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Scholmer · Patient und Profitmedizin

Joseph Scholmer

Patient

und Profitmedizin

Das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik

zwischen Krise und Reform

Westdeutscher Verlag Opladen 1973

ISBN-13: 978-3-531-11237-4

e-ISBN-13: 978-3-322-86043-9

DOI: 10.1007 /978-3-322-86043-9

© 1973 by Westdeutscher Verlag GmbH Opladen

Gesamtherstellung

Druckerei Dr. Friedrich Middelhauve GmbH Opladen Umschlag von Hanswerner Klein
Opladen

Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9
1.
Die gesetzliche Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

1.1.

Die Struktur des gesetzlichen Krankenversicherungswesens 16

1.2.

Die Beitragsgestaltungen der gesetzlichen Krankenversicherungen

19

1.3.

Die Explosion der Kosten in der GKV und ihre Ursachen .

24
2.
Reformprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung 33

2.1.

Kritik des gegenwärtigen Krankenversicherungssystems 33

2.2.

Regionale Neugliederungen bei den AOK . . . . . . . . . . . . . .

35

2.3.

Plädoyer für die Einheitsversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36
3.
Das Geschäft der Ärzte mit der Krankheit . . . . . . . . . . . . .

44

3.1.

Das Einkommen der Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

3.2.

Maßnahmen zur Erschließung neuer Pfründe . . . . . . . . . . . .

46

3.3.

Die Sicherung der Einkommenshöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

3.3.1. Die Verhandlungen mit den Kassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

3.3.2. Das »Friedenspapier« der Kassenärztlichen Bundesvereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . .


.....................

51

3.3.3. Die Verteidigung des ambulanten Behandlungsmonopols durch die niedergelassenen


Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

3.3.4. Das Zentralinstitut für die ärztliche Versorgung . . . . . . . . .

60

3.4.

Das Geschäft mit den medizinisch-technischen Leistungen . .

61
3.5.

Weitere Versuche, Privilegien zu sichern . . . . . . . . . . . . . . . .

67

3.6.

Die Normalisierung der Arzthonorare . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

5
4.
Der Arzneimittelmarkt in der Bundesrepublik . . . . . . . . . .

72

4.1. Medikamente als Kostenfaktor der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . .


....................

72

4.2. Das Arzneimittelangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

4.3. Die Struktur des Arzneimittelmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

4.4. Die pharmazeutische Industrie und das Geschäft mit der Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
...................

77

4.4.1. Der Verdacht auf überhöhte Gewinne . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

4.4.2. Forschung als Alibi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

4.5.

Der pharmazeutische Großhandel im Geschäft mit der

Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

4.6. Die Apotheken und das Geschäft mit der Krankheit . . . . .

86

4.7. Arzneimi ttelmißbrauch

88
4.7.1. Das Doppelgesicht der Heilmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

4.7.2. Arzneimittelmißbrauch auf Erzeugerebene . . . . . . . . . . . . . .

89

4.7.3. Arzneimittelmißbrauch durch Patienten . . . . . . . . . . . . . . . .

92

4.8. Zur Novellierung des Arzneimittelrechts .............. . 93

4.9.

Reformen bei den Arzneimittelpreisen ................ .

98
5.
Krankenhausreform

103

5.1. Das Hanauer Modell des klassenlosen Krankenhauses . . . . 103

5.2. Die Situation des Krankenhauswesens in der BRD . . . . . . . 105

5.3. Kritik des Krankenhauswesens in der Bundesrepublik 108

5.4. Die neue Bundespflegesatzverordnung und ihre Auswirkungen: Stückwerk statt Reformen . .
...............114
6.
Probleme der Vorsorgeuntersuchungen

119

6.1. Die gesetzliche Regelung der Vorsorgeuntersuchungen . . . . 1 19

6.2 . Die Unzulänglichkeit der Vorsorgemaßnahmen . . . . . . . . . . 1 2 1

6.3. Die geringe Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen und ihre Gründe . . . . . . . . . . . . .


......................122

6.4. Kritik der praktizierten Vorsorgeuntersuchungen . . . . . . . . 1 2 7

6.5. Eine Krebs-Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 3 1

6.6. Die Unzulänglichkeit der Früherkennung- Untersuchungen bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . .


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 36

6.7. Ein Modell für effektivere Vorsorgeuntersuchungen und seine Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . .


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 38
7.
Was denkt die junge Ärztegeneration? ................. 145

7.1. Zwei Meinungsumfragen unter jungen Medizinern . . . . . . .

145

7.2. Vorstellungen zur künftigen ambulanten Versorgung ..... 146

7.3. Meinungen zur Krankenhausreform ................... 148

7.4. Für ein neues Verhältnis zwischen Arzt und Patient ...... 151

7.5. Zur Situation im Arzneimittelwesen ................... 15 2

7.6. Die jungen Mediziner zwischen Ethos und Einkommen . . . . 15 3


8.
Die Gesundheitspolitik der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

8.1. Gesundheitspolitik in der Bundesrepublik - ärztliche Interessenvertretung

156

8.2. Die Vernachlässigung der Sozialversicherten . . . . . . . . . . . . 160

8.3. Neue Tendenzen in der SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2


9.
Gedanken zu einer freiheitlichen Gesellschafts- und Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . 165

9.1. Der Begriff der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

9.2. Gerechtigkeit und Solidarität in der neuen Gesellschaft . . . 169

9.3. Sozialistische Zukunft und freie Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 170

Anmerkungen zu den Kapiteln 1-9

17 3

Tabellarischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3

Dokumentarischer Teil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Einführung

Mit dem Erscheinen der Studie »Die Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik


Deutschland« des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften und meines
Buches »Die Krankheit der Medizin« im Oktober 1971 begann eine offene Kontroverse um
die Reform des westdeutschen Gesundheitswesens. Sie gewann im Frühjahr 1972 durch die
SPIEGEL-Serie »Das Geschäft mit der Krankheit« breite Publizität, wurde seither vor
allem durch wirtschaftliche Sachzwänge verschärft und droht gegenwärtig in eine offene
soziale Auseinandersetzung zu münden.

V ersucht man die Fronten in diesem Konflikt zu skizzieren, so ergibt sich etwa folgendes
Bild: zum konservativen Lager gehören die Arztekammern und die Kassenärztlichen
Vereinigungen mit ihren jeweiligen Spitzengremien, der Bundesärztekammer und der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung, ferner die Verbände der freipraktizierenden Arzte,
der Apotheker und der pharmazeutischen Industrie. Eine Art Dachorganisation für die
Abwehr der Reform des Gesundheitswesens stellt die

»Aktionsgemeinschaft der deutschen Arzte« dar. Sie war schon 1959 gegen die
Reformbestrebungen des damaligen christ-demokratischen Arbeitsministers Theodor
Blank gegründet worden und wurde im April 1972

reaktiviert.

Zum progressiven Lager gehört der DGB mit den ihm angeschlossenen Gewerkschaften,
besonders der Gewerkschaft ÖTV. Diese hat in den letzten Jahren bemerkenswerte
Denkschriften zur Krankenhausreform, zur Ausbildung in der Krankenpflege und zur
Neuorientierung eines Sozialmedizinischen Dienstes erarbeitet. Angeführt sei ferner der
Bundesverband der Ortskrankenkassen (BdO), dessen Vorstand im Herbst 1971

auf dem Deutschen Krankenkassentag in Köln eine Reihe von Reformvorschlägen vorlegte,
die bei den Arzteorganisationen auf scharfe Ablehnung stieß. Fortschrittlich sind starke
Gruppen der jungen Arztegeneration, die teils in der Gewerkschaft ÖTV, teils im
»Marburger Bund« oder in der Fachschaft Medizin der Bundesassistentenkonferenz
organisiert sind. Von ihnen wurden die aufsehenerregenden Diskussionen auf dem 75.
Deutschen 9

.i\rztetag in Westerland (1972) geführt; sie waren auf dem Marburger Kongreß »Medizin und
gesellschaftlicher Fortschritt« vertreten.

In den etablierten Parteien werden progressive wie konservative Auffassungen vertreten. In der
SPD vollzieht sich seit Jahren der Prozeß einer gesundheitspolitischen Willensbildung, der sich
in zahlreichen Anträgen an die Parteitage in Saarbrücken (1970), Dortmund (1972) und
Hannover (1973) manifestiert hat. Dabei haben die Anhänger einer entschiedenen Reform des
Gesundheitswesens ständig an Boden gewonnen. Der Parteitag in Hannover verwarf den im Juni
1972 vom Gesundheitspolitischen Ausschuß beim SPD-Parteivorstand veröffentlichten Entwurf
der »Leitsätze«

mit der Begründung, er falle hinsichtlich seines Ansatzes »erheblich hinter den aktuellen Stand
der innerparteilichen Diskussion zurück« und nehme

»insbesondere allzu deutlich Rücksicht auf die einseitigen Standesinteressen der organisierten
.i\rzteschaft« (1). Die Delegierten beschlossen ferner die Konstituierung einer
Gesundheitspolitischen Kommission beim Parteivorstand, der im Gegensatz zu früher je ein
Vertreter der 22 Bezirke angehört. Die Kommission wird von dem SPD-Vorstandsmitglied und
saarländischen Landesvorsitzenden Friedel Läpple geleitet. Er hat sich schon bei seiner Wahl
zum Landesvorsitzenden im Oktober 1970 für eine Strukturreform des Gesundheitswesens
ausgesprochen.

Die engen Verbindungen zwischen der CDU und den ärztlichen Standesorganisationen seien am
Beispiel des Gesundheitspolitischen Ausschusses der CDU demonstriert, dem u. a. der
Hauptgeschäftsführer der Bundes

ärztekammer, Stockhausen, und der Vorsitzende des Verbandes der .i\rzte Deutschlands
(Hartmannbund), Prof. Bourmer angehören. In ihrer Rolle als führende Regierunt;spartei hat die
CDU zwei Jahrzehnte hindurch, von 1949 bis 1969, eine enge Kooperation mit den
.i\rzteorganisationen betrieben und deren Interessen auf der politischen Ebene vertreten. Hier sei
daran erinnert, daß noch der Entwurf für das vom Bundestag Ende 1970 verabschiedete Gesetz
über die Früherkennungs- und Vorsorgemaßnahmen von den Standesorganisationen entwickelt
und über die CDU in das Parlament eingebracht wurde. Auf diese Weise erhielten die Kassen

ärztlichen Vereinigungen das Monopol für die Vorsorgeuntersuchungen.

Im Gegensatz zum überwiegend konservativen gesundheitspolitischen Ausschuß der CDU


vertreten deren Sozialausschüsse fortschrittlichere Auffassungen. So wurde im Sommer 1972
durch Indiskretion der Entwurf eines gesundheitspolitischen Programms der CDU bekannt,
dessen

\'eröffentlichung aus zunächst unbekannten Gründen unterblieb. Später war zu erfahren, daß die
Sozialausschüsse gegen den Text Einspruch erhoben und ihre Vorstellungen durchgesetzt hatten.
Der ursprüngliche Entwurf stimmte mit dem veröffentlichten nicht mehr überein. Schließlich 10

sei darauf hingewiesen, daß der Mainzer Sozialminister Geißler, Mitglied der Sozialausschüsse,
das rheinland-pfälzische Krankenhausgesetz initiierte, dem - trotz aller Einwände - auch
parteipolitische Gegner fortschrittliche Elemente nicht absprechen können.

Die Gesundheitspolitik der FDP wird maßgeblich von Konservativen wie dem
Hauptgeschäftsführer des Hartmannbundes, Deneke, dem Bundestagsabgeordneten Spitzmüller
und der ehemaligen Bundestagsabgeordneten Hedda Heuser beeinflußt. Eine ähnliche
Differenzierung wie in den beiden großen Parteien ist bisher nicht sichtbar geworden. Es dürfte
jedoch kaum daran zu zweifeln sein, daß auch die FDP in Fragen der Gesundheitspolitik jene
innerparteiliche Willensbildung nachvollziehen wird, die in SPD und CDU - wenn auch in
unterschiedlicher Qualität - bereits seit Jahren im Gange ist. Zu stark sind die vielfältigen
Sachzwänge, als daß sich die mitverantwortliche Regierungspartei ihnen auf die Dauer entziehen
könnte.

Die Krise des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik ist deshalb besonders brisant, weil sich
in ihr zwei ursächliche Faktoren summieren: ein seit vier Jahrzehnten datierender Nachholbedarf
an Reformen und die unaufschiebbare Notwendigkeit, den Einbruch der elektronischen
Datenverarbeitung in die Medizin zugunsten der Sozialversicherten nutzbar zu machen. Zu
letzterem erklärte die Deutsche Forschungsgemeinschaft schon 1971:

»Die erfreuliche Aufmerksamkeit, das zunehmende Interesse und die wachsende Ungeduld der
Öffentlichkeit richten sich vor allem auf die angewandten Seiten ( der elektronischen
Datenverarbeitung in der Medizin, d. Verf.), z.B. Computerdiagnostik, große medizinische
Datenbanken oder Vorsorgeuntersuchungen ... Man erwartet auf lange Sicht allgemein eine
Verbesserung der Patientenbetreuung und der ärztlichen Leistungen sowie des
Gesundheitswesens durch Computer.« (2) Was den Nachholbedarf angeht, so sei daran erinnert,
daß die mit der Sozialdemokratie und den Krankenkassen eng verbundene fortschrittliche
Entwicklung des Gesundheitswesens in der Weimarer Republik von den Nationalsozialisten nach
ihrer Machtübernahme im Jahre 1933 abrupt beendet und von der gesundheitspolitischen
Reformbewegung in Ansätzen erst während der letzten Jahre wieder aufgenommen wurde. Nach
der Kapitulation des dritten Reiches war die durch den Faschismus dezimierte und geschwächte
Arbeiterbewegung nicht mehr fähig, die demokratischen Traditionen des gesundheitspolitischen
Fortschritts aufzugreifen, geschweige denn fortzuführen. Die mit Hitler assoziierte bürgerliche
Oberschicht - einschließlich der freipraktizierenden Ärzte - hatte dagegen keinen Substanzverlust
erlitten. Unter christ-demokratischen Vorzeichen 11

neu formiert, gewann und bewahrte sie zwei Jahrzehnte hindurch die politische Führungsrolle.
Davon profitierten vor allem die niedergelassenen Ärzte, deren Monopol für den ambulanten
Sektor des Gesundheitswesens im Jahre 1955 durch die Neufassung des Kassenarztrechts
zementiert wurde. Das 1933 von den Nationalsozialisten erlassene Verbot der
gemeinschaftlichen Praxis wurde von den Standesorganisationen de facto bis 1968 fortgeführt.
Noch 1961 wurde die ideologische These »Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe« aus der
nationalsozialistischen Reichs

ärzteordnung von 1935 in die Bundesärzteordnung übernommen. Und wer den Aufruf »Freiheit
für Arzt und Patient in Gefahr« der Aktionsgemeinschaft der deutschen Ärzte vom April 1972
analysiert, wird kaum den Eindruck gewinnen, Geist und Jargon einer gewissen Vergangenheit
seien unter den Standespolitikern völlig überwunden.

Nun läßt sich die Freiheit des Arztes mit der Freiheit des Patienten keineswegs auf den gleichen
Nenner bringen. So bedeutet die Freiheit der ärztlichen Niederlassung für die Kranken in
zahlreichen ländlichen Regionen der Bundesrepublik das Freisein von normaler und geregelter
medizinischer Versorgung. Der sozialversicherte Patient sollte die Freiheit haben, zwischen zwei
Systemen der ambulanten Behandlung zu wählen: dem der freien ärztlichen Praxis und einem
poliklinischen mit moderner, leistungsfähiger Apparatur. Jede Demokratie ist durch die freie
Wahl zwischen wenigstens zwei Möglichkeiten charakterisiert, auf der politischen Ebene
beispielsweise durch die Wahl zwischen mindestens zwei Parteien.

Der durch das Kassenarztrecht ausgeübte Zwang für die Sozialversicherten, sich mit nur einem
ambulanten Behandlungssystem, und zwar dem weniger leistungsfähigen, der freien ärztlichen
Praxis, zu begnügen, stellt eine Einengung seiner Freiheit dar. Indem die gesundheitspolitische
Reformbewegung die Errichtung von Polikliniken oder Ambulatorien, von unabhängigen oder an
Krankenhäuser angegliederten, fordert, versucht sie, den Freiheitsspielraum für die
sozialversicherten Patienten zu erweitern.

Wären die Sozialversicherten im Besitz der Freiheit, ihre eigene Gesundheitssicherung


mitzubestimmen, so müßte ihnen das Recht zugestanden werden, darauf einen direkten und
entscheidenden Einfluß zu nehmen.

Solange ihnen diese Mitbestimmung vorenthalten bleibt, ist die von den Standespolitikern so
sehr beschworene Freiheit für den Patienten eine Fiktion. Und was nicht existiert, kann auch
nicht gefährdet sein. Mehr noch: Im Gesundheitswesen sind die Sozialversicherten in weiten
Bereichen unfrei. Erst eine durchgreifende Reform des Gesundheitswesens kann ihnen die bisher
gesetzlich vorenthaltene Freiheit verschaffen. Die dialektische Beziehung zwischen der Freiheit
für den Arzt und der Freiheit für 12

den Patienten entspricht dem Prinzip kommunizierender Röhren: je mehr Freiheit für den
niedergelassenen Arzt, desto weniger Freiheit für den Patienten. Die Freiheit für den Arzt
bedeutet in der Regel: Freiheit für Privilegien.

Es verdient bemerkt zu werden, daß auch im Lager der freipraktizierenden Ärzte Stimmen laut
werden, die für eine realistische Einschätzung der Beziehungen zwischen Arzt und Patient
plädieren. So erklärte im Mai 1972 der damalige, später zurückgetretene Vorsitzende des
Hartmannbundes, Metzner, auf einer Außerordentlichen Hauptversammlung seines Verbandes in
Bonn:
»Eine ärztliche Politik, die davon ausgeht, daß ja letzten Endes die Interessen des Standes sich
mit den Interessen der Patienten decken würden, ist vom Ansatz her verfehlt.« (3)

Solche Einsichten sind zweifellos zu begrüßen. Indessen sollten die Sozialversicherten nicht
darauf warten, ob es den Ärzteverbänden gelingt, nach Jahrzehnten konservativer
Gesundheitspolitik aus Gründen höherer gesellschaftlicher Ratio über ihren eigenen Schatten zu
springen. Sie sollten vielmehr in ihren eigenen Organisationen, den Krankenkassen,
Gewerkschaften und Parteien, energisch darauf drängen, daß die Reform des Gesundheitswesens
planmäßig vorangetrieben wird. Die Feststellung des DGB-Vorsitzenden Vetter, selbst
schrittweise gesellschaftliche Reformen würden »nur möglich sein auf der Grundlage
gesellschaftlichen Drucks«, gilt auch und besonders für die Reform des Gesundheitswesens.
Vetter wirft der westdeutschen Gesellschaft das »offenkundige Versagen ... in der Befriedigung
von gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen« vor und fährt fort: » Weite gesellschaftliche
Bereiche befinden sich in strukturellen Krisen. Ich erinnere nur an Umweltschutz,
Bildungswesen und Gesundheitssicherung. Das gesellschaftliche Interesse bleibt dabei nur allzu
häufig auf der Strecke. So unbestreitbar die Erfolge in der Produktion privater Güter, z. B. der
Konsumgüter sind, so unfähig erweist sich unsere Gesellschaft in der optimalen Bedarfsdeckung
von Sozialgütern.« ( 4) Im gleichen Sinn fordert das gesundheitspolitische Programm des DGB,

»soziale Strukturen so zu verändern, daß unterprivilegierte Schichten gleiche Möglichkeiten in


der Gesellschaft erhalten«, und es definiert als

» Ziel gewerkschaftlicher Gesundheitspolitik ... Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß alle


Bürger in gleichem Umfang - vor allem ohne Rücksicht auf ihre wirtschaftlichen Verhältnisse -
Chancen besitzen, die Gesundheit zu erhalten bzw. im Krankheitsfalle soweit als möglich wieder
herzustellen ... Der DGB wehrt sich gegen eine Entwicklung, die dazu führt, daß moderne
Methoden - insbesondere im Bereich der diagnostischen Technik - nicht für den von der sozialen
Krankenversicherung erfaßten 13

Personenkreis nutzbar gemacht werden, sondern einkommensstarken Schichten


vorbehalten bleiben.« (5)

Am sichtbarsten wird die Zwei-Klassen-Medizin gegenwärtig im vorbeugenden Bereich des


Gesundheitswesens. Obwohl nach »Auffassung des DGB . .. Früherkennungsprogramme
mit z. T. vollautomatisch arbeitenden Einrichtungen gegen bestimmte Herz- und
Kreislauferkrankungen sowie Stoffwechselkrankheiten bereits jetzt realisiert werden« (6)
können, bleiben die Sozialversicherten von den wissenschaftlichen Errungenschaften etwa
der modernen Labortechnik bei den gesetzlichen Früherkennungsmaßnahmen völlig
ausgeschlossen. Ihre Anwendung würde eine Strukturreform des Gesundheitswesens
voraussetzen, der sich die ärztlichen Standesorganisationen aus wirtschaftlichen Gründen
widersetzen.

Wirtschaftliche, technische und organisatorische Probleme bilden den Kern der


gesellschaftlichen Auseinandersetzung zwischen den Sozialversicherten und jener
bürgerlichen Gruppe von etwa 100 000 Menschen, die in der Bundesrepublik das große
Geschäft mit der Krankheit machen. Dieser Konflikt unterscheidet sich im Prinzip nicht
von anderen sozialen Kontroversen. Für die Sozialversicherten geht es um die
Mitbestimmung im Sektor Gesundheitssicherung, dessen ambulanter und präventiver
Bereich faktisch ein Monopol der Kassenärztlichen Vereinigungen darstellt.

Die Reform des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik ist ein gesellschaftlicher Auftrag
an alle sozial Engagierten, dessen Realisierung ebenso wissenschaftlicher Methoden wie
intensiver politischer Anstrengungen bedarf. Ihre erste Phase ist vorüber, an deren Beginn
aus heutiger Sicht die Proklamierung des klassenlosen Krankenhauses durch den Hanauer
Landrat Martin Woythal und die 19 gesundheitspolitischen Anträge an den Saarbrückener
SPD-Parteitag im Frühjahr 1970 zu setzen sind. Sie war gekennzeichnet durch spontane
Initiativen, die bis zum Herbst 1971

wachsende Resonanz in der Öffentlichkeit fanden. Die dann einsetzende breite Diskussion
entwickelte sich ungesteuert. Die Progressiven agierten zumeist unabhängig voneinander.
Improvisation kennzeichnete auch den Marburger Kongreß »Medizin und
gesellschaftlicher Fortschritt«, der ein pluralistisches Spektrum fortschrittlicher
Auffassungen sichtbar werden ließ.

Inzwischen haben die Reforminitiativen den Charakter einer Bewegung angenommen.


Eine zweite Phase hat begonnen, die höhere Ansprüche an das fortschrittliche Lager stellt:
der Informationsfluß ist zu verbessern; wissenschaftliche Analysen sind zu erstellen; ein
Minimum an Koordinierung ist zu schaffen; eine provisorische Bilanz muß gezogen
werden.

Das vorliegende Buch versucht eine übersieht über den aktuellen Stand der Reform des
Gesundheitswesens in der Bundesrepublik zu geben. Es 14

befaßt sich unter anderem mit Jenen Schwerpunkten, in denen sich die Krise besonders deutlich
manifestiert. Dazu gehören: die soziale Krankenversicherung; der außerordentliche
Einkommenszuwachs der niedergelassenen Ärzte; steigende Arzneimittelpreise; die
Krankenhausreform; der Mißerfolg der gesetzlichen Früherkennungs- und Vorsorgemaßnahme.

Es gilt jetzt, die Sachdiskussion, die den Standesorganisationen im Herbst 1971 aufgezwungen
wurde, zu verbreitern und zu vertiefen.

Wichtigster Adressat aller Bemühungen um die Reform des Gesundheitswesens sind die mehr
als 50 Millionen Sozialversicherten, deren gesundheitspolitisches Bewußtsein es planmäßig und
geduldig zu entwickeln gilt.

Ihnen vor allem sind die profitorientierten Zusammenhänge klar zu machen, die zwischen der
Marktwirtschaft und dem Gesundheitswesen bestehen. Dessen Reform wird nicht mehr
aufzuhalten sein, sobald sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß die Krankheit der Medizin
eine gesellschaftliche Krankheit ist, die einer gesellschaftlichen Therapie vor allem durch die
Sozialversicherten selbst bedarf.

15
1. Die gesetzliche Krankenversicherung
1.1 Die Struktur des gesetzlichen Krankenversicherungswesens Nach den Bestimmungen der
Reichsversicherungsordnung (RVO) werden allgemein Arbeiter, Angestellte und Rentner für den
Krankheitsfall versichert. Durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der gesetzlichen
Krankenversicherung wurde diese a.:n 1. Januar 1971 ferner für den bis dahin ausgeschlossenen
Kreis der besser verdienenden Angestellten geöffnet; die Versicherungspflichtgrenze wurde von
DM 1200,- auf DM 1425,-, (am 1. 1. 73 auf DM 1725,-) monatlich angehoben. Angestellten mit
noch höherem Einkommen stand es bis zum 31. März 1971 frei, sich ohne Rücksicht auf Alter
und Gesundheitszustand ebenfalls der gesetzlichen Krankenversicherung anzuschließen. Sogar
Selbständige können seit dem 1. 1. 71 der gesetzlichen Krankenversicherung beitreten, sofern ihr
monatliches Einkommen zum Öffnungszeitpunkt nicht höher als DM 1425,- war (inzwischen trat
hier ebenfalls Dynamisierung ein). Für Lohn- und Gehaltsempfänger in abhängiger Tätigkeit
unterhalb dieser Einkommensgrenze ist der Beitritt zur sozialen Krankenversicherung gesetzlich
vorgeschriebene Pflicht. Die Krankenversicherungsbeiträge werden in der Regel je zur Hälfte
vom Arbeitnehmer und vom Arbeitgeber getragen.

Der Versicherte ist berechtigt, die Regelleistungen der Krankenkassen -

Krankenhilfe, Mutterschaftshilfe, Sterbegeld und Familienhilfe - in Anspruch zu nehmen. Die


Barleistungen der Krankenkassen werden, mit Ausnahme des Krankengeldes, nach dem
»Grundlohn« bemessen, dem auf einen Kalendertag entfallenden beitragspflichtigen
Arbeitsentgelt. Die Krankenhilfe gliedert sich nach § 182 R VO in Krankenpflege einschließlich
ärztlicher Behandlung und Medikamente, sowie Krankengdd im Falle der Arbeitsunfähigkeit des
Versicherten. Die Krankenpflege muß »ausreichend« und »zweckmäßig« sein; sie darf jedoch
das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (1). Die Krankenkasse kann Krankenhauspflege
gewähren, gesetzlich verpflichtet ist sie jedoch nicht.

Für die sozialversicherten Arbeitnehmer standen am 1. September 1972 -

je nach Beruf - folgende RVO-Kassen offen: 398 Allgemeine Ortskrankenkassen, 100


Landkrankenkassen, 177 Innungskrankenkassen, 16

1059 Betriebskrankenkassen, sowie als Sonderkassen die Seekasse, die Bundesknappschaft


sowie 15 Ersatzkassen. Diese teilen sich in 8 Arbeiterund 7 Angestellten-Ersatzkassen. Zu
ersteren zählen: Braunschweiger Kasse, Buchdruckerkrankenkasse (Hannover), Brühler
Kranken- und Sterbegeldkasse (Solingen), Krankenkasse der Arbeiter (Heusenstamm bei
Offenbach), Gärtner Krankenkasse (Hamburg), Hamburgische Zimmererkrankenkasse,
»Neptun«-Berufskrankenkasse für die Binnenschiffahrt (Hamburg) und die Schwäbisch-
Gmünder Ersatzkasse. Ersatzkassen für Angestellte sind die Barmer Ersatzkasse
(Wuppertal-Barmen), die Berufskrankenkassen der Werkmeister (Hamburg), die Deutsche
Angestellten Krankenkasse (Hamburg), die Hamburg Münchener Ersatzkasse (Hamburg),
die Handelskrankenkasse (Bremen), die Hanseatische von 1826 und Merkur Ersatzkasse
(Hamburg), die kaufmännische Krankenkasse Halle (Hamburg) und die Techniker
Krankenkasse (Hamburg).
Von den am 1. September 1972 erfaßten 32 211 759 Mitgliedern der gesetzlichen
Krankenversicherung gehörten an:

► den Ortskrankenkassen: 16 263 359 (davon 9 452 874 Pflichtmitglieder, 1 238 039
freiwillige Mitglieder und 5 332 999 Rentner);

► den Landkrankenkassen: 404 161;

► den Betriebskrankenkassen: 4 25 2 4 51 ;

► den lnnungskrankenkassen: 1 530 908;

► der See-Krankenkasse: 74 368;

► der Bundesknappschaft: 1 095 697;

► den Arbeiter-Ersatzkassen: 358 101;

► den Angestellten-Ersatzkassen: 8 232 714.

Den größten Anteil unter den Angestellten haben die Barmer Ersatzkasse mit rund 3,3
Millionen Mitgliedern und die Deutsche Angestellten Krankenkasse mit ca. 3 Millionen
Mitgliedern.

Außer den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung genießen deren


anspruchsberechtigte Familienangehörige den Versicherungsschutz, so daß bei einer
Bevölkerung von rd. 61 Millionen in der Bundesrepublik im Krankheitsfall über 90 0/o von
den Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung abgesichert werden. Da außerdem etwa
8 0/o der Bevölkerung privaten Krankenversicherungen angehören, ist nur knapp 1 0/o
aller Einwohner der Bundesrepublik ohne Krankenversicherungsschutz.

Die Krankenkassen sind nach dem Gesetz von 1952 Selbstverwaltungsorgane. In jenem
Jahr wurde die Selbstverwaltung - bereits während der Weimarer Republik in der
Sozialversicherung erprobt, von den Nationalsozialisten aber als basisden:iokratische
Einrichtung beseitigt - wieder für die Versicherungen vom Gesetzgeber installiert. Doch
was einst bedeutend 17

war ist heute eine »Einrichtung minderen Rechts«, wie Gerhard A. Priedl schreibt (2). In den
zwanziger Jahren war die Eigenständigkeit der Sozialversicherung beträchtlich. So konnte z.B.
der Verband Berliner Ortskrankenkassen eigene große Ambulatorien im Wettbewerb mit den
niedergelassenen Ärzten unterhalten. Heute jedoch bleibt der Selbstverwaltung kaum mehr, als
die Beschlüsse durchzuführen, die der Gesetzgeber getroffen hat. Das gilt sowohl für Umfang
und Qualität der Leistungen als auch und insbesondere für die Anerkennung des gegenwärtigen
Gesundheitssystems. Das Heer der Sozialversicherten hat also keine effektiven Möglichkeiten,
über die Selbstverwaltung auf seinem ureigenen Gebiet des Gesundheitswesens Reformen
durchzusetzen. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung umreißt den kleinen
Freiheitsraum der Selbstverwaltung folgendermaßen: »Die Organe der Selbstverwaltung mit
ihren ehrenamtlich tätigen Mitgliedern können nur die Impulse für die Arbeit des
Versicherungsträgers geben.« (3) Die Funktionen der Selbstverwaltung als Interessenvertretung
der Versicherten wird außerdem von der massiven Präsenz des Staates in der Selbstverwaltung
behindert, wo er sich z. B. das Recht vorbehält, in der Arbeiterrentenversicherung die von der
Vertreterversammlung gewählte Geschäftsführung zu bestätigen, und in der
Angestelltenversicherung gar die Geschäftsführung dem Bundespräsidenten zur Berufung in das
Beamtenverhältnis vorzuschlagen. Dazu bedarf jede Satzungsänderung der staatlichen
Genehmigung. Des weiteren steht den auf Reformen im Gesundheitswesen drängenden
Sozialversicherten zumindest in manchen Fällen die paritätische Besetzung der Selbstverwaltung
mit Arbeitgeberund Arbeitnehmervertretern entgegen. Die Arbeitgeber begründen ihr Recht auf
Präsenz in einem Gremium, in dem fast ausschließlich die Belange von Arbeitnehmern
verhandelt werden, mit ihrer fünfzigprozentigen Beteiligung an den Beiträgen. Auf welch
schwachen Füßen dieses Recht steht, hat sogar das arbeitgeberfreundliche Deutsche Ärzteblatt
vom 25. 1. 73 festgestellt; es weist darauf hin, daß der Beitrag der Arbeitgeber an der
Sozialversicherung auf die Preise überwälzt und somit indirekt doch von der Masse der
Arbeitnehmer gezahlt wird.

Insgesamt kann heute die wichtigste Voraussetzung jeder Selbstverwaltung, die effektive
Einflußnahme der Mitgliedschaft, nicht als gegeben angesehen werden. Zwar stehen alle sechs
Jahre Wahlen der Versicherten und der Arbeitgeber für Delegierte zu den
Vertreterversammlungen in einem großdimensionierten Wahlgang zur Bestimmung der rund 80
000 ehrenamtlichen Mitarbeiter der Selbstverwaltung an, doch finden diese Wahlen für die
Versicherten in Wirklichkeit nur dort statt, wo sich die Arbeitnehmerorganisationen, voran die
Gewerkschaften, nicht auf eine 18

Einheitsliste der Versichertenvertreter einigen können. Auf diese Weise wurden die
Sozialversicherten bei den letzten »Wahlen« 1968 nur in 53

von rund 2100 »Wahlkreisen« nach ihrem Votum gefragt. Dabei zeichnete sich an der
geringen Wahlbeteiligung von nur etwa 20 Prozent das Desinteresse der Versicherten an
den Selbstverwaltungsorganen ab, die faktisch nichts anderes zu erledigen haben, als jene
ständigen Beitragserhöhungen zu beschließen, die durch Mehrausgaben verursacht
werden, auf deren Zustandekommen sie keinerlei Einfluß haben. Priedl dürfte recht
haben: »Man sollte sich aber nicht täuschen, daß die Versicherten dies nicht wüßten. Und
so ist ihre vom Bundesarbeitsministerium beklagte

>Interessenlosigkeit an politischen Entscheidungen zweiten Ranges< vielmehr nur eine


Folge der Gewißheit, daß sie mit oder ohne Wahlbeteiligung im Endeffekt nichts oder
kaum etwas zu sagen haben.« (4) Nun hat das Arbeitsministerium einen Gesetzentwurf zur
»Weiterentwicklung des Selbstverwaltungsrechts« entwickelt, das neben einem guten
Kernstück - der Einführung einer allgemeinen Briefwahl zu den
Selbstverwaltungsorganen, deren Unterlagen jedem Wahlberechtigten unaufgefordert
zugesandt werden - auch bedenkliche Teile enthält. Dabei ist vor allem an die vorgesehene
Öffnung der Kandidatenlisten für »Beauftragte« der Gewerkschaften gedacht, die selbst
nicht einmal Mitglieder der Kasse sein müssen, in deren Organe sie sich wählen lassen
wollen. Der Grund dafür ist, daß die bei Ortskrankenkassen versicherten
Gewerkschaftsfunktionäre bald nicht mehr ausreichen, die Arbeitnehmerplätze in der
Selbstverwaltung zu besetzen, weil sie, wie Günther Wollny feststellt, es vorziehen, »sich als
Angestellte bei den Ersatzkassen versichern« zu lassen: »Sie zahlen auf diese Weise einen
absurden Tribut an gesellschaftliche Vorurteile, die abzubauen sie (einstmals, d. Vf.)
erfolgreich ausgezogen sind.«(5)

Doch ob und in welcher Weise der Gesetzgeber hier soziale Kosmetik praktiziert: alle
.i\nderungen vermögen an dem größten .i\rgernis für die Sozialversicherten nichts zu
ändern, nämlich an ihrer Machtlosigkeit vor allem dort, wo ihre Interessen unmittelbar
berührt werden. Auch nach einer Novellierung des Gesetzes bleibt ihr Einfluß auf
Reformen im Gesundheitswesen gleich Null.
1.2 Die Beitragsgestaltungen der gesetzlichen
Krankenversicherungen
Alle Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung forderten von ihren Mitgliedern in der
letzten Zeit besonders drastische Beitragserhöhungen.

In 5 Jahren erhielten die Kassen damit nach und nach mehr als 100 0/o 19

erhöhte Beiträge, nachdem auch vorher schon kräftige Erhöhungen zu verzeichnen waren:
von 1963 bis Anfang 1973 über 200 Prozent. Im einzelnen sah das so aus: Die 398
Ortskrankenkassen taten zum Jahreswechsel 1972/73 einen durchschnittlichen
Beitragssprung um 0,45 Prozent von 8,5

Prozent auf 8,95 Prozent; das bedeutete bei einem monatlichen Bruttoverdienst von DM
1200,- eine Beitragserhöhung von DM 5,41. Um den gleichen zusätzlichen Betrag wurde
auch der Arbeitgeber zur Kasse gebeten. Diese enorme Erhöhung erfolgte nach einer
schleichenden Beitragsanhebung, die sich immer mehr von der erst vor zwei Jahren
festgelegten gesetzlichen Beitragshöchstgrenze von 8 Prozent (laut § 389 R VO) entfernte.
Am 1. 1. 72 hatte der durchschnittliche AOK-Beitragssatz noch bei 8,25 Prozent gelegen,
am 1. 4. 72 schon bei 8,30 Prozent, am 1. 7. 72 bei 8,40 Prozent, am 1. 12. 72 endlich bei
8,50 Prozent, um dann den beschriebenen Sprung auf 8,95 Prozent zu tun. Am 1. April
1973 waren die Beitragssätze nach Auskunft des Vorstandsvorsitzenden des BdO, Horst
Ruegenberg, anläßlich einer Vertreterversammlung des BdO im Mai in Hamburg im
Durchschnitt schon auf 9,05 Prozent gestiegen.

Unter den AOK-Kassen bestehen allerdings für gleiche Leistungen erhebliche


Beitragsschwankungen, eine Tatsache, die auch Ruegenberg »problematisch« nannte. So
gab es am 1. 1. 73 immerhin noch 2 Kassen, deren Sätze bei 6,6 bzw. 6,8 Prozent lagen
(Bogen und Deggendorf in der Oberpfalz), während andererseits 5 Kassen 11 Prozent und
mehr erhoben (Hamm 11 Prozent; Herne 11,1 Prozent; Bitburg-Prüm 11 Prozent; Trier
11,2 Prozent; Mannheim 11 Prozent). Zwischen dieser unteren und oberen Grenze
bestanden folgende Abstufungen:

► 10 Kassen zwischen 7,0 und 7,4 Prozent;

► 26 zwischen 7,5 und 7,9 Prozent;

► 41 zwischen 8,0 und 8,4 Prozent;

► 83 zwischen 8,5 und 8,9 Prozent;

► 99 zwischen 9,0 und 9,4 Prozent;

► 77 zwischen 9,5 und 9,9 Prozent;

► 45 zwischen 10,0 und 10,4 Prozent;


► 10 zwischen 10,5 und 10,9 Prozent.

Derart unterschiedliche Beitragszahlungen für nahezu gleiche Leistungen entstehen durch


unterschiedliche Höhen des Grundlohns der Mitglieder, die Krankenstandsziffer, den
Rentneranteil, die Zahl der mitversicherten Familienangehörigen, die Struktur der
regional Versicherten nach Geschlecht, Beschäftigung und Alter ( 6 ).

Ein wesentlicher Faktor ist ferner die Arztdichte. Bei den Betriebskrankenkassen ist die
Spannweite noch erheblich größer. Während am 20

Stichtag, dem 1. 7. 72, im Durchschnitt 7,76 Prozent gezahlt wurden, gab es 2 Kassen, die
nur 4,5 Prozent verlangten, während eine schon 11,4 Prozent erhob. Für annähernd gleiche
Leistungen zahlte eine Versichertengruppe also 2½ mal soviel wie eine andere.

Auch bei den Innungskrankenkassen traten diese Differenzen auf. Der durchschnittliche
Beitragssatz stieg von Januar 1972 bis Januar 1973 von 7,95 Prozent auf 8,53 Prozent. Der
niedrigste Beitragssatz betrug im Januar 1973 6,4 Prozent, der höchste 10,2 Prozent.

Die teuerste aller gesetzlichen Krankenkassen ist die Bundesknappschaft.

Sie verlangt seit dem 1. 10. 72 von pflichtversicherten Arbeitern 11,6 Prozent statt 9,6
Prozent und von Angestellten sogar 12,64 Prozent statt 11,32 Prozent.

Dramatischer noch verlief die Beitragsgestaltung bei den Ersatzkassen für Angestellte. Die
größte der Angestelltenersatzkassen, die Barmer Ersatzkasse, überraschte ihre Mitglieder
binnen zwölf Monaten mit zwei Beitragssteigerungen. Am 1. 8. 72 erhöhte sie drastisch von
8,7 Prozent auf 9,5 Prozent; am 6. Juni 1973 beschloß ihre Vertreterversammlung in Fulda
zum 1. August 1973 eine weitere Erhöhung von 9,5 auf 9,9 Prozent.

Der andere Riese unter den Angestelltenersatzkassen, die DAK, erhöhte zum 1. 1. 73 von
8,7 auf 9,8 Prozent, sie will nach diesem Sprung im Jahr 1973 nach Angabe ihres
Hauptgeschäftsführers Herbert Matysik keine weiteren Erhöhungen vornehmen, wie auch
die Techniker Krankenkasse, die bei 9,3 Prozent liegt, die Kaufmännische Krankenkasse
Halle mit 9,8 Prozent, die Hamburg-Münchener Ersatzkasse mit 9,5 Prozent und die
Hanseatische von 1826 und Merkur Ersatzkasse mit 9,5 Prozent.

Sprecher aller Kassen machten jedoch deutlich, daß ihre Ankündigungen, keine weiteren
Erhöhungen vorzunehmen, mit Vorbehalten zu werten seien (7).

Diese Prozentzahlen gewinnen ein noch plastischeres Bild, wenn die absoluten Größen der
Versichertenbelastung daraus hervortreten.

Die erzielten Einkommensteigerungen werden gegenwärtig von drei Faktoren nicht selten
mehr als aufgezehrt: von steigenden Preisen, vermehrten Steuerabgaben und erhöhten
Sozialbeiträgen. Der Höchstbeitrag der Barmer Ersatzkasse z.B. beträgt seit dem 1. 8. 73
DM 170,87 bei einem Einkommen von DM 1725,-, der Grenze der Beitragsberechnung, die
bei 75 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung liegt (derzeit DM
2300,- durch Erhöhung am 1. 1. 73 von DM 2100,- auf DM 2300,-; dadurch auch Erhöhung
der Krankenversicherungspflichtgrenze von DM 1575,- auf DM 1725,-). Da auch der
Beitrag zur Rentenversicherung am 1. 1. 73 von 17 auf 18 Prozent gestiegen ist, liegt hier
der 21

Höchstbeitrag bei DM 414,-, vordem DM 357,-. Zusammen mit dem


Arbeitslosenversicherungsbeitrag ergeben sich für einen Arbeitnehmer, der DM 1800,-
brutto verdient, Sozialbelastungen in Höhe von rund DM 525,-; ein Arbeitnehmer mit DM
2300,- Bruttoeinkommen, der die Höchstbeiträge zahlen muß, kommt gar auf die Belastung
von DM 623,mit Sozialabgaben. Für ihren Jahresbeitrag zur Krankenversicherung muß
die Mehrheit der Arbeitnehmer einen vollen Monat arbeiten. Gut kommen bei den
derzeitigen Bemessungssätzen im Sozialbereich nur die freiwillig Versicherten davon. Eine
Repräsentativerhebung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, die im
Herbst 1972 veröffentlicht wurde, hat ergeben, was das Düsseldorfer »Handelsblatt« vom
6./7. 10. 72 treffend in die Schlagzeile brachte: »Sekretärin zahlt für die Cheffamilie«.

Die »Rheinische Post« vom 10. 10. 72 führte dazu aus: »Die jetzt bekanntgewordene
Struktur der Mitgliederschaften der Angestellten

Ersatzkassen beweist ... , daß dort die Beitragsgestaltung unsoziale Züge angenommen hat.
Dort zahlen nämlich rund 3 Mill. Ledige (zu 70 Prozent Frauen) mit
versicherungspflichtigen Verdiensten unter (der damaligen Bemessungsgrenze von) DM
1575,- mit für 2,7 Millionen Verheiratete (zu 80 Prozent Männer), deren Verdienste
zwischen 1575 und mehreren tausend DM liegen.«

Während bei den Ortskrankenkassen eine Relation von 19,7 Millionen Pflichtversicherten
mit Angehörigen zu 3,16 Mill. freiwillig Versicherten mit Angehörigen bestand, lag das
Verhältnis bei den Angestelltenersatzkassen, wo die höher verdienenden Angestellten
naturgemäß weit zahlreicher freiwillig versichert sind, bei 5,36 Millionen im
Pflichtversichertenbereich zu 6,41 Mill. im Bereich der freiwillig Versicherten. Umgekehrt
zu diesem Verhältnis des Versicherungsschutzes standen die Beitragseinnahmen aus beiden
Gruppen. Die Pflichtversicherten erbrachten 3,77 Mrd. DM, während aus dem
zahlenmäßig größeren Kreis der Versicherungsschutz genießenden freiwillig Versicherten
nur 3,44 Mrd. aufgebracht wurden - eine Differenz, die sich aus der großen Zahl der
Ledigen bei den Pflichtversicherten und der großen Zahl der Verheirateten bei den
freiwillig Versicherten ergibt. Auf das einzelne versicherte und mitversicherte »Risiko« der
Ersatzkassen umgerechnet betrug die Einnahme je Risiko im Pflichtversichertenbereich
DM 703,-, im Bereich der höherverdienenden freiwillig Versicherten aber nur DM 537,-.
Das »Handelsblatt«

meldete, Mathematiker der privaten Krankenversicherung hätten geschätzt, daß ein


freiwilliges Ersatzkassenmitglied um 70 Prozent teurer sei als ein durchschnittliches Risiko
durch mehr versicherte Familienmitglieder, höheres Alter und durch höhere Ansprüche,
die sich aus dem allgemeinen Lebensstandard ergäben.

22
Die Beitragserhöhungen im Sozialbereich während des Jahres 1973 zehren zumeist an der
Substanz des Lebensstandards von 1972, da die Lohnerhöhungen von 8-10 Prozent nahezu oder
sogar vollständig von den Preiserhöhungen verschlungen werden. Gegenwärtig ist bei der Masse
der Arbeitnehmer nicht nur eine relative Verarmung zu verzeichnen, die seit 1949 in der
Verteilung des Bruttosozialproduktes zugunsten der Selbständigen besteht, sondern sogar eine
absolute. Sie ist der keineswegs selbstverständliche Preis für das Selbstverständliche, die soziale
Sicherung für Arbeitnehmer, an deren Ausmaß keine Abstriche zu machen sind (8).

Mit den enormen Belastungen ihrer Mitglieder sind die finanziellen Probleme der gesetzlichen
Krankenversicherung aber keineswegs gebannt.

Spätestens 1974 stehen weitere Beitragserhöhungen an, trotz der am 1. 1.

74 automatisch steigenden Berechnungsgrenze auf DM 1875,- (vorausgesetzt, es bleibt bei der


Quote 75 Prozent der Rentenversicherung, die 1974 auf DM 2500,- dynamisiert wird), die
Mehreinnahmen für die gesetzliche Krankenversicherung bringt. 1970 wurde die 6wöchige
Lohnfortzahlung auch für Arbeiter geregelt und ging von den Kassen auf die Arbeitgeber über,
was den Kassen für kurze Zeit etwas Luft schaffte (Steigerung der Ausgaben 1970: 4,8 Prozent
gegen 24,1 Prozent im Jahre 1971). Die Prämie für nichtbenutzte Krankenscheine, vom
damaligen Arbeitsminister Katzer eingeführt als Anreiz, nicht mit jeder Bagatelle zum Arzt zu
gehen, war dagegen ein Schlag ins Wasser. Professor Bruno Molitor, Direktor des Instituts für
Verteilungstheorie und Sozialpolitik der Universität Würzburg kommentiert: »Die
Krankenscheinprämie -

10 DM für den nicht genutzten Krankenschein pro Quartal, maximal 30 DM im Jahr - sollte den
Versicherten veranlassen, verstärkt zu prüfen, ob ein Arztbesuch wirklich erforderlich und im
Bagatellfall nicht besser einmal aus der eigenen Tasche zu bezahlen ist. Das Ziel war, das
Sozialversicherungsbudget vor einseitiger Ausnutzung zu schützen und es im Nettoeffekt
dadurch zu entlasten, daß die Einsparung an Arzthonoraren die zusätzliche Prämienzahlung
überwiegt.

Das Experiment muß als gescheitert betrachtet werden. Die Ausgaben der gesetzlichen KV für
ärztliche Behandlung haben 1970 mit 9,5 vom Hundert (vH) und im 1. Halbjahr 1971 mit 25 vH
erheblich stärker zugenommen als in den Vorjahren. Natürlich hat das allein keine Beweiskraft;
der Anstieg hätte ohne Prämienanreiz ja noch größer sein können.

Aber daß die Zahl der eingereichten Krankenscheine je Mitglied zurückging, die
Leistungsanforderungen je Abrechnungsfall dagegen überproportional zunahmen, spricht eine
deutliche Sprache: Eine erhöhte Inanspruchnahme der Krankenkassen wurde auf eine geringere
Krankenscheinzahl konzentriert. So dürften die Prämienzahlungen von 344 Millionen DM

23

allein für 1970 mehr oder minder reine Zusatzausgaben der KV darstellen.

überdies wurde nicht einmal die Hälfte des eigentlich erwarteten Prämiengesamtbetrags in
Anspruch genommen. Und gleichwohl waren, wie vermutet, die Verwaltungsaufwendungen mit
46 Millionen DM unverhältnismäßig hoch.
Eine Rückvergütung paßt eben schlecht zu einem Naturalleistungssystem, auf dem unsere
Soziale KV aufbaut.« (9)

Auch die Kuppelung der Beitragsbemessungsgrenze der Krankenversicherung an die


Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung, die automatisch durch ihre Dynamisierung
Mehreinnahmen bringt, reicht - wie man sieht - nicht aus. Ein Grund: mit der
Beitragsbemessungsgrenze steigt auch automatisch die Leistung, da sich das Krankengeld nach
dieser Grenze bemißt. Mehreinnahmen verursachen also eo ipso Mehrausgaben.

1.3 Die Explosion der Kosten in der GKV und ihre Ursachen

Seit 1970 gibt es für die Krankenkassen keine Verschnaufpause mehr. Die Ausgaben der
gesetzlichen Krankenversicherung steigen erheblich schneller als die Einkommen der
Versicherten oder gar das Sozialprodukt. 1972

lagen die Einkommenerhöhungen bei 9,2 Prozent, die Ausgaben in der Krankenversicherung
stiegen dagegen um 14,3 Prozent, in der Rentnerkrankenversicherung sogar um rund 17 Prozent;
(1971 waren die Steigerungen noch höher gewesen). In absoluten Zahlen sieht die Bilanz fiir
1972 so aus: Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung 34,6 Mrd. DM an Beiträgen
(1971 29,9 Mrd.), Ausgaben 34,7 Mrd. (1971

29,6 Mrd.). 1973 werden die Ausgaben die 40 Mrd.-Grenze überschreiten.

