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schwarz ist, aber deswegen springt der nicht gleich irgendwo runter.

Es ist
ja auch nicht das erste Mal, dass ihm so etwas passiert. Es hat Pascal eher
genervt, dass er nicht zurückgeschlagen hat, weil er auf Deutsch nicht so
gut fluchen kann wie auf Französisch. Wir haben am Schluss gelacht über
die ganze Sache. Manche Menschen sind einfach nur beschränkt, die muss
man ignorieren. Und Pascal weiß das.«
Das schmerzte Franziska so sehr, dass es ihr die Sprache verschlug.
Immerhin redete Stéphane von ihrem Freund und damit war auch sie mehr
als nur indirekt betroffen. Was ihr jedoch wirklich wehtat, war, dass
Stéphane recht hatte.
»Franziska?«
»Sorry. Ich hab einen Moment nachgedacht. Du glaubst also nicht, dass
Pascal abgehauen ist. Oder dass er sich umbringen könnte.«
»Ja, das ist absolut meine Meinung. Ich kenne Pascal, seit ich drei Jahre
alt bin. Am Anfang ist er immer total still, aber wenn er dann mit allen
vertraut ist, ändert sich das. Außerdem streitet er nicht gerne. Aber das
bedeutet nicht, dass er labil ist oder so. Wenn es ihm wirklich schlecht
gegangen wäre, hätte er mir das beim letzten Mal gesagt. Aber da haben wir
ganz andere Dinge besprochen.«
»Er hat angerufen? Wann denn?«
»An dem Tag, bevor er verschwand. Wir haben darüber geredet, dass ich
vielleicht mal nach Zürich fahre und ihn besuche. Entweder an einem
Wochenende oder während der nächsten Ferien. Und dann hat er mir noch
davon erzählt, was er für einen merkwürdigen Nachbarn hätte.«
Franziska dachte an Pascals Aussagen auf dem Floß und horchte auf.
»Wieso merkwürdig?«
Stéphane lachte. »Er hat gesagt, sein Nachbar wirke auf ihn wie ein
Zuhälter aus einem dieser billigen Hollywood-Filme. Er würde weiße
Lackschuhe und immer einen Anzug tragen und ein dickes Auto fahren.
Außerdem hätte er eine riesige Villa.«
»Das stimmt. Hat er denn noch mehr erzählt?«
»Na ja. Er hat gesagt, es hätte bereits mehrmals nach Chemikalien
gerochen. Und dann sei mitten in der Nacht ein Boot davongefahren.«
»Das hat er bei uns auch schon erwähnt. Wir haben das aber nicht
wirklich ernst genommen.«
»Ich auch nicht.« Stéphane lachte laut heraus. »Pascal liebt Krimis,
Geheimnisse und Verschwörungen. Er hat wahrscheinlich schon von einer

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riesigen Mafiaorganisation geträumt, deren Stützpunkt in der Villa seines
Nachbarn ist, und wie er diese ausheben würde.«
Franziska staunte. So kannte sie den stillen Pascal gar nicht. »Aber jetzt
ist er verschwunden«, dachte sie laut nach. »Irgendetwas ist nicht mehr
normal. Du bist sicher, dass er nicht abgehauen ist oder sich umbringen
will. Also muss etwas anderes passiert sein. Aber was?«
»Keine Ahnung. Er hat gesagt, dass er am liebsten mal bei seinem
Nachbarn in den Garten schleichen würde, um herauszufinden, woher der
merkwürdige Geruch kommt, aber das war wohl nicht ernst gemeint. Sein
Nachbar hat einen riesigen Köter und Pascal hat panische Angst vor
Hunden.«
Wieder so ein kleines Puzzleteil über die Person Pascal, von dem
Franziska nichts gewusst hatte. Ihr wurde bewusst, wie wenig sie Pascal
eigentlich kannte.
»Angenommen, es hätte wieder merkwürdig gerochen an dem Abend, als
er verschwand. Glaubst du, er ist so neugierig, dass er trotz seiner Angst vor
Hunden in den Garten eingestiegen ist?«
Eine ganze Weile war es still, während Stéphane nachdachte.
»Ja«, sagte er dann, als ob er diesen Gedanken auch erst jetzt gerade zum
ersten Mal hätte, »ja, das kann ich mir durchaus vorstellen.«
Franziska nickte. Da war er, der erste Hinweis, den sie gesucht hatte.
Irgendetwas, was erklären konnte, was geschehen war. Sie redete noch eine
Weile mit Stéphane, doch es kam nichts Neues mehr dabei heraus. Am
Ende vereinbarten sie, sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten.
Franziska gab ihm ihre Nummer, nachdem sie ihm erklärt hatte, warum sie
nicht von ihrem eigenen Handy aus anrief.
Dann gab sie Urs das Telefon zurück. Der Anruf hatte fast eine
Dreiviertelstunde gedauert. Die Gesichter von Urs und Reto waren ihr
erwartungsvoll zugewandt.
Sie sah beiden in die Augen. »Es gibt eine erste Spur«, sagte sie. »Wir
müssen uns nur daranmachen, ihr zu folgen.«

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Die Suche begann, kaum dass die Pausenglocke


die letzte langweilige Stunde Biologie beendet
hatte. Franziska, Reto und Urs wollten zuerst . . .
Die Suche begann, kaum dass die Pausenglocke die letzte langweilige
Stunde – Biologie – beendet hatte. Franziska, Reto und Urs wollten zuerst
einmal bei Pascals Nachbar vorbeischauen, um sich ein Bild von der Lage
vor Ort zu machen. Es war zwar unwahrscheinlich, dass sie gleich
irgendeine heiße Spur finden würden, aber vielleicht gab es doch den einen
oder anderen kleinen Hinweis, den man weiterverfolgen konnte.
Die drei beschlossen, zu Fuß zum Bahnhof Stadelhofen zu gehen, anstatt
sich in das Tram zu quetschen, das um diese Zeit immer mit Studenten
vollgestopft war, die von der Uni und der ETH nach unten zum Bahnhof
fuhren. Der Verkehr auf der Rämistraße war laut wie immer, als sie in
Richtung Bellevue gingen, und vor dem Kunsthaus war ein Tram mit einem
Lieferwagen zusammengestoßen, was für weiteres Chaos sorgte. Über den
Fußweg, der schräg von der Rämistraße direkt auf das Dach des Bahnhofs
Stadelhofen führte, kamen sie relativ rasch an ihr Ziel. Ihr Timing war
perfekt, denn die Forchbahn wartete bereits.
Es dauerte deshalb nicht lange, bis sie vor sich das gewaltige
schmiedeeiserne Tor sahen, das den Weg zu Germanns Villa verschloss.
»Wow!«, staunte Reto. »Wenn das keine Auffahrt ist. Cool! So was hätte
ich auch gerne!«
»Wer hätte das nicht? Sieh mal diese perfekt gestutzten Buchsbäume. Die
müssen sicher alle zwei, drei Wochen geschnitten werden.«
»Welche Bäume?«, fragte Urs.
»Die Kugeln da.«
»Ach so. Für mich sind das Büsche, keine Bäume.«
Reto lachte. »Alles Pflanzen, da kommt es auf Details doch nicht an.«
»Ihr seid Banausen. Aber das Anwesen ist wirklich krass. Reto, was ist
das da für ein Auto?«

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»In der Garage? Das ist ein Bentley. Ich glaube, das ist der neue Azure.
Der ist echt cool. Kostet wahrscheinlich so viel wie unser ganzes Haus.«
»Das ist dekadent, nicht cool. Denk mal daran, was man mit dem Geld
alles Sinnvolles machen könnte.«
»Ja, ja, Franziska. Jetzt bist du die Banause. Die Karre ist geil, Punkt.
Damit durch die Stadt zu cruisen muss irre sein.«
Urs tippte den beiden auf die Schulter. »Sind wir jetzt hierhergefahren,
um Autos und Rabatten zu bestaunen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber man darf doch wohl mal einen Blick darauf
werfen. Aber seht ihr hier irgendetwas? Oder riecht ihr was?«
Sie schnüffelten, doch außer dem Duft der Blumen neben der Einfahrt
gab es nichts zu riechen.
»Nein, nichts. Aber Pascal hat ja auch nicht gesagt, dass es immer riecht.
Nur manchmal. Und immer nachts.«
»Wir können ja mal in der Nacht vorbeikommen«, schlug Urs vor.
»Du kannst das gerne«, meinte Reto. »Ich wohne zu weit weg. Ich habe
keinen Bock darauf, extra hierherzufahren und dann zu merken, dass doch
nichts stinkt.«
»He!« Franziska musterte gerade intensiv den Eingang. »Kommt mal
her!«
»Was ist denn?«
»Seht mal das Schild hier.«
»Familie Germann. Na und? Das wussten wir ja.«
»Das andere, du Blindschleiche.«
»Aha.« Reto gab ihr einen Knuff und stellte sich übertrieben doof.
»Daaas hier meinst du. GERAG, Entsorgung und Recycling AG.« Er wurde
plötzlich wieder ernst. »Das ist aber interessant.«
»Sage ich doch. Vielleicht ist das der Grund, warum es so komisch
gerochen hat.«
Urs stieß Franziska mit dem Ellbogen an. »Ich will ja nicht stören, aber
ich denke, wir sollten hier verschwinden. Nicht dass sich die Leute noch
fragen, was wir hier vor dem Tor lümmeln und auf das Grundstück starren.
Reden können wir auch anderswo.«
»Da hast du recht.« Sie gingen rasch den Weg zurück, den sie gekommen
waren, vorbei am Haus der Bokolobangos. Dahinter führte ein schmaler
Weg zum See, der ideale Platz, um nachzudenken.

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»Warum meinst du denn«, griff Reto den Faden wieder auf, »dass es
wegen der Firma so komisch gerochen haben könnte? Hier ist mit
Sicherheit kein Entsorgungshof oder etwas Ähnliches. Germann wohnt hier,
vielleicht hat er noch ein Büro im Haus, darum auch das Schild.«
»Hm, stimmt eigentlich. Aber es ist doch trotzdem auffällig. Germann
hat eine Entsorgungsfirma, und Pascal riecht mitten in der Nacht etwas, was
wie Verdünner oder Farbe stinkt.«
»Und? Wer sagt denn, dass da ein Zusammenhang besteht? Wieso soll es
aus Germanns Garten gestunken haben? Vielleicht kam es von irgendwo
anders her.«
»Immerhin ist Pascal verschwunden«, erinnerte Urs. »Nachdem er
gegenüber einem Freund erwähnt hat, er würde gerne mal in Germanns
Garten einsteigen, weil es da so komisch riecht.«
»Das ist schon verdächtig. Aber das hier ist kein Firmengelände.«
»Wir sollten uns genauer über diese GERAG informieren. Mit
Spekulationen kommen wir nicht weiter. Wir sollten wissen, was diese
Firma tut. Und wo sie es tut. Am Ende entsorgt sie bloß Bauschutt, dann
stehen wir wieder vor dem Nichts.«
Reto sah auf die Uhr. »Ich kann heute Abend mal ein bisschen googeln.
Aber jetzt muss ich los. Ich habe Training.«
Franziska und Urs schauten beide wie auf Kommando auf die Uhr.
»Natürlich«, sagte Franziska. »Geh nur. Urs und ich können ja noch
versuchen, mit Frau Bokolobango zu sprechen. Vielleicht hat sie
Neuigkeiten von der Polizei.«
In diesem Moment kam eine Frau den Weg herunter. An der Leine hielt
sie eine riesige Deutsche Dogge, die, als sie die Jugendlichen bemerkte,
sofort an der Leine zu zerren begann. Die Frau hatte alle Mühe, das Tier
zurückzuhalten.
»Wotan!«, rief sie scharf. »Bei Fuß!«
Der Hund gehorchte augenblicklich, doch er behielt die drei
Jugendlichen im Auge, als er langsam vorbeilief. Dann verschwand die
Frau mit dem Hund durch ein kleines Tor in Germanns Garten. Franziska
meinte, ein leises Knurren gehört zu haben, sie fühlte sich alles andere als
wohl. Dass Pascal, der ja anscheinend Angst vor Hunden hatte, zu dieser
Bestie in den Garten gegangen sein könnte, kam ihr plötzlich sehr
unwahrscheinlich vor.

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Nachdem Reto davongespurtet war, um die Forchbahn zu erwischen,
klingelten Urs und Franziska noch zweimal bei Frau Bokolobango, doch
offensichtlich war niemand zu Hause. Etwas enttäuscht machten sie sich auf
den Weg zur Haltestelle.
»Also je mehr ich darüber nachdenke, desto merkwürdiger finde ich die
ganze Sache«, grübelte Franziska. »Angenommen, Pascal hat wieder etwas
gerochen und vielleicht auch etwas gehört an dem Abend, als er
verschwand. Da war doch absolutes Scheißwetter. Warum macht jemand
bei diesem Wetter etwas, was so riecht?«
»Das stimmt. Und ich habe mir auch noch etwas anderes überlegt. Wenn
es so stark geregnet hat, war der Hund vielleicht im Haus. Und deshalb
hätte sich Pascal womöglich in den Garten getraut, um nachzusehen.«
»Ich hab auch schon darüber nachgedacht«, meinte Franziska und rieb
sich das Kinn. »Natürlich wird der Hund nicht im Regen rumgetobt haben.
Aber hätte er einen Eindringling wie Pascal nicht auch bemerkt, wenn er im
Haus gewesen wäre? Außerdem besteht doch immer die Gefahr, dass
jemand mit dem Hund rausgeht. Bei jedem Wetter. Wenn der Hund Gassi
gehen muss, dann stört es ihn nicht, ob es regnet. Und das muss auch Pascal
gewusst haben.«
»Meinst du wirklich, er hätte so weit gedacht?«
Sie seufzte. »Ich weiß es nicht, Häschen. Vielleicht war es auch einfach
nur eine spontane Aktion. Oder was ganz anderes.«
In diesem Moment näherte sich die Forchbahn.
»Ich muss los«, sagte Franziska. »Aber wir reden morgen darüber. Mal
sehen, ob Reto etwas über diese GERAG rausfindet.«
Sie verabschiedeten sich schnell, dann verschwand Franziska in der Bahn
und auch Urs machte sich auf den Heimweg.

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Am naechsten Morgen wurde der ganze


Stundenplan umgestellt. Franziskas Klassenlehrer
hielt eine Klassenstunde ab, damit Pascals . . .
Am nächsten Morgen wurde der ganze Stundenplan umgestellt. Franziskas
Klassenlehrer hielt eine Klassenstunde ab, damit Pascals Mitschüler über
die jüngsten Ereignisse reden konnten. Und auch, um den verschiedenen
Gerüchten entgegenzutreten, die bereits auf dem Pausenhof die Runde
machten. Der Lehrer informierte alle über den Stand der Dinge, wobei er
allerdings nichts erwähnte, was für Franziska neu gewesen wäre. Auch in
der anschließenden Diskussion hatte niemand etwas beizutragen, das Licht
auf Pascals Verschwinden geworfen hätte.
Für Franziska ging die Stunde deshalb unglaublich langsam vorbei, sie
brannte darauf, endlich mit Reto zu reden und zu hören, ob er irgendetwas
über diese GERAG rausgekriegt hatte.
Das Läuten der Pausenglocke war deshalb eine große Erleichterung,
Franziska und Urs stürmten praktisch als Erste aus dem Klassenzimmer, um
sich mit Reto auf dem Sportplatz hinter der Turnhalle zu treffen. Dort gab
es mehrere Bänke, auf denen sie manchmal die Pause verbrachten, obwohl
es offiziell nicht gerne gesehen war.
»Und?«, fragten sie wie aus einem Mund, als Reto nach einigen Minuten
zu ihnen stieß. »Hast du etwas Interessantes herausgefunden?«
Reto zuckte mit den Schultern. »Wie man es nimmt. Die Firma ist an und
für sich ganz normal. Hat sich auf Entsorgung und Wiederverwertung von
Sonderabfällen spezialisiert. Germann ist Alleineigentümer, er hat die
Firma Ende der Achtziger gegründet, als noch niemand von Recycling
gesprochen hat. Allem Anschein nach hat er mittlerweile einen Haufen
Geld damit gemacht, sogar die Stadt beseitigt ihren Sondermüll über ihn,
ebenfalls die Uni und die ETH. Die ganzen radioaktiven Abfälle und
Lösungsmittel aus den Labors werden von der GERAG fachgerecht
entsorgt.«
Urs horchte auf. »Lösungsmittel?«

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»Klar. Da fällt doch eine Menge an, ebenso bei Firmen, die Farben und
Lacke herstellen oder damit arbeiten. Wenn was übrig ist oder bei der
Produktion Rückstände anfallen, dann rufst du am besten die GERAG an.
Auf der Homepage gibt es eine Liste von Kunden, die seit Jahren mit der
Firma zusammenarbeiten. Sehr beeindruckend.«
»Lösungsmittel könnten das gewesen sein, was Pascal gerochen hat. Er
hat ja gesagt, es wäre wie frische Farbe oder Verdünner gewesen.«
»Aber das wird kaum das Zeug gewesen sein, mit dem die GERAG jeden
Tag umgeht. Das wäre viel zu viel.«
»Wer sagt denn, dass es alles gewesen ist?« Franziska dachte angestrengt
nach. »Angenommen, Germann macht irgendetwas Illegales. Vielleicht
Schmuggel.« Ihr fiel ein, was Stéphane über Pascal und seine Liebe zu
Krimis gesagt hatte, dass er wahrscheinlich davon geträumt hätte, eine
große Verbrecherorganisation hochgehen zu lassen. »Womöglich Drogen?
Oder er wäscht einfach Geld? Wer weiß, das ist ja auch nicht so wichtig.
Aber nehmen wir mal an, er benutzt die GERAG zur Tarnung. Er
schmuggelt Drogen, die in Fässern mit Lösungsmitteln versteckt sind. Oder
Geldbündel, die in Folie eingeschweißt sind. Und wenn er das Zeug bei sich
zu Hause rausholt, riecht es halt ein bisschen streng. Nicht lange, aber lange
genug.«
»Angenommen«, spann Urs den Faden weiter, »Pascal ist tatsächlich an
diesem Abend in den Garten eingedrungen. Angenommen, er hat wirklich
etwas gesehen. Etwas, das er nicht hätte sehen sollen.«
»Und ist dann erwischt worden«, vollendete Franziska den Satz.
Minutenlang war es still, als die drei über das nachdachten, was
Franziska gerade gesagt hatte. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Der Geruch,
die Geräusche und Stimmen mitten in der Nacht. Pascals plötzliches
Verschwinden.
»Und was machen wir jetzt? Sollen wir das der Polizei sagen?«
Franziska dachte nach. »Nein«, entschied sie dann, »dafür haben wir zu
wenig. Eigentlich haben wir gar nichts. Und Germann ist in der Stadt eine
angesehene Persönlichkeit. Man würde uns einfach auslachen.«
»Er bezahlt sicher auch ordentlich Steuern und ist mit dem Stadtpräsident
auf Du und Du. Typischer Filz eben. Aber was können wir sonst tun?«
»Wir müssen noch mehr herausfinden. Über Germann, über diese
GERAG.«

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»Und vor allem müssen wir rauskriegen, was mit Pascal geschehen ist.
Und wo er sein könnte.«
»Meinst du, er ist tot? Wenn Germann Drogen schmuggelt und Pascal das
weiß, dann würden sie ihn kaum am Leben lassen, oder?«
»Ich glaube nicht, dass Germann was mit Drogen zu tun hat«, sagte Reto
plötzlich bestimmt. »Wenn, dann würde er das viel professioneller machen.
Sicher nicht im Garten seiner Villa. Und ganz sicher nicht so, dass jeder
einfach über den Gartenzaun steigen und alles auffliegen lassen kann.«
»Wieso meinst du das?«
»Schalt mal dein Hirn an, Häschen. In dem Geschäft geht es um richtig
viel Kohle. Da haben kleine Anfänger keinen Platz. Ein richtiger Dealer hat
bestimmt keinen Stoff im eigenen Garten. Die Sache läuft viel
professioneller.«
»Das hat schon was«, pflichtete Urs bei. »Was glaubst du denn?«
»Wenn Germann wirklich etwas Illegales macht, und das kann ja sein,
dann denke ich, dass es etwas kleinere Brötchen sind, die der da backt.
Vielleicht ein bisschen Geld waschen. Vielleicht auch Schmuggel, aber
nicht Drogen.«
»Und was bedeutet das deiner Ansicht nach?«
»Dass Germann nicht irgendein Mafiaboss ist. Der ist doch viel eher ein
Unternehmer, der sich mit krummen Geschäften noch etwas dazuverdient.
Und wegen dieser Geschäfte bringt man niemanden um.«
»Du denkst also, Pascal lebt noch?«
»Ja.« Reto wirkte auf einmal sehr bestimmt und rational. »Ich habe mal
eine Dokumentation über den Drogenhandel in Lateinamerika gesehen. Da
passieren solche Dinge nicht. Da werden Probleme gelöst, indem man die
Leute auf offener Straße abknallt. Oder denk an die jüngsten Mafiafehden
in Deutschland. Fünf Menschen vor einem Restaurant über den Haufen
geschossen. Das ist nicht die Liga, in der Germann spielt.«
Franziska fand den Gedankengang logisch. »Das könnte hinhauen«, sagte
sie anerkennend. »Die Frage ist nur: Was ist dann mit Pascal geschehen?«
»Germann ist vielleicht genauso ratlos wie wir. Er hat ihn ertappt und
kann ihn nicht laufen lassen, weil dann sein kleines Nebengeschäft
auffliegt. Andererseits will er ihn wahrscheinlich auch nicht umbringen,
weil das ein ganz anderes Niveau von Verbrechen ist.«
»Du meinst, er hält ihn irgendwo fest?«

