der Adressierung an Christen).34 Sie zeigen wohl in der Tat Einflüsse des
Lactantius (so bes. Herrmann Dörries und Michael Fiedrowicz35, aber auch etwa
Peter J. Leithart36), dem er womöglich schon am Hof Diokletians begegnete und
später die Erziehung seines Sohnes Crispus anvertraute. Lactantius ist u.  a. das
schöne Wort zu verdanken: „Die Religion allein ist’s, in der die Freiheit ihre Burg
(domicilium) hat“.37

so wie es eine christliche Deutung zuließ und auf die Himmelfahrt des Propheten Elia anspielte.
Die Münze ist vielfach abgebildet, u.  a. bei Wallraff (wie Anm. 15), 160.
34 Sehr mit Recht hat Bleckmann (wie Anm. 11), 9, auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass
„nach Möglichkeit drei Ebenen sorgfältig unterschieden werden, nämlich die des historischen
Konstantin, diejenige seines Selbstbildes (gegenüber christlichen Adressaten) und die der von
Eusebius gebotenen Konstruktion eines christlichen Kaisers.“
35 Dörries (wie Anm. 4), 2–5; M. Fiedrowicz, „Freiwillig um Unsterblichkeit kämpfen“. Christ-
liche Einflüsse in der Religionspolitik Kaiser Konstantins, in: id. u.  a. (Hgg.), Konstantin der
Große. Der Kaiser und die Christen – die Christen und der Kaiser, Trier 32007, 11–30.
36 P. J. Leithart, Defending Constantine. The Twilight of an Empire and the Dawn of Christen-
dom, Downers Grove 2010, 106–112.
37 Laktanz, Divinarum institutionum epitome 49,1 (CSEL 19, 728,1–2 Brandt): atquin religio sola
est in qua libertas domicilium conlocauit. – In zwei „Skizzen“ unter dem Titel Libertas religionis.
„Religionsfreiheit“ bei Tertullian und Laktanz, in: K. Muscheler (Hg.), Römische Jurisprudenz –
Dogmatik, Überlieferung, Rezeption (FS D. Liebs), Berlin 2011, 205–226 (wieder abgedruckt in:
id., Studien [wie Anm. 11], 285–307), reiht sich K. M. Girardet in die Phalanx derer ein, die rund-
weg bestreiten, dass bei beiden frühchristlichen Autoren dem Freiheitsgedanken Allgemeingül-
tigkeit zukomme; der Ruhm, „Begründer des Prinzips ‚Religionsfreiheit für alle Menschen‘“ zu
sein, gebühre vielmehr, so jedenfalls Girardet, „Kaiser Konstantin d. Gr.“ (Girardet, Studien [wie
Anm. 11], 307, Anm. 126, unter Hinweis auf eine weitere, erstmals in derselben Sammlung ver-
öffentlichte Studie „Religionsfreiheit für alle Menschen. Das Religionsgesetz Konstantins d. Gr.
von Ende 312. Quellen und politischer Kontext“ (ebd. 337–391). Aus Raumgründen kann hier nur
in aller Kürze angedeutet werden, aus welchen Gründen ich seiner These nicht zu folgen vermag
und insofern auf der Position meines Lehrers H. Dörries verharre. 1) Ich gebe ihm gern zu, dass
weder Tertullian noch Laktanz dasselbe unter allgemeiner Religionsfreiheit verstanden haben
(können) wie er, nämlich, dass damit „so etwas wie“ ein „Pluralismus der Religionen gefordert
oder doch jedenfalls ins Auge gefasst“ wäre (286 u. ö.). Doch dass es mehr als eine Wahrheit
gäbe, unterschiedliche, aber gleichwertige Verstehenszugänge, das überstieg – nicht nur in der
Antike, sondern bis weit in die Neuzeit hinein – in aller Regel das Vorstellungsvermögen von
Christen so gut wie Juden oder „Heiden“. Und ich behaupte nicht, dass Tertullian und Laktanz
zu den Ausnahmen von der Regel zählten, bestreite aber, dass es sich bei Konstantin anders ver-
hielte! 2) Allein, Tertullians und Laktanzens Argumentation machte in meinen Augen gar keinen
Sinn, ihr „Ruf nach Freiheit für die in paganer Umwelt angegriffene christliche Religion“ (289)
zielte völlig ins Leere, wenn er nicht auf eine Christen und Heiden, Bedrängte und Bedränger,
verbindende gemeinsame Basis, eben das von Tertullian offen angesprochene ius humanum ab-
höbe und es im Ernst nur die christliche religio sein sollte, „in welcher die Freiheit ihre Burg
hat“. Das kann also gar nicht im Ernst daraus geschlossen werden, dass sich in der Tat Christen

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 Konstantin – Theodosius – Justinian   215

In deutlichem Kontrast zu Konstantin nicht nur, was die Glaubensfreiheit,


sondern auch, was die innerkirchliche Willensbildung oder, anders gesagt, die
Wahrnehmung der „Synodalgewalt“, den organisatorischen Einsatz für die Beile-
gung innerkirchlicher Konflikte38 anlangt, sah Herrmann Dörries den anderen in
den Augen der christlichen Nachwelt durch „Größe“ ausgezeichneten Kaiser des
vierten Jahrhunderts stehen, nämlich:

und Heiden, wechselseitig, absprachen, „Religion“ zu sein, und, wechselseitig, für „Aberglau-
ben“ hielten. Und: ist es heute wesentlich anders? Können wir – und müssen wir – nicht tolerant
sein, auch wenn wir die Position des anderen für grundfalsch halten? 3) Dass sich Tertullian und
Laktanz nicht ausdrücklich auch dafür aussprachen, dass die Religionsfreiheit auch für Heiden
gelte, ist nicht verwunderlich; sie hatten gar keinen Anlass dazu, weil zu ihrer Zeit die libertas
religionis einzig den Christen bestritten wurde; wohl aber hatte Konstantin allen Anlass zu einer
derartigen Versicherung, weil sich aufgrund der Dynamik seiner Religionspolitik nach Erringung
der Alleinherrschaft im Westen und später auch im Osten des Römischen Reiches mancher Heide
besorgt gefragt haben wird, wohin diese Politik noch führen werde! 4) Man spricht aus gutem
Grunde von Renaissancen der Apokalyptik; es sind regelmäßig Zeiten besonderer Bedrückung
(wie sie auch Tertullian und Laktanz [zur Zeit der diokletianischen Christenverfolgung] erlebten),
wenn kaum Aussicht besteht, dass man sich selbst helfen und befreien könne, und der Trost auf
empfängliche Ohren trifft, Gott werde es richten, wo und wann es ihm gefalle. Parallel dazu gibt
es (gab es zumindest) ein Auf und Ab chiliastischer Erwartungen. Tertullian und Laktanz waren
Chiliasten, Euseb und wohl auch Konstantin definitiv nicht. In ihren chiliastischen Erwartungen
ist von Christus als Sieger über den Antichrist und der Heraufführung von Gottes Reich die Rede,
in dem aller Widerstand überwunden sein werde, aber nicht davon, dass beide sich mensch­
licher Instrumente bedienen (wollen und werden). Man studiere die sog. „Rachepsalmen“ des
AT (z.  B. Ps 58); sie lehren, darum zu beten, dass Gott sich des verletzten Rechtes annehme, er,
der gebot (Dt 32,35; aufgenommen in Röm 12,19): „Mein ist die Rache; ich will vergelten“. Also
muss man wohl mit eschatologisch-apokalyptisch-chiliastischen Texten und Traditionen sehr
viel vorsichtiger umgehen, als es K. M. Girardet in dem genannten Aufsatz tut.
38 Vgl. dazu besonders das Kap. IX. („Die Kirche im Reich“) im Urban-Taschenbuch „Konstantin
der Grosse“ (wie Anm. 4), 103–117; ähnlich Rist, (wie. Anm. 11), 38–44 (zu Nizäa). – Anders als
beide vertritt jetzt K. M. Girardet (Imperium und sacerdotium. Politische und ideologische Fol-
gen der Konstantinischen Wende [Erstveröffentlichung], in: id., Studien [wie Anm. 11], 531–561)
die Auffassung, Konstantin habe „noch gleichsam unbefangen als super ecclesiam stehender
Hohepriester nach dem Vorbild des Hohepriesters Christus“ gegolten und „die traditionelle, im
paganen Denken verwurzelte Einheit von imperium und sacerdotium“, freilich „in der […] durch
Eusebius von Caesarea neu gestalteten Form“, verkörpert (556), mit der Konsequenz, dass schon
bei Konstantin vom Faktum eines „kaiserlichen ‚oberbischöflichen‘ Kirchenregiments“, „sowohl
disziplinarisch als auch theologisch“ (541), zu reden sei. Und eben dies Konstrukt habe aller-
erst durch den Einspruch des Ambrosius, mit dem er sich gegenüber Valentinian II. und später
Theodosius durchsetzte, dass nämlich der Kaiser „innerhalb der Kirche, nicht über ihr“ stehe
(Epistula 75a (21a), 35 [CSEL 82,3, 106,444–445 Zelzer]: Imperator enim intra ecclesiam, non supra
ecclesiam est), sein Ende gefunden (555). Ich werde mich mit diesen Thesen andernorts ausein-
andersetzen.

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216   Adolf Martin Ritter

2 Theodosius
Dass es noch im Jahrhundert Konstantins zur Etablierung des katholischen
Christentums als „Reichskirche“39 gekommen ist und Theodosius dabei den ent-
scheidenden Schritt tat, darüber besteht in der Forschung weitgehend Einigkeit.40
Doch was bedeutet das? Und welche Konsequenzen hatte es? War es scheinbar
nur „ein kurzer Schritt“, de facto hingegen ein „Sprung über einen Abgrund“,
hinein in ein ganz anderes Zeitalter, ausgerichtet auf ganz andere Horizonte des
Möglichen, wie Peter Brown im Jubiläumsjahr des sog. „Mailänder Toleranz-
edikts“ fand?41
Herrmann Dörries war sich völlig sicher: Erst seit dem Amtsantritt des ehe-
maligen spanischen Generals Theodosius als Mitregent seines auctor imperii,
Gratian, für den Osten des Reiches könne von „Reichs- oder Staatskirche“ gespro-
chen werden; „die vielfach begegnende Rede von der ‚konstantinischen Reichs-
kirche‘“ führe „in die Irre“. Denn zu deren Wesen gehöre „die Zwangsgeltung“;
sie solle „alle Untertanen umfassen“. Und eben das sah er, bestärkt „vor allem“
durch „die schöne Darstellung von W. Ensslin“,42 im Edikt Cunctos populos vom
28. 2. 380 erstmals intendiert.43

39 Von „Staatskirche“ sollte man schon deshalb nicht sprechen, weil „Staat“ nun einmal eine
frühneuzeitliche, erstmals in der italienischen Renaissance aufkommende Prägung und die
Wortverbindung „Staatskirche“ zur Kennzeichnung antiker Zustände geradezu irreführend ist
(siehe die Einleitung zu meiner Textlese „‚Staat und Kirche‘ […]“ [wie Anm. 5], XII–XIII). Allein,
gegen die inflationäre Verwendung des Begriffs auch in der einschlägigen Forschungsliteratur
(trotz Warnungen wie bei H. Leppin, Theodosius der Große. Auf dem Weg zum christlichen Im-
perium, Darmstadt 2003, 238) ist anscheinend kein Kraut gewachsen.
40 Vgl. nur, nach und neben Dörries (wie Anm. 4), 44.46–55, neuerdings etwa P. Barceló/G. Gott-
lieb, Das Glaubensedikt des Kaisers Theodosius vom 27. Februar 380: Adressaten und Zielset-
zung, in: K. Dietz u.  a. (Hgg.), Klassisches Altertum, Spätantike und frühes Christentum (FS
für A. Lippold), Würzburg 1993, 409–423 (411); Rist (wie Anm. 11), 29–30.34 und Girardet (wie
Anm. 17), 418; id., Imperium und sacerdotium (wie. Anm. 38), 533 u. ö.
41 P. Brown zum Beschluss seines Aufsatzes: Constantine, Eusebius and the Future of Christia-
nity, in: St. Vladimir’s Theological Quarterly 57 (2013), 117–133.
42 Gemeint ist W. Ensslin, Die Religionspolitik des Kaisers Theodosius d. Gr., in: SBAW.PH 1953,
H. 2.
43 Vgl. Dörries (wie Anm. 4), 46 mit Anm. 70a.71. – Mir wurde diese Sicht bei meiner Näherbe-
schäftigung mit Vorgeschichte und Geschichte des Konzils von Konstantinopel (381), also der
Einarbeitung in mein endgültiges Dissertationsthema, zunehmend zweifelhaft, und ich fühlte
mich darin bestätigt, als ich bei einem Zeitgenossen, Gregor von Nazianz, in dessen autobiogra-
phischem Gedicht (Carmen historicum 11,1282–1289) einem ganz anderen Bild des Kaisers begeg-
nete: dem eines „Zauderers“ (vgl. meine unter dem Titel: Das Konzil von Konstantinopel und
sein Symbol. Studien zur Geschichte und Theologie des II. Ökumenischen Konzils [FKDG 15],

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 Konstantin – Theodosius – Justinian   217

Indessen sind dieser hierzulande seit Kriegsende besonders von Ensslin und
dessen Schüler Adolf Lippold44 nachhaltig geprägten Auffassung, wonach dieser
Kaiser mit präzisen politischen Vorstellungen und rigorosen Maßnahmen den
Katholizismus, die nizänische Orthodoxie, als „Staatsreligion“ etabliert habe,
inzwischen empfindliche Stöße versetzt worden.45 Grund genug für einen mit
der Zeit und ihren Problemen wohlvertrauten jüngeren Althistoriker, Hartmut
Leppin,46 zur „Feder“ zu greifen und ein den uns erkennbaren Realitäten eher
entsprechendes Bild zu entwerfen. Sein Fazit lautet:

Theodosius reagierte auf anstehende Probleme und versuchte sie so zu lösen, dass er mög-
lichst viele Reichsangehörige und potenzielle Feinde zu integrieren vermochte. Er war kein
Gestalter der Geschichte, kein Beweger, nichts Brillantes haftet ihm an; was er tat, hätten
andere ebenso vollbringen können. Als groß im Sinne Jacob Burckhardts kann er also tat-
sächlich nicht gelten. Vielmehr hatte er genug daran zu arbeiten, sich mit den Umständen
zu arrangieren [Kursivierung von Ritter], die Eliten des Reichs an sich zu binden, die Usur-
patoren zu zügeln und die neue Macht der Kirchen zu kanalisieren. Und dabei blieb ihm

Göttingen 1965, veröffentlichte Dissertation von 1962, 225–226). Ich habe mich in dieser einge-
hend mit Ensslins Thesen auseinandergesetzt (vgl. Exkurs 1, 221–239), bin damit allerdings unter
allem, was ich im Konzilsbuch aufgegriffen habe, am ehesten auf Reserve (selbst bei H. Dörries)
oder gar (wie bei dem Ensslinschüler A. Lippold) auf entrüsteten Protest gestoßen. Auf diese Kri-
tik wiederum bin ich eingegangen in meinem Beitrag zur (von mir herausgegebenen) Festschrift
für C. Andresen (Kerygma und Logos. Beiträge zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwi-
schen Antike und Christentum, Göttingen 1979, 404–423; hier: 407–412 [„Zum Homousios von
Nizäa und Konstantinopel. Kritische Nachlese zu einigen neueren Diskussionen“]), wieder abge-
druckt in: A. M. Ritter (wie Anm. 3), 161–179. Indessen gleichen Festschriften und Aufsatzsamm-
lungen bekanntlich in der Regel Massengräbern; wer darin publiziert, muss damit rechnen, nur
ausnahmsweise zur Kenntnis genommen zu werden. Immerhin: Wer sich für meine Diskussion
(vor allem) mit W. Ensslin und A. Lippold interessiert, kann dem verhältnismäßig mühelos nach-
gehen. Ich werde diese Diskussion an dieser Stelle nicht wiederholen, sondern begnüge mich mit
dem Hinweis auf eine neuere Buchveröffentlichung, die die Auseinandersetzung mit Ensslin und
sein Theodosiusbild auf eine neue Grundlage gestellt hat (s.  o.).
44 A. Lippold, Theodosius der Große und seine Zeit (ub 107), Stuttgart 1968; id., Theodosius I.,
in: PRE Suppl. XIII (1973), 837–961.1043–1044.
45 Vgl. etwa P. Barceló/G. Gottlieb, Das Glaubensedikt des Kaisers Theodosius vom 27. Februar
380: Adressaten und Zielsetzung, in: K. Dietz u.  a. (Hgg.), Klassisches Altertum, Spätantike und
frühes Christentum (FS Adolf Lippold), Würzburg 1993, 409–423; R. M. Errington, Church and
State in the First Years of Theodosius I, in: Chiron 27 (1997) 21–72; ferner den Kolloquiumsband
R. Teja/C. Pérez González (Hgg.), Congreso internacional La Hispania de Teodosio, Segovia 1998,
und darin besonders den Beitrag von N. McLynn, Theodosius, Spain and the Nicene Faith (171–
178).
46 Vgl. H. Leppin, Von Constantin dem Großen zu Theodosius II. Das christliche Kaisertum bei
den Kirchenhistorikern Socrates, Sozomenus und Theodoret (Hyp. 110), Göttingen 1996; id., Die
Kirchenväter und ihre Zeit. Von Athanasius bis Gregor dem Großen, München 2000.

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218   Adolf Martin Ritter

die Fortüne treu. […] – Für seine christlichen Zeitgenossen war das aber eben kein Zufall,
sondern ein unwiderlegliches Zeichen der Gnade Gottes, die Theodosius durch seine Fröm-
migkeit erworben hatte […]. Theodosius wurde wirkungsmächtig, weil die nizänische Kirche
so stark geworden war und weil er erkannte, wie er sie für seine Interessen nutzen konnte:
Er gewann aus ihr Gesinnungsgenossen und mithilfe der jungen Religion neue Handlungs-
spielräume […]. Und zugleich gewannen die Christen trotz der Vorsicht des Kaisers im
Alltag wie in der Regierungspraxis an Einfluss. Insofern hat die Kirche Recht daran getan,
Theodosius den Titel eines Großen zu verleihen, und die Geschichtsschreibung darf ihr im
Bewusstsein dieser Tradition folgen.47

Vor diesem Hintergrund kommt dem Edikt Cunctos populos schwerlich die Bedeu-
tung zu, die man ihm bisher beimaß;48 es erscheint eher als „ein Indiz für die kai-
serliche Haltung“, für seine Frömmigkeit und nizänische Orientierung, denn als
„Fanal seiner Religionspolitik“.49 Zwar sollten „alle“ (Cunctos populos)50 erfah-
ren, was jetzt die Stunde geschlagen habe, dass nämlich Schluss sei mit der obrig-
keitlichen Förderung der Homöer („Arianer“), wie man sie zuletzt vom Vorgänger
des neuen Kaisers, Valens,51 her kannte. Doch einen Grund zur Beunruhigung
hatte niemand, nicht einmal unter der (christlichen) Bevölkerung Konstantino-
pels, wohin das Edikt konkret gerichtet war und wo es auch aller Wahrschein-
lichkeit nach fürs erste allein publik wurde;52 Juden und Heiden mussten schon
gar nichts befürchten, weil sie in dem Edikt gar nicht vorkamen.53 So rührte sich
denn auch selbst im „Neuen Rom“, wie Gregor von Nazianz, derzeitiger Leiter
der noch kleinen Konstantinopeler Nizänergemeinde, bezeugt, keine Hand, bis
ganze zehn Monate später (am 24. November 380) der Kaiser dort einzog und per-

47 Leppin (wie Anm. 39), 239.


48 Vgl. mit Recht McLynn (wie Anm. 45), 171; Errington (ebd.), 21 u. ö.
49 Leppin (wie Anm. 39), 73.
50 Zu den Adressaten und d.  h. nicht zuletzt zum Verständnis von populi im initium des theodo-
sianischen Glaubensediktes vgl. besonders Barceló/Gottlieb (wie Anm. 45), 413–417.
51 Der allerdings in den letzten beiden Jahren vor seinem unerwarteten Tod auf dem Schlacht-
feld diesbezüglich die Zügel hat schleifen lassen (Errington [wie Anm. 45], 26–33 [32–33]).
52 Doch selbst der seit Ende 379 dort tätige Gregor von Nazianz hielt es für nicht der Erwähnung
wert (McLynn [wie Anm. 45], 171).
53 Dass sie mitgemeint sein könnten, ist sogar völlig ausgeschlossen, weil es im Edikt aus-
drücklich heißt, nur wer rechtgläubig (sc. im Sinne des nizänischen Bekennisses) sei, dürfe
sich als „katholischen Christen“ bezeichnen; alle „übrigen“ (reliquos) hingegen hätten „den
Schimpf ketzerischer Lehre“ (haeretici dogmatis infamia) zu tragen (Codex Theodosianus 16,1,2
[T. Mommsen/P. M. Meyer (Hgg.), Theodosiani libri XVI cum constitutionibus Sirmondianis et
leges novellae ad Theodosianum pertinentes 2: Leges novellae ad Theodosianum pertinentes,
Berlin 1905, 833]) (so mit Recht Barceló/Gottlieb [wie Anm. 45], 413 Anm. 12).

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 Konstantin – Theodosius – Justinian   219

sönlich unter militärischem Geleit Gregor die Kirchen der Stadt, vor allem die
Bischofskirche, übergeben ließ.54
Schon vorher, im Frühsommer 380, nur wenige Monate, vielleicht sogar nur
wenige Wochen nach Verkündung des Religionsediktes, ließ sich Theodosius
auch bereits, und zwar recht bestimmt, über die Einberufung eines orientali-
schen Reichskonzils vernehmen.55 Und bei der Realisierung dieser Pläne, der
Abhaltung der Reichssynode von Konstantinopel (Mai/Juli 381) sowie der Durch-
setzung ihrer Beschlüsse, hielt er sich strikt an das von Konstantin begründete
Führungsprinzip, das auf einem Kompromiss zwischen alter Synodalpraxis der
„freien“, vorkonstantinischen Kirche und dem – kirchlicherseits unwiderspro-
chenen – Anspruch des Kaisers beruhte, seinen Untertanen im Glauben an den
wahren Gott voranzuschreiten und über ihrer Glaubenseinheit zu wachen, einem
Kompromiss also zwischen sacerdotium und imperium.56
Allein, dafür, dass dem Kaisertum Theodosius’ I. (379–395) eine Schlüssel-
stellung auf dem Wege zur antiken „Reichskirche“ zukommt, ist als deutlichstes
Anzeichen – darin ist Dörries57 völlig recht zu geben – die kaiserliche Gesetz-
gebung gegen „Ketzer“ und Heiden anzuführen.58 Sie setzte bereits am Tag des
Erlasses von Cunctos populos ein, indem verfügt wurde, jeglicher Verstoß gegen
das (im Edikt ausgeführte) „göttliche Gesetz“ erfülle den Straftatbestand des Sak-
rilegs.59 Ihren Höhepunkt erreichte die Heidenverfolgung unter Theodosius ab
dem Jahr 391, als – wohl als Reaktion auf den Bußakt von Mailand60 – jede öffent­
liche Kultbetätigung im Sinne des Heidentums unter Strafe gestellt und mit einer
empfindlichen Geldbuße belegt wurde.61 Und sie verschärfte sich noch, als sich

54 Die Situationsschilderung Leppins deckt sich weitgehend mit der meinen im Konzilsbuch
(wie Anm. 43), 221–228.
55 Vgl. ebd. 33–35.
56 Vgl. ebd. mit weiterer Literatur. Dort ist freilich auch davon die Rede, dass es noch einiger
Zeit (bis weit ins Jahr 383 hinein) bedurfte, bis sich der „Zauderer“ auf dem Kaiserthron im Kla-
ren war, wie denn die Einmütigkeit erreicht werden könne, an der ihm vorrangig gelegen war,
nachdem das Konzil von 381, zunächst, weder den Frieden mit den Nizänern des Westens noch
unter denen des Ostens, besonders in Antiochien, erbracht hatte. Vgl. dazu auch Leppin (wie
Anm. 39), 80–84.
57 Dörries (wie Anm. 4), 46–49.
58 Siehe die Übersicht bei Noethlichs (wie Anm. 23), 1160–1163.
59 Codex Theodosianus 16,2,25 = Codex Iustinianus 9,29,1: „Welche die Heiligkeit des göttlichen
Gesetzes in Unkenntnis entstellen oder durch Nachlässigkeit verletzen und kränken, begehen
ein Sakrileg (Qui divinae legis sanctitatem aut nesciendo confundunt aut neglegendo violant et
offendunt, sacrilegium committunt)“ (843 M./M.).
60 Vgl. dazu Leppin (wie Anm. 39), 153–161.
61 Codex Theodosianus 16,10,1 (vom 24. 2. 391).

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220   Adolf Martin Ritter

392 der Rhetorikprofessor Eugenius zum Gegenkaiser ausrufen ließ und der sich
gegen ihn und seinen Hintermann, den fränkischen General Arbogast, abzeich-
nende Kampf schon bald alle Züge eines heidnisch-christlichen Reli­gionskrieges
annahm. Weil die heidnische Opposition in Rom die Usurpation des Eugenius
(bzw. Arbogasts) unterstützt hatte, fand nach deren Scheitern das offizielle Hei-
dentum des Senats ein Ende.62

3 Justinian
Nachdem das Religionsedikt Theodosius’ I. (Cunctos populos) ein halbes Jahr-
hundert lang nahezu unbemerkt geblieben zu sein scheint, haben es unter
Theodosius II. die Redaktoren des 438 veröffentlichten Codex Theodosianus in
den Archiven (vermutlich Konstantinopels) ausfindig gemacht und ihrer Samm-
lung, und zwar an prominenter Stelle, inkorporiert; sie stellten es nämlich den
in Buch 16 versammelten Konstitionen „Über die allerhöchste Dreifaltigkeit und
den katholischen Glauben“ (De summa trinitate et de fide catholica) voran. In
der nächsten, noch geschichtswirksameren Kodifizierung römischen Rechts,
dem in erster Version 529, in zweiter, endgültiger Fassung 534 in Kraft gesetzten
Codex Iustinianus, der überhaupt mit dem Kirchenrecht, den Religionsgesetzen
als erstem Buch, einsetzt, ist es an die Spitze gestellt (Codex Iustinianus 1,1). Es

62 Auf der anderen Seite besitzen wir noch – bis in die letzten Jahre des Kaisers – Belege genug
für seine gelassene Haltung gegenüber dem Heidentum und erst recht dem Judentum; vgl. die
Nachweise bei Barceló/Gottlieb (wie Anm. 45), 420–422. – War es also wirklich „ein Sprung über
einen Abgrund“, hinein in ein ganz anderes Zeitalter, ausgerichtet auf ganz andere Horizonte des
Möglichen (P. Brown [wie Anm. 41]), der ihn von Konstantin trennte? Dieser Sprung wäre jeden-
falls nicht unvermittelt und ohne erkennbare Gründe erfolgt. Denn: „Weder fanden Konstantin
und Lactantius mit ihrer Toleranzidee schon in ihrem Jahrhundert nennenswert viel Unterstüt-
zung unter den Christen, gerade auch unter den Bischöfen, wenngleich ein Hetzer wie Firmicus
Maternus mit seiner Streitschrift ‚Über den Irrtum der heidnischen Religionen‘ (De errore profa­
narum religionum), geschrieben um 347, zum Glück ebenfalls ziemlich isoliert geblieben zu sein
scheint. Noch konnte es auf die Dauer als ausgemacht gelten, dass die politische Vernunft ein
rücksichtsvolles Verhalten gegenüber den Nichtchristen gebiete. Änderten sich doch schon im
Lauf dieses Jahrhunderts die Mehrheitsverhältnisse zwischen Christen und Heiden – zwar nicht
dramatisch, wohl aber kontinuierlich, wenn auch nicht sogleich überall. Also konnte man schon
auf die Idee kommen, es genüge mehr oder minder sanfter Druck, um den Widerstand gegen die
christliche Mission zu schwächen“ (Ritter [wie Anm. 5], 309). Und mehr als „erheblichen Druck
auf die Glaubensabweichler“, d.  h. mit Recht so zu nennenden „Glaubenszwang“, scheint es
auch unter Theodosius nicht gegeben zu haben (Leppin [wie Anm. 39], 84).

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 Konstantin – Theodosius – Justinian   221

eröffnet somit das gesamte Gesetzeswerk.63 „Die religiöse Grundlegung des Römi-
schen Imperiums“ wird auf diese Weise so sinnenfällig wie nur möglich gemacht,
„jetzt in reichskirchlicher Ausprägung“.64 Und erst diesem Umstand ist es wohl
vor allem zuzuschreiben, dass Cunctos populos bis ins 20. Jh. hinein als das „klas-
sische Dokument der kaiserlichen Politik des christlichen Staates“ galt.65
Doch sprechen wir nicht länger von Theodosius und seinem vielberufenen
Religionsedikt. Für Justinian, dessen Name für immer mit dem zuletzt genannten
Gesetzeswerk verbunden ist, war es in den Augen von Herrmann Dörries kenn-
zeichnend, dass er den von Theodosius, nicht Konstantin begonnenen Weg, und
zwar mit gelegentlich geradezu erschreckender Konsequenz, zu Ende ging. Aller-
dings, räumte er, wiederum mit Wilhelm Ensslin, ein, habe selbst ein autokra-
tischer Herrscher wie dieser „ein kirchliches Mitwirkungsrecht anerkannt, wie
durchweg sowohl Konstantin als“ (in der Regel) auch „Theodosius“.66 Ferner
zitierte er aus der ihm als wirklichkeitstreu und überzeugend erscheinenden
Kennzeichnung Justinians durch seinen Tübinger Lehrer Karl Müller: „Schon
bisher offenbar die Seele der Politik“, habe dieser

in 38jähriger Alleinherrschaft Reich und Kirche regiert, getragen von dem Gedanken des
christlichen Kaisertums als der von Gott selbst gesetzten Gewalt über die Christenheit,
wie sie in Reich und Kirche eine unzerreißbare Einheit darstelle und darum dem Kaiser
die Pflicht auferlege und das Recht gebe, über beide Gebiete als Kaiser und Oberpriester
zu wachen und zu regieren, das Reich äußerlich und innerlich zu festigen, die Untertanen
aufs schärfste an den Staat zu binden und für dessen Bedürfnisse rücksichtslos heranzu-
ziehen, die außerchristlichen Religionen sowie alle Ketzerei in der Kirche zur Ohnmacht
herabzudrücken oder auszurotten, die Kirche selbst aber zu reinigen, zu überwachen, in
ihrer Einheit zu erhalten und bis ins Innerste hinein zu regieren: er selbst eifriger Theologe,
der unter seinem Namen eine ganze Reihe theologischer Schriften herausgegeben hat […].67

63 Enthaltend neben dem Kirchenrecht das Privat- und Privatprozessrecht (Buch 2–8), das Straf-
und Strafverfahrensrecht (9) und endlich das Verwaltungs- und das Finanzrecht (10–12).
64 Dörries (wie Anm. 4), 48, Anm. 74.
65 So noch u.  a. bei H. Berkhof, Kirche und Kaiser, Zürich 1947, 63–64; und N. Q. King, The Em-
peror Theodosius and the Establishment of Christianity, London 1961, 29.
66 Dörries (wie. Anm. 4), 47, Anm. 72.
67 Dies ein Zitat aus Müllers „Geschichte der alten Kirche“ (in der in Gemeinschaft mit H. von
Campenhausen neubearbeiteten 3. Aufl. unter dem Titel „Kirchengeschichte I,1“, Tübingen 1941,
795). Dörries hat es aufgenommen in den Nachruf auf den Lehrer (zuerst veröffentlicht in: ThBl 19
[1940], 177–185; wieder abgedruckt als zweitletzter Beitrag mitsamt einem aktualisierenden An-
hang) in seiner dreibändigen Aufsatzsammlung Wort und Stunde III (Beiträge zum Verständnis
Luthers), Göttingen 1970, 421–457 (439).

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222   Adolf Martin Ritter

Ein Bild voller Spannungen ist es auch, das die neueste Forschung von Justinian I. 
und seiner ungewöhnlich langen Regierungszeit zeichnet.68 Es bestätigte sich,
dass dessen Kaisertum als Höhepunkt der frühbyzantinischen Periode gelten
muss, wovon die erhaltenen Bauten aus seiner Zeit (die Hagia Sophia etwa) und
die lange Zeit und weit über Byzanz hinaus nachwirkende Vereinheitlichung der
Rechtsordnung (durch die in zwei Schüben erfolgende Kodifizierung in Gestalt
des Codex Iustinianus und der ihm angeschlossenen Gesetzessammlungen ergän-
zender Art) wohl bis heute das beredtste Zeugnis ablegen. Demgegenüber erwies
er sich bei der Verfolgung anderer, nicht minder hartnäckig erstrebter Ziele (wie
der Wiederherstellung der Römerherrschaft auch im Westen) als höchstens kurz-
fristig erfolgreich oder scheiterte er gar vollständig und auf Dauer: so in seiner
Kirchenpolitik, die dem Versuch gewidmet war, eine kirchliche Verständigung
zwischen Ost und West zu erreichen, d.  h. vor allem, einer endgültigen Abspal-
tung der „Mono-“ oder „Miaphysiten“ vom Reich und der Reichskirche entgegen-
zuwirken, ohne „Chalkedon“ preiszugeben (dem ist auch seine umfangreiche,
alles andere als dilettantische theologische Schriftstellerei zugeordnet,69 die bis
zum Ende von Byzanz ohne wirkliche Analogie blieb und ihn erst recht von seinen
Vorgängern Konstantin und Theodosius, letzterem vor allem, unterschied).
Endlich mussten seiner Religionspolitik wegen nicht wenige seine Herrschaft als
ein wahres Terrorregime erlebt haben, zumal, aber nicht nur die Heiden.70
Deutlicher als bisher vermag man inzwischen zu erkennen, welch große
Rolle „Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung“ (Mischa Meier) in der
Politik des Kaisers spielten, in einer Zeit, die voll war von Katastrophen.71 Weil sie

68 Genannt seien vor allem das voluminöse Werk von M. Meier, Das andere Zeitalter Justinians.
Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr. (Hyp. 147), Göttin-
gen 2003, sowie sein Bändchen Justinian. Herrschaft, Reich und Religion (Beck’sche Reihe 2332),
München 2004; ferner H. Leppin, Justinian. Das christliche Experiment, Stuttgart 2011. Zu „Kai-
ser Justinian als Kirchenpolitiker und Theologe(n)“ siehe nach wie vor besonders den gleichbe-
titelten Aufsatz von K. H. Uthemann, in: Aug. 39 (1999), 5–83 (wieder abgedruckt in: M. Meier
[Hg.], Justinian, Darmstadt 2011, 100–173).
69 So mit Recht Uthemann (wie Anm. 68), 48 (gegen E. Schwartz).
70 Vgl. Leppin (wie Anm. 68), 101: „Tatsächlich ging es jetzt um mehr als bei den meisten frü-
heren antiheidnischen Gesetzen der römischen Welt: Es sollten nicht allein Kulte ausgelöscht,
sondern Menschen geändert, ihre Gesinnungen gewandelt werden. Ein totalisierender Ansatz
der Religionspolitik zeichnete sich ab“.
71 Es handelte sich u.  a. um Erdbeben, Überschwemmungen, verheerende Seuchen (Pest) und
beunruhigende Himmelserscheinungen wie eine globale Verfinsterung des Himmels (536/537);
vgl. die Liste mit Katastrophen im Oströmischen Reich zwischen 500 und 565 im Anhang zu
Meier (wie Anm. 68), 656–670, und dazu die eingehende Behandlung ebd., 342–426 im Vergleich
mit 45–100.

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 Konstantin – Theodosius – Justinian   223

für die meisten Zeitgenossen Justinians (wie für ihn selbst) nur religiös erklärbar
waren, mussten sie Zweifel daran aufkommen lassen, ob Gott auf seiner Seite
stehe, dessen, der seine Herrschaft in spezifischer Weise auf ihn, Gott, zurück-
führte.72
Doch wir können auf das alles nicht mehr näher eingehen, sondern ledig-
lich noch fragen: Ist dem Schluss auszuweichen, dass Justinian gleichsam in
Reinkultur verkörperte, was man lange genug als „Caesaropapismus“ bezeich-
nete und für die byzantinischen Verhältnisse als typisch ansah? Nun, dass diese
stigmatisierende Vokabel als Gegenbegriff eine Zeit der ausgebildeten Papstidee
voraussetzt, wie sie auch im Abendland noch längst nicht angebrochen war, und
dass er auch deshalb sogar auf Justinian kaum anwendbar ist, weil dieser selbst
bei seinen eigenmächtigsten Akten als Glaubenslehrer den Beifall der Mehrheit
unter den katholischen Bischöfen im (noch immer bevölkerungsreichsten) Osten
fand und auch die (fast ausnahmslos dort beheimateten) „Mono“- oder „Miaphy-
siten“ eine Alternative zu ihm nicht suchten, diese Erkenntnis hat sich, wie es
scheint, allmählich durchgesetzt. So verzichtet man auf den ominösen Begriff,
nicht immer aber auf die hinter ihm stehenden „polarisierende(n) Deutungs-
modelle, die angeblich grundsätzliche Konzepte zum Verhältnis von Staat und
Kirche gegenüberstellen“: Okzident versus Orient, Ambrosius von Mailand versus
Euseb von Caesarea, Gelasius I. versus Justinian I.73 Diese führen jedoch „in die

72 Vgl. Leppin (wie Anm. 68), 346; zu Justinians spezifischem Verständnis seiner Herrschaft ἐκ
θεοῦ s. Meier (wie Anm. 68), 118–136. – Als größte aller Katastrophen hat wohl der Nika-Aufstand
vom Januar 532 zu gelten, den Meier mittels einer „brillanten Argumentation“ (H. Leppin) als von
Justinian inszeniert begreifbar machen möchte (M. Meier, Die Inszenierung einer Katastrophe:
Justinian und der Nika-Aufstand, in: ZPE 142 [2003], 273–300), während ihn Leppin – überzeu-
gender – lieber „konventionell“ deutet, in Anbetracht des gewaltigen Risikos, das Justinian in
einem solchen Fall eingegangen wäre, und der erheblichen Zerstörungen, die er in Kauf genom-
men hätte (Leppin, [wie Anm. 68], 372–373 [Anm. 158], von der unglaublich hohen Anzahl an
Opfern abgesehen, die die Niederschlagung des Aufstands kostete [von 30 000 und mehr Toten,
bis zu 80 000, ist in den Quellen die Rede (ebd., 147)]).
73 Das eindeutigste Beispiel lieferte jüngst J. Rist (wie Anm. 11). Nach einem kontrastierenden
Vergleich zwischen der Position Papst Gelasius’ I. („II. Gelasius oder die auctoritas sacrata pon­
tificum [n.b. sic, nicht pontificis!] des Papstes“ [44–52]) und Justinians („III. Justinian oder der
Kaiser als Theologe“ [52–59]) kommt er zum Schluss: „Im Osten geht Justinian ebenfalls den
von seinen Vorgängern beschrittenen Weg konsequent weiter. Mit beeindruckender Konsequenz,
gebremst nur durch zuweilen notwendige politische Rücksichten, schafft der Kaiser ein christ-
liches Staatswesen, dessen prägendes Element die Allzuständigkeit des Kaisers auch im kirch-
lichen Bereich ist. Obwohl der Kaiser den Bischöfen stets ehrerbietig begegnet, greift er tiefer
in den Bereich von Kirche und Dogma ein, als es je ein Kaiser vor ihm getan hat. So setzt er auf
dem Konzil von Konstantinopel [sc. dem von 553] gegen alle Widerstände, auch die recht zaghaf-
ten des Papstes Vigilius, die Verurteilung der Dreikapitel durch. Der justinianische Gleichklang

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224   Adolf Martin Ritter

Irre. Vielmehr hängt die Befürwortung oder Ablehnung staatlicher Intervention


immer davon ab, wie weit die Kaiser für den eigenen theologischen Standpunkt
eintreten.“74 Niemand hatte anscheinend „das mindeste gegen die Einrichtung
der Reichskirche einzuwenden, es sei denn, dass er Sprecher einer von Staat und
Kirche bedrückten Minderheit war.“75 Vergleicht man die „Zwei-Gewalten“-The-
orie Papst Gelasius’ I., dargelegt in seinem Brief an Kaiser Anastasius I. v.J. 494
(= Epistula 12, 2), mit den nur wenige Jahrzehnte jüngeren Definitionen Justini-
ans, das Verhältnis der beiden „größten Gottesgeschenke“ unter den Menschen
zueinander betreffend, nämlich des sacerdotium und des imperium,76 so sind die
Übereinstimmungen weit augenfälliger und gewichtiger als die Differenzen. Und
das ist auch umso plausibler, als der Papstbrief sicher nicht in den Konstantino-
peler Archiven verschwand. Er war bekannt, auch Justinian; doch von Protesten
des Kaiserhofes gegen die Annahme zweier Gewalten in der christlichen Welt,
wohl gar aus der Zeit Kaiser Justins und seines Adoptivsohnes und Nachfolgers
Justinian, hören wir nichts. Es gab keinen erkennbaren Grund!
Die Texte sind, wie dem Empfänger dieser Festschrift wohlbekannt, leicht
zugänglich.77 Er ist natürlich nicht gemeint, wenn ich die geneigte Leserin, den
geneigten Leser dazu einlade, sich selbst einen Reim auf den Textvergleich zu
machen, wenn sie mögen. Wohl aber ist er gemeint mit dem Wunsch: Ad multos
annos. Xρόνια πολλά.

von Staat und Kirche, die symphonia, συμφωνία, bedeutet in der Realität aber die vollständige
Unterordnung der Kirche unter den Kaiser und seinen Willen. Die spätere byzantinische Tradi-
tion führt die von Justinian begonnene Linie fort.“ (60). Für das justinianische Verständnis von
συμφωνία beruft sich Rist auf M. Clauss, Die συμφωνία von Kirche und Staat zur Zeit Justinians,
in: K. Dietz (Hg.), Klassisches Altertum, Spätantike und frühes Christentum, FS für A. Lippold,
Würzburg 1993, 579–593; doch das zählt nicht, weil der Aufsatz voller Fehlinformationen steckt.
74 So mit Recht Bleckmann (wie Anm. 11), 97. Zum wohl erst im 18. Jh. aufgekommenen, zumin-
dest aber breiter rezipierten Begriff „Caesaropapismus“ (als Gegenbegriff zu „Theokratie“) siehe
die Einleitung zu A. M. Ritter (wie Anm. 5), XV–XVI, Anm. 5.
75 Dörries (wie Anm. 4), 47.
76 Vorwort zu Novelle 6 [16. 3. 535] (CIC [B], N, 35–36 Schoell/Kroll).
77 Z. B. in: KThGQ II, Nr. 1. 8, oder in Ritter (wie Anm. 5), Texte und Übersetzungen, no. 66–67.

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Uta Heil
Konstantin und Jerusalem
Theologische Architekturinterpretationen in neueren
Veröffentlichungen

1 Zum Titel „Konstantin und Jerusalem“


Das „und“ in diesem Titel erschließt sich umgehend und ist eigentlich keiner
weiteren Erläuterung bedürftig. Auf Kaiser Konstantin1, der im Jahr 324 alleini-
ger Herrscher im Römischen Reich geworden war, gehen die etwa ein Jahr später
begonnenen innovativen Bauprojekte in Jerusalem und Bethlehem zurück: die
Grabeskirche in der Stadt Jerusalem (Aelia Capitolina), die Eleona-Kirche am
Ölberg, wo an Jesu Unterweisung der Jünger erinnert wurde, und die Geburtskir-
che in Bethlehem, nicht zu vergessen der Kirchenbau in Mamre, wo drei Engel

1 Zu Konstantin allgemein vgl. N. Lenski (ed.), The Cambridge Companion to the Age of Con­
stantine, Cambridge 2012; J. Bardill, Constantine. Divine Emperor of the Christian Golden Age,
Cambridge 2012; B. Bleckmann, Konstantin der Große, Reinbek 1996; H. Brandt, Konstantin der
Große. Der erste christliche Kaiser, München 32011; A. Goltz/H. Schlange-Schöningen (Hgg.),
Konstantin der Große. Das Bild des Kaisers im Wandel der Zeiten, Köln 2008; E. Herrmann-Otto,
Konstantin der Große, Darmstadt 2007; P. J. Leithart, Defending Constantine. The Twilight of an
Empire and the Dawn of Christendom, Downers Grove 2010 (vgl. dazu T. Schirrmacher, Neue
Bücher über Konstantin den Großen von Leithart und Girardet, in: Jahrbuch des Martin-Bucer-
Seminars 14 [2014], 9–15; A. M. Ritter, Konstantin, Euseb und die Zukunft des Christentums. Ein
Gespräch mit P. R. Brown, J. H. Yoder und P. J. Leithart, in: R. Flogaus [Hg.], Orthodoxie im Di-
alog. Historische und aktuelle Perspektiven [AKG 130], Berlin 2015, 293–309); D. Potter, Cons-
tantine the Emperor, Oxford 2013; H. Schlange-Schöningen (Hg.), Konstantin und das Christen-
tum, Darmstadt 2007; R. van Dam, The Roman Revolution of Constantine, Cambridge 2007. Zur
Religionspolitik vgl. außerdem K. Ehling/G. Weber (Hgg.), Konstantin der Große. Zwischen Sol
und Christus, Darmstadt 2011; K. M. Girardet, Der Kaiser und sein Gott. Das Christentum im Den-
ken und in der Religionspolitik Konstantins des Großen, Berlin 2010; R. Leeb, Konstantin und
Christus. Die Verchristlichung der imperialen Repräsentation unter Konstantin dem Großen als
Spiegel seiner Kirchenpolitik und seines Selbstverständnisses als christlicher Kaiser (AKG 58),
Berlin 1992; C. R. Raschle, Les programmes religieux de Constantin et de ses concurrents vus
à travers les monnaies, in: RHE 110 (2015), 587–618; M. Wallraff, Sonnenkönig der Spätantike.
Die Religionspolitik Konstantins des Großen, Freiburg im Breisgau 2013; id., Die antipaganen
Maßnahmen Konstantins in der Darstellung des Euseb von Kaisareia, in: J. Hahn (Hg.), Spät­
antiker Staat und religiöser Konflikt. Imperiale und lokale Verwaltung und die Gewalt gegen Hei-
ligtümer (Millennium Studies 34), Berlin 2011, 7–18; M. D. Smith, The Religion of Constantius I.,
in: Greek, Roman and Byzantine Studies 38 (1997), 187–208.

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226   Uta Heil

Abraham (Gen 18,1–15) aufgesucht haben sollen.2 Man sollte sogar zuspitzen und
formulieren: Konstantin ist der Finder (auch wenn er finden lässt) und Erfinder
von heiligen Stätten als Orte der Epiphanie des Gottes der Christen. Es sind also
„auf seine Initiative Kirchen an den wichtigsten Stellen der christlichen Heilsge-
schichte im Heiligen Land, vor allem in Jerusalem, gebaut worden.“3 An solchen
Orten und Plätzen, denen schon von alters her eine Heiligkeit eigne, zeige sich
auch der christliche Gott – so die Perspektive von Konstantin. Daraus entstand
dann die christliche Vorstellung eines „Heiligen Landes“, das sich zu dem bedeu-
tendsten Ziel von Pilgerreisen entwickeln sollte. Konstantin schuf damit etwas
Neues; vorher war Jerusalem ein eher unbedeutender Bischofssitz, bei dem allen-
falls an den ersten Bischof Jakobus erinnert und sein Thron auf dem Zionshügel
bei der Stadt verehrt wurde.4
Andererseits ist der Titel „Konstantin und Jerusalem“ durchaus problema-
tisch, da ein persönlicher Aufenthalt des Kaisers in dieser Stadt gar nicht belegt
ist. Eine kleine Notiz bei Euseb von Cäsarea in De vita Constantini bezeugt zwar

2 Vgl. S. de Blaauw, Konstantin als Kirchenstifter, in: A. Demandt/J. Engemann (Hgg.), Kon-


stantin der Große. Imperator Caesar Flavius Constantinus, Ausstellungskatalog, Mainz 2007,
163–172 (163–164): Von 22 literarisch belegten Kirchenbauten Konstantins liegen sechs in Oriens,
vier davon im „Heilige Land“; hinzu kommen Kirchen in Antiochia und in Heliopolis. Vgl. auch
G. T. Armstrong, Constantine’s Churches, in: Gesta 6 (1967), 1–9.
3 H. C. Brennecke, Der christliche Kaiser und die Kirche, in: Historicum. Zeitschrift für Geschich-
te (2008), 42–49 (46).
4 Euseb von Cäsarea schreibt in seiner Historia ecclesiastica (7,19 [GCS.NF 6,2, 672,24–674,6
Schwartz/Mommsen/Winkelmann]; übers. P. Häuser und H. A. Gärtner, Kirchengeschichte, hg.
von H. Kraft, München 31989 = Darmstadt 1997, 334–335): τὸν γὰρ Ἰακώβου θρόνον, τοῦ πρώτου
τῆς Ἱεροσολύμων ἐκκλησίας τὴν ἐπισκοπὴν πρὸς τοῦ σωτῆρος καὶ τῶν ἀποστόλων ὑποδεξαμένου,
ὃν καὶ ἀδελφὸν τοῦ Χριστοῦ χρηματίσαι οἱ θεῖοι λόγοι περιέχουσιν, εἰς δεῦρο πεφυλαγμένον οἱ
τῇδε κατὰ διαδοχὴν περιέποντες ἀδελφοὶ σαφῶς τοῖς πᾶσιν ἐπιδείκνυνται οἷον περὶ τοὺς ἁγίους
ἄνδρας τοῦ θεοφιλοῦς ἕνεκεν οἵ τε πάλαι καὶ οἱ εἰς ἡμᾶς ἔσῳζόν τε καὶ ἀποσῴζουσι σέβας. –
„Der Bischofsthron des Jakobus, der als erster vom Herrn und den Aposteln das Bischofsamt der
Kirche von Jerusalem erhielt und der, wie die göttlichen Bücher lehren, Bruder Christi genannt
wurde, ist noch heute erhalten und wird von den Brüdern dort ständig verehrt. Damit bekunden
sie allen deutlich die Ehrfurcht, welche die Christen schon in alter Zeit und noch jetzt gegen
die heiligen Männer wegen ihrer Frömmigkeit hegten und hegen.“ Außerdem wurde hier an das
Pfingstereignis erinnert, vgl. Cyrill von Jerusalem, Catecheses 16,4; Egeria, Itinerarium 43 (vgl. die
Einleitung und Kommentierung in: K. Brodersen [Hg.], Aetheria/Egeria, Reise ins Heilige Land,
Sammlung Tusculum, Berlin 2016, 226–229) sowie Epiphanius, De mensuris et ponderibus 14.
Zur frühen Gemeinde Jerusalems vgl. ausführlich O. Irshai, From Oblivion to Fame: The History
of the Palestinian Church (135–303 CE), in: O. Limor/G. G. Stroumsa (eds.), Christians and Chris-
tianity in the Holy Land. From the Origins to the Latin Kingdoms (Cultural Encounters in Late
Antiquity and the Middle Ages 5), Turnhout 2006, 91–139 (92–129 [100 zu Jakobus]).

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 Konstantin und Jerusalem   227

eine frühere, wohl um 297 zu datierende Reise Konstantins durch Palästina, auf
der Euseb ihn kennengelernt, das heißt gesehen habe. Euseb greift nämlich in
De vita Constantini auf diese Erinnerung zurück, um das großartige Erscheinungs-
bild des künftigen Kaisers zu beschreiben.5 Konstantin war damals Militärtribun
am Hof des Kaisers Diokletian6 und dürfte in dieser Eigenschaft den Augustus
senior auf seiner Reise nach Ägypten (Memphis) begleitet haben, um einen Auf-
stand in Ägypten niederzuschlagen.7 Ob Konstantin bei dieser Durchreise jedoch
überhaupt Jerusalem gesehen hatte, ist noch nicht einmal wahrscheinlich, da
das Heer eher die Küste entlang über Cäsarea, der Bischofsstadt Eusebs, nach
Alexandria bzw. zurück nach Antiochia gezogen sein dürfte. Was Konstantin also
von Jerusalem wusste, eine Stadt, die er als Aelia Capitolina kannte, und ob er
damals über die Bedeutung der Stadt für das Judentum und Christentum im Bilde
war, ist kaum eruierbar.
Gut 25 Jahre später, bald nach Konstantins Sieg über Licinius im September
324, könnte der Kaiser sich noch einmal Richtung Jerusalem begeben haben.
Bekannt ist, dass Konstantin von Nikomedien aus nach Antiochien zog und
weiter nach Ägypten reisen wollte, wo sein Advent schon erwartet wurde.8 Er

5 Euseb, De vita Constantini 1,19,1 (GCS 1,1, 17,20–24 Heikel; übers. FC 83, 173 Schneider): οἷον
αὐτὸν καὶ ἡμεῖς ἔγνωμεν τὸ Παλαιστινῶν διερχόμενον ἔθνος σὺν τῷ πρεσβυτέρῳ τῶν βασιλέων,
οὗ καὶ ἐπὶ δεξιὰ παρεστὼς περιφανέστατος ἦν τοῖς ὁρᾶν ἐθέλουσιν, οἷός τε βασιλικοῦ φρονήματος
ἐξ ἐκείνου τεκμήρια παρέχων. – „So lernten wir ihn kennen, als er durch die Provinz Palästina
zusammen mit dem Ältesten der Kaiser zog. An dessen rechter Seite stehend bot er denjenigen
Menschen, die ihn anzuschauen wünschten, die glänzendste Erscheinung und zeigte so seit
jener Zeit die Merkmale kaiserlicher Gesinnung.“ In Euseb, De vita Constantini 1,19,2 folgen dann
Details zu Konstantins Aussehen.
6 Vgl. Laktanz, De mortibus persecutorum 18,10.
7 Ob Konstantin auch bei späteren Reisen Diokletians nach Ägypten dabei gewesen war, lässt
sich nicht mehr feststellen. Falls ja, dann dürfte er auch die erste religionspolitische Maßnahme
Diokletians, sein Edikt gegen die Manichäer, unmittelbar miterlebt haben, denn die harten Be-
stimmungen gegen die Manichäer, die von der Vernichtung des Schriftguts bis zur Kapitalstrafe
reichen, wurden zu der Zeit dort in Ägypten (Alexandria) beschlossen: Collatio Mosaicarum et
Romanorum legum 15,3,3; vgl. I. Gardner/S. Lieu (eds.), Manichaean Texts from the Roman Em-
pire, Cambridge 2004, 116–118. Vgl. zu Konstantins Reisen nach Ägypten: Potter (wie Anm. 1),
63.72–75; T. Barnes, Constantine and Eusebius, Cambridge 1981, 17–19; id., The New Empire of Di-
ocletian and Constantine, Cambridge 1982, 41–42; id., Constantine. Dynasty, Religion, and Power
in the Later Roman Empire, Chichester 2011, 51–53; E. D. Hunt, Constantine and Jerusalem, in:
JEH 48 (1997), 405–424 (406–408); Van Dam (wie Anm. 1), 293–294.
8 Vgl. die Aussage Konstantins in seinem Brief an Alexander von Alexandrien und Arius (Urk. 17
[Athanasius Werke = AW 3,1,1: Urkunden zur Geschichte des arianischen Streites 318–328, hg.
von H.-G. Opitz, Berlin 1935, 32–35]) in § 15: Konstantin wolle von Nikomedien aus anreisen, sei
aber aufgrund der Streitigkeiten in Ägypten davon abgehalten worden. Vgl. auch Papyrus Oxy­

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228   Uta Heil

brach diese Reise jedoch ab, feierte sein zwanzigjähriges Regierungsjubiläum


wieder in Nikomedien und anschließend auf der großen ökumenischen Synode
in Nizäa im Frühsommer 325 und reiste 326 nach Rom. Bei dieser abgebrochenen
Reise Richtung Ägypten scheint Konstantin also nicht bis nach Jerusalem vorge-
drungen zu sein.9
Da auch zu späterer Zeit Konstantin nicht dort weilte, noch nicht einmal bei
der Weihe der Grabeskirche im Jahr 33510, so muss man feststellen, dass der Kaiser
zwar die großartigen neuen Kirchenbauten angeregt, aber weder die Stadt noch
die späteren Bauten persönlich in Augenschein genommen hatte. Diese Beob-
achtung bestätigt aber wiederum die Einschätzung, dass Konstantin hier Neues
und Eigenes schuf und nicht unbedingt an lokale Traditionen oder Interessen
anknüpfte. Es ist ja keinesfalls eine selbstverständliche Entwicklung, dass die
Schauplätze des irdischen Lebens Jesu über kurz oder lang zu „heiligen Stätten“
werden mussten, wie es der Historiker Kai Trampedach formuliert.11
Damit stellt sich jedoch erst recht die Frage, was Konstantin eigentlich auf
die Idee gebracht hatte, diese Kirchen zu errichten, und wie sein Bauprogramm
zu interpretieren ist. Der folgende Abschnitt präsentiert einige wohl nichtzutref-
fende theologische Deutungen12 und stellt anschließend eine eigene Einschät-
zung vor, die sich auf die Grabeskirche konzentriert.

rhynchus 1626: The Oxyrhynchus Papyri 14, B. P. Grenfell/A. S. Hunt (eds.), London 1920, 1–3,
über Vorbereitungen wegen des Advents eines Kaisers.
9 So aber E. D. Hunt, Holy Pilgrimage in the Later Roman Empire AD 312–460, Oxford 1982,
6–7: „He came to know the traditions and expectations with which Christians had invested the
land of the Bible“, aber in seinem Aufsatz von 1997 (wie Anm. 7) vertritt er eine andere Ansicht
(409–410: „ignorance about Jerusalem“; nur eine „intended“ Reise sei anzunehmen sowie ein
„imperial interest in the city of Jerusalem“ nur „from distance“); van Dam, Roman Revolution
(wie Anm. 1), 293–295.
10 Vgl. zu dieser Synode Dok. 39 (Athanasius Werke = AW 3,1,3 Dokumente zur Geschichte des
arianischen Streites 318–328, hgg. von H. C. Brennecke/U. Heil/A. von Stockhausen/A. Wintjes,
Berlin 2007, 129–131).
11 K. Trampedach, Die Konstruktion des Heiligen Landes. Kaiser und Kirche in Jerusalem von
Constantin bis Justinian, in: M. Sommer (Hg.), Die Levante. Beiträge zur Historisierung des
Nahostkonflikts (Freiburger Beiträge zu Entwicklungen und Politik 27), Freiburg 2001, 83–110
(84–85). Vgl. ferner O. Limor/G. G. Stroumsa (eds.), Christians and Christianity in the Holy Land.
From the Origins to the Latin Kingdoms (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle
Ages 5), Leiden 2006; C. Markschies, Die Bedeutung Jerusalems für die antike Christenheit, in:
M. Konkel/O. Schuegraf (Hgg.), Provokation Jerusalem. Eine Stadt im Schnittpunkt von Religion
und Politik (Jerusalemer Theologisches Forum 1), Münster 2000, 85–125.
12 Nicht thematisiert werden allgemeine Einschätzungen wie „Constantine’s church building
often embodies his self-image as a victor over paganism“ (Leithart [wie Anm. 1], 121); oder: Es
war eine der Maßnahmen, „to distance himself […] from actions of his Tetrarchy predecessors“

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 Konstantin und Jerusalem   229

2 Deutungen des Bauprogramms in Palästina

2.1 „Jesuanismus“

Eine neue Deutung bietet Martin Wallraff in seinem Buch von 2013 „Sonnenkönig
der Spätantike. Die Religionspolitik Konstantins des Großen“.13 Er schlägt vor, die
drei Kirchenbauten (ohne Mamre) als Ausdruck eines „Jesuanismus“ des Kaisers
zu verstehen, und schreibt: Diese Kirchen

sind an das irdische Leben Jesu gebunden: Geburt, Tod und Auferstehung sowie Himmel-
fahrt. […] Sie gehören zu einer Art „Jesuanismus“ des Kaisers, der so weit ging, dass er
selbst sich schließlich mit dem Erlöser regelrecht identifizierte.14

Diese Beschreibung der Kirchenbauten als Ausdruck eines „Jesuanismus“ des


Kaisers führt jedoch auf einen falschen Weg, da diese Orte weniger an den irdi-

(van Dam [wie Anm. 1], 298); oder kurze Bemerkungen wie „linking architecture with Christian
history“ (M. J. Johnson, Architecture of Empire, in: Lenski [wie Anm. 1], 293) oder „his growing
tendency to make life easier for Christians“ (Potter [wie Anm. 1], 281). Auch nicht thematisiert
wird die ältere, „klassische“ theologische bzw. frömmigkeitsgeschichtliche Deutung der Bauten
als Martyria bzw. als Pilgerziele (so vor allem Hunt [wie Anm. 9], 6–27).
Problematisch ist auch die Einschätzung des Bauprogramms als anti-jüdische Maßnahme (Leit-
hart [wie Anm. 1], 136: „There is no overt evidence that Constantine’s project to erect a new Jeru-
salem on the ruins of the old was motivated by an anti-Jewish agenda.“), so aber U. Fellmeth, An-
merkungen zur Religions- und Kirchenbaupolitik Kaiser Constantins, in: Pilgerwege ins „Heilige
Land“. Beiträge zur Religionsgeographie der alten Kirche, Frankfurt/M. 2012, 37–45 (44).
13 Wallraff (wie Anm. 1).
14 Wallraff (wie Anm. 1), 132. Vgl. auch die Bemerkung in Bardill (wie Anm. 1), 255: „The theo-
logical disputes that took place at the Council of Nicaea in 325 perhaps kindled Constantineʼs
curiosity about the historical Jesus, for soon after that gathering a host of churches and shrines
were built in the Holy Land to mark sites associated with Jesusʼ life“, mit Verweis auf van Dam
(wie Anm. 1), 297: „Perhaps the emperor was now curious about the historical Jesus behind the
theological Jesus“ (vgl. auch van Dam [wie Anm. 1], 307–309). Zugleich nennt Bardill es aber
auch ein Monument des Sieges über Licinius, unter Verweis auf J. M. Schott, Christianity, Empire,
and the Making of Religion in Late Antiquity, Philadelphia 2008, 129–130, und ein Monument der
Einigung der Kirchen in Nizäa. Wie die knappe Bemerkung von M. J. Johnson in seinem Abschnitt
„Architecture of Empire“ in dem großen Handbuch von Lenski (wie Anm. 1), Konstantin wende
seine Aufmerksamkeit „to the sites made sacred by Christ’s life“ (293) genauer zu verstehen ist,
bleibt unklar. Ähnlich knapp G. T. Armstrong, Imperial Church Building and Church-State Rela-
tions, A. D. 313–363, in: ChH 36 (1967), 3–17 [12]): „churches commemorating historical events –
those of Jesus in the Holy Land“, wobei Armstrong auch von der Grabeskirche als „center of the
New Jerusalem“ (10) sprechen kann.