Angesichts der weiter steigenden Kosten, wichtiger weiterer Verbesserungen und der schon
geplanten Ausweitungen des Versicherungsschutzes ist hier kein Ende der Kostensteigerungen
und damit der Beitragserhöhungen abzusehen, es sei denn, der Gesetzgeber schaffe für die
Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung eine wirksame Kontrolle.

Die besonders von den Ersatzkassen geforderte Angleichung der Beitragsbemessungsgrenze der
Krankenversicherung auf das Niveau der Rentenversicherung (gegenwärtig DM 2300,-, 1974
wahrscheinlich DM 2500,-) erschlösse zwar einen neuen Versichertenkreis und würde auch
erhebliche Mehreinnahmen bringen. Der Höchstbetrag stiege bei der BEK von gegenwärtig DM
170,78 auf DM 247,50 im Jahr 1974, also um rund 45 Prozent, vorausgesetzt, der Beitragssatz
von 9,9 Prozent bliebe stabil. Aber es wäre dennoch der Zeitpunkt abzusehen, wo auch diese
finanzielle Atempause vorüber sein würde. Ostern 1973 schrieb der »Rheinische Merkur«

24

völlig richtig: »Die Erfahrung zeigt, daß eine Erhöhung der Pflicht- und der
Beitragsbemessungsgrenzen den Ersatzkassen nur für kurze Zeit finanziell Luft verschafft. Als
Fernziel schwebt ihnen denn auch seit längerem die totale Versicherungspflicht für alle
Angestellten vor. Damit wäre die Eskalation der Versicherungspflicht an ihrem Ende angelangt,
kaum jedoch die Eskalation der Kosten.« Die von der konservativen Zeitung angebotene
Konsequenz zeugt jedoch von Phantasielosigkeit: »Als Ausweg bleibt dann nur noch die
Erhöhung der Beitragssätze.« Um die enormen Kostensteigerungen zu mildern, muß
Grundsätzliches geschehen.

Die Ursachen für die enorme Kostenexplosion bei den gesetzlichen Krankenversicherungen sind
zahlreich. Als die wichtigsten dürfen folgende angesehen werden:

1. Die Weiterentwicklung der Leistungen der Kassen durch den Gesetzgeber verursachte
vermehrte Kosten (Vorsorgeuntersuchungen).

2. Von Vertreterversammlungen beschlossene Leistungserhöhungen schlugen zu Buch


(Zahnersatz, Brillen).

3. Die Finanzierung familienpolitischer Aufgaben reißt zunehmend grö

ßere Löcher in die Kassen. Der Zuschuß des Staates an die Krankenversicherung für
Mutterschaft ist z.B. seit Jahren unverändert und deckt bei weitem nicht mehr die Kosten.

4. Der Beitrag der Rentenversicherung für die Krankenversicherung der Rentner wächst nicht in
gleichem Maße wie die Aufwendungen der Krankenkassen für diese Versicherungsgruppe.

5. Die Zahl der Krankheitsfälle pro Versicherten steigt.

6. Die Kosten der Kassen für Krankenhausleistungen sind stark gestiegen.

7. Die Kosten der ärztlichen Versorgung sind stark gestiegen.

8. Die Kosten der zahnärztlichen Versorgung sind stark gestiegen.

9. Die Arzneimittelkosten sind stark gestiegen.

In dieser Aufstellung sind deutlich einige Zäsuren angebracht. Die unter den Punkten 1 und 2
genannten Ursachen sind Notwendigkeiten und müssen weiterentwickelt werden. Der
Gesetzgeber hat dazu bereits weitere Pläne, so daß in der Zukunft eher mit vermehrten Kosten zu
rechnen ist, für deren Deckung nach dem Urteil des 3. Senates des Bundessozialgerichts in
Kassel vom Juli 1973 übrigens der Bund aufzukommen hat. Im Punkt 3

kann ein angemessener Zuschuß des Bundes die Lücke ausfüllen. 1:1,r zahlt immer noch für eine
Geburt nur den Betrag von DM 400,-, obgleich sie die Kasse durchschnittlich mit DM 3138,-
belastet. Es handelt sich hier um die immerhin bedeutende Summe von rund 1,3 Mrd. DM für
1972, die von 25

den Kassen aufgebracht wurde. Daß zum Defizit des Punktes 4 Reformen nötig sind, haben
inzwischen alle Beteiligten eingesehen. Zur Zeit schreibt das geltende Sozialversicherungsrecht
vor, daß jeder Sozialrentenbezieher zugleich Krankenkassenmitglied ist, unabhängig davon, ob
er freiwilliges Mitglied oder Pflichtmitglied in der Krankenversicherung war.

Der Fehler liegt im Finanzierungsänderungsgesetz vom 21. 12. 1967, in dem festgelegt wurde,
daß die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten Beiträge zur Krankenversicherung der
Rentner zu zahlen haben, die in genauem Verhältnis zu ihrer jeweils gezahlten Rentensumme
liegen sollten. Der Prozentanteil der Abgaben an die KVdR wurden für die
Rentenversicherungsträger auf 10,978 Prozent festgelegt, mit dem 80 Prozent der Leistungen der
KVdR gedeckt sein sollten. Von dieser Regelung war die Bundesknappschaft von vornherein
ausgenommen.

1968 lag der Anteil der Krankenversicherung an der KV dR tatsächlich bei 20 Prozent. Doch da
sich seit diesem Jahr ihre Leistungsausgaben mehr als doppelt so stark erhöht haben wie die
Rentenzahlungen, ist der Krankenversicherungsanteil enorm gewachsen: 1969 auf 23,25 Prozent;
1970 auf 29,57 Prozent und 1971 auf 38,83 Prozent. Für 1973 ist mit einem Anteil der
gesetzlichen Krankenversicherung an der KVdR von ca. 41,5 Prozent zu rechnen.

Besonders benachteiligt sind bei der Umlage die AOK, bei d�nen im Durchschnitt jeweils 2
Mitglieder das Defizit eines Rentners zu tragen haben, während es bei den
Angestelltenersatzkassen immerhin etwa 7 Mitglieder sind. Bei einigen Ortskrankenkassen gibt
es sogar fast ebenso viele Rentner wie Mitglieder (10).

Bei den Leistungsausgaben der Krankenkassen liegen die Rentner naturgemäß an der Spitze. Da
es sich hier um krankheitsanfälligere Menschen handelt, stiegen in der KVdR die Aufwendungen
für Ärzte, Krankenhausbehandlung und Arzneimittel wesentlich schneller als in der allgemeinen
Krankenversicherung; überdies nahm in den Jahren von 1962-1972

die Zahl der Rentner um 50 Prozent zu, während sich die der übrigen Mitglieder nur um rund 6
Prozent erhöhte. Von 1962-1972 stiegen die Leistungsausgaben bei der KVdR um etwa 480
Prozent, die Beitragseinnahmen dagegen nur um rund 350 Prozent, doch schon seit 1962 deckten
sie nicht die Ausgaben. Von 1970 auf 1971 gab es in der allgemeinen Krankenversicherung
Leistungsausgabenerhöhungen von rund 23 Prozent; von 1971 auf 1972 von rund 16 Prozent; in
der KVdR dagegen von 1970 auf 1971 von rund 26 Prozent und 1971 auf 1972 von mehr als 19
Prozent.

Als Kuriosum muß hier die Bundesknappschaft angesehen werden. Wie eme erstaunte
Vertreterversammlung im Juli 1973 in Bochum erfuhr, 26

lagen die Aufwendungen 1972 pro aktives Mitglied der knappschaftlichen Krankenversicherung
bei DM 1702,-, für einen Rentner dagegen bei nur DM 1175,-.

Aber in der KVdR ist bereits an Veränderungen gedacht. Staatssekretär Eicher vom
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung führte vor der Mitgliederversammlung des
Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger am 15. März 1973 in Lübeck aus: »Auch die
Krankenversicherung soll in dieser Legislaturperiode weiterentwickelt werden. Auf unserer
Prioritätenliste für die nächsten Jahre stehen wichtige Fragen, die auch für die
Rentenversicherung und für ihr Verhältnis zur Krankenversicherung von Bedeutung sind. An
erster Stelle muß ich die Krankenversicherung der Rentner nennen. Es hat sich herausgestellt,
daß die aktiven Versicherten der Krankenversicherung einen zu unterschiedlich hohen
Solidarbeitrag aufbringen müssen. Die starken Unterschiede in den Beitragssätzen der einzelnen
Krankenkassen sind nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen.

Hier müssen wir bald zu einer gerechteren Finanzierung kommen.

Verständlicherweise wird in diesem Zusammenhang von der Krankenversicherung immer


nachdrücklicher auf den sinkenden Finanzierungsanteil der Rentenversicherung an der
Rentnerkrankenversicherung hingewiesen.

Die gegenwärtigen und zukünftigen Beitragssatzsteigerungen in der Krankenversicherung


werden zu einem nicht unerheblichen Teil durch diese Belastungsverschiebungen in der
Rentnerkrankenversicherung verursacht.

Eine gründliche Überprüfung der Gesamtproblematik ist deshalb erforderlich, wobei


selbstverständlich die Interessen aller Betroffenen berücksichtigt werden sollen.
Dankenswerterweise haben Selbstverwaltungsorgane der Rentenversicherung und der
Krankenversicherung bereits 1972

diese Frage aufgegriffen und einem gemeinsamen Vorschlag vorgelegt.«

Eicher dürfte hier auf die Arbeit der Gesellschaft für » Versicherungswissenschaft und -
gestaltung e. V.« angespielt haben, die sich in ihren Ausschüssen »Krankenversicherung« und
»Altersvorsorge« ebenfalls mit den Problemen der KVdR gemeinsam mit Vertretern u. a. der
Verbände der gesetzlichen Krankenversicherung und der Rentenversicherung befaßt hatte. Sie
legte ihrer Mitgliederversammlung am 25. Januar 1973 einen

» Vorschlag zu einer Neuordnung der Krankenversicherung der Rentner«

vor, der bei einer Gegenstimme verabschiedet wurde. Darin heißt die entsprechende
Reformpassage: »Bekanntlich ist im Schrifttum nach wie vor umstritten, ob die KVdR eine
originäre Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung oder der gesetzlichen
Rentenversicherung ist, ob sie also systemgerecht entweder allein von den Krankenkassen oder
ganz von den Rentenversicherungsträgern finanziert werden sollte. Angesichts der 27

unterschiedlichen Auffassungen zu dieser Grundsatzfrage geht die Gesellschaft bei ihren


Überlegungen insofern von dem geltenden Recht aus, als dieses eine gespaltene Finanzierung
sowohl durch die Rentenversicherungsträger als auch durch die Krankenkassen vorsieht. Sie ist
jedoch der Ansicht, daß der Finanzierungsanteil der Krankenkassen 20 Prozent keinesfalls
übersteigen soll.« (11)

Die Studie weist dann darauf hin, daß die künftigen »Ausgaben der Rentenversicherung für die
KV dR gegenüber der geltenden Regelung erheblich höher« lägen. Die Auswirkungen wären
folgendermaßen: Bei einem auf 20 Prozent begrenzten Finanzierungsanteil der gesetzlichen
Krankenversicherung hätten die Mehraufwendungen der gesetzlichen Rentenversicherung 1972
1,344 Mrd. DM und 1973 2,144 Mrd. DM betragen. Die Beiträge der Rentenversicherung für
KVdR hätten 1972 13,81 Prozent und 1973 15 Prozent der Leistungen der Rentenversicherung
ausgemacht.

Doch auch diese Kostenprobleme für die Rentenversicherung berücksichtigt der


Reformvorschlag: »Angesichts der Tatsache, daß einerseits die Kosten der KVdR in ihrer Höhe
von keiner Seite beeinflußbar sind, andererseits auch die allgemeine Krankenversicherung sich in
der nächsten Zukunft beträchtlichen weiteren Kostensteigerungen gegenübersieht, ist die
Gesellschaft der Auffassung, daß die bei einem Finanzierungsanteil der Krankenkassen in Höhe
von 20 Prozent erforderlichen Mehraufwendungen von der gesetzlichen Rentenversicherung
getragen werden sollten. Diese wird auch nach dem Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes im
Besitz ausreichend hoher Überschüsse sein, um die voraussichtlich erforderlichen
Mehraufwendungen (für 1973 in Höhe von DM 2,1 Mrd. für einen Zeitraum von 15 Jahren von
etwa 60 Mrd. DM, ohne Berücksichtigung von Zinsen) zu decken. Eine Erhöhung des Beitrages
zur gesetzlichen Rentenversicherung dürfte daher zumindest in den nächsten fünf Jahren nicht
erforderlich sein. Ehe weitere, aber nachrangige sozial- oder finanzpolitische Bestrebungen
verwirklicht werden, sollten künftig vorhandene Überschüsse bei der gesetzlichen
Rentenversicherung vordringlich zum Zwecke der Sanierung der Krankenversicherung der
Rentner verwendet werden.« (12) Ähnliche Reformvorschläge legte im Mai 1973 das

»Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung«, das vom SPD-Finanzexperten Klaus Dieter Arndt
geleitet wird, in einer Studie über die Situation der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Auch
das DIW erklärte, daß die allgemeine Krankenversicherung »ein Defizit in Höhe von 20 bis 25

vH der Leistungsausgaben der KVdR« tragen sollte, die übrigen 75 bis 80 vH müßte die
Rentenversicherung übernehmen. Zugleich schlägt das DIW vor, die Defizite aus der KVdR
zwischen den Kassen entsprechend dem Rentneranteil an der Mitgliederzahl auszugleichen -
allerdings nur 28

diese Defizite, nicht solche, die ihren Grund in »kassenspezifischen Besonderheiten (z.B.
Gewährung höherer Leistungen oder Honorare) haben«, was auf die Angestelltenersatzkassen
zielen dürfte (13).

Aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung verlautete bisher an


Reformgedanken, wie die »Hannoversche Allgemeine« vom 19. 4.

1973 meldete, »daß in Zukunft nicht mehr jeder Sozialrentner automatisch in einer gesetzlichen
Krankenkasse versichert sein soll«. Vielmehr

»wird erwogen, daß fortan nur noch die Rentner auf Leistungen von Pflicht- oder
Ersatzkrankenkassen Anspruch haben, die eine bestimmte Anwartschaft erfüllen«. Auch bei den
Überlegungen des BMAS geht man von einer Entlastung der KVdR auf Kosten der
Rentenversicherung aus.

Sollte diese Regelung kommen - und daran ist kaum zu zweifeln - so darf keinesfalls das
passieren, was der stellvertretende Vorsitzende und Sozialexperte des DGB, Gerd Muhr, zum
Ausdruck brachte; nämlich, daß die

» Vertragspartner der Krankenversicherung«, also in erster Linie die Kassenärztlichen


Vereinigungen, über die Rentnerkrankenversicherung finanziell zusätzlich auch noch die
Rentenversicherung anzapfen können. Da hatte Muhr offensichtlich die Honorarpolitik der
Ärzteorganisationen von 1970/71 vor Augen, als diese sich die durch die Lohnfortzahlung der
Arbeitgeber für Arbeiter bei den Krankenkassen angesammelten Reserven schleunigst durch
erweiterte Forderungen einverleibten.

Im übrigen zeigt ein Vergleich der Ursachen der Ausgabenexplosion bei den gesetzlichen
Krankenkassen, daß der Anteil der KVdR zwar bedenklich und dringend reformbedürftig ist,
gemessen an Steigerungen in anderen Ausgabenbereichen aber nicht der hauptsächlich
kostentreibende Faktor ist, wie aus Gründen des Alibis von seiten der Kassenärztlichen
Vereinigungen behauptet wird.

Ob der unter Punkt 5 für die Kostenexplosion genannte Grund (Ansteigen der Krankheitsfälle)
überhaupt den Tatsachen entspricht, ist umstritten.

Meldungen des Deutschen Industrieinstituts, der niedersächsischen Metallindustrie, des


Hauptgeschäftsführers der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, Wolfgang
Eichler, und der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU zufolge (alle datiert vom Januar 1973)
soll ein Zusammenhang zwischen der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle und der Lust zum
»Blaumachen« unter dem Deckmantel des Krankenscheins bestehen.

Diese Behauptungen wurden sowohl von den Kassenärztlichen Vereinigungen wie auch vom
Deutschen Gewerkschaftsbund zurückgewiesen. Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein
verbreitete am 26. 3. 1973 eine Pressemeldung, in der es hieß:

»In letzter Zeit ist zunehmend Kritik an der Höhe des Krankenstandes 29

geübt worden. Die Krankenstandsentwicklung ist aufgrund objektiver statistischer Mitteilungen


sowohl des Bundesarbeitsministeriums, des Statistischen Bundesamtes als auch der
Krankenkassenverbände regelmäßig und völlig normal verlaufen. Sprunghafte Entwicklungen
waren

· selbst in der Zeit der Grippewelle nicht zu verzeichnen, wenn man Vergleiche mit denselben
Zeiträumen der Vorjahre zieht. Diese Fakten beweisen, daß sich die Hausärzte bei der
Feststellung und Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit sehr wohl ihrer sozialpolitischen
Verantwortung insgesamt gesehen bewußt sind. Behauptungen, die auf ein leichtfertiges
Krankschreiben schließen könnten, werden daher mit Entschiedenheit zurückgewiesen.
Einerseits werden von den Kassenärzten die für sie maßgebenden Bestimmungen bei der
Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit (Bundesmantelvertrag - Empfehlung der Sozialpartner vom
November 1969, einschlägige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts) beachtet und
andererseits wird eine zeitgemäße Interpretation des Krankheitsbildes berücksichtigt. Den
Kritikern sollte allmählich klar werden, daß Krankheitsbegriff und Krankheitsbild auch dem
Wandel der Zeiten unterliegen. Eine Ablösung des derzeitigen Verfahrens bei der Beurteilung
und Feststellung der Arbeitsunfähigkeit oder die Wiedereinführung von Kontrollinstrumenten ist
nicht nur unzweckmäßig, sondern würde einen Rückschritt in der gesundheitspolitischen
Entwicklung bedeuten.«

Im DGB-Nachrichtendienst vom 27. 3. 1973 ist zu lesen: »Scharf zurückgewiesen hat der
Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes die Propagandameldung einzelner
Unternehmen und Wirtschaftsverbände, die von einem alarmierenden Ansteigen des
Krankenstandes in den letzten Jahren sprechen und dafür das Lohnfortzahlungsgesetz
verantwortlich machen.

Die Krankenstandsstatistiken der Krankenkassen beweisen nach Auffassung des DGB eindeutig
das Gegenteil. Aus ihnen geht hervor, daß der Krankenstand seit Einführung des
Lohnfortzahlungsgesetzes in den letzten drei Jahren praktisch stagniert. So betrug z.B. der
Krankenstand der Ortskrankenkassen nach den Statistiken des Bundesverbandes der
Ortskrankenkassen im Jahre 1970 (Einführung der Lohnfortzahlung) 5,19, 1971 5,14 und 1972
5,3 Prozent (vorläufiger Wert). Soweit für die Betriebskrankenkassen vergleichbare Werte
vorliegen, betragen sie für 1970 7,02, 1971 7, 1 und 1972 7, 18 Prozent. Abgesehen von den auf
unterschiedliche Erfassungsmethoden sowie unterschiedliche Risikostrukturen zurückgehenden
Unterschieden zwischen beiden Kassenarten geht aus diesen Zahlen eindeutig hervor, daß der
Krankenstand in den letzten Jahren praktisch gleich blieb, so daß die Zweckmeldungen vieler
Arbeitgeberverbände, die den Arbeitnehmern eine zurückgehende Arbeitsmoral unter-30

stellen, als unseriöse Neuauflage alter Widerstände gegen das Lohnfortzahlungsgesetz


gewertet werden müssen ... Bevor einzelne Arbeitgeberverbände Feststellungen zur
Arbeitsmoral der Arbeitnehmer treffen, sollten sie das Anwachsen der Krankenstände in
einzelnen Unternehmen -

welches auch früher immer zu beobachten war - auf innerbetriebliche Ursachen hin
klären.«

Mit diesen vom DGB genannten Zahlen stimmen die offiziellen Angaben der
Ortskrankenkassen überein; nach der letzten großen Statistik vom 1.

1. 73 lag der Krankenstand zu dieser Zeit bei 5,27 Prozent (14).

Im übrigen müßte auch von den Arbeitgebern ein etwas steigender Krankenstand
anerkannt werden, denn die Vorstellung von dem, was »Krankheit« ist, hat sich sehr wohl
gewandelt und um die auf psychosomatischen Ursachen beruhenden Bereiche erweitert;
zudem ist bekanntlich das

»Gesundheitsbewußtsein« gestiegen. Ferner gibt es Vorsorgeuntersuchungen, die bei aller


Unvollkommenheit den Krankenstand erhöhen können.

Die großen Kostensteigerungen, verursacht von der unter den Punkten 6, 7, 8 und 9
genannten Größen, sind anders als Punkt 5 völlig unbestritten und liegen in blanken
Zahlen vor (15 ). So stiegen die Kosten für die Krankenhausbehandlung von DM 1,568
Mrd. im Jahre 1960 auf DM 9,350

Mrd. im Jahre 1972, das sind knapp 500 Prozent. 1971 betrug die Steigerungsrate 27,3
Prozent, 1972 22,2 Prozent und 1973 wird sie ebenfalls auf rund 20 Prozent der
Gesamtausgaben und DM 11,2 Mrd. geschätzt. Das DIW führt dazu aus: »Aussdilaggebend
war hierfür die stetige Anhebung der Krankenpflegesätze, die insbesondere zur Deckung
der rasdi wadisenden Personalkosten erforderlidi war. Diese stiegen nidit nur als Folge der
allgemeinen Einkommensentwicklung, sondern audi aufgrund einer überdurdischnittlidien
Personalausweitung im ärztlidien und pflegerisdien Bereich. Von 1961 bis 1971 nahm die
Zahl der hauptamtlidien Krankenhausärzte um über 70 Prozent zu, während sich die Zahl
der Krankenhausbetten nur um 17 Prozent erhöhte.« (16) Die Ausgaben für ambulante
ärztliche Behandlungen stiegen von DM 1,874 Mrd. 1960 auf DM 7,550 Mrd. 1972. 1973
werden es DM 8,3

Mrd. sein. Auch dazu das DIW: » Von 1962 bis 1972 sind damit die Durchschnittsumsätze
der Kassenärzte jährlich um annähernd 13 vH
gestiegen.« (17)

Die Ausgaben für zahnärztliche Leistungen stiegen von DM 436 Millionen 1965 auf 2,25
Mrd. 1972. Für 1973 werden Ausgaben von 2,5 Mrd.

erwartet.

Die Kosten für Arzneimittel stiegen von 1960 bis 1972 von 1,093 Mrd. auf DM 5,690 Mrd.,
das sind rund 420 Prozent. 1971 stiegen sie um 17,7 Pro-31

zent, 197' um 14,5 Prozent und für 1973 wird ein weiterer Anstieg von 15 Prozent
geschätzt.

Außer diesen Zäsuren nach modalen Gesichtspunkten sei noch eine große Zäsur zwischen
profitfreien und profitbefriedigenden Kosten gezogen; sie trennt die Ausgaben für Ärzte,
Zahnärzte und Arzneimittel von allen übrigen Leistungen. Zu den Punkten 1-6 sind den
Krankenkassen Dekkungslücken bei Leistungen entstanden, deren Höhe wenig gesenkt
werden kann und für die ein Ausgleich gefunden werden muß.

Dagegen sichern die Kosten der Punkte 7, 8 und 9 den Leistenden einen hohen Profit auf
Kosten der Versicherten. Es wird daher zu untersuchen sein, ob hier nicht untragbare
Verhältnisse bestehen, die dringend einer Reform bedürfen.

Methodisch scheint damit für diese Studie ein weiteres Vorgehen angebracht, das im
Interesse der Sozialversicherten die Einkünfte der Ärzte sowie die Profite der
Pharmazeutischen Industrie und Apotheken durchleuchtet, um sodann auch das so hohe
Kosten verursachende Krankenhaus auf Reformmöglichkeiten in Bezug auf bessere
Krankenversorgung und Kostenersparnis zu untersuchen.

Zuvor aber ist ein Blick ins eigene Haus der gesetzlichen Krankenversicherung geboten, wo
möglicherweise auch die optimale Nutzung der Beitrags-gelder zu wünschen übrig läßt.

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32

2. Reformprobleme

der gesetzlichen Krankenversicherung

2.1 Kritik des gegenwärtigen Krankenversicherungssystems

Das System der gesetzlichen Krankenversicherung in der Bundesrepublik ist zersplittert,


seine für einen Laien oft verwirrende Vielfalt an Möglichkeiten, sich im Falle einer
Krankheit absichern zu können, wird in anderen westlichen Ländern (Italien, Schweden,
England) nicht für sinnvoll gehalten. Nur in Westdeutschland selbst halten es so
unterschiedliche Lager wie etwa die .Krzteorganisationen und die Deutsche Angestellten
Gewerkschaft (DAG) für das beste in der Welt.

Diese Urteile entlarven sich allerdings als stark an die Interessen bestimmter Gruppen der
Gesellschaft gebunden. Die niedergelassenen .Krzte, das war aus den immensen Zahlungen
der Kassen an sie schon zu ersehen, profitieren erheblich von der Zersplitterung; die DAG
sieht sich als ausschließliche Interessenvertreterin eines Teiles der Lohnabhängigen,
nämlich der Angestellten, auch nur jenen Krankenkassen verbunden, die Angestellte
versichern - und das sind in erster Linie die Angestelltenersatzkassen. Ihre prinzipielle
Apologetik des bestehenden gesetzlichen Versicherungssystems soll den Ersatzkassen ihre
Eigenständigkeit bewahren, die von ihnen oft betont wird.

Wo so viele interessengebundene Verteidiger des Bestehenden zu finden sind, muß es auch


Kritik geben, ebenfalls interessengebundene oder sogar objektive. Von letzterer Art dürfte
die des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Walter Arendt sein, der von mehr
als nur einseitigen Kriterien auszugehen hat. In einer Rede vor der Vertreterversammlung
des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen (BdO) führte Arendt am 14.

November 1972 in Baden-Baden unter anderem aus: »Ein gegliedertes


Krankenversicherungssystem läßt sich nur dann rechtfertigen, wenn der Versicherte bei
jeder Kassenart grundsätzlich gleiche Rechte und Pflichten hat. Die zum Teil erheblichen
Beitragsunterschiede, selbst innerhalb einer Kassenart, müssen überwunden werden. Ohne
eine gerechtere Risikoverteilung wird das soziale Element der gesetzlichen
Krankenversicherung in Frage gestellt. Die Selbstverwaltung hat dabei die Aufgabe, aus
eigener Kraft eine neue leistungsfähigere Struktur der Kassen zu entwickeln. Sie 33

ist dabei von den Arbeitgebern und Gewerkschaften, die für Selbstverwaltung politisch
verantwortlich sind, zu unterstützen.« (1) So zurückhaltend diese kritischen Töne gewählt sind,
so unüberhörbar sind sie - auch in den Worten von Arendts Parlamentarischen Staatssekretär
Helmut Rohde: »Gerade in einem gegliederten System der sozialen Sicherung müssen die
Grundsätze der Gerechtigkeit der gleichen, fairen Bedingungen beachtet werden.« (2) Es ist in
der Tat unerträglich, daß innerhalb ein- und derselben Kassenart stark differierende Beitragssätze
zu entrichten sind. 1\hnliche soziale Ungerechtigkeiten bestehen ferner für die Versicherten
verschiedener Kassen innerhalb der GKV. Das wird allein bei einer vergleichenden Betrachtung
der Altersstruktur von Mitgliedern, etwa der Allgemeinen Ortskrankenkassen und der
Angestelltenersatzkassen sichtbar. Während im Oktober 1972 bei den Ersatzkassen 54 Prozent
der Mitglieder (ohne Rentner) unter 35 Jahre alt waren, lag der Anteil dieser Altersgruppe bei
den AOK lediglich bei 45 Prozent, bei den Betriebskrankenkassen sogar bei 42 Prozent. Noch
ungünstiger wird die Mitgliederstruktur für die RVO

Kassen bei Einbeziehung der Rentner in den Vergleich. Das DIW spricht in diesem
Zusammenhang von einem »erheblichen« Strukturvorteil der Ersatzkassen (3). 1971 waren von
den 16 145 000 Versicherten der Ortskrankenkassen 5 245 000 Rentner, das ist ein Anteil von
gut 32 Prozent; von den 7 655 000 Versicherten der Angestelltenersatzkassen dagegen waren nur
909 000 Rentner, das macht einen Anteil von nur knapp 12 Prozent aller Versicherten ( 4 ).

Solche unterschiedlichen Strukturen stellen den sozialen Charakter der GKV völlig infrage, denn
aus dem differierenden Gewicht der verschiedenen Altersgruppen ergeben sich naturgemäß
verschiedene Qualitäten an Aufwendungen, die sich bei den Ersatzkassen mit ihrer günstigen
Risikostruktur in erhöhter Qualität des Leistungsangebots ausdrücken kann. So zahlen die
Ersatzkassen für Angestellte in der stillschweigenden, aber sicheren Erwartung einer
bevorzugten Behandlung ihrer Mitglieder den niedergelassenen Ärzten höhere Honorare als die
AOK. Das DIW stellte dazu fest: »Erheblich stärker differierten 1971 die durchschnittlichen
Aufwendungen für Behandlung durch Arzte, zwischen Orts-, Betriebs- und Ersatzkassen. Sie
lagen für Ersatzkassen bei der aKV um 28 vH und bei der KVdR um 37 vH über denen der
Ortskrankenkassen.« (5) Diese Großzügigkeit ist nur schlecht mit den schwierigen
Kostenproblemen auch der Angestelltenersatzkassen in Obereinstimmung zu bringen, deren
Versicherten erhebliche Beitragssteigerungen nicht erspart blieben.

Trotz nahezu gleicher Beiträge zu den Kassen (mitunter sogar höherer bei v0rschiedenen
Ortskrankenkassen und anderen gesetzlichen Krankenkas-34

sen) genießen die Versicherten der Ersatzkassen für Angestellte Privilegien gegenüber den
Versicherten der gesetzlichen RVO-Krankenversicherung, die ihnen zwar gegönnt seien, aber
mit dem Geiste eines sozialen Versicherungswesens nicht vereinbar sind .. Der übertritt von
einer R VO-Versicherung zur Ersatzkasse, wo für den gleichen Beitrag höhere Leistungen
angeboten werden, ist für die meisten Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung nicht
möglich, da die Ersatzkassen für Angestellte eben nur diesem Berufskreis offenstehen. Solche
soziale Exklusivität, die Arbeitern ihr gutes Geld effektiv weniger wert sein läßt als Angestellten,
setzt hinter die »soziale« Zielsetzung der GVK ein weiteres Fragezeichen. In diesem Sinne
erklärte Günther Wollny am 18. Mai 1973 im Bayerischen Rundfunk: »Was fangen wir in 20
Jahren mit jenen Resten von Klassenversicherung an, die unseren sozialen
Sicherungsinstitutionen wie die Eierschalen aus der Entstehungszeit noch anhängen? Es
erscheint nicht glaubhaft, daß auch in der nächsten Generation der schräge Blick von heute noch
zieht, ob nicht der Nachbar im Wartezimmer mit einem besseren Krankenschein überholt werden
kann. Bisher hat die Selbstverwaltung in allen Versicherungszweigen mit leisen Mitteln vieles
praktisch erproben lassen, ehe noch der Gesetzgeber den Mut fand, sich aufs Neuland zu wagen.
Will die Selbstverwaltung hier - bei den Klassenresten der Vergangenheit - schamhaft
wegblicken, weil es ins eigene Fleisch schneiden wird?«
2.2 Regionale Neugliederungen bei den AOK
Ein Weg, zu gerechteren Verhältnissen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu gelangen, ist
zweifellos der Ausgleich des Beitragsgefälles innerhalb eines Kassenverbandes. Dazu äußert sich
Arbeits- und Sozialminister Arendt im November 1972 in Baden-Baden vor den AOK-
Vertretern: »Eine Grundlage für Neugliederungen bieten die .Anderungen von
Gebietskörperschaften.« (6) In diesem Bereich haben die Allgemeinen Ortskrankenkassen auch
bereits begonnen, mehr Gerechtigkeit zu schaffen.

Die Ergänzung des § 226 der Reichsversicherungsordnung um einen Absatz, der die Bezirke der
Ortskrankenkassen den Grenzen der Gebietskörperschaften anzupassen fordert, übt bei diesen
Korrekturen einen sanften Zwang aus. So wurde schon im Februar 1973 aus Rheinland-Pfalz
gemeldet, innerhalb der Arbeitsgemeinschaft der pfälzischen Ortskrankenkassen werde es bis
Ende 1974 nur noch 8 statt 14 Kassen geben, darunter fällt der Zusammenschluß der AOK von
Pirmasens und Zweibrücken.

Auch eine Vereinigung der AOK von Ludwigshafen, Frankenthal und Speyer zu einer AOK
Vorderpfalz am 1. 10. 1974 ist bereits beschlossene 35

Sache; dabei kommt es zu einem Ausgleich zwischen Beitragssätzen von 9,8 Prozent in
Ludwigshafen, 9,4 Prozent in Speyer und 9 Prozent in Frankenthal.

Auch in Baden-Württemberg sind die ersten Schritte zu AOK-Gebietsreformen gemacht. Nach


Plänen aus dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung sollen die bisher 88
Ortskrankenkassen zu 38 verbleibenden zusammengeschlossen werden.

In Baden-Württemberg scheint diese Reform besonders nötig, wie der Vergleich mit Bayern
zeigt: den 88 baden-württembergischen Ortskrankenkassen stehen im größeren Nachbarland
lediglich 41 gegenüber.

Das sind zwar erst bescheidene Anfänge der Rationalisierung, aber für weitere und vor allem
diesen Rahmen sprengende Fusionen steht erst jetzt alles offen. Symptomatisch mag für diese
Perspektive die im Mai 1973

gestellte Forderung des SPD-Unterbezirksparteitags Kassel-Land sein, eine einheitliche AOK für
Hessen zu bilden, ein Plan, der auch vom hessischen Sozialminister Dr. Horst Schmidt
unterstützt wird. Dieser erklärte, es könne nicht hingenommen werden, daß die Beiträge der
Allgemeinen Ortskrankenkassen in Hessen zwischen 7,5 und 10 Prozent schwankten (7).

Einheitliche AOK in den Bundesländern wären - gemessen an den heutigen Verhältnissen -


schon ein großer Fortschritt, dennod1 sollte eine Bundes-AOK bereits jetzt ins Auge gefaßt
werden. Erst bei solchen Konzentrationen werden moderne Rationalisierungsmethoden im
Verwaltungsbereich voll wirksam. Günther Wollnys Stoßseufzer vom 18. Mai 1973 im
Bayerischen Rundfunk zielt darauf hin: »Neben der entscheidend wichtigen Teuerung aller
Gesundheitsgüter stellen sich auch Organisationsfragen, die die Selbstverwaltung unmittelbar
angehen: Noch immer fast 2000
Krankenkassen und den Computer bereits vor der Tür! Das kann nicht so bleiben.« Der
Marburger Kongreß »Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt« sprach gar von einer
»chaotischen Organisation« im Krankenversicherungswesen von heute, deren
Verwaltungskosten doppelt so hoch seien wie z. B. in der Einheitssicherung der DDR (8).

2.3 Plädoyer für die Einheitsversicherung

Aber auch eine Vereinheitlichung im Bereich der Ortskrankenkassen würde das umfassendere
Problem immer noch nicht lösen: die ungerechtfertigten Differenzen zwischen den Leistungen,
die verschiedene Kassensparten, so AOK und Ersatzkassen, ihren Mitgliedern gewähren. Hier
gibt es wohl nur zwei Reformmöglichkeiten: die unvollkommene wäre ein 36

Finanzierungsausgleich zwischen den Kassen, die konsequente die Hereinbringung aller


Krankenkassen in eine einheitliche Krankenversicherung.

Diese Versicherung allein könnte die gleichen Beitragsleistungen für alle und die gerechte
einheitliche Relation zwischen Beitrag und Leistung für jeden Versicherten herstellen.

Diese Krankenkasse müßte überdies für jeden Versicherungswilligen offenstehen, wobei


Höherverdienende entsprechend ihrem Einkommen einen angemessenen Beitrag zur
Solidargemeinschaft beizutragen hätten.

Schon heute erhebt sich die Frage, ob es angesichts der steigenden Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung überhaupt sozial ist, bestimmte Gruppen vom Schutz der gesetzlichen
Krankenversicherung auszuschlie

ßen. »Des Nachdenkens wert« - so der Titel des Aufsatzes - fand jedenfalls Fritz Tervooren
folgende Überlegungen, die er im Organ des Bundesverbandes der Innungskrankenkassen »Die
Krankenversicherung« vom Februar 1973 dargelegt hat: »Mit jeder neuen Leistung, die zu
gewähren den Krankenkassen aufgetragen wird, verstärkt sich, und zwar gleichsam den
Zwangsläufigkeiten eines Naturgesetzes folgend, der Sog, der von der GKV ausgeht. Und dieser
Sog wiederum wirkt um so stärker, als er zugleich permanent nach drei Seiten hin ausstrahlt: Auf
der einen Seite läßt jede neue Leistung die GKV für diejenigen, die ihr noch nicht angehören,
attraktiver und begehrenswerter werden und potenziert damit deren Wunsch, ihr beitreten zu
können. Auf der anderen Seite läßt jede neue Leistung bei denen, die in der GKV versichert sind,
aber mit ihrem Einkommen in hohe und höchste Kategorien hinein, und damit über die
Versicherungspflichtgrenze hinauswachsen, die Neigung geringer werden, zur privaten
Krankenversicherung überzuwechseln. Schließlich aber nähern wir uns mit jeder neuen Leistung
immer mehr dem Punkt, an dem sich dem Gesetzgeber ernsthaft die Frage stellt, ob und wie
lange es angesichts der Gleichheitspostulate des Grundgesetzes noch vertretbar ist, einen so
umfassenden und vorteilhaften Versicherungsschutz, wie ihn die GKV bietet, bestimmten
Personengruppen vorzuenthalten. Oder anders ausgedrückt: Je nachdem, wie der
Leistungskatalog der Krankenkassen eine Ausweitung erfährt, wird der Gesetzgeber eines
näheren oder ferneren Tages zu prüfen haben, ob die soziale Gerechtigkeit es nicht zwingend
gebietet, allen Bürgern unseres Landes, die noch außerhalb der GVK stehen, zumindest die
Möglichkeit zu öffnen, ihr freiwillig beizutreten, und zwar ohne Rücksicht auf die
Einkommenslage der einzelnen.«
In der Tat spricht alles dafür, eine Einheitsversicherung für alle Bürger zu bilden. Im Mittelpunkt
des gesamten Gesundheitssystems hat der Mensch zu stehen. Er soll im Krankheitsfall das hohe
Gut der Gesundheit zurückgewinnen. Hier kann es nur eine adäquate ärztliche Leistung geben,
und 37

diese wiederum verdient eine einheitliche Honorierung, die nur von einer einheitlichen
Kasse geleistet werden kann. Das gegenwärtige differenzierte Krankenkassensystem
spiegelt den Klassencharakter der Gesellschaft selbst noch unter den Sozialversicherten im
Wartezimmer wieder. Hier sei auf die Krankenhausreform hingewiesen, die mehr und
mehr der Erkenntnis Rechnung trägt, daß die Zementierung von Klassenschranken einer
zukunftsorientierten Gesellschaft unwürdig ist und im Krankheitsfall dem Ziel aller
ärztlichen Bemühungen, der Heilung, zuwiderläuft. Ein Gleiches gilt für den ambulanten
Sektor des Gesundheitswesens, in dem wegen der dort zu gewinnenden Profite
humanistische Prinzipien schwerer als im stationären Bereich durchzusetzen sind.

Für die Qualität der medizinischen Leistungen im Krankheitsfalle liefern die gesetzlichen
Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung eine durchaus vernünftige Basis. Der
RVO-Paragraph 368 c besagt: »Der Versicherte hat Anspruch auf die ärztliche
Versorgung, die zur Heilung oder Linderung nach den Regeln der ärztlichen Kunst
zweckmäßig und ausreichend ist.« Diese Formulierung enthält das Recht des
Sozialversicherten auf eine den modernen wissenschaftlichen Erkenntnisssen
entsprechende hinreichende ärztliche Behandlung; sie schließt aus, was überflüssig ist und
niemanden nützt: »Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig und
unwirtschaftlich sind, kann der Versicherte nicht beanspruchen, der Kassenarzt darf sie
nicht bewirken oder verordnen; die Kasse darf sie nachträglich nicht bewilligen.« Auf
nicht notwendige Maßnahmen zur Heilung wird - was die ärztliche Leistung angeht - jeder
Patient gern verzichten, und der Begriff des Unwirtschaftlichen wird relativiert durch das
Recht des kranken Menschen auf zweckmäßige und ausreichende ärztliche Versorgung:
Gibt es zwei gleichermaßen effiziente therapeutische Wege von unterschiedlichem
Aufwand, so ist nicht einzusehen, warum nicht der preiswertere eingeschlagen werden soll.
Verlangt werden muß für alle Fälle, daß in dubio die R VO-Bestimmungen extensiv
ausgelegt werden.

Interessanterweise sind die Ärzteverbände und ihre Repräsentanten der Ansicht, es gäbe in
unserem Gesundheitswesen keine Klassenbehandlung.

So erklärte der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Muschallik: »Es gibt


kein ärztliches Handeln, das nach arm und reich unterscheidet.« Seine Begründung: » ...
der Arzt, mit dem individuellen Krankheitsgeschehen konfrontiert, sieht den einzelnen
Menschen unabhängig von dessen Geldbeutel.« (9) Unterstellt man, diese ideologische
These entspreche der Wahrheit, so erhebt sich die große Frage, warum die gleiche ärztliche
Leistung verschieden honoriert wird. Wenn es keine Zwei- und Mehrklassenmedizin 38

gibt, wie sogar der Geschäftsführer des Verbandes der privaten Krankenversicherungen,
Dr. Christoph Uleer, behauptet (10), so stellt sich logisch die Frage, wieso die AOK den
Satz X, die Ersatzkassen den Satz X + 20 Prozent und der Privatpatient gar einen
Phantasiesatz X + n Prozent an einen Arzt zahlen, der den Patienten aller drei Kategorien
die gleiche sorgfältige Behandlung angedeihen läßt.

Im Gegensatz zu Muschallik gibt es allerdings auch Stimmen aus der

.Ärzteschaft selbst, die bestätigen, daß es dem kranken Menschen gegen

über unterschiedliche Leistungen des Arztes gibt. Da verteidigt der Verband der
niedergelassenen Ärzte Deutschlands das gegliederte Krankenversicherungssystem mit
dem Argument: »Es erlaubt der Selbstverwaltung der Kassen, die Leistungsgestaltung den
Bedürfnissen des jeweiligen Versichertenkreises anzupassen.« (11) Man staunt, denn das
einzige Bedürfnis der Versicherten aller Kassen im Krankheitsfalle ist, auf schnelle und
wirksame Weise vom behandelnden Arzt zur Genesung gebracht zu werden, eben das, was
gesetzlich in der RVO gesichert ist. Wo bleibt noch Raum für zusätzliche Bedürfnisse? Der
NAV fährt dann fort: »Dabei profitieren vor allem die Angestellten vom Wettbewerb der
Krankenkassen.« Diese Feststellung offenbart ein unterentwickeltes humanistisches
Bewußtsein, das dem oft beschworenen Ethos des ärztlichen Standes diametral
entgegensteht. Ganz abgesehen von dem gewiß nicht unwichtigen ökonomischen Faktum,
daß die Arbeiter an ihre Kassen einen prozentual ebenso hohen Beitragssatz zahlen wie die
Angestellten, ja einen relativ höheren als die von der gegenwärtigen Regelung am meisten
profitierenden höheren Angestellten, ist die indirekte Bestätigung einer bevorzugten
Behandlung der Angestellten ein moralischer Skandal. Das Bild des Arztes als Krämer
wird lebendig: für ein paar Prozent Honorar mehr gewährt er ein paar Prozent mehr
Leistung. Wenn im »Niedersächsischen .Ärzteblatt«

vom 7. 1. 73 geargwöhnt wird, nach Arendts Andeutungen für Reformen würde »den
Kassen . . . jeder Spielraum für ein unterschiedliches Leistungsangebot genommen«, wobei
ja wohl primär ärztliche Leistungen gemeint sind, so drängt sich die Frage auf, ob ärztliche
Kunst nach dem neuesten wissenschaftlichen Stand, wie sie die R VO fordert, eigentlich
teilbar und für RVO-Patienten teilweise unterschlagbar ist. Oder stimuliert ein höheres
Honorar das ärztliche Vermögen zu heilen über das zweckmäßige Maß hinaus? Das
Angebot verschiedener ärztlicher Leistungen bei gesetzlicher Garantie zweckmäßiger und
ausreichender Leistungen kann überdies nur bedeuten, daß der Arzt unwichtige oder gar
überflüssige Maßnahmen am Patienten vornimmt - denn eine andere verbleibende
Möglichkeit, verschiedene Leistungen anzubieten, ist nicht vorstellbar.

39

Daß auch die Deutsche Angestelltengewerkschaft neuerdings Quasi

Privatbehandlung für die Sozialversicherten fordert, entbehrt nicht der sozialen Pikanterie. In
ihrem Memorandum vom Frühjahr 1973 fordert die DAG die Ausweitung des
Kostenerstattungsprinzips auf alle Sozialversicherten.

Dieser DAG-Vorschlag fand bei den niedergelassenen Ärzten naturgemäß Zustimmung, denn er
würde ihnen höhere Einnahmen aus dem Kreis der Sozialversicherten erschließen, für die bisher
nur seitens der Kassen abgerechnet wurde. Eine NA V-Stellungnahme vom 11. 4. 73 auf das
DAG
Memorandum erklärt denn auch: »Ganz entschieden setzt sich der NAV

für die Forderung der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft ein, allen Sozialversicherten das
Recht zu gewähren, sich auf Krankenschein privat behandeln zu lassen.« Mit der Einführung des
Quasi-Privatpatienten in die soziale Krankenversicherung bestätigen die betreffenden Kassen,
daß ihre Versicherten von den Ärzten eine geringere Leistung erhalten als Privatpatienten. Sie
stützen damit die Auffassungen jener, die eine Zwei

Klassen-Medizin in unserem Gesundheitswesen konstatieren, und sie liefern den privaten


Krankenversicherungen nebenbei Argumente für eine Privatversicherung an die Hand. Selbst das
»unabhängige Fachorgan für die Versicherungspraxis«, die »Zeitschrift für
Versicherungswesen« weist in Nr. 6/73 auf diese Fehlentwiddung der gesetzlichen
Krankenversicherung hin: »Das Wahlrecht für GKV-Versicherte, auf Krankenschein oder privat
zum Arzt zu gehen, bedeutet eine liberale, die Freizügigkeit erweiternde Variante in der
Sozialversicherung ... Auch räumt die GKV mit diesem Wahlrecht ungewollt ein, daß es eine
ambulante ärztliche Behandlung Erster und Zweiter Klasse gibt. Es liegt darin sogar eine
Werbung für den Gedanken der Privatversicherung.«

Es bleibt noch eine Betrachtung der Klassenbehandlung zwischen Privatpatienten und


Sozialversicherten allgemein. Dr. Uleer, Geschäftsführer des Verbandes der privaten
Krankenversicherungen, behauptet in Heft 1/73

von »Arbeit und Sozialpolitik«: »Es gibt keine Zwei-Klassen-Medizin!«

Er begründet diese für private Krankenversicherungen auf den ersten Blick geschäftsschädigende
Aussage mit der Verlagerung des Klassencharakters im Gesundheitswesen von der
medizinischen Versorgung - wo Uleer ihn leugnet - in den atmosphärischen Bereich:
»Charakteristika für die Privatbehandlung sind Leistungen, die dem Servicebereich zugerechnet
werden können«. Dazu führt Uleer an: »Genannt sei erleichterte Zeitdisposition bei ambulanter
Behandlung, die vor allem für selbständig Tätige von großer Bedeutung sein kann. Weiter die
Wahl von Sonderkomfort und des Arztes des eigenen Vertrauens auch im Krankenhaus.«

Uleer erkennt offenbar nicht, welch einen Affront gegenüber den Sozial-40

versicherten diese zeitliche Bevorzugung bedeutet. Bei einer vom Hartmannbund veranlaßten, im
April 1973 von den Tübinger Wickert-Instituten durchgeführten Meinungsumfrage wurde die
Frage: »Mußten Sie bei Ihrem letzten Arztbesuch lange warten?« von 53 Prozent der Befragten
bejaht, von 20 Prozent verneint. Man darf annehmen, daß es sich bei der ersten Gruppe
überwiegend um Sozialversicherte, bei der zweiten überwiegend um Privatpatienten handelt.
Zurückgestoßen fühlt sich der Sozialversicherte auch im Krankenhaus gegenüber den
Privatpatienten. Das erklärt sich hauptsächlich aus der Tatsache, daß die Chefärzte ihre Zeit in
einer für die Sozial pa tien ten diskriminierenden Weise zugunsten der Privatpatienten
aufzuteilen pflegen. Dies bekräftigt nur das gesellschaftliche Bedürfnis nach sdmellen Reformen
im Krankenhaus wie im Versieh erungswesen.

Schließlich glaubt Uleer »bei Selbstzahlern häufig eine aktivere Mitarbeit im Gesundungsprozeß
bei langdauernden, vor allem psychosomatischen Krankheiten« feststellen zu können. Diese
Feststellung - sollte sie zutreffend sein - ist nicht verwunderlich angesichts der unterschiedlichen
Behandlung im traditionellen Krankenhaus oder in der ärztlichen Praxis, wo objektive
Diskriminierungen gerade bei langdauernden, und vor allem bei psychosomatischen Krankheiten
die Genesung verzögern. Erstaunlich dagegen ist die abstrakte Notierung dieser von
gesellschaftlichen Mißständen zeugenden Tatsache und ihre unreflektierte Ausnutzung für
privatversicherungsorientierte Konsequenzen, die das verbreitete übel nur mehren können.

Schlimmeres aber nod1 impliziert eine andere Folgerung Uleers aus der aktiveren Mitarbeit von
Privatpatienten beim Gesundungsprozeß. Der Privatdozent Dr. Wesiak, auf den Uleer sich
beruft, konstatiert dieses Phänomen aus guten Gründen bei den betont langwierigen Krankheiten.

Uleer dagegen entnimmt ihm das pauschale Urteil: »Offenbar ist eben die Motivation des
Selbstzahlers oft anders als die des GVK-Mitgliedes.«

Zumindest untersd1wellig wird damit auf das Vorurteil angespielt, der Arbeitnehmer sei dank
sozialer Sicherung auf das »Krankfeiern« aus. Und überzeugt von dieser Unterstellung rät er den
gesetzlichen Krankenkassen, das Selbstzahlerverfahren als »Modell möglicherweise auch für
Reformen in der GVK« zu sehen.