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»Immerhin erscheint es mir plausibler als die Vorstellung, Germann
könnte in seinem Garten ein Drehkreuz für Drogen eingerichtet haben.«
»Aber wo soll das sein? Im Keller seiner Villa?«
»Sicher nicht! Das wär ja schön doof. Wenn die Polizei mit Hunden die
Nachbarschaft absucht und Pascal aus dem Kellerfenster um Hilfe ruft!
Nein, ich bin sicher, dass Pascal nicht auf Germanns Anwesen versteckt
ist.«
»Dann kommen wohl nur die Gebäude der GERAG infrage«,
schlussfolgerte Urs.
Reto nickte.
»Also müssen wir da rein«, sagte Franziska energisch. »Vielleicht ist
Pascal dort, oder wir finden einen Hinweis darauf, was Germann treibt.
Falls er denn etwas Illegales treibt. Aber wenn, dann können wir zur Polizei
und die haben ganz andere Mittel zur Verfügung als wir.«
Die beiden Jungs stimmten zu.
»Eigentlich ist das richtig cool«, meinte Urs und lachte plötzlich. »Klar,
es ist schon scheiße, dass Pascal verschwunden ist, aber so ein bisschen
nachforschen, das ist doch toll, oder? Wie in einem Krimi.«
»Nur ist das hier leider kein Film«, sagte Franziska leise. »Pascal ist
wirklich weg. Es ruft niemand ›Schnitt‹, und wir laufen alle vom Set und
trinken ein Bier. Das hier ist ernst.«

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Mehr ueber die GERAG herausfinden, das war


also die Vorgabe. Und zwar richtig etwas
herausfinden, nicht einfach nur die offiziellen . . .
Mehr über die GERAG herausfinden, das war also die Vorgabe. Und zwar
richtig etwas herausfinden, nicht einfach nur die offiziellen Informationen
zusammenklauben, die man auf der Homepage finden konnte. Nach einer
kurzen Beratung entschieden sie sich, direkt in die Höhle des Löwen
vorzustoßen. Dazu war eine kleine Zugreise nötig, denn die GERAG befand
sich nicht auf Stadtzürcher Gebiet, sondern in der Industriezone von
Wallisellen. Wenn sie gleich nach der letzten Stunde losfuhren, würden sie
um kurz vor halb sechs Uhr ankommen, wenn alle Mitarbeiter an
Feierabend dachten oder schon zu Hause waren. Franziska würde vorgeben,
eine Arbeit über Recycling schreiben zu müssen, und dabei versuchen, so
viele Mitarbeiter wie möglich zu befragen und sie dadurch abzulenken.
Gleichzeitig wollten sich Reto und Urs aufs Gelände schleichen und sehen,
ob sie irgendetwas Verdächtiges fanden.
Sie eilten über die Limmat zum Hauptbahnhof und fuhren von dort mit
der S14 nach Wallisellen. Die Fahrt dauerte knapp zwanzig Minuten und sie
wurden mit jeder Minute nervöser. Immerhin war die Aktion mit einem
gewissen Risiko verbunden, wenn Germann tatsächlich in Pascals
Verschwinden verwickelt sein sollte.
Vom Bahnhof bis zum Gelände der GERAG war es nicht weit.
Reto und Urs zweigten eine Straße früher ab, allerdings nicht ohne sich
zu vergewissern, dass alle ihre Handys dabei- und auf lautlos gestellt hatten.
Man konnte ja nie wissen. Dann näherten sie sich dem Areal von der
Rückseite. Auf dem Firmengelände, das vollständig von einem hohen
Maschendrahtzaun umgeben war, stapelten sich Fässer, zu Würfeln
gepresste PET-Flaschen sowie mehrere große Container.
Ein Mann fuhr mit einem Gabelstapler zwischen einem Bahnwaggon und
dem Hauptgebäude hin und her und entleerte bei jeder Fahrt aufs Neue
Altmetall mit Getöse in den Waggon. Reto und Urs setzten sich bei einer

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Bushaltestelle in der Nähe auf eine Bank und musterten die Umgebung
sorgfältig. Zum Glück konnten sie weder am Gebäude noch am Zaun
Überwachungskameras feststellen. Wäre wohl auch etwas übertrieben
gewesen. Kaum jemand würde Abfall klauen wollen.
Um exakt zwei Minuten nach fünf fuhr der Gabelstapler ein letztes Mal
aus der großen Halle, leerte seine Ladung aus und verschwand dann
endgültig in der Haupthalle. Die beiden Jungs warteten zehn Minuten, bis
sie sicher waren, dass der Mann nicht vielleicht doch noch mal herauskam.
Dann liefen sie rasch zu einer Stelle des Zauns, an der hohe Container die
Sicht verdeckten. Reto half Urs auf den Zaun, indem er für ihn eine Leiter
machte, dann kletterte er selbst behände an den Maschen hinauf. Der harte
Draht drückte in seinen Bauch, als er sich oben um den Zaun
herumschwang und auf der Innenseite zu Boden fallen ließ.
Sie waren jetzt zwischen einem Container und dem Zaun, von außen
zwar sichtbar, nicht aber vom Hauptgebäude aus. Schnell liefen sie um den
Container herum und kauerten sich zwischen die PET-Würfel, damit man
sie auch von der Straße aus nicht mehr sehen konnte.
Reto spürte, wie sein Herz rasch und heftig pochte, während sie sich
ruhig verhielten und abwarteten, ob vielleicht doch jemand kam, der ihr
Eindringen beobachtet hatte. Minutenlang blieb es still, und so entschieden
sie sich, mit ihrer Suche anzufangen.
Geduckt liefen sie im Schatten der Würfel zu einem Nebentrakt des
Gebäudes. Ein großes Tor stand offen und gab den Blick auf den Fuhrpark
der GERAG AG frei: mehrere Gabelstapler, zwei Lieferwagen sowie einen
Lastwagen mittlerer Größe.
Sie tauschten einen kurzen Blick, dann schlüpften sie in die Halle.
Die Halle war hoch, an den Wänden befanden sich Regale, die bis zur
Decke reichten und mit grünen, gelben und roten Metallfässern vollgestellt
waren. Auf einigen prangten Warnsymbole, die aber keinem der beiden
etwas sagten.
Sie trennten sich und suchten jeder rasch eine Hälfte der Halle ab, ohne
jedoch auf etwas Verdächtiges zu stoßen. Allerdings waren sie sich auch
bewusst, dass es so einfach kaum werden dürfte. Wenn Germann tatsächlich
irgendwelche krummen Geschäfte betrieb, würde er die Beweise kaum in
der Halle herumliegen lassen, wo jeder Arbeiter sie sehen konnte.
Sie trafen hinter der letzten Regalreihe wieder aufeinander und wollten
schon ernüchtert die Halle verlassen, als Urs eine Tür auffiel.

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»Sollen wir da mal rein?«
»Lass es uns ausprobieren. Wenn wir es jetzt nicht machen, ärgern wir
uns vielleicht später.«
»Halt!« Urs hielt Reto an der Schulter zurück. »Was, wenn da jemand
drin ist?«
»Stimmt. Lass uns zuerst horchen.« Sie pressten beide ihr Ohr gegen die
Tür, doch außer dem entfernten Summen einer Lüftung war nichts zu
vernehmen.
»Ich mach auf, pass auf. Falls jemand drin ist, hauen wir einfach sofort
ab, okay?«
Urs nickte. Dann drückte Reto vorsichtig auf die Klinke. Die Tür
schwang auf, das Geräusch der Lüftung wurde lauter.
Sie huschten durch die Tür und schlossen sie in ihrem Rücken gleich
wieder. Von Sensoren gesteuert, sprang automatisch das Licht an.
Sie standen in einem Flur, der etwa zehn Meter weiter vorne in ein
Treppenhaus mündete. Zwischen ihrer Position und der Treppe fanden sich
zur Rechten lediglich zwei Türen, dem Symbol nach zu schließen die
Toiletten.
»Vielleicht wird Pascal ja im Keller gefangen gehalten.« Urs flüsterte.
Reto nickte. Geräuschlos schlichen sie vorwärts und über die
Betontreppe in den Keller. Nackte, weiße Wände bildeten einen langen
Korridor, von dem zu beiden Seiten Türen abgingen.
»Ach du Scheiße«, entfuhr es Urs, »das ist ja riesig! Mann, das dauert
doch ewig bis wir das alles durchsucht haben.«
»Vielleicht sollten wir uns aufteilen. Jeder eine Seite.«
Urs zögerte.
»Was ist?«
»Mir wäre es eigentlich lieber, wenn wir gemeinsam unterwegs wären.«
»Okay.« Das dauerte zwar länger, aber auch Reto hatte nichts dagegen
einzuwenden, wenn er nicht alleine diesen Keller untersuchen musste.
»Dann lass uns aber gleich anfangen.«
Sie begannen auf der rechten Seite und öffneten eine Tür nach der
anderen. Im ersten Raum befand sich das Gebläse, das man bis ins obere
Stockwerk gehört hatte. Im zweiten Raum waren weitere große Geräte
untergebracht, die nach Heizung oder Klimaanlage aussahen und leise
summten.

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Im dritten Raum jedoch fanden sie etwas ganz anderes. Schon als sie die
Tür öffneten, schlug ihnen der stechende Gestank von Chemikalien
entgegen. Große, weiße Tanks standen im Raum, die meisten waren mit
einer ekelhaften, braunen Flüssigkeit gefüllt.
›Chlorhaltige Lösungsmittel‹ stand auf einem, ›Bromierte Lösungsmittel‹
auf einem anderen. Drei große Tanks waren mit ›Übrige Lösungsmittel‹
beschriftet. Eine ganze Batterie orangefarbener Warnaufkleber wies darauf
hin, dass die in den Tanks gelagerten Chemikalien giftig waren, die Umwelt
verseuchten und die Augen reizen konnten. Die Bedeutung eines weiteren
Symbols war den beiden dann nicht mehr klar, aber sie verstanden auch so,
dass das Zeug nicht gerade gesund war. In einer Ecke des Raumes standen
mehrere Fässer aus Metall, die aber leer waren, sowie eine Pumpe.
Reto deutete auf die Fässer. »Sieh dir mal diese eklige Brühe an. Und das
Zeug mottet echt widerlich, obwohl die Deckel verschlossen sind.«
»Dann sei mal froh, dass wir nicht mehr in den Siebzigern sind. Da hat
man das Zeug nämlich einfach in den nächsten Fluss geleitet.«
»Red keinen Stuss!«
»Das ist kein Stuss. Du kannst auch nach China fahren, da tun sie es
heute noch.«
»Meine Güte. Und meine Eltern denken, dass sie die Welt retten, wenn
sie den Aludeckel vom Joghurt recyceln.«
Urs lachte. »Ihn wegzuschmeißen, nur weil andere es tun, ist aber auch
doof, oder?«
»Da hast du recht. Aber darum geht es jetzt nicht. Auf jeden Fall habe ich
den Eindruck, dass sich diese Brühe perfekt zum Schmuggeln eignet.
Vielleicht verstecken sie irgendetwas in den Fässern und pumpen nachher
das Zeug aus den Tanks hinein, um es zu verbergen. Und niemand merkt es,
wenn hier ein paar Liter fehlen.«
»Es ist ja nicht erwiesen, dass er schmuggelt.«
»Ich weiß. Aber es wäre doch eine gute Gelegenheit. Wer schaut schon in
so ein Fass. Die Brühe ist dunkelbraun, da siehst du nichts, selbst wenn am
Boden des Fasses ein Paket mit Geld liegt. Außerdem ist das Zeug giftig, da
halten sich alle automatisch davon fern.«
»Aber das Geld müsste doch zuerst hierhergebracht werden. Meinst du
nicht, dass so etwas den Mitarbeitern auffallen würde?«
»Wer sagt denn, dass es hier geschieht? Die füllen ein paar Fässer mit
dem grässlichen Zeug und fahren weg. Die Schmuggelware oder so kommt

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erst später rein.«
Urs nickte. »Lass uns weitersuchen, vielleicht finden wir noch einen
wirklichen Hinweis.«
Sie waren gerade wieder auf dem Flur, als Reto spürte, wie das Handy in
seiner Tasche vibrierte.
Franziska hatte ihm eine SMS geschickt: Wurde abgewimmelt. Zwei
Männer sind noch auf dem Gelände, habe gehört, wie der eine etwas von
einem Rundgang gesagt hat. Passt auf euch auf!
»Wir kriegen vielleicht Besuch.«
»Was?«
»Franziska ist draußen, anscheinend macht jemand einen Rundgang. Wir
sollten verschwinden.«
Reto spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Rasch gingen sie
durch den Flur zurück, doch sie waren nicht einmal an der Treppe
angelangt, als sie hörten, wie die Tür oben zugeschlagen wurde.
»Scheiße, er kommt hier runter.«
»Wir müssen uns verstecken!«
»Schnell, da rein.« Sie drehten sich um und hasteten zurück. Die Tür des
letzten Raumes auf der linken Seite stand offen, sie schlüpften hinein. Urs
schloss die Tür, so leise es möglich war.
Der Raum war irgendein Lager, sie hatten keine Zeit, das genauer zu
untersuchen. Urs verkroch sich hinter den Regalen, dann löschte Reto das
Licht. Die Dunkelheit war furchtbar bedrückend, Reto spürte, wie ihn
plötzlich Angst mit eisigem Griff umklammerte. Er widerstand dem Drang,
das Licht sofort wieder anzustellen. Stattdessen klappte er sein Handy auf
und suchte sich im schwachen Licht des Displays den Weg zu Urs.
Er hatte sich kaum zu seinem Freund gekauert, da hörten sie auch schon
Stimmen draußen auf dem Flur.
»Scheiße«, sagte ein Mann gerade, »der Tank hier ist auch schon fast
wieder voll.«
»Du hast recht«, antwortete ein Zweiter. »Kam halt viel rein in den
letzten Tagen.«
»Wir müssen das Zeug loswerden, möglichst schnell. Ich kümmere mich
gleich morgen darum.«
»Bring es nach Wetzikon. Da musst du ja sowieso noch hin.«
»Ach ja, Scheiße, das habe ich fast vergessen.«
Der zweite Mann lachte. »Viel Vergnügen!«

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»Du hast gut lachen. Diese Scheiße darf immer ich übernehmen.«
»Germann mag dich halt. So, und jetzt lass uns hier fertig machen. Ich
will nach Hause.«
Die beiden Jungs hörten mehrere Schlüssel klimpern, dann ging ganz in
der Nähe eine Tür auf und wieder zu. Schließlich entfernten sich die
Männer.
Erst als es mehrere Minuten lang ruhig geblieben war, traute sich Reto
wieder, den Mund aufzumachen. »Uff, das war knapp. Stell dir mal vor, wir
wären noch bei den Tanks gewesen.«
Die Stimme von Urs zitterte. »Ich habe genug für heute«, sagte er, »lass
uns verschwinden.«
»Mir reicht’s auch. Und Pascal ist sowieso nicht hier.«
Sie schlossen die Tür zum Lager und tasteten sich durch den jetzt in
völliger Dunkelheit liegenden Flur. Reto sah zwar schwach einen
Lichtschalter leuchten, entschied sich aber dagegen. Erst im Treppenhaus
gab es wieder Licht, weil es dort automatisch gesteuert wurde.
Reto war froh, wieder aus dem Keller herauszukommen. Die Expedition
hatte an seinen Nerven gezehrt. Immerhin kehrten sie nicht ganz ohne
Ergebnis zurück. Franziska würde das hoffentlich zu würdigen wissen.
Vorsichtig drückte er die Klinke der Tür, die in die große Lagerhalle
führte.
Dann setzte sein Herz für einen Schlag aus.
Die Tür war abgeschlossen. Sie waren eingesperrt.

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20

Franziska sass auf der Bank bei der Bushaltestelle


und wartete. Was hatten Urs und Reto entdeckt,
dass sie so lange da drinblieben?
Franziska saß auf der Bank bei der Bushaltestelle und wartete. Was hatten
Urs und Reto entdeckt, dass sie so lange da drinblieben? Sie dachte an
Pascal, immer und immer wieder. Wo er wohl steckte? Und wie es ihm
wohl ging? Es war so schrecklich, nicht zu wissen, was mit ihm geschehen
war.
Plötzlich vibrierte das Handy in ihrer Tasche. Ihre Hände zitterten, als sie
den Anruf entgegennahm.
»Reto! Was ist?«
»Wir sind eingeschlossen.« Seine Stimme war ganz ruhig, so als sei er
gar nicht selber betroffen.
»Was?!« Franziska schien es, als ob sich die Welt um sie herum zu
drehen begänne. Was hatte sie angerichtet? Es war ihr Vorschlag gewesen,
sie hatte die beiden Jungs auf ihre Tour geschickt. Und wenn sie jetzt da
drin festsaßen, dann war das letztlich ihre Schuld. »Was ist denn passiert?«
»Da kamen zwei Kerle, als wir im Keller waren. Sie haben geredet, ein
bisschen rumgeschaut und sind wieder gegangen. Aber sie haben
abgeschlossen.«
»Gibt es keinen zweiten Ausgang?«
»Nein. Wir haben hier unten alles abgesucht. Hier sind nur acht Räume,
aber keiner hat einen Ausgang oder ein Fenster. Es gibt noch einen
Warenaufzug, aber der ist auch abgeschlossen.«
»Scheiße. Verdammt!« Franziska fluchte so laut, dass sich eine alte Frau
auf der anderen Straßenseite nach ihr umdrehte.
»Ja, die Kacke ist so richtig am Dampfen. Franziska, hör zu. Du musst
uns hier rausholen.«
Sie überlegte fieberhaft. »Aber es ist noch jemand auf dem Gelände«,
sagte sie dann.

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»Dann warte, bis der weg ist. Und dann komm rein.« Reto beschrieb ihr,
wie sie über den Zaun geklettert und in die Halle gegangen waren, und wo
sich die Tür zum Keller befand. Franziska hörte, dass seine Stimme vor
Anspannung vibrierte.
Auch sie fühlte sich denkbar schlecht, während sie da auf ihrer Bank saß
und darauf wartete, dass der letzte Mitarbeiter endlich das Firmengelände
verließ. Nach zwanzig Minuten war es endlich so weit und Franziska
kletterte an der von Reto beschriebenen Stelle über den Zaun. Sie fand den
Weg zur Halle, doch mittlerweile war auch diese abgeschlossen. Franziska
trat wütend gegen die Tür. Dann schrieb sie Reto eine SMS. Die Halle ist
abgeschlossen. Ich muss irgendwie ins Hauptgebäude und die Schlüssel
suchen. Das kann dauern. Habt Geduld …
Es war schon ziemlich dunkel, als Franziska über den Platz zum
Hauptgebäude lief. Doch auch dort waren alle Eingänge fest verriegelt. Ein
Gefühl grenzenloser Hilflosigkeit ergriff von ihr Besitz. Wie um Himmels
willen sollte sie Reto und Urs nur rausholen? Oder blieb ihr letzten Endes
nichts anderes übrig, als die Polizei oder gar Germann anzurufen? Sie
suchte fieberhaft nach einer Ausrede, mit der sie ihr Eindringen
rechtfertigen könnte, doch ihr fiel keine ein. Was ja auch nicht gerade
verwunderlich war. Für einen Einbruch konnte es nicht wirklich gute
Ausreden geben.
Noch einmal umrundete sie langsam das Gebäude, in der Hoffnung,
irgendeinen Weg zu finden, wie sie doch noch hineingelangen konnte.
Franziska wollte schon aufgeben, als sie den Lichtschacht bemerkte, der
halb von einem an der Hausecke wuchernden Strauch verdeckt war. Sie hob
das Gitter an und spähte hinunter. Ein kleines Kippfenster führte in einen
stockdunklen Kellerraum.
Franziskas Entschluss stand sofort fest. Sie zwängte sich in den engen
Schacht. Das Fenster war schmal und mit einem Bügel eingehängt, damit es
nicht ganz aufklappte. Ein erwachsener Mann hätte kaum durch die schmale
Öffnung greifen können, doch Franziska hatte lange, dünne Hände, und auf
einmal waren ihre schmächtigen Arme ein enormer Vorteil. Sie zwängte
ihre Finger in den engen Spalt und nestelte am Bügel herum. Das Fenster
schnitt schmerzhaft in ihren Unterarm, doch sie machte weiter. Nach einer
Ewigkeit, so schien es ihr, schaffte sie es, den Bügel auszuhängen und das
Fenster sachte nach unten zu klappen. Die so entstandene Öffnung war zwar
ziemlich klein, aber groß genug für Franziska.