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230   Uta Heil

schen Menschen Jesus erinnern als an den Einbruch des Göttlichen in das Irdische
und somit Orte der Epiphanie bzw. Theophanie sind. Überdies sind Auferstehung
und Himmelfahrt keine Aspekte des irdischen Lebens Jesu. An dem irdischen
Jesus als Mensch war Konstantin eigentlich kaum interessiert. Wallraff verweist
(131) zwar darauf, dass „der Kaiser selbst den Plan“ hatte, „die Stätten des Lebens
Jesu zu besuchen“. Er kann aber für dieses Ansinnen nur auf eine Stelle in der
Vita des Euseb hinweisen (De vita Constantini 3,62,2), in der Euseb das Lebens-
ende Konstantins beschreibt und ihn seinen Taufwunsch äußern lässt. Hier heißt
es, dass Konstantin einst den Plan hatte, im Jordan getauft zu werden, wo auch
Jesus von Johannes getauft worden war. Hieraus aber ein allgemeines Interesse
des Kaisers an Stätten des Lebens des irdischen Jesu abzuleiten, wird dieser Stelle
nicht gerecht.15 Weitere Bauvorhaben Konstantins in Galiläa oder Samaria, den
zentralen Regionen des irdischen Wirkens Jesu, sind nicht bekannt.16 So ist die
neue Deutung der Kirchenbauten als „Jesuanismus“ kein Fortschritt und verbin-
det in anachronistischer Weise spätere Pilgerinteressen mit Konstantin.

2.2 Glaubensbekenntnis in Stein

Eine andere, schon etwas ältere theologische Deutung des Bauprogramms ist weit
verbreitet und wird besonders von dem Bamberger Alttestamentler Klaus Bieber-
stein vertreten: Bei den Bauten handele es sich um ein in Stein gemeißeltes oder
umgesetztes Glaubensbekenntnis. Dazu wird auf die im Frühsommer 325 stattge-
fundene Synode von Nizäa verwiesen, auf der die Bischöfe sich bekanntlich auf
ein Bekenntnis, besser zu bezeichnen als eine theologische Erklärung, verstän-
digt haben, um die theologischen Thesen des alexandrinischen Presbyters Arius
auszugrenzen. Bieberstein hat seine These prominent in einem Band der Beihefte

15 Vgl. exemplarisch aus Konstantins Oratio ad sanctorum coetum 11,15 (GCS 7,1, 170,12–13 Hei-
kel): τίνος ἄλλου πλὴν τοῦ θεοῦ τῆς τε ἐξοχωτάτης δυνάμεως ἔργον τοῦτο. Die Werke des irdi-
schen Jesus sind also Zeichen der Macht Gottes! Vgl. auch Oratio ad sanctorum coetum 12,1.
16 Konstantin stimmte wohl dem Anliegen des Konvertiten Joseph von Tiberias (330–365) zu,
Kirchen in Nazareth und am See Genezareth zu bauen (Epiphanius, Panarion [Adversus haere­
ses] 30,4); vgl. J. E. Taylor, Christians and the Holy Places. The Myth of Jewish-Christian Origins,
Oxford 1993, 227–228.288–290; S. Goranson, Joseph of Tiberias Revisited. Orthodoxies and Here-
sies in Forth-Century Galilee, in: E. M. Meyers (ed.), Galilee Through the Centuries. Confluences
of Cultures, Winona Lake 1999, 335–343; O. Skarsaune, Epiphanius on Joseph of Tiberias, in: id./
R. Hvalvik (eds.), Jewish Believers in Jesus. The Early Centuries, Peabody 2007, 528–540.

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 Konstantin und Jerusalem   231

zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients ausgeführt,17 im Jahr 1996 im ersten
Heft der Reihe „Welt und Umwelt der Bibel“ populär unter dem Titel „Theologie
in Stein“ vorgestellt,18 danach in mehreren Veröffentlichungen wiederholt bis hin
zu seinem Beitrag „Jerusalem“ in dem Sammelband „Erinnerungsorte des Chris-
tentums“. Darin heißt es:

Kaiser Konstantin ließ im Nachklang des ersten Ökumenischen Konzils von Nicäa 325
mit der Geburtskirche in Bethlehem, der zweiteiligen Grabeskirche (Martyriums-Basilika
und Anastasis-Rotunde mit dem Heiligen Grab) in Jerusalem und der Himmelfahrtskirche
(Eleona; heute: Pater-Noster-Kirche) am Ölberg die ersten drei Kirchen des Landes errich-
ten, die den Stationen des Glaubensbekenntnisses von Nicäa so wörtlich entsprachen, dass
sie geradezu als dessen Monumentalisierung – als begehbare Programmsymphonie in
Stein – interpretiert werden können.19

Gegen diese Interpretation spricht jedoch allein die Tatsache, dass die Bauten
erst sukzessive entstanden zu sein scheinen mit der Grabeskirche zu Beginn.
Daher ist ein einheitliches theologisches Konzept für alle Bauten, das von Beginn
an festgestanden habe und umgesetzt worden sei, wenig wahrscheinlich. Vor
allem jedoch befremden die theologischen Unstimmigkeiten bei dieser These. Die
Kongruenzen zwischen den Bauten und dem Bekenntnis von Nizäa stimmen nur
auf den ersten oberflächlichen Blick überein, wenn man sich den Text genauer
anschaut, und können nicht der entscheidende Auslöser gewesen sein. Im
Nizänum von 325 heißt es:

Wir glauben an einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer aller sichtbaren
und unsichtbaren Dinge; und an einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, als Einge-
borener gezeugt aus dem Vater, das heißt aus dem Wesen des Vaters, Gott von Gott, Licht
von Licht, wahrer Gott von wahrem Gott, gezeugt und nicht geschaffen, wesenseins mit dem

17 K. Bieberstein/H.-W. Bloedhorn (Hgg.), Jerusalem. Grundzüge der Baugeschichte vom Chal-


kolithikum bis zur Frühzeit der osmanischen Herrschaft 1 (TAVO Beiheft Reihe 8 100/1), Wies-
baden 1994, 154: „So wurden nach dem Konzil von Nicaea 325 […] in wörtlicher Entsprechung
zum nicaenischen Symbolum und daher wohl als dessen Umsetzung in Architektur als erste
öffentliche Kirchenbauten Palästinas drei Kirchen, eine Basilika zum Gedenken der Geburt des
Erlösers in Bethlehem, eine Doppelkirchenanlage zum Gedenken seines Leidens und seiner Auf-
erstehung in mitten Jerusalems westlich des Cardo und schließlich eine dritte Basilika zum Ge-
denken seiner Himmelfahrt auf der Höhe des Ölbergs errichtet.“
18  K. Bieberstein, Theologie in Stein. Die Grabeskirche im Wandel der Zeiten, in: Welt und Um-
welt der Bibel (1996/1), 35–43 (36): Es „entsprach der Bau dieser drei Kirchenanlagen geradezu
wörtlich den Stationen des Glaubensbekenntnisses von Nicaea“. Vgl. auch Bieberstein, Art. Jeru-
salem IV. Alte Kirche, in: 4RGG 4 (2001), 437–438.
19 C. Markschies (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, 66.

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232   Uta Heil

Vater, durch den alles wurde, was im Himmel und auf Erden ist, der für uns Menschen
und um unseres Heils willen herabstieg und Fleisch wurde, der Mensch geworden
ist, litt und am dritten Tag auferstand, aufstieg in die Himmel, der kommen wird,
um die Lebenden und die Toten zu richten; und an den heiligen Geist. Die aber sagen, »es
war einmal, dass er nicht war« oder »er war nicht, bevor er gezeugt wurde« oder »aus dem
Nichts wurde er« oder die behaupten, er sei aus einer anderen Hypostase oder einem anderen
Wesen, oder aber sagen, der Sohn Gottes sei geschaffen, wandelbar oder veränderlich, diese
verdammt die katholische und apostolische Kirche.20

Die Aussagen, um die in Nizäa heftig gerungen wurde und welche die Themen
der damaligen Diskussion widerspiegeln, sind kursiv gesetzt. Dagegen sind die
Aussagen, die mit den Kirchen in Stein gemeißelt seien, mit Kapitälchen abge-
setzt. Gerungen wurde also um die Gottheit des Sohnes, das Verständnis seiner
vorweltlichen, also präexistenten Zeugung aus dem Vater und deren Verhält-
nisbestimmung zueinander. Ganz und gar unumstritten waren dagegen seine
Menschwerdung, sein Leiden und seine Auferstehung. Diese Aussagen sind tra-
ditionelle Formeln, die sich in den Texten der verschiedensten Autoren seit dem
zweiten Jahrhundert finden und hier selbstverständlich aufgenommen werden.
Wenn also das Nizänum in Stein gemeißelt hätte werden sollen, dann wäre die
Wesenseinheit des Sohnes mit dem Vater das programmatische Thema, wie auch
immer das in eine architektonische Lösung überführt werden könnte.
Wie sehr auch der Kaiser selbst genau diese Thematik verfolgte, zeigen insbe-
sondere zwei seiner Briefe, einer an Arius und seine Anhänger und einer an die
Kirche von Nikomedien. An Arius schrieb Konstantin beispielsweise direkt von
der Synode von Nizäa 325:

20 Urk. 24 (Athanasius Werke = AW 3,1,2 Urkunden zur Geschichte des arianischen Streites 318–
328, hg. von H.-G. Opitz, Berlin 1935, 51,5–52,5; übers. als Dok. 26 [AW 3,1,3, 109 Brennecke/Heil/
von Stockhausen/Wintjes]): Πιστεύομεν εἰς ἕνα θεόν, πατέρα, παντοκράτορα, πάντων ὁρατῶν
τε καὶ ἀοράτων ποιητήν, καὶ εἰς ἕνα κύριον Ἰησοῦν Χριστὸν τὸν υἱὸν τοῦ θεοῦ, γεννηθέντα ἐκ
τοῦ πατρὸς μονογενῆ, τουτέστιν ἐκ τῆς οὐσίας τοῦ πατρός, θεὸν ἐκ θεοῦ, φῶς ἐκ φωτός, θεὸν
ἀληθινὸν ἐκ θεοῦ ἀληθινοῦ, γεννηθέντα οὐ ποιηθέντα, ὁμοούσιον τῷ πατρί, δι ᾿ οὗ τὰ πάντα
ἐγένετο τὰ τε ἐv οὐρανῷ καὶ τὰ ἐν τῇ γῇ, τὸν δι᾿ ἡμᾶς τοὺς ἀνθρώπους καὶ διὰ τὴν ἡμετέραν
σωτηρίαν κατελθόντα καὶ σαρκωθέντα, ἐνανθρωπήσαντα, παθόντα καὶ ἀναστάντα τῇ τρίτῃ
ἡμέρᾳ, ἀνελθόντα εἰς οὐρανούς, ἐρχόμενον κρῖναι ζῶντας καὶ νεκρούς, καὶ εἰς τὸ ἅγιον πνεῦμα.
τοὺς δὲ λέγοντας „ἦν ποτε ὅτε οὐκ ἦν“ ἢ „οὐκ ἦν πρὶν γεννηθῇ“ ἢ „ἐξ οὐκ ὄντον ὲγένετο“ ἢ ἐξ
ἑτέρας ὑποστάσωες ἢ οὐσίας φάσκοντας εἶναι ἢ κτιστὸν ἢ τρεπτὸν ἢ ἀλλοιωτὸν τὸν υἱὸν τοῦ
θεοῦ τοὺς τοιούτους ἀναθεματίζει ἡ καθολικὴ καὶ ἀποστολικὴ ἐκκλησία.

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 Konstantin und Jerusalem   233

Du, der du ohne Zweifel falsch glaubst, meinst, man müsse eine „fremde Hypostase“ unter-
ordnen, ich aber weiß, dass die Fülle der einzigartigen und alles durchdringenden Macht
des Vaters und des Sohnes ein Wesen ist. […] Du nennst den nachträglich Hinzugekomme-
nen und gleichsam Diener für das, was zu tun ist, der ohne Überlegung und Gedanken alles
vollendet, dadurch, dass er mit der Ewigkeit des Vaters zusammen ist?21

Und an die Nikomedier schrieb er zu dieser Zeit:

Was also ist zwischen Gott, dem Vater, und dem Sohn? Offensichtlich nichts! Diese Fülle der
Dinge nämlich hat durch Wahrnehmung den Befehl des Willens empfangen und nicht den
aus dem Wesen des Vaters abgeteilten Willen abgetrennt. […] Welch Ausmaß eines Verbre-
chens zeigt sich, wenn geleugnet wird, dass der Sohn des Vaters aus dem ungeteilten Wesen
des Vaters hervorgegangen ist!22

Konstantin war also bei aller Polemik mit dem Grundanliegen der „Nizäner“
vertraut, so dass auch er das Nizänum nicht grundsätzlich anders verstanden
haben dürfte als gerade beschrieben. Natürlich haben die drei Kirchenbauten
mit Geburt, Leid, Tod und Auferstehung Christi zu tun, nur erklärt das Nizänum
von 325 nicht das Bauprogramm Konstantins oder bildet den Auslöser dafür. Es
gibt überdies keine Quellen, die diese Verbindung zwischen den Bauten und dem
Nizänum herstellen, sondern es handelt sich um sekundäre Assoziationen, die
sich an die eher unauffälligen Phrasen des Nizänums anhängen.
Betont man die Verbindung der Bauten Konstantins mit dem Nizänum, so
wird ein Aspekt gar nicht berücksichtigt, nämlich die Verbindung der Eleona-
Kirche mit der Jüngerunterweisung, was eigentlich der bedeutendere Memo-
ria-Aspekt dieses Ortes war.23 Sowohl die Endzeitrede Jesu vor seiner Passion

21 Urk. 34 (AW 3,1,2, 71,3–6; 73,11–13 Opitz; übers. als Dok. 27 [AW 3,1,3, 111,14; 113,30 Brennecke/
Heil/von Stockhausen/Wintjes]: σὺ μὲν „ὑπόστασιν ξένην“ ὑποτάττειν οἴει δεῖν κακῶς δήπου
πιστεύων, ἐγὼ δὲ τῆς ὑπερεξόχου καὶ ἐπὶ πάντα διηκούσης δυνάμεως τὸ πλήρωμα τοῦ πατρὸς
καὶ υἱοῦ οὐσίαν μίαν εῖναι γινώσκω. […] σὺ ἐπείσακτον καλεῖς καὶ ὡς ἐπὶ καθηκόντων ὑπερέτην
τὸν ἄνευ ἐνθυμήσεως καὶ λογισμοῦ τῷ συνυπάρχειν τῇ τοῦ πατρὸς ἀιδιότητι πάντα διανύσαντα;
22 Urk. 27 (AW 3,1,2, 58,12–15; 59,20–21 Opitz; übers. als Dok. 31 [AW 3,1,3, 118,3; 119,8 Brennecke/
Heil/von Stockhausen/Wintjes]): τί οὖν ἐστι μεταξὺ τοῦ θεοῦ καὶ πατρὸς καὶ υἱοῦ; οὐδὲν δηλαδή.
αὕτη γὰρ ἡ τῶν πραγμάτων συμπλήρωσις αἰσθήσει παρείληφε τὸ τῆς βουλήσεως πρόσταγμα,
οὐχὶ δὲ μερισθεῖσαν ἐκ τῆς τοῦ πατρὸς οὐσίας τὴν βούλησιν διέστησεν. […] Τίς ἡ τοῦ λῃστηρίου
τούτου ὰναπέφανται δεινότης, ἢ τὸν τοῦ θεοῦ υἱὸν ἀρνεῖται ἐξ ἀμερίστου τοῦ πατρὸς οὐσίας
προεληλυθέναι;
23 Euseb, Demonstratio evangelica 6,18,23; auch De vita Constantini 3,43,3 und Onomasticon
(GCS 3,1, 74,17–18 Klostermann): κεῖται δὲ καὶ πρὸς τῷ ὄρει τῶν ἐλαιῶν, ἐν ᾧ καὶ νῦν τὰς εὐχὰς οἱ
πιστοὶ ποιεῖσθαι σπουδάζουσιν. Ein wichtiger Zeuge für diese vorkonstantinische Lokaltradition
sind die apokryphen Johannesakten 94–102: Der Jünger Johannes hält sich während der Passi-

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234   Uta Heil

(Mt 24,4–25; Mk 13; Lk 21,5–24) als auch die Jünger-Unterweisung vor seiner Him-
melfahrt (Apg 1,7–8) wurden mit dem Ölberg verbunden, so dass die Kirche – mit
den Worten Eusebs (De laudibus Constantini 9,17) – zu Ehren des Erlösers, der
sich dort mit Vorliebe aufhielt und dort alle seine Verehrer in die unaussprech-
lichen Mysterien einweihte, errichtet wurde. Da das Nizänum diese Jüngerunter-
weisung aber gar nicht erwähnt, sollte man dieses Bekenntnis nicht als program-
matischen Text für die Konstantinischen Bauten betrachten. Daher assoziiert die
Interpretation der drei Kirchen als Umsetzung des Glaubensbekenntnisses zu
sehr die spätere liturgische Nutzung, welche die Gebäude durch Prozessionen
verbindet. Dies ist jedoch eine spätere Innovation und kann nicht schon für die
Jahre 325/326 mitgedacht werden.
Die Ansicht von Bieberstein wird jedoch gerne aufgegriffen, so von dem
Kunstgeschichtler Jürgen Krüger in seinem großen Band „Die Grabeskirche zu
Jerusalem. Geschichte – Gestalt – Bedeutung“.24 Auch der Historiker Kai Trampe­
dach argumentiert in diesem Sinne:

Das Vorgehen des Kaisers zeugt von bemerkenswertem theologischen und symbolischen
Geschick, denn das Bauprogramm illustrierte die fundamentalen Ereignisse des Christen-
tums, wie sie auch im Glaubensbekenntnis von Nikaia aufgeführt worden sind: die Inkar-
nation in Bethlehem, die Passion und Wiederauferstehung in Golgotha und am nahegele-
genen Grab sowie die Himmelfahrt auf dem Ölberg.25

Der Neutestamentler Max Küchler deutet das Bauensemble wie Bieberstein in


seiner inzwischen zum Standardwerk gewordenen monumentalen Veröffent­
lichung „Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt“.26
Eine Deutung, die theologisch in eine ähnliche Richtung geht, schlägt Martin
Fuß vor.27 Er setzt zwar anders als Bieberstein den Anteil des Kaisers Konstan-
tin ganz gering an – es sei vielmehr eine Initiative der Ortsbischöfe gewesen –,28

on Christi dort auf und Christus erscheint ihm und belehrt ihn. Vgl. M. Küchler, Jerusalem. Ein
Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt (Orte und Landschaften der Bibel 4/2), Göt-
tingen 2007, 852–863. Vgl. dazu auch J. A. Smith, „My Lord’s Native Land“: Mapping the Christian
Holy Land, in: ChH 76 (2007), 1–31 (7–9), zur Ölbergtradition – die einzige Tradition, die auch
schon für die Zeit von Konstantin greifbar ist.
24 J. Krüger, Jerusalem, Regensburg 2000, 59–60, neben einer allgemeinen Beschreibung als
Orte der Theophanie.
25 Trampedach (wie Anm. 11), 83–110 (85).
26 Küchler (wie Anm. 23), 59.
27 M. Fuß, Die Konstruktion der Heiligen Stadt Jerusalem. Der Umgang mit Jerusalem in Juden-
tum, Christentum und Islam (Stuttgarter Biblische Beiträge 68), Stuttgart 2012.
28 Fuß (wie Anm. 27), 290–299. Dazu vgl. Anm. 61.

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 Konstantin und Jerusalem   235

auch sei Konstantin erst nach der Kreuzauffindung29 auf die Idee gekommen, hier
als Kaiser mit Bauten aktiv zu werden. Der größte Anteil Konstantins habe darin
bestanden, dass nun politisch mit der Anerkennung des Christentums ein Hin-
dernis der Bautätigkeit weggefallen sei. Aber dennoch sieht er eine Verbindung
zum Nizänum, da hier nun ausdrücklich dem Erlöser sowohl ein göttliches als
auch ein menschliches Wesen zugeschrieben werde. Das sei ein Vorgang, den er
als „Prädikation“ bezeichnen möchte. Dieser Vorgang habe sich dann auch auf
die Orte des irdischen Wirkens Jesu übertragen.30
Diese Überlegungen sind jedoch dogmengeschichtlich so ungenau, dass
sie das Bauprogramm nicht erläutern können. Einerseits wird die Gottheit Jesu
nicht erst seit Nizäa 325 behauptet, andererseits wird die doppelte Beschreibung
Christi als Gott und Mensch ausdrücklich erst in Chalcedon 451 festgehalten,
worauf Martin Fuß auch selbst verweist.31 Warum dann zu Beginn des vierten
Jahrhunderts eine Verehrung der Stätten im Heiligen Land begann, bleibt nicht
erklärt, besonders nicht, woher und wie in einem zweiten Schritt diese dop-
pelte Zuschreibung von Irdischem und Göttlichem auf die Orte angewendet
wurde. Er stellt einfach fest: „In der Übertragung dieser Methode der Prädika-
tion von der Christologie auf die heiligen Stätten liegt die theologische Grund-
lage für den Ausbau des Heiligen Landes.“32 Hier wird in einer abenteuerlichen
Weise eine später entstandene Heiligkeit des Landes mit der Zwei-Naturen-Lehre
verbunden.

2.3 Nachweis der leiblichen Auferstehung

Eine andere theologische Deutung wenn auch nicht des ganzen Bauprogramms,
aber doch der Grabeskirche, schlägt Jeanne H. Kilde, Professorin für Religious
Studies, vor in ihrer Monographie „Sacred Power, Sacred Space. An Introduction

29 Fuß (wie Anm. 27), 295–296.309 unter Verweis auf S. Heid, Kreuz. Jerusalem. Kosmos. As-
pekte frühchristlicher Staurologie (JAC.E 31), Münster 2001; id., Die gute Absicht im Schweigen
Eusebs über die Kreuzauffindung, in: RQ 96 (2001), 37–56 (44.49). Ob in den 20er Jahren jedoch
bereits das Kreuz gefunden worden war, ist höchst umstritten. Vgl. Anm. 61.
30 Fuß (wie Anm. 27), 303–312.
31 Fuß (wie Anm. 27), 308.
32 Fuß (wie Anm. 27), 304.306: „Zum einen waren durch die Definition Christi als Gott und
Mensch das Menschliche und Irdische aufgewertet, zum anderen wurde dadurch die dabei an-
gewandte Methode freigesetzt, eben die der Zuschreibung, um in der Folge auch auf irdische
Stätten übertragen zu werden.“

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236   Uta Heil

to Christian Architecture and Worship“.33 Wohl sei einerseits vor allem die Gra-
beskirche gebaut als Zeichen des Triumphes des Christentums über die Römische
Religion (41), andererseits handele es sich aber auch um eine deutliche theologi-
sche Stellungnahme in einem schon lange währenden Streit über die Auferste-
hung, ob sie leiblich oder geistig zu verstehen sei. Sie behauptet, die „Arianer“
würden wie die Gnostiker nur die Menschheit Jesu betonen und die Auferstehung
als „spiritual release“ verstehen, wogegen andere seit Tertullian die physische
Auferstehung als Ausdruck Jesu Göttlichkeit verteidigen, eine Position, die auch
Konstantin vertreten und sowohl in Nizäa als auch mit dem Kirchenbau durch-
gesetzt habe (43–44). Hier werden in einer schwer nachvollziehbaren Art und
Weise theologische Positionen entwickelt und grobe Bezüge über Jahrhunderte
hinweg hergestellt, die keiner theologiegeschichtlichen Prüfung standhalten. Die
„Arianer“ sind keine Gnostiker, und weder die physische noch die geistige Aufer-
stehung können Jesu Göttlichkeit an sich erweisen. Natürlich kann das leere Grab
als Beweis für die leibliche Auferstehung verstanden werden, wie es schon im
Matthäusevangelium präsentiert wird, und die Leere des Grabes wurde sicher als
Bestätigung gedeutet, dass es sich tatsächlich um das Grab Jesu handeln musste.
Aber die leibliche Auferstehung war kein umkämpftes Thema jener Zeit, auch
nicht für Konstantin.

2.4 Symbol der Einheit der Kirche

Es gibt wohl einen Bezug Jerusalems zur Synode von Nizäa, aber dieser liegt
nicht in dem Text der theologischen Erklärung, sondern in einem anderen Text,
und zwar in dem siebten Kanon der Synode. In diesem Kanon wird beschlos-
sen, die Bedeutung der Stadt zu erhöhen und ihr einen Ehrenrang beizumessen.
Nachdem im sechsten Kanon den Bischöfen von Alexandrien, Rom und Antio-
chien eine Jurisdiktionsgewalt über die jeweilige Provinz zugewiesen wird, heißt
es in Kanon 7:

Da eine alte Gewohnheit und Überlieferung besteht, dass der Bischof von Aelia geehrt wird,
soll er die Nachfolge der Ehre erhalten, wobei der Metropole ihre eigene Würde gewahrt
wird.34

33 Bei Oxford University Press im Jahr 2008 erschienen.


34 Nizäa 325, can. 7: Ἐπειδὴ συνήθεια κεκράτηκε καὶ παράδοσις ἀρχαία, ὥστε τὸν ἐν Αἰλίᾳ
ἐπίσκοπον τιμᾶσθαι, ἐχέτω τὴν ἀκολουθίαν τῆς τιμῆς, τῇ μητροπόλει σῳζωμένου τοῦ οἰκείου
ἀξιώματος (COGD 1, 23,162–166 Alberigo).

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 Konstantin und Jerusalem   237

Meist wird dies als Resultat eines Austarierens der Ansprüche zwischen Jeru-
salem und Cäsarea bzw. zwischen den beiden damaligen Bischöfen Euseb von
Cäsarea und Makarius von Jerusalem gehalten. Da es aber in den Quellen keinen
Anhaltspunkt für eine Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Bischöfen
gibt (im Unterschied zur späteren Zeit unter Kyrill von Jerusalem), entspricht
dieser Kanon wohl eher einem allgemeinen Anliegen, die Bedeutung der Stadt
anzuheben. Leider fehlt in diesem Kanon eine Begründung für die Ehre des
Bischofs von Jerusalem bzw. Aelia; es wird nur allgemein auf eine alte Gewohn-
heit und Überlieferung hingewiesen.
Im Jahr 2014 publizierte Katharina Heyden ihre Habilitationsschrift über das
Heilige Land, in der sie natürlich auch auf die Bedeutung von Konstantin ein-
geht.35 Dabei bezieht sie sich ebenfalls auf diesen siebten Kanon und schließt
daraus, dass der Kaiser Jerusalem als Symbol für die Einheit des Christentums
herausheben wolle.36 So wird für sie die Grabeskirche zum „steinernen Symbol
für die in Nizäa (vermeintlich) geschaffene kirchliche Einheit“.37 Unstrittig ist es,
wie sehr Konstantin die Einheit der Kirche am Herzen lag. Er wollte die Schismen
wie das donatistische in Nordafrika und das melitianische in Ägypten überwin-
den, den Streit um Arius beilegen sowie einen einheitlichen Ostertermin für alle
Christen festlegen. Inwiefern aber die Kirchen in Jerusalem als ein Symbol für
die Einheit der Christen deutbar sind, ist undeutlich. Überdies fordert der siebte
Kanon für Jerusalem, genau genommen für den Bischof von Jerusalem, einen
Ehrenrang, aber nicht eine Verehrung der Stadt von allen Christen im Römischen
Reich. Heyden folgert dies, indem sie eine Formulierung aus dem letzten Satz von
Kanon 6 – „überall sei deutlich“ (καθόλου δὲ πρόδηλον ἐκεῖνο),38 dass niemand
ohne Zustimmung des Metropoliten zum Bischof geweiht werden dürfe – auch auf
Kanon 7 bezieht. Dieses „überall“ aber derart programmatisch einfach in Kanon 7
mitzulesen unter Außerachtlassung des übrigen Texts von diesem Kanon 7, bietet

35 K. Heyden, Orientierung. Die westliche Christenheit und das Heilige Land in der Antike (Jeru-
salemer Theologisches Forum 28), Münster 2014.
36 Heyden (wie Anm. 35), 116–146 (118): „Der Orient als Ort des Ursprungs der christlichen Re-
ligion soll nun auch ihre Einheit garantieren.“ („Orient“ ist hier insofern ungenau, als Heyden
hier auf Konstantins Brief an Alexander von Alexandrien und Arius verweist, der konsequenter-
weise nach Ägypten gesandt war und daher nicht Palästina im Blick hat); „Auf dem Konzil von
Nizäa wurde nun Jerusalem als Symbol der kirchlichen Einheit propagiert.“; 122: „Der in Kanon 7
geforderte Ehrenrang für den Bischof von Aelia ist […] Ausdruck der vom Kaiser gewünschten
Wertschätzung der Stadt bei allen Christen als Symbol für die kirchliche Einheit.“
37 Heyden (wie Anm. 35), 122.132.
38 Nizäa 325, can. 6 (23,149 A.).

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238   Uta Heil

keine überzeugende Interpretation des Kanons. Warum gerade diese Einheit der
Christen eine symbolische Darstellung in Jerusalem erfahren soll, bleibt unklar.
Das Problem der genannten theologischen Deutungen der konstantinischen
Bauten besteht darin, dass komplexe dogmengeschichtliche Konstruktionen mit
einem Bauprogramm verbunden werden. Abgesehen von dogmengeschichtli-
chen Ungenauigkeiten werden diese Konstruktionen meist nur oberflächlich mit
dem archäologischen Befund, soweit er sich erkennen lässt, verbunden. Auch
wird vorausgesetzt, dass es für alle Bauten ein stimmiges Programm gegeben
habe. Aber die Bauten entstanden erst sukzessive. Der erste Bau, den Konstantin
errichten ließ, war die Grabeskirche; die anderen folgten erst darauf. Die folgen-
den Bemerkungen beschränken sich daher auf die Grabeskirche.

3 Aelia Capitolina
Auch wenn Konstantin tatsächlich nie persönlich in Jerusalem gewesen ist, wird
er sich über die topographische Situation und die Bebauung in der Stadt infor-
miert haben. Dazu ist folgendes zu sagen:39

39 Vgl. A. Arbeiter, Die Jerusalemer Grabeskirche vor 1009, in: T. Pratsch (Hg.), Konflikt und Be-
wältigung. Die Zerstörung der Grabeskirche zu Jerusalem im Jahre 1009 (Millennium Studies 32),
Berlin 2011, 7–33; B. Brenk, Der Kultort, seine Zugänglichkeit und seine Besucher (JAC.E 20,2 = 
Akten des 12. Int. Kongresses für Christliche Archäologie 1991), Münster 1995, 69–122 (90–103);
C. Coüasnon, The Church of the Holy Sepulchre in Jerusalem (The Swedish Lectures), London
1972; F. Díez Fernández, El Calvario y la Cueva de Adán. El resultado de las últimas excavaciones
en la basílica des Santo Sepulcro, Navarra 2004; H. Geva, Art. Jerusalem. The Roman Period,
in: NEAEHL 2 (1993), 758–767; S. Gibson/J. E. Taylor (eds.), Beneath the Church of the Holy Se-
pulchre Jerusalem. The Archaeology and Early History of Traditional Golgotha, London 1994;
Krüger (wie Anm. 24); Küchler (wie Anm. 23 ); G. Lavas/T. Mitropoulos, Golgotha, Jerusalem. Die
Aufdeckung der Kreuzigungsstelle Christi (JAC.E 20,2 = Akten des 12. Int. Kongresses für Christ-
liche Archäologie 1991), Münster 1995, 964–968; J. Magness, Aelia Capitoline. A Review of Some
Current Debates about Hadrianic Jerusalem, in: K. Galor/G. Avni (eds.), Unearthing Jerusalem.
150 Years of Archaeological Research in the Holy City, Winona Lake 2011, 313–324; J. Magness,
The Archaeology of the Holy Land. From the Destruction of Solomon’s Temple to the Muslim
Conquest, Cambridge 2012; T. Mitropoulos, The Restoration of the Church of Golgotha in the Holy
Sepulchre Church and the Authenticity of the Site of the Crucifixion, in: E. Hadjitryphonos (ed.),
Routes of Faith in the Medieval Mediterranean. History, Monuments, People, Pilgrimage Per-
spectives, Thessaloniki 2008, 441–459; J. Murphy-O’Connor, Keys to Jerusalem. Collected Essays,
Oxford 2012; Y. Tsafrir, Ancient Churches Revealed, Jerusalem 1993; J. Taylor, Christians and the
Holy Places. The Myth of Jewish-Christian Origins, Oxford 1993; L. Hugues Vincent/F.-M. Abel
(eds.), Jérusalem Nouvelle. Recherches de topographie, d’archéologie et d’histoire 2, Paris 1914.

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 Konstantin und Jerusalem   239

Nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstands im Jahr 135 n. Chr.


setzte Kaiser Hadrian seinen im Jahr 130 begonnenen Plan fort, Jerusalem als
römische Stadt Aelia Capitolina neu aufzubauen, benannt also nach ihm selbst
(Publius Aelius Hadrianus) und dem Kapitol, dem Heiligtum der drei römischen
Hauptgottheiten Jupiter, Juno und Minerva.40 Er ließ die seit 70 n. Chr. hier statio-
nierte zehnte Legion (Josephus, Bellum Judaicum 7,1,1) bei der Stadt.41 Der rekon-
struierbare Plan zeigt eine den Gegebenheiten vor Ort angepasste römische Stadt
mit Cardo Maximus, Decumanus, ferner einer zweiten Hauptstraße Cardo secun­
dus, dazwischen ein rechtwinkliges Straßensystem und Stadttore. Im südlichen
Stadtgebiet lagerte die zehnte Legion.
Ein in Textquellen nicht belegtes Heiligtum für Asklepius sowie ein Mithräum
befanden sich nördlich des Tempelareals bei den Schafteichen (wohl schon nach
70 n. Chr.); die übrigen Tempelanlagen, die literarisch und auf Münzen überliefert
sind, lassen sich jedoch nicht eindeutig lokalisieren. Zwei Foren gab es, eines an
der nordwestlichen Ecke des Tempelbergs und ein zweites im Westen der Stadt,
bei dem später die Anlage der Grabeskirche entstehen wird. Die Bebauung dieses
Areals ist aber noch nicht geklärt. Da man nur begrenzt ausgraben kann, ist man
auf folgende Textquellen und Münzen angewiesen:
Der Historiker Cassius Dio berichtet von einem Jupitertempel auf dem Tem-
pelareal (Historia Romana 69,12,1–2), was den jüdischen Aufstand provoziert
habe; Münzen zeigen ebenfalls Jupiter, aber mit Juno und Minerva zusammen
in einem Tempel.42 Nach Hieronymus standen jedoch nur eine Jupiter- und eine
Hadrianstatue auf dem Tempelareal (Commentarius in Isaiam 1, 2,9; Commenta­
rius in Evangelium secundum Mattheum 24,15). In einem Brief jedoch (Epistula 58,3
an Paulinus von Nola, 395 n. Chr.) lokalisiert Hieronymus eine Jupiterstatue am
Ort der Auferstehung Jesu, also nicht auf dem Tempelareal. Eine Hadrianstatue
sowie eine weitere Statue, aber für Caligula, bezeugen auch Origenes (Commenta­

40 M. Tilly, Der 2. Jüdische Krieg (Bar-Kochba-Aufstand), in: J. Schefzyk/W. Zwickel (Hgg.), Judäa


und Jerusalem. Leben in römischer Zeit, Frankfurt 2010, 96–99; C. Weikert, Von Jerusalem zu
Aelia Capitolina. Die römische Politik gegenüber den Juden von Vespasian bis Hadrian (Hyp.
200), Göttingen 2016, 268–286; M. Rizzi (ed.), Hadrian and the Christians (Millennium Studies
30), Berlin 2010, darin besonders G. B. Bazzana, The Bar Kokhba Revolt and Hadrian’s Reli-
gious Policy (ebd. 85–109); sowie Doran Bar, Aelia Capitolina and the Location of the Camp of
the Tenth Legion, in: PalEQ 130 (1998), 8–19; Y. Z. Eliav, The Urban Layout of Aelia Capitolina:
A New View from the Perspective of the Temple Mount, in: P. Schäfer (ed.), The Bar Kokhba War
Reconsidered. New Perspectives on the Second Jewish Revolt against Rome (Texts and Studies in
Ancient Judaism 100), Tübingen 2003, 241–277.
41 Bis Kaiser Diokletian diese Legion um 300 n. Chr. nach Aila (Elat) verlegte.
42 Vgl. Küchler (wie Anm. 23), 125.

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240   Uta Heil

rius in Evangelium secundum Mattheum 24,15) und der Pilger von Bordeaux (Itine­
rarium Burdigalense 591,4). Euseb dagegen berichtet, dass ein Tempel für Aphro-
dite, also nicht für Jupiter, am Ort der Auferstehung errichtet worden war (De vita
Constantini 3,2643). Nach Hieronymus gab es zumindest eine Aphrodite-Statue,
jedoch lokalisiert er sie auf dem Golgota-Felsen. Von dem auf Münzen ebenfalls
belegten Tyche-Tempel44 fehlt jede Spur. Diese Ausgangslage führt zu verschiede-
nen Rekonstruktionen. Folgendes lässt sich meines Erachtens feststellen:
Unter Hadrian verlagerte sich das Stadtzentrum nach Nordwesten. Auf dem
Tempelareal selbst war wohl kein Heiligtum (Kapitol), aber eventuell eine Statue
(für Hadrian?). Ein Tempel für Jupiter bzw. der capitolinischen Trias stand even-
tuell angrenzend am nördlichen Forum bei der Antoniafestung oder auch beim
zweiten Forum. Für das zweite Forum im Westen, wo später die Grabeskirche
errichtet wird, ließ Kaiser Hadrian das Areal des ehemaligen Steinbruchs auf-
füllen und ebnen, um nördlich des Forums einen temenos, einen umgrenzten
heiligen Bezirk, anzulegen. Die Substrukturen, die hinter der mittelalterlichen
Helena-Kapelle unter der konstantinischen Basilika in der sog. Vartan-Kapelle
sichtbar wurden, deuten ein Geflecht von schmaleren Mauern an, die Hadrian
zuzuweisen sind und wohl eine Plattform stützten.45 Zur Errichtung der Basilika
wurde diese Struktur unter Konstantin teilweise bis auf den Felsgrund abgetragen
und mit breiteren Mauern erneuert, um die Last der Kirche tragen zu können.46
So war eventuell im östlichen Teil des Areals des temenos ursprünglich kein
Gebäude, auch wenn manche Rekonstruktionen dort eine Basilika lokalisieren.
Aber im westlichen Teil stand wohl tatsächlich der auch besonders bei Euseb von
Cäsarea bezeugte Tempel für Aphrodite bzw. Venus – die Substrukturen lassen
evtl. auf einen rechteckigen Tempelbau schließen.47

43 Nach Euseb ist das Tempelareal selbst verlassen und wird als Steinbruch verwendet (De­
monstratio evangelica 8,3).
44 Vgl. den digitalen Ausstellungskatalog des kunsthistorischen Museums Wien (abgerufen am
23. 9. 2016): http://www.muenze-und-macht.at/coins/coin16_3B.
45 Vgl. Díez Fernández (wie Anm. 39), Plan II (Mauern M5, M6, M7, M8) und Küchler (wie
Anm. 23), 322 (Plan 167: Mauern 1–4). Vgl. auch Gibson/Taylor (wie Anm. 39), 7 Figure 3 (Schraf-
fiertes mit Schraffur B) und Tsafrir (wie Anm. 39), 120 Plan mit Mauern 1; 2; 3; 7.
46 Vgl. Díez Fernández (wie Anm. 39), Plan II (Mauern M3, M4) und Küchler (wie Anm. 23), 322
(Plan 167: Mauer 6). Vgl. auch Gibson/Taylor (wie Anm. 39), Figure 3 (Schraffiertes mit Schraf-
fur C) sowie 17–21. So ist die Aussage des Euseb (De vita Constantini 3,26,6–27,1), zur Errichtung
des Konstantinischen Baus wurde alles abgetragen bis auf den Grund, nur mit Einschränkung
zutreffend.
47 Gibson/Taylor (wie Anm. 39), 62–71 mit Figure 43 (66) mit Verweis auf die jeweiligen Pläne
und Fotos in: V. Corbo/S. Loffreda (eds.), Il Santo Sepolcro a Gerusalemme. Aspetti archeologici
dalle origini al periodo crociano, 3 Bände, Jerusalem 1981–1982.

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 Konstantin und Jerusalem   241

Bei der Rekonstruktion ist jedoch auch der Golgota-Felsen, der wohl in der
hadrianischen Anlage sichtbar gewesen war, mit zu berücksichtigen.48 Bei dem
Felsen handelt es sich um eine stehen gelassene Felsformation in dem ehema-
ligen Steinbruch mit einer eigenwilligen Form, mehreren Einbuchtungen und
einem Spalt. Sie erhebt sich noch heute vom Felsgrund aus gerechnet 12,75 m
vom Osten her, 8,97 m vom Norden her und 5 m vom Westen her über den Boden
hinaus, ist aber insgesamt recht s­ chmal und hat oben gegenwärtig nur einen
Durchmesser von 2 bis 3,5 m.49 Dieser Fels ragte wohl auch über den geebneten
Boden der hadrianischen Anlage hinaus, auf dem evtl. eine Kultstatue platziert
war50. Mit diesem Felsen hatte sich die Erinnerung an den Ort der Kreuzigung
Christi verbunden, wofür es mehrere Zeugnisse gibt. Zu den wichtigsten gehört
das Onomastikon des Euseb von Cäsarea, der unter den Orten mit Buchstabe G
unter der Rubrik Evangelien auflistet: „Golgota, Ort des Schädels, hier wurde
Christus gekreuzigt. Das wird auch gezeigt in Aelia nördlich vom Berg Zion.“51
Diese verbürgte Erinnerung kann natürlich weder eine historische Wahrheit
belegen – eine Kreuzigung Christi auf diesem, wenn auch markant hohen, doch
aber auch sehr schmalen Felssporn ist unrealistisch52 – noch eine Erinnerungs-
kontinuität bezeugen; sie kann sich auch erst sekundär mit diesem Felsen auf-
grund seiner markanten Form verbunden haben.

48 Das fehlt jedoch bei den Rekonstruktionsversuchen, vgl. beispielsweise D. Vieweger/G. För-


der-Hoff (Hgg.), Der archäologische Park unter der Erlöserkirche von Jerusalem, Jerusalem o.  J.,
40; Geva (wie Anm. 39), 758; vgl. aber Gibson/Taylor (wie Anm. 39), 68–69.
49 Vgl. die Zeichnungen des gegenwärtigen Befundes bei Gibson/Taylor (wie Anm. 39), 58 (der
Abschluss der Mauer 3 zeigt die Ebene der Anlage Hadrians an); Díez Fernández (wie Anm. 39),
Plan IV und V; Küchler (wie Anm. 23), 319 Plan 166.
50 Vgl. für die kultische Nutzung auch den neben Golgota gefundenen kleineren Steinaltar mit
einer Höhe von 50 cm: Gibson/Taylor (wie Anm. 39), 67.
51 Eusebius, Onomasticon (74,19–21 K.): κρανίου τόπος, ἔνθα ὁ Χριστὸς ἐσταυρώθη. ὃς καὶ
δείκνυται ἐν Αἰλίᾳ πρὸς τοῖς βορείοις τοῦ Σιὼν ὄρους. Vgl. ferner Hieronymus, Epistula 58,3. Re-
levant ist noch Melito von Sardes, Peri Pascha 93,710; 94,712; 94,724–725, der laut Euseb, Historia
ecclesiastica 4,26,13–14 in den Osten gereist sei und sich die Schauplätze angesehen habe. Da-
neben haben wir aber nur zwei kurze Hinweise auf Reisende nach Judäa und Jerusalem, woraus
aber nichts Konkretes über Christi Hinrichtungsstätte erfahrbar ist (Alexander von Kappadokien
nach Euseb, Historia ecclesiastica 6,11 und Firmilian von Cäsarea in Kappadokien nach Hierony-
mus, De viris illustribus 54 und Euseb, Historia ecclesiastica 6,27). Es ist fragwürdig, diese Rei-
sende als Pilger zu beschreiben.
52 Auch wenn die Region dieses Steinbruchs außerhalb der Stadt Jerusalem zur Zeit Jesu insge-
samt wahrscheinlich ist, vgl. Vieweger/Förder-Hoff (wie Anm. 48).

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242   Uta Heil

4 Konstantins Jerusalem
Betrachtet man diesen Befund, so gibt es zwei Anhaltspunkte für Konstantin,
gerade hier den Spaten ansetzen zu lassen: Einerseits ist bekannt, dass der Kaiser
persönlich eine gewisse Abneigung gegen den Kult der Aphrodite hegte und trotz
seiner sonst generell geübten Toleranz gegenüber paganen Traditionen diesen
Kult in der Gesellschaft unterbinden wollte.53 Andererseits wurde der Golgota-
felsen damals offenbar als ein deutliches Zeichen für den Ort der Kreuzigung
Christi, seiner Passion, seines Leidens betrachtet. Wenn Konstantin also in das

53 Vgl. die zwei anderen Aphroditetempel, die Konstantin abreißen ließ: Euseb, De vita Constan­
tini 3,55,2–5 (Aphrodite in Aphaka: es sei von Grund auf samt Einrichtungen vernichtet worden,
gereinigt durch militärischen Arm; es wird kein Kirchenbau berichtet; auch Euseb, De laudibus
Constantini 8,4–7); De vita Constantini 3,58,1–3 (Aphrodite in Heliopolis = Baalbek: es gibt keine
Angaben über Zerstörung eines Tempels, aber zum Kirchenbau; auch Euseb, De laudibus Con­
stan­tini 13,7). Zerstört wurde ferner Mamre (Euseb, De vita Constantini 3,51–53; es blieb dennoch
als gemischtes Heiligtum bestehen); Asklepios in Aigai, Kilikien (Euseb, De vita Constantini 3,56:
der Tempel wurde zerstört, von Soldaten dem Erdboden gleichgemacht; es wird aber kein Kir-
chenbau hier berichtet). Vgl. aber den Hinweis in Sozomenus, Historia ecclesiastica 3,17,3: Kon-
stantins Söhne schließen Tempel und weisen sie Kirchengemeinden zu. Vgl. auch die späteren
Gesetze: Codex Theodosianus 16,10,25 (435): Tempelabriss von Behörden vor Ort zu entscheiden;
Codex Theodosianus 16,10,15 (399): Abrissverbot in Städten. Vgl. dazu N. Lenski, Constantine
and the Cities. Imperial Authority and Civic Politics, Philadelphia 2016, 235: Die Absicht, „the
destruction of the Venus shrine“, war der erste Schritt auf Initiative Konstantin hin, ohne dabei
schon einen Plan für eine weitere Nutzung gehabt zu haben. Zu Jerusalem äußert sich Lenski
ansonsten kaum bis auf eine knappe Beschreibung 192–193. Vorsichtig in der Einschätzung:
R. P. C. Hanson, The Transformation of Pagan Temples into Churches in the Early Christian Cen-
turies (1978), in: id., Studies in Christian Antiquity, Edinburgh 1985, 347–358. Zu dieser Frage vgl.
jetzt auch M. Wallraff, Die antipaganen Maßnahmen Konstantins in der Darstellung des Euseb
von Kaisareia, in: J. Hahn (Hg.), Spätantiker Staat und religiöser Konflikt. Imperiale und lokale
Verwaltung und die Gewalt gegen Heiligtümer (Millennium Studies 34), Berlin 2011, 7–18 (12–13);
ferner Brandt (wie Anm. 1), 123–124; A. D. Lee, Traditional Religions, in: Lenski (wie Anm. 1),
159–179 (173–174). Zum Weiterbestehen paganer Heiligtümer vgl. D. Bar, Continuity and Change
in the Cultic Topography of Late Antique Palestine, in: J. Hahn/S. Emmel/U. Gotter (eds.), From
Temple to Church. Destruction and Renewal of Local Cultic Topography in Late Antiquity (Re-
ligions in the Graeco-Roman World 163), Leiden 2008, 275–298 (288), der schreibt: „The swift
Christianization process in Jerusalem–the destruction of the pagan temple and the building of
the Church of the Holy Sepulchre–should be seen as an exceptional incident, not characteristic
of the process in other parts of the country.“ Vgl. auch O. Dally, „Pflege“ und Umnutzung heid-
nischer Tempel in der Spätantike, in: G. Brands/H.-G. Severin (Hgg.), Die spätantike Stadt und
ihre Christianisierung. Symposion vom 14. bis 16. Februar 2000 in Halle/Saale, Wiesbaden 2003,
97–114 (98). Vgl. Anm. 61.

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 Konstantin und Jerusalem   243

Christentum investieren und Jerusalems Ehre baulich zur Geltung bringen wollte,
dann bot sich diese Stelle geradezu an.54
Falls man tatsächlich spekulieren möchte, ob Konstantin weitere theologi-
sche Gedanken mit dem Ort der Kreuzigung Christi verbinden könnte, sind fol-
gende Hinweise zu berücksichtigen: Es gibt tatsächlich einen Text von Konstan-
tin, aus dem man Näheres zu seiner theologischen Anschauung vom Kreuz bzw.
Leiden Christi erfahren kann, die Oratio ad sanctorum coetum.55 Diese längere
Rede hielt Konstantin an einem Karfreitag (die Datierung ist umstritten). Er sagt
dort zwar nichts zum Golgota-Felsen, aber zum Tag des Leidens: Der Leidenstag
sei ein heller Tag des Glanzes, da er das Vorspiel der Auferstehung (προοίμιον
μὲν ἀναστάσεως) bzw. der zum ewigen Leben führende Pfad sei sowie die Stütze
der Verheißung.56 Denn sein Leiden war angekündigt worden, und so sei sein tat-
sächliches Leiden ein Beweis dafür, dass er der Sohn Gottes ist. Christus sei aber
ein unsterblicher Gott, insofern habe ihm das Leid und der Tod ehedem nichts
anhaben können (11,4; auch 16,1). Er habe also durch das Leiden keinen Schaden
genommen, sondern umgekehrt einen gewaltigen Sieg über die Schlechtigkeit
errungen (15,4). Seine Auferstehung zeige den Menschen ihre Möglichkeit der
Auferstehung, geschah somit als ein Zeichen für uns (20,4).
Vergleichbare Überlegungen finden sich auch in anderen Texten wie zum
Beispiel in seinem schon erwähnten Brief an die Kirche Nikomediens, direkt nach
der Synode von Nizäa 325 geschrieben:

Wer ist es, der mehr aus Scham als aus Torheit das Leiden meines Herrn Christus fürchtet?
Leidet etwa nun das Göttliche, wenn die Wohnung des ehrwürdigen Leibes zur Erkennt-
nis ihrer eigenen Heiligkeit hinführt, oder unterliegt das einer Berührung, was vom Leib
getrennt ist? Macht nicht gerade dies den Unterschied, was sich der Niedrigkeit des Leibes
entzieht? Leben wir nicht, auch wenn der Ruhm der Seele den Leib in den Tod ruft? Was

54 Dass Orten an sich eine Heiligkeit zukommen kann bzw. dass an solchen ausgezeichneten
Orten „heilige“ Ereignisse stattfinden, ist ein für Konstantin selbstverständlicher Gedanke, wor-
auf dann die Entwicklung zu einem „Heiligen Land“ aufbauen wird. Die Grabeskirche stehe auch
auf einem Ort, der von Anfang an durch das Urteil Gottes heilig gewesen sei – so Konstantin in
seinem Brief an Makarius von Jerusalem (Euseb, De vita Constantini 3,30,4). Vgl. P. W. L. Walker,
Holy City, Holy Places? Christian Attitude to Jerusalem and the Holy Land in the Fourth Century,
Oxford 1990, 48.111–116; B. Reudenbach, Loca sancta. Zur materiellen Übertragung der heiligen
Stätten, in: id. (Hg.), Jerusalem, du Schöne. Vorstellungen und Bilder einer heiligen Stadt (Vesti-
gia Bibliae 28), Bern 2008, 9–32 (12–15 mit weiterer Literatur).
55 Vgl. dazu die zweisprachige Ausgabe: Konstantin, Rede an die Versammlung der Heiligen,
eingel. u. übers. von K. M. Girardet, FC 55, Freiburg 2013 (dort 116–117 zur Editionslage). Vgl. auch
E. J. Yarnold, Who Planned the Church at the Christian Holy Places in the Holy Land, in: StPatr
18 (1985), 105–109.
56 Konstantin, Oratio ad sanctorum coetum 1,1 (154,1–2 H.).

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244   Uta Heil

für einen Spielraum für Zweifel lässt also demzufolge der unverletzte und reine Glaube?
Oder siehst du nicht, dass Gott einen besonders ehrwürdigen Leib ausgewählt hat, durch
den er ein Zeugnis für den Glauben und ein Beispiel für seine Tugend zeigen wollte; auch
wollte er die Vernichtung des Menschengeschlechts, verursacht durch schädlichen Irrtum,
abschütteln, eine neue Lehre der Gottesverehrung geben und durch eine beispielhafte Rei-
nigung die unwürdigen Taten des Geistes läutern, schließlich die Todesqual auflösen und
den Siegespreis der Unsterblichkeit ausrufen!57

Christi Leiden und Sterben bedeuten also einen Sieg über den Tod, da das Gött­
liche nicht leide, sondern uns zur Unsterblichkeit führe; es zeige sich also Christi
Ruhm und Sieg. Darüber hinaus habe die Passion Christi auch eine Beweisfunk-
tion für die Wahrheit des Christentums. Der Gedanke, dass die christliche Reli-
gion die wahre sei, da Christi Passion sowie auch die weitere Entwicklung, dass
das Christentum sich bei den Menschen durchsetzen werde, nach Gottes Vorse-
hung vorausgesagt wurde, durchzieht die Oratio wie ein roter Faden.
Interessanterweise gebraucht Konstantin kongruente Formulierungen in
seinem Brief an Makarius von Jerusalem, in dem er den Bischof mit Instrukti-
onen zum Bau der Grabeskirche versieht:58 Gefunden wurde das Kennzeichen,
der Beweis für das heiligste Leiden, so heißt es in einer vieldiskutierten Stelle
in diesem Brief: τὸ γὰρ γνώρισμα τοῦ ἁγιωτάτου ἐκείνου πάθους bzw. τὴν τοῦ
σωτηρίου πάθους πίστιν.59 Deswegen sei es, schreibt der Kaiser, sein „erstes und
alleiniges Ziel, dass, wie sich der Glaube an die Wahrheit tagtäglich durch neue
Wunder beweist, so auch die Seelen von uns allen in Bezug auf das heilige Gesetz
durch jedwede Besonnenheit und einmütige Bereitwilligkeit eifriger werden.“60

57 Urk. 27,4–5 (58,15–59,7 O.; übers. als Dok. 31 [118,4–5 B./H./v.S./W.]): τίς ἐστιν, ὃς τοῦ Χριστοῦ
τοῦ ἐμοῦ δεσπότου πάθος δι ᾿ αἰδὼ μᾶλλον ἢ μωρίαν δέδιεν; ἆρ᾿ οὖν πάσχει τὸ θεῖον, ἐπειδὰν
ἡ τοῦ σεμνοῦ σώματος οἴκησις πρὸς ἐπίγνωσιν τῆς ἰδίας ἁγιότητος ὁρμᾷ, ἢ ὑποπίπτει θίξει
τὸ τοῦ σώματος ἐκκεχωρισμένον; ἆρ᾿ οὐχὶ διέστηκε τοῦθ᾿ ὅπερ ἐκ τῆς τοῦ σώματος ἀφῄρηται
ταπεινότητος; οὐχὶ δὲ ζῶμεν, κἂν πρὸς θάνατον ἡ τῆς ψυχῆς εὔκλεια τὸ σῶμα προσκαλέσηται;
τί τοίνυν ἐνταῦθα ἡ ἀβλαβής τε καὶ εἰλικρινὴς πίστις ἄξιον ἀμφιβολίας κατείληφεν; ἢ οὐχ ὁρᾶς
ὅτι σεμνότατον σῶμα ὁ θεὸς ἐπελέξατο, δι᾿ οὗ τὰ τῆς πίστεως τεκμήρια καὶ τὰ τῆς οἰκείας ἀρετῆς
ὑποδείγματα ἔμελλεν ἐμφανίζειν καὶ τὴν ἤδη συγκεχυμένην ὀλεθρίῳ πλάνῃ τοῦ ἀνθρωπίνου
γένους ἀπώλειαν ἀποσείσασθαι καινήν τε θρησκείας διδόναι διδασκαλίαν καὶ τῷ τῆς ἁγνείας
ὑποδείγματι τὰς ἀναξίας τοῦ νοῦ πράξεις καθαίρειν, ἔπειτα δὲ τὴν μὲν τοῦ θανάτου βάσανον
ἐκλύειν, τὰ δὲ τῆς ἀθανασίας ἔπαθλα προαναφωνεῖν;
58 Zitiert von Euseb in De vita Constantini 3,30–32.
59 Euseb, De vita Constantini 3,30,1.4 (91,23–24; 92,10 H.).
60 Euseb, De vita Constantini 3,30,3 (92,1–5 H.; übers. 351 S.): […] καὶ πρῶτος καὶ μόνος μοι
σκοπός, ἳν᾿ ὣσπερ ἑαυτὴν ὁσημέραι καινοτέροις θαύμασιν ἡ τῆς ἀληθείας πίστις ἐπιδείκνυσιν,
οὓτω καὶ αἱ ψυχαὶ πάντων ἡμῶν περὶ τὸν ἃγιον νόμον σωφροσύνῃ πάσῃ καὶ ὁμογνώμονι
προθυμίᾳ σπουδαιότεραι γίγνωνται.

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 Konstantin und Jerusalem   245

Der Beweis des Leidens ist sicherlich das leere Grab Christi, das gefunden wurde.
Das leere Grab in der Nähe des Golgotafelsens, an dem die Erinnerung an Christi
Leiden hing, bestätigt diese Zuschreibung und die Authentizität des Ortes. Dieses
erstaunliche Wunder der Auffindung des Leidensbeweises ist nun der Anlass,
diesen wunderbarsten und allzu heiligen (ἁγιώτερον) Ort der Welt entsprechend
zu verherrlichen und durch prachtvollste Bauten zu schmücken.
Es handelt sich also um einen Ort des Sieges und Triumphes Christi über
seine Widersacher sowie um einen Beweis für Wahrheit des Christentums (nicht
der leiblichen Auferstehung). So sah sich Konstantin, da er sich als von Gott
erwählt und beauftragt deutete, in der Pflicht, seinem Auftrag und seinem Rang
als Kaiser entsprechend diesen Ort zu schmücken; umgekehrt zeigen seine gelun-
genen Bauten seine Beauftragung von Gott.
In Bezug auf die Grabeskirche ist ferner folgendes zu beachten: Ein Eingriff in
den temenos, den Tempelbezirk, beim Forum und ein Tempelabriss konnten nur
mit der Autorität des Kaisers geschehen und gehen daher wohl nicht auf einen
Vorschlag des Bischofs vor Ort zurück.61 Der Bauvorgang war zudem verbunden
mit einem Vorgang der Entsühnung (De vita Constantini 3,27), was „in der römisch-
rechtlichen Tradition des Umgangs mit loca sacra steht“ und in der sakralrecht-
lichen Befugnis des Kaisers lag.62 So ist es meines Erachtens nicht möglich, die
zu Beginn erwähnten theologischen Modelle damit zu rechtfertigen, dass die
Initiative gar nicht vom Kaiser ausging, sondern auf Vorschlägen zum Beispiel

61 Vgl. Anm. 29. R. Klein, Das Kirchenbauverständnis Constantins des Grossen in Rom und in
den östlichen Provinzen, in: C. Börker/M. Donderer (Hgg.), Das Antike Rom und der Osten. FS für
K. Parlasca, Erlangen 1990, 77–101, wieder in: id., Roma versa per aevum. Ausgewählte Schriften
zur heidnischen und christlichen Spätantike, hg. von R. von Haehling/K. Scherberich (Spudas-
mata 74), Hildesheim 2002, 205–233 (223): Der Bischof vor Ort wirkt nur noch als untergeordnetes
Organ und hat keine freie Hand mehr. K. L. Noethlichs, Baurecht und Religionspolitik. Vorchrist-
licher und christlicher Städtebau der römischen Kaiserzeit im Lichte weltlicher und kirchlicher
Rechtsvorschriften, in: Brands/Severin (Hgg.) (wie Anm. 53), 179–197; id., Kaiserzeitliche und
spätantike staatliche Regularien zur Spolierung – ein Kommentar, in: S. Altekamp (Hg.), Pers-
pektiven der Spolienforschung 1. Spoliierung und Transposition (Topoi 15), Berlin 2013, 11–21.
Auf religiös geweihtem Grund (sacer oder religiosus oder sanctus) kann nicht einfach so gebaut
werden.
62 Noethlichs (wie Anm. 61), 191. Hier hat der Kaiser sakralrechtliche Befugnis. K. Rosen, Kons-
tantin der Große. Kaiser zwischen Machtpolitik und Religion, Stuttgart 2013, 334: Es war ein kai-
serliches, nicht ein kirchliches Unternehmen; der Brief an Makarius ist wie ein kaiserliches Edikt
zu verstehen. Andere aber stellen die Rolle des Makarius sehr heraus, wie Hunt (wie Anm. 9),
7–8, oder auch Fuß (wie Anm. 27), sowie L. Perrone, „Rejoice Sion, Mother of All Churches“:
Christianity in the Holy Land During the Byzantine Era, in: Limor/Stroumsa (eds.) (wie Anm. 11),
141–173 (148); vgl. auch Walker (wie Anm. 54), 276–277.