Wir möchten aus dem gerade auch durch die privaten Krankenversicherungen im
Gesundheitswesen zementierten Klassencharakter eher die anderen Konsequenzen ziehen: daß in
einer Gesellschaft, der die Attribute sozial und gerecht zustehen, die privaten Versicherungen
aufzulösen oder in die Einheitsversicherung einzubringen sind. Die Befürchtung, dann käme es

»zu einer Trennung von Krankenhäusern minderer Qualität für Kassen-41

patienten einerseits und hochqualifizierten Privatkliniken für Selbstzahler andererseits« (Uleer),


ist durch Reformkrankenhäuser wie Herdecke/Ruhr oder Neustadt bei Hannover widerlegt.
Zudem wird eine sozial bewußte Gesetzgebung hier reformerisch eingreifen müssen, damit jene
Ärzte, die es zum großen Geld der Privatzahler in die Privatkliniken drängt, daran erinnert
werden, daß ihre teure Ausbildung von der gesamten Gesellschaft und vornehmlich von den
Kassenpatienten finanziert worden ist. Daraus ergibt sich eine soziale Verpflichtung, der sich zu
entziehen gesetzlich unmöglich gemacht werden sollte.

Die von Dr. Uleer vorgetragene Empfehlung an die gesetzlichen Krankenkassen, die
Versicherten an den Behandlungskosten zu beteiligen, dürfte sich in den gesundheitspolitischen
Auffassungen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände wiederfinden, die im
Herbst 1973

veröffentlicht werden sollen. Solche Pläne, die das Prinzip der Kostenerstattung und der
Selbstbeteiligung durchsetzen wollen, hat ein Sprecher des DGB-Bundesvorstandes bereits
»hart« abgelehnt, weil »nur der Grundsatz der Sachleistung garantieren« könne, »daß der
medizinische Fortschritt allen zugute komme« (12). Denn es kann gar kein Zweifel daran
bestehen: die Klassenmedizin würde einen noch ausgeprägteren Charakter annehmen, wenn die
Genesung der Kranken abhängig gemacht würde von seiner Finanzkraft. In diesem
Zusammenhang verdient bemerkt zu werden, daß sich in einer vom Hartmannbund veranlaßten
Meinungsumfrage, auf die an anderer Stelle eingegangen wird, im Frühjahr 1973 78 Prozent der
Befragten gegen eine Selbstbeteiligung der Sozialversicherten an den Arzt- bzw.
Medikamentenkosten ausgesprochen haben (13).
Einen anderen Negativfaktor rückt »Rheinischer Merkur« vom 11. 5. 73

ins Bliddeld. Zwar stimmt das konservative Blatt dem Kostenerstattungssystem vorbehaltlos zu,
räumt aber immerhin ein: »Gewiß, es besteht die Gefahr, daß mancher Bagatellfall verschleppt
wird.« Verschwiegen wird, daß die verschleppten Bagatellfälle zu den »teuren« Krankheiten
gehören.

Ferner ist ein Argument dieser Zeitung für die direkte Kostenbeteili ng gu

voll konservativer Ideologie. Es heißt dort: »Im übrigen würde die Kostenerstattung die
Ungerechtigkeit beseitigen, daß jemand, der durch unvernünftige Lebensweise gegen seine
Gesundheit wütet, das gesundheitliche Risiko, das er damit heraufbeschwört, auf die anderen
abwälzen kann, die vernünftig leben.« Hier dürfte dem Blatt entgangen sein, daß wohl den
meisten »gegen ihre Gesundheit Wütenden« das gesundheitliche Risiko von ihren
Arbeitsbedingungen, auf die sie keinen Einfluß haben, aufgezwungen wird. Dem »Rheinischen
Merkur« sei die Lektüre des Abschlußberichts über die 1969 veranstaltete Modelluntersuchung
an mehr 42

als 30 000 erwerbstätigen Sozialversicherten in Baden-Württemberg empfohlen. Aus ihm


ergibt sich, daß die Arbeiter ausgesprochen mäßig leben; sie rauchen und trinken wenig.
Und obwohl sie nicht gegen ihre Gesundheit wüten, wurde jeder fünfte von ihnen wegen
seines in der Arbeitswelt erfolgten gesundheitlichen Verschleißes von den Ärzten als
sanatoriumsreif eingestuft. Den Arbeiter träfe die Kostenbeteiligung also klassengemäß:
Zuerst ist er am Arbeitsplatz Ausbeutungsobjekt für die bourgeoisen »Eigentümer«,
sodann wird er als Kranker zum Ausbeutungsobjekt für die bourgeoise freipraktizierende
Ärzteschaft - und je mehr er vordem ausgebeutet und verschlissen wurde, desto mehr darf
er nun zur Wiederherstellung seiner Arbeitskraft zahlen.

Als Fazit bleibt nur die Forderung nach einer alle Bürger umfassenden
Einheitsversicherung, die allein nach dem Solidarprinzip eine gleiche, gerechte und
fortschrittliche Gesundheitssicherung für jeden ermöglichen kann. Von ihr ist zu erwarten,
daß sie mit jeweils modernsten Methoden ihren Verwaltungsapparat rationalisiert, damit
die Beiträge der Versicherten optimal für ihren eigentlichen Zweck genutzt werden
können. Da diese Organisation eine größere gesellschaftlid1e Macht in die Waagschale
werfen kann als die 1800 autonomen Kassen der Versicherung, ersteht mit ihr der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung erstmals ein gleichgewichtiger Partner.

43

3. Das Geschäft der Ärzte mit der Krankheit

3.1 Das Einkommen der Ärzte

In seinem Kommentar vom 18. 5. 1973 im Bayerischen Rundfunk, aus dem wir bereits zitierten,
charakterisierte Günther Wollny die Einkommen der freipraktizierenden Ärzte folgendermaßen:
»In den letzten 10, 12 Jahren haben die Honorare der sozialen Krankenversicherung (an die
Ärzte) alle anderen vergleichbaren akademischen Berufe auf der Einkommenseite entwertet; nur
noch Spitzenkönner erreichen die Durchschnittseinkommen ganzer .Ärztegruppen.« Dieser für
alle anderen Berufe mit vergleichbarer Ausbildungsdauer diskriminierende Tatbestand ist anhand
aussagekräftiger Zahlen nachzuweisen und wird in der Öffentlichkeit zunehmend schärferer
Kritik unterzogen.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung gab im Mai 1973 bekannt, daß »die Ausgaben für
kassenärztliche Behandlung von 1962 bis 1972 um über 230 v. H. gestiegen« seien. In dem
Bericht heißt es weiter: »Da die Zahl der Kassenärzte im gleichen Zeitraum nur geringfügig - um
5 v. H.

zugenommen hat, entspricht das etwa einer Umsatzsteigerung je Arzt aus kassenärztlicher
Behandlung von 220 v. H. In diesen Ausgaben sind allerdings die Aufwendungen für die Mitte
1971 eingeführten Früherkennungsuntersuchungen noch nicht erhalten, die die Umsätze der
Kassen

ärzte zusätzlich erhöhen.« (1) Diese Umsatzsteigerung je Kassenarzt in den letzten 10 Jahren um
durchschnittlich rund 22 Prozent pro Jahr entspricht einem Einkommenswachstum von
durchschnittlich knapp 13 Prozent, ein Anstieg, der in anderen Berufen kaum einmal unter
günstigsten Bedingungen erreicht wird. In ihrem bisher absolut besten Verdienstjahr 1970 gab es
beispielsweise für die Arbeiter einen Lohnzuwachs von 14,7 Prozent, 1971 von 11,9 Prozent und
1972 von 9, 1 Prozent. Während sich der Brutto-Stundenlohn eines sowieso nicht viel
verdienenden Industriearbeiters zwischen 1951 und 1971 höchstens vervierfacht hat, war das
Einkommen der schon früher gut verdienenden Ärzte z. B. aus Abrechnungen bei den AOK um
das siebeneinhalbfache gestiegen. Die Auswirkungen der hohen Honorare für Ärzte auf die
Reform des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik formulierte ein Soziologe auf dem letzten
ÖTV-Kongreß in Berlin nach einem Bericht in »Welt der Arbeit« vom 25.

44

5. 73 so: »Wenn die heutigen Medizinstudenten ihre Einkommenserwartungen an den


Einkommen der heute praktizierenden Ärzte messen, wird jede gesundheitspolitische Reform
zum Scheitern verurteilt sein.«

So sehen die Zahlen, insbesondere der letzten Jahre, im einzelnen aus: 1971 erhöhten sich die
Zahlungen der gesetzlichen Krankenversicherung an die Kassenärzte um 24,8 Prozent, 1972 um
10,9 Prozent. 1973 wird der Zuwachs wieder höher als 1972 sein. Das bedeutet in absoluten
Zahlen: 1970 erhielten die Ärzte aus der sozialen Krankenversicherung DM

5,458 Mrd., 1971 6,809 Mrd., und 1972 DM 7,550 Mrd. 1973 werden es für die rund 52 000
Kassenärzte über DM 8,5 Mrd. sein, die eine Steigerung um durchschnittlich DM 18 500 je
Praxis allein aus der Behandlung von Kassenpatienten ausmachen. 1962 hatten die gesetzlichen
Krankenkassen lediglich DM 2,268 Mrd. gezahlt. Für 1972 nimmt das DIW pro Praxis• einen
Durchschnittsumsatz von DM 170 000 aus Kassen- und Privathonoraren an - 1962 lag er noch
bei durchschnittlich DM 57 300 aus Abrechnungen mit der gesetzlichen Krankenversicherung
plus DM 17 200

an privatärztlichen Honoraren. 1973 erreicht oder überschreitet der durchschnittliche Umsatz der
freipraktizierenden Ärzte die 200 000-Mark-·
Grenze (2).

überaus interessant ist die Tatsache, daß die Zahl der eingereichten Krankenscheine je Mitglied
stark zurückging. Die damit auftauchende Frage nach der Struktur der Ärzteeinkommen
beantwortet »Der niedergelassene Arzt« vom Juni 1973 unter Stützung auf das DIW-Material:
»Nach Ansicht der DIW-Experten dürfte nur etwa die Hälfte der kassenärztlichen Umsätze auf
eigentliche Honorarsatzerhöhungen entfallen. Ein Viertel der Zunahme im Zehnjahreszeitraum
wird dem Anstieg der Abrechnungsfälle, also der Mehrleistung, zugeschrieben (da die
Mitgliederzahl der gesetzlichen Krankenversicherung angestiegen ist), ein weiteres Viertel den
Umstrukturierungen der Kassenarztleistungen.« Dieser letzte Punkt jst·

sehr wichtig. In der Zeitßchrift heißt es dazu: »Die ärztlichen Beratungen waren zwischen 1966
und 1971 nur geringfügig, die Zahl der relativ zum Zeitaufwand höher honorierten
Sonderleistungen stark erweitert.«.

Sehr plastisch wird die überdimensionale Einkommensteigerung der Ärzte auch in der .Summe
für die ärztliche Leistung je Versicherten. 1962

mußte die GKV für jeden Versicherten durchschnittlich DM 47,42 an die Kassenärzte zahlen,
1972 aber DM 135,42.

Bei solchen Einkommensteigerungen verwundert nicht, daß das »Bremer Ärzteblatt« vom
Oktober 19.72 vermelden kor,.nte: »Die praktizierenden Ärzte sind im Lande Bremen der am
besten verdienende freie Beruf.«

Andererseits muß man sich die gleiche Frage stellen, wie sie von· Fritz Mörschbach in der »
Welt der Arbeit« vom 25. 5. 73 aufgeworfen wurde, 45

nämlich: » ... ob es notwendig war, daß sich die Kassenärzte zu individuellen Umsatzriesen
ausgewachsen haben.«

3.2 Maßnahmen zur Erschließung neuer Pfründe

Von Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Einkommen kann bei den Arzteverbänden trotzdem
nicht die Rede sein. Im April 1973 meldete der Verband der niedergelassenen Arzte
Deutschlands in einem Schreiben an die Vorsitzenden der drei Bundestagsfraktionen seine
Forderung an, daß die geplante Beseitigung der Einkommensgrenze von DM 24 000,- jährlich
für steuerbegünstigte Zuschläge bei Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit nicht nur für die
Arbeitnehmer gelten solle, sondern auch für die freiberuflich Tätigen. Hätten die Arzte mit ihrer
Initiative Erfolg, so würde das bedeuten, daß sie für jene Zuschläge aus den genannten
Leistungen keine Steuern mehr zu zahlen brauchen. Im übrigen ist die Tätigkeit
freipraktizierender Arzte zu den erwähnten Zeiten in der Gebührenordnung hinreichend
berücksichtigt.

Unzufrieden und auf höhere Bezahlung aus sind die Arzte ferner in Sachen Gebührenordnung.
Im Herbst 1972 setzte der Präsident der Bundesärztekammer, Fromm, der damaligen
Gesundheitsministerin Frau Strobel zum wiederholten Male zu, eine lineare Erhöhung der
Mindestsätze der seit dem 18. März 1965 geltenden Gebührenordnung durchzuführen. Im April
1973 wurde wiederum die neue Gesundheitsministerin Frau Dr. Focke von Fromm zur
Anpassung an den heutigen Stand der Lohn- und Preisentwicklung gedrängt. Nun steht
außerfrage, daß eine acht Jahre alte Gebührenordnung der Korrektur bedarf. In der Praxis ist das
auch geschehen, da sich die » Vertragspartner der Kassenärztlichen V crsorgung« längst »von
der amtlichen Gebührenordnung zugunsten einas frei vereinbarten und dynamisch gestalteten
Bewertungsmaßstabes gelöst haben« (3).

Wie sich aus den Einkommenssteigerungen ergibt, haben die freipraktizie, renden Arzte dabei
sehr gut abgeschnitten. Nun sollen jedoch noch »weite andere Bereiche ärztlicher Tätigkeit«, für
die noch die Gebührenordnung von 1965 gültig ist, finanziell neu erschlossen werden: » Das gilt
dort, wo der Bund und andere Gebietskörperschaften Leistungen des Arztes in Anspruch
nehmen.« ( 4) Die Arzteverbände sind also, das zeigt die Dringlichkeit und Hartnäckigkeit, mit
der sie die Revision der Gebührenordnung gerade in diesem Punkt fordern, entschlossen, ihre
Einkommen noch weiter zu vergrößern. In einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine
Zeitung vom 20. 6. 1973 meint ein Arzt sogar: »Die Anpassung der 46

Gebührenpositionen an die allgemeine Preis-Lohn-Entwicklung ist überfällig und wird durch die
mit den Sozialklassen ausgehandelten Zuschläge nicht ausgeglichen.« Und Dieter Pohl,
Pressechef der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, argumentiert: »Würden sich die .Arzte
am allgemeinen Wachstum orientieren, hätten sie für 1972 und 1973 schon Nachholbedarf
anzumelden.« (5) Hier sind rationale Maßstäbe offensichtlich verlorengegangen.

Wie der Augsburger Soziologe Prof. Atteslander in seinem Referat » Ober die Stellung des
Arztes in der modernen Gesellschaft« vor dem XIII. Bundeskongreß der Arbeitsgemeinschaft
sozialdemokratischer .Arzte und Apotheker (AS.A) im Februar 1973 in Freiburg feststellte, weist
die »Selbsteinschätzung der .Arzte . .. eine seltsame Ambivalenz auf: Einerseits ist eine hohe
Zufriedenheit mit dem Beruf zu verzeichnen. 90 v. H. aller befragten

.Arzte in der Bundesrepublik sind mit ihrem Beruf zufrieden. Dreiviertel der freischaffenden
.Arzte würden, vor die Wahl gestellt, keine andere Tätigkeit wählen. (Weniger als 50 Prozent der
Angestellten und Arbeiter bejahen diese Frage in bezug auf ihre eigene Tätigkeit.) Andererseits
aber wird ein Oberforderungssyndrom festgestellt, das sich in der Einstellung der .Arzte zu
ihrem Einkommen äußert. Nur 20,8 v. H. der Befragten fanden das Einkommen angemessen, 2,5
v. H. sogar als zu hoch. Der Rest, die Mehrheit also, erklärt sich unzufrieden.«

Bestätigt wird diese profitorientierte Einstellung einer Mehrheit der niedergelassenen .Arzte
durch eine Statistik, die der Kölner Stadt-Anzeiger am 13. April 1973 unter der Überschrift
»Müssen die Armen früher sterben?« veröffentlichte. Das Schaubild, das auch von anderen
Zeitungen abgedruckt wurde, zeigt einen unverkennbaren Zusammenhang zwischen der
Arztdichte und der sozialen Struktur der Städte. So beträgt das durchschnittliche
Gesamtvermögen je Einwohner in Wanne-Eickel DM 526,-, in Neuß dagegen DM 3445,-. Dabei
kommen in Wanne-Eickel auf 100 000
Einwohner 84 .Arzte gegenüber 164 .Arzten in Neuß. Diese beiden Städte sind nicht willkürlich
gewählt, sondern typisch: Städte mit der ärmsten

]kyö_lkerung haben die geringste Arztdichte. Charakteristisch ist ferner, daß die Arztdichte in
den Städten fast proportional zum durchschnittlichen Gesamtvermögen je Einwohner zunimmt:
In Wattenseheid beträgt die Relation DM 603,- zu 89 .Arzten je 100 000 Einwohner, in Herne
DM 968,- zu 90 .Arzten, in Lünen DM 731,- zu 94 .Arzten, in Gelsenkirchen DM 862,- zu 101
.Arzten, in Recklinghausen DM 1107,- zu 1111\rzten. Die Arztdichte etwa in Castrop-Rauxel
oder Wattenseheid ist geringer als im ärztearmen ländlichen Regierungsbezirk Oldenburg, die
von Wanne-Eickel und Herne g�ringer als im medizinischen Notstandsgebiet Niederbayern.
Auf der anderen Seite - das zeigt Neuß - liegt die 47

Arztdichte bei Städten mit wohlhabenden Einwohnern zum Teil deutlich über dem
Bundesdurchschnitt von 154 Ärzten auf 100 000 Einwohner, auch hier ist die Zunahme nahezu
proportional. In Pirmasens besitzt jeder Einwohner im Durchschnitt DM 2813,-; die Arztdichte
beträgt 156 Ärzte auf 100 000 Einwohner. Krefeld hat die Relation DM 3061,- zu 159 Ärzten
und Lüdenscheid DM 3767,- zu 1612 Ärzten auf 100 000 Einwohner.

Laut Reichsversicherungsordnung obliegt die Sicherstellung der ambulanten medizinischen


Versorgung den Kassenärztlichen Vereinigungen, und diese werden nicht müde zu betonen, daß
es damit bestens stehe. Indessen beweisen die vorgelegten Zahlen, daß der gesellschaftliche
Anspruch auf angemessene ärztliche Versorgung und das Profitinteresse der freipraktizierenden
Ärzte schon jetzt sichtbar kollidieren. Davor warnte der Frankfurter Medizinsoziologe Professor
Baier in seinem Vortrag vor dem Jahreskongreß der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin
im Mai 1973 in Wiesbaden: »Für die Berufsfreiheiten des Ärztestandes ist heute daher nichts
gefährlicher, als zum Beispiel der Immobilismus der Kassen

ärztlichen Vereinigungen, die zwar andauernd auf ihren gesetzlichen Sicherstellungsauftrag zur
Gesundheitsversorgung der Bevölkerung verweisen, aber dann doch nur in der Subventionierung
von langjährig vakanten Landpraxen und bei der Veröffentlichung von beruhigenden Statistiken
stehenbleiben.« Angesichts dieses Versagens liegt es für Baier nahe, es werde »der Staat mit
seiner primären Organisationsgewalt für alle Lebensbereiche die >Reform< der
Gesundheitsversorgung vornehmen«.

3.3 Die Sicherung der Einkommenshöhe

3.3.1. Die Verhandlungen mit den Kassen

Das Geschäft mit der Krankheit in der freien Praxis provoziert geradezu die Frage nach dem
Zustandekommen solcher hohen Gewinne. Die Zahlungen der GKV-Kassen an die
freipraktizierenden Ärzte werden in Tarifverhandlungen zwischen deren Interessenvertretung,
der Kassenärztlichen Vereinigung, und den Kassen auf der Basis des gesetzlich geregelten
Leistungskatalogs der Ärzte ausgehandelt. Die Besonderheit dieser Verhandlungen
charakterisiert Peter-Paul Henckel so: »Unter allen Tarifwerken in der Bundesrepublik nehmen
zweifellos die Verträge zwischen Krankenkassen und Ärzten bzw. Zahnärzten eine gewisse
Sonderstellung ein. Hier stehen sich nämlich nicht in der sonst üblichen Form Arbeitgeber und
Arbeitnehmer gegenüber, sondern hier schließen freie Miniunternehmer - nämlich die Ärzte - mit
einer Partner-Krankenkasse ... einen Pau-48

schalbehandlungsvertrag über eine unbestimmte Zahl von Behandlungsfällen und vereinbaren


darin die Vergütung für die zu erbringende Leistung. Und noch eine Besonderheit enthält diese
Regelung: es gibt keinen vertragslosen Zustand, mithin auch kein Streikrecht. Wenn sich die
Partner nicht über neue Gebühren einigen, bleibt zunächst der alte Vertrag in Kraft, bis ein
Schiedspruch, an dem beide Partner unter Vorsitz eines unabhängigen Juristen beteiligt sind,
neue rechtliche Verhältnisse schafft.« (6)

In den Verhandlungen sitzen die RVO-Kassen entschieden am kürzeren Hebel. Sie treten jede
für sich, differenziert nach Kassenart und regional zersplittert, der geschlossenen Front der
Kassenärztlichen Vereinigung gegenüber, die ihre jeweils autonomen Partner leicht
gegeneinander ausspielen kann. Das Ergebnis in dieser »Partnerschaft« stellt »Capital« vom
Februar 1973 so dar:

» .. . anders als die Arbeitgeber in einem Tarifstreit setzen die Krankenkassen ihren
Verhandlungspartnern bei Mehrforderungen kaum Widerstand entgegen - obwohl sie, laut
Gesetzesauftrag dazu verpflichtet wären. Eigentlich nämlich sollten die Kassen vor allem die
Interessen ihrer Mitglieder vertreten.« Gegen diese von vornherein gehandikapten Tarif

»Partner« führen die Ärzte einen so harten Verhandlungsstil, daß sich die

»Stuttgarter Zeitung« vom 9. März 1973 zu folgendem Kommentar veranlaßt sah: »Es wird zwar
immer wieder gesagt, die Leistungen der Ärzte und Zahnärzte müßten aus gesundheitspolitischen
Gründen dem wirtschaftlichen Wettbewerb entzogen werden, tatsächlich aber findet über die von
der sozialen Krankenversicherung zu zahlenden Gebührensätze jedes Jahr ein Gerangel statt, das
zuweilen selbst hartgesottene Gewerkschaftsvorsitzende vor Neid erblassen läßt. Wie die
Umsätze und die Einkommen der Ärzte und Zahnärzte beweisen, ist solcher Neid durchaus
begründet.«

Die auf Bundesebene organisierten Ersatzkassen nutzen ihre Chance, der Kassenärztlichen
Vereinigung als jeweils geschlossene Einheit mehr Widerstand als die RVO-Kassen leisten zu
können, leider nicht. Dazu kommentierte Günter Windschild im Bayerischen Rundfunk am 5.10.
72: »In einem Informationsgespräch mit Journalisten am letzten Wochenende in Hamburg haben
zwar führende Repräsentanten der Ersatzkassen betont, selbstverständlich würden auch sie
keinen Pfennig zahlen, der ihnen nicht abgerungen werde. Aber dieser Argumentation fehlte die
Überzeugungskraft. Die Ersatzkassen, die den Ärzten ein um 25 Prozent höheres Honorar zahlen
- im Vergleich zu Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen -

die Ersatzkassen sind offensichtlich interessiert, ihre aus dem Honorarangebot resultierende
Anziehungskraft auf die Ärzte als Wettbewerbschance zu nutzen.«

49

Indessen unterliegen ihre überhöhten Honorarzahlungen für die nicht gesetzlich, sondern
durch Satzung festgelegten ärztlichen Leistungen berechtigter Kritik. So erklärte »Capital
« im Februar 1973:
»Grund dieser Großzügigkeit ist ein sinnloser Prestigekampf, der von den Ersatzkassen
angezettelt wurde. Seit jeher werben die Ersatzkassen mit ihrem Anspruch, eine Art
Eliteversicherung für Angestellte zu sein. Die Werbung verfing: Viele Arbeiter wechselten,
nachdem sie in das Angestelltenverhältnis übernommen wurden, sofort zu den
Ersatzkassen über. >In einer Ersatzkasse zu sein<, so deutet Fritz Kastner,
Hauptgeschäftsführer im Bundesverband der Ortskrankenkassen (BdO), die
Wanderungsbewegung, >ist für viele dasselbe, wie einen Stern vorn auf dem Autokühler zu
haben.< ... Gewinner der Prestigesucht sind allein die Ärzte. Sie erhalten von den
Ersatzkassen durchschnittlich 20 Prozent mehr Honorar als von anderen Krankenkassen.
Für einen Krankenbesuch etwa, der normalerweise mit neun Mark vergütet wird, darf der
Doktor bei einer Ersatzkasse 12,40 Mark kassieren; einen großen Gipsverband honorieren
die Ersatzkassen mit 34,30 Mark, die übrigen Kassen brauchen für ein ebenso haltbares
Gipsbein nur 20 Mark zu überweisen. Den finanziellen Schaden freilich haben nicht nur
die Ersatzkassenmitglieder zu tragen - er trifft letztlich alle Versicherten der deutschen
gesetzlichen Krankenkassen. Dafür sorgt die geschickte Verhandlungstaktik der
Ärztefunktionäre: Sie führen ihre Tarifgespräche zuerst mit den prestigesüchtigen, deshalb
großzügigen Ersatzkassen und handeln dabei ansehnliche Honorarsteigerungen aus.

Chirurgen zum Beispiel konnten jüngst für Operationen eine Tariferhöhung von 25
Prozent durchsetzen.«

Der schlicht preistreibende Charakter dieser ärztlichen Verhandlungstaktik wird auch


vom Referenten für Öffentlichkeitsarbeit des Bundesverbandes der
Betriebskrankenkassen, Dr. von Leszczynski betont: »Durch die zeitlich vorausgehenden
Honorar-Zugeständnisse der Ersatzkassen wird die vom System her sowieso nicht sehr
starke Verhandlungsposition der R VO-Kassenverbände gegenüber den Kassenärztlichen
Vereinigungen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung geschwächt.« (7) Die Logik
eines solchen gegenseitigen Hochschaukelns der konkurrierenden Kassen mündet
schließlich in schwindelnd hohen Einkommen der Ärzte und in finanzieller Misere der
Krankenkassen, wie wir sie beide heute erleben.

Ferner sei bemerkt, daß in dem Verhältnis der Ärzte zu den Krankenkassen und deren
Mitgliedern der Konflikt latent eingebaut ist; daß er früher nicht offen zum Ausbruch
kam, hat seinen Grund vor allem in der äußerst nachgiebigen Haltung der Kassen
gegenüber den Kassenärztlichen Vereinigungen. Inzwischen haben sich im Zuge der
Diskussion über die Unzulänglichkeit unseres Gesundheitssystems vor allem bei den
Ortskranken-50

kassen Reformvorstellungen entwickelt, die - gemäß dem Antagonismus der Positionen -


den ärztlichen Forderungen in Zukunft zuwiderlaufen.

3.3.2 Das »Friedenspapier« der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Mit gutem Gespür


für die systemimmanente Sprengkraft in der sozialen Gesundheitsversorgung hatte die
Kassenärztliche Bundesvereinigung die Bundesverbände der RVO-Kassen im Sommer
1972 aufgefordert, gemeinsam über eine intensivere und sachliche Zusammenarbeit im
gemeinsamen Bereich zu beraten. Zu einem Gespräch zwischen den Vorständen der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung einerseits, und der Bundesverbände der R VO-
Kassen andererseits kam es am 12. Juni 1972 in Essen; dort entstand der Entwurf zu jenem
Abkommen, das von den Krankenkassen schlicht als

»Essener Papier«, in der Offentlichkeit auch als »Friedenspapier« bezeichnet wird.

Das Abkommen soll für die Zukunft insbesondere der KBV einen »Frieden« garantieren,
und sie war demzufolge schnell, bereits im Juli 1972

bereit, seinen folgenden Wortlaut zu akzeptieren:

»Die KBV und die Bundesverbände der Krankenkassen stehen auf dem Boden
partnerschaftlicher Zusammenarbeit, die insbesondere das Ziel hat, die Sicherstellung der
kassenärztlichen Versor ng durch Ausschöpfung gu

aller rechtlich gebotenen Möglichkeiten auf Dauer zu sichern und einer organischen
Weiterentwicklung des Kassenarztrechts den Weg zu bereiten.

Die Zusammenarbeit basiert auf den Grundsätzen des geltenden Kassenarztrechts


einschließlich der freien Arztwahl der Versicherten und der freien Berufsausübung des
Arztes. Es besteht Übereinstimmung darüber, daß in allen wichtigen gesundheits- und
sozialpolitischen Fragen sowie in Fragen, die die Zusammenarbeit berühren, die Partner
im politischen Raume oder in der Offentlichkeit keine Erklärungen ohne vorherige
Information der übrigen Partner abgeben werden. Soweit es die Zeit jeweils zuläßt, sollen
gegenseitige Konsultationen stattfinden, um nach Möglichkeit übereinstimmende oder
gemeinsame Stellungnahmen abgeben zu können. Gegenseitige polemische mündliche und
schriftliche Äußerungen unterbleiben. Es werden drei Arbeitskreise gebildet: a)
Arbeitskreis für die Vorbereitung der Rehabilitation in der Krankenversicherung
entsprechend den Bedürfnissen der Behinderten.

b) Arbeitskreis für die langfristige Honorarentwicklung in struktureller und linearer


Hinsicht.

c) Arbeitskreis für Fragen der Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung.

51

Diese Arbeitskreise sollen unverzüglich ihre Tätigkeit aufnehmen, wenn die zuständigen
Organe der Vertragspartner diesen Vorschlag gebilligt haben.«

Um das »Essener Papier« gab es in den folgenden Monaten ein heftiges Tauziehen.
Unbestritten war, daß die Zusammenarbeit in den geplanten drei Arbeitskreisen sinnvoll
wäre, wenn auch teilweise thematische Oberschneidungen mit der Arbeit des Ausschusses
für die Reform des Kassenarztrechts beim Bundesvorstand der Ortskrankenkassen zu
verzeichnen waren. Zum Streitpunkt wurde jedoch vor allem jene Passage, in der es heißt:
» ... daß die Partner im politischen Raume oder in der Offentlichkeit keine Erklärungen
ohne vorherige Information der übrigen Partner abgeben werden.« Der Zwang, mit den
Kassenärztlichen Vereinigungen in strittigen Fragen einen Konsensus zu suchen, erschien
insbesondere den Ortskrankenkassen nicht als Friedensstiftung, sondern zu Recht als

»Maulkorb«, der ihnen von den Kassenärzten umgehängt werden sollte, um sie in dem
permanenten Konflikt zum Schweigen zu bringen. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung
vom 5. April 1973 kommentiert dann auch: »Meinungsverschiedenheiten haben fortan
hinter verschlossenen Türen stattzufinden: Ungefähr das war der Sinn des Essener
>Friedenspapier,, über das Kassenärzte und einige Krankenkassen monatelang beraten
haben ... Wer für die Essener Absichtserklärung den anspruchsvollen Namen
>Friedenspapier< erfunden hat, ist nicht mehr festzustellen.

Der Ausdruck >Maulkorbvertrag< hätte besser gepaßt. Die Ortskrankenkassen haben gut
daran getan, ihn abzulehnen.«

Bei seiner Ablehnung blieb der BdO auch noch, als im Frühjahr 1973 die Bundesverbände
der Betriebs- und Innungskrankenkassen nach langem Zögern bereit waren, das Papier
unverändert zu unterzeichnen. In seiner Begründung für diesen Schritt teilte der BdO der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung mit, Offentlichkeit und politische Kräfte hätten einen
Anspruch, »Sachdarstellungen zu erhalten, die nicht bereits mit den unmittelbar
Beteiligten an der kassenärztlichen Versorgung abgestimmt«

seien. Das gelte insbesondere für die Reformen in der kassenärztlichen Versorgung, die
nicht allein Ärzte und Krankenkassen angeht. An der Arbeit der drei Ausschüsse wollten
sich die Ortskrankenkassen dagegen beteiligen, was ihnen von der KBV jedoch
abgeschlagen wurde.

Die Zustimmung der Innungs- und der Betriebskrankenkassen zum

»Essener Papier« begründete der stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes der


Betriebskrankenkassen, Dr. Hans Albrecht Bischoff, in einem Brief vom 2. April 1973 an
die Redaktion der Tageszeitung » Die Welt«, die ihn am 14. Mai 1973 veröffentlichte, u. a.
folgendermaßen:

» • • • 2. Das Essener Papier führt keinesfalls zu einer Spaltung der Kran-52

kenkassen. Die Vorstände der RVO-Kassenverbände haben sich zu einer ebenso erfreulichen und
notwendigen Zusammenarbeit mit dem übereinstimmenden Ziel der dauerhaften bestmöglichen
ärztlichen Versorgung der Versicherten und damit auch der gesamten Bevölkerung
zusammengefunden. Die Erreichung dieses Ziels dient auch die Zusammenarbeit mit der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung auf dem Boden des von allen R VO

Kassenverbänden grundsätzlich mitgetragenen Essener Papiers. Denn das Wichtigste, was dieses
Papier aussagt, ist - auch für die Kassenärztliche Bundesvereinigung - die Bildung von drei
Arbeitskreisen für Fragen der Rehabilitation, der langfristigen Honorargestaltung und vor allem
der gemeinsamen Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung. Kassenärztliche
Bundesvereinigung, Bundesverband der lnnungskrankenkassen und Bundesverband der
Betriebskrankenkassen sind der Auffassung, daß zur optimalen Wirksamkeit der Tätigkeit dieses
Arbeitskreises etwaige öffentliche Auseinandersetzungen über Sachfragen erst als
unausweichlicher zweiter Schritt richtig sind. Sie sind deshalb bereit, grundsätzlich vorher
zunächst auf dem Wege der wechselseitigen Information und ggf. Konsultation zu versuchen,
Meinungsverschiedenheiten untereinander auszutragen.

3. Das Essener Papier ist keine >Demonstration ungetrübter Harmonie<; eine solche kann es
zwischen den Gruppen der pluralistischen Gesellschaft nicht geben, braucht es auch nicht.
Meinungsverschiedenheiten, die durch die Tätigkeit der Arbeitskreise nicht ausgeräumt werden
können, sollen keinesfalls >unterdrückt< werden. Das Essener Papier schafft keine ,verbriefte
Friedlichkeit<. Es wird - auch mit der Einschränkung, die der Vorstand des Bundesverbandes der
Ortskrankenkassen vorgenommen hat -

dazu beitragen, daß die Öffentlichkeit nicht zur Unzeit beunruhigt, wohl aber von ungelösten
schwerwiegenden Problemen rechtzeitig informiert wird.«

Bischoffs Begründung scheint nicht in allen Punkten schlüssig zu sein.

Genauer als die Verharmlosung der »Maulkorb«-Klausel dürften die Vermutungen im Kölner
»Dienst für Gesellschaftspolitik« (dfg) vom 22.

März 1973 den Kern des Verhaltens der Bundesverbände der Innungsund Betriebskrankenkassen
treffen. Dort wird eine andere Interessenlage als bei den Ortskrankenkassen konstatiert, und zwar
in folgenden Punkten: » lnnungskrankenkassen und Betriebskrankenkassen müssen bei
Honorarverhandlungen größere Zugeständnisse machen als die Ortskrankenkassen. Die Kassen
erhoffen sich durch neue Arbeitskreise auf Bundesebene in dieser Frage Vorteile.«
Schwerwiegender als dieses Moment dürfte das zweite vom dfg genannte sein: »Die
Einflußnahme der Gewerkschaften ist nicht so stark wie bei den Ortskrankenkassen, und die 53

Arbeitgeber sind an einem besseren Verhältnis zu den freien Berufen und damit auch den Krzten
nicht zuletzt aus gesellschaftspolitischen Gründen interessiert.« Wäre das richtig, so hätte sich
einmal mehr ein Kartell zur gegenwärtigen und zukünftigen Verteidigung bestehender
Privilegien gebildet, das den Interessen der Sozialversicherten deutlich zuwiderläuft.

Diese Zusammenhänge analysierte der Bonner Sozialexperte Albert Müller in »Die Welt« vom
29. März 1973. Er ging davon aus, daß nach der Absage der Ortskrankenkassen das
»Friedenspapier« »gestorben« sei und stellt daraufhin vertiefend den objektiv gegebenen
Interessenantagonismus zwischen KBV und Krankenkassen heraus:

» ... An die Öffentlichkeit sollten Krzte und Kassen nach Möglichkeit erst dann treten, wenn sie
das gleiche zu sagen hätten. Konflikte sollten nicht nach draußen dringen. Das war eine irreale
Zielsetzung. Beim Verhältnis zwischen Kassenärzten und Krankenkassen handelt es sich um eine
Partnerschaft mit eingebautem Konflikt. Beide Partner sorgen für die Gesundheit der
Bevölkerung. Das ist eine sehr allgemeine Übereinstimmung; die Gegensätze sind konkreter. Es
geht im wesentlichen ums Geld. Was für ein Sinn liegt darin, diese Tatsache zu vertuschen? Die
Öffentlichkeit hat es um so weniger verdient, über die Hintergründe ihrer Krankenkassenkosten
im unklaren gelassen zu werden, als diese während der letzten sechs Jahre um fast 100 Prozent
auf mehr als 40 Milliarden Mark gestiegen sind. Dabei stand es seit langer Zeit nicht so schlecht
um die ärztliche Versorgung wie heute. Die Ausfälle in den Land- und Stadtrandgebieten
nehmen an Umfang und Dauer zu. Die Niederlassungswilligkeit der jungen Ärzte läßt nach. Das
Durchschnittsalter der Allgemeinpraktiker wächst, ebenso ihre Arbeitslast, an Wochenenden ist
ärztliche Hilfe oft ein Glücksfall. Die Bevölkerung wird teils unzureichend ärztlich versorgt ...
Aus dieser Ungleichmäßigkeit und Lückenhaftigkeit geht hervor, daß der gesetzliche Auftrag an
die Kassenärztlichen Vereinigungen, die ärztliche Versorgung sicherzustellen, heute nicht
zufriedenstellend erfüllt wird.

Regierung, Sachverständigenkommission, Krzte- und Kassenverbände machen sich seit langem


Sorge darüber. Doch sind Differenzen bei Vorschlägen, wie das schwierige Problem zu lösen sei,
unvermeidlich. Die Öffentlichkeit aus der Diskussion auszuschalten, wäre unzumutbar. Denn um
ihr Schicksal und Geld geht es, nicht primär um das ihrer Treuhändler, als welche sich Krzte und
Kassen zu verstehen haben. Mit einer Demonstration ungetrübter Harmonie wäre heute noch
weniger gewonnen als vor einem Jahr. Man sollte der Idee von der vorgespielten Konfliktfreiheit
nicht nachweinen, sondern in nüchterner Einschätzung der Lage intensiver zusammenarbeiten,
Partnerschaft wirklich beweisen und, wenn es not tut, Differenzen öffentlich austragen bis zur
neuen Einigung. Unterdrückte 54

Meinungsverschiedenheiten in dieser heiklen Sache werden nur noch explosiver.«

3.3.3. Die Verteidigung des ambulanten Behandlungsmonopols durch die niedergelassenen Ärzte

Grundlage für die extrem hohen Einkünfte der niedergelassenen Ärzte ist ohne Zweifel ihr
Behandlungsmonopol in der ambulanten medizinischen Versorgung der Kassenpatienten. Dieses
im Kassenarztrecht von 1955 verbriefte Privileg hat wie alle gesellschaftlichen Vorrechte die
dialektische Kehrseite, daß es zu Lasten einer breiten Schicht von Betroffenen, nämlich der
Sozialversicherten geht. Das Behandlungsmonopol der niedergelassenen Ärzte verhindert vor
allem zwei im Interesse der gesamten Gesellschaft liegende vernünftige und notwendige
Institutionalisierungen: die ambulatorische Behandlung von Kassenpatienten auch in
Krankenhäusern und die Einrichtung von kommunalen oder kasseneigenen Ambulatorien überall
dort, wo es mit der ärztlichen Versorgung im Argen liegt - und davon sind viele Menschen in der
BRD betroffen. Das Recht auf Errichtung solcher mit den niedergelassenen Ärzten
möglicherweise auch konkurrierenden Ambulatorien, die z. B. vor 1933 in Berlin einen großen
Teil der Sozialversicherten versorgten, wurde den Kassen von den freipraktizierenden Ärzten
gegen ihre sonst dominierenden Vorstellungen vom freien Spiel der Kräfte verweigert.

Das Monopol auf die ambulante Behandlung der Sozialversicherten wird

- entsprechend seiner wirtschaftlichen Bedeutung - von den Kassenärztlichen Vereinigungen mit


allen Mitteln verteidigt. Professor Baier führte im Mai 1973 vor dem Wiesbadener Kongreß der
Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin aus: »Die Einrichtung von staatsmedizinischen
Versorgungszentren kann auf Dauer nicht mit Resolutionen und Pamphleten abgewehrt werden,
sondern allein dort, wo sich mit der Zeit für sie eine Legitimierung ergeben könnte: in den
Gebieten der ärztlichen Unterversorgung auf dem flachen Lande, in den zersiedelten Rand- und
Zwischenregionen der Ballungsräume, in den Betonslums der modernen Städte«. Damit plädiert
Baier für freiwillige Zusammenschlüsse niedergelassener Ärzte besonders in den unterversorgten
Gebieten. Gerade dort zeigt sich »das kaum zu bestreitende Unvermögen der niedergelassenen
Praxisinhaber, sich mit dem Blick über den einzelärztlichen Einzugs- und
Verantwortungsbereich hinaus zu fachlich, arbeitszeitlich, medizintechnisch leistungsfähigeren
Gruppenpraxen oder überörtlichen Praxiskooperativen zusammenzuschließen, die erst sozusagen
in sozialärztlicher Per-55

spektive zu regional wohlverteilten, schichtensozialen, ökologischen Dienstleistungen für die


Allgemeinheit befähigt wären« (8).

Wie schätzt nun die Bevölkerung die ambulante ärztliche Versorgung in einem System ein, das
den Sozialversicherten in diesem Bereich der Gesundheitssicherung moderne wissenschaftliche
Methoden weitgehend vorenthält? Im Frühjahr 1973 ließ der Hartmannbund durch die Tübinger
Wickert-Institute eine Meinungsumfrage bei 2067 Personen durchführen, um in Erfahrung zu
bringen, »was der Patient selbst über seine gesundheitliche Versorgung im derzeitigen System
denkt« (9). Die Interviews erstreckten sich hauptsächlich auf die ambulante medizinische
Versorgung der Bevölkerung.

Bei der Einschätzung der Antworten sind besondere Faktoren zu berücksichtigen (z.B. die
Kompetenz der Befragten), die das Ergebnis in wesentlichen Teilbereichen in Frage stellen. So
gaben auf die Frage 43 » Wie hoch ist Ihrer Meinung nach das Honorar des Arztes?« a) für eine
Beratung b) für eine eingehende Untersuchung c) für einen Hausbesuch 60 Prozent bis 63
Prozent keine Antwort. Sie wissen also nicht, welche Honorare der freipraktizierende Arzt im
einzelnen für seine Leistung erhält. Dieser Mangel an Informationen hindert die Befragten
jedoch nicht, die Höhe der Verdienste der niedergelassenen Arzte zu 63 Prozent als
»angemessen«, zu 36 Prozent als zu hoch und zu einem Prozent als zu niedrig einzustufen.

Hier erhebt sich die Frage, ob die Interviewten über die jährlichen Durchschnittseinkommen der
freipraktizierenden Arzte objektiv informiert waren oder wurden. Für das Jahr 1973 schätzte das
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung die Honorarzahlungen der gesetzlichen
Krankenversicherung an die Kassenärztlichen Vereinigungen auf 8,3 Milliarden Mark; sie
werden voraussichtlich 8,5 Milliarden Mark erreichen.

Dabei entfällt im Durchschnitt auf jeden der 52 000 Kassenärzte eine Summe von DM 163 000.
Rechnet man rund 25 Prozent Privathonorare hinzu, so ergibt sich, daß der Umsatz der
freipraktizierenden Arzte die 200 000-Mark-Grenze überschreitet. Nach Abzug des
Unkostenanteils von einem Drittel verbleiben rund DM 135 000 zu versteuerndes Einkommen.

Es wäre absurd anzunehmen, daß 63 Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik diese
Summe als »angemessen« bezeichnen würde. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen,
daß von 593 befragten angestellten Arzten in Berlin, die sich naturgemäß in der
Einkommenshöhe ihrer freipraktizierenden Kollegen auskennen, die Hälfte für die Feststellung
aussprachen: »Die niedergelassenen Arzte machen mit der Krankheit ein Geschäft.« (10)

Eine knappe Mehrheit der befragten Berliner Arzte gab ferner der These

»Die Poliklinik ist die beste Form der ambulanten Versorgung der Patien-56
ten« ihre Zustimmung (11). Dieses Urteil beruht auf beruflicher Erfahrung. Eine solche
Sachkenntnis fehlt den Befragten der Wickert-Enquete, von denen sich nur 14 Prozent (in
den Antworten auf die Frage 11) für

»von den Krankenkassen oder Gesundheitsämtern in Ambulatorien angestellte .Ärzte«


entschieden. 29 Prozent machten keine Angaben, weil sie sich offenbar nicht kompetent
fühlten; 57 Prozent bevorzugten ».Ärzte in freier Praxis«.

Ist es Zufall, daß hier die Frage nach den Krankenhausambulatorien ausgespart wurde,
deren Vorzüge die Bevölkerung am Beispiel der Universitätspolikliniken vielleicht
realistischer einzuschätzen vermöchte als die der nichtexistenten Ambulatorien von
Krankenkassen oder Gesundheits

ämtern? Das Votum von 57 Prozent der Befragten für ».Ärzte in freier Praxis« dürfte also
zu einem Teil auf einem Mangel an Sachkenntnis über eine mögliche Alternative zum
gegenwärtigen System der ambulanten medizinischen Versorgung beruhen. Ob diese
Quote im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung um die Reform des
Gesundheitswesens, die zwangsläufig ein Mehr an Info1mationen für die breite
Öffentlichkeit mit sich bringt, unverändert bleiben wird, erscheint zumindest fraglich.
Mehrere Antworten reflektieren übereinstimmend mangelnde medizinische Betreuung. Als
»typisch für diese Gegend hinsichtlich der .Ärzte und der Krankenversorgung« (Frage 1)
bezeichneten 21 Prozent den Mangel an

.Ärzten und 13 Prozent eine »schlechte Versorgung«. 20 Prozent erklärten bei einer
Kontrollfrage (Frage 3), die .Ärzte versorgten die Bevölkerung

»zu wenig«. 31 Prozent erklärten, es gebe zu wenig Fachärzte (Frage 4); besonders fehlten:
Hals-Nasen-Ohren-Arzte, Kinderärzte und Gynäkologen. Mit den Hausbesuchen (Frage 7)
erklärte sich eine starke Mehrheit der Befragten zufrieden. 90 Prozent bestätigten, der
Arzt sei immer gekommen, »wenn es wirklich notwendig war«. Insgesamt führten 17
Prozent eine lange Wartezeit an. Bei Frage 8 (Wie ist Ihrer Meinung nach die Technische
Ausstattung des Arztes oder der .Ärzte, die Sie normalerweise behandeln?) beurteilten 54
Prozent die Einrichtung des Hausarztes als

»gut« und 36 Prozent als »ausreichend«. Bei Fachärzten lauten die entsprechenden Ziffern:
56 Prozent bzw. 24 Prozent. Die Quote derer, die sich für ein Urteil nicht kompetent fühlen,
steigt hier von 6 Prozent auf 17 Prozent. Auch bei dieser Frage sei auf die mangelnde
Sachkenntnis der Patienten hingewiesen, denen die Vergleichsmöglichkeit zwischen der
apparativen Einrichtung der freien Arztpraxis und poliklinischen Institutionen fehlt. So
kommt es, daß eine unzureichende und deshalb »anomale« Ausrüstung als »normal«
eingeschätzt wird.

Die Frage 9 »Wie ist Ihrer Meinung nach die Versorgung im Notfall, z.B.

bei Gallenkolik, Schlaganfall, Herzanfall?« zielt auf einen Vergleich zwi-57


sehen freipraktizierenden Ärzten und Krankenhäusern, der jedoch falsch angelegt
erscheint. Auf dem ambulanten Sektor werden die Krankenanstalten in Notfällen selbst
nicht tätig; nach seiner stationären Aufnahme erfährt der Patient die volle Leistung der
technischen Apparatur. Unter diesem Aspekt ist es unerfindlich, aus welchen Gründen die
Befragten die Versorgung in den Kliniken zu 35 Prozent als »nicht zufriedenstellend«

erklärten. Da die entsprechende Ziffer bei den frei praktizierenden Ärzten 33 Prozent und
die adäquaten Zahlen bei Frage 10 (Wie ist Ihrer Meinung nach die Versorgung im Notfall
- des Nachts, an Sonn- und Feiertagen?) 37 zu 40 Prozent betragen, schließen die Wickert-
Institute: »Auch hier ist deutlich eine bessere Beurteilung der Notfallversorgung durch
Ärzte in freier Praxis zu konstatieren. Das schlechte Abschneiden der Kliniken in der
Meinung der Patienten ist überraschend.« Diese negative Einschätzung der
Krankenanstalten im Versorgungsnotfall kann wiederum nur durch die Inkompetenz der
Befragten erklärt werden.

Als der neuralgische Punkt in der freien Praxis haben sich in der Umfrage die langen
Wartezeiten erwiesen, die in Frage 13 von 53 Prozent aller Patienten bestätigt werden. 67
Prozent glauben, das lange Warten könne sich vermeiden lassen. Daraus folgern die
Widcert-Institute, »daß die Patienten hier eine erhöhte Anstrengung von Seiten ihrer Ärzte
erwarten«. In den Antworten auf Frage 16 (Haben Sie Erfahrungen mit der Bestellpraxis?)
sprechen sich 62 Prozent für diese Organisationsform aus.

Auf die Frage 17 (Wie ist das mit der eigentlichen Behandlungszeit?) beurteilen die Dauer
der ärztlichen Behandlung als:

»lang (reichlich) - 11 Prozent; angemessen (zügig) - 64 Prozent; knapp -

18 Prozent; zu kurz - 7 Prozent«.

Kommentar der Wickert-Institute: »75 Prozent aller Patienten halten die Behandlungszeit
für mindestens angemessen. Dies widerspricht dem in der Öffentlichkeit immer wieder
hervorgerufenen Eindruck von der zu kurzen Behandlungszeit.«

Zu dieser Bewertung und den sie tragenden Ergebnissen erheben sich zwei Fragen: 1.
Handelt es sich bei den 11 Prozent der Befragten, die ihre Behandlung als »lang
(reichlich)« einschätzen, um Privatpatienten oder Sozialversicherte? 2. Hat sich die
unanzweifelbar zu kurze Behandlungszeit so sehr eingebürgert, daß sie von 64 Prozent der
Befragten bereits als die Norm der ärztlichen Behandlung in der freien Praxis empfunden
und deshalb als »angemessen« bezeichnet wird?