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Ächzend schob sie sich hindurch, allerdings bekam ihre Hose dabei
einiges ab. Ihre Arme schmerzten, als sie sich langsam nach unten gleiten
ließ, aber weil sie nichts sah, traute sie sich nicht, sich einfach fallen zu
lassen.
Zum Glück befand sich unter dem Fenster nichts, doch im Keller war es
stockdunkel. Franziska tastete sich mit ausgestreckten Armen nach vorne,
bis sie auf eine Wand stieß. Der folgte sie langsam, bis sie zu einer Tür
kam. Und neben der fand sie endlich einen Lichtschalter.
Sie atmete auf, als eine Neonröhre aufflackerte. Ohne sich groß
umzusehen, öffnete Franziska die Tür und verließ den Raum. Über einen
Korridor gelangte sie zu einer Treppe, die nach oben führte. Und da
erkannte sie auch wieder vertraute Gegenstände. Sie war im
Eingangsbereich gelandet, hier hatte sie auf die Sekretärin gewartet, die
ganz kurz mit ihr gesprochen hatte.
Durch die große Glasfront fiel der schwache Schein der Straßenlampen
herein, daher verzichtete sie darauf, Licht anzumachen. Zielstrebig ging sie
in das Zimmer gleich nebenan, wo der Empfang war. Wie sie von ihrem
kurzen Besuch noch wusste, hing dort ein Schlüsselschrank an der Wand
gleich neben der Tür.
Franziska stellte erleichtert fest, dass er nicht abgeschlossen war und die
Schlüssel schön ordentlich beschriftet. Sie nahm alle, von denen sie dachte,
dass sie ihr von Nutzen sein könnten, und verließ den Raum wieder. Um
nicht noch einmal durch den Keller klettern zu müssen, schloss sie die Tür
auf, die auf den großen Platz hinausführte.
Auch die Halle ließ sich öffnen, und dann endlich stand Franziska vor der
Tür, hinter welcher Reto und Urs eingeschlossen waren. Durch ein leises
Klopfen gab sie zu erkennen, dass endlich Hilfe eingetroffen war, doch
bereits kurz danach folgte die große Ernüchterung.
Keiner der mitgebrachten Schlüssel passte.
Einen kurzen Moment lang war Franziska kurz davor, endgültig zu
verzweifeln.
Sie klopfte und rief nach Reto, doch die Tür war zu dick, sodass sie
niemanden hörte. Sie nahm ihr Handy. Kein Schlüssel passt! Was soll ich
jetzt machen?
Eine Weile war es still, Franziska konnte sich lebhaft vorstellen, wie
enttäuscht die beiden Jungs waren, schließlich hatten sie ihre ganze

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Hoffnung in Franziska gesteckt. Sie fluchte wütend. Was für eine
verdammte Schnapsidee, hier einzudringen!
Ihr Handy summte. Mit feuchten Händen las Franziska Retos SMS.
Versuch’s mal beim Lift. Vielleicht gibt es irgendwo einen Schlüssel dazu.
Mühsam richtete sich Franziska auf. Das wäre eine Möglichkeit. Neue
Hoffnung packte sie und sie rannte zum Warenaufzug. Der war zwar
abgeschlossen, aber die Schlüssel dazu hingen an einem Haken gleich
daneben. Jetzt dauerte es nur noch Minuten, bis Franziska mit dem
Fahrstuhl nach unten gefahren war und sich im Keller wiederfand, den die
beiden Jungs vor Kurzem untersucht hatten. Noch bevor sie nach ihnen
rufen konnte, waren die beiden über die Treppe nach unten getrampelt. Und
nur wenig später hatte der Albtraum ein Ende, als sie Reto endlich in die
Arme schließen konnte.
Den beiden Jungs hatte ihre Gefangenschaft mehr zugesetzt, als sie
zugeben wollten, Franziska merkte, dass beide ziemlich fertig waren. So
rasch wie möglich gingen sie nach draußen, und sie mussten wohl alle dem
Drang widerstehen, laut und triumphierend herauszuschreien.
Franziska brachte die Schlüssel ins Empfangsbüro zurück und verließ das
Gebäude durch den Keller wieder. Das Fenster musste sie offen lassen, die
einzige Spur, dass jemand bei der GERAG eingedrungen war.
Es war schon nach zehn Uhr, als die drei hundemüde, aber unglaublich
erleichtert den Heimweg antraten.

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21

Ich hab einen rechten Rueffel gekriegt zu Hause,


beschwerte sich Reto am naechsten Morgen. Weil
ich ohne Entschuldigung das Abendessen . . .
»Ich hab einen rechten Rüffel gekriegt zu Hause«, beschwerte sich Reto am
nächsten Morgen. »Weil ich ohne Entschuldigung das Abendessen verpasst
habe. Man könnte meinen, ich sei noch zwölf.«
»Meine Mutter war zum Glück nicht zu Hause und hat nichts gemerkt.
Spätdienst.« Franziska lachte, froh darüber, dass sie die Aktion unbeschadet
und vor allem ohne aufzufallen überstanden hatten. »Aber geschlafen habe
ich kaum.«
»Ich auch nicht«, pflichtete Urs bei, der sich mit einer Cola in der Hand
zu ihnen gesellte. »Und wenn ich mal eingeschlafen bin, dann habe ich
permanent von diesem Keller geträumt.«
»Aber zum Glück ist es jetzt ja vorbei.«
»Nicht wirklich.« Urs wirkte bedrückt. »Pascal ist immer noch nicht
wieder aufgetaucht.«
Die Stimmung sank augenblicklich. »Stimmt«, sagte Reto. »Das habe ich
in all der Freude fast vergessen.«
»Ich nicht.« Auch Franziska war niedergeschlagen. »Und ich habe in der
Nacht überlegt, was wir weiter tun könnten. Doch mir ist leider nichts
eingefallen. Ist aber auch zu doof, dass wir nichts bei Germann gefunden
haben.«
»Aber da war doch etwas«, sagte Urs bestimmt. »Nichts, was wir
gesehen haben. Aber das, was die beiden Männer gesagt haben.«
»Was denn? Dass die Tanks voll sind und geleert werden müssen? Das
kann jeder sehen, der in den Keller geht.«
»Quatsch. Darum geht es mir doch nicht. Ich fand es eher merkwürdig,
dass die das nach Feierabend besprechen. Außerdem hat der eine etwas
davon gesagt, dass er das Zeug nach Wetzikon bringen würde. Wieso
ausgerechnet dahin?«

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»Vielleicht steht dort eine Verbrennungsanlage, die auf solche Abfälle
spezialisiert ist. Erinnert ihr euch noch an das Chemiepraktikum? Da
mussten wir doch auch den ganzen Dreck sammeln, und der Kuster hat
dann lang und breit darüber gelabert, wie das Zeug in speziellen Anlagen
verbrannt wird, die über entsprechende Filter verfügen.«
»Was du dir alles merkst, Franziska. Dem Kuster hört man doch schon
aus Prinzip nicht zu.«
»Ich finde Chemie spannend, Häschen.«
»Aber so eine Anlage gibt es doch nicht in Wetzikon.« Reto kniff die
Augen zusammen, weil ihn die Sonne blendete.
»Und da war noch etwas Verdächtiges.« Urs redete sich in Fahrt.
Franziska horchte auf. »Was denn?«
»Der eine Typ war nicht wirklich begeistert, nach Wetzikon zu müssen.
Wenn der eine Verbrennung gemeint hätte, hätte er das nicht gesagt.
Außerdem war die Rede davon, dass er da hinfahren müsse, weil Germann
es so wollte.«
»Das ist in der Tat komisch. Aber was bedeutet das?«
»Womöglich ist Pascal in Wetzikon?«
»Kann schon sein. Aber wo? Und was hat das mit den Lösungsmitteln zu
tun, die im Keller der GERAG lagern?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto
verdächtiger finde ich es. Warum müssen diese Abfälle nach Wetzikon
gebracht werden? Was ist da? Sollten wir uns das nicht mal ansehen?«
»Und wie stellst du dir das vor?« Reto runzelte die Stirn. »Wir laufen mit
einem Stadtplan durch Wetzikon und fragen in der erstbesten Kneipe, wo es
zu dem entführten Jugendlichen geht?«
»Mann, du kannst so was von ekelhaft sein, Reto.«
»Ja, ja, ich bin immer der Arsch, ich weiß. Außerdem haben wir für heute
Abend schon was anderes vor.«
Franziska warf ihm einen irritierten Blick zu. »Wir?«
»Jawohl, Läckerli. Wir wollten doch ins Kino.«
»Ach ja, stimmt. Das hatte ich völlig vergessen.«
»Darum geht es also«, empörte sich Urs. »Der Herr will ins Kino und hat
keine Zeit für seine Freunde. Kino ist natürlich wichtiger!«
»Halt doch die Klappe, Häschen. Erstens stimmt die Scheiße nicht, die
du rauslässt, und zweitens hat mir gestern eigentlich gereicht. Willst du
etwa noch mal irgendwo eingesperrt werden?«

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»Ich fand es auch nicht toll, Mister Perfect. Aber Pascal ist wie vom
Erdboden verschluckt, da mache ich mir Sorgen.«
»Aber was sollen wir da schon machen? Um Vermisste zu finden, gibt es
die Polizei. Außerdem geht es hier nicht nur ums Kino. Ich habe heute
Training.«
»Regt euch ab«, griff Franziska ein. »Ich finde auch, dass wir nach der
Aktion gestern nicht schon wieder so was machen sollten. Lasst uns
überlegter vorgehen. Zuerst Recherche, dann Action. Einverstanden?«
Urs biss sich auf die Lippen. Das Gespräch entwickelte sich nicht so, wie
er das gerne gehabt hätte. »Klingt vernünftig«, lenkte er nach langem
Zögern ein und hoffte, dass man ihm seine Enttäuschung nicht anmerkte.
Pascal war ein guter Freund geworden in der kurzen Zeit, die er hier war,
und es schmerzte Urs, nicht mehr für ihn tun zu können. Aber vielleicht fiel
ihm ja doch noch etwas ein.
Reto legte Franziska den Arm um die Schulter. »Und wie ist das jetzt,
gehen wir ins Kino? So als kleine Belohnung für den Stress gestern?«
Sie war nicht sehr überzeugt. »Ich weiß nicht«, meinte sie. »Irgendwie
bin ich nicht in der Stimmung dafür.«
»Aber das wäre doch eine gute Ablenkung«, versuchte er sie
rumzukriegen. »Was nützt es, wenn du zu Hause hockst und grübelst?
Nichts. Da kannst du dich auch ins Kino setzen und dich etwas
entspannen.«
Sie zögerte noch immer. »Eigentlich hast du ja recht«, gab sie schließlich
nach. »Ja, lass uns ins Kino gehen. Ruf mich an, wenn du aus dem Training
kommst.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und lief zurück ins
Klassenzimmer.

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22

Der Wind hatte aufgefrischt und es sah nach


Regen aus. Urs duckte sich tiefer, roch den
undefinierbaren Duft, der von den . . .
Der Wind hatte aufgefrischt und es sah nach Regen aus.
Urs duckte sich tiefer, roch den undefinierbaren Duft, der von den
zusammengepressten PET-Flaschen ausging.
Dass er zu Hause herumhockte und im Internet surfte, während Pascal
nach wie vor verschwunden war, kam für ihn nicht mehr infrage. Wie Reto
und Franziska da den Nerv hatten, ins Kino zu gehen, konnte er nicht
begreifen. Wenn er ehrlich war, regte ihn das sogar ein bisschen auf. So
stellte er sich echte Freundschaft nicht vor. Auf die Diskussion von heute
Morgen hätte er gerne verzichten können. Das war irgendwann sinnlos
geworden. Reto hatte von Anfang an nicht zu Pascals besten Freunden
gehört, da konnte man nicht damit rechnen, dass er sich jetzt total
reinhängte.
Und Franziska … nun, von ihr hatte er mehr erwartet. Aber okay. Dann
machte er eben selbst, was zu tun war.
Urs hatte sich gut vorbereitet. Er trug seine Regenjacke und feste,
wasserdichte Schuhe, in der Tasche seiner Jacke fanden sich neben seinem
Handy auch ein Messer, Schraubenzieher, eine Drahtschere und eine
Taschenlampe.
Der Instinkt sagte ihm, dass Germanns Männer die Fässer mit den
Lösungsmitteln sicher nicht tagsüber nach Wetzikon verfrachten würden,
und am Vorabend hatten sie es ja offensichtlich nicht mehr getan.
Deshalb war Urs nach Feierabend erneut auf das Gelände der GERAG
geschlichen. Doch anders als beim ersten Mal hatte er nicht vor, in die
Gebäude einzudringen. Er versteckte sich stattdessen zwischen den Würfeln
aus gepressten PET-Flaschen und wartete.
Er brauchte viel Geduld, denn erst nach über einer Stunde passierte
etwas. Ein alter VW-Bus mit offener Ladefläche zuckelte auf das Gelände

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und stoppte vor der Halle. Ein Mann stieg aus und öffnete das Tor, worauf
der VW-Bus hineinfuhr.
Urs’ Herzschlag beschleunigte sich, denn er hatte den Mann, der das Tor
geöffnet hatte, an seiner Stimme sofort wiedererkannt. Es war der Mann,
der am Vorabend im Keller gewesen war.
Geschützt durch die Dunkelheit, die mittlerweile hereingebrochen war,
bewegte sich Urs auf dem Gelände und versuchte, mehr von dem zu
erkennen, was in der Halle vor sich ging.
Es bestätigte sich sofort, dass er einen ausgezeichneten Riecher gehabt
hatte. Denn die beiden Männer waren dabei, Fässer aus dem Aufzug zu
wuchten und sie auf den VW-Bus zu laden. Urs triumphierte innerlich. Hier
war etwas faul, oberfaul sogar, denn nichts, was nur halbwegs legal war,
musste nachts um zehn getan werden.
Sein Entschluss stand deshalb sofort fest. Er musste unbedingt
herausfinden, wohin die Fässer gebracht wurden, und da er selber kein Auto
oder Moped hatte, um die Verfolgung aufzunehmen, blieb ihm nichts
anderes übrig, als sich auf dem Bus zu verstecken.
Urs wartete, bis ein Großteil der Ladefläche gefüllt war. Dann kam seine
Chance. Beide Männer verschwanden im Aufzug und fuhren nach unten.
Urs zögerte nur zwei Sekunden. Dann verließ er die Deckung eines
Altmetall-Containers und spurtete zum Bus. Sein Herz klopfte wie wild,
seine Knie zitterten, und er hatte das Gefühl, überhaupt keine Kraft in den
Armen zu haben, als er sich auf die Ladefläche schwang und sich zwischen
den Fässern versteckte. Sein Atem ging keuchend, und er hatte Angst, man
würde ihn hören können. Doch zum Glück dauerte es eine Weile, bis die
beiden Männer zurückkamen. Noch einmal wuchteten sie einige Fässer auf
die Ladefläche, der Bus ächzte unter der Last und bekam bedenklich
Schlagseite.
Urs betete, dass die beiden nicht noch kontrollierten, ob die Ladung
ordnungsgemäß gesichert war, doch nach einer Weile schlossen die Männer
die Halle ab und verschwanden in der Führerkabine. Ein Radio begann zu
plärren, als die Zündung eingeschaltet wurde, dann röchelte der Heckmotor
ein paarmal, bevor er mit dem charakteristischen Klang ansprang, der diese
alten VW-Busse so unverkennbar machte. Urs atmete auf.
Es rumpelte, als der Bus über einige Unebenheiten auf dem Platz fuhr,
kurze Zeit später ließen sie die Häuser von Wallisellen hinter sich, und Urs

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hörte den Motor aufbrüllen, als sie auf der Landstraße beschleunigten und
immer rascher in die Nacht hinausfuhren.

»Und? Wie fandest du den Film?«


Franziska gähnte. Nachdem sie in der letzten Nacht nicht wirklich viel
geschlafen hatte, spürte sie jetzt den Schlafmangel. »Hm«, meinte sie daher.
»Er war etwas blutrünstig.«
Reto strahlte und schmiegte sich noch näher an sie, während sie vom
Stauffacher in Richtung Hauptbahnhof gingen. »War aber cool, oder?
Spannend bis zur letzten Minute.«
Sie erwiderte seine Berührung, spürte seinen trainierten, straffen Körper
durch die Kleider hindurch. »Ja, spannend war er. Ich bin nicht einmal
eingeschlafen, obwohl ich hundemüde bin.«
»Müde? Was hast du denn Anstrengendes gemacht?«
»He! Ich war gestern vielleicht auch dabei. Also habe ich allen Grund,
müde zu sein.«
»Ich hatte sogar noch Training. Aber wenn ich mit dir zusammen bin, bin
ich nie müde.«
Sie schwieg, wusste nichts zu erwidern. Irgendwie war das auch gar nicht
nötig, manche Dinge konnten verstanden werden, selbst wenn man nichts
sagte.
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander.
»Ich muss ständig an Pascal denken«, sagte Franziska dann in die Stille
hinein. »Wie es ihm geht. Wo er ist. Was sie mit ihm gemacht haben.
Beschäftigt dich das nicht auch?«
»Sicher, schon. Aber ich bin da einfach realistisch: Unsere
Möglichkeiten, ihn wiederzufinden, sind praktisch gleich null.«
Sie hielt mitten im Schritt inne. »Wieso?«
Er seufzte. »Na hör mal. Wer sind wir schon, wenn wir ehrlich sind? Drei
Teenager, die mit Pascal zur Schule gehen. Die Polizei ist da doch ein
bisschen besser ausgerüstet.«
»Aber die Polizei weiß nicht alles, was wir wissen. Glaubst du, die
denken über einen merkwürdigen Geruch im Garten nach?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Eben! Also können wir doch etwas bewegen! Wir können unsere
eigenen Nachforschungen anstellen.«
»Aber die Polizei …«

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»Die Polizei, die Polizei«, fiel sie ihm ärgerlich ins Wort. »Was hast du
plötzlich mit der? Willst du etwa nicht mehr selber nach Pascal suchen?«
Er rang die Hände. Warum musste immer alles gleich in die
Entscheidung ›Bist du für mich oder gegen mich?‹ ausarten? »Doch,
natürlich will ich das. Ich gebe mir auch Mühe. Aber ich sehe unsere
Chancen, Pascal wirklich zu finden, eben eher gering.«
Sie schwieg, dachte nach. »Sorry«, sagte sie dann plötzlich, »es tut mir
leid. Ich wollte dich nicht so anfahren. Das alles macht mich nur ziemlich
fertig.«
»He, ist schon okay. Wir sollten nicht noch anfangen zu streiten
deswegen.«
»Du hast recht. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was wichtig ist.«
Wieder gingen sie ein paar Schritte schweigend.
»Wenn das hier alles vorbei ist, würde ich gerne mit dir ins Alpamare
nach Pfäffikon«, wechselte Reto das Thema. »Da wollte ich schon lange
wieder mal hin. Und es entspannt.«
»Ich weiß nicht. Was kostet denn der Eintritt?«
»Lass gut sein. Ich lade dich ein.«
»Ich will nicht, dass du mich immer einlädst. Ich will nicht von dir
abhängig sein.«
»Sei doch nicht so störrisch. Ich möchte gerne mit dir ins Alpamare, da
darf ich dich doch einladen. Außerdem bekomme ich mehr Taschengeld als
du. Da ist das nur fair.«
Einen Moment lang sträubte sie sich noch, doch dann schmiegte sie sich
an ihn. In Momenten wie diesen, wenn Reto so erwachsen und großzügig
war, konnte sie alles andere vergessen, das ihn manchmal so unausstehlich
machte.
»Du bist ein Schatz«, sagte sie und küsste ihn lange auf den Mund.
Er erwiderte den Kuss, und eine Weile waren sie ganz auf sich
konzentriert, es war, als würde die Zeit stillstehen.
Franziska spürte seine tastende Hand auf ihrem Körper. »Kann ich noch
zu dir kommen? Nur ein bisschen. Hier draußen ist es so kalt.«
Sie seufzte. »Heute geht es nicht. Meine Mutter hat Besuch von zwei
Freundinnen. Du weißt ja, wie die sind: neugierig bis zum Abwinken. Und
in der kleinen Wohnung hört man jeden Ton.«
»Schade.« Seine Hand wanderte unter ihren Pulli.