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246   Uta Heil

des Jerusalemer Bischofs beruhen. Natürlich war der Jerusalemer Bischof in das
Bauprojekt intensiv eingebunden. Der bei Euseb von Cäsarea überlieferte Brief
Konstantins an Makarius von Jerusalem gibt darüber recht genaue Auskunft. Der
Kaiser informiert darin den Bischof, dass er bereits Drakilianos, der praefectus
praetorio per orientem war, sowie dem Statthalter der Provinz die Aufsicht über
das Errichten der Mauern der Basilika und deren Dekorationen übertragen habe.
Der Bischof selber möge über die Säulen, den nötigen Marmor und die Gestaltung
der Decke entscheiden.63 So scheint hier eine doppelte Verwaltung des Baus und
auch eine doppelte Finanzierung vorzuliegen, wie es Richard Krautheimer ana-
lysiert hat64: Die Säulen und Marmordekoration sowie die Gestaltung der Decke
oblagen dem Bischof und wurden vom Kaiser persönlich aus seinen res privata
finanziert. Der Bau an sich oblag der staatlichen Verwaltung und wurde auch
vom fiscus getragen. So könnte Makarius von Jerusalem eventuell eine gene-
relle Bitte um Mittel zum Neubau oder zu einer Vergrößerung der Bischofskirche
Jerusalems (Zion?) geäußert haben, aber kaum den Vorschlag, ein Heiligtum am
Forum, sei es nun ein Aphrodite- oder Jupiterheiligtum, abzureißen für den Bau
einer großen Basilika für die christliche Gemeinde.65
Im Jahr 326 begannen wohl die Bauarbeiten, indem das ganze Areal abge-
tragen wurde und in der Osthälfte neue Substrukturen errichtet wurden für den
Bau der Kirche, eine fünfschiffige Basilika mit einer zentralen Apsis. Im west-
lichen Areal wurde der Tempel abgetragen und das Bodenniveau gesenkt, um
den Felsen mehr zur Geltung zu bringen: Er ragte nun freistehend 5 m über dem
Bodenniveau hinaus. Von der Basilika konnte man offenbar durch eine Tür in der
linken Seitenapsis zum Felsen oder am Felsen vorbei in den mittleren Hof gelan-
gen.66 Ob man zu Baubeginn schon die Erwartung hatte, auf das Grab zu stoßen
wegen des Golgotafelsens, eventuell an Traditionen anknüpfend, oder ob man
diesen Fund überraschend machte, wie es Euseb überschwänglich beschreibt

63 Euseb, De vita Constantini 3,30–32. Es ist nicht klar, welche Säulen gemeint sind, die der Kir-
che, die in den Vorhöfen oder die rings um die Ädikula. Überhaupt ist nur von der Basilika und
den angrenzenden notwendigen Gebäuden die Rede, nicht von dem aufwendigen Bauvorhaben
der Ädikula und ihrer Einfassung durch Säulen oder einer Rotunde. Dennoch preist der Kaiser
in dem Brief das Wunder des Auffindens des Kennzeichens des heiligsten Leidens des Erlösers,
redet von einem heiligen Ort, heilig von Anfang an und jetzt besonders heilig durch den Beweis
des Leidens des Erlösers (wie Anm. 55).
64 R. Krautheimer, The Ecclesiastical Building Policy of Constantine, in: E. Ferguson (ed.),
Christianity in Relation to Jews, Greeks, and Romans (Recent Studies in Early Christianity 2),
New York 1999, 341–384.
65 Zum Abriss des Aphroditeheiligtums vgl. Anm. 53.
66 Díez Fernández (wie Anm. 39), 136–143 mit Abb. 63.

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 Konstantin und Jerusalem   247

und wie es auch Konstantin in seinem Brief an Makarius zum Ausdruck bringt,
wird man nicht mehr beantworten können.67 Auf jeden Fall wurde dann das Areal
nach Osten erweitert in den Hang des Hügels hinein und das Grab aus dem Felsen
herausgearbeitet. Das Grab wurde extra eingefasst und als Aedikula gestaltet.
Umgeben wird das Grab von einem Rundbau, der von einer beeindruckenden
Höhe gewesen sein muss. Aber nur so gewann er ein ausreichendes Gegenge-
wicht zum höhergelegenen Bau der Basilika. Er wirkt wie ein Mausoleum, natür-
lich nicht für einen irdischen Herrscher, sondern für den himmlischen Herrscher,
Christus.68
So entstand eine Doppelanlage, die einerseits von Osten her vom östlichen
Atrium betreten werden konnte, andererseits aber auch von Süden her beim
mittleren Atrium. Diese Perspektive wird oft übersehen, aber ist auf jeden Fall
mit zu berücksichtigen. Das Forum wurde ja offenbar so belassen, so dass diese
ganze Anlage auch von Süden her vom Forum aus betretbar war. „Der Golgatha-
Felsen lag damals auf halber Strecke unter freiem Himmel in einer Ecke des
Zwischenatriums“.69 Dann ist Golgota weniger eine störende Nebensächlichkeit,
sondern eher wie eine Fahnenstange der ursprüngliche Dreh- und Angelpunkt
der ganzen Planung.70

67 Eine alte Lokaltradition vermutet beispielsweise R. L. Wilken, The Land Called Holy. Pales-
tine in Christian History and Thought, New Haven 1992, 90: „It is more likely that the Christian
community in Jerusalem had a sense of where the tomb had been located.“; vgl. auch J. W. Drij-
vers, Transformation of a City. The Christianization of Jerusalem in the Fourth Century, in: R. Al-
ston (ed.), Cults, Creeds and Identities in the Greek City after the Classical Age (Groningen-Royal
Holloway Studies on the Greek City after the Classical Age 3), Leuven 2013, 309–329 (310); und
Hunt (wie Anm. 9), 2–5. Die vehementesten Befürworter einer bestehenden Tradition, basierend
auf einer judenchristlichen Kontinuität vor Ort, sind die Franziskaner Bellarmino Bagatti und
Emanuele Testa: Corpus Scriptorum de Ecclesia Matre 4: Gerusalemme, la rendenzione secondo
la tradizione biblica die SS. Padri, Jerusalem 1982. Keine alte Lokaltradition nehmen beispiels-
weise an: A. Lindner, Ecclesia and Synagoga in the Medieval Myth of Constantine, in: RBPH 54
(1976), 1019–1060 (1026); Smith (wie Anm. 23), 9; dies wird vor allem vehement bestritten von
Taylor (wie Anm. 39).
68 Zum Bau vgl. die Literatur oben Anm. 39. Die bekannte Beschreibung Eusebs in De vita
Con­stan­tini 3,25–40 ist vor allem relevant in Bezug auf die Innenausstattung. Vgl. ferner auch
­M. Biddle, Das Grab Christi. Neutestamentliche Quellen, historische und archäologische For-
schungen, überraschende Erkenntnisse, Gießen 1998. Die jüngst vereinbarten und längst not-
wendigen Restaurierungen der Ädikula lassen noch genauere archäologische Kenntnisse zur
Entstehung und Baugeschichte erwarten.
69 Arbeiter (wie Anm. 39), 17.
70 Insofern ist m.  E. die Aussage von Küchler (wie Anm. 23, 438) einzuschränken, der beschreibt:
„Die konstantin. Basilika war in ihrer Gesamtanlage offensichtlich nicht auf den Felsen von Gol-
gata ausgerichtet […] ‚nur‘ in der Verlängerung des Seitenschiffs.“

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248   Uta Heil

Die Kirchenanlage wird sich zusammen mit den anderen Bauten im „Heili-
gen Land“ zu einem wichtigen Zentrum des Christentums entwickeln. Konstan-
tin hat als christlicher Kaiser Bedeutendes bewirkt bzw. ausgelöst. Gerade hier
zeigt sich die Verbindung von kaiserlicher Macht, imperialer Selbstdarstellung
und Förderung des Christentums. Dennoch sollte Vorsicht walten, das ursprüng-
lichen Baukonzept mit einem theologischen Überbau zu befrachten oder spätere
Entwicklungen und Deutungen schon für die Anfangszeit vorauszusetzen. Das
heißt nicht, Konstantin jegliches theologische Gedankengut abzustreiten. Ein
genauer Blick auf die Quellentexte sowie die archäologischen Befunde hilft, zwi-
schen einem Zuviel und einem Zuwenig an Konstantinischem Engagement den
richtigen Weg zu finden.

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Annette von Stockhausen
Der kommemorierte Kaiser
Das liturgische Gedenken an Theodosius den Großen

1 Theodosius der Große


Der spätantike römische Kaiser Theodosius wird bereits (fast) zeitgenössisch
als „der Große“1 bezeichnet, und sein Leben wird (z.  T. schon durch ihn selbst)
durchaus dem Leben Konstantins, des Prototypen eines christlichen Kaisers, ent-
sprechend stilisiert. So verwundert es nicht, dass das theodosianische Zeitalter
in der Forschungsgeschichte (wie schon teilweise in der spätantiken Geschichts-
schreibung) nach der Herrschaft Konstantins als zweite entscheidende Phase
sowohl für die Christianisierung des spätantiken Römischen Reiches und die
„Verstaatlichung“ der Kirche als auch für die Verchristlichung der überkomme-
nen römischen Kaiserideologie gilt. Wie schon bei Konstantin wird dies vor allem
an Theodosius’2 Gesetzgebung in religiösen Fragen3, an seinem Eingreifen in die
kirchlichen Angelegenheiten, wie es sich in der Einberufung von Synoden und
der Durchsetzung ihrer Beschlüsse4 ebenso wie in seiner bischöflichen Personal-
politik5 manifestierte, sowie an seiner Bautätigkeit6 festgemacht.
Im Folgenden möchte ich einige Beobachtungen beisteuern, die diese Ver-
christlichung der Kaiserideologie und der Kaiserverehrung an der Wende vom

1 Auf der Synode von Chalkedon, vgl. Concilium Universale Chalcedonense, Collectio Epistula­
rum B 15 (ACO 2,1,2, 53,33 Schwartz); Concilium Universale Chalcedonense, Epistula ad Leonem
(ACO 2,1,3, 118,14 Schwartz).
2 Die Literatur zu Theodosius ist umfangreich. Genannt werden sollen hier aus jüngerer Zeit
S. Williams/G. Friell (eds.), Theodosius: The Empire at Bay, London 1998; J. Ernesti, Princeps
christianus und Kaiser aller Römer. Theodosius der Große im Lichte zeitgenössischer Quellen
(PaThSt 25), Paderborn 1998; H. Leppin, Theodosius der Große (Gestalten der Antike), Darmstadt
2003, v.  a. 229–239, und R. M. Errington, Roman Imperial Policy from Julian to Theodosius: Stu-
dies in the History of Greece and Rome, Chapel Hill 2006, 212–259.
3 An erster Stelle steht dabei natürlich das berühmte (oft überinterpretierte) Edikt Cunctos po­
pulos (Codex Theodosianus 16,1,2).
4 Sc. die Konstantinopolitanischen Synoden der Jahre 381, 382 und 383.
5 Exemplarisch die Einsetzung zunächst Gregors von Nazianz und dann des Nektarios als Bi-
schof von Konstantinopel.
6 Unter anderem in Rom, Konstantinopel und Jerusalem. In diesem Kontext ließe sich auch die
von Theodosius initiierte Transferierung von Reliquien (Paulus von Konstantinopel, der Kopf
von Johannes dem Täufer) nach Konstantinopel nennen.

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250   Annette von Stockhausen

4. zum 5. Jahrhundert von einer bisher nur ansatzweise und eher summarisch
beachteten Seite7 beleuchten können.

2 Die liturgische Kommemoration des Theodosius


Neben der üblichen Kaiserpanegyrik (zu Lebzeiten, zur Bestattung oder als
Nachruf)8 und den klassischen Formen der Verehrung des Kaisers im spätanti-
ken Römischen Reich lässt sich bei Theodosius nämlich (erstmals?9) auch eine
liturgische Kommemoration eines Kaisers nachweisen.
Die früheste uns zur Verfügung stehende Quelle dafür ist das alte Jerusale­
mer Lektionar/Typikon. Es ist in einer armenischen Übersetzung des griechischen
Textes greifbar, der in seiner überlieferten Form um die Mitte des 5. Jahrhunderts
entstanden ist, aber insgesamt ältere, ins 4. Jahrhundert zurückreichende Tradi-
tionen widerspiegelt.10 Ein späteres, um viele weitere (auch kaiserliche) Gedenk-

7 Vgl. L. Bréhier/P. Batiffol, Les survivances du culte impérial romain. À propos des riles shintoïs-
tes, Paris 1920, 72; U. Zanetti, Costantino nei calendari e sinassari orientali, in: G. Bonamente/
F. Fusco (eds.), Costantino il Grande dall’Antichità all’Umanesimo. Colloquio sul Cristianesimo
nel Mondo Antico, Macerata 18–20 dicembre 1990, vol. 2, Macerata 1993, 893–914; G. Dagron,
Emperor and Priest: The Imperial Office in Byzantium (Past and Present Publications), Cam-
bridge 2003, 127–157 (149–157), und M. J. Johnson, The Roman Imperial Mausoleum in Late Anti-
quity, Cambridge 2009, 191–192.
8 Herausragend sind hier natürlich die schon oft behandelten Reden des Ambrosius von Mai-
land oder Gregors von Nyssa. Vgl. zum Umgang mit dem verstorbenen Kaiser allgemein S. Rebe-
nich, Vom dreizehnten Gott zum dreizehnten Apostel? Der tote Kaiser in der Spätantike, in: ZAC 4
(2000), 300–324.
9 Siehe unten. Angesichts der schlechten Quellenlage ist es nicht sicher auszumachen, ab
wann sich eine kirchliche liturgische Verehrung Konstantins greifen lässt, d.  h. ob es eine sol-
che bereits vor Theodosius gegeben hat oder ob sie vielleicht erst im Zuge des theodosiani-
schen Aufgreifens der Konstantinsideologie entstanden ist. Eusebius, De vita Constantini 4,71,2
([…], ὡς ὁρᾶν <ἔστι> εἰσέτι καὶ νῦν τὸ μὲν τῆς τρισμακαρίας ψυχῆς σκῆνος τῷ τῶν ἀποστόλων
προσρήματι συνδοξαζόμενον καὶ τῷ λαῷ τοῦ θεοῦ συναγελαζόμενον, θεσμῶν τε θείων καὶ
μυστικῆς λειτουργίας ἀξιούμενον καὶ κοινωνίας ὁσίων ἀπολαῦον εὐχῶν […] [GCS 1,1, 150,1–4
Winkelmann]) ist jedenfalls kein so eindeutiger Beleg für regelmäßige Gottesdienste am Grab
Konstantins und für Konstantin, wie es auf den ersten Blick scheinen mag; vielmehr ist es allein
ein Beleg für die christliche Bestattung Konstantins und für den Umstand, dass Konstantin zu-
künftig („bis jetzt“) der Gebete für die Apostel teilhaftig wird; Konstantin ist also nur der Nutz-
nießer, nicht eigentlicher Grund und primäres Ziel der nur in räumlichem Zusammenhang mit
seinem Grab dargebrachten Gebete.
10 Maßgebliche Edition und Einleitung bei A. Renoux, Le Codex Arménien Jérusalem 121. 2.
édition comparée du texte et de deux autres manuscrits (PO 36), Turnhout 1971, im Folgenden

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 Der kommemorierte Kaiser   251

tage ergänztes Entwicklungsstadium dieses Jerusalemer Lektionars/Typikons gibt


die wohl um 700 zu datierende georgische Übersetzung wieder.11
Beide Übersetzungen verzeichnen einen Gedenktag für Kaiser Theodosius
den Großen und geben biblische Texte für diesen Gedenktag vor.12 Als Datum
führen sie den 19. Januar an.13 Dieses Datum bezeugen auch noch der im Codex
Sinaiticus georg. 34 aus dem 10. Jahrhundert überlieferte, ebenfalls Jerusalemer
Traditionen widerspiegelnde Kalender14 sowie das um 1240 entstandene Armeni­
sche Synaxar von Ter Israel15.

jeweils als Armenisches Lektionar (und Zeuge des frühen Entwicklungsstandes) angeführt. Ei-
nige der im Typikon angeführten Festtage sind erst im 5. Jahrhundert entstanden, ansonsten
lassen sich aber weitgehende Parallelen zu der Liturgie feststellen, wie sie im Itinerarium Ege-
rias, das sehr wahrscheinlich zu Beginn der 80er Jahre des 4. Jahrhunderts entstanden ist, be-
schrieben wird, vgl. dazu Egeria, Itinerarium Egeriae. Reisebericht, hg. von G. Röwekamp (FC
20), Freiburg 1995. Egeria erwähnt in ihrem Bericht allerdings keinerlei Gedenktage. Instruktiv
ist aber die Bemerkung in Itinerarium 24,2 (CChr.SL 175, 67,15–16 Geyer/Cuntz), dass der Bischof
während der Laudes „der Namen derjenigen gedenkt, derer er möchte“ (commemorat etiam
ipse nomina, quorum vult). Vgl. auch Kyrill [?] von Jerusalem, Catecheses mystagogicae 5,8–9,
der Gebete ὑπὲρ τῆς τοῦ κόσμου εὐσταθείας, ὑπὲρ βασιλέων, ὑπὲρ στρατοπέδων καὶ συμμάχων
(8 [SC 126, 156 Paris/Piédagnel]) erwähnt, bei den Kommemorationen Verstorbener (9 [158
P./P.]) die Kaiser aber nicht: Εἶτα μνημονεύομεν καὶ τῶν κεκοιμημένων, πρῶτον πατριαρχῶν,
προφητῶν, ἀποστόλων, μαρτύρων, ὅπως ὁ Θεὸς εὐχαῖς αὐτῶν καὶ πρεσβείαις προσδέξηται ἡμῶν
τὴν δέησιν. Εἶτα καὶ ὑπὲρ τῶν κεκοιμημένων ἁγίων πατέρων καὶ ἐπισκόπων, καὶ πάντων ἁπλῶς
τῶν ἡμῖν προκεκοιμημένων […].
11 Ediert von M. Tarchnischvili, Le grand Lectionnaire de l’Église de Jérusalem (Ve–VIIIe sièc-
le) (CSCO 188/189; 204/205), Louvain 1959–1960, im Folgenden jeweils als Georgisches Lektionar
(und Zeuge des späteren Entwicklungsstadiums) angeführt.
12 Nach dem Armenischen Lektionar – die anderen Quellen nennen keinen Ort – findet die Feier
in der Anastasis, d.  h. der Jerusalemer Hauptkirche, statt: Ժողովին ի Սուրբ Յարութեանն (Re-
noux [wie Anm. 10], 88,16).
13 Renoux (wie Anm. 10), no. XII (88–89); Tarchnischvili (wie Anm. 11), no. 158. Das Georgische
Lektionar führt auch am 31. Juli nochmals einen Gedenktag für Theodosius an, unter Umständen
liegt eine Verwechslung mit Theodosius II. vor, der am 28. Juli 450 starb und dessen im Synaxa­
rium ecclesiae Constantinopolitanae am 30. Juli gedacht wird, vgl. unten.
14 G. Garitte, Le calendrier palestino-géorgien du Sinaiticus 34 (Xe siècle) (SHG 30), Bruxelles
1958, 45 (Text) und 135 (Kommentar). In diesem Kalender wird am 31. Mai eine zusätzliche Ge-
denkfeier für Theodosius (in Bethlehem) angeführt (Text 69, Kommentar 238). Ob sich eine Ver-
bindung mit der im Georgischen Lektionar an diesem Tag kommemorierten Weihe der Bethlehe-
mer Kirche (Tarchnischvili [wie Anm. 11], no. 1001–1003) herstellen lässt?
15 G. Bayan, Le Synaxaire Arménien de Ter Israël. VI Mois de Aratz (PO 19/1), Paris 1926, 57–58.
Das Armenische Synaxar bietet eine kurze Vita, die vor allem die Orthodoxie des Theodosius
hervorhebt. Das Synaxar ist der einzige mir bisher bekannte Zeuge für eine Vita des Theodosius
in einer liturgischen Handschrift und für offenbar liturgische Zwecke.

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252   Annette von Stockhausen

Auch die westsyrischen Menologien Codex British Library Add. 17134 aus
dem 7. Jahrhundert, Codex British Library Add. 14504 aus dem 9./10. Jahrhundert
und Codex British Library Add. 14519 aus dem 11./12. Jahrhundert sowie die alep-
pinischen Handschriften Parisinus syr. 146 und Vaticanus syr. 69 führen einen
Gedenktag für Theodosius an,16 allerdings mit zwei Unterschieden, von denen
vor allem der zweite bemerkenswert ist: Zum einen ist der Gedenktag für den
18. Januar vermerkt,17 zum anderen wird vor allem nicht mehr Theodosius allein
kommemoriert, sondern mit ihm zusammen die „150 Väter von Konstantinopel“.18
Dies ist wohl als bewusste inhaltliche Verschiebung zu interpretieren, indem
Theodosius nun ganz im Tenor des Gedächtnisses an die zweite ökumenische
Synode19 vor allem als derjenige verstanden wird, der die Synode einberufen hat,
aber seiner nicht als Kaiser per se gedacht wird.20
Interessant – aber zugleich wegen der problematischen Überlieferung von
Datumsangaben21 auch nicht zu klären22 – ist nun die Wahl des Tages: Der Todes-
tag des Theodosius, christlich verstanden sein dies natalis, ist laut den uns zur

16 Ediert von F. Nau, Un Martyrologue et douze Ménologes Syriaques (PO 10/1), Paris 1915, 31,14–
32,1; 37,9–11; 49,11–12; 70,7–8.
17 D.i. dem 18. Tag des Monats Kanun II. Diese Verschiebung ist wohl auf die Umrechnung in
den syrischen lunisolaren Kalender zurückzuführen.
18 Vgl. British Library Add. 17134, f. 84v (Nau [wie Anm. 16], 31,14–32,1):
̈ ‫ܒܬܡܢܬܥܣܪ ܒܟܢܘܢ ܐܚܪܝ ܕܩܕܝ̈ܫܐ ܡܐܐ ܘܚܡܫܝܢ‬
.‫ ܘܕܫܦܝܪ ܕܚܠܬܐ ܬܐܘܕܘܣܝܘܣ ܡܠܟܐ ̇ܗܘ ܪܒܐ‬.‫ܐܒܗܬܐ ̇ܗܢܘܢ ܕܒܩܘܢܣܬܐܢܬܢܦܐܠܝܣ ܐܬܟܢܫܘ‬
19 Zu vergleichen sind die verschiedenen byzantinischen Konzilssynopsen, die in handbuchar-
tigen Merksätzen das Wissen über die ökumenischen Synoden zusammenfassen, beispiels-
weise Anastasius vom Sinai, Viae dux 5 (CChr.SG 8, 89,29–36 Uthemann): Ἡ δὲ δευτέρα ἁγία
οἰκουμενικὴ σύνοδος τῶν ἐν Κωνσταντινουπόλει ρνʹ ἁγίων πατέρων γέγονεν ἐπὶ Θεοδοσίου τοῦ
μεγάλου βασιλέως κατὰ Μακεδονίου ἀρχιεπισκόπου Κωνσταντινουπόλεως κτίσμα λέγοντος τὸ
πνεῦμα τὸ ἅγιον. Ἡ δὲ ἁγία σύνοδος καθελοῦσα Μακεδόνιον ὁμοούσιον ἐκήρυξε τῷ πατρὶ καὶ τῷ
υἱῷ τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον προσθεῖσα ἐν τῷ συμβόλῳ τὸ καὶ εἰς τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον, τὸ κύριον καὶ
ζωοποιόν, καὶ τὰ ἑξῆς.
20 Die Menologien British Library Add. 14503 (a. 1166) und Add. 14719 (a. 1184) gedenken am
18. Januar dann nur noch der 150 Väter, vgl. Nau (wie Anm. 16), 54,5–6 (mit einer Verwechslung
von Konstantinopel mit Nizäa); 98,14, während die noch späteren Menologien British Library
Add. 17232 (a. 1210), British Library Add. 17246 (a. 1239), British Library Add. 14713 (12./13. Jh.),
British Library Add. 17261 (13./14. Jh.) sowie der Codex Vaticanus syr. 68 (a. 1465) diesen Gedenk-
tag dann ganz auslassen, vgl. Nau (wie Anm. 16), 117–118.94.103.109.128–129.
21 Schwankungen um ein oder zwei Tage zwischen den unterschiedlichen Typika/Synaxaren/
Menologien sind durchaus häufig anzutreffen und beruhen wohl meist auf den unterschied­
lichen zugrundeliegenden Kalendersystemen.
22 Auf Grund der Gattung der zur Verfügung stehenden Quellen ist es überhaupt schwierig fest-
zumachen, wann bestimmte Feste oder Traditionen entstanden sind. Hier ist eine gewisse Hypo-
thesenfreudigkeit wohl nicht zu vermeiden.

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 Der kommemorierte Kaiser   253

Verfügung stehenden Quellen der 17. Januar 395,23 also zwei Tage bzw. ein Tag vor
dem Datum, an dem im Osten sein Gedächtnis begangen wurde. Hier könnte man
einfach fehlende Kenntnis des genauen Datums, Fehler bei der Umrechnung des
Datums oder eine willkürliche Verschiebung (z.  B. weil an diesem Tag schon einer
anderen Person, nämlich des Mönchvaters Antonius, gedacht wurde) annehmen.
Nun ist aber auch der 19. Januar ein wichtiger Tag in der Biographie des Theodo-
sius: An ihm wurde er nämlich im Jahr 379 zum Augustus erhoben, es ist also sein
dies imperii,24 den Theodosius (ebenso wie den kaiserlichen Geburtstag) durch
ein Reskript im Jahr 389 als Feiertag proklamiert hatte.25
Handelt es sich also bei dem im Armenischen Lektionar vermerkten Gedenk-
tag um den dies imperii des Theodosius und damit ggf. um einen schon zu seinen
Lebzeiten begangenen Termin? Wäre dem so, so hätte das natürlich weitrei-
chende Konsequenzen für die Einschätzung der Verchristlichung der römischen
Kaiserideologie einerseits wie der Anbindung der Kirche an das Kaisertum ande-
rerseits, wenn die Feier des dies imperii einen christlichen Rahmen bekommt. Es
ist aber angesichts der sonstigen Praxis der Kirche, der Märtyrer und Heiligen
an ihrem Todestag, dem dies natalis, zu gedenken, wohl doch wahrscheinlicher,
dass dies auch bei Theodosius der Fall ist,26 wir die Datumsdifferenz also anders
deuten müssen.

23 Vgl. Sokrates, Historia ecclesiastica 6,1,1 und Chronicon Edessenum 39. Den 17. Januar, aber
ein falsches Jahr, nennen auch Chronicon Paschale 565,1–13 (394) und die Fastes Vindobonenses
Priores 525 (396).
24 Vgl. Consularia Constantinopolitana s.  a. 379,1; Chronicon Paschale 561,1–4 (aber wiederum im
falschen Jahr). Sokrates, Historia ecclesiastica 5,2 nennt demgegenüber den 16. Januar.
25 Codex Theodosianus 2,8,19 (= Codex Iustinianus 3,12,6) vom 7. August 389: Parem necesse
est habere reverentiam nostris etiam diebus, qui vel lucis auspicia vel ortus imperii (p)rotulerunt
(T. Mommsen/P. M. Meyer [Hgg.], Theodosiani libri XVI cum constitutionibus Sirmondianis et
leges novellae ad Theodosianum pertinentes 2: Leges novellae ad Theodosianum pertinentes,
Berlin 1905, 88,5–8). Vgl. dazu F. Graf, Roman Festivals in the Greek East: From the Early Empire
to the Middle Byzantine Era (Greek Culture in the Roman World), Cambridge 2015, 105–123.
26 Es wäre natürlich auch denkbar, dass nach dem Tod des Theodosius wegen der terminlichen
Nähe eine Umdeutung des Anlasses für die gottesdienstliche Feier leicht möglich war.

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254   Annette von Stockhausen

3 Die liturgische Kommemoration weiterer


Kaiserinnen und Kaiser
Im Armenischen Lektionar findet sich neben Theodosius nur Kaiser Konstantin,27
dessen liturgisch gedacht wird, und zwar ebenfalls an seinem Todestag, dem
21. Mai.28
Auch die oben schon angeführten westsyrischen Menologien kennen einige
wenige weitere Kaiserkommemorationen: für Gratian, für Honorius und für Theo-
dosius II.29 Spätere Kaiser fehlen in ihnen, was sicherlich ein Ergebnis der Kir-
chentrennung in Folge des Konzils von Chalcedon (451) ist.

27 Außer den beiden Kaisern sind es überhaupt nur einige wenige Heilige und alttestamentliche
Propheten sowie die Jerusalemer Bischöfe Kyrill und sein Nachfolger Johannes, deren nach Aus-
kunft des Armenischen Lektionars in Jerusalem im späten 4. und frühen 5. Jahrhundert liturgisch
gedacht wird, vgl. die Übersicht bei Renoux (wie Anm. 10), 50.
28 Renoux (wie Anm. 10), no. LVI; vgl. Tarchnischvili (wie Anm. 11), no. 986. Das liturgische
Formular ist für beide Gedenktage dasselbe, vgl. unten. Zur späteren Weiterentwicklung dieses
Gedenktages zum Gedenken an Konstantin und Helena vgl. A. Luzzi, Il Dies Festus di Costantino
il Grande e di sua madre Elena nei libri liturgici della chiesa greca, in: G. Bonamente/F. Fusco
(eds.) (wie Anm. 7), 585–643 sowie allgemein zur orientalischen Tradition der Konstantinsvereh-
rung auch Zanetti (wie Anm. 7). Renoux (wie Anm. 10), LVI 56 no. 2, geht wie selbstverständlich
davon aus, dass der Gedenktag an Theodosius in Anlehnung an den Gedenktag an Konstantin
gestaltet ist, dieser dem an Theodosius also zeitlich vorausgeht. Wir haben aus der Zeit zwischen
Konstantins Tod und Bestattung in der Konstantinopler Apostelkirche und dem Armenischen
Lektionar jedoch keinerlei Zeugen für ein solches liturgisches Gedenken. Bezeugt ist allein eine
Verehrung des Konstantinsbildes auf der Porphyrsäule in Konstantinopel, wie den kritischen Be-
richten bei Philostorgios, Historia ecclesiastica 2,17 und Theodoret, Historia ecclesiastica 1,34,3
zu entnehmen ist, die allerdings beide dieses Geschehen zeitlich nicht verorten, sowie die Er-
wähnung einer Verehrung Konstantins durch das Militär bei Julian, Oratio 1,6. Es ist also nicht
völlig auszuschließen, dass ein liturgisches Konstantin-Gedenken erst im theodosianischen Zeit-
alter im Zuge des ideologischen Anschlusses an Konstantin durch Theodosius eingeführt wurde
(s. Anm. 9). Das von Zanetti (wie Anm. 7), 896 Anm. 10 angeführte syrische Martyrologium Bri-
tish Library Add. 12150 aus dem Jahr 411 (Nau [wie Anm. 16], 7–26) kann auf Grund der Gattung
des Textes allerdings nicht als Zeuge dafür angeführt werden, dass Konstantin noch nicht litur-
gisch verehrt wurde, weil Konstantin ja kein Märtyrer war.
29 Das Menologion British Library Add. 14504 (9./10. Jh.) nennt Gratian am 14. 11. (ebenso Add.
17134; vgl. den Hymnus 202 des Severus von Antiochien, ediert in E. W. Brooks, The Hymns of
Severus and Others in the Syriac Version of Paul of Edessa as Revised by James of Edessa [PO
6/7], Paris 1911, 666–667), Honorius am 10. 11. (vgl. den Hymnus 200 des Severus von Antio-
chien, Brooks [wie Anm. 29], 665–666) und Theodosius II. am 30. 7. (ebenso Add. 14519). Kon-
stantin wird in ihnen (British Library Add. 17232; Parisinus syr. 146 aus 17. Jh. und Vaticanus
syr. 69, a. 1547, allerdings am 20. 5.; British Library Add. 14504 am 1. 8. zusammen mit Abgar
und den Makkabäern) bereits fast ausschließlich zusammen mit Helena kommemoriert. Das

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 Der kommemorierte Kaiser   255

Denn ein anderes Bild zeigt sich im Georgischen Lektionar, das gegenüber
dem Armenischen Lektionar bereits einen bedeutend erweiterten Kanon an Kom-
memorationen aufweist, sowohl, was Heilige im Allgemeinen angeht, als auch
in Bezug auf die Kaiser und Kaiserinnen:30 Neben Theodosius und Konstantin
haben Valens31, Arkadius32, Markian33 und Justinian34 einen Eintrag. Außerdem
werden die beiden Kaiserinnen Eudoxia35 und Theodora36 angeführt. Die Wahl
des jeweiligen Datums ist abgesehen von Justinian und Theodora, bei denen

Menologion British Library Add. 14504 führt Konstantin auch noch zusammen mit den 318 Vä-
tern von Nizäa an (British Library Add. 17134 nennt sie fälschlicherweise zusammen mit Theo-
dosius), und zwar am 3. 11., dem Todestag seines Sohnes Konstantius; dieselbe Verwechslung
findet sich in einem gotischen Kalender aus dem 6. Jh., vgl. H. Delehaye, Saints de Thrace et
de Mésie, in: AnBoll 31 (1912), 161–300 (276). Wurde ursprünglich Konstantius verehrt, so han-
delt es sich bei ihm neben Valens (siehe oben) um einen weiteren von der späteren kirch­lichen
Tradition als „häretisch“ angesehenen Kaiser, der liturgisch kommemoriert wird. Liegt hier also
eventuell eine homöische Tradition vor? Oder ist es ein Relikt der Kaiserverehrung rund um
die Kaisermausoleen der Konstantinopler Apostelkirche? Selbst Julians Leichnam wurde nach
Zosimos, Historia nea 13,13,23–25 (zu einem unbestimmten Zeitpunkt) von seinem ursprüngli-
chen Begräbnisort Tarsus nach Konstantinopel transferiert. Nach Auskunft der Liste der kai-
serlichen Gräber im Zeremonienbuch Konstantins VII. (2,42, no. 43, vgl. G. Downey, The Tombs
of the Byzantine Emperors at the Church of the Holy Apostles in Constantinople, in: JHS 79
[1959], 27–51 [31–32]) – freilich entsprechend kommentiert – befand sich Julians Grab noch im
10. Jh. dort; kritisch dazu aber D. Woods, On the Alleged Reburial of Julian the Apostate at Cons-
tantinople, in: Byz. 76 (2006), 364–371.
30 Das anzuwendende liturgische Formular für die Kaiserkommemorationen folgt entweder di-
rekt dem der Kommemoration Konstantins und Theodosius’, oder ist von dieser abgeleitet in
einer eigenen Rubrik im Lektionar verzeichnet: Tarchnischvili (wie Anm. 11), no. 1523–1527, vgl.
dazu unten.
31 Valens wird am 27. Januar (no. 174) und am 17. März (no. 259) angeführt. Auf Grund seines
Rufes als Häretiker und Verfolger der Rechtgläubigen ist seine Kommemoration überhaupt
überraschend. Die Lesung Valens (ვალენტი) ist nach Auskunft der Edition von T ­ archnischvili
(wie Anm. 11) allerdings eindeutig; eine der von Tarchnischvili verwendeten Handschriften
(Lathal) lässt aber bezeichnenderweise in no. 174 die Nennung des Valens aus, no. 259 befin-
det sich innerhalb einer größeren Lücke dieser Handschrift, so dass hier keine Aussage zu
treffen ist.
32 Am 27. August (no. 1183).
33 Am 19. April (no. 926) und am 9. Juli (no. 1083).
34 Am 3. August (no. 1123) und am 16. November (no. 1368). Beide Tage werden in der Nea-Kir-
che begangen, als deren Erbauer Justinian auch genannt wird.
35 Am 19. Oktober (no. 1312). Ihrer wird in der Stephanus-Kirche gedacht – auf Grund einer Ver-
wechslung mit Aelia Eudocia?
36 Am 26. Juni (no. 1063). Wie Justinians wird auch ihrer in der Nea-Kirche gedacht, als deren
Erbauerin Theodora ebenfalls genannt wird.

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256   Annette von Stockhausen

zumindest eine gewisse Nähe zum Todesdatum besteht,37 nicht nachvollziehbar.


Auffällig ist außerdem, dass mehrere Kaiser an zwei Tagen im Jahr kommemoriert
werden, ohne dass deutlich würde, warum oder zu welchen Anlässen.38
Am größten ist die Zahl der kommemorierten Kaiser und Kaiserinnen im
Konstantinopler Typikon der großen Kirche und im Synaxarium ecclesiae Cons­
tantinopolitanae (SEC) (beide wohl aus dem 10. Jh.), jedoch ist auch bei diesen
Quellen die Wahl des jeweiligen Datums in vielen Fällen nicht nachvollziehbar.
Relativ viele der Genannten sind in den Kaisermausoleen der Apostelkirche
bestattet und/oder als die ökumenischen Konzilien Einberufende hervorgetre-
ten.39 Neben Theodosius werden im Typikon der großen Kirche Konstantin40,
Theodosius II.41, Markian42, Leo I.43, Justinian44, Maurikios45 und Justinian II.46
genannt. Auffällig ist auch die große Anzahl der kommemorierten Kaiserinnen,
wobei diese nicht zuletzt durch religiöse Stiftungen oder durch christliches (und

37 Theodora starb am 28. Juni 548, Justinian am 14. November 565. Eine Möglichkeit ist, dass es
sich um das Datum der depositio handelt.
38 Unter Umständen gehen diese Doppelungen aber auch auf Überlieferungsfehler bzw. Na-
mensverwechslungen zurück. Vgl. schon das oben zu Theodosius Angeführte.
39 Vgl. Dagron (wie Anm. 7), 153. Zu den Orten der Bestattung vgl. M. J. Johnson, On the Burial
Places of the Theodosian Dynasty, in: Byz. 61 (1992), 330–339 und Johnson (wie Anm. 7), sowie
zum literarischen Befund Downey (wie Anm. 29).
40 Am 3. September (in den Typikon-Handschriften H = Hierosolymitanus 40, Fa = Parisinus gr.
1590, Ox = Bodleianus Auct. E. 5 10; SEC) als „Kaiser und jüngster Apostel“, am 21. Mai (in H und
P = Patmiacus 266; SEC) zusammen mit Helena. Die hier und im Folgenden genannten Stellen
sind bei J. Mateos, Le Typicon de La Grande Église. Ms. Saint-Croix No 40, Xe siècle, Tome 2:
Le Cycle des Fêtes Mobiles (OCA 166), Rom 1963 im zweiten Band bzw. bei H. Delehaye, Synaxa-
rium Ecclesiae Constantinopolitanae, Propylaeum Ad AASS Novembris, Brüssel 1902 unter dem
jeweiligen Datum zu verifizieren.
41 Am 30. Juli (in H, P; SEC). Ein Bezug zu seinem Todestag am 28. Juli 450 liegt nahe.
Vgl. oben.
42 Am 17. Februar (in H) bzw. 18. Februar (SEC) zusammen mit seiner Frau Pulcheria.
43 Am 15. Januar (in P) bzw. am 20. Januar (in Fa = Parisinus gr. 1590, Ox; SEC). Ein Bezug zu
seinem Todestag am 18. Januar liegt nahe.
44 Am 14. November (in H, P, Fa, Ox; SEC), dem Todestag Justinians, zusammen mit Theodora,
dazu (in H, P; SEC) noch am 2. August nur Justinian (in der Apostelkirche).
45 Am 28. November (in H; SEC) zusammen mit Konstantina „und ihren Kindern“ (die Feier
findet sowohl in der Großen Kirche als auch in der Apostelkirche statt). Die Handschrift liest
fälschlicherweise Markianos, vgl. V. Grumel, La Mémoire de Tibère II et de Maurice dans le
Synaxaire de Constantinople, in: AnBoll 84 (1966), 249–253, und Konstantin, vgl. Dagron (wie
Anm. 7), 154 Anm. 108. Der georgische Kalender nennt den 28. August, vgl. Garitte (wie Anm. 14),
87. 315.
46 Am 15. Juli (in H; SEC).

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 Der kommemorierte Kaiser   257

d.  h. auch monastisches) Leben hervorgetreten sind: Flacilla47, Eudokia48, Marki-


ane49, Pulcheria50, Ariadne51, Irene52 und Theophano53. In den meisten Fällen be-
schränken sich die Angaben auf die Nennung des Namens und ggf. des Ortes der
Kommemoration, geben also keinerlei Hinweise darauf, wie diese Kommemora-
tion liturgisch ausgestaltet war.
Eines zeigt dieser Befund aber ganz deutlich: Auch wenn einige Kaiser in den
gerade angeführten Quellen nicht genannt werden, so ist es für den Ostteil des
Reiches,54 solange es existiert, üblich (je später die Quelle zu datieren ist, desto
mehr), dass der Kaiser und Kaiserinnen liturgisch gedacht wird und sie in einer
Reihe (wenn auch, je länger sie verstorben sind, desto eher an deren Ende) mit
Märtyrer(inne)n, Asket(inn)en, Bischöfen und sonstigen Heiligen stehen.

4 Elemente und Themen der liturgischen


Kommemoration des Theodosius

4.1 In Konstantinopel

Neben der Jerusalemer Tradition einer Kommemoration des Theodosius am


19. Januar kennt nun, wie oben angeführt, auch die uns erhaltene griechische,
auf Konstantinopler Tradition zurückgreifende Überlieferung im Typikon der
großen Kirche und im Synaxarium ecclesiae Constantinopolitanae einen Gedenk-
tag für Kaiser Theodosius I. Allerdings findet dieser im Gegensatz zu den bisher
betrachteten Quellen des Armenischen/Georgischen Lektionars und der syrischen
Menologien nicht im Zusammenhang mit seinem dies natalis am 19. Januar statt,

47 Am 14. September (in Fa; SEC): Τῇ αὐτῇ ἡμέρᾳ μνήμη τῆς εὐσεβεστάτης βασιλίσσης
Πλακίλλης, συζύγου γενομένης Θεοδοσίου τοῦ μεγάλου βασιλέως· ἥτις πάντα τὸν βίον αὐτῆς ἐν
εὐσεβείᾳ καὶ τῇ τῶν πτωχῶν ἐπιμελείᾳ διετέλεσε· διὸ καὶ μετ’ εἰρήνης τὸ πνεῦμα αὐτῆς τῷ Θεῷ
παρέθετο (Delehaye [wie Anm. 40], 46).
48 Am 13. August (in P, H hat eine Lücke; SEC). Wahrscheinlich handelt es sich um die in der
Apostelkirche bestattete Frau des Heraklios, die am 13. August 612 verstorben war.
49 Am 27. Januar (in H; SEC) bzw. am 28. Januar (in Fa, Ox). Die Identität ist unklar.
50 Am 10. September (in Ox, Fa; SEC), am 7. August (in H; SEC) zusätzlich gemeinsam mit Irene
(in der Apostelkirche).
51 Am 22. August (in H, P; SEC).
52 Am 7. August (in P), vgl. oben. Ein Bezug zu ihrem Todestag am 9. August 803 liegt nahe.
53 Am 16. Dezember (in H, Fa, Ox; SEC).
54 Im lateinischsprachigen Westen gibt es keine Hinweise auf eine vergleichbare Praxis.

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sondern am 9. November. Dieser ist der Jahrestag der depositio seines Leichnams
im Mausoleum der Konstantinopler Apostelkirche55 und wird dementsprechend
in der Apostelkirche begangen.56 Inwieweit die uns aus Jerusalem bekannte Tra-
dition der Feier am 19. Januar für den gesamten Osten anzunehmen ist, ist ange-
sichts der für weite Teile des Römischen Reiches fehlenden Quellen schwer zu
beurteilen. Jedenfalls ist eine Feier am Tag der Bestattung eine eher ausschließ-
lich für Konstantinopel anzunehmende Tradition, wo das Grab als Ort für die
Gedächtnisfeier zur Verfügung stand.
Über den Ablauf der Gedächtnisfeier für Theodosius in der Konstantinopler
Apostelkirche sind wir aber wiederum eher schlecht und nur durch einen ein-
zigen Zeugen unterrichtet, erfahren aber immerhin einiges mehr als die bloße
Namensnennung.
Unter den Homilien des Johannes Chrysostomus liegt nämlich in Homilia
nova 657 ein Text vor, der mit einer Gedächtnisfeier für Kaiser Theodosius in Ver-
bindung gebracht werden kann. Sein handschriftlich überlieferter Titel lautet:

Τοῦ αὐτοῦ ὁμιλία ῥηθεῖσα ἐν τοῖς ἀποστόλοις ἐν τῇ ἡμέρᾳ Θεοδοσίου βασιλέως πρὸς τοὺς
καλοῦντας ἑαυτοὺς καθαρούς, ἑτέρων δύο ἐπισκόπων εἰρηκότων.58

55 Vgl. Sokrates, Historia ecclesiastica 6,1,3 und Chronicon Edessenum 39, die den 8. November
als Ankunftstag des Leichenzuges aus Mailand nennen, während Chronicon Paschale 566,1—2
den 9. November für die depositio anführt. Das bloße Factum der Bestattung in Konstantinopel
ohne Nennung eines Datums bezeugt Zosimos, Historia nea 4,59,4.
56 J. Mateos, Le Typicon de la Grande Église. Ms. Saint-Croix No 40, Xe siècle. Tome 1: Le cycle
des douze mois (OCA 165), Rom 1962, 96,15–16 und Delehaye (wie Anm. 40), 205,24–25 mit Nen-
nung des Ortes. Die Typikon-Handschriften P, Fa und Ox führen die Feier am 10. November an,
z.  T. ohne Nennung der Apostelkirche, vgl. Mateos (wie Anm. 56), 97 App.
57 CPG 4441.6. Der Text liegt in PG 63, 491–494 in einer Edition nach Codex Vaticanus Ottobo-
nianus gr. 431, f. 188r–189v, vor, der den Text allerdings nur unvollständig überliefert. Der dort
fehlende Mittelteil ist allein durch den bisher nicht publizierten Codex Athous Stavronikita 6, f.
80v–84r (die gesamte Homilie umfasst f. 79v–84v), der überhaupt tendenziell einen besseren
Text bietet, überliefert. Für die Hilfe bei der Einsichtnahme in den Codex danke ich Matthieu
Cassin und für die Zurverfügungstellung eines Transkriptes der entsprechenden Passage Wendy
Mayer ganz herzlich. Vgl. zum Codex und zur Datierung A. Wenger, La tradition des œuvres de
saint Jean Chrysostome. Catéchèses inconnues et homélies peu connues, in: REByz 14 (1956),
5–47 (38–39). Zur Verortung in Konstantinopel (m.  E. etwas zu kritisch) W. Mayer, The Homilies
of St John Chrysostom – Provenance: Reshaping the Foundations (OCA 273), Rom 2005, 497: „The
homily Adversus catharos (CPG 4441.6), on the other hand, which might be considered to belong
to Constantinople on circumstantial grounds, […] The title itself must be treated with suspicion,
since the information contained within it could easily represent the results of an informed guess
based on data internal to the homily.“ Vgl. dazu auch Ernesti (wie Anm. 2), 293–296.
58 PG 63, 491,1–3; vgl. Codex Athous Stavronikita 6, f. 79vb1–8.

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 Der kommemorierte Kaiser   259

Interessant ist nun zum einen, was wir aus dem Text an Realia über das Theo-
dosius-Gedenken in Konstantinopel erfahren, und zum anderen, wie Johannes
Chrysostomus den verstorbenen Kaiser Theodosius charakterisiert. Zunächst zu
den äußeren Umständen des Theodosius-Gedenkens in Konstantinopel:
1. Stimmt die Angabe im Titel ῥηθεῖσα ἐν τοῖς ἀποστόλοις, so findet das Geden-
ken in der Apostelkirche59 und damit ganz dem entsprechend statt, was wir
auch aus dem Typikon der großen Kirche und dem Synaxar von Konstantino­
pel wissen. Es ist dann auch durchaus wahrscheinlich, dass das Gedenken
am dort genannten Tag stattgefunden hat.60
2. Es muss sich um eine größere Feierlichkeit gehandelt haben, denn es sind
drei Prediger, die zu unterschiedlichen Texten bzw. Themen sprechen. Johan-
nes Chrysostomus war nach seiner Aussage der dritte Redner des Tages, vor
ihm haben bereits zwei weitere, einer jünger, einer älter, gesprochen, ohne
dass diese für uns irgendwie identifizierbar wären.61
3. Der Hauptgegenstand der Homilie ist nicht Theodosius selbst – das könnte
allerdings auch dem Umstand geschuldet sein, dass Johannes Chrysostomus
erst als dritter Redner auftritt –, sondern die schismatische Gruppe der Nova-
tianer („Katharer“).62
Auch wenn Theodosius nicht der Hauptgegenstand der Homilie ist, so widmet
ihm Johannes Chrysostomus dem Anlass entsprechend doch den einleitenden
Teil63 und entwirft dort ein kleines Enkomion auf den Kaiser. Demnach verdient
Theodosius es, dass seiner gedacht wird,

59 Zu den architektonischen Zusammenhängen vgl. Downey (wie Anm. 29).


60 Die Homilie wird unter der Annahme des Amtsantritts des Chrysostomus in Konstantinopel
(26. Februar 398) als terminus post quem üblicherweise auf den 17./19. Januar 399 (als erstmög-
lichen Zeitpunkt) datiert, ohne dass es dafür einen positiven Anhaltspunkt gäbe. Erschwerend
kommt hinzu, dass wie selbstverständlich der dies natalis des Theodosius als Gedenktag ange-
nommen wird, und die Angabe des Konstantinopler Synaxars, das seiner eben am Tag seiner
depositio gedenkt, überhaupt nicht in die Überlegungen einbezogen wird. Für eine Datierung
bietet der Text der Homilie keinerlei Hinweise; einziger Anhaltspunkt ist, dass sie zwischen 398
und 403 gehalten wurde, als Johannes Chrysostomus Bischof von Konstantinopel war.
61 Ὡς καλὴ τῶν εἰρηκότων ἡ ξυνωρὶς, τοῦ μὲν διὰ τῶν βοῶν τὴν κιβωτὸν ἕλκοντος, τοῦ δὲ τὰς
ἀπαρχὰς τῶν λόγων ἀνατιθέντος. Εἰ γὰρ καὶ διάφορος αὐτῶν ἡ ἡλικία, ἀλλὰ μία τῆς γεωργίας
ἡ ἰδέα· μᾶλλον δὲ οὐδὲ ἡ ἡλικία διάφορος· ὅ τε γὰρ νέος τὸ εὐσταθὲς ἔχει τοῦ γεγηρακότος,
ὅ τε γεγηρακὼς τὸ σφριγῶν καὶ ἀκμάζον τοῦ νέου· ὥστε οὐκ ἄν τις ἁμάρτοι ἀμφοτέρους καὶ
πρεσβύτας καὶ νέους προσειπὼν, οὐ κατὰ τὴν ἕξιν τῆς ἡλικίας, ἀλλὰ κατὰ τὴν διάθεσιν τῆς
γνώμης (PG 63, 491,4–12; vgl. Codex Athous Stavronikita 6, f. 79vb9–28).
62 Zur Argumentation des Johannes Chrysostomus gegen die Novatianer vgl. M. Wallraff, Ge-
schichte des Novatianismus seit dem vierten Jahrhundert im Osten, in: ZAC 1 (1997), 251–279 (264).
63 Bis Codex Athous Stavronikita 6, f. 80vb8.

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nicht weil er Kaiser war, sondern weil er fromm war, nicht weil er ein Purpurgewand umge-
worfen hatte, sondern weil er Christus angezogen hatte (Gal 3,27), ein Gewand, das niemals
alt wird, und weil er den Brustpanzer der Gerechtigkeit angezogen hatte (Eph 6,14) und die
Schuhe des Evangeliums des Friedens (Eph 6,15) und das Schwert des Geistes (Eph 6,17)
und den Schild des Glaubens (Eph 6,16) und den Helm des Heils (Eph 6,17).64

Theodosius ist nicht als Kaiser, sondern unter Aufnahme des Verses Gal 3,27, der
mit seiner Bekleidungsmetaphorik schon auf die im Folgenden aus Eph 6,10–20
aufgegriffenen Bilder vorausweist, als frommer Christ zu preisen. Als Kaiser ist
er im Kontext des Römischen Reiches an erster Stelle auch Feldherr. So liegt die
Aufnahme von Eph 6,10–20 und seinen Bildern einer Rüstung des Christen als
Illustration des Christenseins des Theodosius natürlich nahe, wird aber im Fol-
genden sogar noch weiter mit der Biographie des Theodosius verbunden. Denn
Eph 6,10–17 eröffnet eine eschatologische Perspektive auf den (endzeitlichen)
Kampf des Guten gegen das Böse.
Dieser Kampf des Guten gegen das Böse hat sich auch im Leben des Theodo-
sius manifestiert, wie Johannes Chrysostomus fortfährt: Theodosius hat nämlich
mit Hilfe dieser Rüstung zweimal erfolgreich gegen Usurpatoren, ganz topisch als
„Tyrannen“ bezeichnet, gekämpft.65 Johannes Chrysostomus nennt keine Namen
(damnatio memoriae!), sondern umschreibt beide Fälle, sie lassen sich aber leicht
zuordnen. Mit der ersten „mühelosen und unblutigen“ Niederschlagung einer
Usurpation ist das Vorgehen gegen Magnus Maximus im Jahr 388 gemeint, der
kapituliert hatte oder von seinen eigenen Soldaten ausgeliefert worden war, also
nicht in einer Schlacht besiegt werden musste.66 Der zweite Fall wird gegenüber
dem ersten viel ausführlicher dargestellt und nimmt ein weiteres, wenn auch
nicht wörtlich zitiertes Motiv aus Eph 6,10–20 auf, das Gebet (Eph 6,18). Nach

64 καὶ χρέος οὐ τὸ τυχὸν ὀφείλομεν τῷ μακαρίῳ Θεοδοσίῳ, οὐχ ὅτι βασιλεὺς ἦν, ἀλλ’ ὅτι εὐσεβὴς,
οὐχ ὅτι ἁλουργίδα ἦν περιβεβλημένος, ἀλλ’ ὅτι Χριστὸν ἦν ἐνδεδυμένος, ἱμάτιον μηδέποτε
παλαιούμενον, καὶ τὸν θώρακα ἐνεδέδυτο τῆς δικαιοσύνης, καὶ τὰ ὑποδήματα τοῦ εὐαγγελίου
τῆς εἰρήνης, καὶ τὴν μάχαιραν τοῦ πνεύματος, καὶ τὴν ἀσπίδα τῆς πίστεως, καὶ τὴν περικεφαλαίαν
τοῦ σωτηρίου (PG 63, 491,14–21; vgl. Codex Athous Stavronikita 6, f. 79vb33–80ra16).
65 Μετὰ τούτων τῶν ὅπλων τοὺς τυράννους κατέλυσε, τόν τε πρότερον καὶ τὸν ἔσχατον. Τὸν μὲν
γὰρ ἀπονητὶ καὶ ἀναιμωτὶ λαβὼν, τὸ τρόπαιον ἔστησε, μηδὲ μικρὸν ἀποβαλὼν τοῦ στρατοπέδου·
τὸν δὲ συμβολῆς γενομένης μόνος καθεῖλεν (PG 63, 491,21–25; vgl. Codex Athous Stavronikita 6,
f. 80ra17–26).
66 Pacatus, Panegyricus auf Theodosius 43, berichtet von einer Kapitulation, nach Sokrates,
Historia ecclesiastica 5,14,1 und Sozomenos, Historia ecclesiastica 7,14,6 wurde Maximus von sei-
nen eigenen Soldaten ausgeliefert. Auch Orosius, Historiae adversum paganos 7,35,4 spricht von
einer kampflosen Niederschlagung (sine dolo et sine controuersia clausit, cepit, occidit [CUFr, 97
Arnaud-Lindet]). Zosimos, Historia nea 4,46,2 berichtet dagegen von einer gewaltsamen Aktion.

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 Der kommemorierte Kaiser   261

Johannes Chrysostomus wird die zweite Usurpation durch eine Schlacht beendet,
die Theodosius allein (μόνος) entschieden hat. Dabei handelt es sich um die Nie-
derschlagung der Usurpation des Eugenius in der Schlacht am Frigidus im Jahr
394. Johannes Chrysostomus gibt dazu im Folgenden mit dramatischen Akzent-
setzungen kurz die auch sonst überlieferte67 Legende wieder, dass Theodosius
angesichts der bevorstehenden Schlacht im Gebet Gott um dessen Beistand
anflehte, und dass dieses Gebet durch einen wundersamen Wind beantwortet
wurde, der die Geschosse seiner Gegner auf sie selbst zurückschleuderte, infol-
gedessen sie sich ergaben und Eugenius an Theodosius auslieferten.68 Hier liegt
sehr wahrscheinlich auch eine gewollte Parallele zum Verhalten Konstantins vor
der Schlacht an der milvischen Brücke vor, die Theodosius als neuen Konstan-
tin stilisiert. Johannes Chrysostomus hebt daher zusammenfassend auch noch
einmal die entscheidende Rolle des Theodosius und seines Glaubens als alleini-
gem Grund für den Sieg hervor.69
Johannes Chrysostomus geht nun zu einem weiteren Gedanken über, dass
von Theodosius auf Grund seines Glaubens an Christus, der sich eben in den Aus-
einandersetzungen mit den beiden Usurpatoren gezeigt hat, gar nicht als Verstor-

67 Vgl. Rufin, Historia ecclesiastica 11,33 und Sokrates, Historia ecclesiastica 5,25,11–15, die die
Auseinandersetzung als endzeitliche Schlacht gegen das Heidentum stilisieren, ein Deutungs-
horizont, der bei Johannes Chrysostomus durch die Zitate aus Eph 6,10–20 ebenfalls vorhanden
ist. Mit der Schlacht ist eine weitere, von Johannes Chryosostomus hier nicht erwähnte Legen-
de verbunden, dass Theodosius den Mönch Johannes von Lykopolis habe befragen lassen, und
dieser ihm (wie bereits in der Auseinandersetzung mit Magnus Maximus) den Sieg (und seinen
baldigen Tod) vorausgesagt habe, vgl. Rufin, Historia ecclesiastica 11,32; Sozomenos, Historia
ecclesiastica 7,22,4–8; Theodoret, Historia ecclesiastica 5,24,1–2 (anschließend, 5–11, berichtet
Theodoret von einem Traum des Theodosius vor der Schlacht); Augustin, De civitate Dei 5,26
(dort ebenfalls mit eschatologischen Konnotationen). Vgl. dazu, die ältere Literatur zusammen-
fassend, G. Weber, Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike (Hist.E 143), Stutt-
gart 2000, 300–304.
68 Ἐπειδὴ γὰρ ἐξ ἑκατέρου μέρους τὰ στρατόπεδα παρετάττετο, καὶ νέφη βελῶν ἠφίετο, καὶ
τροπὴ τῶν οἰκείων ἐγίνετο, τῶν ἐναντίων ἐπικειμένων σφοδρῶς, ἀποπηδήσας τοῦ ἵππου, καὶ τὴν
ἀσπίδα χαμαὶ θεὶς, καὶ γόνατα κλίνας, ἐκ τῶν οὐρανῶν τὴν συμμαχίαν ἐκάλει, καὶ τὸν τόπον τῆς
παρατάξεως τόπον ἐκκλησίας ἐποίει, οὐ τόξοις καὶ βέλεσιν, οὐδὲ δόρασι πολεμῶν, ἀλλὰ δάκρυσι
καὶ εὐχαῖς· καὶ οὕτως ἀθρόον ἀνέμου προσβολῆς ἐμπεσούσης, τὰ μὲν βέλη τῶν ἐναντίων κατὰ τῶν
ἀφιέντων ἐφέρετο· οἱ δὲ θυμοῦ πνέοντες καὶ φόνων, ὁρῶντες πολέμιοι, ἀθρόον μεταβαλλόμενοι,
τοῦτον βασιλέα ἀνεκήρυττον, καὶ τὸν αὑτῶν παρεδίδοσαν, ὀπίσω τὰς χεῖρας δήσαντες (PG 63,
491,26–37; vgl. Codex Athous Stavronikita 6, f. 80ra27–b20).
69 Καὶ ἐπανῄει λαμπρὸς γινόμενος ὁ μακάριος Θεοδόσιος οὐ τῇ νίκῃ μόνον, ἀλλὰ καὶ τῷ τρόπῳ
τῆς νίκης. Οὐ γὰρ, ὥσπερ ἐπὶ τῶν ἄλλων βασιλέων, μερίζονται πρὸς αὐτὸν τὸ τρόπαιον οἱ
στρατιῶται, ἀλλὰ τὸ πᾶν αὐτοῦ μόνου καὶ τῆς αὐτοῦ πίστεως ἐγίνετο (PG 63, 491,37–42; vgl.
Codex Athous Stavronikita 6, f. 80rb20–30).

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262   Annette von Stockhausen

benem zu sprechen ist, sondern unter Aufnahme des Herrenwortes Joh 11,25 als
Lebendigem, weil er geglaubt und sich durch Gerechtigkeit ausgezeichnet hat.70
Obwohl die Zuhörer der Homilie des Johannes Chrysostomus also am Sarkophag
des Theodosius stehen,71 in dem sein Leichnam am 9. November 395 bestattet
worden war, wird Theodosius ihnen als noch unter den Lebenden befindlich und
damit letztlich noch als wirkmächtiger Akteur vorgestellt, der das Ideal eines
christlichen Kaisers (fromm und gerecht) verkörpert.
Und wenn Theodosius von Johannes Chrysostomus auf diese Weise darge-
stellt wird, so fungiert dieser zugleich als mahnendes Beispiel für den aktuel-
len Kaiser Arkadius, den Sohn und Nachfolger des Theodosius, der u.  U. bei der
Gedenkfeier ja sogar selbst anwesend war, ohne dass dieser selbst direkt ange-
sprochen würde. Eine zusätzliche Aktualität hätte dieser Lobpreis auf Theodo-
sius v.  a. dann, wenn die Homilie nicht (wie üblicher Weise angenommen) gleich
zu Beginn der Amtszeit des Johannes Chrysostomus in Konstantinopel gehalten
worden sein sollte, sondern erst später, als sich der Konflikt mit dem Kaiserhaus
schon angebahnt hatte oder schon im Gange war: Denn dann könnte die Erin-
nerung an den „großen“ Theodosius natürlich auch noch einmal besonders als
Zurechtweisung seines Nachfolgers verstanden werden.

4.2 In Jerusalem

Für die Jerusalemer Kommemoration am 19. Januar haben wir kein Beispiel einer
zu diesem Anlass gehaltenen Homilie wie im Fall der Homilie des Johannes Chry-
sostomus, dafür aber ein Zeugnis für die zu diesem Anlass verwendeten bibli-
schen Texte und Lesungen.