Diese Problematik wird vom Image des Arztes überlagert, das aus den Antworten auf
Frage 19 (Welche Eigenschaften treffen auf Ihren Arzt etwa zu?) zu ersehen ist. Danach ist
der freipraktizierende Arzt: 58

sympathisch

95 Prozent
unsympathisch

5 Prozent

freundlich

94 Prozent

arrogant

6 Prozent

persönlich

76 Prozent

sachlich/kühl

24 Prozent

fachlich up to date

87 Prozent

nicht up to date

13 Prozent

fortschrittlich

81 Prozent

rückständig

19 Prozent

verläßlich

95 Prozent

nicht verläßlich

5 Prozent

ruhig

80 Prozent

gehetzt
20 Prozent

Dieses Image muß im Zusammenhang gesehen werden mit dem Ergebnis der Frage 20
(Haben Sie bei Ihrem Arzt das Gefühl der Sicherheit?), die von 89 Prozent der Befragten
bejaht wird. 83 Prozent wünschen »eine feste Führung« durch den Arzt im Krankheitsfall
(Frage 22). Hier wird ein von den freipraktizierenden Arzten zweifellos anerzogenes
Abhängigkeitsverhältnis sichtbar, das weit entfernt ist vom partnerschaftlichen Denken
mündiger Patienten. Das Sozialprestige der .Arzte drückt sich in der Bereitschaft von 80
Prozent der Befragten aus, dem eigenen Kind das Studium der Medizin zu empfehlen. 54
Prozent der Befragten sind mit der in Relation zum Krankenversicherungsbeitrag
angebotenen ärztlichen Leistung zufrieden (Frage 33), 28 Prozent geben an, »daß man
eigentlich mehr erwarten könnte«. 78 Prozent sprechen sich gegen jede Selbstbeteiligung
an den Arzt- bzw. Arzneimittelkosten aus (Frage 33). Zu Recht folgern die Wickert-
Institute, »daß am Sachleistungsprinzip der Krankenversicherung festgehalten werden
wird«. Von besonderem Interesse sind die Antworten auf die Frage 35 (Haben Sie den
Eindruck, daß Ihr Arzt einen Unterschied zwischen Privat- und Kassenpatienten macht):
Ja

Nein

Im Hinblick auf Wartezeiten

27 Prozent

73 Prozent

Gründlichere Untersuchung

17 Prozent

83 Prozent

Freundlicher/persönlicher

14 Prozent

86 Prozent

Teurere Medikamente

28 Prozent

72 Prozent

Bessere Behandlungsmethoden

20 Prozent

80 Prozent
Aus diesen Antworten wird deutlich, daß sich ein Teil der Bevölkerung offensichtlich
durch eigene Erfahrung der Existenz einer Zwei-Klassen

Medizin bewußt ist.

Insgesamt spiegeln sich in den Ergebnissen der Meinungsumfrage des Hartmannbundes


auf anschauliche Weise die Widersprüche im ambulanten Sektor des Gesundheitswesens.
Die Patienten haben nach Einschätzung der Wickert-lnstitute nach wie vor »eine überaus
positive Meinung« über die freipraktizierenden Arzte; dennoch haben 40 Prozent den Arzt
teilweise mehrfach gewechselt, davon wiederum 64 Prozent wegen

»Unzufriedenheit mit dem Arzt bzw. mit der Praxis«. Obwohl rund zwei Drittel die nicht
als überhöht erkannten Arzthonorare als »angemessen«

59

bezeichnen, sprechen sich nur 50 Prozent dafür aus, daß »jede Leistung einzeln bezahlt« wird.
Für ein festes Gehalt sind 21 Prozent, keine Angaben machen 29 Prozent. In den Resultaten
werden ferner die Grenzen des gesundheitspolitischen Bewußtseins der Befragten sichtbar,
denen notwendige Informationen weitgehend vorenthalten werden. Wer die für die
Sozialversicherten bestimmten Mitteilungsblätter der Krankenkassen analysiert, findet dort eine
gesundheitspolitisch heile Welt, die auch in der Vergangenheit nie existiert hat. Schließlich sind
bei einer zahlenmäßig wechselnden Minderheit breite Ansätze eines kritischen Bewußtseins
festzustellen, das hauptsächlich eigenen negativen Erfahrungen mit der ambulanten
medizinischen Versorgung zu verdanken ist. Diese wachsende Unzufriedenheit mit dem
Gesundheitswesen insgesamt ist seit Jahren ein charakteristisches Element der öffentlichen
Meinung, und sie ist bereits zu weit verbreitet, als daß es den Standesorganisationen noch
gelingen könnte, ihr erfolgreich entgegenzutreten.

3.3.4 Das Zentralinstitut für die ärztliche Versorgung Die betroffenen Ärzteorganisationen
wissen sehr genau, daß ihre lautstarke Verteidigung der Einzelpraxis nur Rückzugsgefechte sein
können wie anders wären die Bemühungen der KBV zu verstehen, ihr »Zentralinstitut für die
ärztliche Versorgung« zu planen, das - so der Auftrag -

»unter Nutzung der technischen Möglichkeiten, die heute schon gegeben sind und morgen
Realität sein werden, alle Probleme der zukünftigen ärztlichen Versorgung im Rahmen der
sozialen Krankenversicherung bearbeiten, in Modellversuchen klären und damit die Grundlage
für eine Weiterentwicklung und Verbesserung der ambulanten ärztlichen Versorgung sowie der
Unterstützung des freipraktizierenden Kassenarztes für die Zukunft legen soll. Das reicht von der
Förderung des Arztes für Allgemeinmedizin über die vielen Aspekte der Datenverarbeitung in
der Medizin, von einer Verbesserung des Informationsflusses und der Informationsaufbereitung
zur Qualitätssteigerung der ambulanten medizinischen Versorgung bis hin zu einer
Grundlagenentwicklung für eine statistisch auswertbare, praxisgerechte elektronische
Befunddokumentation.« (12) Die Zielsetzungen reichen ferner - so der KBV-Vorsitzende
Muschallik- »von der Entwicklung praxisgerechter und wirtschaftlicher Parametersysteme, von
Labordaten und praxisgerechten Auskunftssystemen über Arzneimittel, medizinische Literatur
und spezielle Behandlungs- und Untersuchungsmöglichkeiten bis hin zur Sicherung und
Kontrolle der Qualität der kassenärztlichen Leistungen. Und zwar in den Bereichen, in denen
eine solche Qualitätssicherung technisch jeweils möglich ist und eine für die 60

Versorgung äußerst wichtige Aussagekraft hat.« (13) Doch dieses in Köln zu Beginn des Jahres
1973 propagierte »Zentralinstitut«, das dazu dienen soll, dem »Gerede ... vom Leistungsgefälle
zwischen Krankenhaus und freier Praxis und Zweifeln an ihrer Effizienz« den Boden zu
entziehen und den frei praktizierenden Arzt mit den gleichen Möglichkeiten der technologischen
Entwicklung auszustatten, ist im Grunde nur ein Argument für die Unzulänglichkeit der
Einzelpraxen. Die »Vorwärtsverteidigung« der KBV, wie deren Hauptgeschäftsführer Schlögell
das Projekt nannte, spornt zwar zu einzelnen Kraftakten an; sie lassen aber die Misere der
ambulanten Versorgung besonders deutlich werden.

Eine kurze Betrachtung verdient auch die kassenärztliche Argumentation gegen die ambulante
Behandlung in Krankenhäusern. Sie lautet primär: die angestellten Ärzte in Krankenhäusern
seien schon heute überlastet. Es wäre deshalb ein Unding, ihnen zusätzlich ambulante Patienten
zuzuführen - ein Gesichtspunkt, der auch herhalten mußte, als die niedergelassenen Ärzte sich
das Behandlungsmonopol für Früherkennungsmaßnahmen und Vorsorgeuntersuchungen
sicherten, obwohl sie gleichzeitig ihre eigene Arbeitsüberlastung beklagten. Diese
Argumentation erscheint nur auf den ersten Blick logisch. Die Krankenhäuser litten und leiden
noch immer unter chronischem Geldmangel, was nicht ohne Einfluß auf die Planstellen für Arzte
bleiben kann, da die Träger trotz des Krankenhausfinanzierungsgesetzes auch jetzt noch Defizite
auszugleichen haben. :Ourch Krankenhausambulatorien wären zusätzliche Einnahmen zu
erschließen, mit denen sowohl genügend Planstellen einzurichten als auch die Milliarden-
Defizite abzudecken wären, die heute letztlich die Allgemeinheit belasten.

3.4 Das Geschäft mit den medizinisch-technischen Leistungen

Interessante Praktiken zur wunderbaren Mehrung ihres Einkommens üben die Kassenärzte auf
dem medizinisch-technischen Sektor. Im September 1972 meldeten die Berliner
Gesundheitsinformationen: » Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin hat den im
Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des 2. Krankenversicherungsänderungsgesetzes am 1. Juli
1971 geschlossenen Institutsvertrag mit dem Senator für Gesundheit und Umweltschutz zum 30.
September 1972 gekündigt.« Dazu erklärte Senator Prof. Wolters, seit dem 1. Mai 1973
Staatssekretär im Bundesministerium fü_r Jugend, Familie und Gesundheit: »Die
Gesundheitsämter führen seit Jahren kostenlose Untersuchungen zur Krebsfrüherkennung und im
Zusammenhang damit zytologische Untersuchungen durch. Durch Inkrafttreten des 2.
Krankenversicherungsänderungsgesetzes haben die 61

Krankenkassen am 2. Juli 1971 derartige Untersuchungen für bestimmte Gruppen der


Bevölkerung als Pflichtleistung übernommen. Seitdem beteiligen sich auch die
freipraktizierenden Ärzte an diesen Untersuchungen. Lange bevor den Krankenkassen die
Aufgabe der Krebsfrüherkennung gesetzlich übertragen wurde, hat die Gesundheitsverwaltung
zytologische Laboratorien eingerichtet, in denen nicht nur Zellmaterial von den
Geschwulstberatungsstellen der Gesundheitsämter, sondern auch von freipraktizierenden Ärzten
eingesandtes Material kostenlos untersucht wurde.
Von jährlich rund 70 000 untersuchten Zellabstrichen kamen bereits vor dem 1. Juli 1971 ca. 60
Prozent von Ärzten aus der Praxis. In dem Bestreben, die Versorgung der Bevölkerung nach der
versicherungsrechtlichen Neuordnung unter keinen Umständen zu verschlechtern oder zu
gefährden, wurde zwischen dem Senator für Gesundheit und Umweltschutz und der
Kassenärztlichen Vereinigung Berlins ein sogenannter Institutsvertrag mit Wirkung vom 1. Juli
1971 abgeschlossen, damit die Kapazität dieser Laboratorien und die Erfahrung der dortigen
Mitarbeiter weiter für die Bevölkerung zur Verfügung steht; damit wurden die bis dahin
unentgeltlich tätigen Laboratorien in die kassenärztliche Versorgung einbezogen.

Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin kündigte den Institutsvertrag mit der Begründung, der
Kreis von Ärzten, die nach ihrer Ausbildung in der Lage sind, zytologische Untersuchungen
durchzuführen, sei >wider Erwarten so groß, daß der Bedarf hinreichend gedeckt< erscheine. Es
muß festgehalten werden, daß die niedergelassenen Ärzte die Zytolaboratorien gern in Anspruch
nahmen, solange diese ihre Untersuchungen kostenlos ausführten. Seitdem
Vorsorgeuntersuchungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu Pflichtleistungen der
Krankenkassen gehören - folglich von diesen honoriert werden - sind die freipraktizierenden
Ärzte nach Ansicht der KV Berlin jetzt in der Lage, die zytologischen Untersuchungen selbst
durchzuführen.« (14) Um das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigungen auch bei
Laboruntersuchungen ging es in einem besonders eklatanten Fall in München. Dort hatte der
gebürtige Berliner Dr. Hans Bräuer, Veterinärarzt, Pharmakologe und Spezialist für klinische
Chemie, im Juni 1972 ein Computer-Labor mit dem Namen »Medicalservice GmbH« eröffnet.
Darin beschäftigte er einen Facharzt für Labormedizin, zwei medizinisch-technische Assistenten,
einen technischen Assistenten für Mechanik und eine Chemotechnikerin. Bräuers
unternehmerisches Angebot: Freipraktizierende Ärzte ohne Labor konnten in seinem modernen
und leistungsfähigen Institut mittels des sogenannten Auto-Analyser-Verfahrens mit 15
Kubikzentimetern Blut 27 bluttechnische Untersuchungen erhalten. Dafür berechnete Dr. Bräuer
den kassenärztlichen Kunden nach Information Günther Wollnys DM 27,-, also eine Mark pro
Unter-62

suchung (15). Die Kassenärzte nahmen den preiswerten Dienst gern in Anspruch, erhöhten
Bräuers Liquidation um einen Honorarsatz und rechneten diese Laborleistung in der üblichen
Weise ab. Wie hoch nun dieser Aufschlag der Kassenärzte war, ist nicht auszumachen und auch
möglicherweise von Arzt zu Arzt verschieden gewesen. Doch es gibt außer wilden
Spekulationen darüber auch Bemerkungen von Leuten, die es eigentlich wissen müßten. So
erklärte Dr. Jürgen Bösche, Leiter der KBV

Rechtsabteilung, gegenüber der » Welt« nach Bericht vom 14. 2. 1973 dieser Zeitung: »Es sei
nicht vertretbar, daß Ärzte Laboruntersuchungen für 5 Mark einkauften und dafür 125 oder 250
Mark abrechneten.« Nach Günther Wollnys Nachrechnung »kostet die billigste
Blutuntersuchung durch den Arzt fünf Mark, die teuerste 22 Mark. Alle 27 Blutuntersuchungen
zusammen aber kosten statt der 27 Mark vom Autoanalyser bare 354 Mark, wenn der Kassenarzt
sie durchführt.« (16) W eiche Honorarspanne den Kassenärzten auch immer angemessen
erschien, Bräuers Auto-Analyser war für die bestellenden Ärzte ein außerordentlich interessantes
Geschäft, und auch sein Besitzer verdiente offensichtlich noch recht gut daran.

Daß ihr Geschäft nicht mehr floriert, verdanken die Münchener Kassen
ärzte einer standespolitischen Störaktion, inszeniert von Professor Hans Joachim Sewering,
Vizepräsident der Bundesärztekammer sowie Leiter der bayerischen Landesärztekammer und der
Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. Er schickte allen 9194 freipraktizierenden Ärzten im Juli
1972 ein Schreiben ins Haus, das ihnen »mit allen sich daraus ergebenden Folgen« und
»Nachteilen« (17) drohte, falls sie ihre Laboruntersuchungen in Spezialinstituten vornehmen
ließen, die nicht der Standesaufsicht unterstünden. Sewerings Begründung für die Aufforderung
an seine Kollegen, diesen »Verstoß gegen die kassenärztlichen Pflichten« zu stoppen (18),
bildete ein Rechtsgutachten der Kammer- und K V-Juristen; es exegierte die R VO in den
betreffenden Pragraphen so, »daß der Kassenarzt nur eigene und solche Leistungen abrechnen
darf, die unter seiner Verantwortung und fortlaufenden Aufsicht von fachlich
weisungsgebundenen Hilfspersonal erbracht werden« (19), wie es auch der Mantelvertrag
zwischen den Kassenärzten und den Krankenkassen seit jeher vorsah. Darüber hinaus behauptete
Sewering, »daß das Erbringen von Laborleistungen in der Praxis des Arztes unter Verwendung
wissenschaftlich anerkannter Labormethoden nach wie vor in vollem Umfang den modernen
Anforderungen«

entspreche (20).

Nach solcher Rechtsauffassung wäre es in der Tat illegal gewesen, die vom Institut Bräuer
vorgenommenen Blutanalysen abzurechnen, da sie weder unter fortlaufender Aufsicht eines
Arztes noch von einem an ihn weisungs-63

gebundenen Hilfspersonal erbracht wurden. Das rasche Ergebnis der standesärztlichen


Pression war wirksam: Innerhalb »von wenigen Wochen ging mein Umsatz auf ein Zehntel
zurück«, errechnete Dr. Bräuer (21).

Bräuer versuchte dann »bis an die Grenzen der Lächerlichkeit mit den Standesfürsten ins
Gespräch zu kommen« (22), ehe er den Weg zum Gericht ging, um gegen Sewerings
Schreiben zu klagen. Dabei kam ihm, so das renommierte »Berliner Krzteblatt« vom 16. 2.
1973, der Hinweis Sewerings auf die Modernität der Laborleistungen in der Praxis in
dessen Rundschreiben zugute, »denn er ermöglichte es Bräuer, seine Klage auf das

,Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb< zu stützen.«

Am 25. Januar 1973 fiel in München beim 6. Zivilsenat des Bayerischen


Oberlandesgerichtes die Entscheidung. Unter Ausschluß der Revision gab das Gericht in
vollem Umfang der Klage Dr. Bräuers statt. Nach seiner Auffassung »umfaßt nach§ 122
Abs. 1 RVO die ärztliche Behandlung ...

auch die Hilfeleistungen anderer Personen als approbierter Arzte, wenn der Arzt sie
anordnet.« (23) Unzweifelhaft aber dienen auch Bräuers Blutanalysen als Grundlagen für
Diagnose und Therapie des Kassenarztes; sie sind damit Bestandteil der Ȋrztlichen
Behandlung« und somit auch abrechnungsfähig. Das Gericht ging noch weiter, indem es
erklärte, es sei sogar »wohl selbstverständliche Pflicht« (24) des Arztes, unabhängige
Fachinstitute zu Hilfe zu nehmen, wenn die eigene Praxis nicht hinreichend sei: »zum
Wohle eines Kassenpatienten«. Außerdem wurde die Warnung der Standesorganisation
vor Bräuer als Wettbewerbsverstoß erkannt, eine Einschätzung, die weitere Folgen haben
sollte.

Während die Standesorganisationen das Urteil noch kritisierten, überfiel die


»Krankenkassenfachleute ... Fassungslosigkeit« (25). Bei den Verhandlungen waren
nämlich Bräuers Preise bekannt geworden, die nun mit den üblichen Abrechnungen für
Laborleistungen verglichen werden konnten. So erklärte Wollny: » Jetzt finden die
Krankenkassen bestätigt, was sie seit Jahren ohne Erfolg in der Öffentlichkeit vertreten
haben: Die technischen Leistungen innerhalb der ärztlichen Gebührenordnung sind in
ihren Preisen weit überhöht. Jetzt liegt der Nachweis vor - wenn er auch ahnungslos
geliefert wurde. Für 27 Mark kann der Autoanalyser also eine Leistung erbringen, die
beim Kassenarzt - weil er ja das Monopol auf die ärztliche Behandlung hat - nur für 354
Mark zu haben ist, falls der einzelne Arzt diese Leistung zu erbringen überhaupt in der
Lage ist. Die Firma mit dem Automaten dagegen kommt bei einem Preis von 27 Mark mit
der Verzinsung des eingesetzten Kapitals von eineinhalb Millionen Mark und den
Gehältern eines sechsköpfigen Stabes zurecht. Man braucht kein Betriebs- oder Volkswirt
zu sein, um angesichts solcher Zahlen nachdenklich zu werden.« (26) 64

Es erhebt sich natürlich die Frage, warum die Standesorganisationen ihren Ärzten das
Kuckucksei ins Nest gelegt haben, indem sie ihnen das Geschäft mit Bräuer quasi
untersagten. Die Gründe liegen auf der Hand. Während die Kassenärzte preiswerte
Analysen erhielten und mit ihren Gewinnen dabei zufrieden waren, sahen die
Standespolitiker weiter. Sie wollten keine Konkurrenz von unabhängigen Instituten
ausgerechnet in einem Bereich, der Kassenärzten mit eigenem Labor und besonders den
hauptberuflichen Laborärzten, zu denen auch der Präsident der Bundesärztekammer,
Fromm, gehört, so ausgezeichnete Gewinne ermöglicht. Deshalb Sewerings diskreter
Hinweis an die Ärzte in seinem Rundschreiben, Laborbefunde, die in eigener Praxis
erhoben würden, seien umsatzfördernd.

Günther Wollnys folgende Fragen haben deshalb grundsätzlichen Charakter: »Stimmt es


also doch mit dem Futterneid der Ärzte, der die medizinische Technik nicht hochkommen
lassen will? Geht ein Teil der Feindseligkeit der ärztlichen Standesvertreter gegen die
Gewerkschaften etwa darauf zurück, daß sie sich gerade für die medizinische Technik
eingesetzt haben, und sind die technisch-medizinischen Zentren nicht doch an diesem
Futterneid Pleite gegangen? Bisher konnten die Ärzte ihr Monopol auf die ärztliche
Behandlung leicht verteidigen. Es gab ja keinen Konkurrenten.

Kaum aber gibt uns die Technik eine Chance, an diesem Monopol einmal zu kratzen, schon
müssen den Krankenkassen, die ja die Monopolrente dafür zu zahlen haben, die Augen
übergehen.« (27) Damit hat Wollny das zentrale wirtschaftliche Motiv für die
Verhaltensweise der Ärzteorganisationen ausgemacht. Der Trend zur Verselbständigung
des Bereiches der wissenschaftlich-technischen Leistungen und deren Herausnahme aus
der freien Praxis würde gravierende Folgen für die Diagnostik und das Kassenarztwesen
überhaupt haben. In dieser Einsicht wehren sich die Ärzteorganisationen gegen eine
Senkung der überhöhten Honorare für technische Leistungen aus Gründen, die Fritz
Mörschbach in der »Welt der Arbeit« vom 2. 3. 1973 so beschreibt: » .. . diese Strategie
kann durchaus bedingt sein durch die Tatsache, daß diagnostische Leistungen wie
Röntgenuntersuchungen, Elektrodiagramme und ähnliche Bemühungen, zu denen
aufwendige Apparaturen erforderlich sind, besonders gut honoriert werden. Die
Propaganda und finanzielle Förderung für die Gemeinschaftspraxis bei gleichzeitiger
Diffamierung der Medizinisch

Technischen Zentren, kann folglich allein den Zweck verfolgen, das für die Diagnostik
bereitstehende Geld in die eigenen privaten Kassen zu lenken, anstatt es öffentlichen
Trägern zu überlassen.«

Die wirtschaftlichen Interessen der Ärzteverbände kamen dann auch in den von den
Ärzten lange schon, von den Kassen nach Aufdeckung der 65

Laborpreise dringend geforderten Verhandlungen nach Neufestsetzung der Gebühren zum


Ausdruck. Beiden Seiten ging es darum, das ungleiche Verhältnis zwischen den
eigentlichen ärztlichen Leistungen (z.B. der körperlichen Untersuchung) und den
entschieden zu hoch bewerteten medizinisch-technischen Leistungen zu beseitigen.
Allerdings lagen die Vorstellungen, in welcher Weise das zu bewerkstelligen sei, weit
auseinander.

Während die Kassen starke Abstriche an den Honoraren für Laborleistungen planten, um
das Mißverhältnis auszugleichen, erstrebten die .Ärzte Honorarerhöhungen für ihre
spezifischen Leistungen bei Beibehaltung der Honorare für den medizinisch-technischen
Bereich (28). Eine vorläufige Einigung ergab, daß Laborleistungen aus
Gemeinschaftslaboratorien von mehr als zehn .Ärzten ab 1. 7. 73 nur noch mit 85 Prozent
der weiterhin geltenden Gebührensätze vergütet, und daß die vom Auto-Analyser
durchgeführten Untersuchungen von den Kassen mit DM 9,65 je Einzelanalyse bezahlt
werden, wobei auf ein komplexes Analysenspektrum höchstens DM 24,20 angerechnet
werden.

Wer die ärztliche Standespolitik während der letzten Jahre verfolgt hat, kann Gerhard A.
Friedl nur zustimmen, der die Ereignisse von München wie folgt charakterisiert: »In
Wirklichkeit geht es um die Kernfrage, ob es gesundheitspolitisch vertretbar ist, wegen der
Erhaltung offensichtlich von der Technik überholter Strukturen den medizinischen
Fortschritt zu behindern ... Die Antwort muß ein klares Nein sein!« (29) Daß
freipraktizierende .Ärzte »den Sozialversicherten die Fortschritte der Medizin
vorenthalten«, wie auch ein Beamter des Bundeskartellamtes zu erkennen glaubt (30), ist in
der Tat nur vor dem Hintergrund ihrer langjährigen Einkommenspolitik zu verstehen.

Das für die ärztlichen Standesorganisationen negative Münchener Urteil, vom »Berliner
.Ärzteblatt« eine »oberlandesgerichtliche Schelte« genannt, sowie als »Hiebe« und
»Prügel« bezeichnet, hatte noch weitere Konsequenzen. Der Fall Bräuer legte die
Vermutung nahe, hinter dem Boykott könne eine zentrale Absprache stecken und so trat
das Bundeskartellamt auf den Plan. Sein Verdacht wurde noch genährt durch den
Umstand, daß Sewering zugleich Vizepräsident der BÄ.K in Köln ist. Im Februar 1973

tauchten die Beamten des Bundeskartellamts mit Kölner Kriminalpofizisten und einem
Hausdurchsuchungsbefehl in den Räumen der BÄK und KBV auf und beschlagnahmten
Akten. Die Begründung des Bundeskartellamtes gegenüber der »Frankfurter Rundschau«
lautete: »Es besteht der Verdacht, daß die Organisationen ihre Mitglieder aufgefordert
haben, medizinisch-technische Leistungen von bestimmten darauf spezialisierten
Unternehmen nicht in Anspruch zu nehmen. Eine solche Einflußnahme kann nach
Paragraph 26, Absatz 1 (Boykott) oder Paragraph 38, 66

Absatz 2, Satz 2 GWB (Verbotene Empfehlung zu gleichförmigem Verhalten) eine mit


Bußgeld bis zu 100 000 Mark bedrohte Ordnungswidrigkeit sein.« (31) Das gleiche vollzog
sich ein paar Tage später auch in der Zentrale des Verbandes der Niedergelassenen Ärzte
in Köln.

Erneut waren die Reaktionen der Ärzteverbände registrierenswert. Sie sprachen von
»Diffamierung«, »Nacht-und-Nebel-Aktionen« und »polizeistaatlichen
Einschüchterungsmethoden« und bezeichneten die Anordnung des Amtsgerichtes Köln
(Aktenzeichen 201 Gs 290/73) auf Durchsuchung der Räume eine »eklatante Verletzung
rechtsstaatlicher Grundsätze durch eine sachlich unbegründete Polizeiaktion, die ihrem
Ansehen in der tJffentlichkeit ohne jeden Grund schweren Schaden zufügt« (32).

Auch die 1. und 2. Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Laboratoriumsmedizin


erlaubten sich »als deutsche Staatsbürger die Anmerkung, daß uns das Vorgehen in Köln
tief beunruhigt und fatale Erinnerungen hervorgerufen hat« (33). Dazu leistete das
konservative Wochenblatt

»Christ und Welt« den Ärzten Schützenhilfe: » ... dennoch hinterläßt das gewählte
Verfahren den fatalen Beigeschmack eines gewollt spektakulären Auftrumpfens der
Kartellbehörde. Immerhin waren diesmal Ärzteorganisationen die Betroffenen. Gerade sie
haben sich in letzter Zeit zunehmender, vielfach ideologisch eingefärbter und damit oft
unbegründeter Kritik zu erwehren. Schon deswegen hätte es für das Kartellamt naheliegen
sollen, sich dieses Falles zurückhaltend anzunehmen. Zu leicht könnte die Kartellbehörde -
sicher ungewollt - in den Verdacht geraten, mit ihrem Vorgehen auf der offenbar modisch
gewordenen Anti-Ärzte-Welle schwimmen zu wollen.« (34) »Christ und Welt« erteilt hier
den Kartellwächtern Zensuren, weil die Zeitung sich offensichtlich nur ein
unabgesprochenes Kartell der systemverteidigenden Kräfte gegen die Reformer des
Gesundheitswesens vorstellen kann, in dem selbst staatliche Behörden auch im Falle des
Verdachtes auf Gesetzesverstoß Zurückhaltung üben sollten. Wirksamer kann der
kommunistischen Theorie vom »Staatsmonopolistischen Kapitalismus« sicher nicht in die
Hände gearbeitet werden.
3.5 W eitere Versuche, Privilegien zu sichern
Sicher nicht ohne Zusammenhang mit den erstmaligen Erfahrungen der Ärzteverbände
mit dem Bundeskartellamt ist dem Hartmannbund anläßlich der beabsichtigten
Neufassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen der Vorschlag eingefallen,
die freien Berufe und damit die niedergelassenen Ärzte ganz aus dem Kartellrecht
herauszunehmen. In einem Schreiben an die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen vom
März 67

1973 fordert der Hartmannbund, in § 1 solle ausdrücklich vermerkt werden: »Dieses


Gesetz findet auf freie Berufe keine Anwendung.« In der Begründung dazu heißt es: »Der
Wettbewerb der freien Berufe ist regelmäßig ein geistiger Wettbewerb .. . Tragendes
Moment dieses Wettbewerbs ist die fachliche Leistung. Dagegen sind Sinn, Zweck und Ziel
des Kartellgesetzes die Schaffung und Förderung ungehinderten wirtschaftlichen
Wettbewerbs. Diesen wirtschaftlichen Wettbewerb aber führen die freien Berufe nicht.
Ihre Tätigkeit ist auf geistigen Wettbewerb gerichtet.

Würde das Kartellgesetz als anwendbar auf die freien Berufe erklärt werden, dann müßte
dies dazu führen, daß Grundlage und Wesen der freien Berufe und damit die Struktur
unserer Gesellschaftsordnung angetastet werden.«

Die Kritiker solcher Privilegien sind indes schon auf dem Plan. Der »Gesellschaftspolitische
Informationsdienst« vom 8. März 1973 veröffentlichte eine Stellungnahme, in der es heißt,
so argumentiere ein Berufsstand, »der es ... verstanden hat, mit Hilfe des Kassenarztrechts
... , Pressionen auf den Gesetzgeber, totaler Institutionalisierung in den eigenen Standes-
und Wirtschaftsvertretungen den .. . Wettbewerb untereinander praktisch unmöglich zu
machen, zugleich aber allen Standesmitgliedern ein im Durchschnitt hervorragendes
Einkommen ... zu verschaffen, das von der fachlichen Leistung und vom geistigen
Wettbewerb nahezu unabhängig ist.

Andere Freiberufler, die in hartem Wettbewerb mit den eigenen Kollegen wie auch mit
Kollektiven stünden, hieß es, könnten hier vor Neid erblassen.«

Auch die »Stuttgarter Zeitung« vom 9. März 1973 widmet der Forderung des
Hartmannbundes harte Worte: »Diese Gedankenkette zeichnet sich nicht gerade durch
zwingende Logik aus. Falls es wirklich so ist, daß zwischen den Angehörigen freier Berufe
kein wirtschaftlicher Wettbewerb herrscht, dann ist es höchste Zeit, ihn herbeizuführen.
Andernfalls müßten es sich die Angehörigen freier Berufe gefallen lassen, staatlich
festgesetzte Tarife verordnet zu bekommen ... Im übrigen tummeln sich die freien Berufe
nicht nur auf dem Feld der Gesundheitsfürsorge und der Behandlung von Kranken. Da
gibt es ganz handfeste wirtschaftliche Tätigkeiten, bei denen von geistigem Wettbewerb
nur wenig zu bemerken ist. Alles in allem besteht aller Anlaß sich zu überlegen, wie ein
wirklicher Wettbewerb zwischen Angehörigen der freien Berufe sichergestellt werden
kann. Sie von den Vorschriften des Kartellgesetzes einfach auszunehmen, das wäre jedoch
der für die Volkswirtschaft teuerste Ausweg, und den können wir uns bei aller
Wertschätzung für die Ärzte einfach nicht leisten.«
Angesichts der hohen ärztlichen Einkommen und der erfolgreichen Politik 68

zugunsten deren ständiger Maximierung nehmen sich die Lamentationen der


Ärzteverbände über das Risiko der freien Berufe in ihrem Falle eher als schlechte Komödie
aus. Im übrigen ist man im Ärztelager überaus mißtrauisch, wenn irgendwo an den
gesellschaftlichen Status der bürgerlichen Oberschicht gerührt wird. So rief der »Makler«-
Beschluß des Hannoveraner SPD-Parteitages sofort das Deutsche Ärzteblatt auf den Plan,
das am 10. Mai 1973 den Verdacht äußerte: »Zuerst die Makler - und dann die freien
Berufe?«.

Dieses für die Öffentlichkeit überraschende und heftige Engagement wird erst verständlich
angesichts der engen geschäftlichen Beziehungen zwischen zahlreichen freipraktizierenden
Ärzten und den Maklern. Aufgrund ihrer überhöhten Einkommen gehören die Ärzte zu
den finanzkräftigsten Gruppen in der Bundesrepublik, ständig auf der Suche nach
geeigneten Objekten aller Art, in denen sich Honorare anlegen lassen. Im Gegensatz zum
SPD-Parteitag in Hannover, dessen Mehrheit die Makler offensichtlich als gesellschaftlich
parasitäre Gruppe einschätzte, verhielt das Deutsche Ärzteblatt sich solidarisch - logische
Konsequenz aus gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen zwischen zwei bourgeoisen
Gruppen.
3.6 Die Normalisierung der Arzthonorare
In der Studie »Die Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik Deutschland« analysieren
die Autoren auch die Honorarprobleme der freipraktizierenden Ärzte. Dabei konstatieren
sie u. a.: »Das Einzelleistungshonorar wirkt in Richtung auf Maximierung der
Patientenzahlen, der Behandlungsfälle und der Zahl der Leistungen. Die reine
Einzelleistungshonorierung entspricht einem Akkordsystem.« (35) Es verführt die
niedergelassenen Ärzte dazu, »diagnostisch und therapeutisch entbehrliche, aber gut
honorierte Leistungen zu gewähren« (36).

Die Studie spricht sich für eine neue Gebührenordnung aus, die statt der Einzelleistungen
Leistungskomplexe enthalten soll. Dabei werden alle zur Behandlung von jeweiligen
Krankheiten notwendigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zu
Leistungskomplexen zusammengefaßt, nach denen die Honorare differenziert werden
sollen. Die Struktur der neuen Gebührenordnung soll durch ein Punktsystem bestimmt
werden, das in staatliche Kompetenz fällt. Seine Bewertung (ausgedrückt in DM) soll
entsprechend der Entwicklung in angemessenen Abständen festgesetzt werden, und zwar
durch die öffentliche Hand, nicht mehr im »Mechanismus der Verhandlungen« (37) der
Selbstverwaltungsorgane. Ihnen soll die Festlegung des Honorarniveaus ( des Punktwertes
jedes Leistungskorn-69

plexes der Gebührenordnung) verbleiben. Die Verhandlungen sollen transparent gemacht,


ihre Ergebnisse öffentlich zur Diskussion gestellt werden. Grundsätzlich soll sich das
Einkommen der freipraktizierenden Ärzte an der allgemeinen Lohnentwicklung
orientieren. Falls dies geschieht, braucht der Staat nicht einzugreifen.

Die Analyse des WWI-lnstituts wurde 1971 veröffentlicht, im selben Jahr, in dem die
Kassenärztlichen Vereinigungen einen Honorarzuwachs von 24,8 Prozent durchsetzten.
Seitdem sind keine Anzeichen sichtbar geworden, aus denen eine Abkehr von ihrer
rigorosen Interessenpolitik abzuleiten wäre. Zudem hat sich die wirtschaftliche Lage der
gesetzlichen Krankenversicherung seit damals wesentlich verschärft. Wie eine soziale
Idylle lesen sich noch die finanziellen Prognosen in den Sozialberichten der
Bundesregierung von 1970 und 1971. Unter der Rubrik »Ärztliche und zahnärztliche
Leistungen« wurden im Sozialbericht 1970 für das Jahr 1973 DM 8.038 Mrd. vorausgesagt,
erreicht werden jedoch DM 11 Mrd.

Der Sozialbericht 1971 sagte für das Jahr 1975 für ärztliche Leistungen der GKV DM
8.466 Mrd. voraus, aber diese Summe wird schon 1973

erreicht oder überschritten. Diese Kostenlawine, die keiner sachlichen Notwendigkeit,


sondern dem Profitstreben der freipraktizierenden Ärzte zu verdanken ist, unterminiert
nicht nur das Gesamtsystem der gesetzlichen Krankenversicherung, sie verweist auch die
Vorschläge der WWI-Studie zur Reform der Honorarzahlungen in die Vergangenheit.
Heute sind einschneidende Maßnahmen erforderlich, wenn die GKV überhaupt
funktionsfähig bleiben soll. Nach der Konzeption der WWI-Studie soll der Staat dann erst
eingreifen, »wenn der Gesamtumfang der Leistungen außerhalb angemessener
Proportionen anwächst, in diesem Zusammenhang die individuelle Honorarsumme
ansteigt und damit die Einhaltung der Beitragsgrenze gefährdet« (38). Als das geschrieben
wurde, lag die Beitragsgrenze bei 8,2 Prozent. 1973 oder spätestens Anfang 1974 werden
die Kassen der GKV die 10-Prozent-Grenze auf breiter Front überschreiten, und ein Ende
dieser Entwicklung, die schon jetzt für viele Arbeitnehmer eine unzumutbare soziale
Belastung bedeutet, ist ohne drastische Gegenmaßnahmen nicht abzusehen. Ohne eine
Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung mit einer Umverteilung der
Ausgaben zu Lasten des Profitsektors (Leistungen für Ärzte, Zahnärzte und Arzneimittel)
wird der Beitragsbedarf je Sozialversicherten in den kommenden Jahren für einen ständig
und schnell wachsenden Anteil der Arbeitnehmer eine überdimensionale Zunahme
erfahren. Experten schätzen folgende Ausgaben voraus: 1974 - DM 46 Mrd.; 1975 - DM 51
Mrd.; 1976 - DM 57 Mrd.; 1977 - DM 63 Mrd. Andere Schätzungen liegen höher, sie gehen
bis zu DM 70 Mrd. für das Jahr 1977. Die politischen Konsequenzen aus dieser 70

Entwicklung sind schon jetzt abzusehen: Ein System, das den Arbeitnehmern im
Krankheitsfall die gesundheitliche Wiederherstellung und gleichzeitig die soziale Sicherung
garantieren soll, wird selbst zur Quelle sozialer Unzufriedenheit. Es entbehrt nicht einer
sozialpolitischen Paradoxie, daß sich diese Entwicklung in einer Ära vollzieht, in der die
Sozialdemokratie die zuständigen Minister stellt, und daß beide Ressorts die
wirtschaftliche Unterminierung der gesetzlichen Krankenversicherung zumindest nach
außen hin bisher widerspruchslos hingenommen haben. In der Partei dagegen werden neue
Formen der ärztlichen Honorierung in Verbindung mit einer Strukturreform der GKV
bereits seit langem diskutiert: das Einfrieren des gegenwärtigen Beitragssatzes;
uneingeschränkte Zahlungen in dem profitfreien Ausgabensektor und entsprechende
Drosselung der Leistungen im Profitsektor; Verteilung der für den Profitsektor
verbleibenden Anteile des Budgets nach einem zu vereinbarenden Schlüssel an die Ärzte,
Zahnärzte und Apotheken. Insgesamt muß die staatliche Garantie der Einnahmen durch
die staatliche Kontrolle über die Ausgaben ergänzt werden.

71

4. Der Arzneimittelmarkt in der Bundesrepublik 4.1 Medikamente als Kostenfaktor der


gesetzlichen Krankenversicherung Zur Explosion von Ausgaben und Beiträgen in der
gesetzlichen Krankenversicherung haben ihre ständig vermehrten Leistungen für
Arzneimittel erheblich beigetragen. In den Jahren von 1960 bis 1972 stiegen die Ausgaben
auf diesem Sektor von DM 1,093 Mrd. auf DM 5,720 Mrd., das ist eine Steigerung um 423
Prozent. Pro Versicherten gaben die Kassen 1960

DM 23,80 aus, 1970 bereits DM 78,75, 1972 hingegen DM 102,19. Von 1970 auf 1971
stiegen die Aufwendungen für Medikamente allein um 17,7 Prozent und von 1971 auf 1972
um 14,5 Prozent. Damit schob sich ihre letzte prozentuale Steigerungsrate noch vor die der
Ärztehonorare.

Auch für 1973 wird der steile Anstieg unvermindert weitergehen; auf DM 6.5 Mrd. und ein
Plus von 15 Prozent schätzt das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung die
Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, die in die Kassen der Apotheken, des
Medikamenten-Großhandels und der pharmazeutischen Industrie fließen werden.
Insbesondere bei den Arzneimitteln für Rentner zeigen sich enorm gestiegene Ausgaben.
Die KVdR zahlte je Rentner 1960 DM 61,74 (gegen 34,96

je Mitglied der aKV), 1970 DM 230,55 (gegen 105,03 je Mitglied der aKV) und 1972 gar
DM 301,64 (gegen 133,64 je Mitglied der aKV).

Damit stiegen in der KV dR die Leistungen von 1960 bis 1972 um über 652 Prozent.

Den riesigen Ausgaben steht ein riesiger Markt gegenüber, dessen wirtschaftliche
Bedeutung noch mehr hervorgehoben wird durch die Tatsache, daß die GKV nur knapp 60
Prozent der Umsätze zahlt. Die übrigen mehr als 40 Prozent gehen auf die PKV,
Privatzahler ärztlicher Rezepte und auf die sogenannte Selbstmedikation, jene Tabletten,
Pulver und Fläschchen, die sich ein Unwohlfühlender auf eigene Faust kauft; es wird
geschätzt, daß dieser Marktanteil wenigstens 25 Prozent beträgt. Insgesamt werden etwa
DM 13 Mrd. in der Bundesrepublik für Arzneimittel ausgegeben (1), wovon auf den
Bundesverband der pharmazeutischen Industrie, dessen 540 Mitgliedsfirmen rund 95
Prozent der einheimischen Produktion erzeugen, ein Anteil von DM 7,04 Mrd. entfällt. Wie
das Ifo Institut für Wirtschaftsforschung Anfang 1973 in einer Studie mitteilte, 72

wird sich die Produktion von Pharmaka in der Bundesrepublik bis 1980

mehr als verdoppeln und einen Umfang von ca. DM 14,5 Mrd. erreichen.

Das entspricht einer durchschnittlichen Wachstumsrate von etwa 8,5 Prozent pro Jahr. Die
hohe Quote der in der BRD fabrizierten Arzneimittel weist darauf hin: die westdeutsche
Pharmazie hat Weltgeltung, sie ist entsprechend im Export führend.
4.2 Das Arzneimittelangebot
Problematisch wird es, wenn ein Blick auf das Arzneimittelangebot geworfen wird. Man
darf - unter Einbeziehung aller Varianten von Medikamenten, sei es in Tabletten, Tropfen-
oder anderer Form - heute mit einer Stückzahl von 70 000 - 80 000 Arzneimitteln rechnen
(2), das heißt, mit einem selbst für den Fachmann unüberschaubaren Angebot. Die
Unüberschaubarkeit bleibt auch dann, wenn man sich auf die Spezialitäten beschränkt: es
sind dann immer noch 30 000 Stück unabhängig von der Form ihrer Verabreichung. Wird
dann noch eine Relation zu den von Statistikern ermittelten rund 1200 Krankheiten
geschaffen, von denen nur ein Viertel, also 300, mit Arzneien behandelt werden können, so
stehen statistisch jeder einzelnen dieser 300 Krankheiten wenigstens 233

Medikamente gegenüber.

Nun werden diese astronomischen Ziffern schon durch die Praxis zurückgeschraubt. Ein
solches Angebot kann von den freipraktizierenden Ärzten, die ja in erster Linie für den
Umsatz sorgen, nicht mehr geprüft werden.

Sie verlassen sich deshalb auf einen relativ geringen Prozentsatz der angebotenen »Ware«;
so haben 5000 Arzneispezialitäten einen Marktanteil von 90 Prozent, und 1968 machten
nur 650 Präparate 56 Prozent des Umsatzes aus. Damit scheinen sich die deutschen Ärzte
notgedrungen anderen Ländern anzupassen, denn beispielsweise in Österreich werden
rund 6000 Spezialitäten angeboten.

Diesem pragmatischen Verhalten der Ärzte trägt auch der Bundesverband der
pharmazeutischen Industrie Rechnung. Auf der von ihm herausgegebenen »Roten Liste«
pharmazeutischer Produkte, in der Detailinformationen über die Medikamente gegeben
werden und die bisher nur an die Ärzte ging, aber demnächst auch den Apotheken
zugeschickt wird, standen 1971 lediglich 8800 Präparate. In der im Herbst 1973
erscheinenden neuen Liste werden es noch knappe 1000 weniger sein; und davon machen
wieder 1000 Präparate einen Umsatz von 80 Prozent. Zur Information der Ärzte hat die
»Rote Liste« einen positiven Beitrag geleistet. Die neue »Rote Liste« bietet dazu durch
Neugliederung des Inhalts eine bessere übersieht 73

als bisher: der Arzt wird sämtliche vergleichbaren Präparate an einer Stelle finden statt
wie bisher in alphabetischer Anordnung. Aber rund 8000 Mittel sind immer noch
unvergleichlich viel für die Praxis: Praktische Ärzte verschreiben durchschnittlich nur
etwa 100 verschiedene Medikamente, und selbst Fachärzte kommen in der Regel mit 150
Präparaten aus.

Interessant ist ein Blick auf den Pro-Kopf-Verbrauch von Arzneimitteln in den
verschiedenen Ländern. An der Spitze lag 1969 Frankreich: jeder Franzose schluckte für
DM 141,- Medikamente. Von den europäischen Ländern verbrauchten die Holländer am
wenigsten, nur DM 85,-. Die Bundesrepublik Deutschland lag mit einem Verbrauch für
DM 105,- im mittleren Feld (3).
4.3 Die Struktur des Arzneimittelmarktes
Auf einem Markt, wo sich die unüberseh- und -prüfbare Fülle von rund 80 000
Arzneimitteln tummelt, darf zweierlei vermutet werden: erstens muß hier ein großer Profit
für Firmen, Großhändler und Apotheken zu machen sein; und zweitens dürfte es an einer
wegen der möglichen Schädlichkeit notwendigen, von wem auch immer ausgeübten
Aufsicht hapern.

Beide Aspekte, Profit und potentielle Schädlichkeit, verdienen eine Betrachtung.

Zum Geschäft mit der Krankheit im pharmazeutischen Sektor zitiert Günter Windschild
in einer Sendung die Schrift »Menschen - Meinungen -

Medikamente« des Bundesverbandes der pharmazeutischen Industrie, für den die


Ursachen der gewaltigen Ausgabensteigerungen der Krankenkassen »auf der Hand«
liegen; darunter sind versteckt angeführt: »wirksamere Medikamente«. Windschild
erlaubt sich darauf die mehr rhetorisch gestellte Frage: »Nur eines wird nicht erhellt:
Trägt möglicherweise die Preisgestaltung der pharmazeutischen Industrie selber zum
enormen Preisanstieg bei?« ( 4) Denn sie setzt in erster Linie die Preise fest, wie Direktor
Kastner vom Bundesverband der Ortskrankenkassen in einem Bericht für die 12. Tagung
der Internationalen Vereinigung für soziale Sicherheit in Köln deutlich machte: »Die
beherrschende Stellung auf dem Arzneimittelmarkt haben die Hersteller inne.« (5) Der
Arzneimittelmarkt ist von einer völlig anderen Struktur als andere Marktsektoren, denn es
stehen sich hier nicht Anbieter und Verbraucher direkt gegenüber, sondern über den in
den meisten Fällen entscheidenden Mittler Arzt, der Art und Umfang des Konsums
bestimmt. Dieser trifft seine Entscheidungen über die Wahl der »Ware« primär nach
therapeutischen und nicht nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten, wobei ihm letz-74

teres - selbst wenn er wollte - durch das undurchschaubare Angebot unmöglich wird. Auch
treffen den Verbraucher die Kosten für die Arzneimittel nicht direkt, sondern nur
indirekt: seine Krankenkasse zahlt für ihn, doch schlagen sich hohe Preise naturgemäß in
hohen Beitragssätzen nieder. Präzise findet sich die Analyse des Arzneimittelmarktes im
sogenannten »Bauer-Papier«, dem im September 1972 vorgelegten Ergebnis eines 1968
gebildeten Interministeriellen Arbeitskreises für Preisgestaltung auf dem
Arzneimittelmarkt unter dem Vorsitz von Ministerialrat Bauer vom
Bundeswirtschaftsministerium. Darin heißt es u. a.: »Im allgemeinen verschreibt der Arzt
Arzneimittel primär nach therapeutischen, nicht nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten.
Bei rd. 70 000 auf dem Markt befindlichen Arzneispezialitäten ist sein überblick über das
quantitative und qualitative Angebot, über Verwendungsmöglichkeiten, sowie über
Vorund Nachteile der alternativen Präparate auch in preislicher Hinsicht derzeitig stark
beschränkt. Auch der Patient ist an einem wirtschaftlichen Preis meistens nicht
unmittelbar interessiert, weil z. B. die Rechnung bei etwa 55 Prozent des gesamten
Arzneimittelumsatzes von den sozialen Krankenversicherungsträgern beglichen wird.
Häufig fehlt ihm das Bewußtsein, daß sich u. a. auch die Preishöhe auf seinen
Krankenkassenbeitrag auswirkt. Sein Interesse ist ebenfalls primär auf die Wirksamkeit
des Arzneimittels gerichtet, die er oft irrtümlich nach der Preishöhe bemißt.«

Dieses strukturbedingte Desinteresse sowohl von ärztlicher als auch von Patientenseite
bewirkt, daß es keine Marktnachfrage gibt, die sich - wie es sich für einen Markt gehört -
an den ökonomischen Faktoren orientiert.