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»Hey, nicht hier, wo uns alle sehen.« Sie kicherte. »Wir könnten ja auch
mal zu dir gehen.«
Er zog seine Hand sofort zurück. »Du weißt, dass das nicht geht.«
»Wieso denn nicht? Deine Eltern können doch nicht so schrecklich sein.«
»Doch. Meine Eltern sind Bünzlis. Sie finden, ich sei zu jung für eine
Freundin. Ich solle mich auf die Schule konzentrieren. Etwas Anständiges
lernen, bevor man den Frauen hinterhergeifert. Genauso hat es mein Vater
gesagt.«
»Wie altmodisch.«
»Ja, furchtbar, oder? Mein Vater hatte keine einzige Freundin, bevor er
meine Mutter kennenlernte. Und da war er Mitte zwanzig. Ist das nicht
unglaublich langweilig?«
»Und wie!«
»Und genau deshalb können wir nicht zu mir. Sonst muss ich mir dann
bei jedem Streit anhören, ich würde schlecht in der Schule sein, weil ich
eine Freundin hätte. Und ich wäre unter ständiger Kontrolle, wenn ich mal
wegwill. So aber glauben alle, ich würde mich mit Freunden von der Schule
oder vom Klub treffen, das ist viel besser.«
»Ich weiß doch, Reto. Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich wollte dich
nur ein bisschen aufziehen.«
»Es nervt aber, wenn du immer wieder damit anfängst, Franziska.«
»Lassen wir das Thema. Wir können uns ja übermorgen treffen. Da hat
meine Mutter Spätdienst und kommt erst mitten in der Nacht nach Hause.«
»Versprochen?« Er hatte wieder diesen Hundeblick.
»Versprochen.« Sie lachte.
Und dann küssten sie sich noch einmal lange und ignorierten den alten
Mann, der an der Tramhaltestelle saß und zu ihnen herüberstarrte.

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23

Die Fahrt war der reinste Albtraum. Kurz nach


der Abfahrt hatte es zu nieseln begonnen, dazu
kam der zuegige Fahrtwind.
Die Fahrt war der reinste Albtraum. Kurz nach der Abfahrt hatte es zu
nieseln begonnen, dazu kam der zügige Fahrtwind. Mit dröhnendem Motor
röhrte der VW-Bus über die A53 in Richtung Zürcher Oberland, die von
den Autos aufgewirbelten Gischtschauer überdeckten die Fässer und Urs
mit einem kalten, nassen Film. Zum Glück hatte er sich warm angezogen,
denn sowohl seine Jacke als auch seine Schuhe hielten dicht. Nur die Haare
klebten ihm nass und kalt am Kopf, außerdem begann sein Rücken zu
schmerzen, weil er in einer völlig verkrampften Haltung am Boden hinter
den Fässern kauerte. Doch er konnte sich nicht strecken oder sich einen
bequemeren Platz suchen, denn dann hätten ihn sofort die Fahrer anderer
Autos bemerkt. Und höchstwahrscheinlich gehupt oder die Polizei gerufen.
Und das brauchte Urs nun wirklich nicht.
Mit zusammengebissenen Zähnen harrte er deshalb weiter aus und atmete
auf, als der Bus bei Hegnau langsamer fahren musste und der Gegenwind
abebbte. Kurze Zeit später erreichten sie das Autobahnende und die Fahrt
ging auf Überlandstraßen weiter.
Der Fahrer holte alles aus dem alten Bus heraus, der Motor heulte gequält
und die Fässer schwankten gefährlich, Urs musste aufpassen, dass er nicht
plötzlich von ihnen eingeklemmt wurde.
Kurz vor Wetzikon verließen sie die Hauptstraße und rasten mit
unvermindertem Tempo auf einer kleinen Nebenstraße weiter, es ging
mittlerweile bergauf und die Straße war kurvenreich. Urs musste sich mit
aller Kraft festhalten, um nicht hinzufallen. Unter sich konnte er in der
Dunkelheit die Lichter von Wetzikon sehen, die immer wieder von Bäumen
am Straßenrand verdeckt wurden. Dann bog der Transporter in eine
schmale Zufahrtsstraße ein und rumpelte mit hoher Geschwindigkeit durch
mehrere Schlaglöcher. Ein großer Hof tauchte aus der Nacht auf, nur
spärlich erleuchteten ein paar Lampen den weitläufigen Vorplatz.

100
Urs spähte aus seinem Versteck und erkannte die typischen Gebäude
eines alten, herrschaftlichen Gutbetriebes. Das stattliche Riegelhaus erhob
sich in zwei Etagen über den Vorplatz, unter dem steil aufragenden Dach
vermutete Urs zwei weitere Stockwerke. Daran angebaut war eine riesige
Scheune, die früher mal den Stall beherbergt haben musste, doch den
maroden Türen und Fenstern nach zu schließen waren dort schon lange
keine Tiere mehr untergebracht. Neben der Scheune mit dem Stall gab es
noch einen zweiten, kleineren Schuppen, der dem Haus gegenüberstand und
damit den gekiesten Vorplatz optisch abschloss.
Der Bus kam mit kreischenden Bremsen direkt vor dem großen Tor des
Schuppens zum Stehen. Urs’ Anspannung stieg. Er konnte nur hoffen, dass
es einen geeigneten Moment geben würde, um aus seinem Versteck zu
verschwinden. Wenn die beiden Männer immer in der Nähe blieben und
damit begannen, die Fässer abzuladen, dann hatte er irgendwann ein
Problem.
Er hielt den Atem an, als der Motor verstummte und sich die Fahrertür
öffnete. Dann ging auch die zweite Tür auf, während gleichzeitig ein
Feuerzeug klickte. Urs roch den Rauch einer Zigarette, eine Weile geschah
nichts. Dann klimperten Schlüssel und das Tor zum Schuppen knarrte. Urs
getraute sich nicht, über die Ladekante zu schielen, deshalb hörte er nur,
wie die beiden Männer im Inneren des Schuppens verschwanden.
Das war der Zeitpunkt, auf den er gewartet hatte!
Er blickte sich kurz um, und als er niemanden in der Nähe sah, hechtete
er von der Ladefläche und rannte über den Platz in Richtung Scheune. Der
Kies knirschte unter seinen Schritten, er erwartete halb, plötzlich hinter sich
eine harsche Stimme zu hören, doch er erreichte die Ecke der Scheune,
ohne entdeckt worden zu sein, und verschwand in der Dunkelheit.
Hinter der Scheune war das Gras einen halben Meter hoch, Urs spürte,
wie sich seine Hose rasch mit Wasser vollsog. Ihn fröstelte, doch er ging
weiter.
Auf der Rückseite zeigte sich, wie lange der Hof schon verlassen war. In
dem von einem schmiedeeisernen Zaun umgebenen Gemüsegarten, der ans
Haus grenzte, wuchsen Büsche und Bäume, das meterhohe Gras der
angrenzenden Wiese wucherte bis dicht an die Scheune heran. Urs bewegte
sich auf dem schmalen Streifen Erde direkt an der Ziegelmauer des Stalls
entlang. Dort war kein Gras, weil das große Vordach verhinderte, dass es
dort jemals feucht wurde.

101
Der Stall hatte mehrere Fenster, die auf die Rückseite hinausgingen,
ebenso ein weiteres, kleineres Scheunentor. Es war allerdings alles
verschlossen.
Auch der Hintereingang des Wohnhauses war verrammelt, wie auch die
Holzläden aller Fenster, obwohl einige von ihnen bereits ziemlich
altersschwach waren.
Urs überlegte, ins Haus einzudringen, entschied sich aber dagegen. So
wie es aussah, war es ohnehin leer.
Er beendete deshalb seinen Rundgang, indem er ums Wohnhaus
herumging, bis er wieder den Vorplatz überblicken konnte. Jetzt allerdings
vom anderen Ende her, und der geänderte Sichtwinkel ermöglichte es ihm,
direkt in den Schuppen zu spähen.
Davor stand der VW-Bus und ein Großteil der Fässer war bereits von
seiner Ladefläche verschwunden. Die beiden Männer erschienen in
regelmäßigen Abständen aus dem Hintergrund und luden ein weiteres Fass
ab, Urs vermutete, dass sie irgendwo im Schuppen gelagert wurden.
Vielleicht würde hier später die Schmuggelware eingefüllt, bevor die Fässer
weitertransportiert wurden.
Urs wartete, bis alle Fässer abgeladen waren. Er wollte sich ruhig
verhalten, bis die beiden Männer davongefahren waren, und dann in den
Schuppen eindringen.
Er dachte schon, die beiden würden nie verschwinden, als er sah, wie der
Fahrer die Tür öffnete. Doch Urs hatte sich getäuscht, denn der Mann stieg
nicht ein, sondern holte nur eine Papiertüte aus dem Auto. Mit dieser in der
Hand, kam er in Begleitung des anderen Mannes über den Vorplatz auf das
Haus zu.
Urs duckte sich etwas tiefer in den Schatten der Hausecke, seine Nerven
waren zum Zerreißen gespannt. Er versuchte zu erkennen, was sich in der
Papiertüte befand, doch es war zu dunkel.
Die Männer hatten mittlerweile die Haustür erreicht und hantierten am
Schloss, das sich anscheinend widerspenstig verhielt, denn einer der
Männer fluchte laut. Dann öffneten sie die knarrende Haustür und
verschwanden im Haus.
Urs wartete einen Moment, bevor er aus seinem Versteck hervorkam.
Hinter den Fensterläden konnte er einen schwachen Lichtschein erkennen,
offenbar gab es im Haus keinen Strom und die beiden Männer mussten sich
mit Laternen behelfen. Der flackernde, schwache Lichtschein trat aus

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mehreren Fenstern, dann war er plötzlich verschwunden. Urs horchte
angestrengt in die Stille, vermeinte das Knarren einer Treppe zu hören,
doch er war sich nicht sicher. Das Haus blieb dunkel und stumm.
Er zögerte, spürte sein Herz pochen. Doch dann überwand er sich.
Schlich zur Haustür und drückte ganz, ganz langsam die Klinke herunter.
Nichts geschah.
Urs drückte gegen die Tür, so sachte, wie es nur möglich war.
Langsam schwang sie auf, abgestandener Geruch drang aus dem alten
Bauernhaus. Urs öffnete die Tür noch ein Stück.
Und da knarrte sie.
Ächzend, wie ein Ungeheuer aus der Unterwelt, das sich frühmorgens
streckt, hallte der Klang durchs Haus, schien von jeder Wand
zurückgeworfen und verstärkt zu werden.
Urs erstarrte. Bewegungslos stand er vor dem Haus, die Hand immer
noch an der Klinke. Er erwartete, dass irgendetwas geschah, dass einer der
Männer herangerannt kam und ihn anschrie, doch es passierte nichts. Dann
fuhr ein schweres Knacken durchs Haus und Urs atmete auf.
Das war ein altes Holzhaus, es war nicht ungewöhnlich, dass es im
Gebälk rumorte und knarrte. Das Geräusch der Tür war wohl gar nicht
aufgefallen.
Oder aber die Männer hatten es überhaupt nicht gehört.
Urs schlich langsam hinein, ließ die Tür aber offen, damit sie ihm nicht
den Weg versperrte, sollte er plötzlich fliehen müssen.
Im Haus war es stockfinster, es roch muffig, vermischt mit dem Gestank
des Petroleums, den die Laterne hinterlassen hatte.
Urs tastete sich durch einen Korridor, vorsichtig einen Fuß vor den
anderen setzend. Das Haus war immer noch möbliert, uralte, schwere
Holzmöbel standen im Flur, im schwachen Schein der Außenbeleuchtung,
der durch die Tür drang, erkannte Urs eine dicke Staubschicht.
Linker Hand führten zwei Türen in Zimmer, deren Fenster auf den
Vorplatz hinausgingen. Geradeaus erkannte Urs schemenhaft die Umrisse
eines alten Holzherdes, offensichtlich befand sich dort die Küche.
Es ächzte wieder im Gebälk, diesmal aber regelmäßig, und Urs erkannte,
dass es die Schritte der zwei Männer waren, die sich im Obergeschoss
befanden. Er hielt den Atem an und horchte in die Dunkelheit.
Das Geräusch der Schritte verstummte, Urs hörte etwas Metallisches,
was er nicht genau deuten konnte.

103
Und dann hörte er die Stimme des Mannes mit der Papiertüte.
»Hallo«, sagte der Mann, »wir sind’s.«

Franziska lag auf dem Bett, den Blick zur Decke gerichtet. Sie hatte eine
CD von Morcheeba aufgelegt, der beruhigende, seichte Klang des Songs
Let it go ließ ihre Gedanken treiben.
Sie fühlte sich schlecht. Nicht körperlich, sondern menschlich.
Schlecht, weil in ihrem Innern ein Gefühlschaos herrschte, das sie nicht
deuten konnte; schlecht, weil sie jemanden belogen hatte, den sie eigentlich
mochte.
Ja, sie hatte gelogen. Und obwohl es ihr leidtat, wusste sie nicht, was sie
sonst hätte tun sollen.
Ihre Mutter hatte an diesem Abend keinen Besuch, sie hatte Spätdienst.
Es war niemand in der Wohnung, sie wären alleine gewesen.
Aber sie hatte Reto nicht mehr dahaben wollen. Nicht hier, nicht heute.
Nicht dass sie ihn nicht mehr mochte. Im Gegenteil, ein Teil von ihr hatte
sich gewünscht, dass er noch geblieben wäre und sie mit ihm hätte reden
können. Aber eben, nur reden. Und sie wusste, dass er mehr hatte haben
wollen. Zu Recht, wie sie zugeben musste. Sie waren seit anderthalb Jahren
zusammen, doch jetzt hatten sie schon eine Zeit lang nicht mehr
miteinander geschlafen, und Franziska wusste, dass sie der Grund dafür
war. Es tat ihr zwar leid, aber das Verlangen, das sie noch vor einem Jahr
gespürt hatte, war einfach weg. Sie wusste nicht, wieso, aber es war weg.
Sie hatte gedacht, dass es vielleicht von selbst wiederkäme, wenn sie nur
wartete, sich eine kleine Auszeit gönnte, aber es war nicht
wiedergekommen. Nicht einmal den innigen Kuss nach dem Kino hatte sie
richtig genossen, es war mehr ein Geschenk für Reto gewesen. Etwas, was
sie ihm zuliebe getan hatte.
So wie auch den Kinobesuch. Wie viel lieber hätte sie weiter nach Pascal
gesucht, für wie viel wichtiger hielt sie das. Doch Reto hatte sich in große
Gefahr begeben, indem er bei der GERAG eingedrungen war, und
Franziska hatte sich bedanken wollen, auch wenn sie sich kaum auf den
Film hatte konzentrieren können.
Dass es so nicht weitergehen konnte, war ihr klar. Sie schämte sich,
fühlte sich schlecht und falsch, weil sie Reto nichts sagte, weil sie Gefühle
vortäuschte, die sie gar nicht mehr empfand. Stattdessen dachte sie
permanent an Pascal. Öfter auf jeden Fall, als es ein Freund aus derselben

104
Klasse rechtfertigte. Sie sah ihn vor sich, in der Badehose, sein Lachen,
seine dunklen, fast schwarzen Augen. Dass er verschwunden war, brach ihr
fast das Herz, und dass ausgerechnet Reto ihr dabei half, nach ihm zu
suchen, ließ sie nur noch mieser dastehen. Manchmal, wenn sie sich im
Spiegel betrachtete, dachte sie, dass sie Abschaum war. Das Hinterletzte.
Heuchelte Reto Gefühle vor, die es nicht mehr gab, nur damit er bei der
Stange blieb und ihr half, den zu finden, an den sie täglich dachte, immer
und immer wieder.
Doch dann gab es die guten Momente, in denen sie sich sagte, dass sie
auch Reto mochte, dass die Liebe von einst zu einer tiefen Freundschaft
geworden war und dass sie ihn nicht einfach nur böswillig ausnutzte.
Aber dann müsste sie ihm wahrscheinlich reinen Wein einschenken. Und
davor hatte sie Angst. Nicht nur, weil sie sich schämte, sondern auch, weil
sie wusste, dass sie ihn verletzen würde.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, verloren sich im Nichts. Franziska,
die immer so gerne alles unter Kontrolle hatte, die so beherrscht und ruhig
war, lag jetzt auf ihrem Bett und heulte, weil sie erkannte, dass es aus ihrem
Gefühlschaos keinen Ausweg gab, bei dem niemand zu Schaden kam.

105
24

Vorsichtig setzte Urs einen Fuss auf die naechste


Treppenstufe. Offensichtlich waren noch weitere
Personen im Haus, womoeglich sogar . . .
Vorsichtig setzte Urs einen Fuß auf die nächste Treppenstufe. Offensichtlich
waren noch weitere Personen im Haus, womöglich sogar Germann
höchstpersönlich. Vielleicht trafen sie sich hier, um Geld zu verteilen oder
die nächste Lieferung zu organisieren.
Urs wusste, dass er sich in Gefahr begab, aber er war mehr denn je davon
überzeugt, ganz nah an der Sache dran zu sein. Hier drin, in diesem Haus,
in den Zimmern über ihm, da war die Lösung des Rätsels. Irgendwie musste
auch Pascal von den Vorgängen hier erfahren haben und dieses Wissen war
ihm zum Verhängnis geworden. Je höher der Einsatz für Germann war,
desto weniger konnte er dulden, dass jemand herumlief und allen erzählte,
was er gesehen hatte. Urs durfte deshalb auf keinen Fall entdeckt werden,
sonst blühte ihm dasselbe Schicksal wie Pascal, das war ihm durchaus klar.
Er hatte vorsichtshalber mehrere Minuten gewartet, bevor er sich auf die
Treppe gewagt hatte, und jetzt schlich er sich unglaublich langsam nach
oben. Vorsichtig, Schritt um Schritt, und immer zuerst prüfend, ob die Stufe
auch wirklich nicht knarrte. Gedämpft hörte er von oben Stimmen, doch er
konnte sie weder einer bestimmten Person zuordnen noch irgendetwas von
dem verstehen, was da gesprochen wurde.
Als Urs endlich oben ankam, war er vor Anspannung ganz verschwitzt,
doch mittlerweile waren die Stimmen verstummt. Urs sah Licht unter drei
verschiedenen Türen hervorscheinen, hinter derjenigen ganz am Ende des
Korridors rumorte etwas. Urs tappte vorsichtig in die Richtung, hoffte, aus
der Nähe vielleicht mehr hören zu können, doch kaum war er angekommen,
verstummte das Geräusch und das Licht erlosch.
Urs wartete noch eine Weile, dann schöpfte er tief Atem und drückte auf
die Klinke.
Die Tür war verschlossen.

106
Urs zögerte. Sollte er sich verstecken und warten, bis die Männer
abgezogen waren, damit er das Haus in Ruhe untersuchen konnte, oder
sollte er an einer der zwei Türen horchen, unter denen er noch Licht
erkennen konnte?
Die Entscheidung wurde ihm überraschend abgenommen. Urs hörte
einen Schlüssel im Schloss, dann schwang auch schon eine der beiden
Türen auf. Er schaffte es gerade noch, sich im Schatten der Treppe zu
verbergen, die auf den Dachboden führte.
»Haben wir uns verstanden?«, sagte der Mann, der die Papiertüte
getragen hatte, und in seiner Stimme schwang eine leise Drohung mit. »Wir
haben schon genug Ärger am Hals.«
Er schien auf eine Antwort zu warten, doch offensichtlich nickte
derjenige, dem die Drohung gegolten hatte, nur, denn Urs hörte keinen
Laut. Dann ließ der Mann die Tür zuknallen und schloss ab.
»Ich sag dir«, maulte er, »mir reicht der Scheiß langsam. Wie soll das
hier eigentlich weitergehen? Hat sich das irgendwer schon mal überlegt?«
»Was weiß ich. Aber ist ja auch nicht unsere Entscheidung.«
»Da hast du recht.«
Das zitternde Licht der Laterne bewegte sich gerade auf die Treppe zu,
als es plötzlich herumschwenkte.
»Warte mal«, sagte der eine Mann, »mir fällt gerade noch was ein.«
Starr vor Schreck erkannte Urs, dass die beiden in seine Richtung kamen.
Ihm blieb keine Zeit zu überlegen. So schnell und so leise es ging, bewegte
er sich auf der Treppe nach oben.
Der Mann hielt plötzlich inne, das Licht der Funzel, das gerade noch auf
den Wänden getanzt hatte, war jetzt reglos. »Was war das?«
Urs blieb das Herz fast stehen, doch er ging langsam weiter. Die Treppe
hier war zum Glück in einem relativ guten Zustand und knarrte nicht so
schnell, aber lautlos war etwas anderes.
»Da ist doch was! Hörst du das nicht?«
»Doch, natürlich. Das sind vielleicht Marder auf dem Dachboden.«
»Lass uns mal nachsehen.«
In diesem Moment erreichte Urs das obere Ende der Treppe. Zum Glück
stand die große Klappe offen und so flüchtete er sich ins Dunkel des
Dachbodens. Gerümpel lag überall herum, Urs stieß zweimal gegen
irgendetwas in der Dunkelheit, das Rumpeln schien ihm so laut wie ein
startender Jumbo zu sein.

