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Reflexionsbericht: 05

Mein Recht auf Stadt

Flavia Milachay
Das Lesesalon-Seminar war nicht nur ein Raum zum
Lesen, sondern auch zum Reflektieren. Bei dieser
Gelegenheit konnte ich die Nutzung des öffentlichen
Raums in Stuttgart aus einer kritischen Perspektive
erleben, was mich dazu anregte, unsere Rechte in der
Stadt in Frage zu stellen.

Bei der Analyse von Partizipations- und


Aneignungsprozessen im öffentlichen Raum in
Stuttgart sind mir in einigen der von uns besuchten
Räume segregative Infrastrukturen aufgefallen. Dies
hat mich angeregt, einige Fragen zu stellen: Welchen
Wert geben wir den Orten, deren Besitz jenseits
jedes rechtlichen Rahmens nicht individuell, sondern
kollektiv ist? Wie nutzen wir diese Art von Räumen?
Welche Faktoren bringen uns den Räumen der Stadt
näher oder entfernen uns von ihnen? Während des
Seminars konnte ich einige dieser Fragen durch die
Erfahrung der sozialräumlichen Dynamik, auf der
das so genannte Recht auf Stadt beruht, erläutern.
Es sei darauf hingewiesen, dass meine Fragen und
Schlussfolgerungen eng mit der Perspektive verbunden
sind, die ich als Immigrant in Stuttgart habe.

Seminar Lesesalon SoSe 22


05
In „La Carta Mundial del Derecho a la Ciudad“ steht
es, dass die Stadt ein kulturell reicher kollektiver Raum
ist, der allen Bewohnern gehört. Dieses Recht sieht
die Partizipation und die Aneignung der Stadt vor,
die eine Schlüsselrolle im urbanen Leben spielen. Es
stellt sich also die Frage nach der Definition beider
Begriffe: Was eignet man sich an und wo beteiligt man
sich? Von Partizipation zu sprechen, bezieht sich auf
die Auswirkungen, die sie auf die Orte hat, an denen
gemeinsame Bedeutungen geschaffen werden, denn
Partizipation hilft uns, das gemeinsame Interesse
zu erkennen, d.h. sie baut den öffentlichen Raum
auf. Mit anderen Worten: Nicht jede Aktion, die im
öffentlichen Raum stattfindet, ist partizipatorisch, aber
jede partizipatorische Aktion findet im öffentlichen
Raum statt und wird dort reflektiert. Darüber hinaus
sollte es klargestellt werden, dass sich der öffentliche
Raum nicht auf Straßen, Plätze und Parks beschränkt,
zumindest nicht aus der Perspektive, die ich hier
vorstelle. Die Öffentlichkeit kann vom Staat verwaltet
werden, muss es aber nicht. Es gibt Räume, die
keinen bestimmten Besitzer haben: der große Stein,
der zwischen den Gehweg plaziert wurde, oder die mit
Graffiti beschmierte Mauer, die zu einem Wahrzeichen
geworden ist. Wem gehören diese Orte?

Flavia Milachay
Der Raum erhält seine Bedeutung durch das
kollektive Handeln der vielfältigen Nutzer, die an
seiner Verwendung beteiligt sind, so dass wir ihn
uns im Zuge seiner Nutzung, Bewohnung und
Umgestaltung aneignen, bis wir ihm Sinn und soziale
Bedeutung verleihen. Das bedeutet, dass wir als
Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger die Macht und die
Freiheit haben, dem öffentlichen Raum die von uns
gewünschten Nutzungen zuzuweisen. Ich denke, dass
die Aneignung öffentlicher Räume ein grundlegender
Faktor für die Verbesserung der Bedingungen von
segregierten oder segregierenden Räumen in der
Stadt ist. Das Lesesalon-Seminar war ein sehr
positives Beispiel dafür, denn das Lesen per se ist in
allen Gesellschaftsformen eine akzeptierte Tätigkeit im
öffentlichen Raum.

Seminar Lesesalon SoSe 22


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Ich konnte diese Seminartätigkeit sowohl als Gruppe
als auch als Einzelner erleben, da ich bei zwei
Gelegenheiten allein zum Lesen ging. Es waren
unterschiedliche Erfahrungen, denn in der Lesegruppe
eigneten wir uns den Raum auf kollektive Weise an
und bildeten durch das gemeinsame Lesen eine
immaterielle Barriere, die uns vor Störungen anderer
Nutzer des Raumes, schützte. Ich fühlte mich sehr
wohl und konnte in Ruhe lesen. Im Gegensatz dazu
empfand ich beim individuellen Lesen im öffentlichen
Raum nicht diesen Komfort, insbesondere im
Stadtzentrum, wo mehr Fußgängerverkehr war. Ich
fühlte mich beobachtet, da ich den Raum anders
nutzte, und einige Leute kamen auf mich zu, um mit
mir zu sprechen, insbesondere einige Männer.

Flavia Milachay
Ich kam zu dem Schluss, dass der Wert, den ich
persönlich dem genutzten öffentlichen Raum gebe,
positiv ist, wenn ich ihn als Gruppe genutzt habe. Der
Grund dafür ist, dass eine veränderte Verwendung
des öffentlichen Raums akzeptiert und „normalisiert“
wird, wenn er kollektiv gestaltet ist. Außerdem kann
der Prozess der ungewöhnlichen Nutzung eines
öffentlichen Raums positiv oder negativ erlebt werden,
selbst von denjenigen, die diese Tätigkeit betreiben.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das


Lesesalon-Seminar mich dazu gebracht hat, über mein
Recht als Bürger in Stuttgart nachzudenken, und dass
es sehr einfach ist, sich den öffentlichen Raum auf
kollektive Weise anzueignen. Ich finde, dass Stuttgart
eine Stadt ist, in der öffentliche Räume eine feste und
strukturierte Nutzung haben, trotzdem haben diese
Räume auch ein großes Potenzial und eine große
Flexibilität, um auf unterschiedliche Art und Weise
genutzt zu werden, wie in so einem Fall als Leseraum.

Seminar Lesesalon SoSe 22


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Letztlich denke ich, dass Seminare wie dieses
außerhalb des Universitätscampus ein Studienbereich
sind, der uns hilft, den städtischen Raum auf eine
erfahrungsorientierte Art und Weise zu analysieren, und
der ein großer Raum an unterschiedlichen Erfahrungen
und Perspektiven eröffnet, die wir austauschen
können. Es war ein sehr angenehmes und alternatives
Seminar, und auch das gute Wetter begünstigte diese
Erfahrung. Ich bin gespannt, wie diese Erfahrung im
Winter in geschlossenen Räumen sein würde.

Flavia Milachay

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