Bei der derzeit noch totalen Intransparenz des Arzneimittelmarktes können »weder der
Arzt noch die Verbraucher bei der weitaus überwiegenden Zahl der Arzneimittel die
Preisstellung der Medikamente nennenswert beeinflussen.« (6)

Ebenso weitgehend vom Einfluß auf die Preisgestaltung sind die sozialen
Versicherungsträger ausgeschlossen. Obgleich sie anstelle der Sozialversicherten formal
das wirtschaftliche Verbraucherinteresse vertreten, bestimmen nicht sie die Nachfrage,
sondern der verschreibende Arzt. Einen nicht marktabhängigen Einfluß, etwa den direkter
Einwirkung auf die Gestaltung der Preise, der ihnen in ihrer Sonderrolle als Zahler ohne
Möglichkeit der Auswahl des Kaufobjektes zugestanden werden könnte, gibt es nur in ganz
kleinem Maße. Das »Bauer-Papier« dazu: »Auch die sozialen Krankenversicherungsträger,
. . . üben praktisch keinen Einfluß auf die Preisgestaltung der Arzneimittel mit Ausnahme
bei der staatlichen Festsetzung der Apothekenzuschläge aus. Krankenkassen, die in der
Vergangenheit versucht haben, durch spezielle Beratungen Einfluß auf die Ver-75

ordnungstätigkeit von Kassenärzten zu nehmen, ist dieses Vorgehen unter Hinweis auf die
fehlende Informationsbefugnis untersagt worden.«

Zur Arzneimittelpreisbildung stellt das »Bauer-Papier« die rechtliche und die tatsächliche
Situation nebeneinander. Rechtlich folgt der freien Preisbildung nach Marktorientierung
die freie Preisbildung im Großhandel, der zum Verbraucherpreis die staatlich geregelten
Apothekenhöchstzuschläge zugerechnet werden. Das Ergebnis wäre eine freie Preisbildung
auf dem Verbrauchermarkt. Tatsächliili jedoch folgen der möglichen souveränen
Preisbildung auf der Erzeugerstufe die von der Industrie empfohlene
Großhandelsabgabepreise und schließlich die staatliche Arzneitaxe für die
Apothekengewinne. Die Verbraucherpreise sind damit nicht als Resultate freier
Preisbildung, sondern als feste Preise direkt vom Erzeuger abhängig. Erklärend heißt es im
»Bauer-Papier«:

»Bei den Arzneimitteln aus industrieller Produktion nutzen die Hersteller das Recht der
freien Preisbildung in der Weise, daß sie Empfehlungen für die Großhandelsabgabepreise
für je ein Arzneimittel abgeben. Der Großhandel nutzt dieses Recht, indem er die vom
Hersteller empfohlenen Großhandelsabgabepreise für je ein Arzneimittel dem Apotheker
in Rechnung stellt und darauf Rabatte gewährt. Der Apotheker schlägt die staatlich
geregelten Apothekenhöchstzuschläge als feste Zuschläge auf die ihm in Rechnung
gestellten vom Hersteller empfohlenen Großhandelsabgabepreise auf.

Weder die Empfehlungen der Hersteller für die Großhandelsabgabepreise noch die
staatlich geregelten Höchstzuschläge für Apotheken führen aus sich heraus zu einheitlichen
Verbraucherpreisen. Einheitliche Verbraucherpreise werden dadurch erreicht, daß die
vom Hersteller empfohlenen Großhandelsabgabepreise wie eine Preisbindung gehandhabt
und als feste Preise den Apothekenhöchstzuschlägen zugrundegelegt werden und
gleichzeitig die Apothekenhöchstzuschläge als feste Zuschläge den auf Grund der vom
Hersteller empfohlenen Großhandelsabgabepreise für je ein Arzneimittel ermittelten
einheitlichen Apothekeneinkaufspreisen aufgeschlagen werden.

Die Einheitlichkeit dieser Handhabung der Preisbildung von der Erzeuger- bis zur
Verbraucherstufe wird durch die Herausgabe von Spezialitäten-Listen erreicht, die sowohl
den jeweils für je ein Arzneimittel empfohlenen Großhandelsabgabepreis, also den
Apothekeneinkaufspreis ohne Rabatt,.als auch den unter Berücksichtigung des
Apothekenzuschlags als festen Zuschlag ermittelten Apothekenverkaufspreis, also den
Verbraucherpreis, ausweisen. Die so ermittelten Verbraucherpreise sind in den Listen als
gesetzliche Höchstpreise gekennzeichnet. In der Praxis werden sie jedoch als feste Preise
gehandhabt.«

76

4.4 Die pharmazeutische Industrie und das Geschäft mit der Krankheit 4.4.1 Der Verdacht
auf überhöhte Gewinne

Vom Arzneimittelmarkt verbleibt nach der Analyse wenig Markttypisches, abgesehen vom
Konkurrenzgerangel der Firmenvertreter bei den Ärzten und von der Werbung auf dem
nichtverschreibungspflichtigen Sektor. So können die Herstellerunternehmer der
pharmazeutischen Industrie ihre Preise nach eigenem Gutdünken, und das bedeutet: mit
hohen Profiten, festlegen. Sie verschleiern diese eigenmächtige Rolle durch starke und
gleichzeitig in der Sache überflüssige Produktdifferenzierung, die sich indes in der Logik
des Systems »vernünftig« ausnimmt. Das um ähnliche, in ihrer Wirkungsweise nicht
wesentlich voneinander abweichende Präparate vermehrte Angebot stellt scheinbar ein
breites Spektrum an Arzneimitteln dar, dessen undurchsichtiger Charakter die Preise
weitgehend im Nebel der Nichtinformation über die Medikamentenvielfalt beläßt. Eine
Reihe von gleichwirkenden Medikamenten mit nivelliertem Preisniveau täuscht aber
darüber hinaus Preisgestaltung nach Wettbewerbsart vor, wo die Firmen für die oft
marktbeherrschend dominierenden Pharmaka autonom die Preise festgesetzt haben.

Für die Vermutung, daß in den Arzneimittelpreisen eine Menge »Luft«

ist, die in erster Linie in der Form hoher Profite an die Herstellerfirmen auf Kosten der
Verbraucher geht, gibt es eine Reihe von Indizien. Schon seit 1968 beobachtet das
Bundeskartellamt den Pharmamarkt mit dem Mißtrauen, es gäbe trotz der Unzahl der
Produkte solche, die eine marktbeherrschende Stellung innehätten, die sie
profitmaximierend ausnutzten.

Die Konsequenz war: »Es wurden auch Ermittlungsverfahren eingeleitet, von denen die
Firmen Bayer, Boehringer, Ciba-Geigy, Heyl, Hoffmann

La Roche und Merck betroffen sind. Die Verfahren dauern noch an, was vor allem auf das
schwierige Problem der Marktabgrenzung zurückzuführen ist.« (7) Im April 1973 wurde
die Diskussion über erhöhte Arzneimittelpreise aufs Neue angeheizt. Die britische
Monopol-Kommission fand heraus, daß der schweizerische Chemie-Konzern Hoffmann-La
Roche mit seinen Beruhigungsmitteln Valium und Librium, (Marktanteil in England unter
den Beruhigungspillen: 99 Prozent) »übermäßige und durch nichts zu rechtfertigende
Gewinne« gemacht hatte. Dazu berichtete »Der Spiegel.: » ...

ehrenrührig erscheinen in der Tat die Geschäftspraktiken der Pharmafabrikanten, die


Englands Monopolkommission nach über 18monatigen Recherchen in einem 86 Seiten
langen Untersuchungsbericht aufdeckte.

Aufgeschreckt durch die Frage des Gesundheits- und Sozialministeriums, 77

ob die Preispolitik der britischen Hoffmann-Tochter Rache Products Ltd.

dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufe, verlangten die Wettbewerbswächter im Herbst


1971 Einsicht in die Kostenrechnungen. Was sie herausfanden, war erstaunlich. Die Basler-
Konzern-Manager berechneten ihrer Tochter in Großbritannien für die ihnen patentierten
Grundsubstanzen zur Herstellung von Valium und Librium das 41- bis 46fache des Preises,
den sie in Italien - das keinen Patentschutz für Arzneien gewährt - forderten. [Sie
verlangten für den Librium-Rohstoff 370 Pfund Sterling und für den Valium-Rohstoff 922
Pfund. In Italien ... können diese Ausgangsstoffe für 9 Pfund und 20 Pfund Sterling gekauft
werden. (8)]

Höflich baten die Beamten der Monopolkommission die Konzernleitung um eine


Erklärung für die Preisdifferenz. Doch die Schweizer stellten sich dumm: sie verstünden
die Anfrage nicht. Zäh verharrte die Monopolkommission auf Auskunft. Daraufhin
gestand die Basler Firmenzentrale, die Preise seien >nicht auf Produktionskostengrundlage
berechnet<. Die Folgen der für die Briten nachteiligen Kalkulation: An den Tranquilizern
verdiente zwar die britische Rache Products Ltd. beispielsweise 1970 nur 368 000 Pfund,
der Mutterkonzern aber 3.63 Millionen Pfund. In den sieben Jahren von 1966 bis 1972
machte die Rache Products auf diese Weise trotz hoher Verkaufspreise nur unverdächtige
Gewinne von drei Millionen Pfund, während sie dem Stammhaus in Wirklichkeit - nach
vorsichtiger Schätzung - 24 Millionen Pfund einbrachte. Nach den Berechnungen der
Monopolkommission beliefen sich somit die Basler Roche

Gewinne aus dem England-Geschäft auf 39 Prozent bei Librium und bei Valium auf etwa
50 Prozent - vorausgesetzt, die von den Medizin-Bossen geltend gemachten
Forschungskosten seien richtig. Nach den eigentlich branchenüblichen Kalkulationen
müsse Rache, so ermittelte die Monopolkommission, sogar noch höhere Gewinne - 55
Prozent und 62 Prozent -

bei den beiden Medikamenten erzielt haben.« (9)

Der• englische Minister für Gesundheits- und Sozialwesen, Sir Keith Joseph, griff darauf
drastisch durch: die britische Regierung zwang den Pharma-Konzern zu einer Senkung
seiner Preise für 100 Dragees Librium zu 5 mg von DM 5,60 auf DM.2,24 und für 100
Stück Valium-Tabletten zu 2 mg von DM 2,87 auf DM 1,47. Darüber hinaus erwartete die
Regierung und das staatliche Gesundheitswesen Großbritanniens die Rückzahlung von
rund 7 Millionen DM für die überhöhten Gewinnspannen.
Solche Vorgänge riefen auch die Brüsseler Wettbewerbsbehörden der Europäischen
Gemeinschaft auf den Plan. Sie werden untersuchen, ob die in England durchschaute
Preispolitik des Konzerns auch Auswirkungen auf den Europäischen Markt hat und gegen
die angehandelten Wettbewerbsbestimmungen verstößt.

78

Auch das Bundeskartellamt wurde nach dem Eklat in England aktiv, ist doch Hoffmann-
La Roche ein schon wohlbekannter »Kunde« in Berlin.

Zu solchen Initiativen bestand auch jeder Anlaß: Valium und Librium haben in der
Bundesrepublik einen ähnlich hohen Marktanteil wie in England - Umsatz 1972 in der
BRD knapp 80 Millionen - und die Preise liegen noch höher: 100 Dragees Librium 5 mg
DM 13,80, 100 Tabletten Valium 2 mg DM 14,80 (10).

Es ist bezeichnend, daß die Aufdeckung des Preisskandals von Großbritannien ausging.
Dort liegt das Gesundheitswesen in den Händen des Staates, die Ausgaben auf diesem
Gebiet müssen aus den Steuermitteln bezahlt werden. Es besteht also von Staats wegen ein
notwendiges Interesse an angemessenen Preisen, während die deutschen Krankenkassen -
zähneknirschend - zahlen. Außerdem hat der Staat bessere Möglichkeiten der
Untersuchung - sichtbar, als die britische Regierung ihre Monopol-Kommission bei
Hoffmann-La Roche recherchieren ließ, und entschieden wirksamere Machtmittel, den
Wucher zu brechen. Beispiele dafür sind gegeben: den englischen Untersuchungsbeamten
wurden die angeforderten Auskünfte von seiten des Konzerns erteilt, die Preise gingen auf
den folgenden Druck der Regierung um rund die Hälfte zurück. In der Bundesrepublik
richtete der BdO die Forderung an Hoffmann-La Roche, hier ebenfalls die Preise zu
senken. Die Kassen versprachen sich davon allein bei den Beruhigungspräparaten
Jahreseinsparungen von rund DM 57 Millionen. Aber anders als in England bekam der
BdO als Antwort des Konzerns, er lehne eine Preissenkung für Valium und Librium ab, da
die Preise angemessen seien. Sie stünden im Wettbewerb, könnten daher nicht überhöht
sein (11). Diesen »Wettbewerb« prüft zur Zeit das Bundeskartellamt.

Interessante Informationen meldete die »Rheinische Post« vom 22. 5. 73

unter der Überschrift »Hoffmann-La Roche lüftet den Schleier«: »Den seit eh und je über
der Firma Hoffmann-La Roche liegenden Umsatzschleier hat der Verwaltungsprä�ident
des Baseler Chemie-Unternehmens Dr. A. Jann, jetzt erstmals gel'iiftet. In einem Interview
mit der >Finanz und Wirtschaft< erklärte Jann, der Gesamtumsatz habe sich 1972 auf
rund 4,8 Mrd. Fr. belaufen. Hiervon seien - ohne Anlage-Investitionen -

700 Mill. Fr. für die Forschung aufgewendet worden. Der Umsatzanteil des von den Briten
preismäßig kritisierten Librium und Valium bezifferte J ann mit 25 Prozent.· Der
Gewinnanteil dieser Produkte belaufe sich gar auf 50 Prozent. Noch nie, erklärte Jann,
hätten Pharmaprodukte einen solchen Umsatz erreicht. Daß die Gewinne ebenfalls hoch
gewesen seien, liege auf der Hand.«

Die Pharma-Konzerne berufen sich bei ihren Beteuerungen, preiswürdig zu sein, gern auf
den Vergleich des Lebenshaltungskosten- und des Arznei-79

mittelpreisanstiegs. Dabei schneiden sie scheinbar gut ab, wie die folgende
Gegenüberstellung zeigt:

Erhöhung der Arzneipreise

Verteuerung der Lebenshaltung

1965

1,7 Prozent

4,0 Prozent

1966

2,6

2,9

1967

1,0

0,6

1968

2,0

2,5

1969

1,6

»
2,9

1970

4,3

4,0

1971

4,0

5,8

(12)

Der Berliner» Tagesspiegel« vom 24. 6. 1973 zweifelt, mit kritischen Beobachtern, jedoch
stark an der Aussagekraft dieser Zahlen und führt dazu gleich mehrere Gründe an:

»Als das Bundeskartellamt 1968 das Geschäftsgebaren von elf Pharmafirmen unter die
Lupe nehmen wollte, fielen plötzlich bei einigen Präparaten ohne zwingenden oder
ersichtlichen Grund die Preise um ein Fünftel, ein Viertel und in einem Fall sogar um die
Hälfte. Seither sind in den letzten vier Jahren, wie der Bundesverband jüngst stolz
verkündete, >insgesamt rund 7500 Artikel um durchschnittlich 14 bis 23 Prozent im Preis
gesenkt worden. Daraus läßt sich für den Außenstehenden zumindest der Schluß ziehen,
daß in den Arzneipreisen soviel ,Luft<, sprich: eine so große Gewinnspanne steckte, daß
entgegen der sonstigen inflationären Entwicklung die Präparate-Preise herabgesetzt
werden konnten. Doch die Branchenkundigen behaupten, die Preissenkungen dienten vor
allem dazu, die Statistiken der Pharmaindustrie zu >schönen<. Bei den im Preis gesenkten
Präparaten soll es sich überwiegend um kaum gefragte Medikamente mit niedrigsten
Umsätzen handeln. Sie machen nur einen Bruchteil des jährlichen Zehn-Milliarden-Mark-
Geschäfts der Pharmabranche aus. Dagegen sollen bei den fünfhundert meistgekauften
Medikamenten, mit denen mindestens die Hälfte des Gesamtumsatzes erwirtschaftet wird,
die Preise fortwährend erhöht worden sein. In der Statistik aber, in der alle 70 000

deutschen Spezialitäten ,gleichbehandelt< werden, fallen diese 500 Präparate, zu denen


>Bestseller< wie das Beruhigungsmittel ,Valium< und das blutzuckersenkende >Euglucon<
zählen, kaum ins Gewicht gegenüber den 7500 im Preis verringerten Medikamenten. Für
Preismanipulationen der Branche sprechen noch andere Fakten. Die deutsche
Pharmaindustrie hat 1972 dem Wert nach elf Prozent mehr Umsatz als ein Jahr zuvor. Die
Zahl der in diesem Zeitraum verkauften Spezialitäten-Packungen stieg jedoch nur um
etwas mehr als ein Prozent. Da also der Medikamentenverbrauch nur kaum merklich
zugenommen hat, kann der Umsatzzuwachs bloß noch über die Preise erzielt worden sein:
Das ließ sich durch die V er-80

teuerung einzelner der 500 ,Bestseller< unter den Arzneimitteln bewerkstelligen.«

Man darf davon ausgehen, daß in der Bundesrepublik mehr noch als in England »Luft« in
den Preisen der Medikamente steckt - nur ist das hier schlechter analysierbar und zu
Konsequenzen zu bringen. Wie sehr der westdeutsche Arzneimittelmarkt als Gelegenheit
zum »Absahnen« für die Pharma-Konzerne angesehen wird, macht jene Tabelle deutlich,
die im Sommer 1973 in einer Gegenüberstellung der Preise von Medikamenten in der BRD,
der Schweiz und in Frankreich die Deutschen schockte. Danach kosten 100 Optalidon-
Dragees der Firma Sandoz in Deutschland DM 14,20, 25 Prozent mehr als in der Schweiz,
die Franzosen dagegen bezahlen noch 62 Prozent weniger als die Schweizer. Das
Medikament Irgapurin von Ciba-Geigy, das in der BRD SO Stück zu DM 18,55 kostet,
wird hierzulande 100 Prozent teurer gehandelt als in der Schweiz; in Frankreich ist es um
weitere 37 Prozent billiger zu haben als dort. Interessant ist auch der Preisvergleich bei
Valium und Librium: SO Stück Valium zu 5 mg kosten in Deutschland DM 13,05 - das sind
27,5 Prozent über dem Preis in der Schweiz, und der liegt noch 11 Prozent über dem
französischen. Für SO Stück Librium zu 10 mg zahlt der Deutsche DM 10,90, damit muß
er 21,5 Prozent mehr aufwenden als der Schweizer, dem gegenüber ein Franzose weitere 14
Prozent Preisvorteil hat (13 ).

Schon im Herbst 1972 hatte eine EWG-Kommission Preisvergleiche u. a.

bei 19 Arzneimitteln angestellt und erhebliche Unterschiede in den Ländern der


Wirtschaftsgemeinschaft registriert. Die pharmazeutische Industrie lief gegen die
Untersuchung Sturm mit den Argumenten, es seien bei ihr weder die in den verschiedenen
Ländern unterschiedlichen Gewinnspannen, noch die differierende Steuerbelastung
berücksichtigt. Das Organ

» Die Pharmazeutische Industrie« vermerkt: » Der V er band [Bundesverband der


Pharmazeutischen Industrie] unterstrich, die pharmazeutische Industrie sei allein für ihre
eigenen Preise verantwortlich, nicht aber für die Verbraucherpreise, die in der
Bundesrepublik vom Staat durch Mehrwertsteuer und Arzneitaxe geregelt werden.« (14)
Indessen verwischen diese Argumente statt zu erklären. Ein erheblicher Teil der
Gewinnspanne bei Medikamenten wird in der Bundesrepubilk vom Staat festgesetzt: die
Arzneimitteltaxe zwischen Großhandelspreis und Apotheke. Es wäre sehr erstaunlich,
hätte sich die Regierung zu höheren garantierten Gewinnen für die Apotheker bereit
erklärt, als sie auf dem freien Markt zu erzielen gewesen wären. Besteht hier aber
zumindest noch die Möglichkeit, daß der Staat dieser Branche überhöhte Gewinne
zusichert, so ist das Steuerargument vollends fragwürdig, denn ausgerechnet in
Frankreich, wo die Medikamente am billigsten sind, werden sie mit 81
20 Prozent am höchsten besteuert (gegen 11 Prozent Mehrwertsteuer in der BRD).

Diese Unterschiede lassen auf willkürlich festgesetzte Erzeugerpreise schließen.


Beziehungsvoll meint das »Bauer-Papier«: »Aber es kann nicht Aufgabe von
privatwirtschaftlichen Einrichtungen sein, im Ergebnis die gesamte Preisbildung in einem
Wirtschaftszweig zu bestimmen.«

Durchgegriffen hat in diesem Sommer bereits die im Vergleich zur Bundesrepublik in den
Arzneimittelpreisen überaus positiv abschneidende Schweiz. Die »Frankfurter Allgemeine
Zeitung« vom 7. Mai 1973 meldete: »Einern faktischen Preisstopp ist die
Heilmittelindustrie in der Schweiz unterstellt worden. Die Eidgenössische
Arzneimittelkommission hat in- und ausländischen Herstellern mitgeteilt, daß Gesuche um
Preiserhöhungen einstweilen generell nicht bearbeitet würden, nachdem schon seit einiger
Zeit für krankenkassenfähige Heilmittel ein Preisstopp verfügt worden war. Die
Dienststelle des Bundesbeauftragten für Preisüberwachung will vor dem Eingehen auf
gängige und neu gestellte Preiserhöhungsgesuche deren Berechtigung überprüfen. Die
Berner Zeitung

>Der Bund, weiß zu berichten, daß auch über ein im Dezember 1972 kurz vor dem
Parlamentsbeschluß über die Einführung der Preisüberwachung gestelltes Gesuch des
Konzerns Hoffmann-La Rache noch nicht entschieden ist, ihm für den Schweizer Markt
eine Erhöhung der Valium-Preise von ungefähr 10 Prozent zu bewilligen.«

4.4.2. Forschung als Alibi

Ein von der Pharma-Industrie und insbesondere von Hoffmann-La Rache in der
Diskussion immer vorgebrachtes Argument für die schwindelnden Arzneimittelpreise ist
ihr Verweisen auf die hohen Forschungskosten, die der Marktreife eines Produktes
vorausgingen und die sogar häufig Fehlinvestitionen bedeuteten. Selbst bei Anerkennung
dieses Argumentes würde das freilich nichts für die unterschiedlichen Preise in den
einzelnen Länder besagen. Aber hier stellt sich die Frage: sind die Aufwendungen der
Pharma-Konzerne für Forschung wirklich so unverhältnismäßig hoch?

Die Hersteller erhalten im Durchschnitt 48 Prozent des Endverbraucherpreises, der


Großhandel 8 Prozent, die Apotheken können nach der Arzneitaxe einen Zuschlag auf den
Großhandelspreis von 35 bis 74 Prozent erheben. Da sie in der Regel das Maximum
aufschlagen, liegt der Anteil des Apothekers am Endverbraucherpreis bei 34 Prozent. Der
Rest ist Steuer. Von einem Präparat, das in den Apotheken DM 10,- kostet, entfallen also
nach dem Verteilerschlüssel DM 4,80 für den Pharma-Betrieb, DM 0,80 für den
Großhandel, DM 3,40 für den Apotheker und DM 1,-

82

für das Finanzamt. Mit ihrem Anteil am Verkaufspreis machte die pharmazeutische
Industrie in allen letzten Jahren sehr gute Gewinne und auch für die Zukunft prophezeit
das Ho-Institut eine gute Branchenentwicklung.

Von den Gewinnen bestritten, nach einer Darstellung von Dr. Heinz Hannse vom Vorstand
der Schering AG, eine Gruppe der führenden Unternehmen in der Bundesrepublik
folgende Ausgaben: Durchschnittsanteile in

Prozent der Gesamtkosten

Eigene Forschung und Lizenzabgaben für Nutzung

fremder Forschungsergebnisse

16,6

Wissenschaftliche Information und Beratung

11,5

Herstellkosten im engeren Sinne

(einschließlich Qualitätskontrolle)

36,0

Werbung

5,0

Vertrieb

10,7

Verwaltung

5,6

Finanzierung (bei kalkuliertem Zinssatz von 6 Prozent) 5,4

Sonstige Aufwendungen

9,2

Kosten insgesamt

100,0

Zur Stützung des von Seiten der Pharmazeutischen Industrie vorgetragenen Argumentes
vom erheblichen Kostenfaktor Forschung nennt sie also selbst einen Anteil der Forschung
von 16,6 Prozent an den Gesamtkosten.

Verglichen mit den Auskünften über einzelne Firmen erscheint der angegebene
Prozentsatz sehr hoch: von Hoffmann-La Roche wird ein Forschungskostenanteil von
»mindestens 12 v. H. des Umsatzes«

geschätzt (15), der Hoechst-Konzern hat 1972 rund 8 Prozent seines Umsatzes für
pharmazeutische Forschung ausgegeben (16), so daß die angestellte Vermutung, dieser
Ausgabenposten umfasse in Wirklichkeit 10 Prozent, nicht unmöglich scheint (17). Dazu
verdient Berücksichtigung, was

»Die Ersatzkasse« vom Oktober 1972 zur Forschung in den Pharma-Konzernen bemerkt:
»Leider fällt es der Pharma-lndustrie immer wieder schwer, Auskunft darüber zu geben,
wieviele der mehreren hundert Pharma-Produzenten nun tatsächlich der forschenden
Industrie zugerechnet werden können. Selbst wenn man sich hier zu einer großzügig
berechneten Zahl durchringt, ist damit nichts über Quantität und Qualität des
Forschungsbereichs in den einzelnen Unternehmen gesagt.« In der Tat: es besteht die
Vermutung, daß von den 540 Mitgliedfirmen des Bundesverbandes der Pharmazeuten
gerade knapp 20 selbst Forschung betreiben (18), doch: »Wer nicht selbst forscht, sondern
von anderen bezogene Kenntnisse auswertet, läßt sich auch gern Forschungskosten
bezahlen.« (19) 83

Eine ausdrucksvolle Relativierung erfahren die Forschungskosten schließlich durch die


Ausgaben der pharmazeutischen Industrie für ihre Werbung. Angesetzt hat sie in der
Aufstellung Hannses dafür 5 Prozent der Gesamtkosten. Das ist irreführend, denn in dem
11,5 Prozent betragenden Kostenfaktor » Wissenschaftliche Information und Beratung«
sind Arztbesuche der Vertreter und Anzeigen in Fachzeitschriften verborgen, die ebenfalls
schlechthin Werbung sind.

»Die Ersatzkasse« sieht das ebenso: »Die Kritik an der Preisgestaltung der Pharma-
Industrie fand bisher in z. T. indiskutablen Werbemethoden einen wirkungsvollen
Ausgangspunkt. Es wird auch nach Verabschiedung der Richtlinien für die
Arzneimittelwerbung schwer sein, den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung klar
zu machen, warum sie über den Arzneimittelpreis aufwendige, geschmacklich nicht immer
sehr sichere Anzeigenplantagen in einer Fülle von .Ärzteblättern und -blättchen (die z. T.
ihre Existenz nur eben diesen Pharma-Anzeigen verdanken), kostspielige Medien der
ärztlichen Fortbildung und z. T. erstaunliche Werbegeschenke an einzelne .Ärzte
finanzieren sollen.

Diese Frage kann nicht mit dem Hinweis beantwortet werden, daß die Werbung im
Rahmen der Preiskalkulation lediglich mit 5 °/oder Gesamtkosten eines Arzneimittels
anzusetzen ist. Einmal sind bei einem Milliardenumsatz 5 0/o eine horrende Summe, zum
anderen wird die Grundsatzfrage durch den Hinweis auf den Anteil an den Gesamtkosten
überhaupt nicht berührt. Außerdem finden sich in der Gesamtkalkulation neben den
Werbungskosten Kosten der wissenschaftlichen Information und Beratung mit einem
Durchschnittsanteil von nicht weniger als 11,5 0/o der Gesamtkosten. Wie auch andernorts
sind hier die Grenzen zwischen Werbung und Information fließend, und niemand kann
ernsthaft bezweifeln, daß auch die wissenschaftliche Beratung über ein neues Arzneimittel,
die der .Ärztebesucher dem mehr oder minder aufgeschlossenen Arzt widerfahren läßt,
durchaus auch werbende Aspekte hat. Auch das leidige Kapitel .Ärztemuster findet sich im
Kapitel ,Wissenschaftliche Information und Beratung<.« (20) Was Charakter und Qualität
der »wissenschaftlichen Information«

angeht, so ist sich sogar die Industrie selbst darüber im klaren. Dr. Albus von der Bayer
AG kennzeichnet ihren Informationswert illusionslos: » ...

die Überflutung des Arztes mit Aussendungen - oft nur eine Folge technischer
Schematisierung - birgt die Gefahr in sich, daß das Verhältnis des Arztes zur
pharmazeutischen Industrie negativ beeinflußt wird. Es zeichnet sich seit langem eine
Übersättigung, eine Abnahme der Effektivität und eine generelle Immunisierung des
Arztes gegen ,Reklame< ab.« (21) Nach offiziellen Angaben kommt auf diese Weise der
Posten »Werbung«

84

auf 16,5 Prozent, und in Wirklichkeit dürfte er noch um ein paar versteckte Prozente
höher liegen (22).

Damit liegen die Ausgaben der Pharma-Konzerne für die immer als entscheidender
Kostenfaktor genannte unumgängliche Forschung und für die offiziell teilweise
unterschlagene Werbung mindestens auf gleicher Höhe.

Es steht außerfrage, daß der sowohl einen Anstrich von Seriosität für die Firmen als auch
von bitterer Notwendigkeit für die Höhe der Arzneimittelpreise verleihende Hinweis auf
die angeblich stark zu Buch schlagenden Forschungsausgaben deutlich Alibifunktion hat,
um vom Kern, den hohen, in den einzelnen Ländern nach ihren Möglichkeiten jeweils
extensiv veranschlagten Profitraten abzulenken. Dabei bietet der »Markt« in der
Bundesrepublik aufgrund der Eigenarten des Gesundheitssystems und seiner eigenen
Struktur besonders günstige Möglichkeiten der Profitsicherung für die Pharma-Konzerne.

4.5. Der pharmazeutische Großhandel im Geschäft mit der Krankheit

Auch der Arzneimittelgroßhandel profitiert von der gegenwärtigen Preisgestaltung nicht


schlecht. Diese Tatsache ist erstaunlich angesichts des Lamentos, das beispielsweise die F.
Reichelt A.G. in Hamburg im Juni 1973 anstimmte. Die FAZ berichtete am 23. 6. 73:

»Die Zeiten, in denen im pharmazeutischen Großhandel eine ausreichende Rendite


erwirtschaftet werden konnte, sind vorbei. Seitdem 1969 die Preisbindung für
Medikamente durchbrochen worden sei, steht der Großhandel in einem intensiven
Marktkampf mit seinen Konkurrenten. Die Meinung vertritt der Vorstand des Hamburger
Pharma-Großhändlers und spricht sich für eine Neuordnung des Pharma-Marktes aus.
Wie diese jedoch aussehen werde, sei nicht vorauszusehen. Wenn die Funktionsspanne des
Großhandels berührt werde, stünden wichtige Fragen dabei zur Debatte. Eine Minderung
der Rohertragsbasis für den Pharma-Großhandel wäre bei der gegenwärtigen
wirtschaftlichen Situation nicht tragbar und müßte zu einer entscheidenden Verminderung
der Leistungsfähigkeit und somit zu einer starken Beeinträchtigung der Arzneimittel-
Belieferung der Bevölkerung führen. Die Neuordnung des Arzneimittelmarktes müsse aber
die gut funktionierende Versorgung erhalten und damit den Großhandel als Drehscheibe
für dieses System.«
Diese pessimistischen Töne erweisen sich jedoch als reine Pflichtübung, um bestehende
Pfründe ungeschmälert erhalten zu können, wenn anschließend das Geschäftsjahr 1972
durchleuchtet wird. Dazu heißt es dann in dem Bericht: »Die im Pharma-Großhandel
allgemein zu beobachtende Ent-85

wicklung steigender Umsätze hat auch für Reichelt im Geschäftsjahr 1972

trotz sich verschärfender Wettbewerbssituation und anhaltendem Kostendruck


angehalten. Der Rohertrag wird um 12,7 Prozent verbessert mit 35,67 Millionen DM
angegeben. Die Verkaufserlöse des Konzerns, zu dem vier konsolidierte
Tochtergesellschaften gehören, haben sich von 258 auf 280 Millionen DM erhöht. Zur
Stärkung des Eigenkapitals ist in der Hauptversammlung vom 31. Juli 1970 ein
genehmigtes Kapital in Höhe von 2,16 Millionen DM geschaffen worden. Davon soll nun
Gebrauch gemacht und im Geschäftsjahr 1973 das Kapital von bisher 4,84 auf 6,05
Millionen DM erhöht werden. Danach wird ein Restbetrag des genehmigten Kapitals von
950 000 DM verbleiben. Es werden jeweils für vier alte Aktien eine neue Aktie mit
Gewinnbezugsrecht ab 1. Juli 1973 ausgegeben. Der Ausgabekurs wird 200 Prozent
betragen. Aus dem Bilanzgewinn in Höhe von 1,36 (Vorjahr: 0,87) Millionen DM soll eine
unver

änderte Dividende von 18 Prozent gezahlt werden. Zusätzlich wird ein Bonus von 10
Prozent auf das Aktienkapital ausgeschüttet.«

»Die Welt« vom 5. April 1973 dürfte mit ihrer Schlagzeile »Arzneimittel

Großhändler ist kerngesund« ins Schwarze treffen; obgleich sie dem


Großhandelsunternehmen Andrea-Noris Zahn AG gilt, kann sie für die ganze Branche als
gültig angesehen werden.

4.6. Die Apotheken und das Geschäft mit der Krankheit

Nicht zuletzt auf der Endverkaufsstufe floriert das Geschäft mit der Krankheit. Zur
Arzneitaxe und dem Verbraucherpreis stellt die Studie des Bauer-Arbeitskreises fest: »Die
deutsche Arzneitaxe, einstmals, als die Apotheken noch ausschließlich oder überwiegend
die Arzneimittel selbst herstellten, mit Recht Mittelpunkt der Preisgestaltung auf dem
Arzneimittelmarkt von der Erzeuger- bis zur Verbraucherstufe, übt auch heute noch diese
Funktion aus, obwohl die Herstellung und Forschung von Arzneimitteln längst auf die
Industrie übergegangen sind. Etwa 95 0/o aller Arzneimittel werden von der Industrie
hergestellt. Für diese 95 0/o ist die Deutsche Arzneitaxe nur noch eine Verordnung zur
Regelung der Apothekenzuschläge (Handelsspannen) und damit eine Verordnung zur
Regelung nur eines Preisbestandteils im Zuge der Verbraucherpreisbildung. Von der
Privatwirtschaft herausgegebene Spezialitäten-Listen mit Verbraucherpreisangaben, die
nach dem Bundeskartellamt auf kartellrechtlich unzulässige Preisempfehlungen aufbauen
und selbst kartellrechtlich unzulässige Preisempfehlungen sind, führen die Einheitlichkeit
der Verbraucherpreise für je ein Arzneimittel herbei.«

Die Höhe der Deutschen Arzneitaxe wurde schon in anderem Zusammen-86


hang mit 35 bis höchstens 74 Prozent Zuschläge auf die Großhandelspreise angegeben - mit
ihr »dürften unsere Apotheker«, wie der Sozialdemokratische Pressedienst abschätzt, »auf
mehr als ihre Kosten kommen« (23), denn die »Apotheken gehen fast allesamt an den
oberen Rand der zulässigen Taxen« (24).

In Zahlen sehen die Verhältnisse bei den Apotheken so aus: die rund 12 000 Apotheken in
der Bundesrepublik hatten 1971 einen Umsatz von rund DM 8 Mrd., das sind etwa 10
Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Damit erreichten sie einen Durchschnittsumsatz von DM 600 000 pro Apotheke, der im
Jahre 1972 auf rund DM 750 000 pro Apotheke gestiegen sein dürfte (25). Vom Umsatz der
Apotheken entfallen heute etwa 10 bis 15 Prozent auf nicht apothekenpflichtige Artikel, ca.
45 Prozent auf rezeptpflichtige Medikamente und rund 40 Prozent auf rezeptfreie
Medikamente, von denen freilich ein stattlicher Anteil per Rezept geholt wird.

Die von Apothekern selbst hergestellten Arzneimittel machen nur noch 5 Prozent der
Umsätze aus.

Gerade diese Tatsache, die den Apotheker früherer Zeit, der überwiegend mit der
Arzneimittelherstellung beschäftigt war, in einen »akademisch gelernten
Schubladenzieher« degradiert - weshalb der Stand verzweifelt nach einem neuen
Berufsbild sucht, wie der Deutsche Apothekertag 1972

in Düsseldorf deutlich machte - entzieht den außerordentlich hohen Gewinnen jede


Legitimation. Eine Art Rechtfertigung, wie sie die »Rheinische Post« vom 12. 10. 1972
anbietet, schmeckt stark nach Leerformel:

»Nur hervorragend ausgebildete Fachleute, die sich ständig fortbilden, sind in der Lage,
die wichtige Vermittlerrolle zwischen Medikament und Patient verantwortungsvoll zu
spielen.«

Diese »Vermittlerrolle« könnten die Apotheken am ehesten noch bei den Mitteln für die
Selbstmedikation spielen, aber gerade auf diesem Gebiet sind handfeste Eingriffe des
Gesetzgebers gegen den grassierenden Arzneimittelmißbrauch vonnöten - sichere
Maßnahmen gegen die weitere Schädigung vieler Menschen in unserer Gesellschaft durch
bedenkenlos konsumierte Pharmaka, die ihnen von umsatzorientierten Apothekern
zumeist in ihrer » Vermittlerrolle« nicht vorenthalten werden (25 a). Obschon die

»Arbeitsgemeinschaft der Berufsvertreter der Deutschen Apotheker«

(ABDA) für den Einbau von Sicherungen vor falschem Gebrauch der Medikamente
plädiert, wehrt sie sich dennoch aus durchsichtigen Gründen gegen weitergehende
Reformen. Ihr eigenes Geschäft mit nicht verschreibungspflichtigen Pharmaka bei der
Selbstmedikation allerdings aus dem Grundgesetz herzuleiten, nach dem jeder die
Verantwortung für seine Gesundheit hat (26), grenzt an Zynismus und wirft auf ihre
»Vermittlerrolle« einen noch dunkleren Schatten als zuvor.

87
4.7. Arzneimitte/mißbrauch

4.7.1. Das Doppelgesicht der Heilmittel

Medikamente sind nicht nur auf dem Markt »eine Ware besonderer Art«, wie es im Bauer-
Papier heißt, sondern erst recht bei ihrer Anwendung.

Nichts zeigt das deutlicher als die Tatsache, die des öfteren als » Januskopf« der Heilmittel
bezeichnet wird: therapeutische Wirkung auf der einen, schädliche Nebenwirkung bis hin
zur eigenständigen Krankheit auf der anderen Seite, und - so geschehen beim letzten
Nordwestdeutschen Internistenkongreß im Februar 1973 in Hamburg - »meist waren es
gerade die wirksamsten und unentbehrlichsten Arzneimittel, über deren Doppelnatur ... so
tieflotende Gespräche geführt wurden.« (27) Diese Problematik ist an vielen Beispielen
aufzuzeigen. Auf dem Hamburger lnternistenkongreß erklärte Professor Richard
Suchenwirth, Direktor der Neurologischen Klinik des Lehrkrankenhauses Kassel, die
Gefährdung eines herzinfarktgeschädigten Patienten durch blutgerinnungshemmende
Medikamente. Diese sogenannten »Antikoagulantien«

bewirken nicht selten Blut�ngen im Nervensystem, die, wenn sie im Gehirn auftreten, zu
80 Prozent, in der Schädelkappe zu 15 Prozent und im Rückenmarkskanal zu 20 Prozent
tödlich ausgehen (28). Prof. Suchenwirths Fazit: »Die Antikoagulantienbehandlung
erscheint aus neurologischer Sicht als ein weitgehender Eingriff in die Integrität des
menschlichen Organismus, der kritische Überlegungen voraussetzt, will man den Kranken
nicht gefährden.« (29)

Professor H. Deicher von der Medizinischen Hochschule Hannover beschrieb die von
Medikamenten verursachte »Immun-Hämolyse«, die zu einer homölytischen Anämie
führen kann; Dr. K. Hansmann (Allgemeines Krankenhaus St. Georg Hamburg) wies auf
Arzneimitteleffekte hin, die außer dem blutbildenden System (Erythrozyten) auch die
weißen Blutkörperchen sowie die Granulozyten, jene für die Infektabwehr maßgeblichen
weißen Blutkörperchen, schädigen; und Professor H. L. Krüskemper von der Düsseldorfer
Klinik erklärte anhand von drei Arzneimitteln mit größter therapeutischer Wirksamkeit,
wie sie eine Unterfunktion der Schilddrüse bewirken und einen Kropf entstehen lassen
können.

Der Einfluß verschiedener gängiger Medikamente wie z. B. des Digitalis gegen


Herzmuskelschwäche, des Cortisons und natürlich der vom Augenarzt verordneten
Miotika und Mydriatika, pupillenverengender bzw. -erweiternder Augentropfen, auf die
Sehfähigkeit ist groß, wobei auch kurzfristige Sehveränderungen schlimme Folgen haben
können - man denke an die Autofahrer. Und unlängst fanden amerikanische Wissen-88

schaftler eine alte Vermutung bestätigt, daß zwischen ethacrynsäurehaltigen


Medikamenten, die bei nierenkranken Menschen zur verstärkten Harnsekretion
angewendet werden, und vorübergehender oder bleibender Taubheit Zusammenhänge
bestehen - ein Faktum, das »Die Zeit« vom 11.

Mai 1973 mit der lakonischen Zeile »Der Harn fließt, doch das Gehör ist hin« quittierte.
Darüber hinaus ist bei Anwendung von Diuretika, die Ethacrynsäure enthalten, eine
nierenschädigende Wirkung beobachtet worden. Schließlich noch ist der Nebeneffekt des
Schlafmittels Contergan unvergessen, weniger als der des Appetitzüglers Menocil, der
Lungenhochdruck und Tod verursachte.

In diesem Zusammenhang ist natürlich nicht von einem Arzneimittelmißbrauch im


engeren Sinne zu sprechen, die wenigen Beispiele vermögen aber die in der Öffentlichkeit
noch gar nicht voll erkannte Gefährlichkeit mancher Medikamente zu demonstrieren.
Größte Vorsicht ist deshalb geboten, doch an ihr mangelt es auf dem Arzneimittelsektor
erheblich, so daß Mißbräuchen Tür und Tor geöffnet sind. Obwohl von ganz verschiedener
Art, polarisiert sich ihre Urheberschaft bei der pharmazeutischen Industrie und bei
Patienten.

4.7.2. Arzneimittelmißbrauch auf Erzeugerebene

Mißbrauch auf dem Arzneimittelgebiet von Seiten der einschlägigen Industrie liegt vor,
wenn die Pharmazeutika-Hersteller aus Gründen des Profits Medikamente auf den Markt
bringen, die nicht genügend auf ihre relative Unschädlichkeit geprüft sind. Ihre
Unbedenklichkeit, wenn es um Gewinne geht, macht exemplarisch jene oft zitierte
Äußerung des Leiters einer großen pharmazeutischen Firma während des »Contergan-
Prozesses« deutlich: » Was geht es mich an, wenn die Contergan-Leute erwischt worden
sind- die Hauptsache, uns ist nichts passiert!« (30) Charakteristisch für diese zynische
Bemerkung ist nicht nur ihre sittliche Verwerflichkeit, sondern auch die Tatsache, daß sie
durchaus in der Logik des kapitalistischen Systems liegt. Sie würde erst dann ihren
systemimmanenten Sinn verlieren, wenn die Folgekosten von Arznei-Katastrophen höher
wären als der Profit - eine wahrhaft teuflische Logik. Dem wurde bisher von keiner Seite
ein Riegel vorgeschoben. Der »Rheinische Merkur«

dokumentiert diese gesellschaftliche Ratlosigkeit in einer Nachbetrachtung zum


Contergan-Ereignis am 26. Januar 1973 folgendermaßen: »Eine ausgezeichnet
funktionierende Industrie, die sich des Schutzes einer von ihr finanzierten Wissenschaft
sicher ist, sollte den formalen Abschluß der Contergan-Affaire richtig verstehen und
einsehen, wie risikoreich nicht fixierbare Wirkungsmechanismen gelagert sein können.
Jedenfalls sollte 89

der Fall Contergan nicht so schnell vergessen werden. Die Tatsache, daß es zwei Jahre
nach der Einstellung des gerichtlichen Verfahrens erst möglich WV,rde, eine Regelung
durchzusetzen, die keinen Beteiligten letzten Endes befriedigen kann, macht klar, wie sich
in unserer Gesellschaft Ohnmacht organisiert. Es wäre leicht, böse Worte über Schuld und
Versagen zu formulieren.«

Ein wesentlicher Faktor für die Möglichkeit d,�s Arzneimittelmißbrauchs von Seiten der
Industrie ist die fast totale Abhängigkeit der wissenschaftlichen Forschung von der
Pharma-Industrie. Vom potentiell kompetentesten Kritiker ihrer Skrupellosigkeit droht
ihr also kaum Gefahr.

Welche Möglichkeiten das geltende Arzneimittelrecht den deutschen und ausländischen


Pharma-Herstellern eröffnet, prüft kritisch Thomas von Randow in »Zeit-Magazin« vom
16. 2. 1973: »In der Bundesrepublik soll [ für die Ausschaltung von Gefahren ohne
Behinderung des Fortschritts] das ,Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln< sorgen.
Verkündet wurde es im Frühjahr 1961, ein paar Monate vor dem Bekanntwerden der
Contergan-Katastrophe. Bis auf unbedeutende Abänderungen gilt es noch heute in
derselben Form, wie es vor fast einem Dutzend Jahren besdilossen wurde. Daß es
unvollkommen ist, leugnet kaum jemand mehr.

Dennodi hat sidi bisher jede Bundesregierung auffallend schwer damit getan, die
Unvollkommenheiten aus dem Gesetz zu entfernen. Denn sie sind es, die der
bundesdeutschen Pharma-Industrie zum Vergleich etwa zur amerikanischen oder
schwedischen profitträchtige Erleichterungen vor allem bei der Einführung neuer
Medikamente im eigenen lande verschafft.

Mehr noch. Dieses liberale Gesetz hat wiederholt ausländische Produzenten dazu
veranlaßt, Medikamente, die im eigenen lande noch nicht eingeführt werden konnten, weil
die dort geltenden Sicherheitsbestimmungen nicht erfüllt waren, in der Bundesrepublik
registrieren lassen. Auf diese Weise konnte man bei der Anwendung an Deutschen
Erfahrungen über mögliche schädliche Nebenwirkungen sammeln (und zugleich natürlich
eine Menge Geld verdienen), was der Einführung des Arzneimittels zu Hause nur dienlich
sein konnte. Kein Wunder, daß allenthalben in Fachkreisen das Wort von der
,Versuchsklinik Bundesrepublik< umgeht.«

Am Beispiel der Menocil-Katastrophe demonstriert Thomas von Randow das Phlegma der
bundesrepublikanischen Gesetzgebung im Vergleich zur US-amerikanischen: »Der
Wirkstoff ,Aminorex< des Schlankmachers

>Menocil, war von der amerikanischen Pharmafirma McNeil erfunden und als Mittel zum
Zügeln des Appetits zur Zulassung bei der zuständigen US-Behörde, der Food and Drug
Administration, angemeldet worden.

Dort befand sich die Arzneimittelspezialität in der ersten Phase des Zulassungsverfahrens,
in der noch keine klinischen Versuche an Patienten 90

gestattet sind, weil der Produzent keinen hinreichenden Nach weis über die
Unbedenklichkeit solcher Menschenversuche erbracht hat und ihm deshalb die Auflage
erteilt ist, weitere Tierexperimente auszuführen. In der Bundesrepublik Deutschland gibt
es eine solche behördliche Überwachung von Experimenten an Menschen nicht. Niemand
braucht hier, wenn er die Wirkung irgendeines chemischen Stoffes an Menschen
ausprobieren möchte, einer Behörde darüber Mitteilung machen. Diese
Experimentierfreiheit machte sich die Firma CILAG-Chemie zunutze, die von dem US-
Produzenten McNeil die Lizenz für die Herstellung der appetitzügelnden Substanz
Aminorex erhalten hatte. Der Stoff wurde zur Erprobung von einigen Ärzten dicken
Patienten gegeben, und alsbald hatte die CILAG-Chemie eine Anzahl Protokolle darüber
zusammen, mit denen sie die Registrierung des Mittels beim Bundesgesundheitsamt
erreichte. Das war Anfang des Jahres 1967. Fast zwei Jahre später - im Ursprungsland der
Erfindung durfte Aminorex noch immer nicht verkauft werden, weil nach wie vor die
Unbedenklichkeit der Arzneimittelspezialität nicht ausreichend nachgewiesen war - geriet
der inzwischen äußerst beliebte und darum gut verkaufte Schlankmacher in den Verdacht,
jedenfalls bei einigen Menschen eine >primär vaskuläre pulmonale Hypertonie<, den schon
erwähnten fatalen Lungenhochdruck hervorzurufen. Inzwischen ist diese Vermutung über
das Ende 1968 aus dem Verkehr gezogene Medikament zur Gewißheit geworden. Eine
noch nicht abschätzbare Anzahl Menschen ist bislang an der Krankheit gestorben, an
einem Leiden, das vielen Amerikanern erspart geblieben war, weil die Behörden in den
USA nicht so leichtfertig neue Arzneimittel zulassen wie das Bundesgesundheitsamt in
Berlin.« (31)

Es wäre freilich falsch, dem Bundesgesundheitsamt in- Berlin einen Vorwurf zu machen.
Nicht dort liegt das Übel begründet - im Gegenteil: nach geltendem Recht »überschreiten
die zuständigen Beamten im Bundesgesundheitsamt ihre vom Gesetz gewährten
Befugnisse« (32), indem sie fundierter prüfen, als das Gesetz vorschreibt. Aber auch sie
stehen hilflos vor den Zuständigen im »Gesundheits«-Wesen: vier Beamte registrieren in
der BRD jährlich 1700 neue Arzneimittel - vergleichsweise zu mehr als 100

Fachleuten in den Vereinigten Staaten, die nicht einmal 100 neue zu überwachen haben
und dafür entschieden weitergehende Kompetenzen haben.

Auf diese Weise ist es zu einem »Stau von zwei Jahren zur Anmeldung neuer
Medikamente« in Berlin gekommen (33).

Ein anderer Fall von Mißbrauch auf dem Pharma-Sektor von Seiten der herstellenden
Industrie liegt bei den sogenannten Placebos vor; das sind jene Präparate, die als Heilmittel
verkauft werden, jedoch wirkungslos sind. Die zynische Erklärung der Herstellerfirmen zu
diesem überall 91

bekannten Tatbestand, der »hierzulande unzählige Medikamente« (34) betrifft, lautet auf
die psychologische Wirkung dieser Attrappen, die -

wenn überhaupt - »nur bei sehr wenigen psychosomatisch bedingten Leiden« (35) zu
verzeichnen ist. Die an »Betrug« (36) grenzende Problematik der Placebo-Mittel liegt
darin, daß mit einem praktischen Nichts viel Geld verdient wird. Außerdem wird damit
der an Betrug grenzende Fall zum potentiell kriminellen, dann nämlich, wenn ein
Selbstbehandler im Vertrauen auf Werbesprüche Placebos nimmt und möglicherweise
seme Krankheit in ein irreparables Stadium fortschreiten läßt.