107
»Das ist mir aber noch nie aufgefallen.« Das Licht war mittlerweile im
Treppenhaus. Und dann hörte Urs Schritte auf der Treppe.
»Verdammt, hier steht die Klappe offen. Am Schluss kommen die
Scheißviecher noch runter!«
Auf allen vieren bewegte sich Urs leise vorwärts, nur schemenhaft
konnte er Schränke, Truhen und anderen Unrat herumliegen sehen. Es war
furchtbar dreckig hier oben, aber immerhin versperrte der ganze Müll den
Männern die Sicht.
Die beiden waren auf dem Dachboden angekommen und versuchten mit
ihrer Laterne die Dunkelheit auszuleuchten.
»Ich sehe nichts«, meinte der eine. »Lass uns verschwinden.«
»Nein, hier ist was. Ich hab’s doch genau gehört. Die Viecher verstecken
sich wahrscheinlich in dem verdammten Gerümpel. Los, hilf mir!«
Die beiden begannen damit, wahllos Gegenstände von einer Ecke in die
andere zu werfen, und arbeiteten sich langsam zu Urs vor. Der wich zurück,
doch irgendwann hatte er die Wand erreicht und konnte nicht weiter. Er
kroch unter einen Tisch und beobachtete, wie die beiden näher kamen. Jetzt
gerade wuchteten sie ein uraltes Kinderbett zur Seite, Staub wirbelte auf
und ließ die beiden Männer husten, doch sie hörten nicht auf. Der eine
maulte zwar, er wolle jetzt gehen, doch derjenige, der das Kommando zu
haben schien, schnitt ihm das Wort ab.
»Hier ist nirgendwo Marderscheiße«, sagte er. »Das ist doch komisch.
Ich will wissen, was hier ist. Am Ende haben wir noch ungebetenen
Besuch.«
Urs kauerte sich unter den Tisch, auch wenn er die Ausweglosigkeit
seiner Situation erkannte. Es war nur noch eine Frage weniger
Möbelstücke, dann hätten sie ihn gefunden. Und es sah nicht so aus, als
würden sie aufgeben.
In diesem Moment spürte er einen kalten Luftzug an seinem Gesicht und
drehte sich um.
Hinter ihm, ganz in der Ecke, da, wo das Dach auf den Boden traf, war
ein Loch, weil die Mauer nicht ganz bis in die Ecke geführt worden war.
Ein Loch, das in die angebaute Scheune führte und eventuell groß genug
war, um durchkriechen zu können.
Urs sah hindurch, und ihm wäre fast schlecht geworden, als er den
schwarzen Abgrund sah. Unter ihm war nichts außer der Wand des Hauses,
und erst drei Stockwerke tiefer konnte er schwach den Boden der Scheune

108
erahnen. Lediglich an der Außenwand der Scheune, dort, wo die
Dachbalken auf der Wand auflagen, gab es einen schmalen Vorsprung, der
sich im Dunkeln verlor.
Doch die Angst, entdeckt zu werden, war größer. Urs zwängte sich in das
Loch, zum Glück machten die beiden Männer einen solchen Lärm, dass sie
ihn gar nicht hörten.
Er konnte nicht einmal kriechen, sondern musste sich auf dem Bauch
hindurchziehen und sich an den Balken festhalten, die das Dach der
Scheune trugen. Er zitterte am ganzen Körper, doch er trieb sich weiter,
zwang sich dazu, nicht nach unten zu sehen. Endlich zog er auch die Füße
durch das Loch und balancierte jetzt auf allen vieren auf dem schmalen
Vorsprung.
Der Lärm der Männer auf dem Dachboden kam näher, dann leuchtete der
schwache Schein der Laterne durch das Loch.
»Siehst du«, sagte der eine, »hier ist nichts. Ich hab’s dir doch gesagt.«
»Aber ich hab was gehört, ganz sicher. Du doch auch, oder?«
»Ja, schon. Aber frag mich nicht, was das war. Vielleicht fällt der alte
Schuppen bald auseinander. Ich weiß nur, dass hier nichts ist. Kein Mensch
und kein Tier. Nichts.«
»Hm. Aber hier ist ein Loch, durch das diese verdammten Viecher ins
Haus können.«
»Dann machen wir das am besten dicht. Wir stellen einfach den schweren
Schrank davor, und dann ist hier Schluss mit Mardern und Katzen.«
Das Rumpeln setzte wieder ein, und mit lähmendem Entsetzen musste
Urs kurz danach beobachten, wie ein großer Schatten vor das Loch fiel und
die Scheune in vollkommener Dunkelheit versank.
Der Durchgang war versperrt.
Urs hatte solche Angst, dass er gar nicht spürte, wie die Zeit verging.
Irgendwann hörte er, wie draußen auf dem Vorplatz der VW gestartet wurde
und mit aufheulendem Motor in der Nacht verschwand.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er auf dem schmalen Vorsprung
ausgeharrt hatte, doch irgendwann raffte er sich auf. Langsam robbte er
weiter, weg vom Haus und tiefer in die Scheune. Der Wind hatte wieder
aufgefrischt und strich heulend um das Dach, immer wieder drückte Regen
unter den Ziegeln herein und tropfte auf sein Gesicht. Seine Hände waren
eiskalt, Arme und Beine verkrampft vor Angst und Anspannung, doch er
kämpfte sich weiter.

109
Unglaublich langsam kam er voran und erreichte nach einer halben
Ewigkeit die Stirnseite der Scheune. Hier hörte der Vorsprung auf,
stattdessen konnte Urs mit den Händen die Balken des Riegels ertasten, der
die hohe Wand trug.
Es gab keine andere Möglichkeit, als sich wie ein Kletterer langsam an
den Balken nach unten vorzuarbeiten. Zum Glück waren die ziemlich dicht
und boten guten Halt, allerdings waren viele Balken schräg angeordnet. Urs
tastete mit den Füßen im Dunkeln, bis er sicher war, fest auftreten zu
können, dann ließ er sich langsam ins Leere gleiten.
Er hatte Glück im Unglück. An der Stirnseite der Scheune war der Stall
untergebracht und darüber die Heubühne. Urs musste deshalb nicht die
ganzen drei Stockwerke nach unten klettern, sondern nur etwas mehr als
eines. Dann konnte er trotz der Dunkelheit schwach den Boden der
Heubühne erahnen, und als der ihm nahe genug schien, wagte er den
Sprung.
Es krachte gewaltig, Unmengen Staub wurden aufgewirbelt, und Urs
ging in die Knie, der Boden zitterte, hielt aber stand. Erschöpft von der
Anspannung rollte sich Urs auf den Rücken und blieb minutenlang liegen,
immerzu in die Dunkelheit horchend, ob vielleicht jemand im Haus den
Lärm gehört hatte. Doch mittlerweile entlud sich ein ordentliches Gewitter
und der Lärm aus der Scheune war vielleicht in einem Donner
untergegangen. Oder alle Personen hatten den Hof bereits verlassen.
Der letzte Teil des Abstiegs war dann ein Kinderspiel. Eine hölzerne
Leiter führte auf die Heubühne, Urs stieg auf ihr hinunter und öffnete eine
der Stalltüren von innen.
Frische, kalte Luft brandete herein und vertrieb den Mief aus Staub und
verrottendem Holz. Urs kontrollierte gar nicht, ob da irgendjemand war, der
ihn sehen konnte, er wollte nur noch raus aus dieser verfluchten Scheune
und zurück nach Hause. Durch den peitschenden Regen machte er sich im
Laufschritt auf den Weg den Hügel hinab nach Wetzikon und kontrollierte
immer wieder auf der Uhr, wie lange es noch dauerte, bis die letzte S5 nach
Zürich abfahren würde.
Dass er dabei total durchweicht wurde, war ihm völlig egal.

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25

Mein Gott, dachte Franziska. Jetzt ist auch noch


Urs verschwunden. Es war zehn nach acht, die
Stunde hatte schon laengst begonnen . . .
Mein Gott, dachte Franziska. Jetzt ist auch noch Urs verschwunden.
Es war zehn nach acht, die Stunde hatte schon längst begonnen und Urs
war nicht da.
Franziska fühlte Panik in sich aufsteigen. Wenn er nur nichts auf eigene
Faust unternommen hatte! Sie verfluchte sich dafür, ins Kino gegangen zu
sein, dass sie ihr Vergnügen über die Suche nach Pascal gestellt hatte. Wie
dumm, wie egoistisch!
Die Zeit verrann, als wäre ein zäher Leim im Uhrwerk, Franziska konnte
sich überhaupt nicht konzentrieren und hatte keine Ahnung, was gerade
behandelt wurde. Ihre Augen klebten an der Uhr und zählten die Minuten
bis zur nächsten Pause, weil sie Urs dann endlich eine SMS schicken
konnte, doch noch bevor die Pausenglocke um halb ertönte, klopfte es an
der Tür.
Franziska fiel ein Stein vom Herzen, als sie Urs sah, der völlig gerädert
wirkte und sich bei der Lehrerin entschuldigte. Er hätte verschlafen, sagte er
und alle glaubten ihm aufs Wort. Er kassierte natürlich trotzdem eine
unentschuldigte Absenz, aber Franziska konnte sehen, wie egal ihm das
war. Sie war sich sicher, dass er irgendetwas getan hatte am Vorabend, und
sie brannte darauf zu erfahren, was es gewesen war.
Jetzt verging die Zeit sogar noch langsamer als vorher. Es dauerte eine
gefühlte Ewigkeit, bis endlich das Klingeln der Pausenglocke ins Zimmer
drang. Und dann folgte auch schon die nächste Enttäuschung für Franziska,
denn Urs sagte ihr, dass er so viel zu erzählen hätte, dass er damit bis zur
großen Pause warten wolle. Und die war noch mal zwei Stunden entfernt.
Doch auch diese Zeit ging irgendwie vorbei und um kurz nach zehn
saßen Reto und Franziska gebannt vor Urs.
»Jetzt sag schon«, trieb ihn Franziska an, »was war gestern los?«
»Ich hatte einen Trip, den werde ich so schnell nicht wieder vergessen.«

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Und dann berichtete Urs von seiner Aktion. Wie er auf den Bus geklettert
und nach Wetzikon mitgefahren war, wie er das Abladen der Fässer
beobachtet hatte und ins Haus eingedrungen war. Und wie er durch die
Scheune hatte flüchten müssen und schließlich über eine Stunde gebraucht
hatte, um durch den strömenden Regen zurück nach Wetzikon zu gehen, wo
er die allerletzte S5 nach Zürich gerade noch so erwischt hatte.
»Mann, Urs«, rief Franziska, »wie konntest du so etwas tun? Das war
echt riskant!«
»Ich weiß. Ich hab ja auch nicht damit gerechnet, dass es so enden
würde. Aber ich wollte Pascal finden.«
»Und wenn sie dich erwischt hätten? Dann hätten wir zwei
Verschwundene gehabt und gar nichts gefunden! Hast du wenigstens
irgendjemandem gesagt, wo du hingegangen bist?«
»Nein. Es war eine spontane Idee. Da bin ich einfach los.«
»Ab jetzt keine Alleingänge mehr«, sagte Franziska entschieden. »Nicht
dass noch jemand verschwindet. Oder wer weiß was passiert. Germann
treibt offensichtlich irgendetwas Illegales und Pascal muss zu viel erfahren
haben. Was meinst du, ist der Hof vielleicht so eine Art Zentrale?«
»Das kann schon sein. Ich habe auch den Eindruck, dass wir dort noch
sehr viel mehr Hinweise finden können. Im Obergeschoss, dort wo sich
meine zwei Kerle mit jemand anderem getroffen haben, gibt es mehrere
Zimmer, die nach außen komplett verdunkelt sind. Offensichtlich sind diese
Zimmer immer abgeschlossen, die beiden haben zumindest ziemlich viel
mit Schlüsseln hantiert.«
»Du willst da noch mal hin?« Reto sah ihn entgeistert an. »Bist du
verrückt? Das ist viel zu gefährlich!«
»Ach ja? Weißt du vielleicht eine bessere Alternative?«
»Wir könnten die Polizei einschalten. Die sollen mal auf dem Hof
nachschauen. Das ist schließlich deren Job.«
»Ich soll also der Polizei erzählen, dass ich in ein Haus eingebrochen bin
und gesehen habe, wie zwei Männer ein paar Fässer abgeladen haben? Das
Einzige, was dabei illegal ist, ist mein Einbruch.«
»Urs hat recht. Die Polizei kann mit unseren Hinweisen nichts anfangen.
Es ist einfach noch zu wenig. Und wir wollen ja nicht noch selber Probleme
bekommen.«
»Und du denkst, dass wir die nicht bekommen, wenn wir noch mal dort
einsteigen? Ist das wie in Mathe, wo zweimal minus plus ergibt? Zweimal

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was Illegales wird legal?«
»Red keinen Stuss, so blöde bin ich auch nicht. Aber wenn wir einen
Beweis finden, dann hätten wir etwas, was unseren Einbruch rechtfertigt
und was wir dann auch der Polizei erzählen könnten. Und vielleicht finden
wir einen Hinweis darauf, was mit Pascal geschehen ist.«
»Und wenn wir erwischt werden? Und auch noch verschwinden?«
»Dafür weiß ich schon was!« Franziska schnalzte mit der Zunge. »Wir
schreiben auf, wo wir hingehen und weshalb. Den Brief adressiere ich an
mich selbst. Wenn ich verschwunden bin, wenn er ankommt, wird meine
Mutter ihn sofort der Polizei übergeben. Und ansonsten werfe ich ihn
einfach weg.«
»Das ist clever!«
Urs schaltete sich auch wieder ein. »Außerdem schlage ich vor, dass wir
am Nachmittag hingehen. Die treiben ihre illegalen Spiele wahrscheinlich
nur nachts, wenn niemand die Autos sieht.«
»Da kannst du recht haben. Aber wie kommen wir da hin?«
»Mit der S-Bahn. Und dann gibt es eine Buslinie, die noch mal den
halben Weg macht. Den Rest müssen wir zu Fuß gehen.«
»Du hast dich wohl schon informiert, was? Dabei weißt du gar nicht, ob
wir beide mitkommen werden.«
»Dann mache ich das eben allein. Das schulde ich Pascal. Ich gehe hin
und versuche herauszufinden, was mit ihm geschehen ist.«
Wieder war es still. Franziska und Reto erkannten, dass Urs zu
entschlossen war, als dass sie ihn von seinem Vorhaben abbringen konnten.
»In dem Fall«, sagte Franziska schließlich, »kommen wir natürlich mit.«

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26

Es war zehn nach drei, als sie den Hof hinter ein
paar Baeumen auftauchen sahen. Der Himmel
war bedeckt, es sah schon wieder nach Regen aus .
..
Es war zehn nach drei, als sie den Hof hinter ein paar Bäumen auftauchen
sahen. Der Himmel war bedeckt, es sah schon wieder nach Regen aus und
in Retos Fantasie hatte der Hof etwas Verwunschenes an sich. Die hohen,
dunklen Dächer, das wuchernde Gras, der Wald, der über die schon lange
nicht mehr gemähte Wiese langsam näher rückte.
Er hätte einen guten Schauplatz für einen Horrorfilm abgegeben, da war
sich Reto sicher.
Sie verbargen sich am Waldrand im Dickicht und betrachteten das
Gebäude durch das Fernglas, das Reto mitgebracht hatte. Der Vorplatz war
leer, die Fensterläden geschlossen; die Einsamkeit, in welcher der Hof seit
Jahren gefangen sein musste, war förmlich zu spüren.
Die drei verließen schließlich ihre Deckung und gingen quer über die
Wiese, wobei sie sich dem Hof von der Seite näherten, wo die Scheune den
Blick vom Hofplatz und vom Haus zum Wald abschirmte.
Das Gras war hoch und noch immer feucht, sie kamen nicht sehr zügig
voran, doch irgendwann standen sie vor der steil aufragenden Stirnseite der
Scheune. Die Stalltür, die Urs in der Nacht geöffnet hatte, stand noch immer
offen und die drei gingen ins Innere.
Jetzt, bei Tag, sah alles sehr viel weniger bedrohlich aus, Licht sickerte
durch Risse und Löcher in den Bretterwänden. Dicker Staub bedeckte alles
und in einer Ecke gammelte ein alter Ladewagen vor sich hin.
Reto deutete zum Dach hinauf. »Und da oben warst du?«
»Ja.« Urs konnte es selbst fast nicht glauben, aber er war wirklich dort
oben herumgeklettert. Im Dunkeln. Zum Glück, wie er erkannte. Denn jetzt,
bei Tageslicht, hätte er sich nicht mehr getraut.

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»Und dann bist du da nach vorne gekrochen und an den Balken
hinunter?«
»Ja.«
»Krass!«
»Allerdings. Ich hab mir fast in die Hose geschissen vor Angst.«
»Das hätte ich wohl ganz geschafft. Ist ja verdammt hoch. Und so
schmal.«
»Es war dunkel, da hab ich gar nicht genau gesehen, wie hoch oben das
ist.«
»Und wie sollen wir jetzt ins Haus kommen?«
»Wir müssen einbrechen.« Urs drehte sich um. »Seht ihr die Tür da?
Wenn ich mich nicht irre, führt die in den Korridor. Und dann gehen wir auf
der Treppe nach oben und brechen in die verschlossenen Zimmer ein.«
Franziska schien nicht überzeugt. »Weißt du denn überhaupt, wie man
eine Tür aufbricht? Ich hab nämlich keine Ahnung.«
»Mit Gewalt.« Urs lachte. »Und wenn Gewalt nicht hilft, dann mit mehr
Gewalt.«
»Du willst die Tür einfach eintreten?«
»Ich glaube, so schwach ist die auch nicht. Aber ich habe das hier.« Er
stellte seinen Rucksack auf den Boden, machte ihn auf und holte eine Axt
hervor.
»Was? Du willst die Tür damit aufmachen?«
»He, beruhige dich. Wir brechen ein, das ist sowieso eine Straftat. Ob wir
jetzt diese uralte Tür noch einschlagen oder nicht, macht da auch nichts
mehr aus.«
»Ja schon, aber dann merkt Germann mit Sicherheit, dass jemand hier
war. Ich hatte eher gedacht, dass wir irgendwie unerkannt einsteigen und
dann wieder verschwinden.«
»Tut mir leid, dazu müsste man die Türen professionell aufbrechen. Und
das kann ich nicht. Du und Reto auch nicht, soviel ich weiß. Also bleibt nur
Gewalt.«
»Mir gefällt das nicht.«
»Falls wir erwischt werden, stellen wir uns doof. Wir sagen einfach, wir
hätten ein bisschen randalieren wollen. Germann weiß ja nicht, dass wir
Pascal kennen.«
Reto war plötzlich Feuer und Flamme. »Gib mir die Axt, Urs.«
»Aber wenn da jemand ist? Dann hört er uns!«

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»Hier ist niemand. Es steht ja kein Auto hier. Glaubst du, die Leute gehen
zu Fuß durch den Wald wie wir?«
»Jetzt mach dir nicht in die Hose, Franziska.« Reto grinste übers ganze
Gesicht. »Ich werde diese Tür jetzt einschlagen, davon bringst du mich
nicht mehr ab.«
Und damit holte er weit aus und ließ die Axt gegen die Tür krachen. Das
Holz war alt und knochentrocken, es splitterte und die Axt drang tief in die
Tür ein.
»Nicht mitten in die Tür!«, rief Urs. »Ziel aufs Schloss!«
Retos zweiter Schlag traf direkt neben das Schloss, und nach ein paar
weiteren Schlägen war die Tür so geschwächt, dass man sie einfach
aufdrücken konnte. »Hereinspaziert!«, sagte Reto und versuchte zu
kaschieren, dass er etwas außer Atem geraten war.
Die Freunde drangen vorsichtig in das alte Bauernhaus ein. Die Tür
führte nicht direkt in den Korridor, wie Urs vermutet hatte, sondern zuerst
in einen kleinen Vorraum, in dem eine uralte Wäscheschleuder in einer
Ecke an den Boden geschraubt war.
Von dort ging es durch eine niedrige Tür in den Flur.
»Das ist die Haustür«, erklärte Urs, »und diese zwei Zimmer gehen auf
den Hof raus. Da war niemand drin, aber lasst uns doch mal kurz checken,
ob wir etwas finden.«
Sie nahmen sich ein Zimmer nach dem anderen vor, fanden aber nichts
außer einer uralten Wohnzimmereinrichtung. Alle Möbel versanken unter
einer dicken Staubschicht, der Stoff der Polstermöbel war verschlissen, die
Vorhänge waren fast vollständig den Motten zum Opfer gefallen und hingen
nur noch in Fetzen von den Stangen.
Das zweite Zimmer nebenan war nicht weniger verlottert, es schien
früher einmal ein Schlafzimmer gewesen zu sein.
Anschließend nahmen sie sich die Küche und die daran angrenzende
Toilette vor, doch auch dort gab es nichts zu finden.
»Jetzt wird’s spannend«, sagte Urs, als sie vor der Treppe standen. »Oben
sind die drei abgeschlossenen Zimmer. Ich bin sicher, dass dort irgendetwas
Wichtiges versteckt ist.«
Ein Knacken im Gebälk ließ sie erstarren.
»Was war das?«
»Das ist nichts. Es hat schon so geknackt, als ich hier war. Hat mich auch
ziemlich erschreckt.«

