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„Jemand muss sagen, was sie mit den Sinti gemacht haben,
damals, die Nazis. Das wissen viele heute immer noch nicht. Aber unsere
Menschen sollen nicht vergessen werden! […] Ich will, dass die Welt
erfährt, was mit den Sinti passiert ist. […] Ich will, dass sie wissen, wie
das ist, weiterzumachen, wenn man alles verloren hat, was einem lieb
war.“ In diesen Worten steckt eigentlich schon alles. Sie stammen von
Zilli Schmidt, die uns ihre Geschichte erzählt hat, die Geschichte einer
deutschen Sintezza.
Zilli Schmidt war noch ein Kind, als die Nationalsozialisten an die
Macht gelangten. Sie erlebte, wie ihre Familie auf der Straße beschimpft
und in Geschäften nicht mehr bedient wurde, wie Verwandte plötzlich
verschwanden und nicht mehr wiederkamen. Als junge Frau floh sie mit
ihren Eltern und Geschwistern kreuz und quer durch Europa, wurde in
Frankreich festgenommen, nach Tschechien verschleppt, in die
sogenannten „Zigeunerlager“ in Lety und Auschwitz-Birkenau gesperrt.
Neun Tafeln geben den verfolgten Roma Namen und Gesichter. Sie
erzählen von ihrem Leid, aber auch von ihrer Kraft und ihrem Mut, von
Widerstand und Neubeginn. Sie bringen uns ganz unterschiedliche
Menschen nah und führen uns ihre Lebenswelten vor Augen.
Dieser Ort erinnert an die Geschichten von Roma und Romnja, von
Jenischen und anderen Fahrenden aus ganz Europa, die von den
Nationalsozialisten als sogenannte „Zigeuner“ verfolgt wurden –
zunächst in Deutschland, dann in Österreich und Tschechien, nach dem
Beginn des deutschen Angriffskriegs auch in Polen und der Slowakei, in
Frankreich, Belgien und den Niederlanden, in Italien, Serbien, Kroatien,
Rumänien und Ungarn, in der Ukraine, in Russland und in anderen
Ländern der damaligen Sowjetunion.
Bis zu einer halben Million Roma aus ganz Europa fielen dem
nationalsozialistischen Völkermord zum Opfer, in Sachsenhausen und
Lackenbach, Chełmno und Łódź, in Babyn Jar, Aleksandrowka und an
vielen anderen Orten. Sie verhungerten und erfroren in Lagern und
Ghettos, starben an Seuchen und infolge von pseudomedizinischen
Experimenten, wurden erschossen und in Gaskammern erstickt.
Aber wir wissen heute auch: Ein Völkermord dieses Ausmaßes lässt
sich nicht allein von einem Staatsapparat ins Werk setzen. Viele
Deutsche aus allen Teilen der Gesellschaft waren an den
Menschheitsverbrechen gegen die Roma beteiligt. Wissenschaftler
betrieben rassistische Forschung, um ihre Karrieren voranzubringen;
Beamte in Städten und Gemeinden entwickelten radikale Ideen, um sich
den Herrschenden anzudienen; Nachbarn denunzierten Roma, weil sie
schon lange Ressentiments gegen die Minderheit hegten.
Auf ihrem schweren Weg zurück ins Leben wurden sie von Politik,
Verwaltung, Justiz und Gesellschaft in Westdeutschland kaum
unterstützt. Im Gegenteil: Sie mussten erleben, wie die an ihnen und
ihren Familien begangenen Verbrechen verschwiegen, verdrängt,
verleugnet und sogar gerechtfertigt wurden.
Deshalb will ich wiederholen, was ich zum 40. Jahrestag der
Gründung des Zentralrats gesagt habe: Im Namen unseres Landes bitte
ich Sie um Vergebung – für das unermessliche Unrecht, das den Roma
Europas in der Zeit des Nationalsozialismus von Deutschen angetan
wurde, und für die Missachtung, die deutsche Sinti und Roma nach
Kriegsende auch in der Bundesrepublik erfahren haben. Ich bitte Sie um
Vergebung. Mangau tamen, prosaran man!
Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Geschichten der Opfer
lebendig bleiben, auch wenn es irgendwann keine Überlebenden mehr
gibt, die sie uns erzählen können. Und wir müssen vor allen Dingen
Wege finden, um junge Menschen entdecken zu lassen, was diese
Geschichten mit ihnen und ihrer Lebenswelt heute zu tun haben. Wie
das gelingen kann, davon werden uns gleich junge Roma und Romnja
berichten.
In den zehn Jahren seit der Einweihung des Denkmals hat sich eine
Menge getan. Dieser Gedenkort hat viele Menschen ermutigt, sich
selbstbewusst als Roma zu erkennen zu geben. Das European Roma
Institute for Arts and Culture macht die Kultur der Roma in all ihrer
Vielfalt sichtbar. Mit dem RomArchive ist ein digitaler Raum entstanden,
in der Roma ihre Musik, Kunst und Literatur endlich selbst präsentieren
können. Und auch im Schloss Bellevue haben Roma, Sinti und Jenische
2019 gezeigt, wie sehr ihre Kultur unser Land und Europa bereichert.
Und, meine Damen und Herren, Sie alle wissen aus eigener,
bitterer Erfahrung: Die alten romafeindlichen Vorurteile halten sich
immer noch hartnäckig in Teilen der Gesellschaft, und sie werden überall
in Europa von rechtsradikalen oder nationalpopulistischen Kräften neu
belebt.
Dieser Gedenkort ist auch ein Ort der Hoffnung auf eine bessere
Zukunft in Deutschland und Europa. Eine Zukunft, in der kein Rom und
keine Romni befürchten muss, benachteiligt zu werden, wenn er oder
sie sich zur eigenen Herkunft bekennt. Eine Zukunft, in der wir als
verschiedene Menschen gleichberechtigt und selbstbestimmt
miteinander leben, in Frieden und in Freiheit.