4.7.3. Arzneimittelmißbrauch durch Patienten

Schließlich bleibt noch die unter oftmaliger Vernachlässigung der genannten Aspekte als
Inbegriff des Mißbrauchs von Arzneimitteln bekannte Sucht nach Pharmaka. Sie wird
allgemein als subjektive Schuld des Süchtigen angesehen, und nur wenige kritische
Beobachter erkennen, daß eine Reihe objektiver Umstände aus den inhumanen
Lebensbedingungen unserer Gesellschaft die Sucht ursprünglich verursachen. Und wenn
dann sensible Naturen zur Gegenwartsflucht entschlossen sind, bietet die Pharmaindustrie
mit großem Aufwand die chemische Tröstung des »Ausflippens«

aus der Gesellschaft, die von ihr mitgeprägt ist. Die Mächtigen bieten schlechte Auswege
aus den Verhältnissen, die sie erst schaffen, um dann daran zu verdienen: »Mit Hilfe von
Psycho-Drogen, Huxleys ,Soma< vergleichbar, stabilisieren längst Millionen von
Europäern und Amerikanern ihr wankendes seelisches Gleichgewicht. Allein in der
Bundesrepublik wurden 1971 auf dem Markt der rezeptpflichtigen Seligmacher
mindestens 200 Millionen Mark umgesetzt ... Schon zwei Tausendstel Gramm des

> Valium>-Wirkstoffes können zwar nicht die Welt, doch allemal Willen und Vorstellung
der Psycho-Patienten wohltätig verändern. Ein Gramm der wundersamen Substanz,
enthalten in 500 Tabletten, kostet im Apothekenhandel rund 80 Mark, achtmal mehr als
schieres Gold; rund zwei Tonnen werden jährlich in Westdeutschland abgesetzt.« (37)
Doch abgesehen von diesen grundsätzlichen Problemen sollte gesehen werden, daß Sucht
oft nur eine Fortsetzung medikamentöser Behandlung ist, wie etwa im folgenden Falle:
»Seit einiger Zeit gilt auch als erwiesen, daß ,Valium< - entgegen den Behauptungen der
Hersteller - bei Langzeit-Schluckern eine suchtähnliche Abhängigkeit hervorruft.« (38)
Erst recht hier liegt das Maß der Schuld nicht beim Süchtigen. Die Pharmaindustrie wirbt
bei den Ärzten mit ihren auf Nebenwirkungen bekanntermaßen weitgehend ungeprüften
Präparaten in einer Weise, daß der ehemalige leitende Redakteur der Ärzte-Zeitschrift
»Euromed«, Dr. Jürgen-92

Peter Stössel, der es wissen muß, meint, die medizinischen Zeitschriften seien »fast
durchweg reine Werbeträger für die Arzneimittelhersteller«, und die »Profitinteressen der
Verleger« träfen sich »aufs schönste mit denen der Pharma-Produzenten« (39).

Liegt von seiten der pharmazeutischen Industrie ein Interesse daran vor, ihre Produkte
über den Arzt an den Konsumenten zu bringen, so ist beim Arzt meistens Hilflosigkeit
gegenüber diesen Sucht-Problemen zu registrieren. »Der Spiegel« vermerkt kritisch: »Die
Ärzte jedoch sind immer dabei: Psychopharmaka gibt es nur auf Rezept, aber dennoch
nahezu für jeden, der nach den Psycho-Krücken verlangt. >Die Grundregel, daß
Drogenabhängige fast immer Beschaffungsprobleme mit dem Stoff haben<, so notiert Dr.
Ulrich Moebius, Herausgeber des Arznei-Telegramms, gelte nicht für die
,Transquilizerliebhaber<.

Weshalb Mediziner aller Fachrichtungen bei der Verordnung von Psychopharmaka so


ungewöhnlich freizügig verfahren, offenbart eine soeben erschienene Analyse des
Münchner Journalisten Dr. Jürgen Stössels, Stössels Fazit: >Aus der Not ihrer Unfähigkeit,
krankmachende Konflikte psychotherapeutisch zu behandeln,, habe die Ärzteschaft >mit
Hilfe der Tranquilizer,-Produzenten eine Tugend< gemacht: Sie verhülle die Konflikte mit
einem pharmazeutischen Schleier.

In der Tat helfen die Psycho-Pillen den fast ausschließlich naturwissenschaftlich


orientierten Medizinern aus einem Dilemma: Wenigstens ein Drittel, wenn nicht die Hälfte
aller Patienten, die ärztlichen Rat in Anspruch nehmen, sind organisch gesund. Ihre
körperlichen und seelischen Beschwerden sind Folgen sozialer und psychischer Probleme
in Beruf und Familie.

Bis vor kurzem, berichtet Stössel, habe die Mehrheit der Ärzte diese Patienten abwertend
als ,Simulanten<, ,Hypochonder,, ,Hysteriker> oder >Psychopathen< eingestuft. >Die
Medizin,, urteilt Stössel, ,hatte keine andere Möglichkeit, sich der Beunruhigung durch die
Kranken mit psychosozialen Störungen zu erwehren., Nun aber verschreibt sie ihnen
bereitwillig euphorisierende Psychopharmaka, die laut Stössel als >subtile Mittel der
Verschleierung gesellschaftlicher Ursachen von Krankheit die früheren
Verleugnungsbemühungen weitgehend verdrängt haben<.« (40)

4.8. Zur Novellierung des Arzneimittelrechts

Die Novellierung des Arzneimittelgesetzes von 1961 ist seit Jahren geplant. Das gültige hat
sich von kritischer Seite stets den Vorwurf eingehandelt, in ihm seien die Interessen der
Industrie stärker berücksichtigt 93

als die Interessen der Bevölkerung - wie uns einige Beispiele gezeigt haben, besteht dieser
Verdacht zu Recht. Dazu erklärte die neue Gesundheitsministerin Dr. Katharina Focke im
Februar 1973 auf einer Pressekonferenz: » Unser geltendes Arzneimittelrecht verbürgt
noch keine ausreichende Arzneimittelsicherheit. Seine umfassende Reform noch in dieser
Legislaturperiode ist deshalb meine dringendste Aufgabe. Die bisher vorgeschriebene
Registrierung neuer Arzneispezialitäten beim Bundesgesundheitsamt in Berlin (eine dem
Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit nachgeordnete Behörde) ist nur
für Spezialitäten aus Stoffen oder Kombinationen bisher nicht bekannter Wirksamkeit ein
echtes Zulassungsverfahren.«

Wie gering die Möglichkeiten und Kompetenzen des Bundesgesundheitsamtes in der Praxis
sind, machte Christian Schütze in der »Süddeutschen Zeitung« vom 1. März 1973 klar:
»Bislang ist das Bundesgesundheitsamt nicht berechtigt, die Angaben eines Produzenten
über Wirksamkeit und Ungefährlichkeit einer Arzneimittelspezialität, die er zur
Registrierung anmeldet, nachzuprüfen. Wenn im Antrag der Hersteller versichert, er habe
das Produkt ausreichend und sorgfältig entsprechend dem Stand der wissenschaftlichen
Erkenntnis geprüft, muß das Bundesgesundheitsamt das Mittel registrieren und damit zum
Verkauf freigeben. Das veranlaßte den Vorwurf, hier werde dem gewerblichen Interesse
der Vorrang gegeben vor dem Interesse der Bevölkerung, mit Medikamenten weder
betrogen noch vergiftet zu werden. Deshalb erließ das Bundesgesundheitsministerium im
Juni 1971 noch vor der geplanten Gesetzesänderung eine Dienstanweisung für das
Bundesgesundheitsamt. Danach sollen Anträge auf Registrierung neuer
Arzneimittelspezialitäten an einer Richtlinie des Beirates >Arzneimittelsicherheit,
gemessen werden. Sie gibt den neuesten Stand der Arzneimittelprüfung wieder. Doch für
den Anmelder folgt daraus noch keine rechtliche Verbindlichkeit, sich nach bestimmten
Prüfungsnormen zu richten und dieses nachzuweisen.«

Nun lag eine fertige Novelle zum Arzneimittelgesetz, erarbeitet unter der früheren
Ministerin Käte Strobel, schon beinahe zur Verabschiedung durch den 6. Bundestag vor,
und nur dessen vorzeitige Auflösung verhinderte, daß sie Gesetz wurde. Allerdings scheint
diese Verzögerung ihre guten Seiten zu haben, denn, so Thomas von Randow in »Die Zeit«,
»Aus den Andeutungen der neuen Gesundheitsministerin darüber, wie sie ihre dringendste
Aufgabe zu lösen gedenkt, geht hervor, daß sie sehr viel weiter zu gehen beabsichtigt als
ihre Vorgängerin.« (41) Diese Absicht wird aus einem anderen Abschnitt ihrer
Presseerklärung deutlich: »Es muß ein Zulassungsverfahren für alle neuen
Arzneispezialitäten bei strenger Prüfung von Wirksamkeit und Unschädlichkeit verwandt
werden - wobei 94

die Bundesregierung sich bemüht, diesen Nachweis so zu gestalten, daß altbewährte


Naturheilmittel nicht vom Markt verschwinden. Hier liegt für die Transponierung der
ersten pharmazeutischen Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft (bereits aus dem
Jahre 1965) in nationales Recht für die Bundesrepublik Deutschland ein besonderes
Problem. Im übrigen aber weist diese Richtlinie in dieselbe Richtung wie die Erfordernisse
nationaler Arzneimittelsicherheit. Dazu gehört auch die, wenn auch stufenweise,
Bereinigung, das heißt Oberprüfung der bereits im Verkehr befindlichen Arzneimittel. Die
Rezeptpflicht muß erweitert, die Möglichkeit, schädliche Arzneimittel aus dem Verkehr zu
ziehen, vergrößert werden. Mit der Gesetzesreform einhergehen muß der Ausbau des
Bundesgesundheitsamtes in Berlin, damit es dem Zulassungs- und Bereinigungsverfahren
gewachsen ist.«

Im einzelnen wird das neue Arzneimittelgesetz, das vermutlich 197 4 verabschiedungsreif


sein wird, folgende Grundzüge haben: »Alle Arzneimittel, die neu auf den Markt gebracht
werden sollen, also nicht nur solche, die bislang unbekannte Wirkstoffe enthalten, dürfen
nach den neuen Reformplänen nur dann zugelassen werden, wenn für sie der
wissenschaftliche Nachweis erbracht worden ist, daß sie keine vermeidbaren schädlichen
Nebenwirkungen hervorrufen und daß sie tatsächlich die Heilwirkung besitzen, die vom
Hersteller behauptet wird.

Mehr noch: Auch die schon im Handel befindlichen Medikamente sollen nach und nach
solcher strengen Prüfung unterzogen und, sofern sie diese nicht bestehen, vom Markt
verbannt werden. So hofft man im Bonner Ministerium den deutschen
Arzneimitteldschungel etwas lichten zu können. Jedenfalls ist zu hoffen, daß in absehbarer
Zeit die unzähligen Präparate verschwinden, die Ärzten oder Patienten lauthals als
heilkräftig angepriesen werden, in Wahrheit aber nur Geld kosten, sonst nichts.« (42)
Weitere Details nennt die »Süddeutsche Zeitung«: »Der neue Gesetzentwurf soll nun das
Bundesgesundheitsamt ermächtigen, vom Hersteller einer Arznei den Nachweis über die
Prüfungsmethode und die Offenlegung der Prüfungsergebnisse zu verlangen. Außerdem
will er unterbinden, daß bekannte Medikamentennamen für neue Arzneimittelspezialitäten
benutzt werden, die anders als die ursprünglichen unter diesem Namen vertriebenen
zusammengesetzt sind. Schließlich soll für ein importiertes Medikament vor der
Registrierung der Nachweis verlangt werden, daß es in seinem Herstellungsland zugelassen
ist. Das heißt, die Bundesrepublik soll aufhören, Versuchsgelände für die Pharmaindustrie
anderer Länder zu sein.« ( 43)

Auch in der Arzneimittelwerbung wird das neue Gesetz einen möglichst großen Schutz der
Bevölkerung vor gefährlichen Versprechungen em-95
bauen. Frau Focke zur NRZ: »Meine Tendenz ist da ziemlich streng. Ich glaube nicht an
eine freiwillige Selbstbeschränkung der Hersteller.« (44) Die Zurückziehung des Strobel-
Entwurfs hat bei der Industrie, den Ärzten und Apotheken sichtlich Enttäuschung
hervorgerufen. Bedauernd meint »Status« vom 15. 6. 1973: »Politiker, Ärzte, Apotheker,
die pharmazeutische Industrie - sie alle hatten mit gehörigem Aufwand an der Novelle zum
Arzneimittelgesetz (Arzneimittelsicherheit) gearbeitet. Endlich fertiggestellt, warteten sie
gespannt auf die Verabschiedung durch den Bundestag. Doch der sechste Bundestag wurde
aufgelöst. Man wartete vergebens. Jetzt ließ Bundesminister Frau Dr. Katharina Focke den
ausgearbeiteten Entwurf endgültig in den Papierkorb plumpsen. Frage: Was kommt
jetzt?«

Die Brisanz der Reformpläne aus dem Ministerium weckte sodann die verschiedenartigsten
Reaktionen. Die pharmazeutische Industrie bedauerte nach den Worten des Vorsitzenden
ihres Verbandes, Rolf Lappe, zunächst ebenfalls die Zurückziehung des alten Entwurfs mit
der nicht ernst zu nehmenden Begründung, dadurch würden die heute praktizierten,
rechtlich nicht einwandfreien Zustände bei der Prüfung von Arzneimitteln, die weiter
gehen als das Gesetz vorschreibt, nur verlängert. In Wahrheit bedauerte Lappe natürlich,
daß nicht der für die Industrie relativ ungefährliche Strobel-Entwurf Gesetz geworden ist,
sondern daß eine, was den Bevölkerungsschutz angeht, entschieden effektivere Novelle
erarbeitet wird. Zur Verteidigung der profitablen Ausbeuten warnte Lappe vor den
»Folgen dirigistischer Eingriffe in das Arzneimittelwesen« mit der Behauptung, das
gegenwärtige System der Versorgung sei funktionstüchtig (45). Im Organ »Pharma
aktuell« vom 3. 2. 73 urteilt der Bundesverband sogar, das »gegenwärtige freiheitliche
System gewährleiste eine optimale Versorgung der Bevölkerung mit immer besseren und
preisgünstigen Arzneimitteln«. Interessant ist allerdings die Begründung, mit der Lappe
das gegenwärtige System verteidigt: er verweist auf die führende internationale Position
der deutschen Pharma-Industrie, auf die relative Preisstabilität und bemängelt die
Orientierung an ausländischen Modellen (46). Für den notwendigen Schutz der
Bevölkerung bleibt in solchen von der Ökonomie bestimmten Überlegungen offenbar kein
Raum. Aufschlußreich ist die Kritik an der Einbeziehung ausländischer Erfahrungen. Die
Bundesrepublik wird oft als Experimentierfeld der Pharma-Hersteller bezeichnet. Dieser
für den Profit der Industrie paradiesische Zustand kennzeichnet, wie weit andere Länder
uns in der Frage des Schutzes der Bevölkerung vor Pharmaka voraus sind und wie sehr
wir ihre Erfahrungen benötigen, um ein richtiges Maß zu finden. Die provozierend
gemeinte Frage Lappes, »ob wir über so wenig eigene Sachkunde 96

verfügen, daß wir uns an fremden Modellen orientieren müßten« (47), ist deshalb schlicht
mit »ja« zu beantworten.

In welchem Stil die Pharma-Industrie gegen die notwendige öffentliche Kontrolle ihrer
Erzeugnisse kämpft, dafür mag ein Buch des Pressereferenten des Deutschen
Bundesverbandes der pharmazeutischen Industrie, Hans-Joachim Cramer, Zeugnis
ablegen. Unter dem polemischen Titel

»Die Arznei-Polizei« zieht Cramer gegen die amerikanische Arzneimittelbehörde Food and
Drug Administration (FDA) mit solcher Demagogie zu Felde, daß selbst die
industriefreundliche FAZ von einem »dubiosen Buch«
spricht und der in Amerika tätige Universitätsprofessor und klinische Pharmakologe A.
Student, der die FDA aus der Mitarbeit kennt, diese Arbeit als »ein äußerst tendenziöses
Buch, das sich im Übermaß an negativen Dingen kaum übertreffen läßt«, verurteilt. Zur
Zeit ist noch offen, ob »dieses informierende, dabei aber auch irreführende Buch vom
Bundesverband der pharmazeutischen Industrie nicht als Standardwerk angesehen wird« (
48). Der Rezensent warnt davor.

Auch die Apotheker sind gegen eine öffentliche Kontrolle des Arzneimittelmarktes. Der
Präsident der Landesapothekerkammer von Baden-Württemberg, Erich Buck, erklärte in
einem Interview: »Wenn Sie mit Reglementierung einen verstärkten staatlichen Einfluß
auf den Pharmamarkt meinen oder gar eine Verstaatlichung nach schwedischem Modell,
ist die Antwort einfach: Ich halte davon gar nichts.« Die »Deutsche Apotheker

Zeitung« vom 5. 4. 1973 argwöhnt zwischen den Zeilen gar, hinter den Reformen stecke ein
weitergehendes System: »Wir sind es gewohnt, in einer freien Marktwirtschaft zu leben,
ein Wirtschaftssystem, das zu den Alltäglichkeiten gehört, wie das uneingeschränkte
Autofahren. Wir wissen um die negativen Auswüchse dieses Systems, sollten uns aber die
freiheitlichen Vorteile ständig vor Augen halten. Wir sollten uns darüber hinaus Gedanken
machen, durch Eigeninitiative Methoden zur Dämpfung von Auswüchsen und
überspitzung zu entwickeln, um den Weg >Industrie -

Arzt - Apotheker - Krankenkasse - Patient< in einem guten Zustand zu erhalten. Aber sind
diese fünf Stationen mit ihren Organisationen und Institutionen so schwach, daß sich die
Ministerialbürokratie unseres Staates angeblich gezwungen sieht, einzuschreiten. Was
steckt dahinter? Das sollte einmal gefragt werden.«

Pharmazeutischer Industrie wie den Apothekern muß es allerdings bitter gewesen sein, daß
ausgerechnet während des Deutschen Kongresses für ärztliche Fortbildung im Juni 1973 in
Berlin der Präsident des Wissenschaftsrates der Niederlande, Prof. Dr. C. Böttcher, für
Forschungsgroßprojekte die Überwachung durch den Staat forderte ( 49). In anderen
Ländern scheint der Gedanke, daß die Verantwortlichkeit gegenüber der All-97

gemeinheit vor dem Profit weniger zu stehen hat, verbreiteter zu sein als bei uns.

Volle Unterstützung hat die Gesundheitsministerin Frau Dr. Focke bisher von der
Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher erfahren, die als deren Sprecherin »von jeher mit
aller Eindringlichkeit gefordert hat, daß die neu auf den Markt kommenden
Arzneispezialitäten einer verschärften Überprüfung auf ihre Unschädlichkeit und
therapeutische Wirksamkeit zu unterziehen sind« (50) - wie man weiß, mit wenig Erfolg.
Jetzt »begrüßt« die AGV »die Erklärungen der Ministerin, daß das kommende
Arzneimittelrecht, das sich im wesentlichen auf die Arzneimittel-Richtlinien der
Europäischen Gemeinschaft stützen wird, ganz im Sinn der Verbraucher klare und im
Interesse der Volksgesundheit liegende Vorschriften bringen wird.

Auch die im Verkehr befindlichen Arzneispezialitäten sollen schrittweise, soweit


entsprechende Laboratorien und Kliniken zur Verfügung stehen, den neuen
Bestimmungen angepaßt werden.«
4.9. Reformen bei den Arzneimittelpreisen

Härtere Auseinandersetzungen als beim neuen Arzneimittelgesetz sind bei der Regelung
der Arzneimittelpreise zu erwarten. Angesichts der rapide wachsenden Ausgaben der
Kassen für Medikamente einerseits und verschleierter Preisbildung sowie ungerechtfertigt
hoher Gewinne bei den Pharma-Herstellern andererseits sind die Arzneimittelpreise seit
Jahren Gegenstand der Kritik in der Offentlichkeit, die zu mehr oder weniger
durchgreifenden Reformplänen geführt hat. 56 Prozent der Bevölkerung halten die Preise
der Medikamente, die sie selbst bezahlen, für zu hoch. 49

Prozent äußern sich gleichlautend zu den Preisen der von Krankenkassen bezahlten
Arzneimittel. Für die Gründe werden verantwortlich gemacht: von 17 Prozent die
Geschäftemacherei der Hersteller; von 14 Prozent eine zu hohe Gewinnspanne; von 12
Prozent das Fehlen einer Preiskontrolle für die pharmazeutische Industrie (51).

Heute liegen mehrere ausgereifte oder in Diskussion befindliche »Papiere«

vor, wie aus dem Dschungel des gegenwärtigen Arzneimittelmarktes eine transparente
Ordnung über therapeutisch wirksame Mittel mit normalen Preisen geschaffen werden
kann. Ärzte, aber auch Verbraucher sollen objektiv informiert werden. Das »Bauer-
Papier« aus dem Interministeriellen Arbeitskreis unterbreitet in der Fassung vom
September 1972 folgende Vorschläge: Für alle apothekenpflichtigen Arzneimittel sollten
ursprünglich die Hersteller dem Großhandel Preise empfehlen und sie beim
Bundeskartellamt 98

anmelden. Dieser Punkt wird wahrscheinlich fallengelassen. Dafür ist jetzt eine
Großhandelstaxe nach Art der Arzneitaxe für die Apotheken in der Diskussion. Des
weiteren soll der Hersteller dem Bundeskartellamt

»detaillierte Angaben ... über die Wettbewerbsstellung der angemeldeten Produkte«


machen (52). Für die nicht apothekenpflichtigen Arzneimittel ist die freie Preisbildung von
der Erzeuger- bis zur Verbraucherstufe vorgesehen.

Die Einrichtung einer amtlichen Informationszentrale, wahrscheinlich beim


Bundesgesundheitsamt, soll künftig die Markttransparenz sichern.

Schließlich soll die Nachfrageseite in die Preisgestaltung einbezogen werden, und zwar in
der Weise, daß die Krankenkassen mit den Pharmaherstellern über die »Preiswüraigkeit«
der einzelnen Arzneimittel sprechen. Für die Apotheken ist die Ersetzung der gestaffelten
Deutschen Arzneitaxe durch einen Einheitszuschlag von 50 Prozent und der Wegfall des
Krankenkassenrabatts von 7 Prozent relevant.

Einen zweiten Reformvorschlag zur Arzneimittelpreisbildung stellt das im Auftrag des


Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung von Frau Prof. Liefmann-Keil
(Saarbrücken) erstellte Gutachten vom Dezember 1971 dar. Frau Liefmann-Keil schlägt
die Errichtung eines »Arzneimittelinformationszentrums« vor, das aus zwei Unter-
Gremien besteht: der neutralen Kommission und dem Beirat der Marktbeteiligten. Dazu
soll je ein Informationsstab für medizinische und wirtschaftliche Informationen gebildet
werden. Die wichtigsten Aufgaben erhält nach dem Liefmann

Keil-Gutachten die neutrale Kommission, bestehend aus je einem Mediziner, Apotheker,


Pharmakologen, Juristen und Okonomen. Ihr obliegt die Informationsarbeit der
Offentlichkeit und der am Markte Beteiligten. Insbesondere sollen die Kassen und die
Ärzte ständig mit medizinischen und preislichen Angaben über die einzelnen Medikamente
versorgt werden. Bei den zwangsläufig anfallenden Beurteilungen der Mittel kann sich der
Hersteller lediglich über die Gründe der Kommissionsentscheidung informieren.

Der Beirat soll die Funktion einer beratenden Stelle übernehmen. In ihm sollen drei
Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherung, zwei der Ärzteorganisationen, zwei der
Industrie, und je einer der Apotheken, des Großhandels, der PKV und der Verbraucher
sitzen. Nach den Erkenntnissen des Informationszentrums räumt das Liefmann-Keil-
Gutachten den Kassen der GKV das Recht ein, den Ärzten Empfehlungen zur
Arzneimittelverschreibung zu geben. Der Arzt, der sich nicht an diese Empfehlungen hält,
soll zur Begründung verpflichtet werden.

Einen dritten Vorschlag zur Reform der Arzneimittelpreisbildung unterbreitete der DGB
im Mai 1972 im Rahmen seines gesundheitspolitischen 99

Programms. Der DGB plant eine Kommission als Selbstverwaltungsorgan der


Marktbeteiligten, also der Versicherten in den Kassen - was die Arbeitgebervertreter
ausschließt - der Ärzte und der pharmazeutischen Industrie; Apotheker sollen in gewissen
Fällen hinzugezogen werden. Die Kommission soll die Aufgabe übernehmen, Medikamente
auf ihre Preiswürdigkeit, Qualität und Wirksamkeit zu prüfen, und die Ergebnisse den
Kassen, Ärzten und Apotheken zukommen zu lassen. Der DGB denkt daran, die »Rote
Liste« des Bundesverbandes der Pharmahersteller durch die Kommission herauszugeben.

Die Kommission soll nach Vorstellungen des DGB eine starke Stellung gegenüber den
Pharmafabriken bekommen. Ihre Rechte reichen bis zur Forderung nach Offenlegung der
Kalkulationen; sollten die Informationen der Kommission unzureichend erscheinen, hätte
sie das Recht, Medikamente von der »Roten Liste« zu entfernen.

Der Kommission soll ein wissenschaftlicher Beirat aus Medizinern, Pharmakologen,


Ökonomen und Juristen zur Entscheidungshilfe zugeordnet werden.

Zum vierten schließlich gibt es Vorstellungen zu einer »Arbeitsgemeinschaft der


Marktbeteiligten«. Ihre Bildung war vom Bundesverband der pharmazeutischen Industrie
im Mai 1973 vorgeschlagen worden, bestehen soll sie aus Vertretern der Krankenkassen,
der Ärzte, Apotheker, des pharmazeutischen Großhandels und der Pharma-Industrie. Von
ärztlicher Seite sind für die Arbeitsgemeinschaft schon Vorschläge gemacht. Danach hat sie
Informationen zur Preiswürdigkeit von Medikamenten aus der Marktbeobachtung zu
ziehen und sie Krankenkassen, Ärzten und Apothekern zur Verfügung zu stellen.
Ausdrücklich ist festgehalten, daß der Pharmahersteller, der durch die Ereignisse der
Arbeitsgemeinschaft Nachteile erwarten könnte, vor der Weitergabe der Ergebnisse
angehört werden muß.

Ähnlidie Vorstellungen hat der Hartmannbund entwickelt. Er schlug im Frühjahr 1973 die
Bildung einer »Stiftung Arzneimittelversorgung« vor, in der Vertreter der gesetzlichen und
privaten Krankenversicherung, der pharmazeutischen Industrie, der Apotheker, des
Arzneimittelgroßhandels und der Ärzteschaft tätig sein sollen. Vor allem drei Aufgaben
soll die Stiftung übernehmen: regelmäßige Informationen über Arzneimittel an Ärzte,
Krankenhäuser, Krankenkassen und Apotheker geben; wissenschaftliche Untersuchungen
auf dem Arzneimittelmarkt anstellen; regelmäßige Gesprädie über Preise einzelner
Arzneimittel und über die generelle Entwicklung des Arzneimittelmarktes führen.

Die pharmazeutisdie Industrie hat gegen alle Vorstellungen mit Ausnahme der beiden
letzten massive Bedenken vorgetragen. Es hat den An-100

schein, als wollten Pharma-Industrie und Hartmannbund mit ihren Konzeptionen in einer
Art konzentrierter Aktion einen letzten Versuch unternehmen, den staatlichen Einfluß
doch noch zu verhindern. Das wird freilich nicht gelingen, denn von Regierungsseite ist
seither des öfteren die Absicht betont worden, Kartellamt und Bundesgesundheitsamt mit
Beaufsichtigungskompetenzen zu betrauen. Dazu erklärte das »Handelsblatt«

am 12. 6. 1973 u. a.: »Die derzeitigen Überlegungen laufen auf eine Arzneimittel-Liste nach
schweizerischem Muster hinaus, mit der die Alleininformation der Ärzte durch die
Industrie gebrochen werden soll. Den Krzten soll durch eine neutrale Stelle ein überblick
über den Markt der Arzneimittel gegeben werden, wobei Bundesregierung und Kartellamt
durchaus nicht bei der Information stehenbleiben wollen, sondern eine Empfehlung in
Therapie und Preis ausgesprochen sehen möchten. Damit die Ärzte solche Empfehlungen
nicht übergehen, sollen sie bei Überschreiten einer Schwelle- im Gespräch sind 100 Prozent
über empfohlenen Preis

- regreßpflichtig gemacht werden. Nach den derzeitigen Vorstellungen soll das


Bundesgesundheitsamt in Berlin die bewertenden Vergleiche mit entsprechenden
Empfehlungen in therapeutischer Hinsicht vornehmen. Die Ärzte müßten die Sachurteile
des Bundesgesundheitsamtes beachten, jedoch nicht befolgen, denn die Therapiefreiheit
soll nicht angetastet werden. Da das Bundesgesundheitsamt nicht zu Preisempfehlungen
bereit ist, sollen diese von den Krankenkassen kommen.«

Von besonderem Interesse ist die Haltung der Arbeitgeber, weil sie den Wert des
Mitspracherechtes der Kassen, wo die Arbeitgeber in der Selbstverwaltung zur Hälfte
beteiligt sind, beeinflussen können. Hier darf man heute schon sagen, daß den
Unternehmern die Solidarität mit ihren Pharma-Kollegen höher steht als ein mäßigender
Einfluß auf sie bei der Kassen-Mitsprache. Im Frühjahr 1973 stellte eine Veröffentlichung
der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände fest, daß Arzneimittel nicht zu
teuer seien. Die unangetastete Selbständigkeit aller Industriebereiche in der Preisbildung
ist dem BDA die Mehrzahlung für Medikamente in den Topf der gesetzlichen
Krankenkassen wert.

Nicht geringe Aufregung verursachte im Januar 1973 die Arbeitsgemeinschaft


Sozialdemokratischer Ärzte und Apotheker (ASÄ) im Bezirk Hannover. Sie beschloß, auf
dem XIII. Bundeskongreß ihrer Organisation Anträge einzubringen, die zunächst auf eine
staatliche Kontrollstelle für Medikamente zielen; daneben aber regten die Ärzte die
Bildung einer Kommission beim Bundesvorstand der ASÄ an, die prüfen soll, ob eine

»Sozialisierung der pharmazeutischen Industrie möglich und sinnvoll«

wäre.

Uns scheint, damit ist der Gedanke ausgesprochen, der gegenwärtig die 101

Probleme am besten lösen könnte. Nur bei Übernahme der Pharma-Produktion durch den
Staat ist die Konzentration auf die wirklich nötigen Präparate gewährleistet, die dann vom
Bundesgesundheitsamt ohne betriebliche Raffinessen der Geheimhaltung auf ihre
Unbedenklichkeit geprüft werden können. Auf diese Weise gewönne der
Arzneimitteldschungel von selbst die Transparenz, die es dem Arzt ermöglicht, garantiert
wirksame Mittel zur Therapie einzusetzen und nicht etwa ein Placebo. Von der
verstaatlichten Pharma-Industrie würden die Arzneimittel ohne die überhöhte Profitrate
an die Gesellschaft abgegeben werden, die mehr als überflüssige Werbung wäre gestrichen,
die angeblich wissenschaftliche Information der Ärzte durch Firmenvertreter mit ihren
hohen Etatkosten entfiele zugunsten objektiver Information des Bundesgesundheitsamtes.
Zumindest ein Teil der Forschung wäre aus dem Zwielicht der privaten Konzerne wieder
auf die Universitäten zu übertragen.

Das Ziel dieser Kosteneinsparungen bei den Produktionsbetrieben würden wesentlich


niedrigere Preise für die Arzneimittel sein - im Interesse der Krankenkassen und damit der
Bevölkerung. Außerdem ginge von den deutschen Produkten ein Preisdruck auf die
ausländischen, die im übrigen der strengen Kontrolle des Bundesgesundheitsamtes
unterliegen sollten, aus, so daß auch hier eine Verbilligung der Präparate eintreten würde.

Im übrigen sind auch nur 20 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik der Meinung,
man solle es bei der heutigen Regelung der Pharma-Preise belassen.

Die Verstaatlichung der Pharma-Produktionsstätten im Interesse der Sozialversicherten


sollte nicht der letzte Schritt sein; er wäre aber unter den gegebenen Umständen der einzig
mögliche, Sicherheit für die Verbraucher zu schaffen und sie mit Preiswürdigkeit zu
verbinden. Es bliebe für die nähere Zukunft zu überlegen, wie die Produktionsbetriebe aus
dem Eigentum des Staates und der Aufsicht seiner Bürokratie zu lösen sind, um der
gesamten Gesellschaft Eigentumsrechte und aus dem Betrieb gewählten und stets
gesellschaftlich verantwortlichen Beauftragten delegierte und an gesellschaftliche
Interessen gebundene Verfügungsgewalt zu geben.

102
5. Die Krankenhausreform
5.1. Das Hanauer Modell des klassenlosen Krankenhauses Seit der Hanauer Landrat Martin
Woythal im Jahre 1970 auf dem SPD

'Bezirksparteitag Hessen-Süd das klassenlose Krankenhaus forderte und seinen Bau für
den Landkreis Hanau ankündigte, hat die Reform im Sektor Krankenanstalten schnelle
Fortschritte gemacht. In einer programmatischen Schrift »Das klassenlose Krankenhaus -
eine Zwischenbilanz« formuliert Woythal seine Ziele folgendermaßen:

» 1. Im Mittelpunkt des Krankenhausgeschehens steht der Patient. Er hat bedingungslosen


Anspruch auf ein Krankenhausbett und auf ärztliche Versorgung, wenn sich dies auf
Grund einer ärztlichen Diagnose als erforderlich erweist. Die Aufnahme ins Krankenhaus,
die l;nterbringung, die ärztliche Leistung und Pflege haben sich im klassenlosen
Krankenhaus ausschließlich nach der Art und dem Grad der Erkrankung zu richten, aber
nicht nach seinem sozialen Status, seinem wirklichen oder vermeintlichen Einkommen und
schon gar nicht nach seiner Zugehörigkeit zu dieser oder jener Krankenkasse.

·um den Interessen der Patienten zu jeder Zeit Gehör verschaffen zu können, werden sie
im demokratisch gewählten kollegialen Leistungsorgan durch einen Patientenvertreter
repräsentiert sein.

2. Der ärztliche und pflegerische Aufwand darf weder zu gering noch üb_ersetzt sein. Er
muß die wirkliche oder vermeintliche unterschiedliche Behandlung der 3. Pflegeklasse
ebenso vermeiden wie die einseitige finanzielle �elastung der Selbstzahler und
Privatpatienten.

3. Das medizinische und pflegerische Niveau wird im klassenlosen Krankenhaus allgemein


angehoben, wobei eine ständige Orientierung und Anpassung an neue
naturwissenschaftliche und medizinische und technische Entwicklungen sicherzustellen ist
...

4. Es muß eine Organisationsform verwirklicht werden, die dem gesamten ärztlichen und
pflegerischen Dienst bei voller Eigenverantwortung und persönlichem Engagement
zeitgerechte Arbeits- und Einstellungsbedingungen garantiert.

5. Die Pfleger- und Schwesternausbildung im klassenlosen Krankenhaus soll nach


modernsten pädagogischen Methoden und unter Mit-103

wirkung und Berücksichtigung der besonderen Probleme und Interessen der Pflegeschüler
und Schwesternschülerinnen gestaltet werden ...

6. Dem klassenlosen Krankenhaus wird eine Poliklinik angegliedert, die mit einer
modernen medizinisch-technischen Ausstattung versehen ist und sowohl als
Aufnahmestation wie auch als Ambulatorium fungieren kann ...
7. Das klassenlose Krankenhaus soll eine arbeits- und sozialmedizinische Abteilung haben,
um den Menschen in einer hochindustrialisierten Region auch in diesem vernachlässigten
Bereich der medizinischen Versorgung eine angemessene Hilfe gewährleisten zu können.

8. Das klassenlose Krankenhaus wird nach einem Kollegialprinzip geleitet ...

9. Die gesamte Belegschaft des klassenlosen Krankenhauses wählt eine Schiedskommission,


die sich aus fünf Mitgliedern zusammensetzt, die nicht gleichzeitig der Krankenhausleitung
angehören dürfen.

10. Wenn das klassenlose Krankenhaus tatsächlich ein klassenloses sein soll, dann dürfen
Selbstzahler und Privatpatienten nicht länger mehr bezahlen als der Krankenversicherte.
Es muß einen einheitlichen Pflegesatz für alle Patienten geben.«(1)

Vergleichsweise zum konventionellen Krankenhaus weist das Woythal

Projekt die folgenden Unterschiede auf: Die Privatstationen fallen weg.

An ihrer Stelle wird die völlige Gleichberechtigung der Patienten im medizinischen und im
pflegerischen Sektor geschaffen. Anstelle der hierarchischen Struktur (Chefarzt mit Recht
auf Privatliquidation) tritt eine demokratische Krankenhausleitung. Die Abteilungen
werden auf überschaubare Größe reduziert und nach kooperativen Grundsätzen geführt.

Alle Patienten zahlen einheitliche Pflegesätze. Die Klinik wird nur Einund Zweibettzimmer
mit separater Naßzelle (WC und sanitäre Anlagen) besitzen. Die Besuchszeiten werden für
alle Patienten gleich sein. Bei den Menüs gibt es Auswahlmöglichkeiten.

Die Krankenhausleitung hat ein Kollegialorgan, das zuständig ist für Personalfragen und
Investitionen. Es besteht aus neun gewählten Vertretern: je zwei Ärzten, Pflegern bzw.
Krankenschwestern, Vertretern von Wirtschaft und Verwaltung sowie des Kreistages.
Hinzu kommt ein Patientenvertreter, der von Woythal folgendermaßen charakterisiert
wird: » ... eine qualifizierte Persönlichkeit, die aufgrund ihrer Qualifikation und
Unabhängigkeit in der Lage ist, die Interessen der Patienten ... gegenüber den übrigen
Mitgliedern der Krankenhausleitung zu vertreten.« (2) Der Patientenvertreter wird vom
Kreistag gewählt und muß nach jeder Legislaturperiode neu bestätigt werden.

104

Der Verwaltungsleiter ist beratendes Mitglied des Kollegialorgans, das alle zwei Jahre
gewählt wird. Er muß die Beschlüsse des Kollegialorgans durchführen, hat einen
zweijährigen Haushaltsplan vorzulegen und einen fünfjährigen Investitionsplan zu
entwickeln.

Die einzelnen Fachabteilungen umfassen maximal 80 bis 100 Betten; sie unterstehen jeweils
einem leitenden Arzt (Facharzt), der vom gesamten Personal seiner Fachabteilung für zwei
Jahre gewählt wird. Er kann einmal wiedergewählt werden und erhält eine zusätzliche
Vergütung. Sein ebenfalls von der Fachabteilung gewählter Stellvertreter hat gegenüber
dem leitenden Arzt eine um ein Jahr verschobene Amtszeit. Die Fachärzte üben ihren
Beruf selbstverantwortlich aus, wobei sie verpflichtet sind, ihre Fachkollegen zu
konsultieren. Die Fachabteilungen veranstalten regelmäßige Stationskonferenzen.

Eine fünfköpfige Schiedskommission, von der Krankenhausbelegschaft für zwei Jahre


geheim gewählt, hat Kontroll- und Schlichtungsfunktionen; sie ist zuständig für rechtliche
und tarifliche Probleme.

Krankenhausträger und für die Finanzierung verantwortlich ist der Landkreis Hanau. Bei
Rechtsstreitigkeiten zwischen Tr;iger und Krankenhausleitung liegt die letzte
Entscheidung beim Regierungspräsidenten.

5.2. Die Situation des Krankenhauswesens in der Bundesrepublik Das Modell Hanau ist das
Ergebnis einer umfassenden und grundsätzlichen Kritik am Krankenhaussystem in der
Bundesrepublik, das der Gesundheitsbericht der Bundesregierung im Februar 1971 wie
folgt charakterisiert:

»Die Krankenhausversorgung unserer Bevölkerung kann trotz großer finanzieller Opfer


der Krankenhausträger und erheblicher finanzieller Mittel durch die öffentliche Hand
nicht mehr als gesichert angesehen werden. Durch ein jährliches Milliardendefizit können
schon seit langem notwendige Modernisierungen und Erneuerungen nicht mehr
vorgenommen werden ... Bei Fortdauer des Defizits drohen Schließungen oder
Leistungsabfall von Krankenhäusern.« (3)

Nach Angaben des »Statistischen Jahrbuches 1972« gab es im Jahre 1970: Krankenhäuser
insgesamt

3 587

Freie und

Planmäßige Betten

683 254

gemeinnützige KH

1 270

Davon:

mit planmäßigen Betten

249 357

Offentliche Krankenhäuser 1 337

Private Krankenhäuser

980
mit planmäßigen Betten

373 137

mit planmäßigen Betten

60 760 (4)

105

Krankenhäuser nach Größenklassen:

Betten

Betten insgesamt

unter 25

375

5 603

25- 50

554

20 184

50- 100

746

52 663

100- 150

473

57 193

150- 200

359

61 560

200- 300

454
107 828

300- 400

251

84 935

400- 500

122

53 262

500- 600

72

38 716

600- 800

68

46 334

800-1000

32

28 765

1000 und mehr

81

126 211 (5)

Fachkrankenhäuser bzw. Fachabteilungen für Akutkranke Betten insgesamt

418 710

Darunter:

Betten

Innere Krankheiten

130 425
Infektionskrankheiten

10 944

Säulings-Kinder-Krankheiten

30 438

Chirurgie ( + Unfall)

126 584

Orthopädie

13 511

Urologie

10 573

Neurochirurgie

1 541

Zahn- und Kieferkrankheiten

1 469

Gynäkologie und Geburtshilfe

56 957

Entbindungsheime

283

Hals-N asen-O hren-Krankheiten

16 784

Augen

8 192

Haut und Geschlecht

6 466

Röntgen- und Strahlenheilkunde


3 599

Sonstige

944

Sonderkrankenhäuser bzw. entsprechende Fachabteilungen 233 832 Betten Darunter:

Betten

Tuberkulose

31 458

Psychiatrie einschl. Heil- und Pflegeanstalten

117 596

Neurologie

6 177

Chronisch Kranke und Geriatrie

13 007

Sonstige

65 594 (6)

106

Krankenbewegung in Krankenhäusern 1970 (Akut-Kranke) Krankenbestand am 1.1.1970

308 700

Krankenzugang 1970

7 881 800

Stationär behandelte Kranke

8 190 500

Krankenabgang

7 906 500

darunter durch Tod


363 500

Pflegetage insgesamt

144 849 200

Verweildauer in Tagen

18,3

Bettenausnutzung in Prozent

86,8 (7)

Rein numerisch gehört die Bundesrepublik zu den Ländern mit der größten Bettendichte:
auf 10 000 Einwohner entfallen 112 Krankenhausbetten.

Indessen steht mehr als ein Drittel der Betten in überalterten Krankenhäusern, die zum
Teil vor mehr als fünfzig Jahren erstellt wurden. In der Studie »Die Gesundheitssicherung
in der Bundesrepublik Deutschland« des WWI-Instituts der Gewerkschaften wird die
untere Grenze der Bettenzahl für ein rentabel zu bewirtschaftendes Allgemein-
Krankenhaus mit 500 Betten angegeben. Das Optimum beziffert die Studie nach den
heutigen betriebswirtschaftlichen Kenntnissen auf 700-800 Betten. Nur etwa 20 Prozent
aller Krankenhausbetten stehen in Anstalten dieser Größenordnung.

Die Aufgaben der Krankenanstalten erstrecken sich gegenwärtig auf die stationäre
Behandlung von Patienten, wobei nach dem geltenden Recht sowohl die prästationäre
Diagnostik als auch die poststationäre Nachbehandlung ausgeschlossen sind. In den
»Leitsätzen zur Struktur der Krankenhäuser und ihres ärztlichen Dienstes«, angenommen
vom Deutschen 1\rztetag 1972, heißt es ausdrücklich: »Es ist nicht Aufgabe des
Krankenhauses, die ambulante ärztliche Versorgung der Patienten zu übernehmen. Die
ambulante gesundheitliche Betreuung der Bevölkerung ist vielmehr grundsätzlich Aufgabe
der in freier Praxis niedergelassenen 1\rzte.« (8) Diese zugleich gesetzlich verbindliche
Regelung schließt die Sozialversicherten bei der ambulanten Behandlung von der
Inanspruchnahme leistungsfähiger technischer Apparaturen (Röntgen, Labor), wie sie
zumeist nur in Krankenanstalten vorhanden sind, weitgehend aus. Es sei hier darauf
hingewiesen, daß die Investitionen für das Inventar und die apparative Ausstattung der
Krankenhäuser überwiegend aus öffentlichen Mitteln stammen, die in erster Linie von den
Arbeitnehmern durch Steuern aufgebracht werden.

Diese Regelung besteht jedoch nicht für die Privatpatienten. In Übereinstimmung mit dem
geltenden Recht heißt es in den standespolitischen

»Leitsätzen« weiter: »Das originäre Recht der Krankenhausärzte auf Liquidation für die
stationäre Behandlung von selbstzahlenden Patienten 107

und für die ambulante Behandlung muß erhalten bleiben. Es entspricht dem Wesen der
ärztlichen Tätigkeit als eines freien Berufes. Das Krankenhaus als Institution kann keinen
Honoraranspruch und damit auch kein Liquidationsrecht für ärztliche Leistungen
erwerben.« (9) Für die Privatpatienten der Chefärzte fungiert das Krankenhaus demnach
nicht nur als stationäre Institution sondern auch als Krankenhausambulatorium, dessen
Einführung auch zugunsten der Sozialversicherten die ärztlichen Standespolitiker mit allen
Mitteln zu vei:hindern suchen. Diese Art der medizinischen Versorgung ist der freien
Einzelpraxis wesentlich überlegen. Nutznießer dieser »privaten«
Krankenhausambulatorien sind jedoch nur die Selbstzahler; sie umfassen etwa 8 Prozent
der Bevölkerung.

5.3. Kritik des Krankenhauswesens in der Bundesrepublik

In der Kontroverse um das Recht der Chefärzte auf Privatliquidationen spiegelt sich im
stationären Bereich die allgemeine Auseinandersetzung um die Reform des
Gesundheitswesens. Sie ist im Kern ein sozialer Konflikt, bei dem es - nicht anders als im
industriellen Bereich - um die Kontrolle der Produktionsmittel geht, hier im speziellen: um
die Produktionsmittel für Diagnostik und Therapie. Diese sind im ambulanten Sektor im
Besitz der freipraktizierenden Ärzte - Voraussetzung und Garantie für deren starke
gesellschaftliche Position. Im stationären Bereich sind die Produktionsmittel dagegen im
Besitz der Krankenhausträger, die aufgrund dieser Tatsache gegenüber den Chefärzten in
einer stärkeren Position sind. Nur so ist es zu erklären, daß die Reform des
Gesundheitswesens während der letzten Jahre im stationären Bereich deutliche
Fortschritte erzielen konnte, jedoch im ambulanten Sektor bisher völlig stagniert. In
zahlreichen Krankenanstalten wurde für die Verteilung der Chefarzthonorare ein
Poolsystem eingeführt, das einen Kreis von Mitarbeitern, vor allem Oberärzte u�d
Assistenzärzte an dem Einkünften partizipieren läßt. Mehr und mehr lassen die
Krankenhausträger die bestehenden Chefarztverträge auslaufen und stellen leitende Ärzte
nur noch gegen feste Bezahlung an. Und in zunehmendem Maße geschieht, was die
Standesorganisationen verhindern wollen: Die Krankenhäuser selbst nehmen die Honorare
der Privatpatienten ein, um damit ihre Verschuldung zu vermindern. Indessen ist noch
heute die wirtschaftliche Lage vieler Anstalten oft dadurch gekennzeichnet, daß die
jährlichen Defizite dem Einkommen ihrer Chefärzte entsprechen. Diese anomale Situation,
deren Normalisierung sich gegenwärtig abzeichnet, hat Jahrzehnte hindurch bestanden.
Sie nahm ihren Anfang mit der Bundespflegesatzverordnung von 1954, die eine staatliche
Preisbindung für die Pflegesätze der Sozialversicherten darstelle. Danach 108

konnte die gesetzliche Krankenversicherung seitens der Krankenhäuser nicht gezwungen


werden, den normalen Unkostensatz für die stationär behandelten Sozialversicherten zu
zahlen, die dadurch scheinbar begünstigt werden. Bereits 1956 wurde bei
Sozialversicherten im Bundesdurchschnitt eine Kostenunterdedmng von 15,80 Mark je
Pflegetag und Patient errechnet. Auf Grund der Bundespflegesatzverordnung sparte die
gesetzliche Krankenversicherung bei den Ausgaben für Krankenhauspflege hohe Summen
ein, die dem Ausgabensektor für ärztliche Honorare und Medikamente zuflossen. Von den
drei anspruchsberechtigten Partnern der gesetzlichen Krankenversicherung - den
Kassenärztlichen Vereinigungen, den Krankenanstalten und den Apotheken - wurde der
politisch schwächste (die Krankenhäuser) einer staatlichen Preisbindung unterworfen,
während die beiden anderen nach wie vor ihre Forderungen mit den Krankenkassen frei
aushandeln konnten.

Das ist bis heute so geblieben. Ohne die Bundespflegesatzverordnung und die damit
verbundenen Einsparungen hätte die gesetzliche Krankenversicherung für die Jahre 1963
bis 1973 weder an die Ärzte und Zahnärzte Honorare in Höhe von 70 Milliarden Mark
noch auch an die Apotheken und die pharmazeutische Industrie 42 Milliarden Mark,
insgesamt also mehr als 112 Milliarden Mark zahlen können.

Diese Summen lassen sich aus den Sozialberichten der Bundesregierung errechnen. Wenn
schon Preisbindung bei den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, dann hätte
man diese gerechterweise nicht auf die Krankenhäuser beschränken dürfen, sondern alle
drei Sektoren, Pflegesätze, Arzthonorare und Medikamente, in die Preisbindung
einbeziehen müssen.