116
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Franziska. »Meine Oma
wohnt auch in einem alten Holzhaus, ich weiß, wie es sich anhört, wenn es
im Gebälk knackt. Das hat eher so geklungen, als sei jemand im oberen
Stock herumgegangen.«
»Ach was. Da ist niemand. Den Lärm hat man im ganzen Haus gehört,
glaubst du im Ernst, da wäre niemand runtergekommen, um nachzusehen?«
»Wer weiß. Ich fühl mich nicht so wohl bei dem Gedanken, da jetzt
raufzugehen.«
»Kontrollier doch mal die Haustür. Die ist sicher verschlossen. Hier ist
keiner.«
Franziska ging zur Tür, die tatsächlich abgeschlossen war. Teilweise
beruhigt kehrte sie zurück.
»Siehst du«, meinte Reto. »Außerdem kehren wir sicher nicht um, wo
wir schon mal hier sind. Komm, Urs, lass uns hochgehen.«
Die beiden Jungs stiegen zügig die Treppe hoch. Franziska zögerte zuerst
noch, kam dann aber hinterher. Immerhin waren ja zwei Jungs dabei. Selbst
wenn die beiden gegen einen Erwachsenen einen schweren Stand hätten,
ganz wehrlos waren sie nicht. Und dass Reto mit der Axt umgehen konnte,
hatte er ja vorhin an der Tür eindrücklich bewiesen.
Im oberen Korridor war es düster und es roch ziemlich muffig. Ein alter
Schrank stand an einer Wand, Urs erkannte, dass es nicht einmal der
hässlichste war. Seine Patentante sammelte alte Möbel und sie besaß einen
ähnlichen Schrank.
Er wies auf die drei Türen neben der Treppe. »Das sind die Zimmer, in
denen sich die Männer getroffen haben.«
»Und du hast wirklich nicht erkennen können, was der eine in der Tüte
hatte?«
»Nein, leider nicht.«
»He, seht mal her.« Reto war bei den Türen. »Diese Schlösser hier sind
bestimmt keine Originale.«
Franziska und Urs kamen näher. Es fiel auch ihnen sofort auf. An den
Türen prangten ziemlich neue, robuste Schlösser.
»So, glaubt ihr mir jetzt? Hier drin ist was Wichtiges, ich kann es
riechen!«
Reto hatte bereits die Axt in der Hand. »Das Schloss können wir eh
vergessen. Also hilft mal wieder Gewalt. Geht zur Seite! Nicht dass ihr
noch einen Splitter in die Augen abkriegt!«

117
Mit ohrenbetäubendem Krachen schlug die Axt gegen das alte Holz. Als
es genug geschwächt schien, trat Reto voller Übermut dagegen, und mit
einem Splitterregen schwang die Tür auf und schlug im Innern des Zimmers
gegen die Wand.
Sie hatten viel erwartet, doch nicht das, was sie fanden. Mit vor Staunen
offenem Mund starrten die drei auf das, was sie soeben entdeckt hatten.
Auf einem uralten Bett an der Wand kauerte Pascal und sah mit einer
Mischung aus Verwirrung und Erleichterung zu ihnen herüber.

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27

Pascal! Franziska fasste sich als Erste. Sie stuerzte


ins Zimmer und fiel ihm um den Hals. Dann
musterte sie ihn von oben bis unten.
»Pascal!« Franziska fasste sich als Erste. Sie stürzte ins Zimmer und fiel
ihm um den Hals. Dann musterte sie ihn von oben bis unten. »Bist du
einigermaßen okay?«
»Mir geht’s gut«, nickte Pascal, und es klang, als sage er es mehr zu sich
selbst.
Urs starrte noch immer mit offenem Mund in den Raum. »Was machst du
denn hier?«
Pascal schien nicht weniger überrascht. »Wie habt ihr mich denn
gefunden?«
Franziska holte Luft. »Urs hat uns hergeführt«, berichtete sie. »Aber wir
dachten nicht, dass du hier sein könntest.«
Nun kamen auch Reto und Urs ins Zimmer und begrüßten Pascal mit
einer Umarmung. Es schien, als würde er erst jetzt richtig verstehen, was
gerade geschah.
»Ein Glück, dass ihr das seid«, seufzte er und rieb sich leicht beschämt
die Augen. »Ich dachte schon, ich müsste ewig in diesem schrecklichen
Loch hocken.«
»Mann, und wir sind froh, dass du einigermaßen fit bist. Wir wussten ja
nicht einmal, ob du überhaupt noch lebst.«
Jetzt lächelte Pascal zum ersten Mal. »Jetzt übertreibst du aber,
Franziska.«
»Wieso denn? Du warst plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Die
Polizei hat geglaubt, du könntest Selbstmord begangen haben.«
»So ein Quatsch! Wieso sollte ich das tun?«
Reto sah beschämt zu Boden, doch Franziska rettete die Situation. »Aber
jetzt haben wir dich ja wieder«, sagte sie energisch. »Und das ist das
Wichtigste!«

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»Aber wie seid ihr denn darauf gekommen, hier zu suchen? Und wo sind
wir überhaupt?«
»In der Nähe von Wetzikon.« Und als ihn Pascal verständnislos
anschaute, präzisierte Urs: »Das ist etwa eine halbe Stunde von Zürich,
wenn du die schnellste S-Bahn nimmst.«
»Und hier gesucht haben wir, weil Urs Germanns Männer verfolgt hat.«
Reto gab Urs einen Knuff in die Seite, die Stimmung wurde immer gelöster.
»Urs war gestern schon mal hier. Direkt vor deiner Tür. Los, Urs, jetzt
erzähl doch endlich!«
Urs fasste kurz zusammen, wie er auf den Hof gekommen war und mit
welcher waghalsigen Aktion er sich schließlich gerettet hatte.
»Ich hätte aber niemals damit gerechnet«, schloss er seinen Bericht,
»dass du hier bist. Ich dachte, wir würden hier Beweise über Germanns
Schmuggel finden. Und vielleicht noch einen Hinweis darauf, wo du
stecken könntest.«
Pascal runzelte die Stirn. »Schmuggel?«
»Ja. Wir glauben, dass Germann seine Entsorgungsfirma dazu benutzt,
irgendetwas zu schmuggeln. Gestern Abend haben sie eine ganze Ladung
Fässer mit Lösungsmitteln hierher verfrachtet.«
Jetzt begann Pascal zu grinsen. »Aber das ist doch nicht, um zu
schmuggeln!«
Die anderen drei horchten auf. »Wofür denn?«
»Germann entsorgt das Zeug illegal im See. Um Geld zu sparen.«
»Was?!«
»Ja. Normalerweise müsste das Zeug in speziellen Anlagen verbrannt
werden. Das ist teuer. Also füllt Germann einen Teil in Fässer ab. Die lädt
er dann auf sein Motorboot, fährt mitten in der Nacht raus und leert alles
aus. Damit spart er sehr viel Geld.«
»Passen hier jetzt eigentlich alle in Chemie immer auf, oder was?«,
stöhnte Urs.
Franziska ignorierte ihn. »Und woher weißt du das?«, fragte sie Pascal.
»Ich war da. Ich habe doch gesagt, ich hätte das Boot mitten in der Nacht
gehört, aber keine Positionslichter gesehen. Als es wieder so komisch
gerochen hat, bin ich in Germanns Garten. Sie waren gerade dabei, erneut
Fässer auf das Boot zu laden. Aber leider haben sie mich erwischt.«
»Und dann haben sie dich hierhergebracht und eingesperrt?«

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»Ja. Zuerst haben sie mich verhört. Germann wollte rauskriegen, wie viel
ich weiß.«
»Sie haben dir aber nichts getan, oder?« In Franziskas Stimme schwang
aufrichtige Sorge.
Pascal schwieg.
»Oder haben sie doch?«
»Germann hat mich ein paarmal geschlagen«, rückte er dann heraus. »Ich
hab ihm gesagt, dass ich nur das Boot sehen wollte und Angst vor dem
Hund hatte, aber er hat mir nicht geglaubt. Und da haben sie mich gefesselt
und mir die Augen verbunden. Wahrscheinlich sind sie auch Umwege
gefahren, denn wir waren eine Ewigkeit unterwegs. Ich dachte, ich sei
irgendwo im Ausland oder in den Alpen.«
»Was für ein Arschloch!«
»Allerdings. Germann ist absolut widerlich. Trägt diese teuren Anzüge
und stinkt nach einem Parfum, das ein Vermögen kosten muss, aber unter
seinen Fingernägeln hat er Dreck. Und dann schau dir mal an, wie es hier
aussieht. Das Bett ist muffig und das Badezimmer nebenan eine
Katastrophe. Es gibt hier kein Licht und kein warmes Wasser.«
»Mein Gott. Hattest du keine Angst?«
Pascal nickte, schwieg aber.
»Hattest du wenigstens genug zu essen?«
»Ja. Die haben mir Sandwiches und so Zeug mitgebracht. Eklig, aber ich
wurde satt.«
Franziska legte ihm den Arm um die Schulter. »Jetzt bist du frei«, sagte
sie.
»Und es war so langweilig hier. Immerhin konnte ich auch ein bisschen
nachdenken. Dabei bist du mir eingefallen.« Pascal sah zu Urs.
»Ich? Wieso?«
»Dein Ausschlag. Erinnerst du dich? Nach dem Schwimmen im See hast
du ausgesehen wie eine Himbeere. Und am Abend vorher hatte ich wieder
das Boot gehört. Vielleicht bist du irgendwo in eine Blase von dem Zeug
gekommen, das Germann entsorgt hat.«
»Verdünnt sich das nicht?«
»Ja, aber nicht so schnell. Und je nachdem, was es war, brauchst du auch
gar nicht so viel, um einen Ausschlag zu bekommen. Womöglich hast du
eine Allergie auf etwas Bestimmtes, wir anderen haben ja wohl nichts
abgekriegt.«

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»Mich wundert, dass niemand diese Giftstoffe bemerkt hat. Wird denn
die Qualität des Seewassers nicht regelmäßig überprüft?«
»Der See ist riesig, wenn Germann seinen Abfall einigermaßen dosiert
entsorgt hat, ist das gar nicht groß aufgefallen. Wahrscheinlich sind nicht
mal Fische gestorben.«
»Was für eine Sauerei. Wir trinken von dem Wasser und schwimmen
darin. Und Germann entsorgt einfach seinen Giftmüll, weil er Kohle sparen
will.«
»Sieh doch mal seine Villa an«, wandte Reto ein. »Die kommt nicht von
nichts. Außerdem gibt es heute viel mehr Entsorgungsunternehmen als
damals, als Germann anfing. Vielleicht hat er wegen der Konkurrenz
einfach nicht mehr genug verdient.«
»Willst du ihn jetzt auch noch in Schutz nehmen?«
»Natürlich nicht! Ich versuche nur zu erklären, wie er auf diese krumme
Tour gekommen sein könnte.«
»Aber jetzt ist er fällig.« In Franziskas Stimme lag unverhohlene
Schadenfreude. »Für die illegale Müllentsorgung hätte er wahrscheinlich
nur ein Bußgeld bezahlen müssen, aber dafür, dass er Pascal gekidnappt hat,
muss er in den Knast!«
»Lass uns hier verschwinden«, sagte Reto plötzlich. »Ich hab irgendwie
ein komisches Gefühl.«
»Mach dir keine Sorgen.« Urs holte sein Handy hervor. »Denn jetzt
werden wir die Polizei anrufen, dann können die sich um alles kümmern.«
Pascal stand auf. »Lasst uns trotzdem nach draußen gehen. Ich will
einfach raus aus dem verdammten Loch.«
»Da bleibst du vorerst noch«, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme von der
Treppe. Sie gehörte dem Mann, den Pascal als Fred erkannte.
»Und du da, mit den Segelohren«, sagte Fred bestimmt, »du legst jetzt
sofort dein Handy weg!«

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28

Einen Augenblick lang waren die vier wie


erstarrt. Franziska dachte, dass sie eigentlich
schreien sollte, aber sie war so erschrocken, dass .
..
Einen Augenblick lang waren die vier wie erstarrt. Franziska dachte, dass
sie eigentlich schreien sollte, aber sie war so erschrocken, dass ihr nicht
einmal das gelang. Mit offenem Mund stand sie da wie eine Puppe und
glotzte auf Fred, der langsam ins Zimmer kam und ein schweres Brecheisen
in der Hand hielt.
»So, Freunde«, sagte Fred. »Jetzt einfach keinen Scheiß machen, sonst
werde ich richtig böse. Als Erstes möchte ich eure Handys.«
Die vier rührten sich nicht von der Stelle.
»Los!«, schrie Fred plötzlich und hob das Brecheisen. »Handy her oder
es setzt was!«
Widerstrebend rückten Urs, Reto und Franziska ihre Mobiltelefone raus.
Fred nahm sie grinsend entgegen und entfernte aus allen den Akku.
»So ist es brav. Wir wollen doch nicht noch mehr Ärger machen als
ohnehin. Dass ihr zwei Türen kaputt gemacht habt, ist euer Pech. Denn jetzt
können wir euch nicht mehr hier oben einsperren. Jetzt geht es ab in den
Keller!«
»Hören Sie auf«, sagte Franziska mit fester Stimme. »Wir haben einen
Hinweis hinterlassen, bevor wir hierhergekommen sind. Man wird uns
sofort finden.«
»Halt die Klappe!«
»Nein.« Franziska fühlte plötzlich einen ungekannten Mut in sich.
»Denken Sie doch auch mal an sich. Sie sind doch nur der Handlanger für
Germann, der groß absahnt. Aber wenn Sie uns alle einsperren, wandern
auch Sie ins Kittchen.«
Jetzt lachte Fred und Franziska verging der Mut etwas. »Du kommst dir
wohl sehr schlau vor, Madame«, höhnte er. »Du weißt gar nichts! Und dass

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irgendwer hierherkommt, ist uns sogar recht. Nur wird man dann nichts
mehr finden!«
»Sie bringen uns weg?«
»Nein, Täubchen, ihr bleibt hier. Ihr seid eingebrochen, habt das ganze
Haus verwüstet und euch dann aus Unachtsamkeit selbst im Keller
eingesperrt. Weil es dunkel war, habt ihr eine Kerze angezündet, die ihr dort
unten gefunden habt, und dabei einen Brand ausgelöst. Im Keller gibt es
noch haufenweise Treibstoff und der hat sich irgendwie entzündet. Was
glaubst du, wie gut der alte Kasten hier brennt? Alles voller Staub, Dreck
und Spinnweben, alles aus Holz und alles knochentrocken. Da bleibt nichts
mehr übrig!« Fred lachte.
Franziska spürte, wie eine fast panische Angst von ihr Besitz ergriff. Das
hier, das klang nicht nach einer Drohung, sondern nach einer festen
Absicht.
»Sie wollen uns alle umbringen?« Retos Stimme überschlug sich. »Vier
Menschen töten wegen ein bisschen illegaler Abfallentsorgung?«
»Halt die Klappe! Werner! Hilfst du mir mal?«
Der zweite Mann, den Urs ebenfalls wiedererkannte, kam die Treppe
heraufgestampft. In seiner Hand hielt er ein Bündel Schnur.
»So«, sagte er und grinste, »jetzt machen wir mal schöne Päckchen. Ihr
kommt einer nach dem anderen zu mir und legt brav die Hände hinter dem
Rücken zusammen, damit ich sie zusammenbinden kann. Wer nicht spurt,
kriegt eine mit dem Brecheisen, kapiert?«
Stille breitete sich aus. Reto und Urs überlegten fieberhaft, was sie gegen
die beiden unternehmen konnten, doch ihnen fiel nichts ein. Die Männer
blockierten die einzige Tür und Fred hatte ein Brecheisen. Außerdem sahen
seine Oberarme nicht gerade schwächlich aus. Reto schielte vorsichtig zu
der Axt, die außerhalb von Freds Sichtfeld hinter der Tür an der Wand
lehnte, doch er kam nicht an sie ran. Wenn er die beiden nur irgendwie
ablenken könnte …
»Du zuerst«, sagte Werner und deutete auf Urs. »Und ihr anderen bleibt
schön da, wo ich euch sehen kann.«
Urs stand da wie angewurzelt und wechselte Blicke mit seinen Freunden,
doch in ihren Augen spiegelte sich seine eigene Hilflosigkeit.
»Wird’s bald?!«
Widerstrebend ging Urs auf Werner zu. Der packte blitzschnell seinen
rechten Arm und drehte ihn Urs auf den Rücken. Ein stechender Schmerz

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fuhr ihm durch die Schulter, doch Werner packte auch den linken Arm.
Bald stand Urs mit gefesselten Händen da, die Schnur schnitt schmerzhaft
in sein Fleisch und blockierte die Blutzufuhr.
»Nicht so fest!«
»Schnauze!« Werner stieß ihn zurück in den Raum.
»Du kommst als Nächster, Schwarzer! Na los, wenn du keine
Schwierigkeiten machst, tut es auch nicht weh.«
Pascal kniff die Lippen zusammen, doch es gab keinen Ausweg. Er ging
zu Werner, und weil er nicht wollte, dass der ihm die Arme fast ausrenkte,
legte er die Hände freiwillig auf den Rücken.
Gerade als Werner die Schnur um seine Hände schlang, schrie Franziska
plötzlich grell auf.
Fred und Werner sahen auf und diese Überraschung nutzte Reto aus. Er
warf sich mit aller Kraft gegen die offen stehende Tür und schlug sie Fred
gegen den Kopf. Noch im Schwung schnappte er sich die Axt. Pascal
seinerseits erkannte, dass jetzt seine Chance gekommen war, und versuchte
sich loszureißen.
Doch die beiden Männer waren nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.
Werner packte Pascal mit der Gewalt eines Schraubstocks und die Tür
prallte an Fred ab wie an einem Grizzly. Doch Reto hatte die Axt mit beiden
Händen gepackt und bereits zu einem Schlag ausgeholt. Wie in Zeitlupe sah
Pascal, wie Fred das Brecheisen schwenkte und die Axt durch die Luft
sauste, direkt auf Freds Kopf zu.
Doch Fred war schneller. Er riss das Brecheisen mit brachialer Gewalt
hoch und schaffte es, Retos Schlag abzulenken. Krachend bohrte sich die
Axt in die Tür, und obwohl Reto wie besessen daran zog, schaffte er es
nicht rechtzeitig, sie wieder aus dem Holz zu lösen und zu einem neuen
Schlag auszuholen. Fred schwang brüllend das Brecheisen und zielte direkt
auf Retos Kopf. Reto warf sich zu Boden, um dem Hieb auszuweichen, und
Fred traf ihn mit voller Wucht am Oberarm.
Reto schrie auf vor Schmerz, und Franziska drehte sich fast der Magen
um, als sie das laute Knacken hörte, mit welchem der Knochen brach.
Pascal wurde sofort ganz ruhig, als er erkannte, nach welchen Regeln
Werner und Fred spielten. Widerstandslos ließ er sich die Hände
zusammenbinden, und auch Franziska wehrte sich nicht, als mit ihr
dasselbe geschah. Mit Tränen in den Augen sah sie auf Reto, der am Boden
lag und vor Schmerzen winselte wie ein kleines Kind.