70 Διὰ δὴ τοῦτο αὐτὸν μακαρίζομεν, καὶ οὐδὲ τετελευτηκέναι φαμέν· Πᾶς γὰρ ὁ εἰς ἐμὲ
πιστεύων, φησὶ, κἂν ἀποθάνῃ, ζήσεται, καὶ πᾶς ὁ ζῶν καὶ πιστεύων εἰς ἐμὲ οὐ μὴ ἀποθάνῃ. Ταῦτα
ὁ Χριστὸς εἴρηκε, ταῦτα διὰ τῶν ἔργων διαλάμπει. Τί οὖν, οὐκ ἀπέθανε, φησίν; Οὐδαμῶς οὐ γὰρ
ἂν εἴποιμι τοῦτον θάνατον εἶναι, ἀλλὰ ὕπνον τινὰ καὶ ἀποδημίαν. Ὥσπερ γὰρ πολλοὶ τῶν ζώντων
τεθνήκασιν, ὡς ἐν τάφῳ τῷ σώματι τὴν ψυχὴν κατορύξαντες, οὕτω πολλοὶ τῶν τελευτησάντων
ζῶσι, τῇ δικαιοσύνῃ διαλάμποντες· καθάπερ καὶ ὁ μακάριος οὗτος (PG 63, 491,42–492,2; vgl.
Codex Athous Stavronikita 6, f. 80rb30–80va17). Demgegenüber bedeutet gestorben sein aus
der Sünde geboren sein, vgl. PG 63, 492,2–5 (hier beginnt die Lücke im Text) und Codex Athous
Stavronikita 6, f. 80va17–b8. Dieses Stichwort „Sünde“ leitet dann auch zum Angriff gegen die
Novatianer über, der den Rest der Homilie prägt.
71 Der genaue Schauplatz dieser Gedächtnisfeier ist für uns nicht mehr auszumachen, aber un-
abhängig davon, ob die Feier im auf Konstantin zurückgehenden Mausoleum oder in der ihm
angebauten und 370 geweihten Apostelkirche stattfand, sie wurde jedenfalls im nur in Nuancen
differierenden örtlichen Zusammenhang mit dem Sarkophag des Theodosius vollzogen.

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 Der kommemorierte Kaiser   263

Das Armenische Lektionar führt für diesen Tag die folgenden biblischen Verse
und Texte an:72
1. Als Psalmvers und Stichos werden die Verse Psalm 131,1 und 2 LXX rezitiert
und damit David als beispielhafter biblischer König – betont wird im Vers 1
seine Sanftmut (πραΰτης) – in Erinnerung gerufen. Im Georgischen Lektionar
stehen an dieser Stelle die Verse Ps 67,33–35a und 67,2 LXX, ein Aufruf an die
Königreiche der Welt, Gott die Ehre zu geben, sowie eine Versicherung des
machtvollen Durchgreifen Gottes gegen seine Feinde. Im Georgischen Lektio­
nar wird also ein anderer Akzent als im Armenischen Lektionar gesetzt, aber
auch hier geht es um die irdischen Machthaber und ihr Verhältnis zu Gott.
2. Als Lesung aus dem Apostolos dient 1 Tim 2,1–7, die Aufforderung zum Gebet
und zur Fürbitte (δεήσεις, προσευχάς, ἐντεύξεις, εὐχαριστίας) für alle Men-
schen, aber vor allem für die Kaiser und alle, die mit Macht ausgestattet sind,
da dadurch der nötige Rahmen für ein christliches Leben bereitet wird.
3. Als Halleluja-Vers zwischen den beiden Lesungen aus dem Apostolos und
dem Evangelium wird der Vers Ps 20,2 LXX rezitiert. Dabei handelt es sich
wie bei Psalmvers/Stichos um einen Vers aus einem Davidspsalm, in dem
dessen Frömmigkeit gelobt wird: Κύριε, ἐν τῇ δυνάμει σου εὐφρανθήσεται ὁ
βασιλεὺς καὶ ἐπὶ τῷ σωτηρίῳ σου ἀγαλλιάσεται σφόδρα.
4. Als Evangelienlesung fungiert Lk 7,1–10, die Geschichte des Hauptmanns von
Kapernaum, der sich als Repräsentant des Römischen Reiches wiederum als
besonders fromm erwiesen hat.
Das Georgische Lektionar weist neben der Agende für die Gedächtnisfeier am
19. Januar,73 die auch bei zwei weiteren Kaiserkommemorationen Anwendung
findet,74 auch eine eigene Agende für „Könige“ (მეფეთათჳს)75 auf, die noch
weiter ausgestaltet ist:
Als Psalmvers und Stichos werden sowohl Ps 131,1 und 2 LXX als auch
Ps 67,33–35a und 67,2 LXX rezitiert und zwischen beiden noch ein zusätzliches
Psalmverspaar eingefügt, nämlich Ps 17,50 und 17,47 LXX, der die beiden anderen
Verspaare gewissermaßen thematisch miteinander verbindet.76
Außerdem wird in ihr der Apostolos-Lesung 1 Tim 2,1–7 als weitere Lesung
Röm 12,16c–13,6 vorangestellt, ein Aufruf, Gutes zu tun und Böses nicht mit

72 Renoux, (wie Anm. 10), no. XII.


73 Tarchnischvili (wie Anm. 11), no. 158–160.
74 Valens (no. 259, am 17. 3.) und Justinian (no. 1368, am 16. 11.).
75 Tarchnischvili (wie Anm. 11), no. 1523–1527. Verwendet bei Markian (no. 926, am 19. 4., und
no. 1083, am 9. 7.), Konstantin (no. 986, am 22. 5.) und Justinian (no. 1123, am 3. 8.).
76 Ps 17,50 LXX: διὰ τοῦτο ἐξομολογήσομαί σοι ἐν ἔθνεσιν, κύριε, καὶ τῷ ὀνόματί σου ψαλῶ; und
Ps 17,47 LXX: ζῇ κύριος, καὶ εὐλογητὸς ὁ θεός μου, καὶ ὑψωθήτω ὁ θεὸς τῆς σωτηρίας μου.

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264   Annette von Stockhausen

Bösem zu vergelten sowie sich der Staatsgewalt unterzuordnen. Ebenso wird die
Evangelienlesung um eine weitere Lesung ergänzt: Auf Lk 7,1–10 folgt in ihr die
Lesung Joh 4,43–54 über die Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten, der
sich wiederum als gläubig und fromm erweist.
In der Liturgie für das Gedenken an Theodosius und weitere Kaiser finden
also zum einen in den Psalmgesängen Texte Verwendung, die einen Bezug zu
David, dem biblischen König par excellence, herstellen und so ein Idealbild des
Königtums zeichnen. Zum anderen verpflichten die neutestamentlichen Lesun-
gen einerseits die Gemeinde zur Fürbitte für den Kaiser, zum anderen rücken sie
mit den Evangelientexten den Glauben als herausragenden Faktor im Leben und
in der Herrschaftsausübung des Kaisers in den Mittelpunkt. Es werden also für
die Person bzw. den gefeierten Anlass passende Texte ausgewählt.77

4.3 In Antiochien

Eine dritte, wiederum eine andere Facette erhellende Quelle für das Kaisergeden-
ken liegt in fünf Hymnen des Severus von Antiochien vor, die wohl aus seiner Zeit
als Patriarch von Antiochien (512–518) stammen.78 Der Überlieferungskontext
gibt keinen Hinweis auf die Verortung der jeweiligen Gedenktage im Kalender,79
vier der fünf Hymnen sind vielmehr unter der Unterschrift „Weitere Hymnen auf
die siegreichen und christlichen Könige“80 thematisch zu einem Komplex zusam-
mengestellt: auf Konstantin (200-I-II), auf Honorius (201-I-VI), auf Gratian (202-
I-VI) und auf „Theodosius und die 150 Väter“ (203-I-VI). Als fünfter wird unter
der Nummer 190-I-I (im Kontext weiterer Hymnen v.  a. auf Bischöfe) ein Hymnus
auf Kyrill von Alexandrien und auf Theodosius II. angeführt. Außerdem findet
sich in der Sammlung noch ein Hymnus (262-I-II) gegen den Usurpator81 (und

77 Dies kann ein Vergleich mit den biblischen Texten verdeutlichen, die im Armenischen Lekti­
onar für den 18. März, den Gedenktag für Kyrill von Jerusalem, angeführt werden (Renoux [wie
Anm. 10], no. XV): Psalm 115,6, 2 Tim 4,1–8 und Joh 10,11–16. Diese Texte lassen sich auf das bi-
schöfliche Hirtenamt des Kyrill hin hören.
78 Ediert bei Brooks (wie Anm. 29). Die Hymnen liegen nicht im griechischen Original, sondern
nur in der von Jakob von Edessa revidierten Übersetzung des Paulus von Edessa vor. Ich beziehe
mich im Folgenden auf die revidierte Fassung; die Differenzen sind in der Edition von Brooks
kenntlich gemacht und können dort nachvollzogen werden.
79 Vgl. aber oben Anm. 29.
80 ‫ܡܥܢܝܬܐ ܕܥܠ ̇ܡ ̈ܠܟܐ ̈ܙܒܝܐ ܘܟ�ܝܣܛܝܢܐ܀‬
̈ ‫( ܬܘܒ‬PO 7, 251 Brooks).
81 Im Hymnus wird er ganz entsprechend der üblichen Topik als „Tyrann“ (‫[ ܛܪܘܢܐ‬PO 7, 298
Brooks]) bezeichnet.

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 Der kommemorierte Kaiser   265

Chalkedonenser) Vitalianus und auf den siegreichen Kaiser (und Monophysiten)


Anastasius.
Theodosius wird wie in den oben angeführten westsyrischen Menologien
im Hymnus zusammen mit den 150 Vätern des zweiten ökumenischen Konzils
von Konstantinopel 381 kommemoriert, wobei Theodosius im Titel als derjenige
charakterisiert wird, der die Synode durch seinen Befehl einberufen hat.82 Im
Text des Hymnus wird Theodosius zunächst mit dem alttestamentlichen König
Josia verglichen, der wiederum als derjenige gekennzeichnet wird, der den Göt-
zendienst beendet hat.83 Außerdem gibt es eine zweite Vergleichsebene: Wie mit
Josia nach Hiskia wieder ein frommer König über Juda herrschte, so ist es mit
Theodosius nach Konstantin. Und wie Konstantin Arius aus der Kirche vertrie-
ben hat, so hat Theodosius die Pneumatomachen bekämpft und mit Hilfe der
150 Konzilsväter die Lehre von der Trinität verkündet.84 Theodosius ist also wie
Konstantin der Verteidiger des orthodoxen Glaubens.
Im Hymnus werden anschließend an Theodosius noch zwei weitere Punkte
hervorgehoben: Er hat sich (in der Auseinandersetzung mit Ambrosius von
Mailand nach der gewaltsamen Niederschlagung eines Aufruhrs in Thessaloniki)
dem Kirchenrecht unterworfen und er hat seine Feinde, d.  h. die gegen ihn aufge-
tretenen Usurpatoren, allen voran Eugenius, besiegt.85
Den Hymnus schließt die Bitte um die Aufnahme des Theodosius unter den
Engeln86 und um die Gnade Gottes für die zum Gedächtnis des Theodosius ver-
sammelte Gemeinde ab – in gewissem Maße liegt hier also eine Entsprechung zur
Lesung aus dem 1. Timotheusbrief in der Jerusalemer Liturgie vor.
Dem Hymnus auf Theodosius strukturell vergleichbar sind die anderen
Hymnen. Besondere Ähnlichkeit weist der Hymnus an Konstantin auf: Konstantin
hat in Folge seiner Kreuzesvision (vor der Schlacht an der milvischen Brücke) den
Glauben an Gott und seinen fleischgewordenen Logos angenommen. Er hat die
ökumenische Synode (von Nizäa) versammelt und mit ihr die Häresie des Arius
vertrieben, und nicht nur diese Häresie, sondern in einem Akt der Vorausschau

82 ‫ܕܐܬܟܢܫܘ ܒܦܘܩܕܢܗ‬̇ (PO 7, 255 Brooks).


83 ‫ܐܩܝܡ ܗܘܐ ܠܐܗܐ ܠܝܘܫܝܐ ܕܡܫܬܠܗܒ ܒܛܢ݂ܢܐ ܠܐܗܝܐ܃‬ ݂ (PO 7, 255–256 Brooks).
84 ‫ܕܦܪܣܝ ̇ܡܢ‬̣ ‫�ܠܡܠܟܐ ܪܒܐ ܬܐܘܕܘܣܝܘܣ ̇ܗܘ‬ ̇ ‫ܐܣܪܚ ܘܐܩܝܡ‬ ̣ .‫ܗܟܘܬ ܡܢ ܒܬܪ ܡܗܝܡܢܐ ܩܘܢܣܛܐܢܛܝܢܘܣ ̇ܗܘ ̣ܕܛܪܕ ܗܘܐ ܠܦܩܪܘܬܗ ܕܐܪܝܘܣ܁‬
‫ܟܗܢܐ ̈ܩܕܝܫܐ ܡܐܐ ܘܚܡܫܝܢ‬
̈ ‫ܕܢܓܕܦܘܢ ܥܠ ܪܘܚܐ ܩܕܝܫܐ܁… ܒܝܕ ܡܐ̈ܪܙܢܐ ܒܚܝ̈ܪܐ ܘ̈ܪܝܫܝ‬
̣ ̣ ‫( ܠܪܘܫܥܐ ܕܐܪܐܣܝܣ ̇ܕܗܢܘܢ‬PO 7, 256 Brooks).
̇ ‫ܕܐܡܪܚܘ‬
85 Die hier angeführten Erklärungen legt auch der unbekannte Glossator des Hymnus am Rand
der Handschrift nahe, vgl. Brooks (wie Anm. 29), 256 no. e.
86 Vgl. dazu Palladius, Historia Lausiaca 1,1 (hg. v. G. Bartelink, La storia Lausiaca [Scrittori greci
e latini 2: Vite dei Sancti], Rom 1975, 18,2–3), wo von Theodosius gesagt wird: „[…] Θεοδοσίου τοῦ
μεγάλου βασιλέως, ὃς νῦν ἐν ἀγγέλοις ὑπάρχει διὰ τὴν αὐτοῦ πίστιν εἰς τὸν Χριστόν […].“

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266   Annette von Stockhausen

sogar die Vertreter der Zweinaturenlehre.87 Außerdem wird er als Wiederherstel-


ler der Kirchen gepriesen und überhaupt als Inbegriff des christlichen Königs,
von dem David im Vers Ps 46,10 LXX spricht.
Honorius ist vor allem als frommer, ja asketischer Kaiser charakterisiert,
Gratian als derjenige, der die die Homöer bevorzugende Kirchenpolitik des Kaisers
Valens beendet und die Bischöfe aus dem Exil zurückgerufen hat. Theodosius II.
und Kyrill von Alexandrien schließlich werden als diejenigen gepriesen, die als
König und Priester zusammen mit den ihnen jeweils eigenen Mitteln den Kampf
gegen die Barbaren und gegen die Häresie des Nestorius ausgefochten haben.
Bei allen spielt die durch Psalmenzitate ausgedrückte Nähe zu König David
als Urtyp des frommen Königs ebenso eine Rolle wie die Bitte darum, dass sie im
Reich Gottes Aufnahme finden mögen.

5 Ausblick
Auch wenn wir in den meisten Fällen in den von mir betrachteten Quellen nur
kurze Notizen mit Nennung des Datums, des Namens und manchmal noch des
Gedenkortes vorfinden,88 so erweist sich die liturgische Kommemoration der
römischen Kaiser (vielleicht schon seit Konstantin, sicherlich seit Theodosius I.)
in der östlichen kirchlichen Tradition als ein durchgehend verbreitetes, freilich
auch gewissen Veränderungen und Weiterentwicklungen unterworfenes Phäno-
men.
Anhand der Person Theodosius’ I. habe ich drei punktuelle, unterschiedlich
verortete und auch zeitlich etwas über ein Jahrhundert voneinander entfernte
Einblicke in die Kommemoration des Kaisers präsentiert. Auf drei mit dieser Kom-
memoration verbundene Problemkreise, die sich angesichts des Befundes nicht
abschließend beantworten lassen, möchte ich dabei noch einmal hinweisen:
1. Inwieweit ist die Kommemoration eines verstorbenen Kaisers bzw. im Extrem-
fall des direkten Vorgängers auch immer gleich Ansprache an den aktuellen
Kaiser, dessen Beamte vor Ort und natürlich auch an die Bevölkerung allge-
mein? Das ist sie doch wohl zumindest insofern, als in den Texten der Kom-
memoration das Idealbild eines frommen und gerecht handelnden Kaisers

87 Hier wird deutlich, dass für Severus ganz im Anschluss an die Beschlüsse der dritten ökume-
nischen Synode von Ephesus (can. 7) das Bekenntnis der Synode von Nizäa eben ausreichend ist.
88 Für einige Kaiser und Kaiserinnen (allen voran Konstantin) liegen uns natürlich auch Viten
vor. Außerdem bietet die Schrift De ceremoniis Konstantins VII. Porphyrogennetos (De ceremoniis
2,6) eine ausführliche Darstellung der Liturgie des ihm zeitgenössischen Konstantingedenkens.

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 Der kommemorierte Kaiser   267

gezeichnet wird, eines Kaisers, der in den dogmatischen Auseinandersetzun-


gen der Orthodoxie zum Sieg verhilft und den wegen seiner Hilfe dann eben
auch Gott beim Erhalt und der Ausübung seiner Macht unterstützt.
2. Was bedeutet dieser Befund für das Verhältnis Kirche-Staat? Deutlich wird
auf jeden Fall die enge Verbindung zwischen Kirche und Kaiser, die sogar
über den Tod hinausgeht. Versuchen die kirchlichen Amtsträger durch die
liturgische Kommemoration Einfluss auf die Politik zu nehmen, in dem sie
Paradigmen eines von christlicher Weltsicht wie Ethik geleiteten Herrschens
vorführen? Denn es werden von den Vertretern der Kirche in der Ausge-
staltung der Liturgie Standards gesetzt, wie ein christlicher Kaiser sich zu
verhalten und womit er sich zu beschäftigen hat. Der Kaiser wird dabei als
Werkzeug Gottes verstanden, das den Interessen der Kirche, die freilich mit
dem Willen Gottes identifiziert werden, dient. Aber greift nicht andererseits
der Herrscherkult in den kirchlichen Bereich über, indem der Kaiser nun in
christlichem Kontext sakralisiert wird? Ist also die Kommemoration, wie wir
sie in den vorgestellten Quellen gefunden haben, als christliche Form der
consecratio, der Kaiserapotheose, zu charakterisieren?89
3. In welchem Verhältnis steht schließlich die liturgische Kommemoration des
Kaisers zum Heiligen- und Märtyrerkult einerseits und zur Kommemoration
von Bischöfen und Kirchenlehrern andererseits?90

89 Vgl. G. W. Bowersock, The Imperial Cult: Perceptions and Persistence, in: B. Meyer/E. San-
ders (eds.), Jewish and Christian Self-Definition. Vol. 3: Self-Definition in the Graeco-Roman
World, Philadelphia 1983, 171–182 (181–182) und Johnson (wie Anm. 7), 191 Anm. 100, daneben
auch S. MacCormack, Art and Ceremony in Late Antiquity (The Transformation of the Classical
Heritage 1), Berkeley 1981, Kap. 2 Consecratio, v.  a. 145–150 (die das vor allem anhand der Rede
des Ambrosius, De obitu Theodosii thematisiert), S. Price, From Noble Funerals to Divine Cult.
The Consecration of Roman Emperors, in: D. Cannadine/S. Price (eds.), Rituals of Royalty: Power
and Ceremonial in Traditional Societies, Cambridge 1987, 56–105 und Ernesti (wie Anm. 2), 216–
217. Vgl. auch Rebenich (wie Anm. 8) und P. Barceló, Beobachtungen zur Verehrung des christ­
lichen Kaisers in der Spätantike, in: H. Cancik/K. Hitzl (Hgg.), Die Praxis der Herrscherverehrung
in Rom und seinen Provinzen, Tübingen 2003, 319–339.
90 Vgl. dazu ansatzweise Delehaye (wie Anm. 40), 75 und Dagron (wie Anm. 7), 154. Für die by-
zantinische Zeit vgl. auch A. Spanos/N. Zarras, Representations of Emperors as Saints in Byzan-
tine Textual and Visual Sources, in: M. Borgolte/B. Schneidmüller (Hgg.), Hybride Kulturen im
mittelalterlichen Europa. Vorträge und Workshops einer internationalen Frühlingsschule (Euro-
pa im Mittelalter 16), Berlin 2010, 63–78.

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Thomas Graumann
Kaiserliche Selbstdarstellung und
kirchenpolitisches Handeln
Ein Beitrag zur Frage nach Kirche und Reich unter Theodosius II.

Im Alter von nur sieben Jahren stieg Theodosius II. im Jahre 408 nach dem Tod
seines Vaters Arkadius zum alleinigen Kaiser der Osthälfte des römischen Reiches
auf. Bei seinem Tod durch einen Reitunfall im Jahr 450 hatte er mehr als vierzig
Jahre regiert. Vielfältigen Herausforderungen, mit denen sich Ostrom in der ersten
Hälfte des fünften Jahrhunderts konfrontiert sah – nicht zuletzt im Verhältnis
zum Westen, zum Sassanidenreich und den Hunnen –, geben seiner Regierungs-
zeit ihr besonderes Gepräge. Gleichzeitig ist sie aber auch durch eine kulturelle
und geistige Blüte im Innern – illustriert etwa durch das ambitiöse Projekt der
Rechtskodifizierung des Codex Theodosianus – gekennzeichnet. Besonderes Inte-
resse verdient Theodosiusʼ Herrschaft zumal im Hinblick auf das Verhältnis von
Kaiser und Kirche. In Theodosius’ II. Regierungszeit fallen die Kontroversen um
die Christologie, die den Kaiser zur Einberufung zweier Reichskonzilien nach
Ephesus, in den Jahren 431 und 449, veranlassen. Sie bieten Anlass, auch das
Agieren des Kaisers in diesen Konflikten ins Auge zu fassen. Gleichwohl ist die
grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Kaiser und Kirche unter Theodo-
sius II. kaum je im Zusammenhang untersucht worden und wird in der Forschung
überwiegend indirekt thematisch.1 Traditionell (und kaum überraschend) stehen
vielmehr die Kirchenpolitik eines Konstantin oder eines Justinian immer wieder
im Vordergrund der Forschungen und Diskussionen zum Thema. Aber auch
etliche der Kaiser des vierten Jahrhunderts – nicht zuletzt Theodosius’ Großvater,
Theodosius I. (379–395) – sind Gegenstand ausführlicher Darstellungen gewor-
den, in denen Religionspolitik, Einstellung zu Fragen des Glaubens und Eingrei-
fen in Angelegenheiten der Kirche vielfach eine zentrale Rolle einnehmen.2

1 Einer solchen Darstellung am nächsten kommt ein langes Kapitel „State and Church“ bei
F. Millar, A Greek Roman Empire. Power and Belief under Theodosius II (408–450) (Sather Clas-
sical Lectures 64), Berkeley 2006, 130–167. Zu vergleichen ist ferner S. Wessel, The Ecclesiastical
Policy of Theodosius II, in: AHC 33 (2001), 285–308.
2 A. Lippold, Theodosius der Grosse und seine Zeit (2BSR 209), München 1980; H. Leppin, Theo-
dosius der Große. Auf dem Weg zum christlichen Imperium, Darmstadt 2004. Vgl. auch R. M.
Errington, Roman imperial policy from Julian to Theodosius: Studies in the History of Greece and
Rome, Chapel Hill 2006, 171–259. Für Beispiele des vierten Jahrhunderts siehe etwa P. Barceló,

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   269

Für die Haltung und Rolle Theodosiusʼ II. in den christologischen Kontrover-
sen ist dies nicht in gleicher Weise der Fall. In den zahlreichen theologie- und
kirchengeschichtlichen Darstellungen dieser Periode werden selbstverständlich
immer wieder individuelle Maßnahmen des Kaisers oder seiner Beamten in den
Blick genommen. Besonders in Darstellungen, die den Konflikt primär als macht-
politische und weniger als theologische Auseinandersetzung begreifen, wird
die Politik des Hofes gar als ein zentrales Movens der Ereignisse interpretiert.
Oft geschieht dies aber so, dass Theodosius’ eigene Rolle relativ blass bleibt und
es zu keiner wirklich eigenständigen Würdigung seiner Haltung, Anschauungen
und Aktivitäten kommt.3 Eine wesentliche Rolle dabei mag eine überkommene
Geringschätzung seiner Person und seiner persönlichen Mitwirkung an den Akti-
vitäten und der Politik des Kaiserhofes gespielt haben, die erst jüngst und allmäh-
lich beginnt, einer differenzierteren Einschätzung zu weichen.4 Dem „frommen
Kaiser“5 traute man Willen und Befähigung zum Herrschen nicht zu. Traditio-

Constantius II. und seine Zeit. Die Anfänge des Staatskirchentums, Stuttgart 2004; R. Klein, Con-
stantius II. und die christliche Kirche (IdF 26), Darmstadt 1977; S. Diefenbach, Constan­tius II.
und die „Reichskirche“ – ein Beitrag zum Verhältnis von kaiserlicher Kirchenpolitik und politi-
scher Integration im 4. Jahrhundert in: Millennium 9 (2012), 59–122; N. Lenski, Failure of Empire.
Valens and the Roman state in the fourth century A. D., Berkeley 2002, 233–242. Die Rolle der
Kaiser in den kirchlichen und theologischen Konflikten des vierten und fünften Jahrhunderts –
und die Bedeutung dieser Konflikte für das Reich – spielt in praktisch allen kirchen- und profan-
geschichtlichen Darstellungen der Zeit eine gewichtige Rolle. Im Dickicht von Gesetzen, Pane-
gyrik und christlicher und nicht-christlicher Historiographie der Zeit ist das Thema in zahllosen
Einzelstudien nuanciert.
3 Durchaus differenziert ist das Theodosius-Bild in A. Lippold, Theodosius II, in: RE Suppl. 13
(1973), 961–1044. Aus althistorischer Perspektive bleibt aber zumeist das Wirken der hohen Wür-
denträger im Militär, in der Verwaltung und am Hof für die Regierung Theodosius’ II. maßge-
bend; er selbst dagegen „als handelnder Politiker eine weitgehend unbekannte Größe – andere
haben in seinem Namen die Geschicke dieser Jahrzehnte bestimmt“ (H. Brandt, Das Ende der
Antike. Geschichte des spätrömischen Reiches, München 42010, 94). Hier soll keinesfalls der An-
schein erweckt werden, als handele Theodosius in Kirchenfragen geradezu autokratisch nach
eigenem Gutdünken. „Seine“ Äußerungen sind zumal in ihrer rhetorischen Außendarstellung
der Reichspolitik stets das Ergebnis von Abwägungen verschiedener Interessen am Hof.
4 Vgl. jüngst insbesondere die Beiträge in C. Kelly (ed.), Theodosius II. Rethinking the Roman
Empire in Late Antiquity (Cambridge Classical Studies), Cambridge 2013, sowie Millar (wie
Anm. 1); M. Meier, Die Demut des Kaisers. Aspekte der religiösen Selbstinszenierung bei Theodo-
sius II. (408–450 n. Chr.), in: A. Pečar/K. Trampedach (Hgg.), Die Bibel als politisches Argument.
Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne (HZ.BH
43), München 2007, 135–158.
5 Zur Bedeutung der Frömmigkeit für die Selbstdarstellung der theodosianischen Herrschaft
vgl. Meier (wie Anm. 4); vgl. J. Harris, „Pius princeps“. Theodosius II and fifth-century Constan-
tinople, in: P. Magdalino (ed.), New Constantines. The Rhythm of Imperial Renewal in Byzanti-

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270   Thomas Graumann

nell wurden darum die Maßnahmen der theodosianischen Regierungszeit vor-


rangig auf den Einfluss verschiedener Kräfte hinter dem Thron zurückgeführt.
Dabei werden insbesondere die Frauen des Kaiserhauses – zumal Theodosius’
ältere Schwester Pulcheria – einerseits6 und mächtige Funktionäre und Eunu-
chen am Hof – etwa der spatharius Chrysaphius – andererseits7 als die wahren
Gestalter kaiserlicher Kirchenpolitik ausgemacht. Theodosius selbst ist in dieser
Perspektive dann kaum mehr als eine Gallionsfigur. Das mag für den Siebenjäh-
rigen, der den Thron seines Vaters bestieg, gegolten haben, darf aber sicher für
den zur Zeit des ersten ephesinischen Konzils dreißigjährigen Theodosius nicht
einfach unterstellt werden. Sicher zeigen die Dokumente der Konzilien sehr deut-
lich immer wieder das komplexe Ausbalancieren unterschiedlicher Interessen
und Gruppen.8 Dieses Geflecht schließt aber des Kaisers eigene Anschauung und
sein eigenes Wollen gerade nicht aus, sondern ausdrücklich ein. Ohne und gegen
Theodosius sind die nachfolgend zu analysierenden Verlautbarungen und Maß-
nahmen nicht vorstellbar. Umgekehrt wäre es aber wohl ebenso verfehlt, das Bild
des schwächelnden, von anderen manipulierten Kaisers durch das eines Auto-
kraten zu ersetzen, der nur der eigenen Willkür folgt. Notwendig ist vielmehr
eine differenziertere Bewertung der Kaiser- und Hofpolitik im Verbund mit und
im Gegenüber zur Kirche. Nicht erst unter Theodosius II. ist kaiserliche (Religi-
ons-) Politik nicht die Frucht einsamen Entscheidens, sondern die Bündelung
von Beratungen im consistorium. Rechnet man mindestens mit der Möglichkeit
einer relativ eigenständigen kaiserlichen Position und seinem persönlichen

um, 4th–13th Centuries, Aldershot 1994, 35–44. Beide mahnen eine differenziertere Bewertung
des Theodosius an; vgl. insbesondere die kritische Beleuchtung überkommener Urteile bei Meier
(wie Anm. 4), 135–143. Das Theodosius-Bild der christlichen Kirchenhistoriker seiner Zeit, auf
dem die Betonung seiner Frömmigkeit aufruht, zeichnet H. Leppin, Von Constantin dem Großen
zu Theodosius II. Das christliche Kaisertum bei den Kirchenhistorikern Socrates, Sozomenus
und Theodoret (Hyp. 110), Göttingen 1996, 132–145.
6 Vgl. K. G. Holum, Theodosian Empresses. Women and Imperial Dominion in Late Antiquity
(The Transformation of the Classical Heritage 3), Berkeley 1982; K. Cooper, Empress and Theoto-
kos. Gender and Patronage in the Christological Controversy, in: R. N. Swanson (ed.), The Church
and Mary (Studies in Church History 39), Woodbridge 2004, 39–51.
7 Vgl. O. Seek, Chrysaphius, in: RE 3 (1899), 2485–2486; id., Chrysaphius qui et Ztumas, PLRE 2,
295–297; sowie besonders kraftvoll P. Goubert, La rôle de Sainte Pulchérie et de l’eunuque Chrys-
aphius, in: A. Grillmeier/H. Bacht (Hgg.): Das Konzil von Chalkedon. Geschichte und Gegenwart,
Bd. 1, Würzburg 1951, 303–321.
8 Das im einzelnen komplexe Netz zahlreicher Beteiligter, der vielgestaltigen und zuweilen
undurchsichtigen Stränge von Verantwortungen und Entscheidungsbefugnissen sowie der Ein-
flussversuche und -möglichkeiten am Hof beschreibt – außerhalb kirchenpolitischer Kontexte –
Millar (wie Anm. 1), 192–234.

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   271

politischen wie religiösen Wollen als einem der Faktoren bei der Meinungsbil-
dung am Hof und in der Gestaltung des Regierungshandelns, so stellt sich die
Frage nach einer etwaigen inneren Kohärenz oder Entwicklung der Standpunkte
und politischen Aktivitäten, nach ihrer Antriebskraft und einem ihr womöglich
zugrundeliegenden kaiserlichen Selbstverständnis im Gegenüber zur Kirche in
ganz anderer Dringlichkeit, als in einem Modell, das für beobachtete Verände-
rungen in der Religionspolitik stets einen Wechsel der Einflüsse auf Theodosius
in Anschlag bringen kann und spekulativ denjenigen bestimmenden Faktor bzw.
diejenige Persönlichkeit identifizieren will, die sich dabei jeweils durchsetzen.
Eine umfassende Analyse und Bewertung theodosianischer Religionspoli-
tik in der damit angedeuteten Perspektive kann in diesem Beitrag nicht geleistet
werden. Als einen ersten Schritt in Richtung einer solchen Betrachtung sollen
vielmehr bestimmte Dokumente interpretiert werden, die aus der kaiserlichen
Kanzlei hervorgehen. In diesen Verlautbarungen des Kaisers macht sich primär
die Außendarstellung der kaiserlichen Herrschaft geltend und wird seine „offi-
zielle“ oder „halboffizielle“ Amts-persona anschaulich, in deren Positionierung
und Äußerungen schon die Abwägung unterschiedlicher Interessen am Hof ein-
gegangen sind. Anstelle des Versuchs, entweder die Einflüsterungen höfischer
Funktionsträger oder einen autokratischen Herrscherwillen zu ermitteln, tritt
so vorranging das Bemühen, das am Hof komplex austarierte und von dort aus
kommunizierte Selbstbild des theodosianischen Herrschaftssystems in seiner
Haltung zu Kirche und Glauben zu beschreiben.

1 Die Rhetorik der kaiserlichen Selbst-


darstellung
An den Dokumenten und Briefen, die aus der kaiserlichen Kanzlei an die verschie-
denen Beteiligten der christologischen Kontroversen geschickt werden, kann
eine in sich stimmige und über den gesamten Zeitraum der Kontroversen im Kern
unveränderte rhetorische Selbstdarstellung des Kaisertums und seiner Rolle im
Verhältnis zur Kirche – und zu Gott – abgelesen werden. Untergeordnete Beamte
wiederholen sie in ihren Direktiven mit der gleichen Regelmäßigkeit9, und an den
Kaiser gerichtete Eingaben reflektieren sie zurück an ihn und ins Zentrum der

9 Vgl. die Instruktionen dreier Praefekten zur Publikation des Kaisergesetzes über die Exilierung
des Nestorius und die Diskussion in Millar (wie Anm. 1), 177–178.

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272   Thomas Graumann

Herrschaftsausübung in seinem Umkreis.10 Sie formulieren die gleichen Grund-


sätze und das gleiche Verständnis der tragenden Prinzipien des religiösen und
öffentlichen Lebens im Reich – und seiner autoritativen Einhegung durch den
Kaiser – als selbstverständliche Erwartung an dessen Handeln und Entschei-
den und fordern sie ein in der Behandlung zugunsten der je eigenen Anliegen.
Allenthalben unstrittig zur Voraussetzung genommen ist die kaiserliche Sorge für
den rechten Glauben als der Grundlage für das Wohlergehen des Reiches. Aus
ihr ergibt sich auch das Recht, oder vielmehr die Pflicht, seines ordnenden und
gestaltenden Mitwirkens innerhalb der Reichskirche und im Verbund mit ihren
Entscheidungsträgern. Sie ist nicht nur ein fundamentaler Bestandteil, sondern
mehr noch die eigentliche Grundlegung seines ihm von Gott übertragenen Amtes
und steht im Zentrum der Aufgaben seiner Herrschaft. Seit Konstantin ist diese
christliche Einfärbung bekannter topoi einer konventionellen Herrscherideologie
zum festen Traditionsbestand geworden.11

10 Dass Cyrill in der Oratio ad Theodosium de recta fide (CPG 5218) den Kaiser auf seine göttliche
Berufung und deren Zusammenhang mit dem korrekten Ausdruck von Orthodoxie anspricht –
dem Zusammenhang von göttlichem Beistand, rechter Religionsausübung und erfolgreicher
Herrschaft ist ein ganzes Kapitel exegetischer Beobachtungen zu alttestamentlichen Herrschern
gewidmet –, mag man für Taktik halten, ist aber kaum vorstellbar ohne ein im Grundsatz ak-
zeptiertes Verständnis des Kaisertums; Cyrill, Oratio ad Theodosium de recta fide, Concilium
Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 7,1 (ACO 1,1,1, 42,13–43,9 Schwartz). Beispiele für den
regelmäßigen Appell von Bischöfen beider Seiten während der Konzilsperiode im Sommer 431,
dass mit der Einheit der Kirche auch der Zusammenhalt des Reiches auf dem Spiel stehe, bietet
Wessel (wie Anm. 1), 293–301.
Instruktiv in dieser Hinsicht ist nicht zuletzt auch die Korrespondenz der römischen Bischöfe mit
dem Kaiser. Beispielsweise erinnert Caelestin im Vorfeld des ephesinischen Konzils: „Die Sache
des Glaubens muss Euch wichtiger sein als die des Reiches und Eure Milde muss besorgter sein
um den Frieden der Kirchen als um die Sicherheit aller Länder“ (maior uobis fidei causa debet
esse quam regni ampliusque pro pace ecclesiarum clementia uestra debet esse sollicita quam pro
omnium securitate terrarum [Concilium Universale Ephesenum, Collectio Veronensis 8,2 (ACO 1,2,
25,28–29 Schwartz; übers. FC 58/3, 807 Sieben)]). Konventionell für die Verhältnisbestimmung
von „Kirche und Staat“ ausgewertet sind die Bemerkungen bei P. Hadot, Fürstenspiegel, in: RAC 8
(1972), 555–632 (618). Vgl. F. Cavallera, La doctrine sur le prince chrétien dans les lettres pontifi-
cales du Vme siècle, in: BLE 38 (1937), 67–78.119–135.167–179. Wichtig für unsere Fragestellung ist
insbesondere das Resonanzverhältnis zwischen der kaiserlichen Eigendarstellung und solchen
kirchlichen Stimmen.
11 Aus der uferlosen – und zumal im Kontext der Konstantinjubiläen jüngst weiter angewach-
sene – Literatur zur „Konstantinischen Wende“, zumal für das sich (nicht nur) in derartigen
Ausführungen ausdrückende Verständnis von Kaiseramt und Kirche, siehe exemplarisch die
Beiträge in E. Mühlenberg (Hg.), Die konstantinische Wende (Veröffentlichungen der Wissen-
schaftlichen Gesellschaft für Theologie 13), Gütersloh 1998, und G. Dagron, Emperor and Priest:
The Imperial Office in Byzantium, trans. J. Birrell, Cambridge 2003 (Empereur et prêtre: étude

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   273

Beispielhaft drückt sich dieses Bild kaiserlichen Handelns in derjenigen


Sacra aus, die Theodosius am 19. November 430 zur Einberufung eines allgemei-
nen Konzils in Ephesus zu Pfingsten im folgenden Jahr (7. Juni 431) erließ. Der
Brief beginnt mit einer Präambel, die Theodosius’ Selbstbewusstsein als eines
göttlich ernannten Herrschers unmissverständlich formuliert, dessen Aufgabe
die Vermittlung zwischen der Vorsehung und den menschlichen Angelegenhei-
ten ist. In dieser Rolle gilt die Sorge des Kaisers einer Kirche, die „Gott wohlge-
fällig“ (θεῶι πρέπουσαν) und von „Vorteil für unsere Zeit“ (τοῖς ἡμετέροις καιροῖς
πρόσφορον) ist; seine Ziele sind Ruhe, Einstimmigkeit, Eintracht und Frieden.12
Beinahe zwanzig Jahre später, bei der Einberufung des zweiten Konzil nach
Ephesus (449), sind die gleichen Grundsätze wiederum zu lesen13, und auch in
der Zwischenzeit lassen kaiserliche Verlautbarungen den Motivkranz göttlicher
Beauftragung mit der Sorge für das Wohlergehen von Kirche und Reich, und damit
auch der Verantwortung für die Orthodoxie, häufig anklingen. Auch außerhalb
konziliarer Kontexte begegnet sie regelmäßig; das wohl bekannteste Beispiel ist
die Einleitung von Novella 3 (Januar 438), worin die Sorge für die wahre Religion
als vornehmliche kaiserliche Aufgabe vorgestellt ist.14
Entscheidend ist, welche konkreten Folgerungen für das in der Situation
Geforderte aus diesen Prinzipien gezogen werden, d.  h. wie die kaiserliche Beauf-
tragung und Verantwortung in der Religionspolitik jeweils strategisch realisiert
und politisch aktualisiert wird. Bevor dies an einzelnen Beispielen exemplarisch

sur le ‚césaropapisme‘ byzantine, Paris 1996), 127–157. Für antike Stimmen vgl. auch Leppin (wie
Anm. 2), 194–202 zur „Frage einer religiösen Sonderstellung von Kaisern“ bei den antiken Kir-
chenhistorikern, und zum Zusammenhang zwischen kaiserlichem Handeln und göttlichem Wir-
ken, ebd. 206–224.
12 Theodosius II., Sacra ad Cyrillum Alexandrinum et ad singulos metropolitas, Concilium Univer­
sale Ephesenum, Collectio Vaticana 25,1 (ACO 1,1,1, 114,28–115,13 Schwartz). Die sacrae zur Orga-
nisation des Konzils von 431 sind unter anderer Rücksicht ausgewertet bei T. Graumann, Theodo-
sius II and the politics of the first Council of Ephesus, in: C. Kelly (ed.), Theodosius II. Rethinking
the Roman Empire in Late Antiquity (Cambridge Classical Studies), Cambridge 2013, 109–129.
13 Die dem Konzil vom Kaiser gestellte Aufgabe, die Orthodoxie zu bewahren, wird regelmäßig
und ganz selbstverständlich mit der Mahnung verbunden, dass vom rechten Glauben – und dem
im rechten Glauben geführten Gebet – Herrschaft und Wohl des Kaisers und Reiches abhängen
(vgl. Concilium Universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 52).
14 Impp. Theodosius et Valentinianus aa. Florentio praefecto praetorio. Inter ceteras sollicitudi­
nes, quas amor publicus pervigili cogitatione nobis indixit, praecipuam imperatoriae maiestatis
curam esse perspicimus verae religionis indaginem; cuius si cultum tenere potuerimus, iter prospe­
ritatis humanis aperimus inceptis. Quod usu longae aetatis experti piae mentis arbitrio ad poste­
ros usque perennitatis iure fundare decrevimus […] (T. Mommsen/P. M. Meyer [Hgg.], Theodosiani
libri XVI cum constitutionibus Sirmondianis et leges novellae ad Theodosianum pertinentes 2:
Leges novellae ad Theodosianum pertinentes, Berlin ³1962, 7,1–6).

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274   Thomas Graumann

untersucht werden soll, muss aber festgehalten werden, dass in den rhetorischen
Präambeln der kaiserlichen Verlautbarungen eine Selbstbeschreibung des kai-
serlichen Amts- und Rollenverständnisses zum Ausdruck gebracht wird, das den
gesellschaftlichen Konsens in Reich und Kirche widerspiegelt.15 Ihre stereotype
rhetorische Wiederholung entwertet sie nicht, sondern umschreibt im Gegenteil
denjenigen ideologischen und gesellschaftspolitischen Rahmen, in dem sich
alle an den Konflikten Beteiligte bewegen. Dass der Appell an die ideologischen
Grundlagen des Reiches von allen Seiten für eigene Zwecke instrumentalisier-
bar ist, steht außer Frage. Immer wieder erinnernd und mahnend aufgerufen
sollte die Rhetorik kaiserlicher Sorge für den Glauben dennoch nicht als zynische
Bemäntelung andersartiger „wahrer“ Motive abgetan werden. Die stete Wieder-
holung der immer gleichen Prinzipien appelliert vielmehr an das Gemeinsame im
Konflikt, umreißt das dem Gegenüber darin Zumutbare und formt so einerseits
die Haltung der kaiserlichen Administration – und sei es auf dem Wege gleichsam
autosuggestiver Einfurchung des Denkens – nicht minder als sie andererseits die
Erwartungen ihrer Adressaten lenkt. Die jeweiligen Akzentuierungen innerhalb
der Bandbreite herrschaftsideologisch-theologischer Prinzipien und ihre Umset-
zung in kirchenpolitisches Handeln in den Konflikten zwischen den beiden ephe-
sinischen Konzilien soll im Hinblick auf einige kaiserliche Dokumente dieser Zeit
näher untersucht werden.

2 Die theodosianischen Sacrae im Vorfeld des


ersten Konzils von Ephesus
Am Schluss der skizzierten Präambel der theodosianischen Sacra zur Einberu-
fung des Konzils von 431, von der wir unseren Ausgangspunkt nahmen, finden
wir einen ersten Hinweis darauf, welche Schlussfolgerungen die kaiserliche
Glaubensverantwortung konkret für den gegenwärtigen Konflikt verlangt. Dieser
Passus deutet erstmals diejenige Perspektive an, die vom Kaiser an die Bewertung
der anstehenden Probleme angelegt wird und die seine Konzilspläne bestimmt.

15 Zur Illustration sei nur auf den Kirchenhistoriker Sokrates, einen Zeitgenossen des Theo-
dosius, verwiesen, dessen Geschichtsschreibung auf der Wahrnehmung eines fundamentalen
Zusammenklangs von kirchlichen und staatlichen Belangen aufruht, in der sich die Lenkung
durch die göttliche Vorsehung realisiert. Siehe M. Wallraff, Der Kirchenhistoriker Sokrates. Un-
tersuchungen zu Geschichtsdarstellung, Methode und Person (FKDG 68), Göttingen 1997, 257–
289.295–296.

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   275

Als notwendige Bedingungen für den angestrebten heilvollen Zustand in Kirche


und Reich stellt der Abschnitt heraus, dass „die im Klerus und der großen Pries-
terschaft [das heißt die Inhaber des Bischofsamts] frei von aller Kritik in ihrer
Lebensweise“ sein müssen.16 Lebensweise und öffentliches Ansehen, nicht
Dogma stehen so im Mittelpunkt – auf die jüngste dogmatische Kontroverse
wird nur in verschleiernden Anspielungen hingedeutet. Das Verhalten und der
Charakter der einzelnen Geistlichen und Bischöfe bilden damit ein mindestens
ebenso wichtiges Anliegen wie das theologische Denken und werden immer
wieder in den kaiserlichen Briefen im Vorfeld des Konzils auftauchen.
In der Tat umreißt die Sacra die Aufgabe des Konzils in Bezug auf die zu klä-
renden Gegenstände thematisch eher vage. Die Rede ist nur von „einer geplanten
Untersuchung solcher profitablen Sachen“17 (ohne jedoch den Gegenstand der
Untersuchung zu definieren), und später äußert der Kaiser die Erwartung, dass
jede Entscheidung (τύπος) durch eine gemeinsame Abstimmung erzielt werde.18
Diese nur vage Umschreibung der Aufgabenstellung des Konzils steht in
merklichem Kontrast zu den in dem entsprechenden Einberufungsschreiben für
das zweite Konzil von Ephesus im Jahr 449 formulierten, auf die zurückzukom-
men sein wird. Auch dort stützt sich die Sacra auf einen ähnlichen Anspruch des
Kaisers, von Gott berufen zu sein. Aber dort wird diese kaiserliche Auszeichnung
und Rolle zum Ausgangspunkt für eine sehr viel spezifischere Hinwendung zum
jüngsten Streit über die Orthodoxie und für präzise, scharf formulierte Anwei-
sungen, in welcher Weise sich der Kaiser eine Lösung vorstellt. Den Kontrast wird
man ernst nehmen müssen: Die Schärfe der Anweisung von 449 lässt die Zurück-
haltung von 431 als gewollt erscheinen und nicht als bloßen Effekt wolkiger kai-
serlicher Kanzleirhetorik.
Was aus der Sacra vom 19. November 430 insgesamt hervorgeht und deut-
lich angesprochen ist, ist das Bemühen, durch die Einberufung des Konzils die
weitere Verschlechterung einer schon problematischen Situation zu verhin-
dern – sie bleibt in der Sache bewusst unausgeführt. So verhängt die Sacra ein
Moratorium für alle Entscheidungen, bevor das Konzil tagt. Es ist ein weiteres
klares Indiz dafür, dass Theodosius und seine Berater ein starkes Interesse an der
Verhinderung einer weiteren Eskalation hatten. Die Einberufung eines Konzils

16 Theodosius II., Sacra, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 25,1 (ACO 1,1,1,
115,13–14 S.): τοὺς εἰς τὸν κλῆρον τήν τε μεγάλην ἱερωσύνην τελοῦντας πάσης τῆς κατὰ τὸν βίον
μέμψεως ἀπηλλάχθαι.
17 Theodosius II., Sacra, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 25,2 (115,19–20 S.):
τῆς προκειμένης τῶν οὕτω χρησίμων ἐξετάσεως.
18 Theodosius II., Sacra, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 25,3 (115,31–32 S.):
τοῦ μέλλοντος παρ’ αὐτῆς [sc. τῆς συνόδου] κοινῆι ψήφωι ἐφ’ ἅπασι δίδοσθαι τύπου.

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276   Thomas Graumann

war der Versuch, einen Prozess der Konfrontation, der außer Kontrolle geraten
schien, anzuhalten, indem die Streitparteien an einem Ort und zu gemeinsamer
Verhandlung zusammengebracht werden. Die Sacra warnt denn auch eindring-
lich, dass es nicht toleriert werde, der Einladung nicht Folge zu leisten. Welch
hoher Wert auf persönliche Anwesenheit gelegt wird, könnte als Ausdruck einer
zuversichtlichen Erwartung gelesen werden, dass eine gemeinsame Sitzung aller
relevanten kirchlichen Würdenträger es ermöglichen müsste, den Konflikt zu
lösen oder zumindest zu entschärfen – ein Konflikt, der bis dato im Entscheiden-
den aus der Distanz, durch literarische Propaganda und briefliche Polemik aus-
getragen worden war. Wenn dann schließlich Cyrill am 22. Juni 431 vor Ankunft
aller Bischöfe eine Teilversammlung durchsetzt, protestiert darum der kaiserliche
Beauftragte Candidianus mit dem wiederholten Hinweis auf diese kaiserlichen
Instruktionen und die Notwendigkeit zu gemeinsamer Beratung aller, wohinge-
gen Teilversammlungen geeignet seien, Häresien und Schismen hervorzurufen.19
Sein Protest ist so das getreue Abbild der kaiserlichen Aufforderung zu gemein-
samer Beratung.
Im Hinblick auf mehr praktische Aspekte der Konzilsorganisation erlaubt
die kaiserliche Sacra den Metropoliten, die Teilnehmer zu nominieren. Ziel muss
es dabei sein, sowohl eine angemessene Vertretung im Konzil als auch eine rei-
bungslose Administration der Kirchen in den Provinzen durch die zurückblei-
benden Bischöfe zu gewährleisten.20 Das Fehlen ausdrücklicher Anweisung zur
Zahl und Zusammensetzung der Teilnehmer gewinnt abermals schärfere Kontur,
wenn man sie mit der strengen und spezifischen Bedingung für das spätere,
zweite Konzil von Ephesus 449 vergleicht; dort wird die Teilnahme von Gruppen
und Einzelnen konkret geregelt.21
Noch nicht geregelt sind im Einberufungsschreiben weitere Einzelheiten der
vorgeschlagenen Tagesordnung und der inneren Abläufe des Konzils von 431;
dies blieb einer zweiten Sacra vorbehalten, die bei der förmlichen Konzilseröff-
nung verlesen werden sollte.22 Das kaiserliche Einberufungsschreiben bringt
einstweilen lediglich die Erwartung zum Ausdruck, dass anstehende Probleme
gemeinschaftlich und in „Übereinstimmung mit den kirchlichen Kanones“ (κατὰ
τοὺς ἐκκλησιαστικοὺς κανόνας) gelöst werden sollen – eine Anforderung, die
kaum eine präzise Handlungsanweisung beinhaltet, sondern ganz im Sinne der

19 Concilium Universale Ephesenum, Collectio Casinensis 84 (ACO 1,4, 31,31–32,42 Schwartz).


20 Theodosius II., Sacra, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 25,2 (ACO 1,1,1,
115,21–26 S.).
21 Siehe unten 290.
22 Siehe unten 278–282.

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   277

mehrfach betonten grundsätzlichen Erwartung guter Ordnung bei ihren Reprä-


sentanten auf das für die Kirche insgesamt Maßstäbliche hinweist.23
Auf vieles, was im Einberufungsschreiben absichtlich allgemein und vage
bleibt, wirft ein gleichzeitig an Cyrill gesandter persönlicher Brief ein Schlag-
licht.24 Der Kontrast im Ton dieses Dokuments mit der förmlichen Einberufungs-
Sacra ist bemerkenswert. Während jene Sacra den Stil und Charakter der büro-
kratischen und formelhaften Regierungskommunikation zeigt, drückt der Brief
an Cyrill merklich direkter die Gefühle des Kaisers dem Adressaten gegenüber
aus. Die z.  T. brüske Kritik am alexandrinischen Bischof fokussiert sich auf
dessen Verhaltensweise und Attitüden im Streit und zeigt sich darin den entspre-
chenden allgemeinen Hinweisen der Einladung durchaus komplementär. Der
Brief befasst sich wiederum nicht inhaltlich mit den Feinheiten der theologischen
Kontroverse, sondern hält Cyrill das zu fordernde Verhalten eines Bischofs entge-
gen. Dem verwerflichen Verhalten einiger Geistlichen kontrastiert das Ideal eines
Priesters, der genaue Orthodoxie (τῆς περὶ τὴν πίστιν ἀκριβείας) – um die geht es
also durchaus – mit Einfachheit bzw. Schlichtheit des Verhaltens (ἁπλότητα τοῦ
βίου) verbindet.25 Hier kommt die traditionelle Verbindung von intellektueller
Disposition und Lehrhaltung mit einem klaren Sinn für das angemessene sozio-
moralische Verhalten zum Ausdruck, die seit alters die Einschätzungen von Cha-
rakter und Persönlichkeit bestimmt. In einer Reihe von Gegensatzpaaren betont
Theodosius die richtige innere Disposition für den Umgang mit den anstehen-
den Fragen, zumal mit solchen des Glaubens und der kirchlichen Ordnung. Der
Geist freier Untersuchung (ζήτησις) ist erforderlich, nicht Sturheit (αὐθάδεια);
eine herrschsüchtige Haltung (δυναστεύειν; κέλευσις) sichert die Religion nicht,
sondern einvernehmliche Zustimmung (συναίνεσις) gilt es zu erzielen.26 Der

23 Theodosius II., Sacra, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 25,3 (ACO 1,1,1,
115,28–29 S.). Daraus eine feststehende prozedurale Ordnung abzuleiten, von der speziell Cyrills
Maßnahmen weitgehend gedeckt wären (so J. A. McGuckin, St. Cyrill of Alexandria: The Chris-
tological Controversy. Its History, Theology and Texts [SVigChr 23], Leiden 1994, 70–74), scheint
mir verfehlt. S. vielmehr zu einem solchen gleichzeitig weiteren und tieferen Gebrauch des Ka-
nonbegriffs im hier vorgeschlagenen Sinne H. Ohme, Kanon ekklesiastikos. Die Bedeutung des
altkirchlichen Kanonbegriffs (AKG 67), Berlin 1998, 577–579. Das Aufkommen von Kanonsamm-
lungen als zitierbare Rechtstexte am Ende des vierten Jahrhunderts begründet und beinhaltet
keine prozeduralen Vorgaben.
24 Sacra ad Cyrillum, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 8 (ACO 1,1,1, 73–74
Schwartz).
25 Sacra ad Cyrillum, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 8,1 (ACO 1,1,1, 73,6–7 S.).
26 Sacra ad Cyrillum, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 8,1–2 (73,5–12 S.):
τοὺς δὲ ἱερέας χρὴ καὶ ἀπὸ τῆς τῶν ἠθῶν χρηστότητος καὶ ἀπὸ τῆς περὶ τὴν πίστιν ἀκριβείας
θαυμάζεσθαι καὶ τὴν ἁπλότητα τοῦ βίου διὰ παντὸς ἐπιδεικνύναι γινώσκειν τε ὡς τὴν ἑκάστου

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278   Thomas Graumann

Kaiser kritisiert die Politik Cyrills als im Ansatz verfehlt und warnt vor ähnlichen
Aktivitäten im Konzil. Aus seiner Sicht gehen Cyrills Handlungen von einem
frechen Impuls aus; sie zeigen Unverschämtheit (θράσoς) und betrügerische Täu-
schung (ποικιλία), wo Präzision (ἀκρίβεια), harmonische Gnade (ἐμμελεία) und
Geradlinigkeit (ἁπλότης) vorherrschen müssten.27 Immer wieder kritisiert Theo-
dosius scharf Cyrills Einstellung und Vorgehensweise und warnt vor ihren mög-
licherweise katastrophalen Auswirkungen auf Kirche und Staat. Diese Kritik darf
durchaus als negativer Spiegel für die Erwartungen des Kaisers an den idealen
Modus für die Lösung von Konflikten in der kommenden Konzilsversammlung
verstanden werden.
Trotz seines Zorns stellt der Kaiser dem Bischof dann aber Vergebung in Aus-
sicht, um ihm nicht die Möglichkeit zu geben, sich als für die Orthodoxie verfolg-
ter Märtyrer zu stilisieren. Die kaiserliche Vergeltung wird so suspendiert, und
dem Konzil wird die Entscheidung überlassen, ob „die unterlegene Partei Verge-
bung erhalten soll […] oder nicht“.28 Nach dem ganzen Tenor des Briefes ist hier
kaum verhohlen vom Schicksal des Cyrill die Rede, nicht dem des Nestorius.

3 Anweisungen zur Konzilsdurchführung


Die konkreten an den kaiserlichen Gesandten Candidianus gerichteten Anwei-
sungen zur Durchführung des Konzils finden sich in derjenigen kaiserlichen
Sacra, die Candidianus zur Eröffnung des Konzils verlesen sollte. Wegen der strit-
tigen Umstände der Konzilseröffnung wird sie zunächst vor der Cyrill-Versamm-
lung am 22. Juni 431 verlesen und dann erneut bei der Versammlung der Orien-
talen am 26. des Monats.29 Die Anweisungen zur Gestaltung des Konzilsablaufs

πράγματος φύσιν καὶ τοὺς περὶ τὴν εὐσέβειαν μάλιστα λόγους μᾶλλον ἂν εὕροι ζήτησις ἤπερ
αὐθάδεια. καὶ γὰρ ἐξ ἀρχῆς ἡμῖν αὐτοὺς οὐκ ἀπειλή τινος δυναστεύοντος ἢ δυναστεύειν
νομίζοντος, ἀλλ’ ἡ τῶν ἁγίων πατέρων καὶ τῆς ἱερᾶς συνόδου βουλὴ κατεστήσατο, καὶ παντὶ
δῆλον ὡς ἡ θρηισκεία τὸ βέβαιον οὐκ ἂν ἐκ κελεύσεως σχοίη μᾶλλον ἢ συναινέσεως.
27 Sacra ad Cyrillum, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 8,2 (73,14–17 S.).
28 Sacra ad Cyrillum, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 8,4 (74,8–9 S.): εἲτε
μεταλαμβάνοιεν συγγνώμης εἴτε μὴ […] οί νικηθέντες. Vgl. Sacra ad Cyrillum, Concilium Univer­
sale Ephesenum, Collectio Vaticana 8,4 (74,5–7 S.) für die in Aussicht gestellte kaiserliche Verge-
bung, um dem Gescholtenen nicht die Möglichkeit zu geben, sich gleichsam als Märtyrer für die
Orthodoxie darzustellen.
29 Sacra ad synodum, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 31 (ACO 1,1,1, 120–121
Schwartz), gelesen, wie aus Cyrills Bemerkung hervorgeht, aber nicht ausgehändigt, vor dem
Cyrillkonzil, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 36 (ACO 1,1,2, 9,2–5 Schwartz);

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   279

passen zu den in den früheren Schrei­ben beobachteten Tendenzen. Sie drehen


sich um die Fragen der ordnungsgemäßen Durchführung, beauftragen Candidia-
nus speziell damit, Störungen in der Stadt zu unterbinden, und untersagen ihm
darüber hinaus, sich in die eigentlichen theologischen Fragen zu involvieren.
Nach Theodosiusʼ Ansicht wäre eine Beteiligung hier als illegal (ἀθέμιτον) anzu-
sehen, da theologische Fragen der genuinen Autorität der Bischöfe unterstehen.30
Diese Candidianus auferlegten Einschränkungen stehen im Einklang mit den all-
gemeinen Vorstellungen der früheren Sacrae über die Rolle der Kaiser in Bezug
auf den Gottesdienst und die Kirche. Es scheint, dass Theodosius nachdrücklich
versuchte, den Eindruck zu vermeiden, er nötige autokratisch seinen Willen der
Versammlung auf. Dies wiederum spiegelt die kaiserliche Kritik an autoritären
Verhaltensmustern innerhalb des Episkopats und insbesondere seine scharfe
Kritik an Cyrill. Kaiserliche Zurückhaltung in den Konzilsberatungen bildet so
einen gewollten Gegenpol, ja ein Gegenmodell zu den anmaßenden Dominanz-
gebaren einiger Bischöfe, wie es speziell Cyrill vorgehalten wurde.
Die grob skizzierten Anweisungen umschreiben darum in erster Linie die
wünschenswerte geistige Grundhaltung der Beteiligten und diejenigen Verhal-
tensmuster, die der Kaiser am besten geeignet für die Arbeit des Konzils und
für die Lösung der Probleme der Kirche und des Reiches erachtet. Viel weniger
Aufmerksamkeit wird hingegen auf die Details der Tagesordnung und Arbeit des
Konzils gerichtet. Diese werden formal nicht als kaiserliche Anweisungen prä-
sentiert, sondern sind als Erwartungen über Anstand und Schicklichkeit formu-
liert. Abermals liegt damit der Akzent auf der persönlichen Einstellung und dem
Verhalten der Teilnehmer und werden soziokulturelle Moralvorstellungen und
Ordnungsmuster evoziert. An keiner Stelle ist die Erwartung eines bestimmten
Ergebnisses aufgestellt, sei es in Bezug auf theologische Positionen oder sei es in
Bezug auf Entscheidungen über Einzelpersonen (auch wenn der frühere Brief an
Cyrill davon ausgeht, es könnte Gewinner und Verlierer geben). Theologie schiebt
sich allerdings nun deutlicher in den Vordergrund. Negativ werden andere
Rechtshändel vor Ort untersagt, positiv wird nun eine „genaue Untersuchung der
Wahrheit“ (ἀκριβὴς τῆς ἀληθείας ζήτησις) bzw. die Prüfung der „wahren Lehre“
oder auch „des Dogmas“ (τοῦ δόγματος διάσκεψις – περὶ τοῦ ἀληθοῦς δόγματος
ἔρευναν) verlangt. Es ist des Kaisers Erwartung, dass die Teilnehmer in der Lage
sein werden, frei ihre Stellungnahmen abzugeben und Vorschläge zu befürwor-

verlesen vor den Bischöfen um Johannes von Antiochien: Concilium Universale Ephesenum, Coll­
ectio Vaticana 151,4–5 (ACO 1,1,5, 120,4–7 Schwartz).
30 Sacra ad synodum, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 31 (ACO 1,1,1, 120,12–
19; 120,25–121,8; der Begriff 120,14 S.).