Die Auswirkungen der einseitigen Regelung waren für die Krankenanstalten katastrophal.
Es fehlte an Geld für Neubauten und die notwendigsten Investitionen. In ihrem 1971
veröffentlichten Gesundheitsbericht zeichnet die Bundesregierung ein düsteres und
zugleich realistisches Bild von der Lage der Krankenhäuser, die zu diesem Zeitpunkt 17
Jahre der finanziellen Auszehrung hinter sich hatten; darin heißt es unter anderem:

»Mehr als ein Drittel aller planmäßigen Betten stehen in Krankenhäusern, die älter als 50
Jahre sind. Funktionsräume und Einrichtungen in diesen, aber auch in jüngeren
Krankenhäusern, entsprechen nicht mehr den heutigen Mindestanforderungen an eine
Krankenhausversorgung. Veraltete Versorgungs- und Wirtschaftseinrichtungen haben
vielfach unzumutbare Arbeitsbedingungen für das Personal zur Folge. Die Patienten
müssen noch immer in Krankenzimmern untergebracht werden, in denen sich mehr Betten
befinden, als nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft vertretbar erscheint.
Von den Ursachen für diese Entwick-109

lung sind zwei hervorzuheben. Seit Jahren decken die Pflegesätze nicht die vollen
Selbstkosten eines sparsam wirtschaftenden Krankenhauses. Da die Einnahmen von den
Krankenhäusern in erster Linie zur Abdeckung der fälligen Zahlungsverpflichtungen
benötigt werden, können keine oder nur unzureichende Rückstellungen für die
Modernisierung des Krankenhauses vorgenommen werden ... Der zusätzliche
Nachholbedarf infolge der Kriegs- und Nachkriegszeit konnte auch mit öffentlichen
Mitteln nur in beschränktem Umfang befriedigt werden.« (10)

Nun wäre es angesichts dieser verhängnisvollen Konsequenzen aus der


Bundespflegesatzverordnung logisch gewesen, eben diese einseitige, die Krankenanstalten
benachteiligende Preisbindung auf die Ärztehonorare und die Medikamente auszudehnen
und für eine gerechte Verteilung der Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung zu
sorgen. Das heißt: Der Gesetzgeber hätte den Krankenhäusern - was heute geschieht - voll
kostendeckende Pflegesätze zugestehen und - was auch heute nicht geschieht - die
Ausgaben für Honorare und Medikamente entsprechend senken müssen. Dann würden die
freipraktizierenden Ärzte anstelle ihrer überhöhten Honorare sozial tragbare Honorare
erhalten haben, und die Medikamente hätten seitens der Apotheken mit einem
angemessenen Rabatt abgegeben werden müssen. Das alles hat der Gesetzgeber
unterlassen, weil die Lobby der Ärzteverbände, der pharmazeutischen Industrie und der
Apotheker auf das Parlament einen beherrschenden Einfluß aus

übte. Der Bundestag hat die Neuverteilung der Ausgaben der gesetzlichen
Krankenversicherung bisher nicht einmal erwogen, geschweige denn diskutiert.

Dafür kam Ende der sechziger Jahre eine andere parlamentarische Initiative in Gang mit
dem Ziel, eine staatliche Regelung der Krankenhausfinanzierung zu schaffen. Am 12. Mai
1969 beschloß das Parlament eine Grundgesetzänderung, die dem Bund die Zuständigkeit
für die » Wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Regelung der
Krankenhauspflegesätze« einräumte; sie hatte bis dahin in der Kompetenz der Länder
gelegen. Erst danach konnte das Krankenhausfinanzierungsgesetz entwickelt und am 1.
März 1972 verabschiedet werden. Noch im gleichen Jahr überwies der Bund nach Angaben
der Gesundheitsministerin Dr.

Katharina Focke den Ländern DM 466 Millionen; 1973 erhalten diese aus Bundesmitteln
DM 970 Millionen.

Die Zahlungen des Bundes machen jeweils ein Drittel der jährlich bereitgestellten Mittel
des Krankenhausfinanzierungsgesetzes aus. Zwei Drittel werden von den Ländern
bereitgestellt, denen es freisteht, in welchem Anteil sie die Gemeinden beteiligen. Bund,
Länder und Gemeinden übernehmen alle Kosten für die Errichtung und apparative
Ausstattung der 110

Krankenhäuser. Ferner werden noch bestehende Defizite aus Investitionen der


Vergangenheit durch öffentliche Mittel ausgeglichen. über den Pflegesatz dagegen sollen
die Benutzungskosten abgedeckt werden: laufende Ausgaben für Personal, Verpflegung,
Instandhaltung, für Diagnose und Therapie. Aus Mitteln des
Krankenhausfinanzierungsgesetzes werden nur jene Anstalten gefördert, die von den
Ländern in einen Krankenhausbedarfsplan aufgenommen werden. Die Strukturreform der
Krankenhäuser bleibt Sache der Länder; sie hat inzwischen in bereits verabschiedeten
Krankenhausgesetzen (Hessen und Rheinland-Pfalz) oder in Entwürfen (Nordrhein-
Westfalen) ihren Niederschlag gefunden. Allerdings ergab sich, daß die Mittel aus dem
Krankenhausfinanzierungsgesetz nicht ausreichen, weil sie von den tatsächlich
vorgenommenen Investitionen überschritten werden. Dies sei am Beispiel Bayerns
aufgezeigt. Nach Mitteilung des Staatssekretärs Dr. Hillermeier (11) beteiligt sich der Bund
zwar an den Kosten für kurzfristige Anlagegüter und der Übernahme des bisherigen
Schuldendienstes mit DM 100 Millionen als einem vollen Drittel, nicht aber beim
Krankenhausneubau, für den plafondierte Sätze mit weniger als einem Drittel, nämlich
DM 50 Millionen für das Jahr 1973, festgesetzt wurden. Würden vom Land Bayern und
seinen Gemeinden weitere zwei Drittel von DM 50 Millionen aufgebracht, so stünden
insgesamt DM 150 Millionen zur Verfügung. Nun hat das geförderte
Krankenhausneubauvolumen in Bayern bereits im Jahre 1971 die Summe von DM 250
Millionen erreicht. Dabei betrug die staatliche Förderung 1971 -

DM 80 Millionen, 1972 - DM 130 Millionen und 1973 - DM 200 Millionen. Auch für 197 4
sind DM 200 Millionen vorgesehen. Eine Anpassung an die finanziellen Größenordnungen
des Krankenhausfinanzierungsgesetzes würde für Bayern also einen wesentlichen
Rückschlag bedeuten.

Für die Bundesrepublik werden die gesamten Investitionen im Krankenhaussektor auf


jährlich DM 3,5 Milliarden geschätzt. Diese Summe bleibt hinter dem Ansatz des
Krankenhausfinanzierungsgesetzes zurück.

Hinzu kommt, daß die Investitionen für Personalwohnheime und 1 Betriebskindergärten


der Krankenhäuser von der Finanzierung ausgeschlossen sind. Als unabdingbare
Bestandteile des modernen Krankenhaussystems müssen sie aus anderen Mitteln erstellt
werden. In weiterer Ausführung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes verabschiedete
das Bundeskabinett am 7. November 1972 eine neue Bundespflegesatzverordnung, die am
2. Februar 1973 nach einigen Änderungen die Zustimmung des Bundesrates fand und am
1. Januar 1974 in Kraft tritt. Von da an sind die Krankenkassen verpflichtet,
kostendeckende Pflegesätze zu zahlen, entsprechend dem im
Krankenhausfinanzierungsgesetz verankerten Rechtsanspruch der Krankenhäuser auf
volle Deckung der Selbst-111

kosten bei sparsamer Wirtschaftsführung. Das Gesetz bestimmt ferner, daß die Pflegesätze
bis 1977 um nicht mehr als jährlich 10 Prozent angehoben werden dürfen. Gezahlt werden
pauschalierte Pflegesätze, die gleichbleibend sind unabhängig von der Frage, wie lange die
Patienten im Krankenhaus verbleiben. Nun sind die jeweils ersten Tage eines stationären
Aufenthalts mit kostspieligen Untersuchungen oder operativen Eingriffen am teuersten. Je
länger also die Verweildauer im Krankenhaus, desto geringer das Defizit. Die
wirtschaftlich bedingte Folge ist eine in Akut-Krankenhäusern der Bundesrepublik
vergleichsweise zu anderen Ländern erheblich verlängerte Verweildauer von
durchschnittlich 18,3 Tagen im Jahre 1970. (Verweildauer anderer Länder in Tagen: USA

- 7,8; Israel - 8,8; Finnland - 9-10; Kanada - 10,1; UdSSR - 13,7; Schweden und Belgien -
14) (12) Nach Einführung eines gestaffelten Pflegesatzes, wie er etwa im Krankenhaus
Traunstein (Bayern) praktiziert wird, konnte dort die Verweildauer auf 16,85 Tage im
Jahr 1970

reduziert werden (13). Inzwischen klettern die Pflegesätze weiter in die Höhe. Sie waren
bereits von 1962 bis 1972 angestiegen (in DM) Berlin
von 27 auf 89

Bremen

von 26 auf 79

Hamburg

von 45 auf 80

Hessen

von 25 auf 71

Niedersachsen

von 24 auf 79

Nordrhein-Westfalen

von 41 auf 81

Rheinland-Pfalz

von 22 auf 76

Saarland

von 43 auf 69

Schleswig-Holstein

von 27 auf 81 (14)

Als Beispiel für den gegenwärtigen Anstieg sei die Selbstkostenrechnung der städtischen
Krankenanstalten in Hannover angeführt, nach der in Zukunft ein Pflegetag DM 119,-
kosten wird (15). Ihre Selbstkosten wurden mit DM 118,90 errechnet (16). Das Modell-
Krankenhaus Neustadt bei Hannover ermittelte Selbstkosten von DM 90,- pro Tag (17).

Entsprechend diesem Anstieg während des letzten Jahrzehnts haben auch die Ausgaben
der GKV-Kassen ständig zugenommen. Sie betrugen laut Sozialbericht 1970, geschätzt ab
1970 in Mrd. DM: 1963

2 295

1969

5 042
1964

2 572

1970

5 748

1965

2 947

1971

6 553

1966

3 397

1972

7 470

1967

3 851

1973

8 516. (18)

1968

4 384

112

Vergleichsweise zu den prognostischen Angaben für die Jahre 1970 bis 1973 seien die den
»Arbeits- und sozialstatistischen Mitteilungen« des BMAS, März 1973, entnommenen
tatsächlichen Ausgaben für Krankenhauspflege gegenübergestellt: Aufwendungen der
GKV für Krankenhauspflege in den Jahren 1970 bis 1973, dahinter in Klammern die
geschätzten Ausgaben des Sozialberichts 1971 in DM Mrd.

1970

6,009 (5,860)
1972

9,350 (7,470)

1971

7,653 (6,860)

1973

11,200 (8,516)

Hier sei bemerkt, daß die im Februar 1973 für das laufende Jahr erstellte
Ausgabenschätzung inzwischen überholt wurde. Sie wird nach eigener Schätzung des
Autors vom August 1973 die Summe von DM Mrd. 11,5

zumindest erreichen. Damit wird die Vorausschätzung des Sozialberichts 1970 für das Jahr
1973 um DM 3 Mrd. überschritten.

Entsprechend zahlten die Allgemeinen Ortskrankenkassen an Krankenhauspflegekosten,


in den Jahren 1965 bis 1971, pro Jahr und Mitglied ( ohne Rentner):

1965

92,40

1970

174,94

1967

121,71

1971

217,73

1969

151,58

(ab 1969 einschließlich Aufwendungen für belegärztliche Behandlung) (19).

Die Krankenhauskosten je Rentner stiegen wie folgt: 1965

144,83

1970
265,05

1967

181,08

1971

327,86

1969

226,91

( ab 1969 einschließlich Aufwendungen für belegärztliche Behandlung) (20).

In Auswirkung aller Ausgabensteigerungen wurden die Beiträge der Sozialversicherten


ständig erhöht; sie überschreiten 1974 auf breiter Front die 10-Prozent-Quote des
Grundlohns und liegen damit um zwei Prozent über dem offiziell empfohlenen Richtsatz.
Seit Jahren vor die Wahl gestellt zwischen einer Drosselung der Ausgaben für Arzte,
Zahnärzte, Apotheken und pharmazeutische Industrie einerseits und einer steigenden
Belastung der Sozialversicherten andererseits hat sich der Bundestag bisher gegen die
Arbeitnehmer entschieden. Diese haben die Reformen zu bezahlen; das
Krankenhausfinanzierungsgesetz einschließlich der neuen Bundespflegesatzverordnung
gehen zu ihren Lasten. Um jedem Mißverständnis vorzubeugen:

113

Die Notwendigkeit des Krankenhausfinanzierungsgesetzes sei hier ausdrücklich anerkannt.


Es befreit die Krankenanstalten aus ihrer finanziell drückenden Notlage und gibt ihnen die
Möglichkeit, die dringendsten und lange aufgeschobenen Modernisierungsvorhaben zu
verwirklichen. Aber das neue Gesetz ist nicht die beste aller denkbaren Möglichkeiten,
denn mit ihm tragen die Arbeitnehmer auf doppelte Weise zur Finanzierung der
Krankenhäuser bei, als Sozialversicherte und als Steuerzahler.

Die Ökonomie von Gesundheits- und Sozialwesen ist eng verflochten; sie gleicht einem
Verbundsystem, dessen einzelne Bereiche jedoch trotz aller Kommunikation nicht
koordiniert werden. Es gibt keine wir�schaftliche Gesamtplanung als Voraussetzung für
den Versuch einer Steuerung.

Der ebenso enorme wie unvermeidliche Kostenanstieg im stationären Sektor müßte (mit
dem Ziel, die Gesamtausgaben für die soziale Sicherung in einem erträglichen Rahmen zu
halten) durch eine Ausgabenbeschränkung im ambulanten Bereich kompensiert werden.
Dieser jedoch unterliegt den Gesetzen und Einflüssen der Marktwirtschaft und ist damit
rationalen Kriterien entzogen. Vom Profitsektor des Gesundheitswesens, dessen
Kernstück, die freie ärztliche Praxis, durch das Kassenarztrecht gegen jeden freien
Wettbewerb abgeschirmt wird, gehen jene gesellschaftlichen Widerstände aus, die bisher
eine dringend erforderliche ökonomische Gesamtplanung unmöglich gemacht haben.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen bieten sich nur zwei wirksame Lösungen an:
entweder muß der ambulante Bereich des Gesundheitswesens einschließlich des
Arzneimittelsektors dem gleichen staatlichen Einfluß wie der stationäre Bereich
unterworfen werden oder aber es müssen für den stationären Bereich die gleichen
wirtschaftlichen Chancen geschaffen werden, die der ambulante Bereich seit jeher besessen
hat. Die Existenz dieser Alternative allein beweist, daß die Gesundheitssicherung in der
Bundesrepublik der kapitalistischen Marktwirtschaft und ihrem Wettbewerb bis heute
nicht angepaßt wurde. Die Forderung nach Krankenhausambulatorien hat nichts mit
Sozialismus zu tun; sie ist völlig systemkonform. Wie anders könnte der Deutsche
Landkreistag, ein seiner Zusammensetzung nach überwiegend konservatives Gremium,
sich für Errichtung von Ambulatorien an den von den Landkreisen unterhaltenen
Krankenhäusern aussprechen!

5.4. Die neue Bundespflegesatzverordnung und ihre Auswirkungen: Stückwerk statt


Reformen

Weil der Profitsektor im Ausgabenbereich der gesetzlichen Krankenversicherung


unangetastet bleiben sollte, wurde das Krankenhausfinanzie-114

rungsgesetz geschaffen. Die darin bereitgestellten Mittel sind von den Arbeitnehmern in
ihrer Rolle als Steuerzahler zusätzlich aufzubringen. Es handelt sich faktisch um indirekte
Subventionen an die freipraktizierenden Arzte, die Apotheken und die pharmazeutische
Industrie. Um deren Pfründe nicht zu gefährden ( etwa durch die Gründung von
Krankenhausambulatorien im freien Wettbewerb zur freien Praxis) werden
kostendeckende Pflegesätze eingeführt, die schon 1974 weitere und erhebliche
Beitragssteigerungen der sozialen Krankenversicherung unvermeidlich machen.

Nach der neuen, ab 1. Januar 1974 gültigen Bundespflegesatzverordnung sind die


einzelnen Pflegeklassen abzuschaffen. An ihrer Stelle gibt es nur noch die Unterscheidung
in Einbettzimmer, Zweibettzimmer und Mehr,bettzimmer. Gesonderte Privatstationen
werden abgebaut und die Privatzimmer in die Allgemeinstationen eingegliedert. Die
Bundespflegesatzverordnung von 1954 galt nur für Sozialversicherte, die neue ist für alle
Patienten einschließlich der Selbstzahler verbindlich. Diese stellen rund 15

Prozent der Krankenhauspatienten, sie sind zu 94 Prozent Mitglieder einer privaten


Krankenversicherung. Die neue Bundespflegesatzverordnung hebt die zwangsweise
Koppelung der Unterbringung in Ein- oder Zweibettzimmern mit privatärztlicher
Behandlung auf. Die darin untergebrachten Patienten zahlen, sofern sie Privatpatienten
sind, einen Zuschlag von 35 bzw.

15 Prozent auf den allgemeinen Pflegesatz. Die privat

ärztliche Behandlung muß im Rahmen des ärztlichen Gebührenrechts gesondert honoriert


werden. Auch den Patienten in Mehrbettzimmern kann das Krankenhaus die ärztliche
Privatbehandlung ermöglichen. Dazu kommentiert das Düsseldorfer »Handelsblatt« vom
1.3.1973: »Die Verordnung eröffnet damit weitergehende Möglichkeiten einer
privatärztlichen Behandlung, als sie zur Zeit bestehen.« Dabei kommt den Privatpatienten
zugute, daß der Pflegesatz für die »medizinisch zweckmäßigen und ausreichenden«
Leistungen (wie ärztliche und pflegerische Versorgung, Unterkunft und Verpflegung) für
alle Krankenhausbenutzer einheitlich ist. Nebenleistungen sind im allgemeinen Pflegesatz
enthalten, sie dürfen nicht mehr zusätzlich berechnet werden. Daraus folgert das
»Handelsblatt«: »Da Nebenkosten im herkömmlichen Sinn entfallen, brauchen sie nicht
mehr - wie bisher - gesondert in den Leistungskatalog ( der privaten
Krankenversicherungen) aufgenommen werden.« Die Privatpatienten bzw. ihre
Versicherungen zahlen also für die gleiche Leistung weniger als bisher.

Zufrieden stellt denn auch Dr. Horst Gittermann, Vorstandsmitglied der


Privatversicherung Deutsche Krankenversicherungs AG in Köln zur neuen
Bundespflegesatzverordnung fest:

115

»Sozial- und gesundheitspolitisch ist entscheidend, daß der bewährte Pluralismus im


Krankenhauswesen erhalten bleibt: Jedem Patienten wird die Inanspruchnahme
individueller Krankenhausleistungen - gegen entsprechende Bezahlung - freigestellt. Die
Berechnung der medizinisch notwendigen Leistungen nach einheitlichen Grundsätzen für
alle Patienten, d. h.

auch für die Privatpatienten, ist begrüßenswert.« (21) Die neue


Bundespflegesatzverordnung erhielt schon als Regierungsentwurf alle Bestimmungen, die
einer von der Mehrheit der Bevölkerung angestrebten Gleichheit aller Patienten im
Krankenhaus entgegenstehen.

Eine im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführte Meinungsumfrage der


Tübinger Wickert-Institute vom August/September 1969 hatte ergeben, daß 7 4 Prozent
der Bevölkerung das klassenlose Krankenhaus bejahen, 24 Prozent dagegen sind und nur
zwei Prozent keine Meinung dazu haben (22). Das vom SPIEGEL beauftragte Ifak

Institut in Wiesbaden ermittelte 75 Prozent Ja-Stimmen, 19 Prozent Nein-Stimmen und


sechs Prozent Meinungslose (23).

Auf die Frage des Instituts für Demoskopie in Allensbach, ob es »eine gute oder keine gute
Idee« sei, »die Klassen im Krankenhaus abzuschaffen«, entschieden sich 79 Prozent der
Befragten für »gute Idee«, 12 Prozent für

»keine gute Idee«, neun Prozent hatten kein Urteil (24).

Der sozialdemokratische Landrat Martin Woythal handelte also nur in Übereinstimmung


mit dieser überwiegenden Mehrheit, als er im März 1970 für den Landkreis Hanau das
klassenlose Krankenhaus proklamierte, dessen Bau 1974 begonnen wird und 1976
abgeschlossen sein soll. Zweifellos teilt die Mehrheit der SPD-Mitglieder an der Basis seine
Auffassungen. Indessen wird die sozialdemokratische Gesundheitspolitik in den Ländern
nicht in jedem Fall von dieser Mehrheit bestimmt. Als die Bundespflegesatzverordnung im
Bundesrat diskutiert wurde, veröffentlichte der Sozialexperte und stellvertretende
Vorsitzende des DGB, Gerd Muhr, in der »Welt der Arbeit« vom 19. 1. 1973 unter dem
Titel »Leistung nach Brieftasche?« einen Artikel, in dem er den Standpunkt einiger Länder
scharf kritisierte. CDU-regierte Länder wie Schleswig-Holstein hatten dafür plädiert, die
Bundespflegesatzverordnung solle verbindlich vorschreiben, daß im Krankenhaus auch
den Sozialversicherten die freie Arztwahl verbunden mit Privatliquidation eingeräumt
werde. Damit würde - so Muhr - »die Klassenmedizin im Krankenhaus um eine weitere
Variante angereichert. Der finanziell schwächere Patient würde nun sowsagen Patient
vierter Klasse.« Muhr warf den Ländern vor, ihr Bestreben führe dazu, »die wichtigste
Sachleistung der sozialen Krankenversicherung, nämlich die stationäre
Krankenhauspflege, immer mehr zu diskreditieren und abzuqualifizieren und damit
natürlich auch jene, die sie in 116

Anspruch nehmen. Gleichzeitig wird das Bedürfnis nach Zusatzversicherungen geweckt,


da ja die normale Leistung immer mehr in das Odium des Unvollständigen gerät. Der DGB
hat die Regierungschefs der betreffenden Länder aufgefordert, ihre Haltung noch einmal
zu prüfen und zu revidieren. Daß auch sozialdemokratisch regierte Länder - trotz
entsprechender Beschlüsse der Gesundheitskongresse der SPD - bei der Erweiterung der
Privatliquidation mitwirken wollen, ist für jene bitter, die dachten, hier würden die
Prinzipien der Chancengleichheit stärker beachtet als anderswo.« Gemeint war vor allem
das Land Nordrhein-Westfalen, das nicht ohne intensive Anstrengungen von seinem
konservativen Kurs abgebracht werden mußte. Vor dem Bundesrat setzte sich die neue
Gesundheitsministerin Dr. Katharina Focke gegen eine Ausweitung der Privatliquidation
auf Sozialversicherte zur Wehr, aber auch sie konnte nicht verhindern, daß die
Bundesratsmehrheit eine Formulierung durchsetzte, die �s möglich macht, daß ein
Krankenhaus Arztleistungen auch an Patienten in Mehrbettzimmern anbietet und
gesondert berechnen läßt. Die Entscheidungen darüber hängen von den zuständigen
Landesregierungen ab, bei denen die Kompetenz über die innere Struktur der
Krankenhäuser liegt.

Von der Möglichkeit, die Privatliquidation im Krankenhaus auf die Sozialversicherten


auszudehnen, machte die rheinland-pfälzische CDU

Landesregierung Gebrauch, deren Entwurf eines neuen Krankenhausgesetzes im Juni 1973


gegen die Stimmen der SPD und FDP verabschiedet wurde. Nach dem Gesetz sollen die
Krankenhäuser in Rheinland-Pfalz in Zukunft von Direktorien geleitet werden, die aus
dem ärztlichen Direktor, dem Verwaltungsdirektor und der leitenden Pflegekraft bestehen.
Für die Organisation der Dienste und als Mitwirkungsorgan wird bei jedem Krankenhaus
eine Krankenhauskonferenz gewählt, die sich aus den gewählten Vertretern der einzelnen
Personaigruppen zusammensetzt. Ein Patientenfürsprecher, erstmals von Woythal
vorgeschlagen, soll Beschwerden und Anregungen der Patienten prüfen und deren
Interessen gegenüber dem Krankenhausträger vertreten. Das Gesetz hält sich an den
Rahmen der Bundespflegesatzverordnung (Abschaffung der Privatstationen, Integrierung
der Privatbetten in die Allgemeinstationen usw.). In der Landtagsdiskussion um das Gesetz
kritisierte der SPD�Sozialexperte Schweitzer den Entwurf vor allem wegen der
Erweiterung der Privatliquidation auf die Sozialversicherten und erklärte, das Gesetz
bringe keinesfalls das
»Krankenhaus ohne Privilegien«, sondern neue, gesetzlich geregelte Privilegien. Dazu
kommentierte die »Rheinpfalz« am 21./22. Juni 1973: »Daß im ,Krankenhaus ohne
Privilegien, das Hintertürchen für Privilegien offenbleibt, ist (Sozialminister) Geißlers
Zugeständnis an jene, denen aus seinem Reformwerk Nachteile erwachsen«.

117

An den rheinland-pfälzischen Krankenhäusern wurde jenes Pool-System eingeführt, das in


der Münchener Krankenhausreform von 1970 unter dem damaligen Oberbürgermeister
Vogel erstmals entwickelt wurde und die Chefärzte verpflichtet, einen Teil ihrer
Privateinnahmen mit ihren Mitarbeitern zu teilen. Das Verfahren ist im Grunde als ein
Versuch zu werten, für eine Gruppe von rund 6500 leitenden Ärzten, die sich wegen ihrer
überhöhten Einkommen seit Jahren einer zunehmenden Kritik in der Öffentlichkeit
ausgesetzt sieht, wenigstens die Hälfte der bisherigen Honorare zu retten. Gleichzeitig wird
die Basis jener Ärzte wesentlich verbreitert, die an einer Beibehaltung der
Privatliquidation auch im Krankenhaus interessiert sind.

Schließlich enthält das hessische Krankenhausgesetz, das Ende März 1973

verabschiedet wurde, ebenfalls ein Pool-System, nicht aber die Ausdehnung der
Privatliquidation auf die Sozialversicherten. Auch hier halten sich die Reformen im
Rahmen der Bundespflegesatzverordnung. Bei der Diskussion um das Gesetz ging der
hessische Sozialminister Dr. Horst Schmidt auf die zukünftige Entwicklung der
Krankenhausreform ein. Er betonte, daß »wir erst am Anfang der Krankenhausreform
stehen«. In Bälde müßten drei Probleme gelöst werden: die Einbeziehung der
Krankenhausdiagnostik in die ambulante Behandlung, die Beseitigung der
Privatliquidation für Chefärzte und die Einführung einer leistungsgerechten Honorierung
für alle Krankenhausärzte sowie die Mitbestimmung im Krankenhaus (25).

In der Substanz ähnliche Krankenhausgesetze wie in Hessen und Rheinland-Pfalz sind in


Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und in anderen Bundesländern zu erwarten.
Mißt man sie am Herdecker Modell, das den Chefarzt, die leitende Oberin und die
Stationsschwester abgeschafft und eine weitgehende, inzwischen bewährte
Demokratisierung des Krankenhauses geschaffen hat, so wird der Abstand zwischen einer
echten Reform und Teilreformen besonders deutlich. Auch hinter dem Projekt Hanau des
Landrats Woythal bleiben die verabschiedeten und geplanten Krankenhausgesetze der
Länder weit zurück. In diesem Sinn kommentierte die »Stuttgarter Zeitung« das
rheinland-pfälzische Krankenhausgesetz:

»Es kennzeichnet die öffentliche Diskussion, daß dieses Gesetz mit seinen bescheidenen
Fortschritten für den Patienten als >Reformwerk, verabschiedet wurde. Von einer echten
Reform des Krankenhauswesens ist weder in CDU- noch in SPD-regierten Ländern zu
hören.« (26) Dem ist nur hinzuzufügen, daß die echte Krankenhausreform auch in Zukunft
auf der Tagesordnung bleibt.

118

6. Probleme der Vorsorgeuntersuchungen 6.1. Die gesetzliche Regelung der


Vorsorgeuntersuchungen Im April 1973 leitete die Bundesregierung dem Bundestag die
Drucksache 7 /454 zu: »Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen mit der
Einführung von Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten als Pflichtleistungen
der Krankenkassen sowie den zusätzlich von den Krankenkassen gewährten Maßnahmen
der Vorsorgehilfe« (1). Der Bericht geht auf eine Entschließung des Bundestages vom 4.
November 1970

zurück, die der Bundesregierung aufgab, »bis zum 31. Dezember 1972

über die Erfahrungen zu berichten« (2), die mit der Einführung des 2.
Krankenversicherungsänderungsgesetzes (KV.1\G) zu erwarten waren.

Nach§ 181 der Reichsversicherungsordnung haben ab 1. Juli 1972 Versicherte Anspruch


auf folgende Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten:

»1. Kinder bis zur Vollendung des vierten Lebensjahres auf Untersuchungen zur
Früherkennung von Krankheiten, die eine normale körperliche oder geistige Entwicklung
des Kindes in besonderem Maße gefährden,

2. Frauen vom Beginn des dreißigsten Lebensjahres an einmal jährlich auf eine
Untersuchung zur Früherkennung von Krebserkrankungen, 3. Männer vom Beginn des 45.
Lebensjahres an einmal auf eine Untersuchung zur Früherkennung von
Krebserkrankungen.«

Im § 368 wurde bestimmt: »Die Kassenärztliche Leistung umfaßt die ärztliche Behandlung.
Zu ihr gehören auch die Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten ... « (3) Am 28.
April 1971 beschloß der Bundesausschuß der .1\rzte und Krankenkassen Richtlinien über
die Früherkennung von Krebserkrankungen und -

getrennt davon - über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur
Vollendung des 4. Lebensjahres. Nach den »Krebsfrüherkennungsrichtlinien« dienen die
ärztlichen Maßnahmen

»a) der Früherkennung des Brust-, Genital- und Rektumkrebses bei Frauen vom Beginn
des 30. Lebensjahres an,

b) der Früherkennung des Rektum- und Prostatakrebses bei Männern vom Beginn des 45.
Lebensjahres an« (4).

119

Die klinischen Untersuchungen bei der Frau umfassen: Gezielte Anamnese


(Vorgeschichte), Abtasten der Brustdrüsen und der regionären Lymphknoten,
Spiegeleinstellung des Muttermundes und Entnahme von Untersuchungsmaterial,
gynäkologische und rektale Untersuchung. Das entnommene Material wird zytologisch
untersucht. Bei Krankheitsverdacht werden weitere diagnostische und gegebenenfalls auch
therapeutische Maßnahmen veranlaßt. Die Untersuchungsergebnisse werden
dokumentarisch festgehalten. Die beteiligten Organisationen (Bundesverbände der
Krankenkassen, Ersatzkassen, Bundesknappschaft und Kassenärztliche
Bundesvereinigung) »sollen sich über eine bundeseinheitliche Zusammenfassung,
Auswertung und Veröffentlichung der Ergebnisse verständigen« (5).

Die klinischen Untersuchungen beim Mann umfassen ebenfalls eine gezielte Befragung,
eine digitale Untersuchung des Rektums und Abtasten der Vorsteherdrüse vom After aus
und die Palpation regionärer Lymphknoten, eine Urinuntersuchung auf Eiweiß, Zucker
und Sediment, ggf.

Zuführung von Verdachtsfällen zu weiterer Diagnostik und Therapie und Dokumentation.

Bei den Frauen wurde ferner erlaubt: »Bisher unter Einschluß der Kolposkopie
durchgeführte Früherkennungsmaßnahmen können fortgeführt werden, um aus ihren
Ergebnissen weitere wissenschaftliche Aufschlüsse über den Wert dieser
Untersuchungsmethode im Rahmen von Früherkennungsmaßnahmen zu gewinnen.« (6)
Bei Kindern sollen die folgenden Krankheiten durch Früherkennung aufgedeckt werden:
Adrenogenitales Syndrom, Augenfehler, Cerebralparesen, Diabetes, Dystrophie,
Fehlbildungen (z.B. Hüftgelenksanomalien), Harnwegsinfektionen und -mißbildungen,
Herzfehler, Hoden-Lageanomalien, Hörschäden, psychische Entwicklungsstörungen,
Rachitis, Schilddrüsenerkrankungen, Sprachstörungen, statische/motorische
Entwicklungsstörungen, Stoffwechselstörungen mit Ausnahme von Diabetes.

Untersuchungen nach diesen Richtlinien »sollen diejenigen Ärzte durchführen, welche die
vorgesehenen Leistungen auf Grund ihrer Kenntnisse und Erfahrungen bringen können,
nach der ärztlichen Berufsordnung dazu berechtigt sind und über die erforderlichen
Einrichtungen verfügen.« (7) Für die anspruchsberechtigten Kinder sind insgesamt sieben
Untersuchungen vorgeschrieben, davon unmittelbar nach der Geburt eine Neugeborenen-
Erstuntersuchung (die in verantwortungsbewußt geleiteten Krankenanstalten ohnehin
üblich ist). Ein Gleiches gilt für die »Neugeborenen

Basisuntersuchung« vom 5. bis 10. Lebenstag, die zumeist ebenfalls noch im Krankenhaus
vorgenommen wird. Mit der 3. Untersuchung in der 4.

(spätestens 6.) Lebenswoche sind erstmals die freipraktizierenden Ärzte 120

befaßt. Die weiteren Untersuchungen finden statt: im 4. bis 6. Lebensmonat (4); im 9. bis
12. Lebensmonat (5); im 21. bis 24. Lebensmonat (6); im 4. Lebensjahr (7). Alle erhobenen
Befunde werden in ein Untersuchungsheft für Kinder eingetragen. Bei pathologischen
Befunden sind weitere diagnostische bzw. therapeutische Maßnahmen zu veranlassen.

6.2 Die Unzulänglichkeit der Vorsorgemaßnahmen

Das gesamte Programm der Früherkennungsmaßnahmen demonstriert zunächst die


begrenzte Leistungsfähigkeit der freien Praxis, auf die es von seinen Initiatoren in der
Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereini ng zugeschnitten wurde.
Tatsächlich vermögen die freigu praktizierenden Ärzte die einfachen Untersuchungen bei
Frauen und Männern durchzuführen. Schon beim etwas differenzierten
Früherkennungsprogramm für Kinder sollte sich jedoch herausstellen, daß die Praktiker
seinen keineswegs anspruchsvollen Anforderungen zu einem großen Teil nicht gewachsen
sind.

Zu den entscheidenden Mängeln des KVÄG-Programms gehört, daß die Sozialversicherten


von modernen Laboruntersuchungen, wie sie etwa von den »Deutschen Zentren für
medizinische Vorsorge« (dmz) angeboten wurden, völlig ausgeschlossen bleiben. Zum dmz-
Programm gehörten 38 Blutanalysen und 7 Urinuntersuchungen, durch die u. a. folgende
Erkrankungen erkannt werden können: »Störungen des Fettstoffwechsels, (Herz-, Gefäß-
und Kreislauferkrankungen, Arteriosklerose), Stoffwechselerkrankungen (Gicht,
Diabetes); Erkrankungen von Drüsen der inneren Sekretion; rheumatische Leiden;
Blutkrankheiten; Erkrankungen der Nieren und ableitenden Harnwege; latente
Infektionen; Leber- und Gallenkrankheiten; Störungen des Mineralstoffwechsels.
Angeboten wurden ferner: Elektrokardiogramm, Röntgenaufnahme des Brustkorbs und
(bei Frauen) der Brüste, Darmspiegelung (Rektoskopie ab 40 Jahren) (8). Auf die Frage,
warum die Ärzteorganisationen sich das Früherkennungsprogramm als Monopol der
Kassenärztlichen Vereinigungen gesichert haben, gibt es nur die eine simple Antwort: aus
finanziellen Gründen. Anhand des von der Bundesregierung vorgelegten
Erfahrungsberichtes ist es erstmals möglich, das mit den Früherkennungsmaßnahmen des
2. KVÄG verbundene Honorarpotential zu errechnen. Es beträgt - vorausgesetzt, daß alle
Berechtigten von ihrem Anspruch Gebrauch machen - rund eine Milliarde Mark. Wäre
den Krankenkassen das Recht eingeräumt worden, auch mit Krankenhäusern oder
Institutionen des öffentlichen Gesundheitsdienstes Verträge über die Durchführung von
Früherkennungs- und 121

Vorsorgemaßnahmen abzuschließen, so würde den freipraktizierenden Ärzten ein


Teilbetrag entzogen werden. Ferner wäre ein Präzedenzfall geschaffen worden, der auch
das Monopol der ambulanten Behandlung hätte in Frage stellen können. Um das Monopol
auch der Vorsorgeuntersuchungen durchzusetzen, drohte der Hartmannbund mit der
Forderung nach Rückgabe des Streikrechts, auf das die Ärzteverbände verzichtet hatten,
nachdem im Kassenarztrecht von 1955 der Sicherstellungsauftrag der ambulanten
medizinischen Versorgung, deren Monopol also, gesichert worden war.

6.3. Die geringe Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen und ihre Gründe

Im Bericht der Bundesregierung wird - angeblich wegen des zu kurzen Zeitraums, auf den
sich die Berichterstattung erstreckt - »auf eine abschlie

ßende Beurteilung des ,Erfolgs< der Einführung von gesetzlichen Maßnahmen zur
Früherkennung von Krankheiten verzichtet« (9). Der Bericht glaubt jedoch feststellen zu
können, »daß das gesundheitspolitische Ziel, durch die gesetzliche Krankenversicherung
die Gesundheitsvorsorge weiterzuentwickeln, trotz der Schwierigkeiten einer Anlaufphase
erreicht worden ist« (10). Indessen läßt die im Anschluß an diese Vorbemerkung
abgedruckte »Zusammenfassende Übersicht« an dieser Behauptung erhebliche Zweifel
aufkommen.

Von den anspruchsberechtigten Frauen beteiligten sich nur 20,1 0/o (11) (3,95 Millionen
Untersuchungen bei 19,7 Millionen Anspruchsberechtigten), von den
anspruchsberechtigten Männern nur 12,1 0/o (12) (745 000

Untersuchungen bei 8,2 Millionen Anspruchsberechtigten). Zur Beteiligung der Kinder


heißt es: »Die Inanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchungen für Kinder läßt sich
z. Z. nicht sicher ermitteln. Läßt man die ersten beiden Untersuchungen außer Betracht,
die regelmäßig nach der Geburt in der Klinik vorgenommen werden, so wurden die
weiteren fünf Untersuchungen bei 25 v. H. bis 35 v. H. der Berechtigten vorgenommen.«
(13) Eine differenzierte Aufgliederung bei Frauen und Männern ergibt folgende Bilder:

» Inanspruchnahmequote

- der weiblichen Mitglieder ( ohne Rentner) 1971: 29,3 v. H. (1,6 Millionen Untersuchungen
bei 5,5 Millionen Anspruchsberechtigten),

- der mitversicherten Frauen:

26,7 v. H. (1,8 Millionen Untersuchungen bei 6,7 Millionen Anspruchsberechtigten)

122

der weiblichen Rentner:

7,1 v. H. (0,5 Millionen Untersuchungen bei 7,5 Millionen Anspruchsberechtigten).» ( 14)


Bei den Männern lag die Beteiligung wesentlich niedriger als bei den Frauen:

» lnanspruchnahmequote

- der männlichen Mitglieder (ohne Rentner):

14,0 v. H. (535 Untersuchungen bei 5,1 Millionen Anspruchsberechtigten), der männlichen


Rentner:

9,0 v. H. (210 000 Untersuchungen bei 3,1 Millionen Anspruchsberechtigten.)« (15) Eine
wesentlich höhere lnanspruchnahmequote ergab eine Versichertenbefragung (16) unter
3408 Anspruchsberechtigten der Allgemeinen Ortskrankenkasse Ulm, der
Betriebskrankenkasse Wieland-Werke Ulm und der Barmer Ersatzkasse Ulm. Sie wurde
durchgeführt von einer studentischen »Arbeitsgemeinschaft Allgemeinmedizin des 2.
Studienjahres 1972/73« der Universität Ulm; die Ergebnisse wurden im August 1973

veröffentlicht. Aus ihnen ergibt sich, daß von den Befragten 48,7 Prozent der Männer und
69,6 Prozent der Frauen an den Früherkennungsuntersuchungen teilnahmen. Das
Geheimnis der größeren Beteiligung liegt in einem zusätzlichen, über die gesetzlichen
Früherkennungsmaßnahmen hinausgehenden Untersuchungsprogramm beschlossen, das
bei der AOK Ulm und der Betriebskrankenkasse der Wieland-Werke Ulm
Untersuchungen von Herz und Kreislauf, Magen-, Darm- und Bronchialerkrankungen mit
einschließt.

Insgesamt ist die Ulmer Studie, erstellt unter Leitung des Dozenten Dr.

Häussler, weitaus aufschlußreicher als der Bonner Erfahrungsbericht. Die Arbeitsgruppe


hatte sich folgende Aufgabe gestellt:

»In einer schriftlichen Befragung einer repräsentativen Auswahl von


anspruchsberechtigten Männern und Frauen der deutschen Sozialversicherung im Bereich
Ulm sollten die Gründe dafür festgestellt werden, weshalb die seit 1. Juli 1971 eingeführten
Früherkennungs-Untersuchungen auf Krebs nicht in Anspruch genommen wurden. Dabei
sollte versucht werden, :Beziehungen aufzudecken zu der sozialen Zugehörigkeit, dem
Alter und dem Informationsgrad der Befragten. Schließlich sollten auch Vorschläge zur
Verbesserung der Früherkennungs-Untersuchungen erfragt werden.« (17)

Der vierseitige Fragebogen wurde 6078 Versicherten zugesandt; von ihnen gingen 3408
Antwortbogen ein. Von besonderem Interesse sind hier einige Ergebnisse, die sich auf die
Schulbildung der Versicherten beziehen.

123

86,9 Prozent der AOK-Mitglieder und 92,7 Prozent der Betriebskrankenkassen-Mitglieder,


dagegen nur 43,8 Prozent der Barmer Ersatzkasse haben eine abgeschlossene
Volksschulbildung. 42,7 Prozent der BEK-Mitglieder haben die mittlere Reife absolviert.
Die Zahl der Abiturienten beträgt bei den Mitgliedern der AOK 1,7 Prozent, bei der BKK
0,2 Prozent und bei der BEK 6,7 Prozent, die Quote der Hochschulabsolventen bei der
AOK 1,4, bei der BKK 0,2 und bei der BEK 7,3 Prozent (18).

Auf die Frage: »Glauben Sie, daß der Krebs heilbar ist, wenn er frühzeitig erkannt
wurde?«, antworteten jeweils mit ja, nein oder weiß nicht (in Prozenten) von den Ja

nem

weiß nicht

Volksschulabsolventen

71,8

6,1

22,1

Mittlere Reife-Absolventen
76,5

4,4

19,1

Abiturienten

86,4

6,2

7,4

Hochschulabsolventen

85

3,8

11,2 (19)

Welche Bedeutung die mit der Schulbildung zusammenhängende Kenntnis über die
Heilungschancen von Krebs hat, ergibt sich aus der Teilnahme der drei Gruppen an den
Früherkennungsmaßnahmen. Der Bericht über die Versichertenbefragung teilt mit:

» Von denen, die den Krebs für heilbar hielten, haben 64,8 Prozent die
Krebsfrüherkennungs-Untersuchungen in Anspruch genommen, von denen, die sich in
dieser Frage nicht klar waren, nur 47,1 Prozent, während von denen, die Krebs nicht für
heilbar halten, nur 38,5 Prozent an den Früherkennungs-Untersuchungen teilnahmen.«
(20) Auch die Teilnahme der Befragten nach Berufsgruppen war unterschiedlich. So
beteiligten sich Hilfsarbeiter nur zu 50,6 Prozent an den Früherkennungs-Untersuchungen,
angelernte Arbeiter zu 57,1 Prozent, Facharbeiter zu 58,6 Prozent und tariflich Angestellte
zu 78,5 Prozent (21).

Ferner ergibt sich eine Abstufung nach dem Wohnort. Von den in Ulm wohnenden
Befragten nahmen 64,5 Prozent an den Früherkennungs

Untersuchungen teil, von den in einer Kleinstadt wohnenden 60,8 Prozent und von den in
Dörfern wohnenden 53,8 Prozent. Zum Informationsgrad der Versicherten und ihren
Informationsquellen ermittelten die Studenten, daß 7,4 Prozent der Befragten von ihrem
gesetzlichen Anspruch auf eine jährliche Vorsorgeuntersuchung nichts wußten. 61 Prozent
gaben an, über ihre Krankenkasse informiert worden zu sein, wobei die Quote (in
Prozenten) nach den einzelnen Kassen unterschiedlich war: bei der BKK nur 47,6, bei der
AOK 53,7 und bei der BEK 86,3 (23). Nur 24,7 Prozent der Befragten gaben an, von ihrem
Hausarzt informiert 124

worden zu sein. Die Frage »Halten Sie eine eingehendere Information über die
Krebsfrüherkennungs-Untersuchungen für notwendig?« wurde von 88 Prozent der
Versicherten bejaht (24). In dem Bericht heißt es dazu u. a.:

»Die Versicherten empfinden also selber eine stärkere Informationslücke, als dies in der
Prozentzahl derer zum Ausdruck kommt, die gar nicht wußten, daß es eine kostenlose
Krebsfrüherkennungs-Untersuchung gibt.

Sie wünschen dabei in erster Linie eine eingehendere Information durch ihre
Krankenkasse, an zweiter Stelle wird der Arzt genannt und an dritter Stelle die
Information durch Broschüren. Dabei wünschen interessanterweise 24,1 Prozent derer, die
schon an einer Früherkennungsuntersuchung teilgenommen hatten, eine solche
eingehendere Information durch Broschüren, während von den Nichtteilnehmern dies 17,6
Prozent wünschen.« (25) In einer Tabelle des Berichts werden die Medien mit ihren
prozentualen Quoten bei der Information angeführt, dazu wird angegeben, welche Medien
als Information gewünscht werden (26). Die AOK

Ulm informierte 53,7 Prozent der Befragten, sie wurde als Medium gewünscht von 64,7
Prozent. Bei der BKK lauten die Zahlen: 47,4 Prozent zu 55,2 Prozent, bei der BEK 86,3
Prozent zu 68,7 Prozent. Das Informationsangebot der Barmer Ersatzkasse Ulm lag
demnach höher als von ihren Versicherten nach dem Umfrageergebnis gewünscht wurde.
Von besonderem Interesse ist, daß die Versicherten den Arzt als zweitwichtigste
Informationsquelle anführen, obwohl er in deren Reihenfolge erst an vierter Stelle steht.

Es wünschen Informationen vom Arzt: die Versicherten der AOK zu 37,5 Prozent (es
erhielten von ihm Informationen: 25,2 Prozent), der BKK 46,5 Prozent (29,3 Prozent}, der
BEK 38,8 Prozent (17,4 Prozent}.

Die Reihenfolge der Informationsquellen beträgt (unter Mehrfachnennungen) bei den


Versicherten der AOK: Krankenkasse 53,7 Prozent; Tageszeitung 44,8 Prozent; Fernsehen
31,1 Prozent; Arzt 25,2 Prozent; Radio 12,2 Prozent; Illustrierte - 7,8 Prozent.

Bei den Versicherten der BKK (jeweils in Prozenten): Krankenkasse 47,4; Tageszeitung
34,9; Fernsehen 31,9; Arzt 29,3; Radio 14,0; Illustrierte 8,1; bei den Versicherten der BEK:
Krankenkasse 86,3; Tageszeitung 50,1; Fernsehen 32,9; Arzt 17,4; Radio 14,8 und
Illustrierte 10,3.

Der Wunsch nach kostenlosen Broschüren bestand bei den Versicherten der AOK Ulm zu
19,4 Prozent, der BKK zu 18,1 Prozent und der BEK zu 27,7 Prozent (27). Ferner
ermittelte die studentische Arbeitsgemeinschaft, daß rund 40 Prozent der Versicherten von
dem gesetzlichen Anspruch des 2. KVÄG auf Krebsfrüherkennungs-Untersuchungen
keinen Gebrauch machten. Als Begründung wurde von mehr als der Hälfte angegeben,
man 125

fühle sich gesund. Auch die lange Wartezeit wirkte abschreckend, bei den Versicherten der
AOK zu 16,9 Prozent, der BKK zu 13,5 Prozent und der BEK zu 18,7 Prozent. Als
dritthäufigster Grund wird der Zeitmangel angeführt, und zwar von 10,8 Prozent der
BKK-, von 15,5 Prozent der AOK,-und von 17,2 Prozent der Ersatzkassenversicherten.
Von Ganztagsbeschäftigen wird dieser Grund zu 23,7 Prozent, von Teilzeitgeschäftigten zu
19,4 Prozent, bei Nur-Hausfrauen und nicht Berufstätigen zu rund 10 Prozent genannt
(28).

Auf den Fragebögen hatten die Versicherten die Möglichkeit, persönliche Bemerkungen
anzubringen. Von Interesse ist hier der Vorschlag nach Erweiterung der
Früherkennungsmaßnahmen (AOK - 9,9 Prozent; BKK

- 13,6 Prozent und BEK mit begrenztem gesetzlichen Untersuchungsprogramm - 21,1


Prozent der Versicherten). Spezielle ärztliche Einrichtungen wie Diagnostikzentren wurden
von 6,4 Prozent der AOK-, 8,3 Prozent der BKK-und 11,4 Prozent der BEK-Versicherten
gefordert (29).

In Bezug auf die Arzte stellt der Bericht fest: »Relativ häufig wird die unpersönliche
Behandlung durch den Arzt angegriffen. Bei der durch die vollen Wartezimmer bedingten
Massenabfertigung werde dem Patienten keine Möglichkeit gegeben, seine Angste und
Probleme vorzubringen, damit der Arzt auf die eingehe und sie gerade in puncto Krebs,
vor dem -

bedingt durch mangelnde Aufklärung - eine panische Angst besteht, möglichst zerstreut.«
(30) Schließlich wäre zu erwähnen, daß die Frage »Werden Sie noch einmal (zur
Früherkennungsuntersuchung) gehen?« von 93,8 Prozent der Versicherten bejaht wurde.
Dieses Ergebnis stimmt mit den Resultaten der den Hartmannbund veranlaßten Befragung
der Wickert-Institute überein, in der 85 Prozent der Befragten die
Vorsorgeuntersuchungen positiv bewerteten und sich 93 Prozent für den weiteren Ausbau
aussprachen (32). Mit 40 Prozent Nicht-Beteiligung der Versicherten bestätigt die Wickert

Enquete die Ulmer Versichertenbefragung (33 ).

In der Auswertung ihrer Ergebnisse stimmt die Ulmer studentische Arbeitsgemeinschaft


mit dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung in einigen Punkten überein, in anderen
weicht er ab, in einer Reihe von Resultaten geht er über den Bonner Bericht hinaus.
Bestätigt werden u. a.: die erheblich höhere Inanspruchnahmequote der weiblichen
Anspruchsberechtigten; die höhere Teilnahme bei jenen Krankenkassen, die den
Versicherten eine entsprechende Information plus Berechtigungsschein zusandten; die
unterschiedliche Inanspruchnahme nach Kassenarten, wobei das Ausmaß der Differenzen
im Erfahrungsbericht nicht bestätigt werden konnte. Abweichend ist die Tatsache, daß in
Ulm die Krankenkasse als erste Informationsquelle angegeben wurde, nicht die
Tageszeitung.