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Fred ging zu ihm hin.
»Steh auf, Simulant! Oder soll ich dich hochreißen?«
»Sie haben ihm den Arm gebrochen, Sie verdammtes Schwein«, brach es
aus Franziska heraus.
»Ach was! Los, steh auf!«
Ächzend richtete sich Reto auf, Tränen rannen über sein Gesicht. Werner
ging zu ihm hin.
»Der Arm ist wirklich gebrochen«, sagte er zu Fred.
»Dann macht er wenigstens keinen Scheiß. So, und jetzt mitkommen.
Wer Ärger macht, kriegt eins mit dem Brecheisen. Habe ich mich
verständlich ausgedrückt?«
Die vier nickten und im Gänsemarsch gingen sie hinter Werner die
Treppe hinab, Fred mit dem Brecheisen folgte am Schluss. In der Küche
sahen sie, dass eine Klappe im Boden geöffnet worden war, in der
Dunkelheit waren ein paar Stufen aus Eichenholz zu erkennen, die nach
unten führten.
Werner wies auf das dunkle Loch. »Rein da!«
Pascal, der zuvorderst war, schüttelte den Kopf.
»Sehnsucht nach dem Eisen?«, dröhnte Fred aus dem Hintergrund. »Geht
sofort runter!«
Pascal sah sich um, doch es gab keinen Ausweg aus der Küche. In der
Tür, die zum Flur führte, stand Fred mit dem Brecheisen und das einzige
Fenster war über der Spüle. Bis er mit gefesselten Händen auf diese
geklettert, das Fenster eingeschlagen und die Fensterläden aufgedrückt
hätte, hätte ihm Fred schon dreimal mit dem Brecheisen eins über den
Schädel gezogen.
Andererseits wäre Fred dann abgelenkt. Pascal überlegte, ob er es wagen
sollte, damit die anderen eine Chance bekämen, aus der Tür zu entwischen.
Aber wahrscheinlich war die Haustür abgeschlossen und dann kämen sie
auch nicht weit. Ganz abgesehen davon, dass Pascal furchtbare Angst vor
Fred und seiner Stange hatte. Denn der nahm keine Rücksicht, das hatten
sie gerade eben beobachten können.
Er spürte einen harten Stoß in seinem Rücken. »Los jetzt, runter da!«,
zischte Werner ganz nahe an seinem Gesicht, Pascal roch seinen ekelhaften
Mundgeruch nach Zigaretten und Knoblauch.
Schließlich gab er nach. Holte tief Luft und ging langsam die Treppe in
den Keller hinab. Die Dunkelheit umschloss ihn rasch, es war feucht und

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muffig. Hinter sich hörte er die Schritte seiner Freunde auf der Treppe.
Dann schlug die Kellerklappe mit einem lauten Krachen zu und die vier
waren in undurchdringlicher Schwärze gefangen.

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29

Scheisse! Franziska schluchzte. Und was jetzt?


Reto! Irgendwo hinter ihrem Ruecken stoehnte es.
Reto! Schaffst du es? Mir ist schlecht.
»Scheiße!« Franziska schluchzte. »Und was jetzt? Reto!«
Irgendwo hinter ihrem Rücken stöhnte es.
»Reto! Schaffst du es?«
»Mir ist schlecht.«
»Setz dich auf die Treppe.«
»Wartet«, tönte die Stimme von Urs durch die Finsternis, »ich habe eine
Taschenlampe dabei. Vielleicht kann Reto sie mit seiner gesunden Hand aus
meiner Tasche nehmen.«
»Dann komm hierher«, sagte Reto schwach. »Ich kann nicht aufstehen.«
Kurze Zeit später hellte ein einzelner Lichtpunkt den Keller etwas auf.
Reto ließ den Strahl der Lampe herumschweifen. Der Keller bestand aus
mindestens drei Räumen, der Boden war nichts weiter als festgestampfte
Erde, die Wände rohe Steinmauern. Kein Zweifel, der Hof war alt.
Franziska drehte sich mit dem Rücken zu Reto. »Kannst du mir vielleicht
irgendwie die Fesseln lösen?«
»Ich hab nur einen Arm.«
»Ich weiß, Reto«, gab sie aus zusammengebissenen Zähnen zurück, in
ihrer Stimme schwang unterdrückter Zorn. »Aber wie du siehst, sind wir
hier eingesperrt, und du bist der Einzige, der nicht gefesselt ist!«
Reto nickte und legte die Lampe auf die Treppe. »Schon gut. Ich
probier’s.«
Mit seiner linken Hand begann er an Franziskas Fessel zu zerren, doch
Werner hatte einen Knoten verwendet, den er nicht durchschaute. Reto riss
an mehreren Stellen, doch der Knoten saß fest.
»Komm mal näher«, sagte er.
Und als Franziska zu ihm hinrückte, begann er, die Schnur mit seinen
Zähnen zu bearbeiten. Sie schmeckte scheußlich, alt und gammelig, aber
Reto riss sich zusammen. Von ihm hing es ab, dass sie hier wieder

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rauskamen. Wenn die anderen gefesselt waren, würden sie hier unten
eingesperrt bleiben, bis sie schwarz wurden.
Es dauerte eine Ewigkeit, doch irgendwann merkte Reto, wie die Schnur
faseriger wurde. Kurz danach hatte er sie ganz durchgebissen und
Franziskas Hände waren frei.
Sie rieb sich die schmerzenden Handgelenke, spürte das Blut in ihre
Hände zurückkehren. Dann sah sie sich Retos Arm genauer an.
»Du hast noch einmal Glück gehabt«, sagte sie, als sie den Arm
vorsichtig abgetastet hatte, »die Knochen scheinen nicht verschoben zu
sein. Jetzt darfst du auf keinen Fall den Arm bewegen.«
Pascal trat zu ihr. »Wie wär’s, bindest du uns auch noch los?«
»Ich komm ja schon.« Mit ihren zwei Händen schaffte es Franziska
ziemlich schnell.
»Sollten wir nicht versuchen, Retos Arm zu fixieren?« Urs zog seinen
Pulli aus. »Vielleicht kann man damit eine Art Schlinge machen?«
Franziska überlegte eine Weile, dann nahm sie den Pulli und band ihn so
um Retos Hals, dass eine Schlinge entstand, in die er den gebrochenen Arm
legen konnte.
»Geht’s so einigermaßen?«
Er verzog das Gesicht, darum bemüht, den Schmerz auszuhalten. »Es tut
verdammt weh.«
»Kein Wunder. Sieh nur, wie geschwollen er ist.« Sie strich ihm langsam
über den Kopf. »Das wird schon wieder. Und ich bin unglaublich stolz auf
dich. Du warst sehr mutig.«
Er versuchte ein Grinsen. »Viel genützt hat es aber nicht.«
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, schließlich konnte auch sie nicht
abstreiten, dass er recht hatte.
Urs hatte mittlerweile damit begonnen, den Keller genauer zu
untersuchen. Das Licht seiner Taschenlampe drang nur noch schwach aus
einem der Räume nebenan. Dafür hörte Franziska, wie es über ihr zu
rumoren begann. Kurz darauf rumpelte es, als etwas auf die Kellerklappe
fiel.
»Glaubst du wirklich, die wollen uns hier drin einsperren und das Haus
anzünden?« In Retos Stimme schwang Angst mit.
»Ich weiß es nicht. Irgendwie scheint es mir wahnsinnig, so etwas zu tun,
nur weil Germann ein bisschen Müll illegal entsorgt. Aber ich habe auch
Angst. Die verschließen hier gerade den Ausgang.«

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»Aber damit kommen die doch nicht durch, oder?«
»Wahrscheinlich nicht. Aber was nützt uns das?«
Reto schwieg.
»He! Kommt mal her!«, riefen Urs und Pascal plötzlich aus dem hinteren
Teil des Kellers.
»Moment!« Franziska nahm Retos gesunde Hand und half ihm
aufzustehen. Pascal stand vor einem alten Weinregal, das sich morsch an
einem nicht minder morschen Schrank abstützte. Einzelne Flaschen lagen
darauf.
»Wollt ihr ein Gläschen mit uns trinken?«, fragte Reto.
»Nein.« Urs leuchtete mit der Taschenlampe in die Höhe. »Seht euch mal
das da an.«
Franziska starrte auf ein Loch in der Wand. »Was ist das?«
»Was kümmert uns das? Da ist ein Loch, und wo ein Loch ist, gibt es
auch etwas, was dahinter ist. Hier können wir abhauen.«
»Hast du keine Augen im Kopf, Häschen? Das Loch ist viel zu klein!
Oder denkst du, nach vier Jahren hier drin sind wir so abgemagert, dass wir
da durchschlüpfen können?«
»Danke für deinen Sarkasmus, Madame.« Urs war gereizt. »Ich kann
auch nichts dafür, dass wir hier festsitzen, okay? Aber ich versuche
wenigstens, einen Ausweg zu finden.«
»Ist ja gut. Aber das wird nichts. Das Loch ist nicht groß genug.
Wahrscheinlich ist es nur ein alter Wasseranschluss. Sieh mal zur Decke. Da
sind noch zwei Rohre. Das nützt uns doch nichts.«
»Und woher willst du wissen, was dahinter ist? Vielleicht einfach nur
eine alte Wasserleitung.«
»Ich weiß es eben nicht, Reto! Darum will ich ja, dass ihr mir helft. Dann
kann ich nämlich sehen, was da ist!« Er wandte sich an Pascal. »Kannst du
mir mal eine Treppe machen?«
Pascal nickte und verschränkte seine Hände, sodass Urs wie in einen
Steigbügel steigen konnte. Wenn er sich streckte, war sein Kopf genau auf
der Höhe des Loches in der Wand. Er leuchtete mit der Taschenlampe
hindurch.
»Wir haben Glück«, rief er. »Hinter der Wand ist eine Kammer oder so
etwas Ähnliches. Groß genug, dass wir darin stehen können. Und es scheint
irgendeine Klappe zu geben, die nach draußen führt. Ich kann zwei Streifen
Sonnenlicht erkennen.«

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»Eine Kammer?«, fragte Franziska ungläubig. »Bist du sicher? Wozu soll
das gut sein?«
»Ich denke, das ist keine Kammer«, antwortete Reto anstelle von Urs.
»Ach ja? Und was sehe ich dann, wenn ich fragen darf?«
»Eine Jauchegrube.«
»WAS?!«
»Ja. Eine alte Jauchegrube, die unter dem Vorplatz angelegt wurde. Das
ist doch üblich. Noch nie auf einem Bauernhof gewesen?«
»Schon, aber …«
»Heißt das«, warf Franziska mit gerümpfter Nase ein, »dass da drin
Kuhscheiße ist?«
»Wahrscheinlich.« Reto lachte. »Und Menschenscheiße vielleicht auch.
Früher ging das doch alles ins selbe Loch.«
»Igitt, wie eklig!«
»Ich rieche aber nichts«, sagte Urs von oben herab.
»Der Hof steht ja auch schon eine Ewigkeit leer. Die Scheiße ist
eingetrocknet.« Reto lachte plötzlich. Klar, ihre Situation war verfahren,
aber die Aussicht, dass sie nur durch einen Haufen Scheiße entkommen
konnten, fand er zum Schreien komisch.
»Was findest du bitte schön daran so lustig?«, fragte Franziska gepresst.
»Vergiss es«, gab Reto zurück und unterdrückte ein Stöhnen. Für einen
kurzen Augenblick hatte er den Schmerz in seinem Arm vergessen und sich
etwas ruckartig bewegt, und jetzt war es, als würde jemand ein glühendes
Eisen an seinen Arm halten.
»Komm mal runter«, sagte Pascal plötzlich. »Ich kann dich nicht mehr
länger halten.«
Urs kletterte vorsichtig hinab und sah die anderen an.
»Da geht es hinaus«, beharrte er und deutete auf das Loch in der Wand.
»Aber wir kommen da niemals durch!«
»Das ist eine simple Steinmauer. Die kriegen wir kaputt. Pascal!«
»Wir sollen die Mauer einreißen? Womit denn?«
»Wir werden schon was finden. Und wir müssen nicht die ganze Mauer
einschlagen. Das Loch zu vergrößern reicht. Und das sollte machbar sein.«
Die Gruppe fasste plötzlich wieder Zuversicht, doch in diesem Moment
hörten sie von oben ein Klirren. Dann roch es plötzlich intensiv nach
Petroleum.

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»Oh mein Gott«, entfuhr es Franziska, als sie begriff, was Fred und
Werner taten.
»Was ist denn?«
»Die wollen tatsächlich die Hütte abfackeln!«
»Wie kommst du darauf?«
»Erinnerst du dich, wie die Kellerklappe offen gehalten wurde?«
»Es gab einen Haken an der Wand, und dann wurde da ein Seil
eingehängt, das am Griff der Klappe befestigt war.«
»Genau. Und jetzt stell dir mal Folgendes vor: Wir stöbern in dem Haus
rum und benutzen eine oder auch zwei Petroleumlampen, weil wir den
Keller anschauen wollen. Wir machen die Klappe auf, stellen eine der
Lampen neben die Treppe und gehen mit der anderen nach unten. Als wir
alle unten sind, reißt plötzlich der altersschwache Strick und die Klappe
schlägt zu. Dabei zerschlägt sie die Petroleumlampe. Das Petroleum läuft
aus und entzündet sich und setzt die ganze Hütte in Brand, während wir im
Keller eingesperrt sind.«
Reto wurde kreideweiß, soweit man das im schwachen Licht der
Taschenlampe sehen konnte.
Franziska nickte. »Das ist genau die Geschichte, die Germann dann
erzählen wird. Wir sind eingebrochen, haben uns selbst eingesperrt und die
Hütte angezündet. Tragisch, doch selbst schuld.«
»Aber der Brief, den du an dich selbst geschrieben hast!« Urs wirkte
zunehmend verzweifelt.
»Davon wissen die hier nichts. Oder glaubst du, die haben mir vorhin
geglaubt? Die denken, dass ich geblufft habe!«
Pascal schnüffelte. »Riecht ihr das auch?«
Sie taten es. Und es machte ihnen Angst. Es roch verbrannt. Sie eilten
nach vorne in den großen Raum, wo die Treppe war. Urs leuchtete mit der
Taschenlampe an die Klappe.
»Wenn mich nicht alles täuscht, tropft da Petroleum runter.«
»Genau. Und in der Küche oben brennt irgendwo eine ganz kleine
Flamme. Wenn sie gescheit sind, benutzen sie kein Benzin oder so, weil
man das immer nachweisen kann. Sie lassen es wie einen richtigen Unfall
aussehen.«
Pascal hechtete die Treppe hinauf und warf sich gegen die Klappe, doch
die bewegte sich keinen Millimeter. »Scheiße, die ist blockiert!«

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»Aber das können die nicht machen!«, rief Reto. »Wenn die einen
Schrank auf die Klappe stellen, dann wird man das doch nachher
herausfinden!«
»Denkst du?« Franziskas Stimme war seltsam ruhig. »Wenn das ganze
Haus einstürzt, dann kann doch hinterher keiner mehr genau feststellen, ob
jetzt der Schrank auf der Tür oder gleich daneben lag. Und überhaupt: Wer
weiß schon, was in deren Hirn abgeht! Aber uns nützt das nichts! Wir
müssen hier verdammt noch mal raus, und zwar durch die Jauchegrube.«
»Aber da müssen wir zuerst die Mauer einreißen! Und wer weiß, ob wir
dafür noch genug Zeit haben. So alte Häuser brennen doch wie Zunder!«
Plötzlich entstand Unruhe. Sie schwärmten aus, um Werkzeuge zu
finden, mit denen sie der Mauer zu Leibe rücken konnten. Reto fand einen
Hammer, Urs eine verbogene Stahlstange. Ansonsten war der Keller leer.
Urs nahm den Hammer an sich. »Wir müssen uns abwechseln. Kannst du
mich auf die Schultern nehmen, Pascal?«
Pascal ging in die Hocke und Urs stieg auf seine Schultern. Dann richtete
er sich mühsam auf. Urs begann sofort, gegen die Wand zu schlagen,
Mörtel bröselte auf Pascals Kopf und verfing sich in seinen Haaren, immer
wieder fielen ganze Brocken herunter. Franziska versuchte mit der Stange
einzelne hervorstehende Steine zu lösen.
Nur Reto war wegen seines Armes etwas eingeschränkt, und mit
wachsender Sorge stellte er fest, dass sie viel zu langsam vorwärtskamen.
Der Brandgeruch wurde im vorderen Kellerraum bereits penetrant,
außerdem war ihm aufgefallen, dass mittlerweile ein heller Schein von der
Küche in den Keller drang. Ein Schein, der flackerte.
Nach einer Weile verspürte Urs einen Krampf in seinem Arm und er
tauschte den Platz mit Pascal. Das Loch in der Wand war sichtlich
gewachsen, aber immer noch viel zu klein, als dass jemand hätte
hindurchkriechen können. Pascal legte sich mit neuem Eifer ins Zeug,
Schweiß strömte über sein Gesicht und tränkte sein T-Shirt. Doch noch
immer kamen sie nur schleppend voran.
»Mann, hier wird es verdammt heiß«, schrie Reto, als er von einem
weiteren Kontrollgang aus dem vorderen Keller zurückkehrte. »Die Küche
brennt lichterloh. Die Ränder der Kellerklappe sind schon angefressen.«
Pascal hielt einen Moment lang inne. »Hier zieht der Wind durch das
Loch«, sagte er.

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»Das ist das Feuer! Es saugt Luft an. Los, mach weiter!« Auch Franziska
war schweißüberströmt, aber sie gab nicht auf, ließ nicht zu, dass sie
langsamer wurde, obwohl sie bereits total erschöpft war.
Als wenig später die Kellerklappe mit einem ächzenden Geräusch
nachgab und in den Keller stürzte, war das Loch in der Wand zwar schon
ziemlich groß, reichte aber noch nicht aus. Ein Funkenregen stob in den
Keller und erfüllte ihn mit einem orange zuckenden Licht, eine Hitzewelle
brandete von der Küche herab. Die Treppe fing in der Hitze fast
augenblicklich Feuer, und Reto sah, dass die Küche in Brand stand. Die
Flammen füllten den ganzen Raum aus, ihr Toben und Knacken war
ohrenbetäubend laut. Ein Großteil des Wohnhauses musste bereits brennen,
wahrscheinlich hatte auch irgendjemand die Feuerwehr alarmiert. Doch die,
das wusste Reto, käme zu spät. Eine solche Feuersbrunst vermochte
niemand mehr zu löschen, und irgendwann gab entweder die hölzerne
Decke zwischen Keller und Küche nach oder aber das ausgebrannte Haus
stürzte ein. Und das würde die Kellerdecke auch nicht aufhalten können.
Er lief zu den anderen zurück. »Jetzt macht schon! Oder die Hütte
begräbt uns alle unter sich!«
Franziskas Stimme zitterte. »Das schaffen wir niemals! Es muss doch
noch einen anderen Ausweg geben!«
»Wo denn? Der einzige Ausgang ist versperrt!«
»Sieh mal im anderen Raum nach, Reto!«
»Da waren wir doch schon. Da ist nichts!«
»Egal, schau noch mal nach!« Franziska schrie.
»Da ist nichts!«
»Ruhe und weitermachen!«, befahl Urs, der jetzt wieder auf Pascals
Schultern saß. »Das ist unsere einzige Chance, also hört auf zu streiten.
Schneller geht’s nicht.« Er hämmerte wie ein Besessener, fast im
Sekundentakt fielen Steine und Mörtelbrocken aus der Mauer.
»Reicht das nicht schon? Probier doch mal!«
Urs streckte seinen Kopf hindurch, blieb aber mit der Schulter hängen.
»Noch ein bisschen!« Er klopfte weiter, während der Lärm aus der Küche
lauter wurde. Reto meinte irgendwann, das Heulen von Sirenen gehört zu
haben, war sich aber nicht sicher. Es spielte sowieso keine Rolle, niemand
wusste, dass sie hier drin waren.
Franziska, Reto und Pascal kam die Zeit unendlich lang vor, doch
irgendwann warf Urs den Hammer zu Boden, und dann spürte Pascal, wie

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Urs leichter wurde. Er blickte auf und sah, dass sich Urs an der Mauer nach
oben zog, sein Kopf verschwand im Loch. Dann folgten die Schultern und
der Bauch, bis nur noch die Beine in den Keller ragten.
»Es klappt!«, rief Franziska erschöpft. »Beeil dich!«
Urs zog die Beine nach. Pascal hatte inzwischen für Franziska eine Leiter
gebildet, und jetzt kletterte sie an der Kante des Loches nach oben,
unterstützt von Pascal, der von unten schob.
Er sah Reto in die Augen. »Jetzt du, Reto.«
Reto schüttelte den Kopf. »Nein, geh du zuerst. Du kannst beide Arme
benutzen.«
»Eben. Darum musst du zuerst da rauf!«
»Entscheidet euch!«, rief Urs von oben.
Pascal machte die Leiter. »Geh schon.«
»Und wie kommst du dann nach oben? Das ist viel zu hoch!«
»Ich kann springen.«
»Das schaffst du niemals!«
»Jetzt macht endlich!«, brüllte Urs.
Reto gab nach. Er stieg in Pascals Hände und versuchte sich mit dem
gesunden Arm an der Wand aufzurichten. Als es ihm endlich gelang, schob
ihn Pascal vorsichtig weiter nach oben. Stück für Stück. Dann langte Urs
durch das Loch und ergriff Retos Arm.
»Und jetzt, hau ruck!«
Die beiden zogen und schoben Reto mit vereinten Kräften nach oben,
und Reto brüllte auf vor Schmerz, als sein gebrochener Arm an der Wand
entlangschürfte und an der Kante zum Loch abgedreht wurde. Doch
schließlich war auch er oben, und Pascal sah, wie seine Füße in dem
Durchgang zur Jauchegrube verschwanden.
Er blickte an der Wand entlang zu Urs. Das Loch war unglaublich weit
oben, Pascal wusste nicht, ob er es schaffen würde. Doch aus dem vorderen
Teil des Kellers kamen Geräusche, die ihn nicht länger zögern ließen. Er
holte Anlauf und sprang hoch, doch seine Finger glitten an der rauen Mauer
ab. Er versuchte es noch einmal, und dann noch einmal, aber er schaffte es
nicht, sich festzuhalten. Seine Angst wurde immer größer, er spürte seine
Knie schwach werden, und sein nächster Sprung war so kraftlos, dass er
nicht einmal annährend bis zum Loch kam.
»Streng dich an!«, rief Urs von oben. »Versuch meine Hand zu kriegen.«