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280   Thomas Graumann

ten oder abzulehnen (προστιθέναι τὸ δοκοῦν ἢ ἀντιτιθέναι). Die Debatte soll dia-
logisch, durch Fragen und Antworten (κατὰ πρότασίν τε καὶ λύσιν), vonstatten
gehen.31 Der Kaiser zielte darauf ab, einen Rahmen abzustecken, der sowohl das
Einhalten der sozialen Standards als auch die Effektivität und Zielorientiertheit
der Debatten zu gewährleisten scheint. Die Rechte des Einzelnen sollen respek-
tiert werden, und ein Diskussionsstil wird erwartet, der dem wichtigen religiösen
Gegenstand der Diskussion die schuldige Ehre erweist. Der Schwerpunkt liegt
eindeutig auf der Befähigung aller Anwesenden, ohne Behinderung ihr Sagen zu
haben. Darüber hinaus bietet die Sacra bewusst keine detaillierten Handlungs-
anweisungen. Vielmehr zielen die kaiserlichen Richtlinien allein darauf, alle
Störungen, welche die geplanten Debatten behindern könnten, vom Konzil fern-
zuhalten.
Ausdrücklich wird daneben Candidianus aufgefordert zu verhindern, dass
die Bischöfe Ephesus verlassen, um entweder nach Hause zurückzukehren oder
in die Hauptstadt zu reisen. Die Anwesenheit und aktive Teilnahme aller Beteilig-
ten, so zeigt sich erneut, war für die Strategie des Kaisers und für den Erfolg des
Konzils von zentraler Bedeutung. Es war nötig, die Bischöfe in der Minderheit
sichtbar in den Prozess ihrer eigenen Marginalisierung zu verstricken, wenn das
Konzil seine gewünschte Wirkung, nämlich die Einheit der Kirche zu erhalten
oder wiederherzustellen, erreichen sollte.
Der Eindruck, den die kaiserliche Sacra hinterlässt, ist so in gewissem Maße
paradox. Auch wenn sie keine ausdrückliche Weisung über die spezifischen
Ergebnisse des Konzils gibt, werden doch relativ präzise Richtlinien zur Rege-
lung des Verfahrensablaufs, also hinsichtlich des formalen und prozeduralen
Aspekts der Beratungen, vorgegeben. Inhaltlich dagegen werden nur Harmonie
und Frieden immer wieder als die zu erwartenden Ergebnisse eines einvernehm-

31 Sacra ad Synodum, Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 31 (ACO 1,1,1, 120,17–
25 S.): […] ἐπειδήπερ οὐ χρὴ τοὺς κατ’ οὐδὲν ἀναγκαίους ὄντας τῆι μελλούσηι τοῦ δόγματος
διασκέψει κινεῖν θορύβους καὶ διὰ τοῦτο ἐμποδίζειν τοῖς εἰρηνικῶς τυπωθῆναι παρὰ τῆς
ὑμετέρας ἁγιωσύνης ὀφείλουσι, καὶ φροντίσαι τοῦ μή τινα διχόνοιαν ἐξ ἀντιπαθείας ἐπὶ πλέον
παραταθῆναι, ὡς ἂν μὴ ἐκ τούτου ἡ τῆς ἁγιωτάτης ὑμῶν συνόδου παρεμποδίζοιτο διάσκεψις καὶ
ἡ ἀκριβὴς τῆς ἀληθείας ζήτησις ἐκ τῆς ἐγγινομένης τυχὸν ἀτάκτου περιηχήσεως διακρούηται,
ἀνεξικάκως δὲ τῶν λεγομένων ἕκαστον ἀκροώμενον προστιθέναι τὸ δοκοῦν ἢ ἀντιτιθέναι καὶ
οὕτως πᾶσαν κατὰ πρότασίν τε καὶ λύσιν τὴν περὶ τοῦ ἀληθοῦς δόγματος ἔρευναν δίχα τινὸς
ταραχῆς διακριθῆναι καὶ κοινῆι τῆς ὑμετέρας ἁγιότητος ψήφωι ἀστασίαστόν τε καὶ τὸν πᾶσιν
ἀρέσκοντα τύπον λαβεῖν. Zur Interpretation dieses Passus vgl. T. Graumann, Die Kirche der Väter.
Vätertheologie und Väterbeweis in den Kirchen des Ostens bis zum Konzil von Ephesus (431)
(BHTh 118), Tübingen 2002, 360–362.

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   281

lichen Verfahrens, in dem alle erkennbar vollständig und ohne Behinderung teil-
nehmen, hervorgehoben.
Im Lichte der Kaiserschreiben ist das erste Konzil von Ephesus zwar ein Medium
der Konfliktlösung, doch überwiegt aus imperialer Perspektive ein beinahe per-
formatorisch oder symbolpolitisch zu nennendes Interesse. In dieser Sicht stellt
das Konzil primär den Versuch dar, darzustellen, dass die Kirche ihre Einheit und
Geschlossenheit erhalten (oder wiederhergestellt) hatte. Es war nicht in erster
Linie als eine beratende Versammlung konzipiert mit dem Auftrag, die Bedingun-
gen, auf denen solche Einheit aufruhen sollte, im Detail theologisch auszuarbei-
ten und zu entscheiden. Anders gesagt, die Bestimmung der genauen Lehrgrund-
lage für die Einheit war, soweit es die Kaiserschreiben vorgeben, von geringerer
Bedeutung für Theodosius und seine Regierung als die eigentliche Demonstra-
tion dieser Einheit durch die Einberufung von Bischöfen aus dem ganzen Reich
und ihre gemeinschaftliche Bereitschaft, sich an Debatten und Diskussionen zu
beteiligen. Was zählte, war die Abhaltung eines Konzils in Ephesus als solche
als ein Ereignis von dramatischer und symbolischer Bedeutung in sich selbst.
Eine solche Perspektive harmoniert mit einem in jüngeren geschichtswissen-
schaftlichen Arbeiten herausgestellten spezifischen Merkmal des Theodosiani-
schen Regimes, wonach dieses ein besonderes Interesse am Zeremoniellen, und
beträchtliches Geschick darin, aufweist.32 Zeremonie ist als Strategie zur Siche-
rung und Zur-Schau-Stellung imperialer Autorität ebenso zentral wie für den
Ausgleich von widerstreitenden sozialen und politischen Interessen am Hof und
darüber hinaus. Ähnlich, so scheint es, sollte das Konzil in der Kirchenpolitik
wirken. Es ist darum auch nicht einfach eine inhaltsleere Floskel, wenn Theo-
dosius in seiner Einladung davon spricht, schon lange ein Konzil geplant und
seine Pläne nur aus Rücksicht auf die Belastungen der Bischöfe nicht schon zuvor
realisiert zu haben.33 Die Bemerkung distanziert die Konzilspläne nicht nur von
der akuten Krise – wohl um des Kaisers Handlungsmacht als eines nicht etwa von
den Problemen hilflos getriebenen einzuspielen –, sondern sie bringt zugleich
zum Ausdruck, dass die Abhaltung eines Reichskonzils als solche für den Aus-
druck kaiserlicher Machtentfaltung und Repräsentation einen zentralen Stellen-

32 Vgl. Meier (wie Anm. 4), und C. Kelly, Stooping to Conquer. The Power of Imperial Humi-
lity, in: id. (wie Anm. 4), 221–243, mit den dort angeführten weiteren Beispielen dramatischer
Selbstinszenierung von Mitgliedern des theodosianischen Herrscherhauses und im Kontext der
Entwicklung imperialen Zeremoniells der Spätantike. Für den weiteren Horizont vgl. S. Diefen-
bach, Zwischen Liturgie und civilitas. Konstantinopel im 5. Jahrhundert und die Etablierung
eines städtischen Kaisertums, in: R. Warland (Hg.), Bildlichkeit und Bildort von Liturgie. Schau-
plätze in Spätantike, Byzanz und Mittelalter, Wiesbaden 2002, 21–47.
33 Theodosius II., Sacra ad Cyrillum, Collectio Vaticana 25,2 (ACO 1,1,1, 115,15–19 S.).

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282   Thomas Graumann

wert einnehmen konnte. Schon die Eusebianische Geschichtsschreibung hatte ja


etwa das Nizänische Konzil als Fest- und Höhepunkt Konstantinischer Herrschaft
dargestellt – ganz abseits von aktuellen theologischen und disziplinarischen
Konflikten.34 Die Einberufung von Konzilien durch den Kaiser ist Eusebs kirchen-
historischen Nachfolgern eine Selbstverständlichkeit.35 Nur allzu leicht sind in
der Umkehrung solcher Einschätzungen die Reichskonzilien nicht zuletzt Insze-
nierungen kaiserlicher Herrschaft. Theodosius’ II. Nachfolger, Marcian, etwa ruft
„sein“ Konzil mit Absicht ursprünglich nach Nizäa, um sich als neuer Konstantin
zu präsentieren.36 In Theodosius’ Hinweis auf frühere Konzilspläne klingt von der
Möglichkeit einer solchen, die Kaiserideologie feierlich ausschmückenden Prä-
sentation des Konzilszwecks etwas an, so sehr ihm konkret die Nestorius-Krise
die Agenda diktiert.

4 Scheitern und neue Initiativen


An diesen Vorgaben gemessen scheitert das Konzil und illustriert so die Verwund-
barkeit sowohl der kaiserlichen Strategie als auch seiner Selbstinszenierung
angesichts kirchlicher Konflikte. Schon anfangs gelingt es dem mit der Durch-
führung beauftragten Repräsentanten comes Candidianus nicht, die kaiserlichen
Pläne auch nur im Ansatz wirksam werden zu lassen. Von Cyrill ausmanövriert
kann er das Zusammentreten einer Teilversammlung nicht verhindern. Damit
aber ist die Saat gelegt für eine Spaltung, die mit der getrennten Versammlung

34 Eusebius, De vita Constantini 3,4–24 (GCS 1,1, 82,20–94,18 Winkelmann).


35 Vgl. die schon klassische Formulierung bei Sokrates, Historia ecclesiastica 5, praefatio 9
(GCS.NF 1, 275,4 Hansen): „[…] die größten Synoden kamen und kommen noch auf ihren [sc. der
Kaiser] Willen hin zustande“ ([…] αἱ μέγισται σύνοδοι τῇ αὐτῶν γνώμῃ γεγόνασίν τε καὶ γίνονται).
Siehe Wallraff (wie Anm. 15), 99–110 und H. Leppin (wie Anm. 2), 178, mit dem Kontext zur Syno-
dalgewalt der Kaiser bei den Kirchenhistorikern 176–181. Für den weiteren Horizont zum Problem
Kaiser und Synode im vierten Jahrhundert, vgl. H. C. Brennecke, Synode als Institution zwischen
Kaiser und Kirche in der Spätantike. Überlegungen zur Synodalgeschichte des 4. Jahrhunderts,
in: id., Ecclesia est in re publica. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte im Kontext des
Imperium Romanum, hg. von U. Heil/A. v. Stockhausen/J. Ulrich (AKG 100), Berlin 2007, 21–53;
id., Bischofsversammlung und Reichssynode. Das Synodalwesen im Umbruch der Konstantini-
schen Zeit, in: F. von Lilienfeld/A. M. Ritter (Hgg.), Einheit der Kirche in vorkonstantinischer Zeit
(Oikonomia 25), Erlangen 1989, 35–53.140–147.
36 Marcian, Einladungsschreiben an die Bischöfe = Epistula 13, Concilium Universale Chalcedo­
nense, Epistularum Collectio M (ACO 2,1,1, 27–28 Schwartz). Für weitere Versionen vgl. E. Schwartz,
apparatus ad locum (E. Schwartz [Hg.], Epistularum collectiones. Actio prima, Bd. 1,1 von Conci-
lium Universale Chalcedonense [ACO 2,1,1,], Berlin 1933, 27).

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   283

der zu spät erschienenen Bischöfe der Oriens weiter zementiert und nachfolgend
auch allen kaiserlichen Initiativen zum Trotz nicht mehr überwunden wird. Inter-
ventionsversuche wie die Gesandtschaft des comes Johannes im Juli zeigen, dass
Kaiser und Hof den Ereignissen stets einige Schritte hinterherhinken, und zeugen
von keiner zureichenden Information oder gar einem wirklichen Verständnis der
Verhältnisse vor Ort. Die Verhärtung der Situation in Ephesus mit der gegenseiti-
gen Verurteilung beider Gruppen von Bischöfen in getrennten Sitzungen vermag
Johannes nicht zu überbrücken. So sehr die offiziellen kaiserlichen Verlautba-
rungen die Fiktion eines gemeinsamen Konzils aufrecht zu erhalten suchen, so
wenig Bereitschaft zeigen die Bischöfe, ihre Spaltung zu überwinden. Genauso
wenig zielführend erwiesen sich die vom Kaiser initiierten schließlichen Ver-
handlungen mit Delegationen beider Seiten in Chalcedon, in denen sich der
Kaiser erstmals auch direkt persönlich einbringt. Auch hier vermag er aber nicht
mehr wirklich gestaltend in den Lauf der Dinge einzugreifen. Die Intransigenz
der Bischöfe sowie Meinungsverschiedenheiten im Konsistorium und unter den
Führungsschichten lassen ein einvernehmliches Ergebnis nicht zu.37 Persön­
liche Verdrossenheit über Nestorius, der Druck der städtischen Öffentlichkeit in
Konstantinopel, angeführt von dem Archimandriten Dalmatius und zahlreichen
Mönchen, und die vielzitierten Bestechungen des Cyrill erzeugen eine undurch-
sichtige Gemengelage, die letztendlich keinen geradlinigen kirchenpolitischen
Ausweg lässt.38 Ein erster Entwurf für das Dekret zur Beendigung des Konzils
will immerhin noch die Rädelsführer bestrafen, das zweite beugt sich auch in

37 Eine detaillierte Analyse der Wendungen der bischöflichen und kaiserlichen Aktivitäten
während der Konzilsphase in den Sommermonaten des Jahres 431 kann hier nicht geleistet wer-
den. Für eine knappe Skizze der Verhältnisse im Spätsommer 431, vgl. C. Fraisse-Coué (deutsche
Bearbeitung Thomas Böhm), Die theologische Diskussion zur Zeit Theodosius’ II.: Nestorius, in:
Die Geschichte des Christentums 2. Das Entstehen der einen Christenheit (250–431), Freiburg
1996, 570–626 (610–616). Die Skizze bei Wessel (wie Anm. 1), 295–301, ist in vielen Einzelheiten
problematisch.
38 Die Intervention des Archimandriten Dalmatius, der Theodosius im persönlichen Gespräch
von der Valenz der Entscheidungen des Cyrillkonzils überzeugt haben will, und die Prozessionen
und das Psalmensingen der von ihm angeführten Menge berichtet Concilium universale Ephese­
num, Collectio Vaticana 66–67 (ACO 1,1,2, 65–70 Schwartz); vgl. die schon stark dramatisierende
Darstellung der Ereignisse im Bericht des Nestorius, Liber Heraclidis 2,1,375–383, mit der franzö-
sischen Übersetzung von François Nau (Le Livre d’Héraclide de Damas, suivi du texte grec des 3
homélies de Nestorius sur les tentations de Notre-Seigneur et des 3 app.: Lettre à Cosme, presents
envoyés d’Alexandrie, Lettre de Nestorius aux habitants de Constantinople, ed. P. Bedjan, übers.
von F. Nau, Paris 1910, 241–246); vgl. die zuweilen problematische englische Übersetzung von
G. R. Driver und L. Hodgson, Nestorius. The Bazaar of Heracleides. Newly translated from the
Syriac and edited with an Introduction, Notes and Appendices, Oxford 1925, 272–278.

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diesem Punkt den Realitäten und setzt (mit der Ausnahme des Konstantinopler
Bischofsstuhls und dem Schicksal des Nestorius) den status quo ante wieder in
Kraft.39 Als Versuch zur kirchlichen Befriedung ist das Konzil grandios geschei-
tert, und Theodosius’ Rolle erscheint in dieser Sicht wenig effektiv. Nimmt man
hingegen ernst, wie sehr Theodosius vor dem Konzil versuchte, jeden Anschein
autokratischer Nötigung zu vermeiden, und wie kraftvoll er analog dazu bischöf-
liche Anmaßung abzuwehren und den Geist gemeinsamen Handelns anzuregen
suchte, so ist deutlich, dass die autoritative Dekretierung eines dem Konzil vor-
zuschreibenden „Ergebnisses“ keine Möglichkeit war. Die Rhetorik des göttlich
berufenen Kaiseramts beinhaltet die Anerkenntnis seiner Grenze an der Autarkie
bischöflicher Entscheidung in Glaubenssachen. Doch nicht die Ideologie der kai-
serlichen Sorge für Kirche und Glauben stand durch das Scheitern des Konzils auf
dem Prüfstand, sondern die Strategien und Mittel ihrer Umsetzung bedurften der
Neubesinnung.

Das gescheiterte Ephesinische Konzil markiert darum zugleich einen Wende-


punkt in der kaiserlichen Herangehensweise an die kirchlichen Konflikte. Die
persönliche Erfahrung mit den streitenden Bischöfen in Chalcedon mag dabei
eine wichtige Rolle gespielt haben. Der Optimismus, dass die Zusammenkunft der
kirchlichen Entscheidungsträger einer Lösung der Krise den Weg ebnen würde,
hatte sich nicht bewahrheitet. Vielmehr bestätigen die Verhandlungen die in den
Kaiserschreiben erkennbaren Befürchtungen über bischöfliche Intransigenz und
Anmaßung. Darin immerhin hatte Theodosius Recht behalten, dass eine andere
Haltung und ein verbindliches Auftreten nötig wären, um das Konzil zum Erfolg
zu bringen.
Wenn unsere Interpretation richtig war, dass Theodosius auf die Selbstre-
gulierungs- und Selbstheilungskräfte der Kirche setzte, als er das Konzil als den
dazu geeigneten Mechanismus und Rahmen einberief, ist die pragmatische Neu-
ausrichtung seiner Politik im direkten Anschluss umso markanter. Klar tritt der
politische Wille hervor, das Konzilsprojekt abzubrechen – ein unausgesproche-
nes Eingeständnis des Scheiterns – und es durch andere Initiativen zu ersetzen.
Die Auflösung des Konzils ist einerseits das zähneknirschende Arrangement mit
dem Status quo. Zugleich aber wird mit der Neubesetzung des Konstantinopler

39 Siehe die Sacra zur Beendigung des Konzils, Concilium universale Ephesenum, Collectio Atheni­
ensis 97 (ACO 1,1,7, 142 Schwartz). Vielleicht einen früheren Entwurf für das Abschlussdekret stellt
die abweichende und nur lateinisch erhaltene Fassung Concilium universale Ephesenum, Collec­
tio Casinensis 118 (ACO 1,4,2, 68–69 Schwartz) dar; hier ist noch die Bestrafung von Memnon und
Cyrill vorgesehen. Dass beide Fassungen ihren Weg in die Überlieferung fanden, ist erstaunlich.

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   285

Bischofsstuhls ein erster Schritt zur Klärung der verfahrenen Lage gemacht.
Theodosius schließt die Bischöfe der antiochenischen Seite – unabhängig von
ihrer Rechtgläubigkeit, die er ja gerade nochmals bestätigt hatte40 – von der Wahl
und Inthronisation des neuen Bischofs aus, ja verbietet ihnen den Eintritt in die
Stadt. Der innere Friede der Ortskirche und der Stadt insgesamt stehen auf dem
Spiel. Jede potentielle Störung soll vermieden werden. Dies könnte als funda-
mentaler pro-alexandrinischer Schwenk gedeutet werden und wäre durchaus
ein denkbares Szenario. Die abreisenden antiochenischen Bischöfe jedenfalls
rechnen mit „Verfolgung“ und stimmen sich auf Widerstand und Martyrium ein.41
Zwar schafft die Neubesetzung des Bischofstuhls von Konstantinopel in dieser
Hinsicht Fakten, doch Theodosius nimmt keineswegs einen radikalen theologie-
politischen Positionswechsel vor, indem er etwa ganz auf die cyrillische „Mehr-
heitspartei“ setzte. Die Verhandlungen in Chalcedon hatten auch gezeigt, dass
Theodosius keineswegs ohne eigene theologische Präferenzen war. Zumal der
dramatische Ausdruck seiner Abneigung gegen Spitzenaussagen eines Mitglieds
der cyrillischen Delegation – Theodosius schüttelt sein Gewand in Abscheu42 –
zeigt dies an. Trotz aller Irritation über Nestorius bleibt Theodosius auch bei der
in den Schlussdekreten festgehaltenen Überzeugung, dass den antiochenischen
Theologen keine Fehler vorzuhalten seien. Und so bleibt die von den Antioche-
nern befürchtete „Verfolgung“ (einstweilen) aus.
Stattdessen initiiert der Kaiser fast unmittelbar neue Wege der Konflikt-
lösung. Dabei sind drei parallele Stoßrichtungen auszumachen. Theodosius
schreibt an Acacius von Beroea, den Nestor des östlichen Episkopats; er sucht
die Autorität der „heiligen Männer“ aufzurufen, indem er sich an Symeon Styli-
tes wendet43, und er startet nicht zuletzt die diplomatische Mission des tribunus
et notarius Aristolaus.44 Sowohl Acacius als auch Symeon hatten bereits Briefe

40 Noch in der Sacra zur Auflösung des Konzils hatte Theodosius festgehalten: „solange wir
leben, können wir die [Bischöfe] aus dem Osten nicht verurteilen“ (Concilium universale Ephe­
senum, Collectio Atheniensis 97 [ACO 1,1,7, 142,29 S.]: ὅτε ζῶμεν, καταγνῶναι τῶν Ἀνατολικῶν οὐ
δυνάμεθα).
41 Vgl. etwas die kurze Ansprache des Johannes von Antiochien beim Aufbruch von Chalcedon
Concilium universale Ephesenum, Collectio Atheniensis 72 (ACO 1,1,7, 84 Schwartz).
42 So der Bericht der orientalischen Bischöfe vom Auftreten des Acacius von Melitene vor Theo-
dosius, Concilium universale Ephesenum, Collectio Atheniensis 66 (ACO 1,1,7, 77,25–26. Schwartz).
43 Sacra an Acacius, Concilium universale Ephesenum, Collectio Atheniensis 103 (ACO 1,1,7, 146
Schwartz); und an Symeon, Concilium universale Ephesenum, Collectio Vaticana 121 (ACO 1,1,4,
5–6 Schwartz). In beiden Schrei­ben wird deutlich, dass die Weigerung des Johannes, die Abset-
zung des Nestorius zu akzeptieren, nun als das wesentliche Hindernis begriffen wird.
44 Vgl. PLRE 2, 146–147.

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vor dem Konzil erhalten. Damit ist im Neuanfang zugleich ein Element der Kon-
tinuität feststellbar. Nachdem weder die kaiserliche Organisation synodaler Ver-
handlungen noch direkte persönliche Gespräche mit bischöflichen Delegationen
zum Erfolg geführt hatten, ist eine Rückkehr zu den konventionellen Mitteln und
Kanälen des Regierungshandelns erkennbar: Korrespondenz und persön­liche
Missionen eines (hohen) Funktionsträgers suchen den kaiserlichen Wunsch
nach Wiederherstellung des Kirchenfriedens voranzutreiben. Eine persönliche
Zusammenkunft beider Protagonisten, Johannes und Cyrill, wird angeregt und
beiden in Aussicht gestellt, nach erreichter Versöhnung – aber erst dann – mit
dem Kaiser zusammenzutreffen.45 Gegen diese Druckkulisse bleibt der Wider-
stand beider Seiten für beinahe zwei Jahre ungebrochen. Schließlich ist es aber
die Mission des Bischofs Paul von Emesa, die eine Einigung zwischen Johannes
und Cyrill herbeiführt.46 Die so ausgehandelte Übereinkunft zwischen Cyrill und
Johannes findet denn auch den vollen Rückhalt der kaiserlichen Religionspoli-
tik. Zunehmend energische Gesetzgebung gegen Nestorius persönlich und gegen
seine unbeugsamen Anhänger prägen die Folgejahre. In den Jahren zwischen
dem Friedensschluss der sog. Union von 433 und dem Wiederaufflammen der
Kontroverse in der Hauptstadt, die zu Recht als Scheinfriede („paix trompeuse“)
beschrieben worden sind47, scheint vor allem diese anti-nestorianische Positio-
nierung unerschüttert und wird immer wieder bekräftigt. Ansonsten scheinen –
kaiserliche Dokumente dieser Zeit fließen weniger reichlich – die etwa im Streit
um Diodor und Theodor oder im Kontext der armenischen Anfragen an Bischof
Proklos aufscheinenden Konfliktpotentiale wenigstens insoweit eingedämmt, als
dass nicht mehr als eine Wiederholung bekannter kaiserlicher Positionierungen
nötig scheinen mochte.48 Nichts deutet auf besondere religionspolitische Initi-
ativen zur Durchsetzung einer bestimmten „Orthodoxie“ und zur Austarierung

45 Sacra an Johannes von Antiochien, Concilium universale Ephesenum, Collectio Vaticana 120
(ACO 1,1,4, 4 Schwartz).
46 Für die Periode der Verhandlungen im Sommer 431 und nach dem Konzil bis zur Union von
433 vgl. C. Fraisse-Coué (wie Anm. 37), 614–616.617–624; C. J. Hefele/H. Leclercq, Histoire des
conciles d’après les documents originaux 2/1, Paris 1908, 342–375.378–404.
47 C. Fraisse-Coué (deutsche Bearbeitung M. Durst), Von Ephesus nach Chalcedon. Der „trüge-
rische Friede“ (431–451), in: Die Geschichte des Christentums 3: Der lateinische Westen und der
byzantinische Osten (431–642), Freiburg 2001, 3–89 (6–34); die Formulierung „la paix trompeu-
se“ ist Überschrift der französischen Originalversion, in: Histoire du christianisme des origines
à nos jours 3: Les Eglises d’Orient et d’Occident (432–610), Paris 1998, 9–77 (9). Eine knappe
Übersicht auch bei H. Chadwick, The Church in Ancient Society. From Galilee to Gregory the
Great, Oxford 2001, 538–556.
48 Vgl. dazu noch immer L. Abramowski, Der Streit um Diodor und Theodor zwischen den bei-
den ephesinischen Konzilien, in: ZKG 67 (1955/56), 252–287.

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   287

kirchlicher Machtansprüche oder gar auf eine theologisch-inhaltliche Neube-


sinnung in diesen Jahren hin. Insoweit bleibt die kaiserliche Religions­politik im
Wesentlichen reaktiv und wohl auch im Kern konservativ – durchaus in Überein-
stimmung mit den Antriebskräften auf anderen Politikfeldern.
Abseits der Nestoriuskontroverse und ihres Nachhalls setzt Theodosius das
Bemühen fort, speziell die noch schwärenden Wunden in der Konstantinopler
Kirche zu heilen, die ihr durch die Vertreibung und den Tod des Johannes Chry-
sostomus zugefügt worden waren. Nicht zuletzt die daraus resultierenden Spal-
tungen hatten ja die im Rückblick desaströse Berufung eines „Außenseiters“ in
der Person des Nestorius motiviert. Theodosius’ Maßnahmen in diesem Kontext
sind hier von Interesse für die Beobachtung der Instrumentarien und Chancen
zeremoniellen und symbolischen Handelns abseits gesetzgeberischer Initiati-
ven. Theodosius bringt die Gebeine des Johannes unter großem zeremoniellem
Aufwand in die Stadt und exponiert sich und die Kaiserfamilie in spektakulä-
ren Auftritten.49 Die Aktion zeigt in ihrem Impuls wie in ihrer Durchführung
zunächst, dass die Herstellung eines tragfähigen hauptstädtischen Kirchenfrie-
dens noch immer, oder auch erst recht, das primäre Movens der kaiserlichen
Politik ist. Hier kündigt sich ein Kernthema byzantinischer Reichs- und Kirchen-
politik an. Zugleich wird die Bedeutung ritueller Inszenierung des Politischen,
und eben auch des Kirchlichen, höchst anschaulich (auch dies ist ein bedeutsa-
mes Element späterer byzantinischer Kaiserherrschaft). Die Beanspruchung des
Charismas der „heiligen Männer“, wie sie in den Schrei­ben an Symeon anschau-
lich wird, oder auch die dramatische Beugung vor ihrer Autorität, wie sie in der
Begegnung mit Dalmatius vor Augen steht, sind von hier aus nicht einfach als
die Folge frömmelnder persönlicher Schwäche abzutun, sondern werden viel-
mehr als politisch-sozial und kulturell wirksame Formen der Herrschaftsinsze-
nierung und -ausübung begreifbar. Gerade in der Möglichkeit, sich gegenüber
dem Charisma der heiligen Männer zurückzunehmen und die eigene Anschau-
ung und Position in einer Weise zu modifizieren oder gar zu revozieren, die sie
als durch Frömmigkeit und Gottesfurcht motiviert vor Augen stellt, gewinnt das
kaiserliche Handeln einen zusätzlichen Freiraum, der aus einem absoluten Auto-
ritätsanspruch schwer ableitbar und wohl nur als Willkür interpretierbar wäre.

49 Vgl. Theodoret, Historia ecclesiastica 5,36 (GCS.NF 5, 338–339 Parmentier/Hansen); vgl.


Sokrates, Historia ecclesiastica 7,45,1–4 (392,13–24 H.), der jedoch allein auf die Initiative von
Bischof Proklos abhebt. Sokrates datiert die Rückführung auf den 27. Januar 438. Vgl. zu den
weiteren Umständen der Rehabilitierung des Johannes auch J. N. D. Kelly, Golden Mouth. The
Story of John Chrysostom, Ascetic, Preacher, Bishop, Ithaka 1995, 286–290. Eine subtile Analyse
der Chancen und Risiken kaiserlicher Selbstverdemütigung und ihrer zeremoniellen Zurschau-
stellung bietet C. Kelly (wie Anm. 4).

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288   Thomas Graumann

Im Zeremoniell drückt sich kaiserliches Regierungshandeln nicht weniger und –


so könnte man argumentieren – vor allem kaum weniger effizient aus als selbst
in den Gesetzgebungsmaßnahmen dieser Jahre. Ob und in welcher Weise kaiser­
liche Kanzleirhetorik ähnlich wirksam werden konnte, wird bei der Analyse der
hier vorgestellten Schrei­ben zu beachten sein.

5 Die Eutycheskrise und die Einberufung des


Zweiten Ephesinischen Konzils
Trotz aller bleibenden Beunruhigung und schwelenden Spannungen in Kirche
und Reich angesichts des Niederschlags der Nestoriuskontroverse, der Unzufrie-
denheit mit der Union von 433 und der theologisch ungelösten Frage nach dem
Verhältnis antiochenischer und cyrillischer Denktraditionen kommt dennoch
erst am Ende der 440er Jahre und speziell mit der Eutycheskrise die nächste
praktische große Herausforderung auf die kaiserliche Religionspolitik zu. Ob der
Kaiserhof im Kontext des Eutychesprozesses mit strategischem Interesse, gar in
konspiratorischer Form, die Fäden hinter den Kulissen zog und welche Interessen
dabei gegebenenfalls zum Ausdruck kommen, wird in der Forschung kontrovers
diskutiert. Auch welche Kräfte dabei möglicherweise maßgeblich waren, ist frag-
lich. Eine Konspiration zu Lasten des Konstantinopler Bischofs Flavian, mit dem
Kammerherrn Chrysaphius und dem Archimandriten Eutyches als den zentral
handelnden Personen hatte schon Eduard Schwartz beschrieben,50 während
eine jüngere Hypothese einen Versuch auszumachen glaubt, zunächst unter dem
Vorwand der Anklage des Eutyches ein „antiochenisch“ gefärbtes Glaubensbe-
kenntnis festzuschreiben, nur um sodann, in radikalem Kurswechsel, auf eine
extreme cyrillische Interpretation umzuschwenken.51 Zwar wird hier – zu Recht –
die Rolle des Chrysaphius kritisch revoziert52, aber ein im Kern manipulatives,
gar konspiratorisches Vorgehen kaiserlicher bzw. höfischer Politik wird auch hier

50 E. Schwartz, Der Prozeß des Eutyches (SBAW.PH), München 1929. Schwartz kann von einem
„Komplott“ sprechen (ebd. 86). Für Schwartz’ bekannte Tendenz, die Kontroversen prinzipiell
politisch zu deuten, vgl. jüngst nochmals M. Meier, „Ein dogmatischer Streit“ – Eduard Schwartz
(1858–1940) und die „Reichskonzilien“ in der Spätantike, in: ZAC 15 (2011), 124–139.
51 G. A. Bevan/P. T.R. Gray, The Trial of Eutyches. A New Interpretation, in: ByZ 101 (2008), 617–
657: „The attack on Eutyches was a gambit in the larger imperial plan to ensconce the Antiochene
statement of belief as an article of faith“ (654).
52 Bevan/Gray (wie Anm. 51), insbesondere 621–624.

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   289

unterstellt.53 Dass diese einerseits an klarer dogmatischer Festschreibungen inte-


ressiert ist, in der Sache aber innerhalb weniger Monate zu diametral entgegen-
gesetzten Bestimmungen solcher Orthodoxie gelangt, bleibt bei diesem Entwurf
unerklärt und vermag nicht zu überzeugen.54 Die Diskussion eines möglichen
Wirkens politischer Kräfte im Hintergrund des Eutychesprozesses ist unab-
geschlossen und bedarf der weiteren Forschung; der konspiratorische Zug der
vorgetragenen Interpretationen behindert dabei allerdings die kritische Ausein-
andersetzung, verlegt er doch die entscheidenden Weichenstellungen in einen
Bereich, der sich kritischer Nachprüfung widersetzt; er legt sich m.  E. aufgrund
der Quellen insgesamt nicht nahe.

Gegen die dunkle Welt der Hofintrigen hebt sich die propagandistische Außen-
darstellung und rhetorische Selbstinszenierung der kaiserlichen Religions-
politik vergleichsweise hell ab. Für unsere Fragestellung ist zunächst diese
„Außenseite“, d.  h. die förmliche Einkleidung kaiserlicher Anschauungen und
kaiserlichen Handelns, von primärem Interesse. Insoweit bewegt sich die Inter-
pretation auf festerem Boden, wenn sie sich den Kaiserschreiben zuwendet, die
in der Reaktion auf den Eutychesfall ein zweites Reichskonzil nach Ephesus ein-
berufen. Der schon in der Ortswahl augenfällige explizite Anschluss an das erste
dortige Konzil zeigt an, wie das erste Ephesinum nun unzweifelhaft als ein ganz
und gar positives Modell synodaler Konfliktbewältigung – und das heißt auch
von mustergültig wahrgenommener und erfolgreicher kaiserlicher Verantwor-
tung für die Kirche – vor Augen steht. Das peinliche Scheitern vom Sommer und
Herbst 431 ist in der Erinnerung überformt durch das Bild eines maßgeblichen
und vorbildlichen Konzils.
Wie schon angedeutet ruhen die kaiserlichen Schrei­ben im Vorfeld des für
den August 449 nach Ephesus gerufenen Konzils auf der gleichen Selbstdarstel-
lung kaiserlicher Verantwortung für Kirche und Reich.55 Sie kontrastieren mit

53 Bevan/Gray (wie Anm. 51), 649–657, mit der Kritik der Deutung von Schwartz (wie Anm. 50)
und ihrer faktischen Umkehrung. Vor allem die Rolle des Florentius (vgl. id., Art. Fl. Florentius 7,
PLRE 2, 478–480) wird in diesem Sinne gedeutet und in den Zusammenhang antiochenischer
theologischer Bestrebungen gebracht; die Verurteilung des Eutyches sei „engineered by Floren-
tius and his superiors, while meeting with the approval of Domnus and Theodoret […]“ (654).
54 Angesichts des unerwarteten Widerstands gegen dieses antiochenische Komplott „[…] Theo-
dosius quickly changed direction of imperial policy. The embarrassing reversal in imperial policy
was quickly covered up and it has left few traces in the sources [meine Hervorhebung] (Bevan/Gray
[wie Anm. 51], 655)“. Genau hierin liegt die methodische Problematik von Konspirationstheorien.
55 Vgl. Sacra ad Dioscurum, Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 24 (ACO
2,1,1, 68,3–10 Schwartz).

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denen des Jahres 431 aber sowohl im Ton als auch im konkreten Gehalt. Es zeigt
sich, wie die konventionelle rhetorische Selbstdarstellung der religiösen Dimen-
sion des Kaiseramtes spezifisch andersartige religionspolitische Erwartungen an
ein Konzil zu begründen vermag.
War nach unserer Interpretation der Grundtenor der kaiserlichen Konzils-
pläne im Jahr 430/431 davon bestimmt, auf die innerkirchlichen, synodalen Ent-
scheidungsmechanismen gleichsam als auf die Selbstheilungskräfte der Kirche
zu setzen, um den Konflikt zu entschärfen, so kommen nun sehr andere Einschät-
zungen zum Tragen. Ließen es jene Schrei­ben offen, ob eine (Neu-)Bestimmung
von Orthodoxie nötig sein werde oder ob disziplinarische Entscheidungen aus-
reichen mochten, und wie Fragen der Rechtgläubigkeit gegebenenfalls zu for-
mulieren und zu formalisieren seien, so lässt die Sacra vom 30. März 449 keinen
Zweifel: Die providentielle Aufgabe des Kaisers ist gegenwärtig, das „Wächter-
amt (παραφυλακή) der katholischen und apostolischen Lehre und des orthodo-
xen Glaubens“ spezifisch in der Weise wahrzunehmen, dass durch die synodale
Versammlung „jegliche nutzlose Kontroverse gelöst und der wahre gottgefällige,
d.  h. der orthodoxe, Glaube bekräftigt (κρατυνθῆναι) werde“.56 Die ansonsten
potentiell geradezu katastrophalen Auswirkungen des gegenwärtigen Streits
werden in kräftigen Worten vor Augen gehalten. Entsprechend drückt das Schrei­
ben entschlossen die kaiserliche Anweisung für die Bischöfe aus: Ihre Aufgabe
ist es, die Orthodoxie zu bestätigen und jede Häresie vollständig zu beseitigen,
indem „nach genauer Untersuchung und Prüfung“ „jeglicher perverser Irrtum
ausgestoßen“ wird.57 Dem comes Elpidius wird unzweideutig die für den Kaiser
vordringliche Begründung des Konzilsvorhabens mit auf den Weg gegeben: „In
unserer Sorge, vollständig die Wurzel allen Übels abzuschneiden, haben wir dekre-
tiert, dass ein zweites Konzil in Ephesus stattfinden soll […]“.58

56 Sacra ad Dioscurum, Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 24 (68,10–


18 S.): ἐπὶ τοῦ παρόντος τοίνυν ἀνακυψάσης ἐξαίφνης ἀμφιβολίας τινὸς εἰς τὴν τοῦ καθολικοῦ
καὶ ἀποστολικοῦ δόγματος τῆς ἡμετέρας ὀρθοδόξου πίστεως παραφυλακήν […] ἐθεσπίσαμεν
κατὰ ταυτὸν συνελθόντων ὁσιωτάτων καὶ θεοφιλεστάτων ἀνδρῶν, οἷς πλεῖστος εὐσεβείας τε καὶ
τῆς ὀρθοδόξου καὶ ἀληθινῆς πίστεως λόγος καθέστηκεν, πᾶσαν μὲν τοιαύτην ἀκριβοῦς ζητήσεως
προτεθείσης διαλυθῆναι ματαίαν ἀμφισβήτησιν, τὴν δὲ ἀληθινὴν καὶ τῶι θεῶι φίλην, τουτέστι
τὴν ὀρθόδοξον κρατυνθῆναι πίστιν. Vgl. folgende Anm.
57 Sacra ad Dioscurum, Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 24 (68,26–
29 S.): […] καὶ ἀκριβεστάτην προθέντων ἔρευνάν τε καὶ ζήτησιν πᾶσα μὲν ἐκποδὼν σκαιὰ γένηται
πλάνη, κρατυνθείη δὲ καὶ συνήθως ἐκλάμψοι τὸ τῆς ὀρθοδόξου καὶ ἀληθινῆς καὶ προσφιλεστάτης
τῶι σωτῆρι ἡμῶν Χριστῶι πίστεως δόγμα […].
58 Mandatum, Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 49 (ACO 2,1,1, 72,8–9
Schwartz): […] τὴν δευτέραν ταύτην ἐν Ἐφέσωι γενέσθαι σύνοδον ἐθεσπίσαμεν, πάντηι τοῦ
κακοῦ τὴν ῥίζαν ἀποτμηθῆναι σπουδάζοντες […] [meine Hervorhebung].

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   291

Im direkten Zusammenhang mit der dezidiert scharfen Festlegung einer


antihäretischen Agenda des Konzils stehen die Direktiven zur Bestimmung
seiner Teilnehmer. Auch hier hatte es Theodosius im Jahr 431 unterlassen, kon-
krete Vorgaben zu machen, und es stattdessen den Bischöfen überlassen, eine
sinnvolle Repräsentation im Konzil mit den Bedürfnissen kontinuierlichen
Gemeinde- und Gottesdienstlebens in den Provinzen zu vereinbaren. Für das
Konzil von 449 dagegen befahl der Kaiser im Einladungsschreiben an den alex-
andrinischen Bischof Dioskur (das in die Akten aufgenommen ist) die Teilnahme
von zehn Metropoliten und zehn Bischöfen seiner Diözese59; weitere Schrei­ben
laden bestimmte Einzelne persönlich ein oder untersagen deren Teilnahme.60
Offenbar hatte Theodosius aus den Ereignissen im ersten ephesinischen Konzil
gelernt – dort hatte ja Cyrill die Versammlung mit einem großen Kontingent aus
Ägypten geradezu geflutet und auch darum dominiert – und war er nun nicht
mehr bereit, den Bischöfen soweit zu vertrauen, dass sie ihre eigenen Entschei-
dungen hinsichtlich der Repräsentanz ihrer Region treffen konnten. Ein deutlich
klarer umschriebenes und direktes Eingreifen in die Organisation des zweiten
Konzils ist festzustellen. Denn mit dem Ausschluss des Theodoret, des wichtigs-
ten theologischen Kopfs auf der Seite antiochenischer Theologie, wird zugleich
eine deutliche theologisch-inhaltliche Tendenz der kaiserlichen Agenda erkenn-
bar. Wenn dann im Schrei­ben an das Konzil die alleinige Verantwortung an der
gegenwärtigen Krise dem Konstantinopler Bischof Flavian und seinem Vorgehen
gegen Eutyches zugeschoben wird, ist sie vollends klar.61 Zwanzig Jahre zuvor
hatte Theodosius nicht in gleicher Weise Partei ergriffen.
Interessanterweise verbindet sich die neue Schärfe der Anweisungen zur
Teilnahme und den Aufgaben des anstehenden Konzils zugleich mit einer erin-
nernden Neuinterpretation des früheren, ersten ephesinischen Konzils und der
eigenen Initiativen in seinem Kontext. Im Licht der im Jahr 449 neu gewonnenen

59 Für die Diözese Ägypten ist diese Anweisung sinnlos, da die Ägyptische Kirche keine Me-
tropoliten neben dem Bischof von Alexandrien kannte und auch keine zehn Reichsprovinzen
aufwies. Die Anweisung erklärt sich wohl am ehesten als ein Versehen des kaiserlichen Büros.
Im Kern gleichlautende Schrei­ben an andere Reichsteile dürften entsprechende Anordnungen
für deren Provinzen getroffen haben. Im Schrei­ben an Alexandria wurde dann wohl versäumt,
den Entwurf den ägyptischen Verhältnissen anzupassen.
60 Vgl. die Einladung an den Mönch Barsaumas, Concilium universale Chalcedonense, Gesta ac­
tionis primae 48 (ACO 2,1,1, 71 Schwartz) und den Ausschluss des Theodoret von Cyrrhus, Con­
cilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 24 (ACO 2,1,1, 69,1–4 S.) und Concilium
universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 52 (ACO 2,1,1, 74,9–20 S.).
61 Sacra an das Konzil, Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 51 (ACO 2,1,1,
73 S.).

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Klarheit in der Sache und des nun aufgebotenen energischen Zugriffs auf die syn-
odalen Lösungsversuche nimmt auch das frühere Konzil ähnliche Charakteris-
tika an. Während der annähernd zwei Jahrzehnte hatte sich schon in den Dekre-
ten zur Exilierung des Nestorius und zur Vernichtung seiner Bücher, ja sogar
schon in den Stellungnahmen zur Versöhnung zwischen Cyrill und Johannes von
Antiochien die Wahrnehmung der dem ersten ephesinischen Konzil gestellten
Aufgaben und des von ihm Erreichten zunächst subtil, dann aber zunehmend
deutlich verschoben. Im Rückblick wird sein Anlass zur causa Nestorii, und an
die Stelle der Wahrnehmung von Disput und Spaltung tritt die unzweideutige
Abweisung eben des Nestorius und seiner Irrtümer. In der offiziellen Einberu-
fungs-sacra von 449 wird eine solche Sichtweise zwar allenfalls verschleiert und
erst aus der Ferne wahrnehmbar. In den begleitenden Schrei­ben an bestimmte
Einzelne aus demselben Zeitraum jedoch wird die Nestorianische „Blasphemie“
ganz eindeutig sowohl als Anlass für das Konzil von 431 herausgestellt als auch
als Hintergrund für die gegenwärtige Krise angespielt. Sowohl in der Einladung
des Archimandriten Barsaumas als auch im Schrei­ben, das den designierten Vor-
sitzenden Dioskur von dieser Einladung unterrichtet, ist an Nestorius in diesem
Sinne erinnert und wird eine Parallele zwischen seiner damaligen Aburteilung
mit der bevorstehenden Aufgabe mindestens angedeutet.62 Die Anweisungen
an die kaiserlichen Beamten Elpidius und Eulogius63 sowie den Prokonsul der

62 Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 48 (ACO 2,1,1, 71,22–23 S.), an Bar-
saumas; vgl. Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 47 (ACO 2,1,1, 71,3–4. S.),
an Dioskur, wo jeweils von der Ansteckung einiger Bischöfe mit Nestorius’ Gottlosigkeit und dem
Kampf gegen sie die Rede ist.
63 Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 49 (72,5–9 S.): „Für die schon
zuvor in Ephesus abgehaltene heilige Synode war des gottlosen Nestorius Blasphemie gegen Gott
der Anlass, und deshalb empfing er das verdiente Urteil von den dort zusammengekommenen
heiligen Vätern. Da sich jetzt aber auch wiederum ein Streit gegen den göttlichen Glauben erho-
ben hat, haben wir befohlen, dass diese zweite Synode in Ephesus stattfinden solle, im Bestre-
ben die Wurzel allen Übels abzuschneiden.“ (Τῆς μὲν ἤδη γενομένης πρότερον ἐν Ἐφέσωι ἁγίας
συνόδου ἡ Νεστορίου τοῦ δυσσεβοῦς πρὸς τὸν θεὸν βλασφημία γέγονεν αἰτία καὶ διὰ τοῦτο τὴν
ἀζίαν παρὰ τῶν συνελθόντων ἐκεῖσε ἁγίων πατέρων ἐδέζατο ψῆφον· ἐπειδὴ δὲ καὶ νῦν ἑτέρα
πάλιν ἀμφισβήτησις κατὰ τῆς θείας ἐγήγερται πίστεως, τὴν δευτέραν ταύτην ἐν Ἐφέσωι γενέσθαι
σύνοδον ἐθεσπίσαμεν, πάντηι τοῦ κακοῦ τὴν ῥίζαν ἀποτμηθῆναι σπουδάζοντες). In einem Atem-
zug mit dieser Beschreibung von Anlass und Aufgabe des Konzils wird nochmals das überwöl-
bende Ziel allen kaiserlichen Umgangs mit Religionsfragen, der Schutz des Staates und des all-
gemeinen Wohlergehens erinnert. Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 49
(72,9–12): „[…] damit wir, indem wir die Verwirrung des Dogmas allenthalben austreiben, die
Reinheit des Gebets in den Gedanken [aller] bewahren, und so die Sicherheit des Gemeinwesens
und der menschlichen Güter zustande komme.“ ([…] ἵνα πανταχόθεν τὴν παραχὴν ἐκβαλόντες

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   293

Asia, Proclus,64 sind dann in dieser Hinsicht besonders klar und stellen die Ver-
bindung unumwunden her. Ein weiterer Brief schließlich, der formell Dioskur
zum Vorsitzenden bestellt, erhebt den Vorwurf der Nestorius-Gefolgschaft zumal
gegen Theodoret von Cyrrhus – der vom Konzil ausgeschlossen ist – und seine
Unterstützer.65 So wird der Bogen in der kaiserlichen Konzilsrhetorik zurück
gespannt zum ersten Ephesinum, und zwar zunächst vorranging negativ, indem
die Häresie des Nestorius in Erinnerung gerufen wird. Gleichzeitig ist aber auch
ein positiver Konnex beschrieben, der für die Feststellung des zum Schutze der
Orthodoxie aktuell Geforderten noch wichtiger ist. Hatte der Kaiser schon im ein-
gangs erwähnten Einladungsschreiben seine providentielle Rolle darin gesehen,
dafür Sorge zu tragen, dass der überkommene Glaube geschützt und bestätigt
werde, so ist in den Verlautbarungen, die der Konzilsversammlung unmittelbar
vorangehen, eben dieser bewahrende, konservative Zug der kaiserlichen Reli-
gionspolitik das Entscheidende. Dem Konzil ist vor allem anderen als Aufgabe
gestellt, dass der Glaube von Nizäa zu bewahren sei.66 Er markiert Norm und
Grenze der Rechtgläubigkeit und – das ist das Neue und hier Wichtige – wird in
einem Atemzug mit Ephesus verbunden: Jegliche Hinzufügung oder Wegnahme
„der Darlegung des Glaubens durch die heiligen Väter in Nizäa und später in
Ephesus“ ist mit Strafe bewehrt und schließt die Betroffenen von der freien Rede
(οὐδεμίαν παντελῶς παρρησίαν ἐν τῆι ἁγίαι συνόδωι ἔχειν ἀνεχόμεθα) im Konzil

τοῦ δόγματος καθαρὸν τῆς εὐχῆς φυλάττωμεν ἐπὶ τῶν λογισμῶν τὸ δίκαιον καὶ γένηται τοῦτο
τῆς πολιτείας ἀσφάλεια καὶ τῶν ἀνθρώπίνων καλῶν.)
64 Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 50 (ACO 2,1,1, 73,4–11 Schwartz)
wiederholt wörtlich den entsprechenden Passus im Schrei­ben an Elpidius.
65 Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 52 (74,9–14 S.).
66 Die Wendung, das Konzil solle „die Bewahrung des orthodoxen Glaubens […] beschließen“
(τὴν δὲ ὀρθόδοξον πίστιν […] τυπῶσαι παραφυλαχθῆναι) (Concilium universale Chalcedonense,
Gesta actionis primae 51 [74,4–5 S.]), ist im Zusammenhang mit der geforderten Austreibung der
Nestorius-Anhänger und der „erinnerten“ Mahnung schon im Eutychesprozess, bei Nizäa zu blei-
ben, eindeutig in diesem Sinne zu verstehen. Die Suffizienz des – in Ephesus bekräftigten – Ni-
zänischen Glaubens (Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 51 [73,28–29 S.]:
πεπεισμένοι ἀρκεῖν ἡμῖν τὴν παραδοθεῖσαν παρὰ τῶν ἁγίων πατέρων τῶν ἐν Νικαίαι ὀρθόδοξον
πίστιν, ἣν καὶ ἡ ἁγία σύνοδος ἡ ἐν Ἐφέσωι ἐβεβαίωσεν) hatte demnach Theodosius schon ge-
genüber Flavian angemahnt und damit versucht, sein Verfahren gegen Eutyches anzuhalten.
Ein entsprechendes Schrei­ben, auf das sich Theodosius beruft, ist nicht erhalten. Wie selbst-
verständlich wird sogleich die Abhängigkeit des Reiches von Orthodoxie und Gebet auch hier
betont; Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 51 (74,5–6 S.): ἐπειδήπερ πᾶσα
ἡ ἡμετέρα ἐλπὶς καὶ ἡ τῆς ἡμετέρας βασιλείας ἰσχὺς τῆς εἰς τὸν θεὸν ὀρθοδόξου πίστεως ἤρτηται
καὶ τῶν ὑμετέρων ἁγίων προσευχῶν.

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aus.67 Im Unterschied zu 431 ist also keinesfalls damit zu rechnen, dass jeder
seine Anschauungen frei in Rede und Gegenrede vortragen dürfe.68

6 Nach dem Zweiten Ephesinum:


Das Selbstbild kaiserlicher Religionspolitik im
Rückblick
Die in den zuvor analysierten Anweisungen ausgedrückte oder teilweise auch nur
zur Voraussetzung genommene eigene Präsentation der spezifischen kaiserlichen
Religionspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte kommt klarer noch als in den
Schrei­ben im Zusammenhang mit der Einberufung des Konzils von 449 in Theo-
dosius’ Schrei­ben nach dessen Abschluss, erstellt zur Bestätigung und Inkraft-
setzung seiner Beschlüsse, zum Ausdruck. Ein entsprechendes Dekret rechtfer-
tigt und bestätigt nicht nur die jüngsten Konzilsbeschlüsse, sondern spannt den
Bogen über die gesamte Kontroverse und stellt in narrativer Ausführlichkeit die
im Rückblick gewandelte Wahrnehmung des Konzils von 431 und mit ihr zugleich
ein gereinigtes Selbstbild der kaiserlichen Initiativen in seinem Umfeld vor.
Diese Konstitution zur Inkraftsetzung der Konzilsbeschlüsse wiederholt
abermals sehr klar das schon bekannte und stereotypisch aufgerufene grundle-
gende Selbstverständnis der theodosianischen Administration und ihre Haltung
zur Religionsfrage, ist dann aber vor allem aufschlussreich für eine im Rückblick
erkannte tiefe innere Kohärenz der konkreten kaiserlichen Politik und ihrer zent-
ralen Antriebe. Das Schrei­ben ist nur in syrischer Sprache überliefert, wobei mög-
licherweise einige durch Blattverlust entstandenen Lücken im Text – zumindest
dem Sinn nach – durch ein lateinisch erhaltenes Gesetz gefüllt werden können;69
es hat bisher kaum Beachtung gefunden. Das kaiserliche Gesetz (in der Rubrik

67 Theodosius II. an Dioskur, Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 52


(74,24–26 S.).
68 Siehe oben 280.
69 Acta Syriaca ad Concilium Ephesenum a. 449 (hg. von Johannes Flemming, Akten der Ephe-
sinischen Synode vom Jahre 449. Syrisch. Mit Georg Hoffmanns deutscher Übersetzung und sei-
nen Anmerkungen [AGWG.PH.NF 15,1, Berlin 1917 (= unveränderter Neudruck Göttingen 1970)]).
Siehe zu den syrischen Sammlungen auch F. Millar, The Syriac Acts of the Second Council of
Ephesus 449, in: R. Price/M. Whitby (eds.), Chalcedon in Context. Church Councils 400–700
(TTH Contexts 1), Liverpool 2009, 45–69. Vgl. Concilium universale Chalcedonense, Actio III 106
(ACO 2,3,2, 88,10–89,24 Schwartz).

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   295

der lateinischen Version als lex bezeichnet70) überführt die Konzilsbeschlüsse


ins allgemeine Recht und trifft Maßnahmen zur Sicherung ihrer Autorität und
Geltung.
Dazu skizziert der Text anfangs in einer Art von Präambel nochmals die
Grundsätze des kaiserlichen Handelns in der Frage der Religion, nuanciert sie
aber in signifikanter Weise: Es gilt demnach, bereits früher zum Nutzen der
Gemeinschaft beschlossene Gesetze vor dem Vergessen zu bewahren und der
Vermessenheit der Übertreter zu wehren. Der Kaiser will die nötigen Akte der
„Korrektur“ als Ausfluss seiner Philanthropie verstanden wissen und verzichtet
ausdrücklich auf extreme Strafmaßnahmen. Diese Prinzipien illustriert sodann
eine nachfolgende Schilderung der Geschichte des Konflikts.
Diese „geschichtliche“ Darstellung bietet eine Rekonfiguration der ersten
Phase der nestorianischen Krise und zeigt ein gewandeltes Bild des ersten ephe-
sinischen Konzils. Dieses ist nunmehr klar anti-nestorianisch konstruiert und
hat alle Ambivalenz hinsichtlich der Legitimität einzelner Gruppen und ihrer
Versammlungen und bezüglich des Erreichten hinter sich gelassen. Ja, Konflikt
und Spaltung sind überhaupt verschwunden. Die narratio zeigt das nunmehr
konsolidierte Bild einer geradezu modellhaften Synode, auf dem folgerichtig
auch Theodosius’ jüngste Maßnahmen aufruhen und das seine aktuelle Religi-
onspolitik prägt. Die Notwendigkeit der Bewahrung der bestehenden Religions-
gesetze und das „milde“ Korrigieren vermessener Positionierung entgegen ihrer
Bestimmungen werden im aktuellen Konflikt in der Wendung gegen Flavian von
Konstantinopel und Eusebius von Dorylaeum konkret; durch sie ist das zweite
ephesinische Konzil motiviert. Dieses Grundmotiv färbt aber auch schon – im
Rückblick – die Schilderung der Nestorius-Krise und des ersten ephesinischen
Konzils. Denn Nestorius hatte, so die Darstellung, sich gegen die Religion der
Väter gewandt – zumal gegen das Konzil von Nizäa – und richtete mit seinen
Publikationen Schaden bei den Gläubigen an. Theodosius unterstreicht sein
unverzüg­liches Einschreiten, dem Einhalt zu gebieten. So rasch er handelte, so
bedachtsam und planvoll (l’ ḥwšb’ bzw. l’ dmn šly’); der Gegenstand der Reli-
gion verlangte es, umso mehr als auf ihr Theodosius’ Kaiserwürde aufruht.71 Die
seinerzeitige Einberufung der Synode ist in dieser Perspektive so zu verstehen,
„daß sozusagen aus dem ganzen Reich der Römer, wie sichʼs gebührt, auserle-
sene Ausleger und Lehrer der Gottesfurcht sich nach Ephesus versammeln und in

70 Concilium universale Chalcedonense, Actio III 106 (88,11 S.).


71 Theodosius II., (sog.) Edictum ad Dioscurum (CPG 8938.1[m]), Acta Syriaca ad Concilium
Ephesenum a. 449 11,1 (150,30–32/151,39–42 F./H.). Ob es sich bei diesem Text im formalen Sinne
um ein Edikt handelte, muss offen bleiben.

