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Elternwille, Schullaufbahn und Geschlechterunterschiede im

soziale Ungleichheit Lebensverlauf

I Wenn Eltern nach Ende der Grundschulzeit be- Wie können partnerschaftliche Lebensmodelle
stimmen dürfen, ob ihr Kind das Gymnasium aussehen, die die ökono¡Rische Unabhängigkeit
I
besucht, verschärft dies die soziale Ungteich- von Frauen gewährleiiten? Welche Ungleiihhei-
heit nicht. Das ist das Ergebnis einer Studie von ten zwischen Frauen und Männern in Ost- und
k. Stefanie Jähnen und Marcel Helbig, die unter Westdeutschland führen im Lebensverlauf dazu,
dem Titel ,,Der Einfluss schulrechtlicher Refor- dass Frauen in finanzielle Abhängigkeiten ge-
:
men auf Bildungsungleichheiten zwischen den raten? Jutta Allmendinger, Nadiya Kelle und EI-
deutschen Bundesländern" in der Kölner Zeit- len von den Driesch haben sich mit der gegen-
schrift für Soziologie und Sozialpsychologie pu- wärtigen und zukünftigen fi nanziellen Situation
.j bliziert wurde (J9.67,H.3, S. 539-571). Es ist die von Frauen im Alter auseinandergesetzt und
i1 bislang umfangreichste Anaþe zum Zusam- zeigen Gegenentwürfe zu den traditioneìlen Le-

a menhang von Schullaufbahnempfehlung und bensverläufen auf. Der Vergleich der Zugangs-
{ Bildungsungleichheiten. Sie verdeutlicht, dass renten aus dem Jahr 2014 offenbart: Frauen in
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in Bundesländern, die die verbindliche Schul- Westdeutschland erhalten nur 55 Prozent der
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formempfehlung durch die Lehrer abgeschafft durchschnittlichen Männerrenten, ostdeutsche
haben, wider Erwarten nicht mehr Kinder aus Frauen dagegen 74 Prozenl. Die West-Ost-Un-
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ì bildungsnahen Elternhäusern auf das Gymna- terschiede sind heute größer als vor 20 Jahren,
sium wechselten. Jedoch wiesen die Forscher eine Annäherung ist selbst auf längere Sicht
einen eindeutigen Effekt auf die Gymnasial- nicht zu erwarten: Frauen in Ostdeutschland
quote nach: Insgesamt gingen mehr Kinder aufs bleiben über den Lebensverlauf hinweg auch in
Gymnasium, wenn eine verbindliche Empfeh- Zukunft finanziell unabhängig. Für viele Frauen
lung abgeschafft wurde, und weniger, wenn sie in Westdeutschland gilt das nicht.
eingeführt wurde. In Bundesländern, die den EI-
tern die Entscheidung beim Übergang in die Se- Um mehr Geschlechtergerechtigkeit zu errei-
kundarstufe überlassen, besuchen demnach chen, müsste die Lebens- und Arbeitszeit zwi-
mehr Kinder das Gymnasium. schen Frauen und Männern und in den einzel-
nen Phasen ihres Lebens fairer verteilt werden.
Das erfordert eine Veränderung der Rahmen-
Chancen(un)gleichheit im Schul- bedingungen in Politik und Gesellschaft. Die
Forschungsergebnisse sind unter anderem in
system? dem Aufsatz,,Partnerschaftliche Lebensmodelle
als Grundlage ökonomischer Unabhängigkeit
Im Rahmen seines Mercator-Stipendiums or- der Frauen in Ost- und Westdeutschland" nach-
ganisierte Michael Wrase eine Fachtagung zur zulesen, der in dem von Jens Hartung, Irina
,,Chancen(un)gleichheit im Schulsystem". Ex- Mohr und Franziska Richter herausgegebenen
pertinnen und Experten aus Staatsrechtswis- Sammelband ,,50 Jahre Deutsche Einheit. Wei-
senschaft, Erziehungswissenschaft, empiri- ter denken - zusammen wachsen" (Bonn: J.HW.
scher Bildungsforschung und Disability Studies Dietz Nachf.2015, S. 118-1,29) enthalten ist.
diskutierten am 4. Dezember 2015 im WZB über
Benachteiligungen im Bildungssystem. Schwer-
punkte der vier Panels waren die völker- und
verfassungsrechtlichen Grundlagen des Bil-
dungssystems, insbesondere mit Blick auf Dis-
kriminierungen aufgrund der Herkunft und die
Förderung sozial benachteiligter Kinder; die
bildungswissenschaftliche und verfassungs-
rechtliche Bewertung von Selektionsentschei-
dungen im Schulbereich, speziell der Über-
gangsentscheidungen zur Sekundarstufe I; der
ernpirische Nachweis von rechtlichen Diskri-
minierungen im Schulbereich sowie die Inklu-
sion von Kindern mit Behinderungen in das
allgemeine Schulsystem, vor allem unter Be-
rücksichtigung der Anforderungen der UN-Be-
hindertenrechtskonvention und im weltweiten
Vergleich der Staaten. Sowohl die Fachtagung
als auch die einleitende Podiumsdiskussion am
Vorabend stießen mit jeweils über einhundert
Teilnehmenden aus Schulpraxis, Politik und
Wissenschaft auf breite Resonanz.

ty¿B-Bericht 2O1s 85

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