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Pascal nickte, der Keller füllte sich langsam mit Rauch, der ihm in den
Augen brannte. Er nahm noch einen Anlauf, kriegte auch die eine Hand von
Urs zu fassen, doch weil er vor lauter Angst feuchte Hände hatte, glitt er
wieder ab.
»Verdammt!«, brüllte er und fühlte nackte Panik in sich aufsteigen. So
nah an der Rettung, alle anderen waren schon draußen!
»Beruhige dich«, sagte Urs plötzlich ganz ernst. »Wenn du so gestresst
bist, geht das nicht.«
»Ich bin aber gestresst! Das Haus stürzt bald ein!« Pascals Stimme
überschlug sich.
»Ich weiß. Wir holen dich raus. Atme tief durch.«
Pascal tat, was Urs sagte.
»Jetzt noch einmal.«
Pascal fühlte, wie sich sein Herzschlag beruhigte. Er sah zu dem Loch
auf, schätzte die Distanz und sprang mit aller Kraft. Eine Weile hing er wie
in der Zeit erstarrt in der Luft, dann spürte er einen kraftvollen Griff, der
seinen Arm packte, und mit der anderen Hand bekam er den Rand des
Loches zu fassen. Er versuchte sich mit den Füßen abzustoßen und rutschte
immer wieder an der Wand ab, doch Urs zog ihn nach oben. Die scharfe
Kante der herausgebrochenen Mauer schnitt durch sein T-Shirt und
schrammte die Haut auf, doch dann endlich war er oben, lag mit dem Bauch
auf der Mauer und sah die Gesichter der anderen drei. Franziska hatte
Tränen in den Augen, und von draußen hörte Pascal die Sirenen der
Feuerwehr, die sehr nah waren.
Er zog sich ganz durch das Loch und ließ sich auf der anderen Seite
erschöpft zu Boden fallen. Er landete in einem ekelhaften, klebrigen
Schlamm.
»Igitt! Was ist das denn?!«
»Das ist uralte Kuhscheiße«, belehrte Urs ihn und die Anspannung ließ
sein Lachen blechern klingen. »Gemischt mit Erde und Wasser, das
hereinkommt, wenn es regnet.«
Pascal stand sofort auf, aber er war schon von oben bis unten voller
Dreck.
Urs deutete auf zwei schmale Streifen Licht an der Decke.
»Das sind die beiden Klappen. Pascal, du musst mir helfen, eine davon
aufzustemmen. Reto kann nicht.«

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Pascal nickte und widerstand dem Drang, sich den Schweiß aus dem
Gesicht zu wischen, weil er wusste, dass seine Hände voller Kuhdreck
waren. Zusammen mit Urs stellte er sich unter der einen Klappe auf und
dann drückten sie mit vereinten Kräften.
Unvorstellbare Hitze schlug ihnen entgegen, Pascal sah, dass das ganze
Haus lichterloh brannte. Er wollte schon die Klappe wieder zufallen lassen,
weil sie in dieser Hitze sowieso nicht aus der Grube herauskommen
konnten, als er zwei Feuerwehrmänner entdeckte, die mit einem
Druckschlauch Wasser ins Haus spritzten.
Pascal schrie und winkte, doch die beiden schienen ihn in dem Getöse
gar nicht wahrzunehmen. Endlich reagierte doch einer und dann ging alles
ganz schnell. Die Männer verteilten Wasser rund um die Klappe, und dann
stürmten zwei weitere Feuerwehrmänner herbei, rissen die Klappe auf und
zerrten die verdreckten Jugendlichen heraus. Pascal wusste kaum, wie ihm
geschah, zwei Hände zogen ihn nach oben, dann wurde eine schwere Decke
über ihn ausgebreitet und ein Mann rannte mit ihm weg vom Haus.
Erst als er neben einem der beiden Feuerwehrautos stand, drehte sich
Pascal um. Das alte Riegelhaus brannte restlos, die Flammen schlugen
meterhoch in den Himmel und eine gewaltige Rauchwolke zog über
Wetzikon. Selbst hinter dem Auto versengte die abgestrahlte Hitze Pascal
fast und ließ seine Lippen austrocknen. Er sah, wie Reto als Letzter aus der
Jauchegrube geholt wurde, dann begann es im Haus zu krachen und zu
bersten, als der völlig ausgebrannte Dachstock nachgab und das ganze Haus
in einer riesigen Glutwolke einstürzte.

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Sie standen am Tor und musterten stumm den


Polizeiwagen, der Rudolph Germann in diesem
Moment zum Revier fuhr.
Sie standen am Tor und musterten stumm den Polizeiwagen, der Rudolph
Germann in diesem Moment zum Revier fuhr.
Die Auffahrt zu Germanns Villa war mit Polizeiautos zugeparkt, dunkel
gekleidete Fahnder liefen auf dem Grundstück herum, Beamte trugen
kistenweise Material aus dem Haus in einen wartenden Polizeibus und die
an einer Kette angebundene Bulldogge kläffte ohne Unterlass.
»Da geht er hin, der feine Herr«, sagte Urs lakonisch, es war fast auf die
Stunde genau zwei Tage her, dass sie knapp der Feuerhölle in Wetzikon
entkommen waren.
»Ist sicher weniger bequem als in seinem Bentley Azure.« Reto versuchte
nicht einmal, seine Schadenfreude zu verbergen.
Franziska klopfte Pascal auf die Schulter. »Na? Wie fühlt sich das an, zu
sehen, wie Germann abgeführt wird?«
Er sah sie an, und als sich ihre Blicke begegneten, setzte ihr Herzschlag
für eine Sekunde aus. »Ich bin vor allem müde. Zuerst die Entführung, dann
eingesperrt in diesem Loch, der Horror mit dem Feuer und dann noch all
die Verhöre. Ich bin einfach nur fix und fertig.«
»Aber ein bisschen freust du dich schon, oder?«
»Natürlich. Vor allem, weil dieser Arsch jetzt büßen muss, und seine
zwei Handlanger auch. Jetzt kommt alles raus.«
»Das stimmt.« Franziska dachte an die Schlagzeilen, die sie heute
Morgen gelesen hatte. ›Giftmüllskandal in Zürich‹, ›Unternehmer entsorgt
Giftmüll im See‹. Jetzt würde die ganze Schweiz erfahren, welche
krummen Geschäfte Germann gemacht hatte. Eine der Gratiszeitungen hatte
Germann sogar als Brunnenvergifter bezeichnet.
Ja, für Germann brachen jetzt düstere Zeiten an.
Für sich und ihre Freunde hoffte Franziska, dass es bald wieder ruhiger
werden würde. Momentan wurden die Ereignisse in den Medien so richtig

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hochgekocht, Reporter hatten bei allen vieren zu Hause angerufen und
bereits die Schule belagert, um ein Interview zu ergattern. Besonders Pascal
war ein begehrtes Ziel, doch die Polizei und seine Eltern schirmten ihn
vollständig vor der Presse ab.
Andererseits fand Franziska, dass der ganze Wirbel nicht schadete,
immerhin wurde jetzt das Thema Umweltschutz und fachgerechte
Entsorgung breit diskutiert, Experten gaben sich bei Radio und Fernsehen
die Klinke in die Hand. Vielleicht hatte ihre Aktion damit sogar ein kleines
bisschen zu einer noch saubereren Schweiz beigetragen.

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Na, Kleiner, freust du dich, mich zu sehen?


Germann nahm seine Sonnenbrille ab und grinste
uebers ganze Gesicht.
»Na, Kleiner, freust du dich, mich zu sehen?«
Germann nahm seine Sonnenbrille ab und grinste übers ganze Gesicht.
»Oder komme ich etwa ungelegen?«
Starr vor Schreck starrte Pascal auf den Mann an der Haustür. Das konnte
doch nicht wahr sein! Germann müsste im Knast sitzen! Aber jetzt stand er
da, trug wieder seinen weißen Anzug und grinste hinterhältig.
»Warum so schweigsam, schwarzer Mann?« Germann lachte, dass man
es im ganzen Quartier hören musste. »Darf ich nicht reinkommen?«
Jetzt endlich schaffte es Pascal, zu reagieren. Er wollte die Tür
zuschlagen und verriegeln, doch Germann war schneller. Er rammte mit
seiner gewaltigen Masse gegen die Tür und ließ diese auffedern.
Pascal wich in den Flur zurück, als der Nachbar ins Haus trat und die Tür
sachte hinter sich schloss. Das Geräusch, als er den Schlüssel umdrehte,
klang in Pascals Ohren wie das Einrasten einer Kerkertür.
»So, Kleiner, jetzt sind wir allein. Mami und Papi sind weggefahren,
nicht wahr? Ich habe es gesehen, habe schon den ganzen Tag darauf
gewartet, endlich mit dir reden zu können.«
»Verschwinden Sie!«, schrie Pascal, doch seine Stimme brachte nicht viel
mehr als ein Krächzen zustande.
»Aber wieso denn? Ich bin doch gerade erst hereingekommen.«
Germann kam weiter ins Haus und trieb Pascal vor sich her.
»Weißt du, Kleiner, ich bin ziemlich böse auf dich. Meine Konten sind
gesperrt. Und meine Firma wurde geschlossen. Die Polizei hat mein Haus
durchsucht. Ich finde das gar nicht lustig.«
Pascal wollte etwas sagen, schreien, um Hilfe rufen, doch er brachte vor
Angst keinen Ton heraus. Immer weiter wich er zurück.
»Aber ich weiß ja zum Glück, wem ich das alles zu verdanken habe«,
lächelte Germann. »Da kann ich wenigstens meine Wut abreagieren.«

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»Sie sind doch im Knast«, stammelte Pascal, sein Rückzug hatte ihn
mittlerweile ins Wohnzimmer geführt.
Germann lachte, es klang wie ein Donnern. »Im Knast!« Er schien sich
nicht mehr einzukriegen. »Hast du im Ernst geglaubt, ich würde da lange
bleiben? Bei meinen Verbindungen? Der Stadtpräsident hat mehrmals an
meinem Tisch gegessen! Ich habe die besten Anwälte des Landes! Ich
kenne sie alle, weiß, was ihre dunklen Geheimnisse sind. Welcher Dreck an
ihren Händen klebt. Niemand will, dass ich im Knast lande!« Er bog sich
vor Lachen.
Pascal spürte Panik in sich. Sein Herz raste, er schwitzte, und trotzdem
schien es, als seien seine Füße am Boden festgeleimt.
Der Garten! Der Gedanke ließ ihn herumfahren, zu der Glasfront, die auf
den Sitzplatz führte. Sein einziger Fluchtweg! Er machte ein paar Schritte
auf die Tür zu, doch noch bevor er sie erreichte, sah er, dass im Garten Fred
und Werner standen, jeder mit einem Brecheisen in der Hand.
Das Lachen in seinem Rücken ließ ihn abermals herumfahren. Germann
stand jetzt mitten im Wohnzimmer.
»Ja, deine Freunde sind auch wieder hier«, dröhnte er. »Die beiden sind
auch wütend. Verstehst du?«
»Die Polizei wird wissen, dass Sie es gewesen sind. Damit kommen Sie
nicht durch!«
»Lass das nur meine Sorge sein.« Germann winkte den beiden Männern
im Garten. »Kommt rein, Jungs!«
Die beiden kamen näher, und dann musste Pascal ungläubig mit ansehen,
wie Fred sein Brecheisen hob und die Glastür einfach einschlug. Dann
traten beide ins Wohnzimmer.
Pascal fühlte bleierne Schwere in seinen Beinen. Er wollte davonrennen,
irgendetwas tun, aber sein Körper versagte ihm den Dienst. Er stand einfach
da wie eine Puppe aus Holz, als Werner immer näher kam und ihn
schließlich packte. Pascal schrie auf und versuchte sich zu wehren, aber
Werner hatte einen eisernen Griff und schüttelte ihn.
»Pascal!«, rief seine Mutter plötzlich wie aus weiter Ferne.
»Aufwachen!«
Klitschnass und mit rasendem Herz fuhr Pascal aus dem Schlaf. Seine
Mutter hielt ihn an den Schultern und sah besorgt in sein Gesicht.
»Du hattest einen Albtraum«, sagte sie. »Alles ist gut, wir sind zu Hause.
Aber jetzt solltest du dich beeilen. Du musst in die Schule.«

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Die Vorboten des ersten richtigen Wintersturmes


zogen ueber Zuerich und liessen den See dunkel
und aufgebracht erscheinen, vereinzelt fielen . . .
Die Vorboten des ersten richtigen Wintersturmes zogen über Zürich und
ließen den See dunkel und aufgebracht erscheinen, vereinzelt fielen dicke
Tropfen vom Himmel. Immer wenn Pascal den Duft des Regens auf dem
Asphalt roch, dachte er zurück an jenen Abend, an dem er sich in Germanns
Garten geschlichen hatte. An die schreckliche Angst, die er ausgestanden
hatte, die Einsamkeit in dem verlassenen Bauernhaus. Die Finsternis in den
Räumen, deren Fensterläden verriegelt gewesen waren. Es war die
Dunkelheit, die ihm am meisten zu schaffen gemacht hatte, und mehr als
zwei Wochen nach seiner Befreiung hatte Pascal nur bei eingeschaltetem
Licht schlafen können.
»Sie haben dir schreckliche Dinge angetan«, hatte seine Mutter eines
Abends zu ihm gesagt und dabei hatte er wieder diese Entschlossenheit in
ihren Augen gesehen, »aber es ist jetzt vorbei. Du darfst nicht zulassen,
dass die Angst dein ganzes zukünftiges Leben beherrscht, sonst machen sie
dir noch viel mehr kaputt. Lass sie dir nicht dein Leben, dein Vertrauen und
deine Freiheit nehmen.« Und dann war sie nach draußen gegangen und
hatte das Licht gelöscht.
Pascals Herz hatte bis zum Hals geklopft, die Bilder aus dem Bauernhaus
waren auf ihn eingestürzt. Er hatte den Muff der Matratze gerochen, das
Knacken im Gebälk gehört, Freds Schritte auf der Treppe. Doch dann hatte
er verstanden. Es war vorbei. Fred war im Knast und Germann auch. Sie
konnten ihm nichts mehr tun. Wenn er immer noch Angst vor ihnen hatte,
machte er sich selbst kaputt. Und in diesem Moment hatte er begriffen, was
es gewesen war, das seine Mutter in die Bürgerrechtsbewegung hatte
eintreten lassen, was sie wieder und wieder auf die Straße getrieben hatte,
auch nachdem sie von der Polizei zusammengeschlagen worden war.
In jener Nacht hatte zum ersten Mal nach seiner Entführung das Licht
nicht gebrannt und mittlerweile ließ Pascal auch das Fenster wieder offen.

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Er war stärker, stärker als Germann und Fred, stärker als die Angst. Und
diese Gewissheit würde man ihm nicht mehr nehmen können. Auch wenn
manchmal noch einer dieser schrecklichen Träume durch die Nacht
geisterte.
Der Regen ließ etwas nach, als er sich langsam seinen drei Freunden
näherte, die auf einer Parkbank beim Ufer saßen und gegen das Wetter
ankämpften, indem sie das letzte Eis der Saison aßen.
»Hallo, schwarzer Mann«, lachte Urs und hielt ein Eis hoch. »Ich hab dir
auch eines gekauft, dunkle Schokolade natürlich.«
»Dunkel ist am besten.« Er zwinkerte und drängte sich neben Urs auf die
Bank. Auf seiner anderen Seite saß Franziska, Pascal spürte die Wärme
ihres Körpers. Jetzt drehte sie sich zu ihm.
»Und, wie geht’s?«
Er lächelte. »Gut, wieso?« Ihr Blick ruhte auf ihm, und er bemerkte, dass
etwas darin lag, das er vorher nicht gesehen hatte. Schnell sah er weg. Die
Situation war ihm irgendwie unangenehm.
Franziska bemerkte seine Irritation und lehnte sich zurück, betrachtete
den Üetliberg auf der anderen Seeseite, der gerade von einer Wolke verhüllt
wurde.
In den letzten Tagen war ihr etwas klar geworden. Sie hatte sich in Pascal
verliebt. Nicht so stürmisch wie damals in Reto, sondern langsam und viel
zärtlicher, persönlicher. Zu Reto hatte sie sich vor allem körperlich
hingezogen gefühlt gehabt, aber Pascal schätzte sie als Mensch. Sie
wünschte sich seine Nähe, und dass er so lange verschwunden gewesen war
und die ganze Aufregung um ihn, hatte diese Sehnsucht nur noch verstärkt.
Sie hatte niemandem ein Wort davon gesagt, nicht mal Yasmin, und
schon gar nicht Pascal. Der wusste von alldem nichts, und seine
unverfängliche Art, wie er mit ihr umging, zeigte Franziska, dass er auch
nichts ahnte. Und, das war etwas bitterer, dass es ihm selbst nicht so ging
wie ihr.
Sie mochte Reto nach wie vor, aber sie war nicht mehr verliebt in ihn. Sie
hatte einsehen müssen, dass diese Liebe nicht wiederkommen würde. Es
machte keinen Sinn, sie mit irgendwelchen Argumenten heraufbeschwören
zu wollen. Solche Gefühle waren etwas, was sie nicht bewusst beeinflussen
konnte – sie kamen, ob sie wollte oder nicht, und sie gingen auch wieder,
ohne sie zu fragen.

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Sie hatte Reto noch nichts gesagt, weil sie wusste, wie schwer es ihm
fallen würde und dass er gerade jetzt nicht auch noch einen solchen Schlag
verdient hatte, aber es war ihr klar, dass sie das nicht ewig hinauszögern
konnte. Nicht nur, aber vor allem auch, weil es ihm gegenüber nicht fair
war, nicht korrekt.
Franziska seufzte schwer.
Reto legte ihr seine Hand aufs Knie. »Was ist, Läckerli? Du wirkst
irgendwie so abwesend.«
Sie ließ ihren Blick unverwandt auf den See gerichtet. »Ich musste daran
denken, dass hier im Prinzip alles angefangen hat. Wir waren schwimmen
und Urs hat einen Ausschlag bekommen.«
»Wenn man das so nüchtern betrachtet, war Germann schon verdammt
frech. Seinen Müll mitten im Zürichsee zu entsorgen, wo so viele Menschen
Wasser daraus entnehmen und darin baden.«
»Frech schon«, warf Pascal ein, »aber irgendwie auch ein bisschen
dumm. Er hätte sich doch denken können, dass seine krummen Touren
irgendwann auffliegen würden.«
»Er hat sich wahrscheinlich für immun gehalten. Befreundet mit dem
Stadtpräsidenten, Wahlkämpfe mehrerer Stadt- und Kantonsräte unterstützt,
und Mitglied der größten Partei im Kanton. Germann hat sich ein so dichtes
Netz aus Beziehungen aufgebaut, dass er dachte, es würde ihn in jedem Fall
schützen.«
Pascal lachte laut heraus, erinnerte sich an etwas, das seine Mutter immer
und immer wieder empört feststellte. »Er hat nur nicht bedacht, dass eine
Freundschaft in der Politik nur so lange eine Freundschaft ist, wie man
einen Nutzen davon hat. Kaum war Germann eine Belastung, haben sich
alle von ihm distanziert.«
»Er ist sozusagen politischer Sondermüll und muss jetzt nur noch
fachgerecht entsorgt werden«, spottete Franziska und die anderen stimmten
in ihr Lachen ein. Dann saßen sie eine Weile schweigend da und
beobachteten, wie das Wasser des Sees dunkler wurde und die Wellen
größer. Die Lichter der Sturmwarnung gingen an und der Sendemast auf
dem Üetliberg verschwand zeitweise in tief hängenden Wolkenfetzen.

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