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einem gottesfürchtigen und gerechten Gerichte die (noch) nicht definierten Auf-
stellungen […] prüfen und untersuchen sollten“.72 Die wesentlichen Merkmale
der Synode waren danach einmal die reichsweite Repräsentation und sodann die
Auswahl der besten Ausleger und Lehrer. Ihre Aufgabe ist die Prüfung und Unter-
suchung der Glaubenssätze. Sie fungieren dabei als Gerichtsinstanz. Die Einbe-
rufung der ersten ephesinischen Synode anhand dieser Kriterien ist damit ein
exaktes Spiegelbild dessen, was die Sacra für die Einberufung der zweiten Synode
gefordert hatte: Danach wünschte Theodosius die Teilnahme solcher Metropoli-
ten und Bischöfe, die „geschmückt sind mit Verstand und in ihrer Lebensweise“
bzw. „die sich vor allen anderen auszeichnen in ihrer Rechtgläubigkeit und für
ihre Kenntnis des untrüglichen und wahren Glaubens und ihre Lehre“.73
Im Sinne der skizzierten theologischen wie gerichtlichen Prüfung hatte denn
auch seinerzeit (in 431) die Synode erstens den überlieferten Glauben bestätigt
und zweitens Nestorius abgesetzt. Aufgrund der Verlesung der Protokolle, so
wird behauptet, dekretierte Theodosius den Ausschluss des Nestorius und, dass
er und seine Anhänger nach Simon Magus als Simonianier zu bezeichnen seien.74
Das dementsprechende Gesetz wurde jedoch erst am 3. August 435 promulgiert75,
also keineswegs unmittelbar nach der kaiserlichen Kenntnisnahme von Verhand-
lungsprotokollen. Die Darstellung schiebt die Zeitachse ineinander, wie man es
ähnlich unter anderem auch in der Geschichtsdarstellung des Sokrates Scholas-
tikus beobachten kann.76 So entsteht der gewünschte Eindruck einer bruchlosen

72 Theodosius II., Edictum ad Dioscurum, Acta Syriaca ad Concilium Ephesenum a. 449 11,1
(150,31–152,1/151,42–153,1 F./H.).
73 Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 24 (ACO 2,1,1, 68,20–22 S.)
[ἐπισκόπους] λόγωι τε καὶ βίωι κεκοσμημένους, ὀρθότητι καὶ τῆς ἀπλανοῦς καὶ ἀληθινῆς πίστεως
εἰδήσει τε καὶ διδασκαλίαι παρὰ πᾶσιν ἐκλάμποντας [sc. μητροπολίτας] […]. Die Notwendigkeit
der Bewährung auch in der Lebensführung ist ein deutliches Echo der in den Schrei­ben vor der
ersten ephesinischen Synode hervorgehobenen Erwartungen an das Charakterbild der Bischöfe
sowie an ihr Ethos im Umgang mit innerkirchlichen Konflikten und im Kontext synodaler Ver-
handlungen.
74 Theodosius II., Edictum ad Dioscurum, Acta Syriaca ad Concilium Ephesenum a. 449 11,1
(152,3–9/153,4–12 F./H.).
75 In verkürzter Form Codex Theodosianus 16,5,66 bzw. Codex Iustinianus 1,5,6; vgl. die ausführ-
lichere Version Concilium universale Ephesenum, Collectio Vaticana 111 (ACO 1,1,3, 68 Schwartz).
Dazu Millar, Greek Roman Empire (wie Anm. 1), 176–177.
76 Mit einer ähnlichen Zusammenziehung der Zeitachse der Konzilsereignisse und ihrer Fol-
gen bietet die annähernd zeitgleiche Darstellung in der Kirchengeschichte des Sokrates eine
interessante Parallele zu solch offizieller kaiserlicher „Erinnerung“. Auch Sokrates erreicht so
den Eindruck eines letztendlich schlüssigen Geschehens; dabei wird das Konzil im Übrigen nur
noch als causa Nestorii wahrgenommen; Sokrates, Historia ecclesiastica 7,34,1–11 (382,20–383,20
H.; für den weiteren Kontext von Nestorius’ Wirken vgl. 7,31,1–34,11 [379,9–383,20 H.]). Vgl. dazu

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   297

und von Anfang bis Ende zielgerichteten kaiserlichen Politik im Fall des Nesto-
rius, in dessen konsequenter sachlicher Verlängerung und in Umsetzung dersel-
ben Prinzipien und als Ausdruck desselben kaiserlichen Selbstverständnisses
der Umgang mit den Problemfällen von Flavian und Euseb durch das zweite
ephesinische Konzil – es ist bezeichnenderweise eben kein „Fall Eutyches“, der
das Konzil veranlasst – liegt. Beide machten sich genau jener Vermessenheit
schuldig, das ebenso fromm wie rechtlich zweifelsfrei Festgestellte erneut in
Frage zu stellen. Sie belebten die Irrtümer des Nestorius wieder und provozierten
Spaltung und Ärgernis in den Kirchen.77 Dies geschieht entgegen der kaiserlichen
Gesetze und droht deren Erfolg, die bestehende Ruhe in den Kirchen, zunichte zu
machen. So ergibt sich die Notwendigkeit, eine neue Reichssynode einzuberufen,
die „Same“ und „Wurzel“ der Häresie auszurotten beauftragt war.78 Auch damit
ist eine Formulierung des Einberufungsdekrets gewollt aufgegriffen. Dort war die
Ausrottung bzw. Entwurzelung der Häresie bereits ausdrücklich gefordert, und
besonders unumwunden hatte Theodosius sie seinen Beamten als Aufgabe für
das Konzil mit auf den Weg gegeben.79
Theodosius äußert denn auch seine Befriedigung darüber, wie das Konzil
dieses tatsächlich erreicht hatte und – in einem Doppelstoß, der wiederum dem
gezeichneten Bild von Ephesus 431 exakt entspricht – einerseits den überliefer-
ten Glauben bekräftigt und andererseits die Exponenten der Häresie abgesetzt
hatte. Genau dies war im Hinblick auf Nestorius und seine Irrtümer – so will uns
die Konstitution glauben machen – bereits im ersten Ephesinum geschehen. Das
Bild beider Synoden ist folglich merklich aneinander angeglichen, und in beiden
Fällen ist mit dem Instrument der Reichssynode das völlig kohärent konzipierte
kaiserliche Anliegen nahtlos umgesetzt und zum Zuge gebracht. Der Nachdruck,
mit dem das Hergebrachte als maßstäblich in all dem herausgestellt ist, wird
nochmals dadurch bekräftigt, dass von den schon skizzierten Beschlüssen dezi-
diert und durch Zitat derjenige Passus hervorgehoben wird, der die völlige Suf-
fizienz des Nizänums und das Verbot, diesem „etwas hinzuzusetzen oder abzu-
mindern“, dekretiert. Dies hatte die Versammlung der Cyrillpartei schon 431 in

T. Graumann, Towards the Reception of the Council of Ephesus (431). Public Sentiment and Early
Theological Responses, in: StPatr 45 (2010), 147–162 (151–154).
77 Theodosius II., Edictum ad Dioscurum, Acta Syriaca ad Concilium Ephesenum a. 449 11,1
(152,8–11/153,12–18 F./H.).
78 Theodosius II., Edictum ad Dioscurum, Acta Syriaca ad Concilium Ephesenum a. 449 11,1
(152,13/153,20 F./H.); vgl. Sacra ad Dioscurum, Concilium universale Chalcedonense, Gesta actio­
nis primae 24 (ACO 2,1,1, 72,12 S.).
79 Kaiserliches Mandat an Elpidius, Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae
49 (72,9 S.): […] πάντηι τοῦ κακοῦ τὴν ῥίζαν ἀποτμηθῆναι σπουδάζοντες […].

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298   Thomas Graumann

der sog. Sitzung vom 22. Juli beschlossen (der später so genannte siebte Kanon
von Ephesus)80 und wurde von Dioskur emphatisch wiederholt und zum Angel-
punkt seiner Strategie zur Absetzung des Flavian gemacht81.
Diese streng ausgelegte Kanonizität von Nizäa klingt aber eben auch bereits –
das ist wichtig für unsere Frage nach der kaiserlichen Politik – in Theodosius’
Gesetz vom Februar 448 an, mit dem er gegen Nestorius und seinen Freund, den
Tyrischen Bischof und ehemaligen Comes Irenaeus, vorging.82 Darin definiert
Theodosius die Unverletzlichkeit des Nizänischen Bekenntnisses zwar nicht
exakt im Stile der genannten Kanonformel, übereignet aber diejenigen Schriften,
die nicht mit Nizäa, Ephesus und Cyrill übereinstimmen, den Flammen und ver-
bietet für alle Zukunft jegliches Lehren und Reden, das dem Glauben von Nizäa
und Ephesus widerspricht.83 Soweit es die Maßstäblichkeit von Nizäa – diejenige
von Ephesus und Cyrill geben ihr eine besondere Akzentuierung – zumal für die
Zukunft betrifft, ist damit in der Sache genau jene weit ausgreifende und verallge-
meinernde Auslegung des ephesinischen Kanons aufgerufen, derer sich Dioskur
im Konzil bedient hatte und das nun im Zitat aus den ephesinischen Akten als kai-
serliches Dekret formuliert ist. Die behauptete Kontinuität der kaiserlichen Sicht
auf die Religionsthematik und seines Handelns zur Bewahrung des Überkomme-
nen ist als normierende Festschreibung Nizänischer Exklusivgeltung (in ephesi-
nisch-cyrillischer Interpretation) insoweit mindestens für den Zeitraum seit 448
durchaus Realität kaiserlicher Politik. Für den Kaiser aber ist die Möglichkeit
noch wichtiger, darüber hinaus eine solche Kontinuität für die gesamte Periode
seit 428 – dem Auftreten des Nestorius – zu postulieren, wie es in der einleiten-
den Geschichtserinnerung der Konstitution geschieht. In der kaiserlichen Selbst-
wahrnehmung ist die religionspolitische Aufgabe damit zuerst durch die Bewah-

80 Vgl. sogenannte Sitzung vom 22. Juli, Concilium universale Ephesenum, Collectio Athenien­
sis 77 (ACO 1,1,7, 105–106 Schwartz). Zur Problematik der Sitzung und ihrer Akten vgl. zuletzt
T. Graumann, Protokollierung, Aktenerstellung und Dokumentation am Beispiel des Konzils von
Ephesus (431), in: AHC 42 (2010), 7–34 (26–32).
81 Nach Verlesung der entsprechenden Aktenstücke auf dem zweiten ephesinischen Konzil
(speziell des fraglichen Beschlusses: Concilium universale Chalcedonense, Gesta actionis primae
943 [ACO 2,1,1, 189–190 Schwartz] wird Flavian der Verletzung dieses „Kanons“ für schuldig be-
funden und abgesetzt: Concilium Universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 962 (ACO 2,1,1,
191 Schwartz).
82 Das Gesetz ist rekonstruiert bei Millar (wie Anm. 1), 184–187. Für das Schicksal des Irenaeus
in diesen Jahren und die enge Verbindung zu dem des Nestorius vgl. auch G. A. Bevan, Theodoret
of Cyrrhus and Syrian Episcopal Elections, in: J. Leemans (ed.), Episcopal Elections in Late An-
tiquity, Berlin 2011, 61–87 (78–84). Vgl. zu seiner Person ferner Art. Irenaeus 2, PLRE 2, 624–625.
83 Concilium Universale Ephesenum, Collectio Vaticana 66 (ACO 1,1,2, 65–66 S.). Vgl. Millar (wie
Anm. 1), 186.

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   299

rung des Überkommenen gekennzeichnet, sei es bestehender Gesetze, sei es des


uranfänglichen Glaubens selbst, ausgedrückt in Nizäa – dann aber eben auch
unter theodosianischer Schutzherrschaft: in Ephesus. Die Religionspolitik wird
gerade nicht als geschmeidige Akkommodation, geschweige denn als Richtungs-
wechsel interpretiert, sondern als geradliniges Fortschreiben, ja recht eigentlich
als bloßes Wiederholen der zentralen Grundsätze präsentiert. Ob nun Theodo-
sius persönlich oder sein Beraterkreis maßgeblich verantwortlich zeichnen für
dieses Selbstbild theodosianischer Kirchenpolitik, kann dahingestellt bleiben.
Es ist darum keineswegs nötig, Theodosius und dunklen Kräften hinter dem
Thron einen radikalen Kurswechsel anzulasten. Die Vorstellung der Bewah-
rung von Nizäa war plastisch genug, um verschiedene Akzentuierungen dieser
Grundentscheidung zu sanktionieren und konkretes kaiserliches Handeln im
Einzelnen als Ausdruck derselben Intention nach innen und außen zu erklären.
Bewahrung des Nizänischen Glaubens konnte eine mindestens formal handhab-
bare Norm und Zielvorstellung bieten, vor der kaiserliche Religionspolitik als
kohärent und konsistent präsentiert werden mochte. Dass dieser Tenor nicht im
Einklang mit kirchlichen und gesellschaftlichen Sensibilitäten und ohne Aus-
sicht auf Erfolge gewesen wäre, wird man jedenfalls sicher nicht sagen dürfen,
wie nur wenig später allein schon das Bemühen Kaiser Marcians illustriert, als
neuer Konstantin eine neue Nizänische Synode einzuberufen.
In der mit dem Thema der Bewahrung von Nizäa einhergehenden skizzier-
ten allmählichen Verwandlung dessen, wofür das erste ephesinische Konzil im
Rückblick und in kollektiver Erinnerung einstehen mochte, ist vielleicht auch
das wesentliche Movens jener Verschiebung der tatsächlichen Interpretation von
Rechtgläubigkeit – von den noch beim Abschluss des Konzils von 431 geäußerten
Sympathien für antiochenisches Denken hin zu einer in Ephesus sanktionier-
ten radikalen cyrillischen Interpretation nach dem Muster des Dioskur (und des
Eutyches) – und einer auf sie gerichteten Politik zu finden, die Theodosius darum
als weniger dramatisch empfunden haben mag und die er sich vielleicht in echter
Überzeugung als fundamentale Kontinuität der Bewahrung des Überkommenen
zurechtlegen konnte, auch wenn sie aus theologiegeschichtlicher Rücksicht im
Abstand einen Richtungswechsel darstellt. Aber das muss hypothetisch bleiben.
Ein zynisches machtpolitisches Umschwenken innerhalb weniger Monate im
Herbst 448 und Frühjahr 449 – vom angeblichen Versuch im Eutychesprozess,
ein antiochenisches Bekenntnis festzuschreiben, hin zur kaiserlichen Sanktio-
nierung einer „miaphysitischen“ Interpretation84 – scheint mir hingegen keine
befriedigende Antwort.

84 So die Hypothese von Bevan/Gray (wie Anm. 51), 617–657.

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300   Thomas Graumann

7 Praktische Maßnahmen zur Sicherung und


Stärkung der Konzilsautorität
Die kaiserliche Konstitution zeigt über das ideologische Selbstbild kontinuier­
licher kaiserlicher Religionspolitik hinaus ein praktisches Interesse an den Not-
wendigkeiten ihrer Durchsetzung, das abschließend noch kurz anzusprechen
ist. Denn es ist zugleich Ausdruck einer, wenn auch im Kern unerschütterten,
so doch in der praktischen Gestaltung modifizierten Einschätzung des Zusam-
menspiels synodaler Entscheidungen und kaiserlichen Handelns angesichts
kirchlicher Konflikte um die Orthodoxie. Dies schließt eine faktische Neubewer-
tung der Leistungskraft von Synoden ein; theoretisch reflektiert ist sie aber nicht.
Das Vertrauen in die Effektivität synodaler Entscheidungen zur Konfliktbewälti-
gung – sofern nur Störungen von außen ferngehalten werden –, das wir aus den
Schrei­ben zum ersten Ephesinischen Konzil herausgelesen hatten, ist keineswegs
in Frage gestellt, doch erscheint es weniger solide als noch zwanzig Jahre zuvor.
Der „Erfolg“ der Synode bedarf vielmehr der zusätzlichen Stütze durch kaiserlich
initiiertes Verwaltungshandeln, das so in der Abwägung mit kirchlichen Selbst-
heilungskräften ein höheres Gewicht erhält als noch zuvor. Theodosius jedenfalls
veranlasst mit demselben Schrei­ben nun unmittelbar die weitere administrative
Absicherung des Erreichten. Nicht nur wird das Konzilsergebnis – wie schon tra-
ditionell – zum Reichsgesetz. Darüber hinaus fordert Theodosius den Adressaten
Dioskur auf, durch Rundschreiben an die Metropoliten alle Bischöfe zur Unter-
zeichnung der Entscheidungen aufzufordern und diese dem Kaiser vorlegen zu
lassen. Das Rundschreiben ist ferner öffentlich in den Kirchen zu verlesen.85 Es
soll das Gesetz selbst beinhalten – die Anweisung ist insoweit vergleichbar mit
solchen, die regelmäßig an Reichsbeamte zur Publikation von kaiserlichen Kon-
stitutionen ergehen – sowie eine inhaltlich unausgeführt bleibende Glaubenser-
klärung (bei der es sich aber wegen des unmittelbar anschließenden Hinweises
auf die Alleingeltung des Nizänums nur um dieses handeln kann – seine „autori-
tative Interpretation“ auf den genannten Synoden womöglich eingeschlossen86)
und die Beschlüsse beider ephesinischer Synoden zur Kanonisierung des Nizä-

85 Theodosius II., Edictum ad Dioscurum, Acta Syriaca ad Concilium Ephesenum a. 449 11,1
(152,31–32/153,46–47 F./H.).
86 Man könnte sich also beispielsweise eine Zusammenstellung von Nizänischem Bekenntnis,
Beschluss des Cyrillkonzils zu seiner Alleingeltung, den in Ephesus sanktionierten Brief(en) Cy-
rills und vielleicht der Vätertestimonien vorstellen. Es entstünde eine autoritative Dokumenten-
sammlung, die formal schon auf das Chalcedonensische Dekret voraus weist.

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   301

nischen Glaubens.87 Hierin ist zweifelsfrei der wesentliche theologische Ertrag


der Synoden erkannt. Schließlich wird die schon zuvor gesetzlich dekretierte Ver-
nichtung der Bücher des Nestorius abermals eingeschärft.88 Die syrischen Akten
enthalten in Bruchstücken das entsprechende Zirkularschreiben des Dioskur89
mitsamt dem Entwurf derjenigen Formel90, mit der die Bischöfe ihre Zustimmung
schriftlich erklären sollten. Ein aufwendiges Verfahren schriftlicher Erklärungen
sichert und verstärkt damit den Ertrag der Synode. In einer Neukombination
der traditionellen Instrumente von synodal-kirchlichen Zirkularschreiben und
kaiserlich-administrativer Aufforderung zur öffentlichen Gesetzespromulgation
wird ein Verwaltungsvorgang kreiert, der das Zusammenwirkung von Kaiser und
Synode nochmals emphatisch demonstriert und seine Leistungsfähigkeit stei-
gern soll. Er weitet die dokumentierte und dokumentierbare Unterstützung der in
der Synode getroffenen Entscheidungen über den Kreis der Anwesenden hinaus
aus und macht den von Synode und Kaiser angezielten universalen Konsens in
der Stimme jedes einzelnen Bischofs nicht nur innerkirchlich, sondern auch für
die Reichsverwaltung aktenkundig. Dass zugleich eventuelle Abweichler unmit-
telbar identifizierbar sind, ist ein sicher nicht unerwünschter Nebeneffekt.

8 Schluss
Eine vollständige Durchleuchtung der von Theodosius und seinen Beamten
getroffenen Maßnahmen über den Ablauf der zwanzigjährigen Kontroverse
hinweg war hier weder möglich noch beabsichtigt. Die stattdessen vorgetragene
Interpretation einiger Kaiserschreiben aus dem Umfeld beider Konzilien bein-
haltet den Appell, die darin vorgetragenen Anschauungen als verbale Selbstin-
szenierung kaiserlicher Herrschaft und Verantwortung gegenüber der Kirche
ernst zu nehmen. Sie stellt eine Parallele zu den angesprochenen Beispielen

87 Theodosius II., Edictum ad Dioscurum, Acta Syriaca ad Concilium Ephesenum a. 449 11,1
(152,24–28/153,35–41 F./H.).
88 Theodosius II., Edictum ad Dioscurum, Acta Syriaca ad Concilium Ephesenum a. 449 11,1
(152,33–154,5/153,49–155,7 F./H.).
89 Dioskur, Epistula encyclica [CPG 8938.7(n)], Acta Syriaca ad Concilium Ephesenum a. 449 11,3
(154,15–165,7/155,20–157,11 Flemming/Hoffmann). Der erhaltene Passus bezieht sich auf die Ver-
nichtung der Bücher des Nestorius und die Bestimmungen hinsichtlich seiner Anhänger, die
Kanonisierung des Nizänischen Glaubens in beiden ephesinischen Synoden sowie auf das Ver-
fahren der Einholung und Übersendung bischöflicher Zustimmungserklärungen.
90 Dioskur, Epistula encyclica, Acta Syriaca ad Concilium Ephesenum a. 449 11,3 (156,8–13/157,13–
16 F./H.).

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302   Thomas Graumann

zeremonieller Selbstinszenierung und symbolischen Handelns, etwa in der


Gestalt städtischer Prozessionen, dar. In beiden Fällen muss eine performative
Dimension als entscheidend herausgestellt werden. Kaiserliche Kanzleirhetorik
begibt sich dabei – wie auch sein symbolgeladenes öffentliches Auftreten – in ein
dialogisches Verhältnis mit der Bevölkerung bzw. den Adressaten insoweit, als
die Selbstdarstellung – gleich ob verbal oder agierend – für ihr Gelingen darauf
angewiesen ist, Resonanzen mit dem kulturellen Wertesystemen der Adressaten
anzusprechen und zu erzeugen. Dies gilt in spezifischer Ausformung für die kai-
serliche Kommunikation mit kirchlichen Akteuren. Der ständige Hinweis etwa
auf die kaiserliche Verantwortung für die Orthodoxie kann nur fruchten, wenn
dieses Verständnis des Kaiseramtes von den kirchlichen Adressaten im Prinzip
geteilt wird. Gerade darum kann es sich nicht autokratisch über kirchliches
Selbstbewusstsein hinwegsetzen, sondern muss deren beanspruchtes Eigenrecht
theologisch-sachlicher Entscheidungsfindung respektieren. Der Freiraum, den
Theodosius den Bischöfen ausdrücklich belässt, bzw. seine relative Zurückhal-
tung gegenüber der angenommenen internen Logik synodaler Formen ist so nicht
Zeichen persönlicher Herrschaftsschwäche oder strategischen Ungeschicks,
sondern verdankt sich der Einsicht in die notwendige Brechung imperialer Macht
am bischöflichen Definitionsmonopol der Glaubensinhalte. In dieser Perspektive
ist damit aber gerade kein Konflikt unterschiedlicher Herrschaftssphären und
-ansprüche angezeigt, sondern wird ihre Abwägung innerhalb eines von beiden
geteilten religiös-ideologischen Wertesystems ermöglicht. Dabei setzt sich die auf
solcher kaiserlichen Selbstbesinnung aufruhende Religionspolitik unausweich-
lich der Gefahr des Scheiterns aus. Genauso wie die städtischen Demutsprozes-
sionen am Volkszorn wirkungslos abprallen konnten, zerschellt das kaiserliche
Bedürfnis nach Darstellung kirchlicher Einheit im ersten ephesinischen Konzil
an der persönlichen wie theologischen Verhärtung kirchlicher Spaltungen.
Das im Kontrast merklich zupackendere Agieren in der Organisation des
zweiten ephesinischen Konzils widerspricht dem Gesagten nur scheinbar. Der
fundamentale Respekt vor dem Eigenrecht synodaler Entscheidungsfindung im
Innern bleibt unangetastet. Wohl aber sind die Maßnahmen zur äußeren Gestal-
tung des Konzils so angelegt, dass dem gewünschten Ergebnis der Boden bereitet
und vorhersehbare Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Aber es ist das
konsequente Handeln des Dioskur, der diese Umstände zu nutzen weiß, dem sich
der in Vergleich zum ersten Ephesinum eindeutige und unangefochtene Konzils-
abschluss verdankt, nicht direktes kaiserliches Eingreifen in die Abläufe; es bleibt
bei der formalen Autarkie der Synode. So liefert Ephesus II die Demonstration
totaler kirchlicher Einheit in der Form der Ausschaltung jeglichen Widerspruchs;
sie ist um einen hohen Preis erkauft. Zunächst aber gelingt ihr sowohl die Bestä-
tigung des „traditionellen“ Konzepts der Orthodoxie als auch die kirchenpoli-

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 Kaiserliche Selbstdarstellung und kirchenpolitisches Handeln   303

tische Ausschaltung von möglichen Sammelpunkten des Widerstands. Die von


der kaiserlichen Administration zusätzlich zu der konventionellen Überführung
von Synodalbeschlüssen in imperiale Gesetzgebung in Gang gesetzte Prozedur
der Sammlung von Unterschriften mit selbstverpflichtenden Erklärungen der
Bischöfe hat, so betrachtet, die Aussicht, als effektive administrative Absiche-
rung wirksam zu werden.
Dass Ephesus II in seiner Aufgabenstellung – und in seinem „Erfolg“ – aber
gerade keinen Bruch mit der früheren kaiserlichen Religionspolitik darstellt, wird
im Zuge dieser konkreten Aktivitäten wiederum begleitend im Stile rhetorischer
Selbstbeschreibung zu vermitteln gesucht. Das von uns als dialogisch interpre-
tierte Moment kaiserlicher Selbstinszenierung mit der beabsichtigen gestaltenden
Einwirkung auf das herrschende Geschichtsbild und die kollektive Erinnerung
erklingt als ein deutliches Echo zu den sich ausformenden Wahrnehmungen der
jüngeren Konfliktgeschichte in einer weiteren Öffentlichkeit. Die rückblickende
Darstellung der früheren Phase des Konflikts erlaubt es dem Kaiser, einerseits die
innere Kohärenz seines Handelns und seiner Anschauungen nachträglich „deut-
licher“ zu erkennen bzw. allererst zu finden. Dies geschieht aber wiederum im
erforderlichen Zusammenklang mit den Wahrnehmungen weiterer gesellschaft-
licher und kirchlicher Kreise. Zaghafte Ansätze, das erste Ephesinum zur erfolg-
reichen Reichssynode mit klarer antinestorianischer Zielsetzung umzuwerten,
finden sich schon im Umfeld der Versöhnung zwischen Johannes von Antiochien
und Cyrill von Alexandrien.
Der Zusammenklang zwischen kaiserlicher Geschichtsbildkonstruktion und
kollektiver Erinnerung ist dann aber vor allem anschaulich in einem erstaun-
lich ähnlichen Teleskopieren der Zeitachse von Konzilsentscheidungen und
antinestorianischer Gesetzgebung in der Geschichtsdarstellung des Sokrates
Scholasticus. Sie geht einher mit der Propagierung einer Perspektive, wonach
die Synode in klarer sachlicher und thematischer Fokussierung auf die Problem-
stellung einer causa Nestorii reagiert. Auch hierin finden Sokrates’ Darstellung,
hinter der man die Wahrnehmung breiterer Konstantinopler Führungsschich-
ten vermuten darf91, und kaiserliche Selbstdarstellung harmonisch zueinander.
Solche Zusammenklänge geben der rhetorischen Selbstdarstellung kaiserlicher
Religionspolitik Aussicht auf Überzeugungskraft. Dass Theodosius nicht bereit
war, die nach dem zweiten Ephesinum gewonnene „Einsicht“ in die Stringenz
und Plausibilität seiner Maßnahmen zur Bewahrung des Überkommenen auf-

91 Vgl. B. Bäbler/H.-G. Nesselrath (Hgg.), Die Welt des Sokrates von Konstantinopel. Studien zu
Politik, Religion und Kultur im späten 4. und frühen 5. Jh. n. Chr., FS C. Schäublin, München
2001.

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304   Thomas Graumann

grund römischer Proteste einfach umzustoßen, wird so womöglich nachvollzieh-


bar. Genauso wird man gerade die Selbstbeschreibung des eigenen Amtes in reli-
giösen Kategorien, auf der sein Handeln aufruht, und das sich ihm im Umfeld des
zweiten Ephesinums spezifisch als ein Wächteramt zur Bewahrung des überkom-
menen Glaubens erschließt, nicht als bloße inhaltsleere Rhetorik abtun dürfen.
Mindestens in dieser Hinsicht bleibt das Theodosius traditionell zugeschriebene
Bild vom pius princeps – gereinigt von seinen Konnotationen der Unfähigkeit und
Ineffektivität des Herrschens – eine notwendige Herausforderung und kritische
Anfrage an die (kirchen-)historische Interpretation.

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Volker Henning Drecoll
Leo an Pulcheria
1
In verschiedenen Briefsammlungen von Leo dem Großen sowie in Sammlungen
zum Christologischen Streit ist ein Brief Leos an die Kaiserin Pulcheria erhalten,
datiert auf die Iden des Juni im Jahr, als Asturius und Protogenes das Konsulamt
bekleideten, also den 13. Juni 449.1 Dieser Brief ist der erste einer ganzen Reihe
von Briefen Leos an Pulcheria. Auffällig ist nun, dass dieser Brief in zwei Versio-
nen erhalten ist, gezählt als Epistula 30 und Epistula 31 in der Patrologia Latina.2
Dieser Band von 1881 enthält die durch Petrus und Hieronymus Ballerini emen-
dierte und erweiterte Quesnell-Edition3 der Leowerke. Erneut beschäftigt hat
sich mit den entsprechenden Briefen Eduard Schwartz im Zusammenhang der
Edition der Akten von Chalkedon, wobei er in der Edition der Collectio Grima­
nica auch erneut auf die beiden Versionen des genannten Leobriefes eingeht.4 Die
Briefe werden bei Schwartz als Aktenstücke 8 (Kurzversion) und 11 (Langversion)

1 Vgl. O. Seeck, Regesten der Kaiser und Päpste für die Jahre 311 bis 476 n. Chr., Stuttgart 1919,
381–382.
2 Sancti Leonis Magni Romani Pontificis Opera omnia post Paschasii Quesnelli recensionem ad
complures et praestantissimos mss. codices ab illo non consultos exacta, emendata, et ineditis
aucta, praefationibus, admonitionibus et annotationibus illustrata curantibus Petro et Hierony-
mo fratribus Balleriniis presbyteris Veronensibus, accedunt Petri Thomae Cacciari exercitationes
in universa opera S. Leonis Magni, accurante et denuo recognoscente J.-P. Migne, Tomus primus
(PL 54), Paris 1881.
3 Sancti Leonis Magni Papae Primi Opera omnia nunc primum epistolis XXX tribusque, de gratia
Christi opusculis auctiora, secundum exactam annorum seriem accurate ordinata, a suppositiis,
interpolationibus, innumerisque mendis expurgata, appendicibus, dissertationibus, notis, ob-
servationibusque illustrata, accedunt S. Hilarii Arelatensis episcopi opuscula, vita et apologia,
una prodit e tenebris genuinus codex canonum et constitutorum sedis apostolicae, Paris 1675
[gedrucktes Exemplar nachgewiesen für die UB der LMU München; permalink: http://gateway-
bayern.de/BV010098337]; editio secunda, nonnullis aucta, emendata, et indicibus locupleta,
tomus I, Paris 1700; Digitalisat der Ausgabe von 1700 vorhanden in der Bayerischen Staatsbi-
bliothek [http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10634960_00006.
html; letztes Zugriffsdatum: 20. Oktober 2016]; hiernach wird zitiert; die an den zweiten Band
angehängten Dissertationes Quesnells wurden 1676 bereits auf den Index gesetzt, vgl. H. Reuch-
lin, Geschichte von Port-Royal. Der Kampf des reformierten und des jesuitischen Katholicismus
unter Louis XIII und XIV, Bd. 2, Hamburg 1844, 795.
4 Concilium Universale Chalcedonense. Leonis Papae I. epistolarum collectiones, hg. v. Eduard
Schwartz (ACO 2,4), Berlin 1932, XXI–XXIV.

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306   Volker Henning Drecoll

gezählt. Wenig später erschien die Edition der Leobriefe von Silva-Tarouca, die
anstelle der Collectio Grimanica die Collectio Ratisbonensis zugrundelegt und die
Briefe unter der Nummer 4a (Kurzversion) und 4b (Langversion) enthält.5
Beide Versionen sind in Latein erhalten, nur Epistula 30 zusätzlich auf
Griechisch. Epistula 30 ist deutlich kürzer als Epistula 31 und wird daher hier
als Kurzversion bezeichnet, Epistula 31 dementsprechend als Langversion. Die
Verhältnisbestimmung beider Briefe zueinander ist schwierig, weswegen die
Ballerini-Brüder eine längere Admonitio voranschicken,6 in der sie sich insbeson-
dere mit Quesnells Deutung des Befundes auseinandersetzen. Quesnell hatte in
seiner ersten Ausgabe von 1675 die Vermutung angestellt, dass die Langversion
eine um einige Zusätze vermehrte Abschrift der Kurzversion sei, die an Pulche-
ria geschickt worden war (wie aus dem nächsten Brief, in der Ballerini-Ausgabe
bei Migne als Epistula 45 gezählt, hervorgehe). Demgegenüber nahm er in der
zweiten Ausgabe von 1700 an, dass die Langversion Ende Mai verschickt worden,
die zweite Ausgabe dann im Juni durch die dann abgesandten Legaten überbracht
worden war. Demgegenüber vertreten die Ballerini-Brüder die Meinung, dass die
Langversion eine von Leo parallel zu der Kurzversion entworfene Fassung ist, die
also auch auf den Juni 449 datiert und deren Zweck die päpstliche Propaganda in
Italien gewesen sei. Ähnlich plädiert später Silva-Tarouca dafür, dass die Lang-
version eine nachträgliche Erweiterung ist, die aber tatsächlich im Sommer 449
verschickt worden sei.7 Eduard Schwartz hat dem die noch weitergehende These
an die Seite gestellt, dass die Kurzversion keineswegs von Leo stammt, sondern
von einem unbekannten, aus dem Okzident stammenden Fälscher in Konstanti-

5 S. Leonis Magni Epistulae contra Eutychis haeresim 1. Epistulae, quae Chalcedonensi concilio
praemittuntur (aa. 449–451), ad codicum fidem recensuit C. [= Carlos da] Silva-Tarouca (TD.T 15),
Rom 1934, 6–13. Zu einem Vergleich der Edition mit Schwartz vgl. Herbert Arens, Die christologi-
sche Sprache Leos des Großen. Analyse des Tomus an den Patriarchen Flavian (FThSt 122), Frei-
burg 1979, 42–51. Der Vorteil der Collectio Grimanica besteht darin, dass sie den umfangreichsten
Bestand der Leobriefe in einem antiken Sammlungsprinzip enthält. Silva-Tarouca möchte an
sich hinter das Sammlungsprinzip zurückgehen. Ob durch die Bevorzugung der Collectio Ratis­
bonensis aber tatsächlich der Text erreicht wird, der näher an Leo heranreicht, muss bis zur wei-
teren Aufarbeitung aller Sammlungen offen bleiben. Im Folgenden wird die Schwartz-Ausgabe
benutzt, doch werden Abweichungen von Silva-Tarouca jeweils notiert.
6 Ballerini, Admonitio, in: PL 54 (wie Anm. 3), 783–786.
7 C. da Silva-Tarouca, Nuovi studi sulle antiche lettere dei Papi, Rom 1932, 97–98 (das Buch ist
ein Abdruck der Artikelserie in Gr. 12 [1931], 3–56.349–425.547–598). Für eine schlichte Fälschung
gilt Epistula 31 bei A. Wille, Bischof Julian von Kios, der Nunzius Leos des Großen in Konstan-
tinopel, Kempten 1910, 20–21. Ohne Auskunft bleibt die knappe, recht allgemein gehaltene
Darstellung bei C. Angelidi, Pulcheria. La castità al Potere (c. 399–c. 455) (Donne d’Oriente e
d’Occidente 5), Mailand 1998.

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 Leo an Pulcheria   307

nopel, der die Langversion abbreviert und anschließend in ziemlich krudes Grie-
chisch übersetzt habe. Diese verschiedenen Lösungsvorschläge sollen im Folgen-
den erneut erwogen werden.

2
Zunächst zur Überlieferungssituation des lateinischen Briefes in den Sammlun-
gen8:
Leo, Epistula 30 = Collectio Grimanica 8 (Kurzversion) = 4a Silva-Tarouca
Collectio Vaticana rerum Chalcedonensium (17 Ballerini, 12 Schwartz)9
Collectio Ratisbonensis (München, Clm 14540) (19 Ballerini, 14 Schwartz)10
Collectio Pseudoisidoriana (12 Ballerini, 15 Schwartz), bezeugt besonders in
Vaticanus latinus 134011
Collectio (22 Ballerini) = Codex Venezia S. Marco 79

Leo, Epistula 31 = Collectio Grimanica 11 (Langversion) = 4b Silva-Tarouca


Collectio 2 = Corbeiensis
Collectio Quesnelliana (5 Ballerini, 1 Schwartz)12
Collectio Pseudoisidoriana-Hispana (11 Ballerini, ohne Zählung Schwartz) = 
Vaticano, Ottobonianus latinus 93 und Vaticanus latinus 3791 (enthalten
zusätzliche Leo-Briefe13)
Collectio Pseudoisidoriana (12 Ballerini, 15 Schwartz): siehe oben bei Epistula
30

8 Einige dieser Sammlungen dürften auf die Bemühungen Leos selbst zurückgehen, doch ist
keine der im Folgenden aufgeführten Sammlungen direkt auf die Zeit Leos zurückzuführen,
vgl. D. Wyrwa, Drei Etappen der Rezeptionsgeschichte des Konzils von Chalkedon im Westen,
in: J. von Oort/J. Roldanus (Hgg.), Chalkedon. Geschichte und Aktualität. Studien zur Rezeption
der christologischen Formel von Chalkedon (Studien der Patristischen Arbeitsgemeinschaft 4),
Leuven 1997, 147–189 (155–156).
9 Vgl. Schwartz, Praefatio ACO 2,4 (wie Anm. 4), XVI–XX.
10 Vgl. Schwartz, Praefatio ACO 2,4 (wie Anm. 4), XXV–XXX.
11 Vgl. Schwartz, Praefatio ACO 2,4 (wie Anm. 4), XXXII–XXXV; vgl. Ballerini, Praefatio PL 54
(wie Anm. 3), 562–563; G. Günther, Prolegomena, in: Epistulae Imperatorum Pontificum aliorum
inde ab a. CCCLXVII usque ad a. DLIII datae. Avellana quae dicitur collectio, recensuit commen-
tario critico instruxit, indices adiecit Otto Günther (CSEL 35/1), Wien 1895, I–LXXXIX (LXIII).
12 Vgl. Schwartz, Praefatio ACO 2,4 (wie Anm. 4), I–IV.
13 Vgl. Schwartz, Praefatio ACO 2,4 (wie Anm. 4), XXX–XXXII; vgl. Ballerini, Praefatio PL 54 (wie
Anm. 3), 539; Günther, Prolegomena CSEL 35,1 (wie Anm. 11), LXIII.

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308   Volker Henning Drecoll

Collectio 13 = Firenze S. Marco 182


Collectio Grimanica (18 Ballerini, 13 Schwartz) = Paris, Bibl. Mazarin 164514
Collectio 20 = Ms. 20 S. Crucis in Jerusalem
Collectio 21 = veränderte Reihenfolge von collectio 11
Collectio 22 = Codex Venezia S. Marco 79
Collectio 23 = Vaticanus Ottoboniensis 297
Collectio 24 = Vaticanus latinus 544, Vaticanus Regius latinus 139, Firenze Lau­
rentiana 14, Pluteo 21
Exemplum Sichardi
Vaticanus Regius latinus 295

Aus der Überlieferung ergibt sich, dass die Langversion wesentlich häufiger über-
liefert ist als die Kurzversion, dass es Überlieferungen gibt, die beide Versionen
bieten und dass die Kurzversion in den Sammlungen steht, die das Konzil von
Chalkedon dokumentieren. Letzteres passt zu der Tatsache, dass nur die Kurz-
version auch auf Griechisch überliefert ist. Ein Zusammenhang der Langversion
mit den griechischen Akten des Konzils von Chalkedon ist aufgrund der Überlie-
ferung nicht herstellbar.
Der Brief gehört, wie sich aus dem Rückblick in Leo, Epistula 45 (Collectio
Grimanica 23; 13 Silva-Tarouca) ergibt, in den Kontext der ersten päpstlichen
Gesandtschaft in den Osten im Eutychianischen Streit, die auf dem Konzil von
Ephesus 449 zusammen mit Flavian unterging. Das Konzil wurde per Dekret am
30. März 449 einberufen, Epistula 30/31 datiert auf den 13. Juni 449. Das Konzil
tagte am 8.–22. August, am 22. August floh der römische Diakon Hilarus nach
Rom zurück, nachdem er auf dem von Leo später als latrocinium bezeichneten
Konzil erfolglos sein contradicitur in die Runde geworfen hatte.15 Der mit ihm
entsandte Bischof Julius von Puteoli blieb derzeit wohl in Konstantinopel, sein
Schicksal ist merkwürdigerweise unbekannt. Vielleicht starb er oder wurde mit
Flavian ins Exil geschickt, darüber fehlen jegliche Nachrichten. Das ist inso-
fern von besonderem Interesse, als wir über das Verhalten bzw. die Passivität
des päpstlichen Apokrisiars, Julian von Kos, im Jahr 449 ebenso wenig wissen.16
Julius von Puteoli könnte natürlich auch schlicht in Konstantinopel auf weitere
Instruktionen gewartet haben, doch ist das ebenso wenig belegbar. Das Schwei-

14 Vgl. Schwartz, Praefatio ACO 2,4 (wie Anm. 4), XXIV–XXV.


15 Gesta Ephesi 964 = Concilium Universale Chalcedonense, Gesta actionis primae 964 (ACO 2,1,1,
191,30–31 Schwartz).
16 Vgl. dazu die Überlegungen von Wille (wie Anm. 7), 47—51. Die traditionelle Angabe des Bi-
schofssitzes Kos ist u.  a. von Wille, 6—8, bezweifelt worden, der sich für Kios ausspricht.

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 Leo an Pulcheria   309

gen der Quellen könnte vor allem ein Hinweis darauf sein, dass die Vertreter des
römischen Stuhls in Konstantinopel im Sommer 449 massiv kaltgestellt wurden.
Mit Leo, Epistula 45 kommt eine zweite päpstliche Gesandtschaft nach Kons-
tantinopel.17 Dieser Brief datiert auf den 13. Oktober 449. Im November 449 wird
Anatolius zum Nachfolger des ins Exil verbannten Flavian ernannt. Im Gegensatz
zu der dritten päpstlichen Gesandtschaft im Eutychianischen Streit im Jahr 450,
die noch vor dem Tode Theodosius’ II. (28. Juli 450) auf den Weg gebracht wurde
(am 16. Juli 450), war diese erste päpstliche Gesandtschaft ein Schlag ins Kontor.
Trotzdem war der bereits 449 etablierte Kontakt zu Pulcheria wichtig, denn sie
übernahm im August 450 das Heft des Handelns,18 entmachtete Chrysaphius und
stellte (dann schon zusammen mit Markian) sicher, dass bei der Neuverhandlung
der Eutychesfrage auch die Position Leos berücksichtigt wurde.19 Es lässt sich
fragen, ob die Kontaktaufnahme zu Pulcheria im Jahr 449 dies bereits vorbe-
reitet hat.

3
Für den Vergleich von Kurz- und Langversion ist zunächst festzuhalten, dass die
griechische Version20 sich als nachträgliche und recht stümperhafte Übersetzung
der lateinischen Kurzversion zu erkennen gibt. Sie kann also im Hinblick auf den
Vergleich der beiden lateinischen Versionen außen vor bleiben.
Ein detaillierter Textvergleich von Kurz- und Langversion bringt nun zu Tage,
dass die Kurzversion bis auf wenige Zeilen vollständig aus der Langversion ent-
nommen ist.21 Im Folgenden soll dabei die Hypothese plausibilisiert werden,
dass die Kurzversion eine gekürzte Fassung der Langversion ist, die historisch in
das Jahr 449 eingeordnet werden kann und über deren Intention und Profil noch

17 Vgl. den Überblick bei Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche 1. Von der
Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg 1979, 736—737.
18 Zu den historiographischen Traditionen, die die Machtübernahme durch Markian und Pul-
cherias Rolle hierbei darstellen, vgl. R. W. Burgess, The Accession of Marcian in the Light of Chal-
cedonian Apologetic and Monophysite Polemic, in: ByZ 86/87 (1993/1994), 47–68 (58), der die
Rolle Aspars betont und demgegenüber die Bedeutung Pulcherias bei der Wahl Marcians für
eher gering hält.
19 Vgl. P. Goubert, Le rôle de Sainte Pulchérie et de l’eunuque Chrysaphios, in: A. Grillmeier/
H. Bacht (Hgg.), Das Konzil von Chalkedon. Geschichte und Gegenwart 1: Der Glaube von Chal-
kedon, Würzburg 1951, 303–321 (314–318).
20 Leo, Epistula 30 = griech.: Epistularum Collectio H 11 (ACO 2,1,1, 45,23–47,9 Schwartz).
21 Dies zeigt auch die Kursivierung in Silva-Taroucas Editionstext von Epistula 31 (No. 4b).

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310   Volker Henning Drecoll

genauer zu handeln sein wird. Zunächst sollen drei Passagen verglichen werden,
in denen der Text von Epistula 30 geringfügig von dem von Epistula 31 abweicht:

1. Passage22:

Leo, Epistula 31 Leo, Epistula 30

Quantum praesidii dominus ecclesiae Quantum sibi fiduciae de fide uestrae


suae in uestra clementia praepararit, clementiae ecclesia dei debeat polliceri,
multis probauimus saepe [saepe pro­ multis probauimus saepe documentis,
bauimus S.-T.] documentis, et quidquid
nostris temporibus contra impugnatores
catholicae ueritatis industria sacerdota­
lis optinuit, ad uestram maxime gloriam
redundauit,
dum sicut spiritu sancto docente didi­ dum, sicut spiritu sancto docente didi­
cistis, illi per omnia potestatem uestram cistis, illi per omnia potestatem uestram
subicitis, cuius munere et protectione subicitis, cuius munere et protectione
regnatis. regnatis.

Die Umformulierung am Anfang lässt sich als stilistische Modifikation beschrei-


ben. Vielleicht steckt aber doch auch eine inhaltliche Verschiebung darin, weil
Epistula 31 noch von einem Schutz (praesidium) ausgeht, der durch Pulcheria
gewährleistet worden ist – während Epistula 30 davon spricht, dass die Kirche
auf die Glaubensfestigkeit der Pulcheria hofft. Daraus könnte man schließen,
dass zum Zeitpunkt von Epistula 31 die Lage der Kirche noch als nicht zerstört
bewertet wird, während sie in Epistula 30 sich zum Negativen verändert hat.
Dazu würde dann auch die Auslassung des Nebensatzes passen. Mit der indust­
ria sacerdotalis könnte dann insbesondere das Bemühen Flavians gemeint sein,
alle Gegner der catholica ueritas (Ausdruck hierfür könnten der Laetentur-Brief
Kyrills und der Tomus ad Armenios des Proclus sein) abzuwehren, was als Erfolg
der Pulcheria gewertet wird. Liegt zwischen Epistula 31 und Epistula 30 die Ver-
urteilung Flavians, wäre die Textveränderung leicht erklärlich, denn dann ließe

22 Leo, Epistula 31 (= Concilium Universale Chalcedonense, Collectio Grimanica 11 [ACO 2,4,


12,21–25 Schwartz]) = 4b (8,5–9 + 7–10 kursiv S.-T.); Epistula 30 (= Concilium Universale Chalce­
donense, Collectio Grimanica 8 [ACO 2,4, 10,7–10 Schwartz]) = 4a (6,6–9 S.-T.). Die Edition von
Silva-Tarouca zählt für die kursiv gesetzten Zeilen nach No. 4a und zählt nur die Zeilen, in denen
No. 4b abweicht, separat, so dass für No. 4b zwei Zeilenzählungen durcheinandergehen.

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 Leo an Pulcheria   311

sich das Ergebnis von Ephesus 449 auch leicht als Beeinträchtigung der gloria der
Pulcheria werten.

2. Passage23:

Leo, Epistula 31 Leo, Epistula 30

Et quantum Nestorius a ueritate excidit, Nam quantum Nestorius a ueritate


dum Christum de matre solum hominem excidit, dum dominum Iesum Christum
asserit natum, de matre uirgine hominem solum asserit
natum,
tantum etiam hic a catholico tramite tantum etiam hic a catholico tramite
deuiarit deuiauit, qui de eadem uirgine editum
qui de eadem uirgine non nostram credit non nostrae credit esse naturae,
editam esse substantiam,
uolens utique eam solius deitatis intel­
legi,
ut quod formam serui gessit et quod ut, quod formam serui gessit, quod
nostri similis fuit atque conformis, nostri similis fuit atque conformis,
quaedam naturae nostrae fuerit imago, quaedam nostrae carnis fuerit imago,
non ueritas. non ueritas.
Nihil autem prodest dominum nostrum Nihil autem prodest dominum nostrum
beatae uirginis filium uerum perfec­ beatae uirginis filium hominem
tumque hominem dicere, dicere,
si non illius generis homo creditur, si non illius generis ac seminis homo
cuius in euangelio praedicatur. creditur, cuius in ipso euangelii exordio
praedicatur.

Epistula 31 geht davon aus, dass der Fehler des Eutyches24 darin besteht, dass
er verneint, dass der Inkarnierte die menschliche substantia hat, also nur aus
deitas besteht. Seine Erscheinung war also nur eine imago der menschlichen
natura, nicht wirklich eine solche. Dies verändert Epistula 30 dahingehend, dass

23 Leo, Epistula 31 (13,3–9 S.) = 4b (9,17–25 S.-T.); Epistula 30 (10,15–21 S.) = 4a (9,16–24 S.-T.). In
der Edition von Silva-Tarouca weicht die Zeilenzählung des Kursivtextes in No. 4b, die eigentlich
diejenige von No. 4a aufgreifen sollte, aus nicht erkennbaren Gründen um den Wert von +1 von
der tatsächlich in No. 4a angegebenen ab.
24 Zur Strategie, die Position des Eutyches als die der Häresie des Nestorius entgegengesetzte
Häresie anzusehen, vgl. B. Green, The Soteriology of Leo the Great, Oxford 2008, 206—209.

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312   Volker Henning Drecoll

der Begriff der substantia gestrichen wird.25 Zugleich wird nicht mehr behauptet,
Christus bestehe für Eutyches nur aus der deitas. Stattdessen wird jetzt gesagt,
dass Eutyches zufolge Christus nicht zur menschlichen natura gehört und eine
imago carnis ist. Damit wird jetzt deutlicher, dass sich der Vorwurf insbesondere
auf den körperlichen, stofflich-vergänglichen Teil bezieht, also auf die caro (was
dann im Folgesatz durch die Ergänzung von genus durch semen fortgeführt wird).
Folgt man Epistula 30, leugnete Eutyches also nicht die menschliche natura
insgesamt, sondern er leugnete, dass diese natura sich in demselben Zustand
befand wie unsere Natur, also a) eine stofflich generierte ist (also zum mensch-
lichen semen gehört), und b) mit Sündhaftigkeit beladen und daher vergänglich
sterblich ist (also caro). Den Unterschied könnte man als Präzisierung im Hin-
blick auf die Position des Eutyches verstehen. Epistula 30 würde dann darauf
hindeuten, dass der Vorwurf gegenüber Eutyches jetzt genauer formuliert wird,
wobei die Vermeidung des neuralgischen Begriffs substantia (bzw. ὑπόστασις)
entscheidend ist.

3. Passage26:

Leo, Epistula 31 Leo, Epistula 30

Ac si ipse qui in hanc temptationem Ac si ipse, qui in hac temptatione [hanc


incidit, resipiscat [resipiscit S.-T.], ita ut temptationem S.-T.] incidit, resipiscit,
per libellarem satisfactionem proprium ita ut quod male senserat, propria uoce
damnet errorem, et subscriptione condemnet,
communio ei sui ordinis non negetur. communio illi sui ordinis reformetur.

Quod etiam sancto Flauiano episcopo Quod etiam fratri et coepiscopo meo
me [olim add. S.-T.] clementia tua scrip­ Flauiano me clementia uestra scripsisse
sisse cognoscat, cognoscat
et his quos misimus, delegasse
ut caritas non neglegatur, si error abo­ ut uenia concedatur, si error aboletur.
letur.

25 Zum Gebrauch von substantia und natura bei Leo vgl. T. Krannich, Von Leporius bis zu Leo
dem Großen. Studien zur lateinischsprachigen Christologie im fünften Jahrhundert nach Chris-
tus (STAC 32), Tübingen 2005, 178–180; Arens (wie Anm. 5), 332–338.
26 Leo, Epistula 31 (15,7–10 S.) = 4b (12,44–13,44 kursiv und 13,90–95 S.-T.); Epistula 30 (11,1–4 S.) = 
4b (7,44–49 S.-T.). Die Zeilenzählung des kursiven Textes ist auf S. 12–13 in der Silva-Tarouva-
Edition nicht ausgewiesen.

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 Leo an Pulcheria   313

Drei Unterschiede sind zu beobachten. Zunächst soll dem Eutyches in Epistula


31 die Möglichkeit eingeräumt werden, eine libellaris satisfactio vorzulegen, die
den eigenen error verdammt. Dies ist in Epistula 30 deutlich vorsichtiger formu-
liert: Hier geht es nicht mehr um einen error, sondern um ein male sentire, das
verdammt werden soll. Dieser Widerruf soll nicht mehr durch ein Bekenntnis-
schreiben, sondern uoce et subscriptione geleistet werden, also eine mündliche
Aussage und eine Unterschrift (wozu, bleibt unklar – auch hier könnten ältere
Texte im Blick sein, etwa der Laetentur-Brief). Sodann werden in Epistula 30 die
päpstlichen Gesandten als Beurteilungsinstanz, die zusammen mit Flavian einen
entsprechenden Widerruf des Eutyches akzeptieren sollen, genannt. Damit wird
eine direkte Beteiligung der päpstlichen Gesandten eingeführt, die an dieser
Stelle so in Epistula 31 nicht genannt war. Dazu passt dann die in Epistula 30
über Epistula 31 hinausragende, sich anschließende namentliche Nennung
der päpstlichen Gesandten. Schließlich, dritter Unterschied, ist der Schluss an
einer kleinen, aber bedeutungsvollen Stelle geändert: Aus einer caritas wird ein
Umgang, der eine direkte uenia voraussetzt. Nicht der liebevolle Umgang mit
einem Irrtum, sondern die explizite Aufhebung einer Verurteilung steht jetzt im
Raum, die allerdings aufgrund einer mündlichen Aussage und entsprechender
Unterschrift erfolgen soll.

4
Nimmt man die Beobachtungen dieser drei Textpassagen zusammen, lässt sich
die Hypothese vertreten, dass Epistula 31 im Mai 449 geschrieben ist, Epistula 30
jedoch ein Exzerpt darstellt, das die Verurteilung Flavians und den Triumph von
Dioskur und Eutyches voraussetzt. Um dieses Exzerpt historisch einzuordnen,
sei der in Leo, Epistula 45 vorausgesetzte Ablauf hinzugenommen. Der zweite
Brief Leos an Pulcheria, Epistula 45 (= Collectio Grimanica 23; 13 Silva-Tarouca),27
beginnt mit einem Irrealis: Wenn der erste Brief an die Kaiserin durch die ent-
sandten Kleriker zu Pulcheria gelangt wäre, hätte Pulcheria bestimmt verhindert,
was nun geschehen ist und was von Leo als die Angelegenheiten, quae contra
fidem factae sunt (24,1 S.), bewertet wird, also das Konzil von Ephesus im August
449. Die Gesandtschaft konnte jedoch nicht zu Pulcheria gelangen, und nach den
turbulenten Ereignissen sei der Diakon Hilarus flüchtend zu ihm zurückgekehrt.

27 Leo, Epistula 45 (= Concilium Universale Chalcedonense, Collectio Grimanica 23 [ACO 2,4,


23,31–24,5 Schwartz]) = 13 (34,6–13 S.-T.).

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314   Volker Henning Drecoll

Die Gründe, wieso die Gesandtschaft nicht bei Pulcheria vorsprechen konnte,
werden nicht genannt. Entweder kamen die Gesandten so spät an, dass sie sofort
in das Konzilsgeschehen bzw. seine Vorbereitungen verwickelt waren und also
schlichtweg keine Zeit fanden, oder sie wurden bei Pulcheria nicht vorgelas-
sen (wobei hierfür nicht unbedingt eine bewusste Ablehnung vorauszusetzen
ist, sondern auch Fragen des Protokolls und andere Beschäftigungen in Frage
kommen). Pulcheria war im Sommer 449 aufgrund einer Intrige des Chrysaphius
(der sie mittels einer Weihe zur Diakonisse für die weitere Politik oder gar die
Nachfolge des Theodosius II. aussortieren wollte) weitgehend kaltgestellt und
hatte sich in den Palast im Hebdomon zurückgezogen.28 Jedenfalls war die erste
Gesandtschaft nach Konstantinopel nicht einmal in der Lage gewesen, den Brief
an Pulcheria auszuhändigen. Daraufhin hat Leo beschlossen, erneut zu schrei-
ben und auch Abschriften der Briefe vom Sommer beizufügen.29 Anschließend
geht Leo auf seine Sicht des Konzils ein, wobei er besonders hervorhebt, dass der
Protest seiner Gesandten rechtswidrig nicht berücksichtigt und sein Lehrschrei-
ben, der Tomus Leonis ad Flavianum, nicht zugelassen worden sei. Zeitgleich
schreibt er an Theodosius und fügt eine Kopie auch dieses Briefes seinem Schrei­
ben an Pulcheria bei.30 In diesem Schrei­ben hat er verlangt, dass die Verurteilung
Flavians vom Kaiser nicht ratifiziert und stattdessen ein Konzil in Italien einberu-
fen werde,31 Pulcheria wird darum gebeten, sich dafür beim Kaiser einzusetzen.32
Erst das Scheitern dieses Plans eines Konzils in Italien hat dann im Sommer 450
den Ersatzplan, dass sich das Konzil stark am Tomus ad Flavianum orientieren
müsse, hervorgebracht, der dann entsprechend Berücksichtigung durch die kai-
serlichen Archonten auf dem Konzil gefunden hat. Die in Chalkedon beschwo-
rene Übereinstimmung zwischen Leo und Kyrill33 hat hier also ihren taktischen
Hintergrund.

28 Vgl. Goubert (wie Anm. 19), 306–307.


29 Leo, Epistula 45 (24,5–10 S.) = 13 (34,13–35,19 S.-T.).
30 Leo, Epistula 45 (24,22–31 S.) = 13 (35,36–36,50 S.-T.).
31 Leo, Epistula 44 (= Concilium Universale Chalcedonense, Collectio Grimanica 18 [ACO 2,4,
20,27–21,6 Schwartz]) = 12 (33,91–34,121 S.-T.). Zur griech. Fassung vgl. Epistularum Collectio M 1
(ACO 2,1,1, 4,17–27 Schwartz). Die Bedeutung dieses Plans eines Konzils in Italien wird im Zusam-
menhang der Interventionen Leos beim westlichen Kaiserhaus deutlich zu wenig berücksichtigt
bei Susan Wessel, Leo the Great and the Spiritual Rebuilding of a Universal Rome (SVigChr 93),
Leiden 2008, 259–266.
32 Leo, Epistula 45 (24,32–25,4 S.) = 13 (36,50–57 S.-T.).
33 Der sachlichen Berechtigung dieser Übereinstimmung zwischen Leo und Kyrill geht nach
P. Galtier, Saint Cyrille d’Alexandrie et Saint Léon le Grand à Chalcédoine, in: Grillmeier/Bacht
(Hgg.) (wie Anm. 19), 345–387.

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 Leo an Pulcheria   315

Für die Einordnung von Kurz- und Langversion des ersten Briefes Leos an
Pulcheria ist dieser Ablauf deswegen entscheidend, weil Leo selbst in Epistula 45
davon spricht, dass es exempla seiner ersten Briefe gibt, die er seinem erneuten
Schrei­ben beilegt.34 Diese exempla sollten demnach jetzt, nach dem Konzil von
Ephesus, belegen, inwiefern Leo schon vor dem Konzil versucht hat, das jetzt
Erreichte zu verhindern. Dazu reichte aber auch eine Kurzfassung von Epistula
31, und dies lässt sich nun mit den oben gemachten Beobachtungen zur Kurz-
version verbinden. Daraus ergibt sich als Hypothese, dass die Kurzversion nicht
irgendwann zu einem späteren Zeitpunkt (etwa nach dem Konzil von Chalkedon)
hergestellt wurde, sondern dass Epistula 30 eben genau diese Kurzfassung ist, die
nun, im Oktober 449, Pulcheria über Leos Vorgehen im Sommer 449 informieren
sollte. Dazu passt dann auch der Überlieferungsbefund, der Epistula 30 genauso
wie Epistula 45 auch auf Griechisch überliefert.35 Der Brief konnte so in die ent-
sprechenden Briefsammlungen gelangen, die im Zusammenhang der Dokumen-
tation des Konzils von Chalkedon zusammengestellt wurden.

Schwartz begründete seinen Verdacht von Epistula 30 als nachträglicher Fäl-


schung mit zwei seines Erachtens parallelen Fällen unter den Leobriefen,36 zum
einen Epistula 44 (= Collectio Grimanica 18 = 12a Silva-Tarouca) und 43 (= Collec­
tio Grimanica 25 = 12b Silva-Tarouca), wobei Epistula 43 eine gekürzte und inter-
polierte Fassung von Epistula 44 ist, und Epistula 35 (= Collectio Grimanica 5 = 
6 Silva-Tarouca), wozu es nur eine entsprechend entstellte griechische Fassung
gibt37 (eine entsprechende lateinische Vorlage für diese griechische Version wäre
dann also verloren). Allerdings zeigt sich beim genaueren Hinsehen, dass die
Unterschiede zwischen diesen drei Fällen doch erheblich sind. Das gilt schon für
die Überlieferungssituation im Hinblick auf die griechische Fassung (für ­Epistula
43–44 sind jeweils griechische Versionen erhalten,38 für Epistula 30–31 nur eine
für Epistula 30, und für die Kurzversion von Epistula 35 fehlt eine lateinische
Version). Es betrifft dann aber insbesondere den Inhalt und die Art und Weise
der Bearbeitung.

34 Leo, Epistula 45 (24,6 S). = 13 (34,15 S.-T.).


35 Leo, Epistula 30 = griech.: Epistularum Collectio H 11 (ACO 2,1,1, 45,23–47,9 Schwartz); Epistu­
la 45 = griech.: Epistularum Collectio H 12 (ACO 2,1,1, 47,10–48,26 Schwartz).
36 Vgl. Schwartz, Praefatio ACO 2,4 (wie Anm. 4), XXI–XXIV.
37 Zu Leo, Epistula 35 vgl. die griech. Fassung in: Epistularum Collectio H 6 (ACO 2,1,1, 40,14–
42,22 Schwartz). Hilfreich ist nach wie vor die Synopse in PL 54, 803–810.
38 Leo, Epistula 43 = griech. Epistularum Collectio M 1 (ACO 2,1,1, 3,4–4,30 Schwartz); Epistula 44
= griech. Epistularum Collectio M 12 (ACO 2,1,1, 25,7–27,18 Schwartz).

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316   Volker Henning Drecoll

Epistula 43 lässt sich in zwei Hälften teilen, eine erste Hälfte, die deutlich
eigenständig formuliert und erst nach und nach Formulierungen und Halbsätze
aus Epistula 44 aufgreift, bevor dann39 der Text von Epistula 44 wörtlich und ohne
jede Abweichung übernommen wird. In dem ersten Teil unterlaufen dem Bear-
beiter nun eine Reihe von massiven Fehlern:
1. Der Absender wird geändert: Statt Leo und der sancta synodus in Rom
schreibt jetzt nur noch Leo.40
2. Als Übermittler der schlechten Nachrichten wird neben Hilarus eine
Gruppe von Bischöfen genannt (obwohl nur Julius von Puteoli in der Gesandt-
schaft als Bischof dabei war): ab ipsis reuerentissimis episcopis qui a nobis missi
sunt.41 Die Aussage über die allgemeinen missi in Epistula 4442 wird hier also
falsch gedeutet, als müsse es sich um eine Gruppe von Bischöfen handeln.
3. Es wird auf den oben genannten (supra dicti sacerdotis arbitrio43) Erz­
bischof von Alexandrien verwiesen, obwohl der vorher in der gekürzten Version
gar nicht genannt war (sehr wohl aber in der Langversion).
4. Der Satzbau wird massiv gestört, indem der mit in ipso autem angefügte
Satz sprachlich nur holperig an den Vordersatz anschließt.44
5. Die Anrede tranquillissimi principum45 ist falsch und in Epistula 44 nicht
zu finden.
Vergleichbare Fehler finden sich in der Kurzversion (Epistula 30) eben gerade
nicht. Die Abweichungen in Epistula 30 gegenüber Epistula 31 sind wesentlich
geringfügiger und sind sowohl inhaltlich als auch stilistisch stimmig, während
die in der gekürzten Version des Briefes an Theodosius (Epistula 43) auftauchen-
den Fehler so massiv sind, dass sie Leo nicht zugerechnet werden können. Daher
scheidet auch die Hypothese aus, Epistula 43 sei die in Epistula 45 erwähnte
Abschrift46 des Schreibens Leos an Theodosius (also von Epistula 44). Zwar kann
man sich vorstellen, dass auch hier bei der Gesandtschaft im Herbst 449 eine
Kurzfassung ausgereicht hat, die die Bitte, eine Generalsynode in Italien abhalten
zu lassen, in den Vordergrund schiebt, doch ist diese (nur hypothetisch ange-
nommene) Kurzversion jedenfalls nicht mit der überlieferten Epistula 43 iden-

39 Dies ist der Fall ab den Worten remouete, quaesumus (Leo, Epistula 43 [= Concilium Universale
Chalcedonense, Collectio Grimanica 25] [ACO 2,4, 26,23 Schwartz]).
40 Leo, Epistula 43 (26,8 S.).
41 Leo, Epistula 43 (26,14–15 S.)
42 Leo, Epistula 44 (19,18 S.).
43 Leo, Epistula 43 (26,19 S.).
44 Leo, Epistula 43 (26,17–18 S.).
45 Leo, Epistula 43 (26,23 S.).
46 Leo, Epistula 45 (24,23 S.).

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 Leo an Pulcheria   317

tisch. Entweder nimmt man also einen weiteren massiven Entstellungsprozess


zwischen dem Brief an Pulcheria (Epistula 45) beigefügten, gekürzten Schrei­ben
Leos an Theodosius II. an, oder Epistula 43 hat mit dieser in Epistula 45 erwähn-
ten Abschrift einfach gar nichts zu tun. Angesichts der Art und Weise, wie der
Beginn von Epistula 43 auf die eigene auctoritas des Petrusstuhls eingeht und
dann in abrupter Weise missverstandene Informationen aufgreift,47 neige ich zur
zweiten Annahme.
Für den Fall von Epistula 35 an Julian von Kos ist zunächst merkwürdig,
dass mit demselben Datum48 noch ein weiterer, aber wesentlich kürzerer Brief
an Julian von Kos überliefert ist, nämlich Epistula 34 (= Collectio Grimanica 13 = 
7 Silva-Tarouca).49 Beide Briefe sind insofern verschieden, als Epistula 34 eine Art
Empfehlungsschreiben ist, von dem man sich vorstellen kann, dass die Gesandt-
schaft (Julius, Renatus und Hilarus) es dem päpstlichen Apokrisiar in Konstan-
tinopel überreichen sollte, also eine Art Beglaubigungsbrief zur eigenen Legiti-
mation. Epistula 35 (= Collectio Grimanica 5) ist demgegenüber ein theologisches
Schrei­ben, das zur Weitergabe und theologischen Überzeugungsarbeit durch
Julian von Kos gedacht ist.
Die griechische Fassung von Epistula 35 weicht nun verschiedentlich von der
lateinischen Vorlage ab. Dabei werden besonders zwei Abschnitte ausgelassen,
die inhaltlich relevant sind:
1. In einem Satz versucht Leo, die Vereinigung des Logos mit der caro dadurch
zu plausibilisieren, dass er sie mit der Einheit von Seele und Leib vergleicht.50
2. Ein Abschnitt unterstellt Eutyches, dass er annehme, dass die Vereinigung
mit der menschlichen Seele bereits am Anfang der Zeiten stattgefunden habe,
dass er in der Hinsicht des Präexistentianismus also den Fehler des Origenes
begangen habe.51
Neben diesen Abschnitten gibt es noch einige weitere kleinere Abweichun-
gen, die jedoch kaum geeignet sind, eine durchgehend kyrillisch geprägte Bear-
beitung plausibel zu machen. Die Auslassungen betreffen die einzigen beiden
Stellen, an denen Epistula 35 genauer auf die Seelenlehre eingeht. Das ist auffäl-

47 Leo, Epistula 43 (26,8–11 S.).


48 Arens (wie Anm. 5), 79–80 datiert den Brief (abweichend von der handschriftlichen Überlie-
ferung) auf den 23. Juli 449; neben inhaltlichen Erwägungen ist hierfür insbesondere die Identi-
tät des Boten ein entscheidendes Argument.
49 Leo, Epistula 34 (= Concilium Universale Chalcedonense, Collectio Grimanica 13 [ACO 2,4,
16,17–17,7 Schwartz]).
50 Leo, Epistula 35 (= Concilium Universale Chalcedonense, Collectio Grimanica 5 [ACO 2,4, 7,15–
20 Schwartz]).
51 Leo, Epistula 35 (7,28–8,9 S.).

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318   Volker Henning Drecoll

lig und dürfte die Intention des Bearbeiters gewesen sein (wobei unklar bleiben
muss, ob erst im Zusammenhang der griechischen Übersetzung die Kürzung her-
gestellt wurde oder diese bereits in einer heute verlorenen lateinischen Vorlage
stattfand52). Auch hier lässt sich also keine inhaltliche oder historische Plausibi-
lisierung dergestalt vornehmen, dass die Veränderungen mit Leo in Verbindung
gebracht werden können.
Schließlich hatte Schwartz noch zwei stilistische Argumente dafür geltend
gemacht, dass Epistula 30 unmöglich von Leo hergestellt worden sein kann.53
Die Auslassung des biblischen Exkurses lasse nun den Satz unde multum doleo54
in der Luft hängen, die Angabe in ipso euangelii exordio sei erst aufgrund der
Kürzung vage. Doch ist letzteres auch ohne den biblischen Exkurs eine recht
präzise Angabe, die auf die Geburtsgeschichten verweist, und das unde knüpft
auch gut an den vorhergehenden Satz an, in dem die wahre Menschheit des
Inkarnierten betont wird. Die Kürzung am Ende des Briefes, so das zweite stilis-
tische Argument, führe dazu, dass das enim im Folgesatz (non enim portiuncula
aliqua fidei nostrae […])55 sinnlos werde. Doch lässt sich auch hier der enim-Satz
gut an das Vorangegangene anschließen, denn die Wichtigkeit, die Leo betont
und mit der er begründet, dass er sich an die kaiserliche Majestät wendet, wird
jetzt (nach der Kürzung) mit dem Gewicht der christologischen Frage begründet.
In beiden Fällen ist der inhaltliche Bezug der Konnektoren unde bzw. enim zwar
gegenüber der Langversion etwas verändert, doch passt beides gut in den Duktus
des neuen Textes – was eher für das Geschick des Kürzers spricht als eine etwaige
Ungeschicklichkeit signalisiert.
Inhaltlich ist für Schwartz klar, dass Leo auf keinen Fall die biblische Ausfüh-
rung gekürzt habe und dass ihm bestimmt an der Erwähnung des apostolischen
Glaubensbekenntnisses gelegen habe,56 doch ist auch das, bedenkt man die Stra-
tegie und Planung Leos im Herbst 449, wenig zwingend, denn Leos Hauptinte-
resse richtete sich ja auf die Berücksichtigung des Tomus ad Flavianum und die
Einberufung einer Generalsynode in Italien. Die Argumentation von Schwartz,
dass Epistula 30 nicht aus der Feder von Leo stammen könne, ist daher wenig
überzeugend.

52 Die Varianten in der lateinischen Überlieferung, die teilweise mit dem Griechischen parallel
laufen, helfen in dieser Frage nicht weiter.
53 Vgl. Schwartz, Praefatio ACO 2,4 (wie Anm. 4), XXI–XXII.
54 Leo, Epistula 30 (10,21 S.).
55 Leo, Epistula 30 (10,30–31 S.).
56 Vgl. Schwartz, Praefatio ACO 2,4 (wie Anm. 4), XXII.

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 Leo an Pulcheria   319

5 Ergebnis
Die Kurzversion von Epistula 31, also Epistula 30, lässt sich als bewusst gekürzte,
auf das Wesentliche konzentrierte Fassung der Langversion begreifen, die auf-
grund inhaltlicher wie historischer Gründe mit Leo und den Ereignissen des
Jahres 449 in Verbindung gebracht werden kann. Die Hypothese, dass es sich um
die im Herbst erstellte Abschrift handelt, die an das erneute Schrei­ben an Pulche-
ria angefügt wurde, ist plausibel. Für den Briefwechsel Leos mit Pulcheria bedeu-
tet diese Hypothese, dass Leo, Epistula 45 die eigentliche Eröffnung der Korres-
pondenz mit Pulcheria ist, zusammen mit Epistula 30. Epistula 31 hat Pulcheria
aller Wahrscheinlichkeit nach nie erreicht. Der Kontakt Leos zu Pulcheria wurde
also erst nach der Synode von Ephesus im August 449 hergestellt. Leo hat a) die
Unrechtmäßigkeit der Verurteilung Flavians, b) die Häresie des Eutyches und c)
die Geltung seines eigenen Lehrschreibens mit dem Plan einer Italiensynode ver-
bunden. Pulcheria hatte im Herbst 449 keine Möglichkeiten, auf dieses Ansinnen
einzugehen, und der Plan einer Italiensynode hat sich schnell zerschlagen. Die
von Leo geltend gemachten Punkte konvergierten aber mit den Interessen der
Pulcheria und haben dann ab dem Sommer 450 dazu geführt, dass Flavian reha-
bilitiert, Eutyches verurteilt und der Tomus Leonis zur kaiserlich erwünschten
Grundlage der neuen Lehrerklärung wurde, die die theologische Einheit von Leo
und Kyrill behauptete, als Chalcedonense aber die Kircheneinheit des Ostens dau-
erhaft zerstört hat.

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Pauline Allen
Church and Emperor in the
Letters of Hormisdas I, Bishop of Rome
(514–523)
Conflict and Negotiation between East and West

The honorandus of this volume and his collaborators have long and intensively
been concerned with the topic of church and emperor, particularly during the
Arian controversy.1 In homage to Professor Brennecke’s erudite scholarship I con-
sider here the position of church and emperor in the early sixth century, concen-
trating on the correspondence of Hormisdas, bishop of Rome, in his negotiations
with the emperor in Constantinople. Firstly I give the background to Hormisdas’
reign, then investigate the two Roman embassies he sent to the East, before eval-
uating the relevance to this later period of the opinions expressed by H. Berkhof
seventy years ago on the topic of De Kerk en de Keizer, a book which provided one
of the starting-points for this Festschrift.2

1 Background
The entire pontificate of Hormisdas has to be seen against the background of the
conflict over the Council of Chalcedon (451) and more particularly of the schism
which arose around Acacius, patriarch of Constantinople from 471–489.3 Fol-

1 See the bibliography in H. C. Brennecke, Ecclesia est in re publica. Studien zur Kirchen- und
Theologiegeschichte im Kontext des Imperium Romanum, hg. von U. Heil/A. von Stockhausen/
J. Ulrich (AKG 100), Berlin 2007, 337–351. To be added is H. C. Brennecke, Zwischen Byzanz und
Ravenna. Das Papsttum an der Wende zum 6. Jahrhundert, in: M. Meier/S. Patzold (Hgg.), Chlod-
wigs Welt. Organisation von Herrschaft um 500 (Roma Aeterna 3), Stuttgart 2014, 217–238.
2 H. Berkhof, Kirche und Kaiser. Eine Untersuchung der Entstehung der byzantinischen und der
theokratischen Staatsauffassung im vierten Jahrhundert, Zürich 1947; translated by G. W. Locher
from the Dutch, De Kerk en de Keizer. Een studie over het onstaan van de byzantinistische en de
theocratische staatsgedachte in de vierde eeuw, Amsterdam 1946.
3 On the Acacian schism see E. Schwartz, Publizistische Sammlungen zum Acacianischen
Schisma (ABAW.PH 10), München 1934, esp. 161–262 with the Urkundenverzeichnis at 161–170;
W. H.C. Frend, The Rise of the Monophysite Movement. Chapters in the History of the Church in
the Fifth and Sixth Centuries, Cambridge 1972, 184–201; L. Orabona, Ormisda et la risoluzione

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 Church and Emperor in the Letters of Hormisdas I, Bishop of Rome (514–523)    321

lowing the principles of Emperor Zeno (474–491) in his Henotikon, a document


which, as its name implies, was intended to unite opponents and adherents of
the Council of 451 and to reconcile the churches of Constantinople and Alexan-
dria, Acacius and Patriarchs Peter Mongus of Alexandria and Peter of Antioch
accepted a rapprochement with the anti-Chalcedonians, which was also imposed
on bishops of the East. Bishop Felix III of Rome4 subsequently declared Acacius
condemned and excommunicated in 484, thus offending church and state in Byz-
antium and initiating a thirty-year schism between East and West. The resolution
of this schism was to occupy Hormisdas for most of his pontificate, a concern that
we find documented in many of his surviving letters and in the letters of the impe-
rial house in the East.5 Altogether these documents constitute what Blaudeau

dello scisma di Acacio, in: C. Noce (ed.), Atti del convegno su Papa Ormisda (514–523): magiste-
ro, cura pastorale ed impegno ecumenico, Frosinone 1993, 43–56; H. C. Brennecke, Chalcedon-
ense und Henotikon. Bemerkungen zum Prozess der östlichen Rezeption der christologi­schen
Formel von Chalkedon, in: id. (as in no. 1), esp. 259–290 (272–275), first published in: J. van
Oort/J. Roldanus (Hgg.), Chalkedon: Geschichte und Aktualität. Studien zur Rezeption der chris-
tologischen Formel von Chalkedon, Leuven 1997, 24–53; H. Chadwick, East and West: The Making
of a Rift in the Church from Apostolic Times until the Council of Florence, Oxford 2003, 50–54;
P. Blaudeau, Alexandrie et Constantinople, 451–491. De l’histoire à la géo-ecclésiologie, Biblio-
thèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome 327, Rome 2006, passim; id., Between Petrine
Ideology and Realpolitik. The See of Constantinople in Roman Geo-Ecclesiology (449–536), in:
L. Grig/G. Kelly (eds.), Two Romes: Rome and Constantinople in Late Antiquity, Oxford 2012,
364–384 (365); id., Le siège de Rome et l’Orient (448–536), Rome 2012, 138–146.
4 See R. Bratož, Felice III, santo, in: Enciclopedia dei Papi 1 (2000), 450–457; Liber pontificalis
50 (Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire 1, ed. Louis Duchesne, Bibliothèque
des écoles françaises d’Athènes et de Rome, Paris ²1955, 252). Trans. R. Davis, The Book of Pon-
tiffs (Liber Pontificalis) (TTH 6), Liverpool ²2000, 43–44.
5 For this correspondence in general, for the sake of convenience the edition of Andreas Thiel
has been used: Epistolae Romanorum Pontificum genuinae et quae ad eos scriptae sunt a S. Hi-
laro usque ad Pelagium II, ed. Andreas Thiel, Braunsberg 1867–1868, repr. Hildesheim 2004. The
texts are also found in Otto Günther (ed.), Epistolae imperatorum pontificum aliorum inde ab
anno 367 usque ad annum 553 datae (CSEL 35/2), Vienna 1898, 495–742. Where applicable the
numbering in Philipp Jaffé (ed.), Regesta pontificum Romanorum ab condita ecclesia ad annum
post Christum natum MCXCVIII, ed. Wilhelm Wattenbach, Ferdinand Kaltenbrunner (to a. 590),
Paul Ewald (to a. 882), Samuel Löwenfeld (to a. 1198), 2 vols., Leipzig 21885–1888, has been incor-
porated (= henceforth JK). The numbering of the 3rd edition, vol. 1, has been included as well (ed.
Marcus Schütz et al., Göttingen 2016 = J³). On Hormisdas’ letters see A. Gillett, Advise the Emper-
or Beneficially. Lateral Communication in Diplomatic Embassies between the Post-Imperial West
and Byzantium, in: A. Becker/N. Drocourt (eds.), Ambassadeurs et ambassades au coeur des re-
lations diplomatiques. Rome – Occident médiéval – Byzance (VIIIe s. avant J.-C. – XIIe s. après
J.-C.), Centre de recherche universitaire lorrain d’histoire, Université de Lorraine – site de Metz

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322   Pauline Allen

calls a remarkable dossier,6 and one which is extremely important for the events
of Homisdas’ pontificate, even if we know from the meticulous study of Günther
that it is not complete.7 One of the most unfortunate lacunae is the letters of the
magister militum, Vitalian8 (on whom see further below).
Felix’ successor, his archdeacon Gelasius (492–496), was uncompromising in
dealing with the schism and a proponent of the superiority of papal power over
imperial power.9 He was opposed to the Henotikon and demanded the removal
of Acacius’ name from the diptychs. In Gelasius’ writings we find a contempt
for the Byzantines (Greeks)10 that occurs too in Hormisdas’ letters to non-easter-
ners.
Gelasius’ successor Anastasius II (496–498)11 had a peaceful disposition and
demonstrated willingness to work with the emperor in Constantinople, but died
before his plans could come to fruition. His successor, Symmachus (498–514),12
on the other hand, showed no conciliatory inclinations towards the eastern
emperor.13 Hormisdas was one of Symmachus’ deacons before his elevation to the
bishopric of Rome14 and retained something of both Gelasius’ and Symmachus’
negative attitudes towards making ecclesiastical peace with the „Greeks“.

2012, 257–285 (263–269). See also D. Jasper/H. Fuhrmann (eds.), Papal Letters in the Early Middle
Ages, Washington 2001, 68. For an inventory of Hormisdas’ letters see Blaudeau, Le siège (as in
no. 3), 301–307. On the importance of episcopal letters in the discourse of late antiquity see P. Al-
len/B. Neil (eds.), Crisis Management in Late Antiquity (410–590 CE). A Survey of the Evidence
from Episcopal Letters (SVigChr 121), Leiden 2013.
6 Blaudeau, Petrine Ideology (as in no. 3), 366–367.
7 O. Günther, Beiträge zur Chronologie der Briefe des Papstes Hormisdas (SÖAW 128), Vienna
1892. Cf. Blaudeau, Petrine Ideology (as in no. 3), 366 no. 12.
8 On this influential figure during the pontificate of Hormisdas see A. H. M.  Jones/J. R.  Martindale/
J. Morris (eds.), Prosopography of the Later Roman Empire 2, AD 395–527, Cambridge 1980
(henceforth PLRE 2), 1171–1176, s.v. Vitalianus 2.
9 See R. Bratož, Gelasio I, santo, in: Enciclopedia dei Papi 1 (as in no. 4), 458–462; Liber pontifi­
calis 51 (255 D.); trans. 44–45 D. (as in no. 4). See further B. Neil/P. Allen (eds.), The Letters of
Gelasius I (492–496). Pastor and Micro-Manager of the Church of Rome (Adnotationes 1), Turn-
hout 2014, esp. 32–42 on the Acacian schism, and 73–80 on the superiority of papal power.
10 See Frend (as in no. 3), 196–197 on Gelasius. On Hormisdas’ perception of Greeks see below.
11 See P. Bertolini, Anastasio II, in: Enciclopedia dei Papi 1 (as in no. 4), 462–464; Liber pontifi­
calis 53 (260–263 D.); trans. 45 D. (as in no. 4).
12 See T. Sardella, Simmaco, santo II, in: Enciclopedia dei Papi 1 (as in no. 4), 464–472; Liber
pontificalis 53 (260–263 D.); trans. 45–48 D. (as in no. 4).
13 Frend (as in no. 3), 197–200.
14 See further T. Sardella, Ormisdo, santo, in: Enciclopedia dei Papi 1 (as in no. 4), 476–483
(476–478); Liber pontificalis 54 (269–272 D.); trans. 48–51 D. (as in no. 4).

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 Church and Emperor in the Letters of Hormisdas I, Bishop of Rome (514–523)    323

During his pontificate Hormisdas had dealings in the East with Emperor
Anastasius (491–518),15 Emperor Justin I (518–527),16 and with the nephew of
the latter, Count Justinian, who became emperor on his uncle’s death in 527 and
reigned until 565.17 Anastasius was a peace-loving emperor whose allegiance to
the Henotikon and an alleged laissez-faire attitude to the expression of different
christologies resulted in a confused situation, as reported famously at the end of
the sixth century by the Syrian church historian, Evagrius Scholasticus.18 Justin
and his nephew, on the other hand, were convinced Chalcedonians for whom the
priorities were religious unity and renewed imperial authority in the West, for
which the goodwill of the pope of the day was essential.19
The patriarchs of Constantinople during the pontificate of Hormisdas were
Timothy I (511–518), John II (518–520), and Epiphanius, who was elected in 520.
Although there is no surviving correspondence between Timothy and Hormisdas,
the patriarch is referred to obliquely in the pope’s instructions to his first embassy
to Constantinople20 and we have four of the patriarch’s letters or reports to the

15 On Anastasius see P. Charanis, Church and State in the Later Roman Empire. The Religious
Policy of Anastasius I, 491–518 (BKM 11), Thessalonica 1974; C. Capizzi, L’imperatore Anastasio I,
491–518. Studio sulla sua vita, la sua opera et la sua personalità (Orientalia Christiana Analecta
184), Rome 1969; F. K. Haarer, Anastasius I. Politics and Empire in the Late Roman World (ARCA.
Classical and Medieval Texts, Papers and Monographs 46), Cambridge 2006; M. Meier, Anastasi-
os I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches, Stuttgart 2009.
16 On whose reign see the classic work by A. A. Vasiliev, Justin the First. An Introduction to the
Reign of Justinian (Dumbarton Oaks Studies 1), Cambridge MA 1950.
17 For recent assessments of the reign of Justinian see M. Meier, Das andere Zeitalter Justinians.
Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr. (Hyp. 147), Göttin-
gen 2003; M. Maas (ed.), The Cambridge Companion to the Age of Justinian, Cambridge 2005;
V. L. Menze, Justinian and the Making of the Syrian Orthodox Church (Oxford Early Christian
Studies), Oxford 2008; M. Meier (ed.), Justinian. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2011, all
with lit. On Justinian as a theologian see K.-H. Uthemann, Kaiser Justinian als Kirchenpolitiker
und Theologe, in: Aug. 39 (1999), 5–83; C. dell’Osso, Cristo e Logos. Il Chalcedonismo del VI
secolo in Oriente (SEAug 118), Rome 2010, 257–290.
18 Evagrius Scholasticus, Historia ecclesiastica 3,30 (ed. J. Bidez/L. Parmentier, The Ecclesias-
tical History of Evagrius with the Scholia, London 1898; repr. Amsterdam 1964, 125–127). On the
ultimate failure of the Henotikon to secure peace see Brennecke, Chalcedonense und Henotikon
(as in no. 3), esp. 276–287 and 276 no. 86 (list of the various texts of the Henotikon). Inability to
come to terms with the Henotikon was the stumbling-block in the negotiations between Hormis-
das and emperor Anastasius I: see C. Capizzi, Sul fallimento di un negoziato di pace ecclesiastica
fra il papa Ormisda et l’imperatore Anastasio I (515–517), in: Critica Storica 17 (1980), 23–54 (54).
19 See J. Richards, The Popes and the Papacy in the Early Middle Ages, 476–752, London 1979,
25–26.
20 Epistula 7, from 11 August 515. See further below.

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324   Pauline Allen

pope.21 The correspondence between Hormisdas and John’s successor Epipha-


nius is more extensive, there being four letters from Hormisdas,22 and five letters
or reports from the patriarch of Constantinople to the bishop of Rome.23
Hormisdas sent two main embassies to the imperial court in Constantino-
ple with the express intention of arranging peace between church and emperor.
Before we examine these two legations in turn, various preliminary observations
can be made about the diplomatic correspondence between Hormisdas and the
eastern emperors. Firstly, it is worth noting the stature of the envoys employed in
the conflict and negotiation of Hormisdas’ pontificate. These were no ordinary
letter-bearers,24 but more often than not bishops, other clergy, élite men, and
highly-placed officials, and sometimes it is difficult to distinguish between the
role of bearer and legate.25 The two letters about to be discussed, for example,
were transmitted by Patricius, described variously as vir sublimis and vir specta­
bilis, here and elsewhere (Epistulae 1; 3; 4; 5).26
Secondly, in the negotiations conducted between church and emperor on
Hormisdas’ watch a constant theme embraced by both sides is the primacy of
the see of Peter, referred to as the „apostolic“ see. This theme was already in evi-
dence in the letters of Gelasius, for example, but the recognition of the status of
the church of Rome was not necessarily reciprocated by Christians in the East at
that time.27

21 Epistulae 43; 61; 67; 109.


22 Epistulae 113; 144; 138; 141 – cited here in chronological order.
23 Epistulae 121; 130; 136; 146; 147.
24 On the rank-and-file letter-bearer in late antiquity, often sent at the behest of a local bishop,
see P. Allen, Prolegomena to a Study of the Letter-Bearer in Christian Antiquity, in: StPatr 62
(2013), 481–491. On the elevated status of „international“ envoys, especially those with papal
and imperial credentials, see A. Gillett, Envoys and Political Communication in the Late Antique
World 411–533, Cambridge 2003, 109. 221. 275–276.
25 Capizzi (as in no. 18), 23, draws attention to the eminence of participants, both clerical and
lay, in the resolution of the Acacian schism.
26 On Patricius see PLRE 2 (as in no. 8), 839, s.v. Patricius 11. Other examples of élite letter-bear-
ers are Gratus, bearer of Epistulae 42; 43; 44; 46; 47; 50; 61 (cf. Epistulae 86), magister scrinium,
PLRE 2, 519; Alexander, bearer of Epistula 45, the vir spectabilis, PLRE 2, 57, s.v. Alexander 17;
Eulogius, bearer of Epistulae 77; 78; 91; 98; 99; 110; 126; 133, tribune and notarius, PLRE 2, 420,
s.v. Eulogius 8; Paulinus, bearer of Epistula 73 (cf. Epistulae 79; 89; and 147), the defensor, PLRE 2,
847–848, s.v. Paulinus 12.
27 On the whole question of Petrine authority in this era see G. Demacopoulos, The Invention
of Peter. Apostolic Discourse and Papal Authority in Late Antiquity, Pennsylvania 2013, who,
however, pays scant attention to Hormisdas. For a pertinent review of Demacopoulos’ work
see B. Neil in: TS 75 (2014), 662–664. For earlier lit. on the Petrine principle see A. Michel, Der
Kampf um das politische oder petrinische Prinzip der Kirchenführung, in: A. Grillmeier/H. Bacht

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 Church and Emperor in the Letters of Hormisdas I, Bishop of Rome (514–523)    325

Thirdly, in Hormisdas’ letters to western bishops we find a distrust of „Greeks“


that is either explicit or an undercurrent.28 Writing to Bishop Avitus of Vienne, the
pontiff warns about the fraudulent dealings of the easterners, alleging that they
give lip-service to peace rather than holding it in their hearts,29 while Bishop John
of Illice in Valencia is instructed to be cautious in dealing with Greek clergy.30 In
Epistula 26 (JK 788 = J³ 1531) Hormisdas writes to all bishops in Spain explaining
how they are to receive Greeks into communion after the Acacian affair, and in
Epistula 40 (JK 800 = J³ 1545), which is addressed to the archimandrites of Syria,
we find admonitions to stay away from the contagion of Acacius, Severus of
Antioch, Philoxenus of Mabbug (scarcely a Greek), and Peter of Apamea. Writing
to Bishop Possessor of Africa (Epistula 115 [JK 850 = J³ 1639]) the pontiff refers to
the numerous traps among which the church of Constantinople labours.31 The
two indiculi or lists of instructions which we possess from Hormisdas (Epistulae
7 and 49) also evince a distrust of the emperor, the patriarch of Constantinople,
and easterners in general – a distrust which must have coloured the pontiff’s
negotiations with the imperium. This, of course, was nothing new if we look at
Gelasius’ letters like his Epistula 10, where he warns about the slyness and obsti-
nacy of the easterners.32
Fourthly, we need to be aware of the various types of advocacy that could be
used in negotiations, whether secular or ecclesiastical.33 For example, we have
the time-honoured Roman „internal diplomacy“ between interested parties,34 the

(Hgg.), Das Konzil von Chalkedon. Geschichte und Gegenwart 2: Entscheidung um Chalkedon,
Würzburg 1953, 491–562.
28 See Epistulae 22; 24; 26; 40; cf. 123.
29 Epistula 22,2 (JK 784 = J3 1527), dating from 15 February 517: sed quantum ad Graecos, ore
potius praeferunt pacis vota quam pectore […] (783 T.).
30 Epistula 24 (JK 786 = J³ 1529), dating from 2 April 517. On Hormisdas’ relations with Possessor
see A. Quacquarelli, Papa Ormisdo al vescovo Possessore, in: Noce (ed.) (as in no. 3), 85–95.
31 See Blaudeau, Petrine Ideology (as in no. 3), 372.
32 See further Richards (as in no. 19), 65: „It is a bitter, sarcastic letter full of righteous indigna-
tion.“
33 Important studies on aspects of diplomacy are those of Gillett (as in no. 24), and E. Nechaeva,
Embassies, Negotiations, Gifts. Systems of East Roman Diplomacy in Late Antiquity (Geographi-
ca Historica 30), Stuttgart 2014. J. Shepard/S. Franklin (eds.), Byzantine Diplomacy. Papers from
the Twenty-fourth Spring Symposium of Byzantine Studies, Cambridge (March 1990) (Society for
the Promotion of Byzantine Studies Publications, Variorum 1), Aldershot 1992, is restricted to
Greek materials and mostly secular diplomacy.
34 On which see F. Millar, Government and Diplomacy in the Roman Empire during the First
Three Centuries, in: The International History Review 10 (1988), 345–377.

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326   Pauline Allen

practice of approaching powerful intermediaries,35 which is present in abundance


in Hormisdas’ correspondence, and what Gillett terms „lateral communications“,
which are letters included in the bundles sent to support the main negotiations.36
In addition we should not forget what scholars of modern-day diplomacy call
„closed-door diplomacy“, which is unfortunately more elusive to discern in
Hormisdas’ correspondence, or any other correspondence for that matter.37

2 First embassy
The first exchange between Hormisdas and the Byzantine state that survives
to us is the letter of Emperor Anastasius I to the bishop of Rome, in which he
berates the duritia of Pope Symmachus regarding the Acacian schism, refers to
the apostle Peter in whom the strength of the church is founded, and invites the
pontiff to attend a council in Heraclea in the province of Europa to discuss ques-
tions of faith that have been raised in Scythia (Epistula 1, 12 January 515). In his
reply to Emperor Anastasius, dating from 4 April 515 (Epistula 4 [JK 771 = J³ 1504]),
the pontiff praises the emperor’s pursuit of peace and his ending of the silentium
between East and West. Hormisdas, however, is not amenable to calling a council
to deal with the Acacian schism or problems in Scythia, as the emperor suggests,
until he has reviewed the case more fully. This council of Heraclea in fact was
never to see the light of day.38
A word needs to be said at this point about the Scythian problem, for it fea-
tures prominently in Hormisdas’ negotiations with the eastern imperium, being
mentioned in no fewer than thirteen letters39 and subliminally present in several
more.40 The Scythian monks of the Danube delta espoused the addition „who

35 On which see F. Millar, A Greek Roman Empire. Power and Belief under Theodosius II (408–
450), Berkeley 2006, 192–234.
36 Gillett, Advise the emperor beneficially (as in no. 5), 259–263.
37 On closed-door diplomacy see E. Nechaeva, Les activités secrètes des ambassadeurs dans
l’antiquité tardive, in: A. Becker/N. Drocourt (eds.) (as in no. 5), 183–202, with useful bibliogra-
phy at 185 no. 8. On some of the pitfalls of closed-door diplomacy see A. D. Lee, Abduction and
Assassination. The Clandestine Face of Roman Diplomacy in Late Antiquity, in: The Internation-
al History Review 31 (2009), 1–23.
38 See further J. Speigl, Die Synode von Herakleia 515, in: AHC 12 (1980), 47–61.
39 Epistulae 1; 2; 9 (to Caesarius of Arles); 75; 76; 78; 89; 90; 91; 98; 99; 103; 124.
40 See F. Carcione, La controversia tra Ormisda e i monaci sciti sulla formula ‚Unus de Trinitate
passus est carne‘. Calcedonismo integralista e caldedonismo integrato a confronto, in: Noce (ed.)
(as in no. 3), 57–73.

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 Church and Emperor in the Letters of Hormisdas I, Bishop of Rome (514–523)    327

was crucified for us in the flesh“ to the Trisagion or Thrice Holy hymn sung in
the liturgy just before the Gospel reading.41 This addition, which was adapted
from the Henotikon and probably arose in Antioch during the patriarchate of Peter
the Fuller (d. 488), was espoused by anti-Chalcedonians on the grounds that it
struck a blow at Nestorianism, The Scythian monks were Chalcedonian, anti-Ne-
storian, and anti-Roman, and considered that the addition, which came to be
dubbed „theopaschite“, bolstered the case for Chalcedon.42 While Justinian con-
sidered that the addition possessed considerable politico-ecclesiastical mileage,
Hormisdas was opposed to it, but it was to hinder his negotiations with the East.43
A complicating factor in the struggle between church and emperor was the activity
of Vitalian, the Illyrian magister militum, who had close ties with Rome, was related
to the deposed Chalcedonian Constantinopolitan patriarch Macedonius, and was
the godson of the Chalcedonian Patriarch Flavian of Antioch.44 As a pro-Roman
Chalcedonian, Vitalian seems to have forced the cancellation of the synod of Hera-
clea,45 and he demanded the restoration of the Thrice Holy to its original form and
the reinstatement of the deposed patriarchs Macedonius and Flavian.46 Eventually
he made three attacks on Constantinople, in 513, 514, and 515, only to be repulsed,
an outcome that was seen as redounding to the anti-Chalcedonian cause.47
The early correspondence between Hormisdas and Anastasius is friendly
enough (Epistulae 2; 4; 6). Events took another turn, however, when the papal
legates, Ennodius of Ticinum, Fortunatus of Misenum, the presbyter Venantius,
the deacon Vitalius, and the notarius Hilary, were sent to Constantinople in July
515 with a list of instructions (indiculus) regarding their behaviour while in the

41 On the historico-theological background to the hymn and its addition see A. Grillmeier with
T. Hainthaler, Christ in Christian Tradition 2. From the Council of Chalcedon (451) to Gregory the
Great (590–604). Part Two. The Church of Constantinople in the Sixth Century, London 1995,
254–262; English translation by J. Cawte/P. Allen of Jesus der Christus im Glauben der Kirche
2/2, Freiburg 1989; D. I. Viezure, Verbum Crucis, Virtus Dei. A Study of Theopaschism from the
Council of Chalcedon (451) to the Age of Justinian, PhD thesis, University of Toronto 2009. See
also Schwartz (as in no. 3), 242–244.
42 See Frend (as in no. 3), 244–246; Sardella, Ormisda, santo (as in no. 4), 477.480–481.
43 Chadwick (as in no. 3), 53. See the letter of Justinian to Hormisdas, Epistula 89, and Frend
(as in no. 3), 246 with no. 2, in which the Count requests the pope’s immediate attention to the
problem of the monks.
44 See Speigl (as in no. 38), 50, no. 20–21.
45 Speigl (as in no. 38), 49.
46 See Frend (as in no. 3), 231.
47 For the details see M. Whitby (trans.), The Church History of Evagrius Scholasticus (TTH
33), Liverpool 2000, 194 no. 169; P. Allen/C. T.R. Hayward (eds.), Severus of Antioch, The Early
Church Fathers, London 2004, 19.

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328   Pauline Allen

East (Epistula 7 [JK 774 = J³ 1508]). They carried other documents as well. The
beginning of the indiculus deserves to be cited as an example of the minutiae that
occupied the pontiff.

When, with the help of God and the prayers of the apostles,48 you arrive in Greek territories,
if bishops should wish to meet you, receive them with reverence, as is appropriate. And if
they should want to provide hospitality do not reject it, in case the lay people judge that
you do not want to be on good terms with them. But if they should wish to invite you to a
party (convivium), turn them down with an affable excuse and say: „Pray that first we may
deserve to have that mystical table in common, and then that will be more delightful for
us.“ But if they should wish to offer you food or something else (except transport, however,
if the circumstance should require it), do not accept: rather, make excuses like this, saying
that you need nothing, hoping too that they bring their souls into conformity with you,
where there are gifts and wealth and love and unity, and whatever it is established pertains
to religious joy.49

Attached to the list of instructions was a libellus, which came to be known as


the Libellus of Hormisdas, although the document itself makes clear that it was
written by someone else and presented to the pontiff, who authenticated it.50 The
document, also known as the „Formula of Hormisdas“ or the „Rule of Faith“,
proclaims the Council of Chalcedon, the writings of Cyril of Alexandria, and the
Tome of Leo, while condemning heretics including Nestorius and Acacius. Com-
munion with the apostolic see is presented as the sole criterion for the correct

48 Presumably Peter and Paul, emphasizing the apostolic connection with the see of Rome. See
further section 2 in this document.
49 Epistula 7,1 [748 Thiel; trans. B. Neil, P. Allen, Negotiating Religious Conflict. Letters in Rome
and Byzantium in the Sixth-Seventh Centuries, forthcoming]: Cum Dei adjutorio et orationibus
apostolorum venientes in partes Graeciarum, si episcopi voluerint occurrere, in qua decet, eos ven­
eratione suscipite. Et si voluerint secessionem parare, nolite spernere, ne judicetur a laicis nullam
vos cum ipsis habere velle concordiam. Si vero vos ad convivium rogare voluerint, blanda excusa­
tione eos declinate, dicentes: Orate, ut primum mysticam illam mensam mereamur habere commu­
nem, et tunc erit nobis ista jucundior. Victualia vero vel si qua alia offerre voluerint, excepta tamen
subvectione, si causa poposcit, nolite suscipere: sed taliter excusate, nihil deesse dicentes, sper­
antes etiam, ut animos suos vobis accommodent, ubi sunt et dona et divitiae et caritas et unitas et
quidquid ad gaudium religiosum certum est pertinere. Gillett (as in no. 24), 227–230 (230), believes
that the indiculi were perhaps not prescriptive but intended more as a guide to the ambassadors,
although we may wonder why an aristocratic, worldly-wise bishop like Ennodius of Pavia would
need such guidance. Nevertheless the usually judicious Richards (as in no. 19), 100, takes the
document at face value.
50 See the end of the document, where it is written: Hanc autem professionem meam manu pro­
pria subscripsi, et tibi Hormisdae, sancto et venerabili papae urbis Romae, obtuli die XV Calendas
Aprilis, Agapito viro clarissimo consule (Epistula 7,9 [755 T.]).

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 Church and Emperor in the Letters of Hormisdas I, Bishop of Rome (514–523)    329

faith.51 This „Rule of Faith“ was to become influential, not only in bringing the
Acacian schism to an end but also in arguing the case for papal primacy at the
Fourth Council of Constantinople in 869, the Council of Florence in 1439, and the
first Vatican Council of 1870.52 It was paraded between Rome and Constantino-
ple during the second embassy instigated by Hormisdas (see below), after which
it was eventually signed and agreed to by most bishops in West and East who
accepted papal authority and the Council of Chalcedon. However, this develop-
ment signalled the rise of the Syrian church, which was anti-Chalcedonian.53
Together with the indiculus and the libellus, also in the ambassadors’ luggage
was a letter from Hormisdas to Emperor Anastasius, dated as well to 11 August 515
(Epistula 8 [JK 775 = J³ 1509]), in which the pope makes clear the conditions on
which he would accept the convening of a council in the absence of a precedent.54
Subsequently, on 10 July 516 Anastasius replied to Hormisdas (Epistula 10),
condemning Nestorius and Eutyches, confirming Chalcedon, but asserting that
the names of Acacius and others could not be struck from the diptychs without
scandal. This was followed shortly afterwards on 16 July by a letter from the
emperor, carried by two of his highest court officials, Theopompus the comes
domesticorum and Severian the comes sancti consistorii, in which Anastasius
urged Hormisdas to peace (Epistula 11). The same bearers conveyed to Rome a
letter from Anastasius to the senate there, asking the senators to beg both the
pope and the Ostrogothic king Theodoric55 to arrange peace (Epistula 12, 28 July
516), a plea that was answered by Hormisdas in the following month, once again
through Theopompus and Severian, affirming that he was insistent on unity and
hoped Anastasius would be, too (Epistula 13 [JK 779 = J³ 1518]). At the same time
the Roman senate despatched its reply to the emperor through Theopompus and
Severian, to the effect that King Theodoric had ordered it to engage Hormisdas in

51 There are several versions of Hormisdas’ libellus: see W. Haacke, Die Glaubensformel des
Papstes Hormisdas im Acacianischen Schisma, Rome 1939, 7; Menze (as in no. 17), 68 no. 47
with lit. Previous translations by A. Fortescue, The Reunion Formula of Hormisdas, Garrison NY
1955, are based on earlier versions of the document. It is not clear why Viezure (as in no. 41), 162
no. 510, asserts that the libellus is not extant. See Menze (as in no. 17), 68–71, for detailed analysis
of the contents of the libellus.
52 See further Fortescue (as in no. 51), 13–14; Chadwick (as in no. 3), 53.
53 On this development see Menze (as in no. 17); J.-N. Mellon Saint-Laurent, Missionary Stories
and the Formation of the Syriac Churches, Berkeley CA 2015.
54 Speigl (as in no. 38), 47, notes that this council would have been the only ecumenical council
between Chalcedon (451) and Constantinople (553).
55 On whom see J. Moorhead, Theodoric in Italy, Oxford 1973; P. Amory, People and Identity in
Ostrogothic Italy, Cambridge 1997, 489–554.

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330   Pauline Allen

the peace process, adding that it would be a scandal if the memory of one man,
Acacius, should cause people to withdraw from caritas (Epistula 14, August 516
[769 T.]). This underlines the complexity of the relations between emperor and
church at the time, for as Sotinel writes: „Odoacer and his successor Theodoric the
Ostrogoth officially ruled under the sovereignty of the emperor in Constantinople
but in fact were the true political authorities with whom Italian Christian leaders
had to deal.“56 A hiatus then follows in the surviving correspondence between
pontiff and emperor, until Hormisdas’ letter of 3 April 517 (Epistula 27 [JK 789
= J³ 1532]), accusing Acacius of having fermented terrible troubles in the eastern
churches. There follow two letters from the pope to the East, one addressed to all
the bishops of the Orient (Epistula 29 [JK 791 = J³ 1534]) and another to orthodox
eastern bishops (Epistula 130 [JK 792 = J³ 1535], dated 3 April 517) urging them to
unity in fairly non-specific terms. The remaining surviving pieces of correspond-
ence between emperor and pope are Epistulae 37 (JK 797 = J³ 1540) and 38, the
first being a plea by Hormisdas for clemency regarding the troubles of Bishop
John of Nicopolis in Epirus Vetus, and the second, a letter from Anastasius urging
gentleness, with the memorable statement: „for we can bear to be insulted and
held in contempt, but we cannot bear to be given orders“.57

3 Second embassy
The death of Emperor Anastasius on 9 July 518 and the accession of the pro-Chal-
cedonian Latin-speaking Justin I changed the politico-ecclesiastical landscape
in both East and West.58 The Chalcedonian restoration instigated by the new
emperor resulted in the exile of eastern bishops opposed to the council of 451,
many of them high-profile like Severus of Antioch, Julian of Halicarnassus, and
Philoxenus of Mabbug.59 All this should have expedited Hormisdas’ negotiations
with the Byzantine capital to secure ecclesiastical unity, but the path was still to

56 C. Sotinel, Emperors and Popes in the Sixth Century. The Western View, in: M. Maas (ed.), The
Cambridge Companion to the Age of Justinian, Cambridge 2005, 267–290 (268).
57 Epistula 38 (814 T.): injurari enim et annullari sustinere possumus, juberi non possumus.
58 Particularly on the contemporary and near-contemporary sources regarding Justin’s acces-
sion see G. Greatrex, The Early Years of Justin I’s Reign in the Sources (Electrum 12), 2007, 99–113.
Further Richards (as in no. 19), 476–752.25–26.; Blaudeau, Petrine Ideology (as in no. 3), 366, on
the aims of the new dynasty.
59 For a tentative list of expelled anti-Chalcedonian bishops see E. Honigmann, Évêques et
évêchés monophysites d’Asie antérieure au VIe siècle (CSCO.Sub 2), Louvain 1951, 146–148. On
the Chalcedonian restoration see Frend (as in no. 3), 233–254. For nuanced reviews of the idea

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 Church and Emperor in the Letters of Hormisdas I, Bishop of Rome (514–523)    331

be tricky, as the correspondence between Justin, his nephew Justinian, the patri-
archs and élites of Constantinople, and the pontiff was to prove. With the advent
of Justin we witness a swell in the letter-exchange between East and West and
between „Kirche und Kaiser“ compared with that in the reign of Anastasius I.60
The exchange of letters between Justin I and Justinian on the one hand and
Hormisdas on the other as it survives61 began with the emperor’s announcement
on 1 August 518 of his elevation to the imperial throne (Epistula 41) and his second
letter (Epistula 42, 7 September 518), informing the pontiff that John, patriarch
of Constantinople, and others desire peace between the churches. On the same
day as his uncle wrote to Hormisdas, Justinian despatched a letter to the same
addressee, underlining Justin’s concern for the unity of the churches and urging
the pope not to delay coming to Constantinople or at least sending his legates
to discuss peace (Epistula 44). This is the first indication of the active, indeed
sometimes overbearing role that Justinian was to play in negotiating ecclesias-
tical peace with the bishop of Rome and of his commandeering epistolary tone
to the pontiff. Fortunately the Romans were well informed of Justinian’s influ-
ence in Constantinople and of the rise and fall of officials there.62 We also have
exchanges between John, patriarch of Constantinople, who informs Hormisdas
that the name of Leo of Rome and his own name have been put into the diptychs
(Epistula 43, 7 September 518), and a reply from Hormisdas asking for the removal
of Acacius’ name from the diptychs (Epistula 47 [JK 803 = J³ 1555], January 519).
This was shortly before the departure of the second papal embassy to the East
in the same month. On this occasion the legates made various stops along the
way in order to obtain signatures for the libellus; they met with varying degrees
of success before entering the imperial capital on 25 March 519.63 According to a
report sent by the Egyptian deacon Dioscorus to the pontiff (Epistula 65, 22 April

that Justin was a staunch Chalcedonian see the summary in Viezure (as in no. 41), 162 no. 508;
Menze (as in no. 17), 22–25.
60 Although Capizzi (as in no. 18), 25, speaking of the years 515–517, says that the sources avail­
able are scarce and fragmentary: there are only a few letters from those years between Anasta-
sius I and Hormisdas, and a few references such as those in the Liber pontificalis, Marcellinus
Comes, and Theophanes.
61 For a list of the letters between Justin and Hormisdas see Gillett (as in no. 5), 264.
62 See Gillett (as in no. 5), 266–267. Frend (as in no. 3), 235, calls Hormisdas „a diplomat of the
first rank.“
63 For the progress of the entourage see Viezure (as in no. 41), 162–163. On the second indiculus
and the letter carried by the legates see Epistula 49 (JK 805 = J³ 1557), trans. of second indiculus
in Neil/Allen (as in no. 49); for Hormisdas’ accompanying letter to Justin see Epistula 50 (JK 806
= J³ 1558).

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332   Pauline Allen

519), a letter-bearer who played an extraordinary role in the dénouement of the


Acacian schism,64 the arrival of the legates was met with great joy, the embassy
being greeted at the tenth mile-stone outside Constantinople and escorted to the
imperial capital by the Illyrian magister militum Vitalian, the patricius Pompey, a
nephew of Emperor Anastasius,65 and Count Justinian; on the one hand, a signal
mark of honour but on the other, a safeguard concerning the conduct of the leg-
ates.66 Let us cite Dioscorus himself on the topic of the reception of the papal
legates:

With the commendation of your prayers we arrived in the city of Constantinople on the
second feast-day of the original week.67 At the tenth mile-stone from the city already men-
tioned, lofty and magnificent men came to meet us, among whom were Vitalian, the mag­
ister militum, Pompey, and Justinian. There followed them also other senators, and many
who were on fire with warmth and desire for the restoration of the peace of the catholic
faith. What more can I say? To the great joy of almost everyone we entered the city. On the
next day, which is the third feast-day, we were presented at an audience with the most pious
prince (principis). The entire senate was present there, in which meeting (conventu) there
were also four bishops, whom the bishop of Constantinople had despatched in his stead.
We took the letter of Your Beatitude, which the most clement prince (princeps) received with
great reverence.68

64 We even have a submission (suggestio) of Dioscorus, reporting verbatim a conversation he


held with Emperor Justin, in which the removal of the names of Acacius, Anastasius I, and Zeno
from the diptychs was discussed (Epistula 65, 22 April 519). It appears that Dioscorus was a can-
didate for the patriarchate of Antioch as well as subsequently of Alexandria: see Viezure (as in
no. 41), 169–172; Blaudeau, Petrine Ideology (as in no. 3), 377–378.383.
65 On his career see PLRE 2 (as in no. 8), 898–899, s.v. Pompeius 2.
66 See Gillett (as in no. 24), 251–252. on the ceremonial surrounding such entries. The triumphal
entry of these legates into the imperial capital is also recounted in Epistula 64, a suggestio com-
posed by the ambassadors, Bishops Germanus and John, and their entourage. On the genre of
the suggestio see further below.
67 Hebdomadis authenticae, i.e. Holy Week.
68 Epistula 65 (Suggestio Dioscori diaconi per Pullionem subdiaconum), 2–3 (858–859 T.; trans.
N./A. [as in no. 49].): Vestris orationibus commendati ad Constantinopolitanam pervenimus civi­
tatem feria secunda hebdomadis authenticae. Decimo ab urbe praedicta milliario sublimes et mag­
nifici viri nobis occurrerunt, inter quos sunt magister militum Vitalianus, Pompejus et Justinianus;
secuti sunt et alii senatores, multique catholicae fidei calore ac desiderio redintegrandae pacis
ardebant. Quid plura? Cum summis pene omnium gaudiis ingredimur civitatem. Alia die, quae est
tertia feria, piissimi principis praesentamur adspectibus: cuntis illic aderat senatus, in quo conven­
tu erant et episcopi quatuor, quos episcopus Constantinopolitanus pro sua persona direxerat. Ob­
tulimus beatitudinis vestrae litteras, quas clementissimus princeps cum grandi reverentia suscepit.

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 Church and Emperor in the Letters of Hormisdas I, Bishop of Rome (514–523)    333

The libellus which was publicly signed by Patriarch John II on 28 March con-
demned Acacius and his four successors in the see of Constantinople, as well as
Emperors Zeno and Anastasius. This was indeed a victory for Hormisdas.69
Although the letter of Patriarch John II to Hormisdas, dated 22 April 519 (Epis­
tula 67) announces that peace has been restored between Old and New Rome, the
subsequent correspondence between papacy and imperium indicates that all was
not rosy.70 Even the suggestio71 of Bishops Germanus and John, the deacons Felix
and Dioscorus, and the presbyter Blandus which dates from the same day (Epis­
tula 64), while describing the joy with which peace has been returned to Con-
stantinople through the efforts of Hormisdas, expresses the hope that a similar
situation will obtain in Antioch. We shall see that the attitude to Chalcedon in
both Antioch and Alexandria was an obstacle to the designs of both church and
state for unity.72
Another indication that the peace process needed impetus is provided by nine
letters from or to Hormisdas from imperial and élite women in the East, which
constitute a good example of „lateral diplomacy“. This is not unlike the diplo-
macy conducted in the exchange of letters between East and West in 450 regard-
ing the holding of a council: of the seven letters four feature imperial women as
writers or addressees.73 Chief among Hormisdas’ letters to female correspondents
are two letters from the pontiff to Empress Euphemia: Epistula 51 (January 519
[JK 807 = J³ 1559]) asking her to promote unity, while Epistula 94 (2 September
519 [JK 831 = J³ 1603]) begs for her intercession in reinstating three bishops. The
empress replied on 9 July 520 (Epistula 117) in neutral tones, commending herself,
the emperor, and the state to Hormisdas’ prayers.74 Also in January 519 Hormisdas
wrote to the élite women Anastasia and Palmatia75 (Epistula 56 [JK 813 = J³ 1565]),
urging them to work for the peace of the church. Two letters sent to the pontiff

69 On these events see Frend (as in no. 3), 236 with no. 4, who notes that the original of this
document, unfavourable to the imperial house in the East, was sent to the papal archive in Rome.
70 On the mixed reception of the libellus see A. Evers, East and West, emperor and bishop.
­Hormisdas and the authority of the see of Rome, in: A. Fear/J. Fernández Urbina/M. Marcos
(eds.), The Role of the Bishop in Late Antiquity. Conflict and Compromise, London 2013, 167–188
(179–180) (an otherwise disappointing article). Menze (as in no. 17), 75, suggests that the stip-
ulation in the libellus that certain bishops’ names be removed from the diptychs was a stum-
bling-block in the peace process.
71 On the role of the suggestio or submission in diplomacy see Millar (as in no. 35), 207–214.
72 The problems which the churches of Antioch and Alexandria, together or separately, posed
for unity can be discerned from Epistulae 75; 76; 79; 80; 87; 104; 105 (cf. 120); 145; 146.
73 Millar (as in no. 35), 231.
74 On Euphemia see PLRE 2 (as in no. 8), 423, s.v. Lupicina quae et Euphemia 5.
75 On their identities see Gillett (as in no. 5), 264–265.

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334   Pauline Allen

on the same day, 22 April 519, from the patrician women Anastasia and Juliana
Anicia76 (Epistulae 70; 71) express the hope that heretical error will be stamped
out, and Juliana Anicia requests Hormisdas not to withdraw his legates from Con-
stantinople until peace has been completely confirmed. These two letters were
answered on 9 July 519 (Epistulae 84; 85 [JK 825; 824 = J³ 1596; 1595]) with the
request that heresy be extinguished and seeds of schism exterminated. Included
in a packet of letters that left Constantinople for Rome on 9 July 520 (Epistulae
116–121) was another letter addressed to Hormisdas from Juliana Anicia (Epistula
119), which survived only in fragmentary form, praising the pontiff for his assi-
duity in matters of faith. As well as influential women, through lateral diplomacy
secular officials like Celer and Patricius (Epistula 54 [JK 810 = J³ 1562]; Epistula 83
[JK 823 = J³ 1594]; Epistula 118) and Pompey (see below) are requested to assist
the peace process.
On 9 July 519 Hormisdas wrote to Justinian (Epistula 81 [JK 821 = J³ 1592])
urging the completion of the peace process, and on the same day sent a similar
message to the patricius Pompey (Epistula 83 [JK 823 = J³ 1594]). A year later there
was still a stalemate, for the illustris Celer advised the pontiff that, while the
church of Constantinople had returned to unity, clementia was required in the
case of the other churches (Epistula 118, 9 July 520), and Justinian wrote to Horm-
isdas (Epistula 120, 9 July 520) stipulating that two points were necessary for the
complete unity of the churches: firstly, nobody should be condemned by name
except the originators of heresies (implying that Acacius was not a heresiarch),
and secondly, it needed to be decided whether Christ can rightly be said to have
suffered in the flesh as one of the Trinity (again an oblique reference to the Scyth-
ian monks). If agreement can be reached on these two points, writes Justinian, all
the priests of the empire will gladly embrace communion with the pontiff. Horm-
isdas was not one to be forced into a corner by the imperium or its representative,
and, as his letter to the African bishop Possessor shortly afterwards demonstrates
(Epistula 124 [JK 850 = J³ 1639], 13 August 520), his attitude to the Scythian monks
was virulent; he denounces their pride, obstinacy, and disturbances. Having
received no immediate reply from Rome, Justinian wrote again on 31 August (Epis­
tula 126), requesting in a peremptory tone that the pontiff resolve the two points
outlined in his previous letter and not put off an answer. Further evidence of a
sluggish peace process can be gathered from the letter of Justin to Hormisdas of
9 September, which states that the emperor has not changed his mind about
peace, but has been unable to deter many churches from reciting their (banned)
bishops’ names in the diptychs (Epistula 129), and a report of Patriarch Epipha-

76 PLRE 2 (as in no. 8), 76–77, s.v. Anastasia 3, and 635–636, s.v. Anicia Iuliana 3, respectively.

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 Church and Emperor in the Letters of Hormisdas I, Bishop of Rome (514–523)    335

nius of Constantinople to the pontiff, sent on the same day, observing that peace
is still not complete (Epistula 130). In a third attempt to corner Hormisdas, Justin-
ian despatched a letter on 9 September (Epistula 132) begging the bishop of Rome
to continue in his zeal for the faith by replying to the emperor on the two points
raised by Justinian in previous letters. The pope does not seem to have replied
directly to these demands, but wrote to the emperor on 29 October (Epistula 133
[JK 853 = J³ 1651]), maintaining that he had never doubted Justin’s faith but stating
that, at the same time, ecclesiastical peace was not secure. Five months later, in a
batch of letters sent to the East, Hormisdas expresses to the synod of Constantino-
ple his hope for perfect peace (Epistula 139 [JK 859 = J³ 1654], 26 March 521) and to
Emperor Justin the fact that he is looking forward to a new tranquillity in church
affairs (Epistula 140 [JK 860 = J³ 1655]). As far as Antioch was concerned, this was
not about to happen, for the successor of the anti-Chalcedonian Severus, Paul
(nicknamed „the Jew“), resigned from his patriarchate,77 as a letter from Justin
to Hormisdas announces (Epistula 145, 1 May 521), accompanied by a report by
Patriarch Epiphanius of Constantinople with the same news (Epistula 146). As
late as July 521 Epiphanius reported to the bishop of Rome that the defensor Pau-
linus, already mentioned, was engaged in trying to bring the churches together,
according to Hormisdas’ instructions, but advises that clementia is required in
the exercise (Epistula 147).

4 Concluding observations
We have witnessed the sometimes frenetic correspondence between the church
of Rome and the emperor in Constantinople, as demonstrated by the „remark-
able dossier“ of letters from and to Hormisdas. The unity between church and
state that seemed assured by the acceptance and apparent triumph of Hormisdas’
libellus was to remain insecure, particularly later in view of Justinian’s aim of
restoring political unity to the empire, which required some concessions to the
anti-Chalcedonians and the retrieval of Italy from the control of King Theodoric.78
These strategies could not have been envisaged by Hormisdas before his death
in 523.

77 On the demise of Severus and the accession and demise of Paul see P. Allen, Episcopal Suc-
cession in Antioch in the Sixth Century, in: J. Leemans/P. Van Nuffelen/S. W. J. Keough/C. Nico-
laye (eds.), Episcopal Elections in Late Antiquity (AKG 119), Berlin 2011, 26–28.
78 Chadwick (as in no. 3), 53–54.

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336   Pauline Allen

With the correspondence of Hormisdas we have moved away considerably


from the situation of church and emperor during the Arian controversy of the
fourth century, which, as we said at the beginning of this chapter, was studied by
Berkhof some seventy years ago in a work which forms a starting-point for this
Festschrift.79 Berkhof’s dicta: „der Östler lebt im Denken, der Westler in der Tat“,80
„Im Osten wurde das Dogma ausgebildet, im Westen die Kirchenorganisation“,81
„Denn der westliche Geist ist aktiv, handelnd in der gegebenen Welt; der östliche
dagegen passiv, meditierend über die göttliche Welt“;82 „der Westen ist praktisch
und aktiv, der Osten mystisch und spekulativ“,83 cannot be applied uniformly to
the circumstances of Hormisdas’ relations with the imperium in the first quarter
of the sixth century or to the post-Chalcedonian situation in general. We have
only to think of the confrontational epistolary tone of Justinian, who was not an
emperor at that stage, to prove that the negotiators in the East were anything but
passive, mystical, and speculative, and that they were not engaged in dogma,
although Justinian tended later in the direction of theology during his long reign
(527–565). As for Hormisdas, he was a consummate, if cautious, politician, well
informed about the activities of the imperial court in Constantinople, and in Berk-
hof’s terms ‚aktiv‘, as seen particularly in his assiduous correspondence. Perhaps
it is more apposite to recognise the ascendance of the „two powers“ theory of Pope
Gelasius I in the West (the auctoritas of the pontiffs and the potestas of the emper-
ors)84 and Justinian’s distinction in the East between priesthood (ἱεροσύνη) and
empire (βασίλεια), which nonetheless did not involve a separation of powers.85 In
any case, however successful in the short term Hormisdas’ libellus was in over-
coming the Acacian schism and the tension between emperor and church, in the
long term the Syrian church and the church of Alexandria remained political and
ecclesiastical problems for both East and West.86

79 Berkhof (as in no. 2).


80 Id. (as in no. 2), 196.
81 Id. (as in no. 2), 197.
82 Id. (as in no. 2), 197.
83 Berkhof (as in no. 2), 198.
84 See further Epistula 12 (349–358 T.); English trans. in Neil/Allen, The Letters of Gelasius I (as
in no. 9), 73–80.
85 G. Dagron, Emperor and Priest. The Imperial Office in Byzantium, Cambridge 2003, 302–306,
revised edition of Empereur et prêtre. Étude sur le ‚césaropapisme‘ byzantin, Paris 2003, trans.
J. Birrell. On this juxtaposition of terms see, too, Blaudeau, Alexandrie (as in no. 3), 416–426.
86 See further Blaudeau, Le siège (as in no. 3), 235–249.

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Attila, ἐκ τοῦ γένους τῶν Γηπέδων
Literarische Beziehungen zwischen Johannes Malalas und
Prokop?

Aus der Perspektive des griechischen Ostens vollzog sich der komplexe Transfor-
mationsprozess der antiken Welt im Westen in Gestalt einer barbarischen Land-
nahme, die bereits gegen Mitte des 6. Jahrhunderts als weitgehend vollzogen
erschien. „Während Honorius“, so resümiert Prokop, „die Herrschaft im Westen
innehatte, bemächtigten sich Barbaren seines Landes“.1 Welche Barbaren dar-
unter konkret zu verstehen seien, führt der Historiograph direkt im Anschluss
aus: gotische Verbände (Γοτθικὰ ἔθνη), unter denen die „Goten (Ostgoten?), Van-
dalen, Visigoten und Gepiden“ die bedeutendsten seien.2 Abgesehen von ihren
verschiedenen Bezeichnungen unterschieden diese sich in nichts. Sie alle hätten
eine helle Hautfarbe und blonde Haare, seien hochgewachsen, folgten densel-
ben Gesetzen und demselben Glauben – gemeinsam seien sie nämlich Anhän-
ger der Lehre des Arius (dies eine der Keimzellen der wirkmächtigen These eines
„germanischen Arianismus“, die Hanns Christof Brennecke erfolgreich widerlegt
hat).3 Im Übrigen sprächen sie sämtlich Gotisch.4 Diese gotischen Verbände nun,
ursprünglich ein einziges ethnos,5 hätten den Donauraum in Besitz genommen
(zu Prokops Zeit spielten dabei die Gepiden aufgrund ihrer Reichsbildung um das

1 Prokop, De bello Vandalico 1,2,1 (Procopii Caesariensis Opera Omnia 1: De bellis libri 1–4, ed.
stereotypa correctior, hg. v. J. Haury und G. Wirth, Leipzig 1962, 311,3–4): Ὁνωρίου δὲ τὴν πρὸς
ἡλίου δυσμαῖς ἔχοντος βασιλείαν βάρβαροι τὴν ἐκείνου κατέλαβον χώραν.
2 Prokop, De bello Vandalico 1,2,2 (311,5–8 H./W.): Γότθοι […] καὶ Βανδίλοι καὶ Οὐισίγοτθοι καὶ
Γήπαιδες.
3 Vgl. dazu H. C. Brennecke, Lateinischer oder germanischer ‚Arianismus‘? Zur Frage einer De-
finition am Beispiel der religiösen Konflikte im nordafrikanischen Vandalenreich, in: H. Müller/
D. Weber/C. Weidmann (Hgg.), Collatio Augustini cum Pascentio. Einleitung, Text, Übersetzung,
Wien 2008, 125–144; id., „Arianismus“. Inszenierungen eines Konstrukts, in: Erlanger Universi-
tätsreden 83 (2014), 17–40.
4 Prokop, De bello Vandalico 1,2,3–5 (311,11–17 H./W.): οὗτοι ἅπαντες ὀνόμασι μὲν ἀλλήλων
διαφέρουσιν, ὥσπερ εἴρηται, ἄλλῳ δὲ τῶν πάντων οὐδενὶ διαλάσσουσι. λευκοί τε γὰρ ἅπαντες τὰ
σώματά εἰσι καὶ τὰς κόμας ξανθοί, εὐμήκεις τε καὶ ἀγαθοὶ τὰς ὄψεις, καὶ νόμοις μὲν τοῖς αὐτοῖς
χρῶνται, ὁμοίως δὲ τὰ ἐς τὸν θεὸν αὐτοῖς ἤσκηται. τῆς γὰρ Ἀρείου δόξης εἰσὶν ἅπαντες, φωνή τε
αὐτοῖς ἐστι μία, Γοτθικὴ λεγομένη […].
5 Prokop, De bello Vandalico 1,2,5.

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338   Mischa Meier

Gebiet von Sirmium [h. Sremska Mitrovica] herum eine besondere Rolle);6 einzig
die Visigoten seien weitergezogen und hätten sich nach Westen bewegt, um beide
Teile des Römischen Reiches zu attackieren7 – ein Prozess, der Prokop die Gele-
genheit gibt, im Anschluss den Blick auf die Eroberung Roms durch Alarich im
Jahr 410 zu richten.8
Die Vorstellung von den Γοτθικὰ ἔθνη, die im 5. Jahrhundert den Donauraum
dominiert und das Weströmische Reich zu Fall gebracht hätten, zieht sich, mit
einem Schwerpunkt im 6. Jahrhundert, durch die byzantinische Historiographie.9
So findet sich in der Theophanes-Chronik (Anfang 9. Jh.) in direktem Rückgriff auf
Prokop ebenfalls die Liste aus Goten, Visigoten, Gepiden und Vandalen, unter
Hinweis auf die sprachliche Einheit (μιᾷ διαλέκτῳ κεχρημένοι) und die gemein-
same „arianische Häresie“ (πάντες δὲ τῆς Ἀρείου ὑπάρχουσι κακοπιστίας),10
und Ähnliches ist, verkürzt, in der Logothetenchronik aus dem 10. Jahrhundert
zu lesen.11 Selbst die Kirchengeschichte des Nikephoros, entstanden im frühen
14. Jahrhundert, bewahrt im Wesentlichen denselben Text.12 Noch in das 6. Jahr-
hundert und damit in unmittelbare zeitliche Nähe zu Prokop datiert die Sabas-
Vita Kyrills von Skythopolis; sie zeigt, dass das Quartett auch in der Hagiogra-

6 W. Pohl, Die Gepiden und die Gentes an der mittleren Donau nach dem Zerfall des Attilarei-
ches, in: H. Wolfram/F. Daim (Hgg.), Die Völker an der mittleren und unteren Donau im fünften
und sechsten Jahrhundert, Wien 1980, 239–305. – Tatsächlich scheinen Goten und Gepiden im
6. Jh. als eng verwandt wahrgenommen worden zu sein: Als nach der Schlacht bei den Busta Gal-
lorum 552 ein gepidischer Soldat aus dem oströmischen Heer seinen Speer gegen den fliehenden
Gotenkönig Totila richtete, soll einer von dessen Gefolgsleuten ihn heftig getadelt haben, weil er
„seinen eigenen Herrn“ (τὸν δεσπότην τὸν σαυτοῦ) angreife (Prokop, De bello Gothico 4,32,22–24
[Procopii Caesariensis Opera Omnia 2: De bellis libri 5–8, ed. stereotypa correctior, hg. v. J. Haury
und G. Wirth, Leipzig 1963, 658,15–659,3]).
7 Prokop, De bello Vandalico 1,2,6–7.
8 Prokop, De bello Vandalico 1,2,8–30.
9 Zu auffälligen Beziehungen dieser Liste zur sog. Fränkischen Völkertafel siehe W. Goffart, The
Supposedly ‚Frankish‘ Table of Nations: An Edition and Study (FMSt 17), Berlin 1983, 98–130.
10 Theophanes, Chronographia a.m. 5931 (C. de Boor [Hg.], Theophanis Chronographia 1, Leip-
zig 1883, ND Hildesheim 1963, 94,9–19).
11 Symeon Magistros, Chronicon 97,12 (S. Wahlgren [Hg.], Symeonis Magistri et Logothetae
Chronicon [CFHB.Series Berolinensis 44], Berlin 2006, 127,62–63): ἐκ τῶν Γότθων ἔθνη γέγονε
τέσσαρα· Γότθοι, Ὑπόγοτθοι, Γήπαιδες καὶ Οὐανδήλοι.
12 Nikephoros Kallistos, Historia ecclesiastica 14,56 (PG 146, 1265C–1268A): Τηνικαῦτα δὲ
πολλά τε καὶ μέγιστα Γοτθικὰ ἔθνη κατὰ τὸ πέραν τοῦ Ἴστρου ἀνὰ τὰ ὑπερβορέα μέρη πανταχοῦ
διεσκέδαστο· ὧν τὰ μάλιστα παρ’ ἐκείνοις λόγου πολλοῦ ἄξια τέσσαρά εἰσι, ταύταις ὠνομασμένα
ταῖς κλήσεσι· Γότθοι, Οὐεσίγοτθοι, Γήπιδες καὶ Οὐάνδαλοι· ὀνόμασι μόνοις καὶ ἄλλῳ οὐδενὶ
παραλλάσσοντα. Ἅπαντες γὰρ μιᾷ διαλέκτῳ καὶ διαίτῃ κεχρημένοι, τοῖς μυσαροῖς Ἀρείου
συνεπήχθησαν δόγμασιν […].

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 Attila, ἐκ τοῦ γένους τῶν Γηπέδων   339

phie präsent war.13 Anspielungen auf die Liste der Γοτθικὰ ἔθνη finden sich
überdies auch in den um die Mitte des 6. Jahrhunderts entstandenen Getica des
Jordanes.14
Dass ausgerechnet die Hunnen mit Blick auf die Geschehnisse jenseits und
diesseits der Donau im 5. Jahrhundert nicht erwähnt werden,15 mag nur auf
den ersten Blick erstaunen. Wie die „gotischen Völker“ wurden sie in der Spät­
antike ebenfalls zu den „Skythen“ gerechnet,16 und Jordanes überliefert sogar
eine Ursprungslegende, die u.  a. auf eine Verwandtschaft von Hunnen und Goten
zielt.17 Als „Skythen“ erschienen Hunnen und Goten im 6. Jahrhundert weitge-
hend identisch, und Prokop hat demzufolge keine Probleme damit, etwa auch
Skiren und Alanen zu den Γοτθικὰ ἔθνη zu zählen.18 Dass vor diesem Hintergrund
selbst der Hunne Attila leicht zu einem Gepiden mutieren konnte, erscheint
daher zunächst einmal folgerichtig und wenig verwunderlich. Johannes Malalas
(6. Jh.) bezeichnet Attila in seiner Weltchronik als Abkömmling „des Verbandes
der Gepiden“ (Ἀττιλᾶς ἐκ τοῦ γένους τῶν Γηπέδων).19 Der im Verlauf der Über-
lieferung erheblich trunkierte, nur in einer einzigen Handschrift (Codex Bodlei­
anus Baroccianus 182, 12. Jh.) überlieferte Malalas-Text wird in diesem Fall durch
eines der sog. Fragmenta Tusculana gestützt – Palimpsest-Stücke aus dem 6.
oder (wohl wahrscheinlicher) 7. Jahrhundert, die, im Jahr 1842 von Angelo Mai
im Kloster Grottaferrata entdeckt und erstmals bearbeitet, einen dem Ur-Malalas

13 Kyrill von Skythopolis, Vita Sabae 72 (Kyrillos von Skythopolis, hg. v. E. Schwartz [TU 49,2],
Leipzig 1939, 176,3–6): τὴν μὲν Ἀρείου αἵρεσιν, ἐπείπερ οἱ τότε Γότθοι καὶ Οὐισσιγότθοι καὶ
Οὐανδάλοι καὶ Γήπιδες Ἀρειανοὶ ὄντες πάσης τῆς Δύσεως ἐκράτουν καὶ ἔγνω πάντως διὰ τοῦ
πνεύματος μέλλειν τὸν βασιλέα τούτων περιγεγονέναι.
14 Iordanes, De origine actibusque Getarum 132–133.
15 Zur Geschichte der Hunnen im 5. Jh. siehe etwa O. J. Maenchen-Helfen, Die Welt der Hunnen,
Wien 1978 (ND Wiesbaden 1997); T. Stickler, Die Hunnen, München 2007; M. Maas (Hg.), The
Cambridge Companion to the Age of Attila, Cambridge 2015. H. J. Kim, The Huns: Rome and the
Birth of Europe, Cambridge 2013, ist wegen mitunter allzu spekulativer Thesen in mancherlei
Hinsicht problematisch. Wenig Neues trägt K. Rosen, Attila. Der Schrecken der Welt, München
2016, bei.
16 Vgl. W. Pohl, Die Germanen (EDG 57), München 22004, 3.28.47.
17 Iordanes, De origine actibusque Getarum 121–122 (MGH.AA 5,1, 89,6–17 Mommsen): Demzufol-
ge entstanden die Hunnen aus der Vereinigung vertriebener gotischer Hexen (der Haliurunnen)
mit unreinen Geistern (spiritus inmundi) in der Steppe (solitudo).
18 Vgl. Prokop, De bello Gothico 1,1,3 (4,9–11 H./W.).
19 Johannes Malalas, Chronographia 14,10 (Ioannis Malalae Chronographia, hg. v. I. Thurn
[CFHB, Series Berolinensis 35], Berlin 2000, 279,46–47. Zur Attila-Tradition in den antiken und
nachantiken Quellen siehe G. Zecchini, Attila: una figura epocale? (RSI 114), Neapel 2002, 868–
879, der die griechische Tradition aber nur marginal streift.

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340   Mischa Meier

noch wesentlich näherstehenden Text bieten20 und an der entsprechenden Stelle


die Formulierung Ἀττιλᾶς ὁ ἐκ τοῦ γένους τῶν Γηπέδων aufweisen.21 Erst in der
späteren Malalas-Tradition wurde, offenbar um vor dem Hintergrund anderer
Quellen zu Attila (Priskos?) stärker zu differenzieren, die Ergänzung Οὕννων hin-
zugefügt, so etwa im Chronicon Paschale (um 630: Ἀττίλας ὁ ἐκ τοῦ γένους τῶν
Γηπέδων Οὕννων)22 oder in der slawischen Malalas-Übersetzung.23
In der Forschung hat die von Malalas vorgenommene Zuweisung Attilas zu
den Gepiden freilich erheblichen Anstoß erregt, findet sie sich doch in einem
Passus, der ein insgesamt höchst verzerrtes Bild der hunnisch-römischen Bezie-
hungen im 5. Jahrhundert bietet. So konnte etwa Otto Maenchen-Helfen zu der
einschlägigen Passage festhalten:

Immer noch schenkt man dem wertlosen Bericht des Malalas, eines Chronisten aus dem
6. Jahrhundert, Glauben. Malalas brachte alles durcheinander. Er nannte Attila einen
Gepiden, verwechselte Theoderich mit Alarich und verlegte die Entscheidungsschlacht
[gemeint ist die sog. Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451, M. M.] von Gallien an
die Donau. Von Attila heißt es, er habe Gesandte nach Rom und Konstantinopel geschickt,
die den beiden Herrschern befehlen sollten, ihre Paläste für ihn bereitzumachen. Gibbon
und nach ihm Thompson dachten, sie könnten in diesem Befehl „den tatsächlichen und
ursprünglichen Stil Attilas“ wiedererkennen. Eher ist es der Stil des stumpfsinnigsten aller
byzantinischen Chronisten.24

Gleichermaßen betrachtet auch Giuseppi Zecchini die „errori di Malala“ als


Ausweis der Tatsache, dass es sich bei dessen Chronik um „un chiaro esempio

20 Zu den Fragmenta Tusculana vgl. zuletzt F. Schulz, Fragmentum Tusculanum II und die Ge-
schichte eines Zankapfels, in: M. Meier/C. Radtki/F. Schulz (Hgg.), Die Weltchronik des Johannes
Malalas. Autor – Werk – Überlieferung (Malalas-Studien 1), Stuttgart 2016, 153–166.
21 Vgl. Johannes Malalas, Chronographia 14,10 (279,+27–+28 T.).
22 Chronicon Paschale (L. Dindorf [Hg.], Chronicon Paschale 1 [CSHB], Bonn 1832, 587,8–9).
23 Vgl. Johannes Malalas, Chronographia 14,10 (279,47 T.). Chronicle of John Malalas. Books VIII–
XVIII. Translated from the Church Slavonic by M. Spinka/G. Downey, Chicago 1940, 80: „Attila,
who was descended from the tribe of the Geped Huns […]“. – Bei Nikephoros Kallistos, Historia
ecclesiastica 14,57 (PG 146, 1269C), derselben Tradition angehörend (G. Gentz/F. Winkelmann,
Die Kirchengeschichte des Nicephorus Callistus Xanthopulus und ihre Quellen, Berlin 21966,
142), ist Attila ein „Gote, aus dem Verband der Gepiden stammend, […] Alleinherrscher über
die Hunnen“ (Ἀττίλας γὰρ ὁ Γότθος ἐκ τοῦ τῶν Γηπέδων καταγόμενος ἔθνους […] καὶ τὸ κράτος
μόνος ἔχων τῶν Οὕννων […]). Letztere Information dürfte auf Theophanes, Chronographia a.m.
5942 (102,15–17 de B.) zurückgehen (Ἀττίλας […] καὶ μόνος ἄρχων τὸ τῶν Σκυθῶν βασίλειον, οὓς
καὶ Οὔννους καλοῦσιν).
24 Maenchen-Helfen (wie Anm. 15), 97–98. Vgl. ähnlich auch G. Moravcsik, Attilas Tod in Ge-
schichte und Sage, in: id., Studia Byzantina, Amsterdam 1967, 59–83 (66–67): „voll grober Irrtü-
mer und falscher Angaben“; „echt byzantinischer Hofklatsch“.

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 Attila, ἐκ τοῦ γένους τῶν Γηπέδων   341

di ‚storiografia bassa‘“ handele,25 und Ulf Täckholm konstatiert: „Johannes


Malalas […] accumulates erroneous details, especially proper names, in his
naively related version of Attila’s campaign“.26
In deutscher Übersetzung lautet das inkriminierte Malalas-Kapitel (14,10) wie
folgt:27

Während seiner [sc. Theodosios II.] und des Valentinianus Herrschaft rückte gegen Rom
und Konstantinopel Attila aus dem Verband der gepidischen Hunnen [Einschub aus der
slaw. Übers.] aus; er führte mit sich eine Schar, die in viele Zehntausende ging, und er hatte
vermittels eines gotischen Gesandten Valentinian, dem Kaiser von Rom, bestellen lassen:
„Durch mich hat dir mein Herr und dein Gebieter, Attila, den Befehl erteilt, du sollest für ihn
deinen Palast herrichten“. In gleicher Weise ließ er aber auch Kaiser Theodosios das gleiche
durch einen gotischen Gesandten nach Konstantinopel ausrichten. Und als Aetius, der
ranghöchste römische Senator, die überschießende Frechheit der verrückten Botschaft des
Attila vernommen hatte, da begab er sich zu Alarich, zu den Galliern, bei dem es sich des
Honorius wegen [Einschub aus der slaw. Übers.] um einen Feind der Römer handelte, und
er gewann ihn und brachte ihn an seiner Seite gegen Attila auf die Beine. Er hatte ja viele
Städte des Römerreiches zerstört. Und sie fielen ganz plötzlich über ihn her, als er nachts
am Donaustrom lagerte, und sie hieben viele Tausende von ihnen [sc. den Hunnen] nieder.
Beim Handgemenge aber erhielt Alarich eine Pfeilwunde und starb. In gleicher Weise ver-
schied aber auch Attila infolge eines Blutsturzes, der des nachts aus der Nase kam; er ruhte

25 G. Zecchini, Aezio. L’ultima difesa dell’occidente romano, Rom 1983, 53.


26 U. Täckholm, Aetius and the Battle on the Catalaunian Fields (Opuscula Romana 7), Rom
1969, 259–276 (274).
27 Johannes Malalalas, Chronographia 14,10 (279,45–64 Thurn): Ἐπὶ δὲ τῆς βασιλείας αὐτοῦ καὶ
Βαλεντινιανοῦ ἐπεστράτευσε κατὰ Ῥώμης καὶ κατὰ Κωνσταντινουπόλεως Ἀττιλᾶς ἐκ τοῦ γένους
τῶν Γηπέδων Οὕννων, πλῆθος ἔχων μυριάδων πολλῶν, δηλώσας διὰ Γότθου ἑνὸς πρεσβευτοῦ
τῷ Βαλεντινιανῷ βασιλεῖ Ῥώμης· „ἐκέλευσέν σοι δι’ ἐμοῦ ὁ δεσπότης μου καὶ δεσπότης σου
Ἀττιλᾶς, ἵνα εὐτρεπίσῃς αὐτῷ τὸ παλάτιόν σου.“ ὁμοίως δὲ καὶ Θεοδοσίῳ βασιλεῖ τὰ αὐτὰ ἐν
Κωνσταντινουπόλει ἐδήλωσε δι’ ἑνὸς Γότθου πρεσβευτοῦ. καὶ ἀκηκοὼς Ἀέτιος ὁ πρῶτος
συγκλητικὸς Ῥώμης τὴν ὑπερβάλλουσαν τόλμαν τῆς ἀπονενοημένης ἀποκρίσεως Ἀττιλᾶ ἀπῆλθε
πρὸς Ἀλάριχον πρὸς τοὺς Γάλλους, ὄντα ἐχθρὸν ’Ρωμαίων διὰ Ὁνώριον, καὶ προετρέψατο
αὐτὸν καὶ ἤνεγκεν αὐτὸν ἅμα αὐτῷ κατὰ Ἀττιλᾶ· ἀπώλεσε γὰρ πόλεις πολλὰς τῆς Ῥώμης. καὶ
ἐξαίφνης ἐπιρρίψαντες αὐτῷ, ὡς ἐστὶν ἀπληκεύων πλησίον τοῦ Δανουβίου ποταμοῦ, ἔκοψαν
αὐτῶν χιλιάδας πολλάς. εἰς δὲ τὴν συμβολὴν πληγὴν λαβὼν ὁ Ἀλάριχος ἀπὸ σαγίτας ἐτελεύτησεν.
ὡσαύτως δὲ καὶ ὁ Ἀττιλᾶς ἐτελεύτησεν, καταφορὰ αἵματος διὰ τῶν ῥινῶν ἐνεχθεῖσα νυκτός,
μετὰ Οὕννας παλλακίδος αὐτοῦ καθεύδων· ἥτις κόρη καὶ ὑπενοήθη, ὅτι αὐτὴ αὐτὸν ἀνεῖλεν.
περὶ οὗ πολέμου συνεγράψατο ὁ σοφώτατος Πρίσκος ὁ Θρᾷξ. ἕτεροι δὲ συνεγράψαντο, ὅτι
Ἀέτιος ὁ πατρίκιος τὸν σπαθάριον αὐτοῦ ὑπενόθευσεν, καὶ αὐτὸς κεντήσας ἀνεῖλεν αὐτόν· καὶ
ὑπέστρεψεν ἐν Ῥώμῃ ὁ πατρίκιος Ἀέτιος νικήσας. – Übersetzung nach: Johannes Malalas. Welt-
chronik. Übersetzt von J. Thurn/M. Meier. Mit einer Einleitung von C. Drosihn/M. Meier/S. Pri-
witzer und Erläuterungen von C. Drosihn/K. Enderle/M. Meier/S. Priwitzer, Stuttgart 2009,
368–369.

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342   Mischa Meier

gerade im Bett mit seiner hunnischen Kebse. Diese junge Frau kam auch in den Verdacht,
sie habe ihn getötet. Über diesen Krieg hat der sehr weise Priskos, der Thraker, berichtet.
Andere aber schrieben, der patricius Aetius habe jenen Leibwächter bestochen, und dieser
habe ihn durchbohrt und so ermordet. Und der patricius Aetius kehrte nach Rom als Sieger
zurück.

Tatsächlich erscheinen Malalasʼ geraffte Bemerkungen zu Attilas Gallienzug


451, der „Schlacht auf den Katalaunischen Feldern“ und dem Ableben des Hun-
nenherrschers auf den ersten Blick heillos verworren. Die wichtigsten Irrtümer
hat Maenchen-Helfen bereits benannt: die Zuordnung Attilas zu den Gepiden;
die Verwechslung des im Kampf gegen ihn mit Aetius alliierten Westgotenkö-
nigs Theoderich I. (418–451) mit Alarich I. (dem Eroberer Roms 410); die Ver-
lagerung der Schlacht aus dem heutigen Nordostfrankreich (in der Region um
Troyes)28 an die Donau. Hinzu kommen gravierende Auslassungen, die insbeson-
dere den hunnischen Italienzug 452 betreffen. Der Chronist selbst verweist indes
explizit auf das Geschichtswerk des Priskos, dessen Fragmente nicht nur heute
anerkanntermaßen als wichtigste Quelle zu Attila und den römisch-hunnischen
Beziehungen im 5. Jahrhundert gelten, sondern bereits in der Antike höchstes
Ansehen genossen.29 Der Kirchenhistoriker Euagrios hält in diesem Zusammen-
hang fest:

28 Zur Diskussion der (noch immer nicht gelösten) Frage nach dem Ort der „Schlacht auf den
Katalaunischen Feldern“ siehe É. Demougeot, Attila et les Gaules, in: id., L’empire romain et les
barbares d’Occident (IVe – VIIe siècles). Scripta Varia, Paris 1988, 215–250, bes. 242–248. Dass der
Kampfplatz in der Nähe von Troyes zu suchen ist, ist heute weitgehend opinio communis.
29 Zu Priskos und seinem Werk siehe B. Baldwin, Priscus of Panium (Byz. 50), Brüssel 1980,
18–56; R. C. Blockley, The Development of Greek Historiography: Priscus, Malchus, Candidus,
in: G. Marasco (Hg.), Greek and Roman Historiography in Late Antiquity. Fourth to Sixth Century
A. D., Leiden 2003, 289–315; H.-G. Nesselrath, Priscus, in: RGA 23 (2003), 466–468; D. Brodka,
Attila, Tyche und die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern. Eine Untersuchung zum Ge-
schichtsdenken des Priskos von Panion, in: Hermes 136 (2008), 227–245; id., Pragmatismus und
Klassizismus im historischen Diskurs des Priskos von Panion, in: A. Goltz/H. Leppin/H. Schlan-
ge-Schöningen (Hgg.), Jenseits der Grenzen. Beiträge zur spätantiken und frühmittelalterlichen
Geschichtsschreibung (MST 25), Berlin 2009, 11–23. Ich zitiere die Priskos-Fragmente weiterhin
nach der Edition von R. C. Blockley (Hg.), The Fragmentary Classicising Historians of the Later
Roman Empire: Eunapius, Olympiodorus, Priscus and Malchus, II: Text, Translation and Histori-
ographical Notes, Liverpool 1983, da mich die Editionskriterien der neueren Ausgabe von P. Carol-
la (Hg.), Priscus Panita. Excerpta et Fragmenta, Berlin 2008, nicht überzeugen (vgl. dazu meine
Rez. in: sehepunkte 10 [2010], Nr. 1 [15. 1. 2010]: http://www.sehepunkte.de/2010/01/15475.html).

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 Attila, ἐκ τοῦ γένους τῶν Γηπέδων   343

In dieser Zeit war von Attila, dem König der Skythen, der weithin bekannte Krieg entfacht
worden, den der Rhetor Priscus mit großer Sorgfalt und größter Kenntnis darstellt. Er
beschreibt mit großer Eleganz, wie Attila gegen die östlichen und westlichen Reichsteile zu
Felde zog, welche und wieviele Städte er eingenommen und niedergeworfen hat und was er
alles tat, bis er aus dem Leben schied.30

Den erhaltenen Fragmenten des Priskos bzw. entsprechenden Texten aus einer
gesicherten Priskos-Tradition (Cassiodor-Jordanes)31 ist zu entnehmen, dass der
oströmische Historiograph, dessen Geschichtswerk in den 470er Jahren vollen-
det worden sein dürfte,32 namentlich den hunnischen Gallienzug, die „Schlacht
auf den Katalaunischen Feldern“ und die ihr vorausgehenden Bündnisverhand-
lungen zwischen Aetius und Theoderich I. ausführlich behandelt hat,33 und man
wird sich fragen müssen, warum all diese reichhaltigen Informationen auf dem
Weg von Priskos zu Malalas verlorengegangen sein sollen, ja stattdessen sich bei
letzterem sogar die Verwechslung von Theoderich und Alarich eingeschlichen
hat.
Dass Malalas tatsächlich direkt auf das Geschichtswerk des Priskos zuge-
griffen haben soll, erscheint indes ohnehin höchst unwahrscheinlich, und sein
pauschaler Verweis darauf34 muss dies auch keineswegs unbedingt implizieren.
Als weitaus näherliegend gilt schon länger, dass ihm Zwischenquellen vorlagen,
die ihrerseits Priskos benutzt und dessen Werkinhalte in nunmehr gebrochener
Form an den Chronisten weitervermittelt haben könnten. In der Forschung hat
man diesbezüglich vor allem auf Eustathios von Epiphaneia verwiesen, der im
frühen 6. Jahrhundert ein bis zum Jahr 503 reichendes Geschichtswerk verfasste,
das die Geschehnisse des 5. Jahrhunderts in besonderer Ausführlichkeit behan-
delt haben muss.35 Doch auch in diesem Fall bleibt die Frage offen, an welcher

30 Evagrius Scholasticus, Historia ecclesiastica 1,17 (The Ecclesiastical History of Evagrius, with
the Scholia, hg. v. J. Bidez/L. Parmentier, London, 1898 [ND Amsterdam 1964], 26,25–31; übers.
FC 57/1, 173 Hübner): ἐν τούτοις τοῖς χρόνοις ὁ πολὺς τῷ λόγῷ πόλεμος ἐκεκίνητο Ἀττίλα τοῦ τῶν
Σκυθῶν βασιλέως· ὃν περιέργως καὶ ἐς τὰ μάλιστα λογίως Πρίσκος ὁ ῥήτωρ γράφει, μετὰ πολλῆς
τῆς κομψείας διηγούμενος ὅπως τε κατὰ τῶν ἑῴων καὶ ἑσπερίων ἐπεστράτευσε μερῶν, οἵας τε
καὶ ὅσας πόλεις ἑλὼν κατήγαγε, καὶ ὅσα πεπραχὼς τῶν ἐντεῦθεν μετέστη.
31 Vgl. S. Barnish, Old Kaspars: Attila’s Invasion of Gaul in the Literary Sources, in:
J. Drinkwater/H. Elton (eds.), Fifth-Century Gaul: A Crisis of Identity?, Cambridge 1992, 38–47.
32 Vgl. Blockley, Development (wie Anm. 29), 293.
33 Priskos, fr. 20–21; vgl. Iordanes, De origine actibusque Getarum 184–218 (Priskos-Tradition).
Vgl. Brodka (wie Anm. 29).
34 Johannes Malalas, Chronographia 14,10.
35 Vgl. dazu Moravcsik (wie Anm. 24), 65–66; D. Brodka, Eustathios von Epiphaneia und das
Ende des Weströmischen Reiches (JÖByz 56), Wien 2006, 59–78 (59–62): „Das Werk des Eusta-

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344   Mischa Meier

Stelle des Transfers die Entgleisung erfolgte. Müssen wir wirklich Malalas zum
„stumpfsinnigsten aller byzantinischen Chronisten“ erklären?
Mangelnde Konsequenz ist ihm jedenfalls nicht vorzuwerfen. Denn die
Verwechslung der beiden gotischen Herrscher stellt keineswegs nur eine punk-
tuelle Unaufmerksamkeit dar. Die Verbindung Alarichs mit Gallien findet sich
bereits in Malalas’ Kapitel zu Honorius und Alarich (13,48). Der magister militum
(στρατηλάτης) Alarich sei, so heißt es, in Rom vom Kaiser herbeibefohlen worden,
um nach einem Aufstand in der Stadt diese zur Strafe zu plündern. Alarich sei
daraufhin von Gallien aus nach Rom gezogen, habe aber auf eine Brandschat-
zung verzichtet, sondern lediglich Beutegelder aus dem Kaiserpalast und die
Prinzessin Galla Placidia36 an sich genommen; danach sei er wieder nach Gallien
zurückgekehrt und habe dort die Herrschaft an sich gerissen (τυραννήσας). Die
Kaisertochter jedoch habe er einem anderen magister militum, Constantius,
anvertraut. Dieser wiederum sei mit ihr zu Honorius geflohen (καὶ φυγὼν τὸν
Ἀλάριχον ἤγαγεν αὐτὴν πρὸς τὸν βασιλέα Ὁνώριον), der sie ihm zur Frau gab und
ihn zum Mitkaiser machte (καὶ ἐποίησεν αὐτὸν βασιλέα ἐν Ῥώμῃ). Gemeinsam
seien beide dann gegen andere Usurpatoren vorgegangen.37
Ganz unabhängig von den historischen Irrtümern, mit denen Malalas in
diesem Kapitel den historischen Kern der Eroberung Roms 410 durch Alarich
sowie die Restaurationspolitik des magister militum und späteren (8. Februar –
2. September 421) Augustus Constantius (III.)38 anreichert – in unserem Zusam-
menhang ist vor allem von Bedeutung, dass Alarich, der Eroberer Roms, sich in
der Wahrnehmung des Malalas schon vor der Erstürmung der Stadt 410 als magis­

thios wurde von den Historikern des 6. Jahrhunderts gelesen und benutzt und übte einen gro-
ßen Einfluss auf die byzantinische historiographische und chronographische Tradition aus. Als
Quelle wurde er von Malalas und Evagrios herangezogen, und wahrscheinlich auch von Pro-
kopios und Theodoros Anagnostes verwendet“ (61–62). Siehe auch Blockley, Development (wie
Anm. 29), 289; L. Mecella, Eustathius of Epiphaneia, in: G. Dunphy u.  a. (eds.), The Encyclopedia
of the Medieval Chronicle 1, Leiden 2010, 597.
36 Sie war Tochter des Theodosius I. und Halbschwester des Honorius, vgl. J. R. Martindale,
Aelia Galla Placidia 4, in: PLRE 2 (1980), 888–889.
37 Johannes Malalas, Chronographia 13,48 (271,82–6 T.). Aus Malalas schöpfend, berichtet auch
Johannes von Nikiu, Chronicon 84,15–21, über diese Episode. Seinem Text ist zu entnehmen, dass
die vermeintlichen Unruhen in Rom von Konflikten zwischen Honorius und den Senatoren aus-
gegangen sein sollen und dass Alarich sich unmittelbar nach seiner Ankunft in Rom zunächst
mit den Aufständischen geeinigt haben soll.
38 Martindale (wie Anm. 36), Fl. Constantius 17, in: PLRE 2, 321–325; W. Lütkenhaus, Constantius
III. Studien zu seiner Tätigkeit und Stellung im Westreich 411–421, Bonn 1998; B. Bleckmann,
Constantius III (Kaiser, 421) in: JbAC 51 (2008), 227–231.

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 Attila, ἐκ τοῦ γένους τῶν Γηπέδων   345

ter militum in Gallien befand und sich im Kontext der Ereignisse in der Urbs mit
Kaiser Honorius überwarf. Von Alarichs Tod in Süditalien wenige Wochen nach
der Einnahme Roms wusste der Chronist offenbar nichts.39 Seine Assoziation
Galliens mit Alarich im anschließenden Attila-Kapitel (14,10) stellt also weitaus
mehr dar als eine simple Verwechslung seiner Person mit Theoderich I. Vielmehr
spinnt Malalas dort den Faden seiner in 13,48 angelegten Alarich-Geschichte
weiter, und er knüpft sogar explizit an diese an, wenn er betont, dass Alarich den
Römern gegenüber noch verfeindet gewesen sei (ὄντα ἐχθρὸν ’Ρωμαίων) – und
zwar „wegen Honorius“ (διὰ Ὁνώριον), wie das Chronicon Paschale und die sla-
wische Malalas-Übersetzung hinzuzufügen wissen.40
Wir haben es also keineswegs mit einer unerklärlichen Fehlrezeption des
Priskos oder einer diesen vermittelnden Zwischenquelle durch Malalas zu tun,
sondern mit einer davon grundsätzlich abweichenden historiographischen Tradi-
tion. Lässt diese sich genauer bestimmen?
Das eingangs erwähnte Prokop-Kapitel, in dem sich die Bestimmung der
Γοτθικὰ ἔθνη findet, behandelt im Kern die Eroberung Roms durch Alarich, die
Situation in Britannien und Nordafrika sowie den Abzug der Alarich-Goten aus
der Tibermetropole. Letzterer stellt den Schlussteil einer kleinen „Geschichte der
Visigoten/Westgoten“ dar, die Prokop als Exkurs in seine Darstellung eingefügt
hat. Sie vollzieht sich in folgenden Schritten:
– Die Visigoten trennen sich „von den anderen (τῶν δὲ δὴ ἄλλων) gotischen
Völkern“, schließen zunächst ein foedus mit Arkadios (395–408), brechen
dieses jedoch, wenden sich unter Führung Alarichs gegen beide Kaiser
(ἡγουμένου αὐτοῖς Ἀλαρίχου ἐς ἐπιβουλὴν ἑκατέρου βασιλέως ἐτράποντο)
und verwüsten, angefangen mit Thrakien, ganz Europa „wie Feindesland“
(ξυμπάσῃ Εὐρώπῃ ὡς πολεμίᾳ ἐχρήσαντο).41
– Honorius flieht aus Rom nach Ravenna; Gerüchte besagen, er habe die Bar-
baren selbst gerufen.42
– Die Goten zeichnen sich auf ihren Plünderungszügen durch besondere Grau-
samkeit aus (ὠμότατοι ἀνθρώπων ἁπάντων); eroberte Städte werden dem

39 Zu Alarich s. M. Meier, Alarich und die Eroberung Roms im Jahr 410. Der Beginn der „Völker-
wanderung“, in: M. Meier (Hg.), Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis
Karl dem Großen, München 2007, 45–62.342–343; id., Alarich (I.), in: Germanische Altertums-
kunde Online (2016).
40 Johannes Malalas, Chronographia 14,10 (279,54 T.); vgl. Chronicon Paschale (587,17 D.): ὄντα
ἐχθρὸν Ῥώμης διὰ Ὁνώριον.
41 Prokop, De bello Vandalico 1,2,7 (311,24–312,5 H./W.).
42 Prokop, De bello Vandalico 1,2,8–10 (312,5–15 H./W.).

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346   Mischa Meier

Erdboden gleichgemacht, die Bevölkerung wird gnadenlos niedergemetzelt.


„Deshalb ist Italien bis heute noch so menschenarm“ (ὅθεν εἰς ἔτι καὶ νῦν
ὀλιγάνθρωπον τὴν Ἰταλίαν ξυμβαίνει εἶναι).43
– Bei ihrem Abzug aus Rom in Richtung Gallien lassen die Goten kein Beute-
stück zurück (ἐν Ῥώμῃ τῶν τε δημοσίων τῶν τε ἰδίων οὐδ’ ὁτιοῦν ἀπολιπόντες
ἐπὶ Γαλλίας ἐχώρησαν).44

Eine ausführliche Darlegung der unterschiedlichen Versionen, denen zufolge


Rom in Alarichs Hände gelangt sein soll (List Alarichs/eine römische Aristokra-
tin öffnet angesichts des Hungers in der belagerten Stadt die Tore),45 sowie eine
Anekdote über den angeblichen Stumpfsinn, mit dem der Kaiser die Nachricht
vom Fall der Stadt aufgenommen habe,46 schließen sich an. Danach greift der
Autor das Thema Abzug erneut auf und berichtet (chronologisch fehlplatziert)
von der Einsetzung des Marionettenkaisers Priscus Attalus durch Alarich.47
Prokops sodann folgende Zeilen lenken die Aufmerksamkeit des Lesers auf
gänzlich andere Schauplätze: Es geht nun um das Schicksal Britanniens und die
Aktivitäten des Usurpators Konstantin (III.) sowie die letztlich scheiternden Akti-
vitäten des Priscus Attalus mit Blick auf Nordafrika.48 Wer sich nur für Alarich
und die Goten interessiert, könnte mit dieser Zäsur bereits die Prokop-Lektüre
beenden – zumal der Visigoten-Komplex, bis zum Abzug der Goten nach Gallien
reichend, als feingeschliffene, in sich abgeschlossene Episode für sich zu stehen
scheint.49 Betrachtet man nun diese Erzähleinheit allein für sich, so stellt sich in
der Tat der Eindruck ein, als seien die Visigoten von Rom aus direkt nach Gallien
weitergezogen – und zwar unter Alarich. Erst viel später, und durch den Britan-
nien- bzw. Priscus-Attalus-Komplex von der „Geschichte der Visigoten“ getrennt,
erwähnt Prokop kurz, dass Alarich noch in Italien verstarb und der Gallienzug
erst unter seinem Nachfolger Athaulf erfolgte.50
Auffällig sind aber die Gemeinsamkeiten, die Malalasʼ Alarich-Kapitel (13,48)
mit Prokops episodischer „Geschichte der Visigoten“ verbinden:

43 Prokop, De bello Vandalico 1,2,11–12 (312,15–25 H./W.).


44 Prokop, De bello Vandalico 1,2,13 (312,25–313,1 H./W.).
45 Prokop, De bello Vandalico 1,2,14–24 (List Alarichs); 1,2,27 (Proba, eine römische Aristokratin,
öffnet die Tore).
46 Die berühmte Hühner-Anekdote: Prokop, De bello Vandalico 1,2,25–26.
47 Prokop, De bello Vandalico 1,2,28–30.
48 Prokop, De bello Vandalico 1,2,31–40.
49 Prokop, De bello Vandalico 1,2,7–30.
50 Prokop, De bello Vandalico 1,2,37 (317,3–5 H./W.): μετὰ δὲ Ἀλάριχος μὲν τελευτᾷ νόσῳ, ὁ δὲ
τῶν Οὐισιγότθων στρατός, ἡγουμένου σφίσιν Ἀδαούλφου, ἐπὶ Γαλλίας ἐχώρησαν.

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 Attila, ἐκ τοῦ γένους τῶν Γηπέδων   347

– Honorius flieht von Rom (nicht von Mailand aus, wo die weströmischen
Kaiser bis 402 residierten!) nach Ravenna.
– Honorius selbst lädt Alarich ein, Rom zu plündern (Malalas), bzw. dieses
wird ihm zumindest unterstellt (Prokop).
– Der römische Kaiserpalast wird explizit erwähnt.
– Der gotische Abzug aus Rom wird direkt mit einem Weitermarsch nach
Gallien verbunden, der noch unter Alarich erfolgte (Malalas)51 bzw. in dieser
Weise (miss-) verstanden werden konnte (Prokop).

Angesichts dieser Übereinstimmungen fällt es schwer, keine Verbindungen zwi-


schen Prokop und Malalas zu sehen – sie erscheinen vielmehr offensichtlich.
Die entscheidende Frage lautet jedoch, wie diese Verbindungen ausgesehen
haben könnten, und hier lassen sich lediglich Vermutungen anstellen. Nicht
a priori auszuschließen ist eine direkte Benutzung Prokops durch Malalas. Bezie-
hungen zwischen beiden Texten sind, aus anderen Gründen, in der jüngsten
Forschung auch grundsätzlich bereits erwogen worden.52 Allerdings würde die
Annahme eines direkten Rückgriffs des Chronisten auf Prokop, da beide Autoren
Zeitgenossen waren, chronologische Detailfragen hinsichtlich der Entstehung
beider Oeuvres und ihrer möglichen Verquickungen aufwerfen, die sich kaum
lösen lassen. Betrachtet man jedoch nicht nur die Malalas-Chronik, sondern
auch Prokops Geschichtswerke als living texts, d.  h. als Texte, die in unterschied­
lichen Versionen kursierten, mehrfach bearbeitet und ergänzt wurden (und dies
nicht unbedingt vom ursprünglichen Autor selbst), so ergeben sich vielfältige
Möglichkeiten und Modalitäten wechselseitiger Beeinflussung und Befruch-
tung, die sich angesichts der Fluidität der für diesen Fall anzunehmenden Texte
allerdings nicht mehr auf konkrete, sichere Einzelfälle hin zuspitzen lassen.
Wollte man jedoch dem Konzept der living texts, dessen Validität für Malalas
inzwischen bewiesen und für Prokop immerhin wahrscheinlich gemacht werden

51 Noch deutlicher die Version, die Nikephoros Kallistos, Historia ecclesiastica 14,56 (PG
146, 1268A) – (über Theophanes?) auf Prokop zurückgehend – bietet: οἱ δὲ Οὐεσίγοτθοι, σὺν
Ἀλλαρίχῳ τῷ προειρημένῳ στρατηγούμενοι, Ῥώμην καὶ Ἰταλίαν πορθήσαντες, εἰς Γαλλίας
ἐκεῖθεν ἐχώρησαν […]. Gentz/Winkelmann (wie Anm. 23), 142, führen den Passus über Theo-
phanes auf Prokop zurück: „Sonst steht fast alles bei Theophanes, der es aus Procop hat“. Auch
der Theophanes-Text lässt sich so lesen, dass die Goten noch unter Alarich nach der Eroberung
Roms nach Gallien gezogen wären, vgl. Theophanes, Chronographia a.m. 5931 (I 94,17–19 de B.):
οἱ δὲ Ἰσίγοτθοι μετὰ Ἀλάριχον τὴν Ῥώμην πορθήσαντες εἰς Γαλλίας ἐχώρησαν.
52 Vgl. G. Greatrex, Malalas and Procopius, in: Meier/Radtki/Schulz (Hgg.) (wie Anm. 20), 169–
185, der tendenziell eine Beeinflussung Prokops durch Malalas annimmt.

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348   Mischa Meier

konnte,53 dennoch folgen, so wäre die Übernahme von Einzelelementen der


Prokop-Texte in die Chronik des Johannes Malalas zumindest eine denkbare
Variante. Andernfalls müsste man davon ausgehen, dass Malalas entweder die
„Geschichte der Visigoten“ in einem bereits stabilen Prokop-Text vorgefunden
und weiterverarbeitet hat (was die angedeuteten chronologischen Probleme
implizieren würde) oder dass diese Geschichte bereits andernorts kursierte,
bevor beide Autoren sie aufgegriffen haben. Dies aber würde voraussetzen, dass
sie dort schon im Wesentlichen die bei Prokop fassbare Ausformung, insbeson-
dere mit der Ausgliederung des Hinweises auf Alarichs Tod und den erst unter
Athaulf eingeleiteten Gallienzug der Visigoten aus dem eigentlichen Visigoten-
Exkurs, gefunden haben müsste (denn gerade dieser spezifische Aspekt ermög-
lichte es Malalas ja erst, den Gallienzug noch unter Alarich zu verorten), was den
Fähigkeiten Prokops zur eigenständigen literarischen Ausgestaltung einzelner
Episoden ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellen und der jüngeren Prokop-
Forschung diametral entgegenlaufen würde.54
Ungeachtet der Frage, welche Möglichkeit man für die plausibelste hält,
scheint es mir angesichts der Evidenz jedenfalls gerechtfertigt zu sein, in Malalasʼ
Alarich-Kapitel (13,48) zumindest eine Prokop-Tradition auszumachen. Dass
diese durch zusätzliches Material heterogener Provenienz (z.  B. die Geschichte
von Galla Placidia und Constantius III.) angereichert wurde, steht dazu nicht
im Widerspruch. Entscheidend ist vielmehr das Ergebnis, dass es sich bei der
vermeintlichen Verwechslung von Theoderich I. und Alarich in Malalasʼ Attila-
Kapitel (14,10) nicht um einen simplen Fehler aus purer Unkenntnis handelt,
sondern um den Reflex des Rückgriffs auf eine – wie auch immer vermittelte –
Prokop-Tradition durch den Chronisten in dem vorausgehenden Alarich-Kapitel
(13,48).
Man kann indes noch weitergehen. Denn die angesprochene Prokop-Tra-
dition scheint auch die Behandlung der Attila-Figur durch Malalas beeinflusst
zu haben: Die Tatsache, dass Attila als Gepide erscheint,55 lässt sich jedenfalls

53 Malalas: E. Jeffreys, The Manuscript Transmission of Malalasʼ Chronicle Reconsidered, in:


Meier/Radtki/Schulz (Hgg.) (wie Anm. 20), 139–151. – Prokop: F. Montinaro, Byzantium and
the Slavs in the Reign of Justinian: Comparing the Two Recensions of Procopiusʼ Buildings, in:
V. Ivanišević/M. Kazanski (eds.), The Pontic-Danubian Realm in the Period of the Great Migra­
tion, Paris 2012, 89–114. Vgl. auch Greatrex (wie Anm. 52).
54 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang insbesondere auf A. Kaldellis, Procopius of Caesa-
rea. Tyranny, History, and Philosophy at the End of Antiquity, Philadelphia 2004.
55 Nicht außer Acht gelassen werden sollte die Tatsache, dass bis zum Tod Attilas (453) die Ge-
piden unter ihrem Anführer Ardarich (Martinsdale, Ardaricus, in: PLRE 2, 138) einen Teilverband
der hunnischen Kriegerkonföderation darstellten.

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 Attila, ἐκ τοῦ γένους τῶν Γηπέδων   349

als direkter Reflex der von Prokop vertretenen These werten, der Donauraum
sei im 5. Jahrhundert von den Γοτθικὰ ἔθνη besiedelt worden. Möglicherweise
hat Malalas sogar die hunnische Expansion unter Attila auf jenen Satz Prokops
bezogen, wonach die Gepiden „später“ (ἔπειτα) das Gebiet um Singidunum
(h. Belgrad) und Sirmium, diesseits und jenseits der Donau, erobert hätten. Eine
solche geographische Fokussierung würde jedenfalls auch seine Verlagerung
der „Schlacht auf den Katalaunischen Feldern“ in den Donauraum erklären –
dorthin, wo die Gepiden eben vorzugsweise anzutreffen waren.56 Dass Malalas
zudem regelrecht darauf insistiert, bei Attilas Emissären an Valentinian III. und
Theodosios II. habe es sich um Goten gehandelt,57 spricht ebenfalls für seine
strikte Umsetzung des erstmals bei Prokop explizit dargelegten Konzepts der
Γοτθικὰ ἔθνη.
All diese Resultate bedeuten indes nicht, dass bisherige Vermutungen,
wonach Johannes Malalas – wohl über Eustathios von Epiphaneia – auf eine
Priskos-Tradition rekurriert habe, nunmehr obsolet seien. Es gilt vielmehr, in
der Quellenfrage schärfer zu differenzieren und ein komplexeres Netz möglicher
Referenzen in Rechnung zu stellen. So dürfte der Schlussteil des Attila-Kapitels,
in dem der plötzliche Tod des Hunnenherrschers thematisiert wird, letztlich gro-
ßenteils in der Priskos-Tradition zu verorten sein. Dies geht vor allem aus über-
einstimmenden Details wie der Erwähnung des Blutsturzes sowie der blutenden
Nase hervor.58 Deutlich tritt die Abkehr von Prokops Konzept der Γοτθικὰ ἔθνη
an diesem Abschnitt insbesondere in der Tatsache zutage, dass Attilas Braut und
Zeugin seines Ablebens (die bei Malalas lediglich eine Konkubine ist) nunmehr
explizit als „Hunnin“ (μετὰ Οὕννας παλλακίδος αὐτοῦ καθεύδων) bezeichnet
wird.59 Aller Wahrscheinlichkeit nach geht diese Zuweisung auch nicht auf
Priskos zurück, der zwar den Namen der Frau (Ildiko) überliefert, nicht aber ihre

56 Prokop, De bello Vandalico 1,2,6 (311,21–23 H./W.): ἔπειτα Γήπαιδες μὲν τὰ ἀμφὶ Σιγγιδόνον τε
καὶ Σίρμιον χωρία ἔσχον, ἐντός τε καὶ ἐκτὸς ποταμοῦ Ἴστρου, ἔνθα δὴ καὶ ἐς ἐμὲ ἵδρυνται.
57 Vgl. Johannes Malalas, Chronographia 14,10.
58 Johannes Malalas, Chronographia 14,10 (279,59–60 T.): καταφορὰ αἵματος διὰ τῶν ῥινῶν
ἐνεχθεῖσα νυκτός. – Vgl. dazu Priskos, fr. 24.1 (R. C. Blockley [Hg.], The Fragmentary Classicis-
ing Historians of the Later Roman Empire: Eunapius, Olympiodorus, Priscus and Malchus, II:
Text, Translation and Historiographical Notes, Liverpool 1983, 316,1–6) (= Iordanes, De origine
actibusque Getarum 254 [123,18–22 M.]): […] ut Priscus istoricus refert […] redundans sanguis, qui
ei solite de naribus effluebat, dum consuetis meatibus impeditur, itinere ferali faucibus illapsus
extinxit; Priskos, fr. 24.2 (318,4–5 B.) (= Theophanes, Chronographia a.m. 5946 [108,9–10 de B.]):
αἵματος ἀθρόον διὰ ῥινῶν τε καὶ τοῦ στόματος ἐνεχθέντος.
59 Johannes Malalas, Chronographia 14,10 (279,60 T.).

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350   Mischa Meier

Herkunft.60 Die Priskos-Tradition wird indes noch durch weitere Elemente erwei-
tert: Soweit erkennbar, hatte Priskos selbst noch nicht über unterschiedliche
mögliche Ursachen für das unerwartete Ende des Hunnenherrschers räsoniert.
Die Vermutung, seine frisch angetraute Frau könne damit in Verbindung stehen,
erscheint jedenfalls erstmals bei Marcellinus Comes.61 Auch hier weicht Malalas
also sowohl von der Prokop- als auch von der Priskos-Tradition ab und scheint
noch weiteres Material unbekannter Herkunft eingearbeitet zu haben. Er selbst
weist auch explizit darauf hin, wenn er anmerkt, „andere aber haben geschrie-
ben“ (ἕτεροι δὲ συνεγράψαντο),62 und der Quellenwechsel wird überdies an dem
Umstand deutlich, dass Aetius nun plötzlich – zweimal direkt hintereinander –
als patricius bezeichnet wird.63
Mit Blick auf die „Fehler“, die Malalas in seinen Ausführungen über Attilas
Gallienzug und die „Schlacht auf den Katalaunischen Feldern“ unterlaufen
sein sollen, lässt sich somit zusammenfassend Folgendes festhalten: Bei diesen
„Irrtümern“ handelt es sich in erster Linie um das Resultat der Rezeption einer
Prokop-Tradition, die dem Chronisten in einer heute nicht mehr sicher bestimm-
baren Weise verfügbar gewesen sein muss – wahrscheinlich weil mehrere living
texts kursierten, die aufgegriffen und fortgeschrieben werden konnten, mög­
licherweise auch weil entsprechende „fertige“ Teile der Bella Prokops von Malalas
bereits rezipiert werden konnten oder (was mir jedoch am wenigsten wahrschein-
lich erscheint) weil beide Historiographen aus einer gemeinsamen Quelle schöpf-
ten. Diese Prokop-Tradition veranlasste den Chronisten dazu, in Anlehnung an
Prokops Exkurse zu den Γοτθικὰ ἔθνη sowie zur Geschichte der Visigoten einen
auf zwei Kapitel aufgegliederten Erzählkomplex zu kreieren, der einerseits die
Geschichte Alarichs mit derjenigen Attilas verknüpfte sowie andererseits letzte-
ren in den Zusammenhang der „gotischen Völker“ einordnete.
Was die ältere Forschung als Ausweis eklatanter Stumpfsinnigkeit deutete,
lässt sich somit auch anders interpretieren: als Indiz für einen eigenständigen
literarisch-historiographischen Gestaltungswillen des Autors, ein Gestaltungs-
wille, der freilich einen – mehr oder minder bewusst – kreativen Umgang mit
dem historischen Material voraussetzte. Dieser wiederum war aber nur dann
sinnvoll, wenn der Chronist damit rechnen durfte, dass sein Produkt beim Pub-

60 Vgl. Priskos, fr. 24.1 (= Iordanes, De origine actibusque Getarum 254). Martinsdale, Ildico, in:
PLRE 2, 586.
61 Marcellinus Comes, Chronicon ad annum 454,1.
62 Johannes Malalas, Chronographia 14,10 (279,62 T.).
63 Johannes Malalas, Chronographia 14,10 (279,63–64 T.): ὁ πατρίκιος; vgl. demgegenüber noch
Johannes Malalas, Chronographia 14,10 (279,51–52 T.) (Ἀέτιος ὁ πρῶτος συγκλητικός).

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 Attila, ἐκ τοῦ γένους τῶν Γηπέδων   351

likum auf Zustimmung stoßen würde, die dort präsentierten Inhalte also ein
gewisses Plausibilitätspotential besaßen. Es ist dies – und nicht das Problem
vermeintlicher sachlicher Fehler – die Ebene, welche die zukünftige Forschung
beschäftigen sollte: Offensichtlich waren die Vorstellungen, die man im Osten –
zumindest in jenem Milieu, in dem Malalas sich bewegte – von den Verhältnis-
sen im Hesperium Imperium nur ein Jahrhundert zuvor noch besaß, derartig vage
und unbestimmt, dass nicht nur Prokops Definition des Donauraums unter den
„gotischen Völkern“, seine eigenwillige Behandlung der Eroberung Roms 410
und sein Abriss der Geschichte der Westgoten, sondern auch Malalasʼ u.  a. daraus
weitergesponnene Darstellung von Attilas Gallienzug und späterem Tod keiner-
lei Anstoß erregten. Dieser Umstand verweist darauf, dass zum einen die in der
Forschung weiterhin gängige Trennung der historiographischen „Gattungen“ in
der Spätantike einer Revision bedarf – denn wechselseitige Beeinflussungen und
Übernahmen waren offenbar problemlos möglich64 –, zum anderen aber auch die
Milieus, auf die eine „klassizistisch-profane“ Historiographie und eine „christ-
liche“ Chronistik zielten, breite Schnittmengen besessen haben dürften.65 Die
Version der Geschichte von Alarich und Attila, die Malalas bietet, wurde jeden-
falls fleißig fortgeschrieben – angefangen mit dem Chronicon Paschale bis hin
zur Kirchengeschichte des Nikephoros Kallistos.66 Dennoch hielt sich zumindest
bis in das frühe 9. Jahrhundert auch eine davon unabhängige Tradition, die mit-
telbar auf Priskos zurückgehen dürfte: In der Theophanes-Chronik wird Attilas
Gallienzug nicht nur mit der (von Priskos offenbar ausführlich thematisierten)67
Honoria-Affäre verknüpft, sondern auch in weitaus größerer Exaktheit als von
Malalas dargestellt: Die Kämpfe um Orléans finden ebenso Erwähnung wie eine
Schlacht an der Loire (hinter der möglicherweise die „Schlacht auf den Katalau-
nischen Feldern“ steht), und selbst Reflexe des hunnischen Italienzuges 452 sind
dort noch vorhanden (Eroberung Aquileias).68
Insgesamt jedoch verweisen das Attila-Kapitel des Malalas und seine histo-
riographische Kontextualisierung zum einen auf einen bisher zu wenig ernstge-
nommenen Gestaltungswillen des Chronisten, zum anderen aber auch auf eine
bemerkenswerte Unkenntnis bzw. auf ein unübersehbares Desinteresse an nicht
allzu lang zurückliegenden Ereignissen im Westen – Ereignisse, die dort nicht

64 Zu Konvergenzen der historiographischen Gattungen seit dem 6. Jh. siehe etwa M. Meier, Pro-
kop, Agathias, die Pest und das „Ende“ der antiken Historiographie. Naturkatastrophen und
Geschichtsschreibung in der ausgehenden Spätantike, in: HZ 278 (2004), 281–310.
65 In diesem Sinne auch Greatrex, Malalas and Procopius (wie Anm. 52).
66 Chronicon Paschale (587,7–588,5 D.); Nikephoros Kallistos, Historia ecclesiastica 14,57.
67 Priskos, fr. 16–17; 20.1; 20.3; 21.2.
68 Theophanes, Chronographia a.m. 5943; a.m. 5945.

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352   Mischa Meier

nur als epochale Zäsur empfunden wurden,69 sondern die auch den Osten damals
in erheblichem Ausmaß affizierten. Irgendwann zwischen Attilas Gallienzug 451
und der Entstehung der Malalas-Chronik im 6. Jahrhundert, so ließe sich schlie-
ßen, ging die Kohärenz des einen, Orient und Okzident umspannenden Imperium
Romanum auch jenseits der politischen Ebene verloren.

69 Vgl. etwa Sidonius Apollinaris, Epistula 8,15, sowie die umfangreiche hagiographische Über-
lieferung: Demougeot (wie Anm. 28), 233–237; vgl. auch Zecchini [wie Anm. 25], 267, Anm. 34);
C. Stadermann, Gentes Gothorum in narrativen Schriften des merowingerzeitlichen Galliens,
Diss. Tübingen 2014, 103–104.

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Altes Testament
Genesis 6,8a 186
1,27 34 6,9a 186
2,7–3,21 97 6,9b–10 186
4,25–5,5 97 6,11 186
5,1–32 97 17,47 263
5,3–5 97 17,50 263
6,1–9,26 97 20,2 263
18,1–15 226 31,9 201
37 184
Deuteronomium 46,10 266
5,32 77 58 (MT) 215
10,12 35 67,2 263
32,35 215 67,33–35a 263
111,5–6 179
J osua 115,6 (MT) 264
7,25 189 117,22–23 3
23,14 22 118,22 (MT) 17
131,1 263
2. Könige 131,2 263
1,9 157
1,10 77 Sprüche
24,21 9, 12
2. Chronik 24,21–22 26
36,2–3 98
Prediger
sra
E 8,2–3 9
1,1–3 98
Hohelied
1 . Makkabäer 3,4 39
10,40–42 22
10,42 21 Jesaja
11,35 22 29 21
29,13 (LXX) 21–22
. Makkabäer
2 44,24–45,1 98
14,8 22 45,23b 77
64,24 77
4. Makkabäer 49
Hesekiel
Psalmen (LXX) 37,7–8 77
6 183, 184
6,3 185 Daniel
6,7 185 2,21 11

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354   Register

Neues Testament
Matthäus arkus
M
5,4 186 1,1 6
6,24 31 2,23–3,5 4
10,37–38 23 3,32–35 23
11,28 161 3,6 3–4
12,13–17 70 5,20 10
15,7 14 6,6 10
16,19 202 7,1 21
17,25 14 7,6 5, 14
18,12 14 7,6–7 21
18–25 2 8,11 5
21,23–27 13 8,27–16,20 2
21,23–22,22 13 9,48 77
21,28–31 13 10,2 5
21,31–32 13 11,12–14 3
21,33–46 13 11,15–17 3
21,41 15 11,18 3
21,43 13 11,20–25 3
21,45–46 13 11,25–33 10
21,46 13 11,27 3, 17
22,1–14 13 11,27–33 13
22,15 14 11,27–12,17 13, 17
22,15–21 70 11,28 3
22,15–22 2, 13, 40, 42 11,29–33 3
22,16 14 12 40
22,17 14, 16 12,1 3
22,18 14, 20, 36 12,1–12 10, 13
22,19 14, 18, 35 12,2 10
22,19–20 37 12,17 104
22,19–21 35 12,8 3
22,20 15 12,9 3, 10
22,21 2, 14–15, 18–19, 12,10–11 3, 10
29–30, 33, 38, 12,12 3, 10, 13, 16–17
42 12,13 4, 14, 17
22,22 15 12,13–14 10
22,23 16 12,13–17 1–4, 10–13, 26,
22,42 14 32, 36, 40, 43,
23,13–29 14 70
24,4–25 234 12,14 4, 8, 14, 16,
27,54 155 18
28,20 40 12,14–15 5
12,15 5–7, 14, 18,
20
12,16 6–7, 15, 18

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 Neues Testament   355

12,17 7–12, 14–15, Johannes


18–20, 23, 2,15 3
27, 29, 31, 33, 3,2 20
40–42, 104 4,43–54 264
12,18 10, 16, 19 10,11–16 264
12,19 4 11,25 262
12,27 10–11 12,31 35
12,32 4
13 234 Apostelgeschichte
13,9 5 1,1 40
14,5 21 1,7–8 234
21,25 13 5,37 5
21,32 13 11,28 4

L ukas Römerbrief
1,1–4 19 1,32 188
2,1 4 2,1 68
2,1–5 5 12,16c–13,6 263
3,1 4 12,19 215
6,46 21 13 12, 30
7,1–10 263–264 13,1 11
8,22–44 30 13,1–2 36
12,48 26 13,1–7 11, 16, 26, 30,
14,26–27 23 40, 42–43, 104
16,13 31 13,6 11
19,39 17 13,6–7 18
20,1 17, 30 13,7 11, 26, 30
20,1–26 17 13,8 26
20,9–19 17
20,10 17 1. Korintherbrief
20,15 17 1,18–23 97
20,16 17 15,49 33, 35, 42
20,17 17
20,19 17 2. Korintherbrief
20,20 17–19 4,4 31
20,20–25 70
20,20–26 2, 13, 17, 40 Galaterbrief
20,21 18 2,6 114
20,22 14, 17–18, 23 3,27 260
20,24 18 6,17 33
20,25 18–19, 42
20,26 19 Epheserbrief
20,27 19 5,5 189
20,27–40 34 6,10–17 260
21,5–24 234 6,10–20 260–261
23,2 17–18 6,12 35
6,16 32, 260

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356   Register

6,17 260 Titusbrief


6,18 260 3,1 12

Philipperbrief Hebräerbrief
3,13 183 4,12 38

Kolosserbrief 1. Petrusbrief
3,5 189 2,11–12 104
2,13 12
1. Timotheusbrief 2,13–17 12
1,7 113 2,17 12, 30
2,1–7 263 4,17 87
2,12 160
Offenbarung
2. Timotheusbrief 13 12, 28, 43
4,1–8 264 13,1–10 104

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