126

Als wichtigstes weitergehendes Ergebnis muß die Feststellung angesehen werden, daß ein
Zusammenhang besteht »zwischen der Schulbildung, der Vorstellung, daß Krebs heilbar
sei und der Teilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen« (34) Ferner wurde eine
Korrelation ermittelt zwischen der beruflichen Qualifikation und der Inanspruchnahme
sowie zwischen dem Alter und der Beteiligung. Zu vermerken ist schließlich der Wunsch
nach zusätzlicher Information durch eine allgemeinverständliche kostenlose Broschüre.
Auch der Bericht der Bundesregierung bequemt sich zu der Einsicht, für die
Inanspruchnahme spiele auch der Umfang des Untersuchungsprogramms eine erhebliche
Rolle, und er stellt fest: »Die Krankenkassen, die das Krebsfrüherkennungsprogramm für
Männer durch ein Früherkennungsprogramm für Herz-/Kreislauferkrankungen ergänzt
haben, weisen in der Regel erheblich höhere lnanspruchnahmequoten auf.«

6.4. Kritik der praktizierten Vorsorgeuntersuchungen

Hier drängt sich die Frage auf, warum das 2. Krankenversicherungs

änderungsgesetz an Stelle der Früherkennungsuntersuchung bei Männern auf Krebs des


Enddarms und der Vorsteherdrüse nicht die von Herz und Kreislauf ins Programm
genommen hat. Aus dem Gesundheitsbericht der Bundesregierung vom Februar 1971 läßt
sich errechnen, daß - bezogen auf das Jahr 1967 - rund 9000 Männer an den genannten
Krebsformen verstarben. Die Zahl der Todesfälle an Erkrankungen des Herzens und des
Kreislaufs war jedoch mehr als zehnmal so hoch. Sie betrug laut »Statistisches Jahrbuch
1972« für die Bundesrepublik im Jahre 1970: 96 510. Nicht der Umfang des
Untersuchungsprogramms spielt bei der Beteiligung der Männer eine Rolle, sondern seine
Qualität, die um so größer ist, je mehr es sich den wirklichen Erfordernissen anpaßt. Wenn
schon aus finanziellen Gründen eine Begrenzung der Früherkennungsmaßnahmen
erforderlich ist, dann ist es völlig absurd, als einzige Untersuchung für Männer die der
Vorsteherdrüse und des Mastdarms auszuwählen. Der Verdacht drängt sich auf, daß diese
Entscheidung nicht nach rationalen Kriterien getroffen wurde. Von den Dickdarmkrebsen
insgesamt (1970: 19 272 Todesfälle; jeder 7. an Krebs Verstorbene erliegt dem
Dickdarmkrebs) ist nur ein Drittel im Enddarm angesiedelt. Da der Arzt mit seinem
untersuchenden Finger nur etwa die unteren acht Zentimeter erreicht, ist selbst der Krebs
im Enddarm, sofern er höher sitzt, mit digitaler Untersuchung nicht erreichbar. Die
optische Untersuchung des Enddarms, die sogenannte Rektoskopie, vor vielen Jahrzehnten
erfunden und unabdingbare Stan-127

dardmethode jeder Enddarmuntersuchung auf Krebs, ist für die Sozialversicherten nicht
vorgesehen. Längst sind zuverlässige und einfache Tests entwickelt worden, die es
ermöglichen, Dickdarmkrebse rechtzeitig zu erkennen. Der zu Untersuchende entnimmt
seinem Stuhl an drei aufeinanderfolgenden Tagen eine Probe, die mit einem besonderen
Reagens auf einem speziellen Filterpapier geprüft wird. Nach dreißig Sekunden ist das
Ergebnis abzulesen. Bei positiver Reaktion, das heißt: bei Blutspurennachweis, muß eine
gründliche Untersuchung folgen. Mit diesem Testverfahren, das wesentlich billiger ist als
die gegenwärtige Früherkennungsuntersuchung bei Männern wurde bei umfangreichen
Untersuchungen in den USA unter je 100 Untersuchten ein keine Symptome
verursachender Dickdarmkrebs entdeckt. Die Wiesbadener Deutsche Klinik für Diagnostik
hat diese Ergebnisse bestätigt. Naturgemäß war das Verfahren bereits bekannt, als das
Früherkennungsprogramm des 2. KVAG beraten wurde. Warum wurde es nicht
eingeführt? Die gegenwärtige Enddarmuntersuchung hat für die niedergelassenen Arzte
den Vorzug, daß sie unter den begrenzten Möglichkeiten der freien Praxis durchführbar
ist und gut honoriert wird. Als Vorsorgeuntersuchung ist sie fehl am Platze. Der
Gesetzgeber hätte die für männliche Versicherte vorgesehenen Mittel in den Ausbau der
Röntgenreihenuntersuchungen investieren sollen, dann könnten nicht nur zehntausende
Bürger mit unbekannter Lungentuberkulose erfaßt werden, sondern auch die
Krebserkrankungen der Luftröhre, Bronchien und Lunge; deren Zahl übertrifft die des
Enddarms und der Vorsteherdrüse um das Doppelte. Es würde also möglich sein,
sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: nach Tuberkulose und
Krebserkrankungen im Respirationssystem in einem Arbeitsgang zu forschen. Dieses V
erfahren ist allerdings für die freie Praxis ungeeignet. Die dafür vorgesehenen Mittel
würden nicht den Kassenärztlichen Vereinigungen, sondern den Institutionen des
öffentlichen Gesundheitsdienstes oder den Krankenhäusern zufließen. Dies zu verhindern,
scheint seitens der Ärzteorganisationen bei den Vorberatungen zum 2. KVAG das
Hauptanliegen gewesen zu sein.

Technische Einwände sind auch gegen die Früherkennungs�Untersuchungen bei Frauen


vorzubringen. Der Brustkrebs beispielsweise kann durch Palpation erst bei einem
Durchmesser von schätzungsweise einem Zentimeter festgestellt werden. Wenn er jedoch
diesen Umfang erreicht hat, beginnt er bereits, Metastasen (Tochtergeschwülste)
auszustreuen. Sobald diese in lebenswichtige Organe gelangen, können die Frauen nicht
mehr gerettet werden. Der Primärkrebs kann zwar operativ und durch nachfolgende
Strahlenbehandlung beseitigt werden, die Patientin erliegt jedoch dem unaufhaltsamen
Wachstum der Metastasen.

128

Es ist für die Frauen also lebenswichtig, daß der Brustkrebs bereits in einem frühen
Stadium diagnostiziert und therapeutisch angegangen wird, in der noch keine Metastasen-
Streuung erfolgt. Dies ist mit Hilfe moderner technischer Verfahren möglich, unter denen
die röntgenologische Untersuchung der Brust, die Mammographie, sich voll bewährt hat.
Mit dieser Methode gelingt es, den Brustkrebs schon bei einem Durchmesser von wenigen
Millimetern festzustellen. Bei der Operation braucht die Brust in vielen Fällen nicht einmal
entfernt zu werden. Sie bleibt erhalten, und den Frauen wird der schwere Schock, den
jeder Verlust der Brust nach sich zieht, erspart.

Nun ist die Einführung der Mammographie für alle sozialversicherten Frauen in kurzer
Frist zweifellos nicht zu realisieren, aber sie ist auch als Fernziel bisher von den
verantwortlichen Gremien öffentlich nicht diskutiert worden. Auf eigene Kosten kann sich
jede Sozialversicherte die Mammographie naturgemäß kaufen; sie wurde von den
Deutschen Medizinischen Zentren in Frankfurt und München - die nicht zuletzt dank des
Boykotts der freipraktizierenden Ärzte 1972 in den Konkurs gingen -

als Regelleistung angeboten. Die Mammographie steht auch den weiblichen


Belegschaftsmitgliedern der Rheinischen Braunkohlenwerke AG in deren
Werkarztzentrum in Weiden bei Köln zur Verfügung. Die Notwendigkeit ihrer
Anwendung wird um so weniger bestritten, als sich durch Mammographie-
Kontrolluntersuchungen nach palpatorischen Brustuntersuchungen ergeben hat, daß bei
der konventionellen, im Rahmen des 2. KVÄG angewandten Methode, zahlreiche bereits
existente, aber noch nicht tastbare Brustkrebse nachgewiesen werden konnten.

Bei der Früherkennungsuntersuchung auf Gebärmutterkrebs fehlt die Untersuchung


mittels Kolposkop, eines vergrößernden Spiegelgeräts zur Untersuchung der Scheide und
des Muttermundes. Dieses Verfahren wurde in den zwanziger Jahren entwickelt und ist
wegen seiner Erfolge unabdingbarer Bestandteil jeder Krebsuntersuchung der
Gebärmutter geworden. Es ermöglicht dem Arzt, den Krebs bereits im Vorstadium zu
erkennen. Erst die Kombination aus manueller, zytologischer und kolposkopischer
Untersuchung gewährt die höchstmögliche Sicherheit bei der Fahndung nach dem
Gebärmutterkrebs.

Aus dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung geht hervor, daß der Bundesausschuß
der Ärzte und Krankenkassen »den mit gynäkologischer Untersuchung und
obligatorischer zytologischer Untersuchung erreichten Wirksamkeitsgrad für ausreichend«
(36) gehalten hat. Dem steht entgegen, daß zahlreiche Krankenkassen bereits vor
Einführung des 2. KVÄG ihren Mitgliedern freiwillig Früherkennungs-Untersuchungen
auf Krebs anboten, in denen die Kolposkopie als selbstverständliches Rou-129

tineverfahren enthalten war. Entgegen den Auffassungen des Bundesausschusses hatten


diese Kassen also früher die gegenwärtig praktizierte Untersuchungskombination nicht für
ausreichend gehalten. Um die Verschlechterung der Früherkennungsuntersuchungen
durch das 2. KVKG zu vermeiden, hat der Bundesausschuß erlaubt: »Bisher unter
Einschluß der Kolposkopie durchgeführte Früherkennungsmaßnahmen können
fortgeführt werden, um aus ihren Ergebnissen weitere wissenschaftliche Aufschlüsse über
den Wert dieser Untersuchungsmethode im Rahmen der Früherkennungsmaßnahmen zu
gewinnen.« (37) Nun ist die überlegen�

heit der kombinierten Methode seit Jahrzehnten unbestritten, und wenn


Privatpatientinnen sich Früherkennungs-Untersuchungen der Gebärmutter unterziehen,
wird sie in der Regel angewandt. Es ist also nicht einzusehen, warum sie den
sozialversicherten Frauen vorenthalten wird.

Eine Ausnahme macht nur die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen

Lippe, in deren Bereich die Krebsfrüherkennungsuntersuchung unter

»obligatorischem Einschluß der Kolposkopie« (38) vorgenommen wird. Es ist anzunehmen,


daß die dortigen Ärzte sich dieser zusätzlichen Mühe nicht unterziehen würden, wenn sie
nicht von »einer zusätzlichen Absicherung gegenüber falschnegativen klinischen und
zytologischen Befunden« (39) und einer besseren Diagnose überzeugt wären. Im Bericht
der Bundesregierung wird die Kolposkopie als eine Untersuchungsmethode dargestellt,
deren »Erfahrungswert ... als Grundlage möglicher Weiterentwicklung« (40) erst geprüft
werden müsse. In Wirklichkeit ist diese Frage zugunsten der Kolposkopie wissenschaftlich
längst entschieden. Die Notwendigkeit ihrer Anwendung bei den Früherkennungs-
Untersuchungen nicht nur von Privatpatientinnen, sondern auch bei sozialversicherten
Frauen wird durch die Auswertungsergebnisse des Erfahrungsberichts bewiesen.

Danach war das zytologische Untersuchungsergebnis bei 1 569 422 Untersuchungen in


97,90 Prozent unauffällig, in 1,39 Prozent verdächtig, in 0,33 Prozent positiv und in 0,38
Prozent nicht verwertbar (41). Sowohl bei den verdächtigen als auch bei den nicht
verwertbaren zytologischen Befunden, die insgesamt 1,77 Prozent aller Untersuchungen
ausmachen, wäre eine kolposkopische Untersuchung als ergänzende Methode von
äußerstem Nutzen. Diese verdächtigen oder nicht verwertbaren Befunde beziehen sich auf
rund 28 000 Frauen.

Einen noch größeren Abstand zwischen positiven und verdächtigen Befunden zeigen die
Ergebnisse bei Untersuchung auf Brustkrebs. Hier ergaben sich laut Erfahrungsbericht
0,04 Prozent positive und 2,27 Prozent verdächtige Befunde bei insgesamt 1598 160
Untersuchungen (42). Der Verdacht auf Brustkrebs erstreckt sich hier auf 36 320 Frauen.
Bei Anwen-130

dung der Mammographie wären diese Befunde in ihrer überwiegenden Mehrheit exakt zu
klären gewesen. Ferner würden bei diesem Verfahren auch jene bereits existenten
Brustkrebse entdeckt worden sein, bei denen sich wegen ihrer geringen Größe bei
palpatorischer Untersuchung nicht einmal ein Verdacht ergibt. (Der Mangel an Exaktheit
bei nur palpatorischer Untersuchung der Brust ist auch aus einem Referat Muschalliks vor
der Delegiertenversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein am 5. Mai 1973
in Köln zu ersehen, in dem mitgeteilt wurde, daß sich bei 606 833
Früherkennungsuntersuchungen auf Brustkrebs während des Jahres 1972 im KV-Bezirk
Nordrhein 224 Krebserkrankungen und 14 661mal der Verdacht auf Brustkrebs ergaben.)

Bei den Früherkennungs-Untersuchungen (Frauen) auf Krebs des Enddarms ergaben sich
bei 1 598 425 Untersuchungen im 3. und 4. Vierteljahr 1971 in 0,01 Prozent ein positiver
und in 0,31 Prozent ein verdächtiger Befund. Der Erfahrungsbericht stellt weiter fest: »Bei
rund 26 v. H. der Untersuchungen wurden unbekannte behandlungsbedürftige
Nebenbefunde festgestellt. Die Dokumentation sagt nichts über Art, Sitz und Umfang
solcher Befunde aus. Bemerkenswert ist, daß die Zahl dieser Nebenbefunde in den
jüngeren Jahrgängen deutlich höher liegt als in den älteren Jahrgängen.« (43)

Dieses vom 2. KVAG nicht geforderte und deshalb als zusätzliche und freiwillige Initiative
der untersuchenden Arzte zu bewertende Ergebnis spricht sowohl für deren diagnostische
Sorgfalt als auch für die Notwendigkeit allgemeiner Vorsorgeuntersuchungen. Bei den 391
411 Krebsfrüherkennungsuntersuchungen der Männer fanden sich im 3. und 4. Vierteljahr
1971 in 0,07 Prozent ein positiver Befund (Krebs des Rektums) und in 1,07 Prozent ein
Verdacht. In 6,73 Prozent derselben Anzahl von Untersuchungen der Vorsteherdrüse
wurden Knotenbildungen gefunden, die nicht als krebsspezifisch anzusehen sind.

6.5. Eine Krebs-Statistik

Beziehen wir diese Ergebnisse auf das statistische Panorama der Krebserkrankungen in
der Bundesrepublik und teilweise auch vergleichsweise auf die DDR, so ergibt sich
folgendes Bild:

Eine Statistik über die Zahl der Krebskranken in der Bundesrepublik gibt es nicht, da der
Krebs mit Ausnahme des Saarlandes und Hamburgs in keinem Bundesland zu den
meldepflichtigen Erkrankungen zählt. Dieser Zustand ist eines modernen Industriestaates
völlig unwürdig; er fällt in die Verantwortung der ärztlichen Standesorganisationen, die in
der Vergangenheit keine wirksame Initiative für statistische Erhebungen ent-131

wickelt haben. Zu den Krebserkrankungen erklärt der Gesundheitsbericht der


Bundesregierung von 1971 u. a.:

»über die Zahl der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Krebskranken können
keine Angaben gemacht werden; man ist lediglich auf Schätzungen angewiesen. Die
meisten Fachleute nehmen an, daß 100 000

Krebstoten mindestens 250 000 Krebskranke gegenüberstehen. Bei 137 886

an bösartigen Neubildungen Verstorbenen im Jahre 1967 würde es bedeuten, daß in der


Bundesrepublik rd. 350 000 Krebskranke leben. Zahlreiche europäische Länder, wie die
meisten osteuropäischen Staaten, die skandinavischen Länder, die DDR und auch
Österreich haben die gesetzliche Meldepflicht eingeführt, weil sie die Kenntnis u. a. der
Häufigkeit und Verteilung der Krebserkrankungen in der Bevölkerung als eine der
wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bekämpfung dieser Krankheit
ansehen.«

Die Zahl der Todesfälle an Krebs in der Bundesrepublik ist ansteigend; sie betrug laut
Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik 1972 im Jahre 1970

insgesamt 142 423, davon 70 721 Männer und 71 702 Frauen. Die Krebs

Sterbequote auf 100 000 Einwohner beträgt bei den Verstorbenen insgesamt 234,8 davon
bei Männern 245,0 und bei Frauen 225,6 ( 45).

Im »Statistischen Jahrbuch der DDR 1973« wird für 1971 die Zahl der an Krebs
Verstorbenen (ohne Brustkrebs) mit 35 464, die Zahl der an Brustkrebs verstorbenen
Frauen mit 2433, der Männer mit 26 angeführt. Insgesamt verstarben in der DDR 37 897
Bürger an Krebs, davon 18 858

Männer und 19 039 Frauen.

Nach Geschlecht und Altersgruppen aufgeteilt starben Männer in Jahren: unter 1 Jahr

5 Personen

von 1 bis 5 Jahren

50 Personen

5 bis unter 15

108

15 bis unter 25

239
25 bis unter 45

781

45 bis unter 50

442

50 bis unter 60

1914

60 bis unter 65

2789

65 bis unter 75

8215

75 und älter

4389

Nach der gleichen Einteilung starben Frauen (ohne Brustkrebs): unter 1

1 bis unter 5

31

5 bis unter 15

64

132

15 bis unter 25

104

25 bis unter 45

791

45 bis unter 50

607
50 bis unter 60

2145

60 bis unter 65

2185

65 bis unter 75

5934

75 und älter

4765

Sterbefälle an Brustkrebs nach Altersgruppen:

bis 25 keine

25 bis unter 45

186

45 bis unter 50

178

50 bis unter 60

348

65 bis unter 75

665

75 und älter

593

(46)

Aus dieser DDR-Statistik, deshalb so ausführlich zitiert, weil ihre Zahlen im Grundsatz
prozentual auch für die Bundesrepublik gelten, ergibt sich, daß die Zahl der Sterbefälle an
Krebs mit zunehmendem Alter erheblich ansteigt. Mit diesem Problem und seinen
Konsequenzen für die Früherkennungsmaßnahmen setzt sich der Erfahrungsbericht der
Bundesregierung überhaupt nicht auseinander, obwohl es für den Erfolg des 2. KVl\G

von entscheidender Bedeutung ist. Auch in diesem Punkt zeigt sich die Überlegenheit der
Ulmer Studie, deren Autoren die Beziehung zwischen dem Alter der
Anspruchsberechtigten und ihrer Teilnahme an den Früherkennungsmaßnahmen
untersucht und in einer Graphik dargestellt haben (47). Danach beteiligten sich von den
Altersgruppen, die nach der DDR-Statistik von Krebserkrankungen in steigendem Maße
befallen werden, die Versicherten in einer umgekehrten Proportion an den
Früherkennungsmaßnahmen (in Altersgruppen nach Geburtsjahrgängen in Prozenten):

Betriebskrankenkasse Allgemeine Orts

Barmer Ersatzkasse

Wieland-Werke Ulm krankenkasse Ulm

Ulm

bis 1902

20

28

44

1903-1907

38

43

58

1908-1912

40

53

62

1913-1917

57

63

76

1918-1922
58

68

75

1923-1927

47

68

73

1928-1932

74

76

93

1933-1937

79

77

86

133

Für die Jahrgänge 1938 bis 1942 lag die Beteiligung bei allen drei Kassen dagegen zwischen
79 und 83 Prozent.

Aus dem Vergleich zwischen der DDR-Statistik und der Ulmer Graphik über die
Teilnahme nach Altersgruppen ergibt sich als Folgerung, daß die älteren Jahrgänge auf
eine spezifische und ihrer Mentalität angepa.ßte Weise mit Informationen über
Früherkennungsuntersuchungen versehen werden sollten. In der Zusammenfassung der
Ulmer Versichertenbefragung heißt es unter Punkt 4: »Es besteht eine eindeutige
Korrelation zwischen dem Alter und der Inanspruchnahme der
Früherkennungsuntersuchungen. Je jünger die Anspruchsberechtigten sind, desto
zahlreicher nehmen sie an der Untersuchung teil. Dies gilt für alle Kassen.«( 48).

Schließlich seien aus dem »Statistischen Jahrbuch der DDR 1973« die neugemeldeten
meldepflichtigen Geschwulsterkrankungen des Jahres 1971

angeführt und mit den Todesfällen an bösartigen Neoplasmen desselben Jahres verglichen
(49). Es wurden registriert: 64 772 Neuerkrankungen, davon 28 440 Männer und 34 976
Frauen. Das sind je 10 000 Einwohner insgesamt 37,99 Krebserkrankungen, davon 36,18
männliche und 39,54

weibliche. Im selben Jahr starben an Krebserkrankungen insgesamt 37 897

Bürger der DDR, davon 18 858 männliche und 19 039 weibliche. Die Differenz zwischen
Neuerkrankungen und Todesfällen (rund 27 000

markiert in etwa die Erfolge der Krebsbekämpfung in der DDR.

Bringt man die Zahl der Neuerkrankungen an Krebs in der DDR (1971

rund 65 000) in eine entsprechende Relation zur Einwohnerzahl der Bundesrepublik, so


würde hier mit etwa 230 000 Neuerkrankungen jährlich zu rechnen sein. Damit scheint die
Gesamtzahl der Krebskranken in Westdeutschland höher zu liegen als die im
Gesundheitsbericht der Bundesregierung geschätzte Zahl von rund 350 000.

Geht man von dieser Zahl aus, so kann die Ziffer der krebskranken Frauen in der
Bundesrepublik angesichts ihres leichten überwiegens in der Krebsstatistik der DDR auf
rund 180 000 geschätzt werden. Nun leiden nach einer ebenfalls auf das Jahr 1967
bezogenen, im Gesundheitsbericht veröffentlichten Aufgliederung 18,7 Prozent der
krebskranken Frauen an einer Geschwulst der Genitalorgane, 13,6 Prozent an Brustkrebs
und 4,5 Prozent an Mastdarmkrebs (50), insgesamt also 36,8 Prozent an jenen Neoplasmen
also, nach denen durch die Früherkennungsmaßnahmen des 2.

KVAG gefahndet wird. In absoluten Ziffern ausgedrückt sind es etwa 66 000 Frauen, die
gegenwärtig - teils ohne es selbst zu wissen - an einer der genannten Krebserkrankungen
leiden.

Davon ermittelt wurden durch die Krebsfrüherkennungsuntersuchungen im 3. und 4.


Vierteljahr 1971 6777 kranke Frauen, das sind rund 10 Prozent. Im Bericht werden die als
»positiv« bezeichneten Ergebnisse wie folgt 134

aufgeschlüsselt: Zahl der Untersuchungen - 1 598 422, positives Ergebnis bei klinischer
Untersuchung 0,05 Prozent, bei zytologischer Untersuchung 0,33 Prozent. Das sind -
umgerechnet in absolute Zahlen, die der Bericht nicht angibt - 799 bzw. 5179 sichere
Krebserkrankungen. Zahl der Untersuchungen bei Brustkrebs: 1 598 160, positives
Ergebnis 0,04 Prozent, in absolute Zahlen umgerechnet 639 Kranke. Krebs des Enddarms:
untersuchte Frauen 1 598 425, positive Ergebnisse 0,01 Prozent, das sind 160 Kranke. Setzt
man die positiven Ergebnisse in eine Beziehung zum materiellen Aufwand, so läßt sich
anhand der Angaben des Erfahrungsberichtes ein Durchschnittsaufwand je Krebsfall von
etwa DM 6156,38

errechnen. Als Vergleich seien hier die Angaben des KBV-Vorsitzenden Muschallik vor der
Delegiertenversammlung der KV Nordrhein angeführt. Danach wurden im Jahre 1972 im
Bereich der KV Nordrhein 606 833 Früherkennungs-Untersuchungen bei Frauen
vorgenommen.
Festgestellt wurden 224 Krebserkrankungen der Brust, 89 des Darmes und 1376 des
Genitales, insgesamt also 1689 Krebsfälle. Das ist eine Erfolgsquote von 0,27 Prozent
vergleichsweise zum Bundesdurchschnitt von 0,43 Prozent. Die Diagnose jedes einzelnen
Krebsfalles kostet DM 9376

(Bundesdurchschnitt: DM 6156,38). Sowohl der Erfahrungsbericht der Bundesregierung


als auch Muschallik geben Zahlen über Verdachtsfälle an, von denen anzunehmen ist, daß
sie inzwischen längst geklärt wurden.

Ober die endgültige Diagnosestellung fehlen jedoch die Angaben; sie würden für die
Bewertung des Früherkennungsprogramms von äußerstem Interesse sein.

Geht man von der auf Grund des Gesundheitsberichts geschätzten Zahl von etwa 167 000
krebskranken Männern aus sowie von einem Anteil der Prostata- und Enddarmkrebse von
7,9 Prozent bzw. 5 Prozent, insgesamt also von 12,9 Prozent, so läßt sich die Zahl der
Krebserkrankungen, nach denen im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen des 2.
KVKG

gefahndet wird, auf rund 21 000 schätzen. Davon wurden laut Erfahrungsbericht der
Bundesregierung in absoluten Zahlen 274 ermittelt (0,07 Prozent positive Ergebnisse bei
391 411 Untersuchungen). Ermittelt man anhand der finanziellen Angaben im
Erfahrungsbericht die Kosten je männliches Rektumkarzinom, so ergibt sich ein
Durchschnitt von rund DM 30 000. Diese Summe demonstriert das Mißverhältnis zwischen
Aufwand und Erfolg auf drastische Weise. Aus dem Erfahrungsbericht wird ersichtlich,
daß die Beteiligung der Männer an den Früherkennungs

Untersuchungen sich rückläufig entwickelt. Im 2. Halbjahr 1971 nahmen 509 000 Männer
an den Untersuchungen teil, im 1. Vierteljahr 1972 nur noch 238 000. Das ist - umgerechnet
auf ein Vierteljahr - ein Rückgang von 23 000. Die Farce scheint also durchschaut zu
werden.

135

Zu den Ergebnissen des Erfahrungsberichts der Früherkennungs-Untersuchungen bei


Männern eine vergleichende Angabe von Muschallik aus seinem Kölner Referat vom 5.
Mai 1973: »Bei der Krebsfrüherkennung für Männer wurden 123 043 Untersuchungen
durchgeführt und dabei 7024 Krebserkrankungen des Enddarms oder der Prostata sowie
2672 verdächtige Befunde entdeckt.« Danach würden von allen in der Bundesrepublik
lebenden 21 000 an Prostata- und Rektumkrebs erkrankten Männern im Jahr 1972 allein
in der von Muschallik geleiteten KV Nordrhein rund ein Drittel entdeckt worden sein.
Nach der für die allgemeinen, sich aus dem Erfahrungsbericht ergebenden und für die
Bundesrepublik verbindlichen Erfolgsquote von 0,07 Prozent bei den
Früherkennungsuntersuchungen von Männern hätten in der KV Nordrhein etwa 220 Fälle
von Prostata,- und Rektumkrebs entdeckt werden können. Muschalliks Quote übertrifft
diese Ziffer um das 31fache. Sie ist so absurd, daß sie überhaupt nicht ernsthaft diskutiert
werden kann. (Siehe Tab. 12.)

6.6. Die Unzulänglichkeit der Früherkennungs-Untersuchungen bei


Kindern

über die Ergebnisse bei den Früherkennungs-Untersuchungen von Kindern schweigt der
Erfahrungsbericht der Bundesregierung sich aus. Nur der folgende Hinweis deutet
Komplikationen an: »Dem Bericht der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ist ... zu
entnehmen, daß Dokumentationsblätter, die unvollständig ausgefüllt sind, an den Arzt
zurückgegeben werden.« (52) Hinter dieser diskreten Andeutung verbirgt sich ein
weitgehender Fehlschlag der Früherkennungs-Untersuchungen bei Kindern, der im Herbst
1972 auf einem Kongreß führender westdeutscher Kinder

ärzte in Bad Pyrmont ausführlich diskutiert wurde. Auf der Tagung wurde u. a.
festgestellt, daß bis zu 30 Prozent der Fragebogen von den Ärzten nicht korrekt ausgefüllt
und deshalb nicht zu verwerten seien.

Leider sind die kritischen Referate und Diskussionsbeiträge des Kongresses (aus
politischen Gründen?) bis zum August 1973 nicht veröffentlicht worden, obwohl die
interessierte Öffentlichkeit darauf einen legitimen Anspruch hat.

Kritische Bemerkungen zum Programm der Früherkennungs

Untersuchungen bei Kindern enthält ein Artikel »Vorsorgeuntersuchungen für


Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder« in der Zeitschrift »Die Ortskrankenkasse« (Nr.
18/1972) von Prof. Kurt Nitsch, dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für
Sozialpädiatrie. Der Autor stellt ein-136

gangs fest, daß es sich bei dem Programm des 2. KVÄG »nicht um echte
Vorsorgeuntersuchungen handelt. Vielmehr um Früherkennungsmaßnahmen. Gemäß der
Definition der Weltgesundheitsorganisation ist Vorsorge alles das, was vor Ausbruch von
Krankheitszeichen zur Verhütung geschehen kann (sogenannte primäre Prävention). Das
Gesetz stellt aber ausdrücklich auf sekundäre Prävention ab (frühe Erkennung zwecks
früher Behandlung).« Der Wunsch der Pädiater »geht nach wesentlich stärkerer
Berücksichtigung der primären Prävention«, denn sie ist sinnvoller und erfolgreicher.
Nach der Meinung von Prof. Nitsch hat der Bundesausschuß der Ärzte und
Krankenkassen »offenbar zu großen Wert auf die Praktikabilität des Programms gelegt
und zu geringen auf die Ziele und Zwecke des Gesetzes. Ohne hier in eine detaillierte
Kritik einzutreten, sei darauf hingewiesen, daß die Vorgeschichte von Familie und
Schwangerschaft eine belegbar wichtige Basis jedes Früherkennungsprogramms ist ..
Besser als ein kurzer Befundkatalog (in der Art der alten Krankengeschichte in Kurzform)
wäre sicher ein Negativkatalog, wie er nach § 181 a RVO

eigentlich auch gefordert ist. Ich habe darunter einen Symptomenkatalog pathologischer
Befunde verstanden. Er weist den untersuchenden Arzt auf jedes wichtige Symptom mit
einer Ja/Nein-Frage hin. Die Zahl der Fragen vergrößert sich damit zwangsläufig. Aber die
Effektivität vergrößert sich beträchtlich ... «

Im Programm des 2. KVÄG fehlen Urinuntersuchungen für Kinder. Dazu Prof. Nitsch:
»Wenn wir in den letzten zwölf Monaten über 50 Kinder sammeln konnten, die eine oder
mehrere Vorsorgeuntersuchungen ohne aufzufallen passiert hatten, obwohl sie an einer
chronischen eitrigen Harnwegentzündung aufgrund von angeborenen Anomalien der
Harnwege litten, dann zeigt das eine Lücke auf, die es zu schließen gilt.« Auch fehlt im
Programm ein Somatogramm, das sind mit Norm-Werten verglichene Werte von Länge,
Gewicht und Kopfumfang. Dies führt »zum übersehen von Wachstums- und
Gedeihstörungen oder auch von Wasserkopf in frühen Phasen. Praktisch wichtige
Gesundheitsstörungen wie z. B. gehäufte Luftweginfekte mit Ohrbeteiligung müssen durch
klare Fragestellung nahegebracht werden.«

Schließlich fordert Prof. Nitsch eine effiziente Auswertung der Ergebnisse:

»Daß Dokumentation und Statistik in diesem Zusammenhang nicht bürokratischer


Wollust entspringen, sondern gesundheitspolitisdie Notwendigkeit sind, ist unter
Sachkennern unbestritten. Sie stellen audi keine besondere oder gar heimtückische Art der
Meldepflicht oder Wegweisung zur sozialisierten Medizin dar. Am
Jugendarbeitsschutzgesetz sollten wir gelernt haben, wie unerläßlich braudibare
Dokumentation und Statistik sind. Allerdings benötigen wir dafür keine sterilen
Ablagestellen oder 137

Archive, sondern lebensvolle sozialpädiatrische Institutionen, etwa auf Landesebene, um


wissenschaftliche Bearbeitung zu ermöglichen und damit segensreiche Fortentwicklung.
Das jetzige Programm läßt hier fast alle Wünsche offen.« Prof. Nitsch warnt ausdrücklich
vor » Vermeidung von Vortäuschung unberechtigter Sicherheit und von
Fortschrittsglauben, solange wir nicht optimale Bedingungen für
Früherkennungsuntersuchungen geschaffen haben «.

6.7. Ein Modell für effektivere Vorsorgeuntersuchungen und seine

Erfahrungen

Als realistische Alternative zu dem in diesem Sinne unzulänglichen Programm der


Früherkennungs-Untersuchungen des 2. KVKG kann das Modell einer allgemeinen
Vorsorgeuntersuchung in Baden-Württemberg gelten, die 1969/70 durchgeführt und deren
Abschlußbericht 1972 veröffentlicht wurde. Es handelte sich um eine gemeinsame Aktion
des badenwürttembergischen Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung, des
Landesverbandes der Ortskrankenkassen Baden-Württemberg, der
Landesversicherungsanstalten Baden-Württemberg, der Kassenärztlichen Vereinigungen
Nord-Württemberg und Nord-Baden sowie der Auswertungsgruppe an der Abteilung für
Medizinische Statistik, Dokumentation und Datenverarbeitung der Universität Ulm. Im
Vorwort dieser beteiligten Institutionen heißt es:

»Das erste und wichtigste Ziel der Untersuchung war es, festzustellen, welche
Gesundheitsgefährdungen bei Versicherten von 15-60 Jahren bestehen, die nicht krank
gemeldet sind und ihrer Arbeit nachgehen. Dieses Ziel wurde erreicht. Die bestehenden
gesundheitlichen Störungen sind teilweise beträchtlich ... Der Anteil neu entdeckter
Krankheiten durch eine allgemeine Vorsorgeuntersuchung liegt unabhängig vom Alter bei
13 bis 14 Prozent der Untersuchten. Das Labor und die ärztliche Untersuchung ergänzen
sich in ihren Aussagen und decken unterschiedliche Bereiche ab.

Die Alternativen für die Zukunft lauten nicht Labor oder Arzt, gezielte Untersuchung oder
allgemeine Vorsorgeuntersuchung. Nach unseren Ergebnissen empfehlen sich
Laboratoriumsuntersuchungen und ärztliche Untersuchungen, gezielte
Untersuchungsprogramme und allgemeine Untersuchungen, die sich ergänzen und
durchaus kombinieren lassen.« (53) In das Untersuchungsprogramm aufgenommen wurde
»alles, was ein Arzt für Allgemeinmedizin untersuchen und veranlassen kann ... Nur was
das augenblickliche System der medizinischen Versorgung der Bevölkerung in der
Bundesrepublik zu leisten vermag, wurde eingesetzt ... Es wurden 138

also weder eigene ärztliche noch organisatorische Strukturen geschaffen.« (54)

Untersucht wurden 31 476 Sozialversicherte (55), die in der Arbeitswelt einem


durchschnittlichen, sich aber als intensiv erweisenden körperlichen Verschleiß ausgesetzt
sind: arbeitende Mitglieder der Allgemeinen Ortskrankenkassen. Die Beteiligung betrug 63
Prozent, sie lag niedriger bei den jüngeren und stieg bei den älteren Altersgruppen (von
rund 40 auf 75 Prozent) (56). Entscheidend für den Erfolg der Aktion war der Einsatz von
Datenverarbeitungsanlagen schon bei der vorbereitenden Organisation. Ohne Computer
»wäre die Aktion auf allen Stufen nicht möglich gewesen« (57). Die durch ihn ausgewählten
Versicherten wurden persönlich angeschrieben. Gleichzeitig erhielten sie einen
Gesundheitsscheck, der zur Teilnahme berechtigte. Dazu stellt der Abschlußbericht fest:
»Dieser Weg, die Bevölkerung zu Vorsorgeuntersuchungen zu bewegen, hat sich bewährt
und kann in ähnlicher Form bei anderen Projekten übernommen werden «(59) Die
ärztliche Untersuchung dauerte im Durchschnitt 45 Minuten: »Durch einen Arzt freier
Wahl wurden bei jedem Untersuchten 136 Merkmale aus dem persönlichen, sozialen und
gesundheitlichen Bereich erhoben« und in einem Fragebogen festgehalten. Zusätzlich
wurden bei 10 Prozent der Untersuchten neun Laborwerte bestimmt. Die Daten wurden
auf Magnetbänder übernommen und durch Computer wissenschaftlich ausgewertet. Der
Abschlußbericht stellt ausdrücklich fest:

»Das vorliegende Modell läßt erkennen, daß die mit der Durchführung von
Vorsorgeuntersuchungen im Zusammenhang stehenden Probleme auf dem Gebiet der
Sozialverrsicherung und der Medizin lösbar sind. Das Verfahren könnte noch weiter
vereinfacht und methodischer gestaltet werden.

Das gleiche gilt für das Zusammenwirken zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Ärzten
und Versicherungsträgern.« (59) Die Leistungsfähigkeit einer von freipraktizierenden
Ärzten durchgeführten allgemeinen Vorsorgeuntersuchung ist an ihren Ergebnissen
abzulesen, die im Abschlußbericht in der folgenden Statistik zusammengefaßt wurde:
Prozentanteile krankhafter Befunde bei der klinischen Untersuchung durch den Arzt bei
Männern, dahinter in Klammern bei Frauen Geschlechtsorgane 1,4 (7,4)

Galle 3,3 (10,6)

Nieren und ableitende Harnwege 4,2 (6,3)

Arterielles Gefäßsystem 5,1 (6,7)


Ohren 5,2 ( 4,0)

Extremitäten behandlungsbedürftig 7,8 (8,5)

Lungen 8,6 (3,3)

139

Haut (Ausschläge) 9,2 (7,7)

Wirbelsäule (behandlungsbedürftig) 10,5 (15,2)

Magen 12,7 (6,7)

Leber 13,9 (5,3)

Vegetatives Nervensystem 14,5 (21,2)

Venöses Gefäßsystem (z.B. Krampfadern) 18,0 (35,4) Gebiß (behandlungsbedürftig) 27,3


(23, 1)

Sehfähigkeit (fehlsichtig) 43,3 (50,4)

Aus dieser Aufstellung wird u. a. deutlich, daß bei arbeitenden Frauen, die in der Mehrzahl
noch durch Hausarbeit belastet sind, mehr Gesundheitsstörungen vorkommen als bei
Männern.

Der Abschlußbericht folgert: »Diagnosen waren vom untersuchenden Arzt nur dann zu
stellen, wenn er abschließend die festgestellten Störungen für behandlungsbedürftig
erklärte. Das war bei den Männern in ca. 64 Prozent, bei den Frauen sogar in 71 Prozent
der Untersuchten der Fall. Im Zentrum des Interesses stehen dabei im Sinne der
Früherkennung jene Störungen, die vor der Untersuchung unbekannt waren. Dies traf bei
den Frauen in 13 Prozent, bei den Männern in 14 Prozent zu.« (62) An bisher unbekannten
Krankheiten wurden in absoluten Zahlen (bei Frauen in Klammern) u. a. entdeckt:

Bluthochdruck 342 (276)

Leber/Galle 297 (118)

Atmungsorgane/Grippe 191 (85)

Diabetes 76 (27)

Obere Verdauungsorgane 68 ( 46)

Herzerkrankungen 77 (84)

Knochen/Gelenke (ohne Rheumatismus) 57 (73)


Geschlechtsorgane 12 (einschließlich Schwangerschaft 145) (63) Eine wesentliche Rolle bei
den erst durch die Früherkennungsuntersuchungen der allgemeinen
Vorsorgeuntersuchung entdeckten Krankheiten spielt bei Männern und Frauen der
Bluthochdruck, bei den Männern folgen die Leber-Galle-Leiden, bei den Frauen die
Krankheiten der Geschlechtsorgane.

In einer weiteren übersieht enthält der Abschlußbericht, geordnet nach Altersgruppen, die
Prozentsätze jener Sozialversicherten, bei denen medizinische Maßnahmen für erforderlich
gehalten wurden (Frauen in Klammern): 15 bis 19 Jahre-36,6 (51,8)

20 bis 24 Jahre - 46,4 (56,7)

140

25 bis 29 Jahre -52,3 ( 60,5)

30 bis 34 Jahre-55,9 (66,4)

35 bis 39 Jahre -60,9 (69,8)

40 bis 44 Jahre -67,8 (72,5)

45 bis 49 Jahre -73,4 (78,0)

50 bis 54 Jahre- 76,9 (81,1)

55 bis 59 Jahre-80,2 (85,2) (64)

Entsprechend den mit zunehmendem Alter zahlenmäßig ansteigenden Krankheitsbefunden


wachsen auch die ärztlichen Vorschläge für Heilverfahren in Sanatorien. Sie erfassen in
Prozentsätzen der Untersuchten (Frauen in Klammern):

15 bis 19 Jahre-2,2 (3,1)

20 bis 24 Jahre-5,7 (5,9)

25 bis 29 Jahre-8,5 (9,4)

30 bis 34 Jahre -11,8 (12,0)

35 bis 39 Jahre-17,7 (15,3)

40 bis 44 Jahre-23,8 (18,4)

45 bis 49 Jahre-27,2 (22,1)

50 bis 54 Jahre- 33,3 (29,6)

55 bis 59 Jahre-36,0 (31,3)


Im Durchschnitt wurden bei der baden-württembergischen Modelluntersuchung 20,8
Prozent aller untersuchten sozialversicherten Männer und 17,9 Prozent der Frauen für
eine Sanatoriumsbehandlung vorgeschlagen.

Der Abschlußbericht stellt fest, daß die Gesundheit der Arbeitnehmer um so schlechter ist,
»je größer der Beschäftigungsbetrieb, je schwerer die körperliche Belastung, je belastender
die Arbeitszeitregelung und die betriebliche Situation ... So werden bei
Akkordarbeiterinnen bzw. Schichtarbeiterinnen etwa 20 Prozent mehr Heilverfahren
beantragt, als nach dem Durchschnitt bei Frauen zu erwarten wäre. Oder: während zu
jenen, die keine betriebsbedingten Arbeitserschwernisse angeben, 15 Prozent weniger
Heilverfahrensanträge vorliegen, als nach dem Durchschnitt zu erwarten (wäre), fallen 6
Prozent mehr auf Lärm-, 12 Prozent mehr auf Staubund 15 Prozent mehr auf
Chemikalien-belästigte Arbeitnehmer, als dem Durchschnitt entspricht.« (66)

Aus der Fragebogenauswertung durch Computer ergibt sich, stellt der Abschlußbericht
fest, daß die Krzte für Versicherte aus den folgenden Gruppen einen über dem
Durchschnitt liegenden Prozentsatz an Heilverfahren beantragten: Arbeitnehmer ohne
regelmäßige warme Mahlzeit ( deren Quote in dem Ende 1970 erschienenen
»Zwischenbericht« über die Modelluntersuchung 141

bei Männern mit 36,8 Prozent, bei Frauen mit 22,2 Prozent angegeben wird) (67);
Arbeitnehmer mit einem weiteren Weg in den Betrieb, die zudem öffentliche
Verkehrsmittel benutzen; Arbeitnehmer aus Großstädten (so wurden bei Untersuchten aus
dem Stadtkern von Mannheim

»rund 30 Prozent mehr krankhafte Lungenbefunde registriert als im


Landesdurchschnitt«); Arbeitnehmer mit deutlicher Organbelastung durch Alkohol und
Nikotin.

Im Programm der Früherkennungsuntersuchungen des 2. KVÄG werden die


Sozialversicherten von modernen Laborverfahren völlig ausgeschlossen, weil die
standespolitischen Vertreter die Untersuchungen auf die begrenzte Leistungsfähigkeit der
freien Praxis zugeschnitten haben, die über moderne Großlabors nicht verfügt. Der
Abschlußbericht nimmt zu zwei Fragen Stellung, die für die präventive Medizin von
zentraler Bedeutung sind:

»a) Welche Beziehungen zwischen Laborbefunden und Arztbeobachtun-gen lassen sich


nachweisen?

b) Wie genau mißt eigentlich das Labor?« (68)

In der Antwort heißt es u. a.: »Der Großteil der klinisch erhobenen Befunde zielt ... in eine
Richtung, die von keinem Laborverfahren zur Zeit abgedeckt werden kann. Auch die
summarische Betrachtung, wer wird vom Labor, wer (wird) vom Arzt als nicht normal
beurteilt, ergibt keine oder nur sehr schwach angedeutete Beziehungen. In etwas über 55
Prozent stimmen die Ergebnisse überein, im Rest bestehen Diskrepanzen. Z. B. ist in 16,8
Prozent mindestens ein Laborwert pathologisch, während der Arzt den Patienten nicht für
behandlungsbedürftig hält. In 27,8 Prozent zieht der Arzt Konsequenzen aus seiner
Untersuchung, die durch keinen pathologischen Laborwert gestützt werden. Die ärztliche
Untersuchung zeigt also weitgehend eine andere Filterwirkung als die Untersuchungs-
Batterie des klinischen Labors. Das macht erforderlich, auch in Zukunft Vorsorge nicht
durch das Labor allein, sondern nur in der wirkungsvolleren Kombination mit dem Arzt
zu betreiben.« (69) Bezogen auf den Erfahrungsbericht der Bundesregierung müßte dieser
letzte Satz, der sich offenbar gegen die Oberbewertung von Diagnostikzentren richtet,
umgekehrt werden: Für die Zukunft ist es nötig, Vorsorge nicht durch den
freipraktizierenden Arzt allein, sondern nur in der wirkungsvolleren Kombination mit
dem Labor zu betreiben. Vor allem die keine oder nur wenig Symptome verursachenden
Leber-Galle-Erkrankungen bei Männern und die Nierenerkrankungen bei Frauen lassen
sich nur über Laborverfahren feststellen.

Bei der baden-württembergischen Modelluntersuchung wurden die Laboruntersuchungen


in den Labors vorgenommen, mit denen der untersuchende 142

Arzt auch sonst zusammenarbeitete. Dabei ergaben sich außerordentliche Schwankungen


in den Ergebnissen, die im Zwischenbericht von 1970 in den Vorschlag mündeten, es
»sollten Laboruntersuchungen nur mit ganz wenigen und ausgewählten Laboratorien
vorgenommen werden« (70).

Unbeabsichtigt war die baden-württembergische Modelluntersuchung zu einer


Qualitätskontrolle der konventionellen Labors geworden, deren Ergebnis weitgehend
negativ zu bewerten ist. Auch der Abschlußbericht fordert, »die Qualität der
Laborverfahren in Zukunft besser zu kontrollieren« (71).

Schon damals gab es moderne, mit Computern ausgestaltete Labors, deren Fehlerquote -
wie die Erfahrungen inzwischen beweisen - bei weniger als vier Prozent liegt. (Im
krassesten Fall wurde bei der Modelluntersuchung eine Fehlerquote von 51 Prozent
festgestellt.)

Ein Vergleich zwischen dem baden-württembergischen Modell einer allgemeinen


Vorsorgeuntersuchung in Baden-Württemberg und dem Programm der
Früherkennungsuntersuchungen des 2. KVÄG ergibt, daß in Baden-Württemberg erstmals
der Versuch unternommen wurde, die elektronische Datenverarbeitung und
Laboruntersuchungen für die präventive Medizin bei Sozialversicherten nutzbar zu
machen. Insoweit entspricht das Programm dem Anspruch der Arbeitnehmer auf
allgemeine Vorsorgeuntersuchungen und auf Anwendung moderner und leistungsfähiger
wissenschaftlicher Methoden; es geht also von den Interessen der Sozialversicherten aus.
Das 2. KVÄG-Programm dagegen schließt die zu Untersuchenden von der elektronischen
Datenverarbeitung und den Laboruntersuchungen faktisch aus; es wird von den Interessen
der freipraktizierenden Ärzte bestimmt. Gemessen an dem baden-württembergischen
Modell ist es zweitklassig und dazu kostspielig. In Baden-Württemberg erhielten die Ärzte
für eine Allgemeinuntersuchung DM 40,-; genau die Hälfte davon kassieren die
niedergelassenen Ärzte heute für einen Griff in den männlichen After samt drei einfachen
Urinuntersuchungen. In Baden-Württemberg wurde damals für die gleiche Leistung ein
einheitliches Honorar gezahlt.
Im Erfahrungsbericht der Bundesregierung finden sich keine Informationen darüber,
welches Honorar die Ärzte laut vertraglicher Vereinbarung erhalten, es läßt sich jedoch
aus anderen angegebenen Zahlen errechnen. Es zahlten für die gleiche Leistung bei
Frauen:

Ortskrankenkassen

DM 28,50

Landkrankenkassen

DM 28,50

Betriebskrankenkassen

DM 32,50

lnnungskrankenkassen

DM 29,40

See-Krankenkasse

DM 11,20

143

Arbeiter-Ersatzkassen

DM 29,80

Angestellten-Esatzkassen

DM 23,

Bundesknappschaft

DM 33,80

Für den Griff in den männlichen After erhalten die freipraktizierenden Ärzte von den

Ortskrankenkassen

DM 21,40

Landkrankenkassen

DM 18,50
Betriebskrankenkassen

DM 22,20

Inn ungskrankenkassen

DM 7,80

See-Krankenkasse

DM 7,80

Arbeiter-Ersatzkassen

DM 28,20

Angestellten-Ersatzkassen

DM 18,50

Bundesknappschaft

DM 10,80

Diese Beträge demonstrieren den Erfolg der standespolitischen Honorarstrategie


gegenüber den Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung auf drastische Weise. Zu den
wichtigsten Verbesserungen des 2. KVKG sollte in Zukunft die einheitliche
Honorargestaltung bei Früherkennungs

Untersuchungen gehören.

Die Modelluntersuchung in Baden-Württemberg wurde von fünf gleichberechtigten


Institutionen durchgefürt, darunter den Kassenärztlichen Vereinigungen Nord-
Württemberg und Nord-Baden, deren fortschrittliche Einstellung hier ausdrücklich
attestiert sei. Das 2. KVKG hat die Früherkennungs-Untersuchungen den Kassenärztlichen
Vereinigungen als Monopol übertragen und den Einfluß der GKV-Kassen weitgehend
ausgeschaltet. Auch das ist ein entscheidender Nachteil zu Ungunsten der
Sozialversicherten, den es zu beseitigen gilt.

Die Frage, in welcher Richtung das 2. KVKG weiterentwickelt werden muß, ist dank der
Erfahrungen in Baden-Württemberg einfach zu beantworten: Man übertrage die dort
gesammelten Erkenntnisse auf die Bundesrepublik. Dabei müssen die
Laboruntersuchungen dem modernen technischen Stand angepaßt, aus der gegenwärtigen
Gebührenordnung herausgelöst und mit einer geringen Gewinnmarge abgegeben werden.

Dann können die GKV-Kassen das erweiterte Programm finanzieren.

Auch die nach Auffassung der Bundesärztekammer nicht ausreichende ärztliche


Arbeitskapazität kann wesentlich erweitert werden. Von der Möglichkeit,
Krankenhausärzte für das 2. KVKG-Programm zu verpflichten, haben die
Kassenärztlichen Vereinigungen laut Erfahrungsbericht in 228 Fällen (bei rund 50 000
Krankenhausärzten) Gebrauch gemacht - ein Grund mehr, ihr Monopol für die
Früherkennungs-Untersuchungen baldigst zu beseitigen.

144

7. Was denkt die junge Ärztegeneration?

7.1. Zwei Meinungsumfragen unter jungen Medizinern

Eine kritische Darstellung des bestehenden Gesundheitswesens, die zur Verwirklichung


einer vernünftigen und humanen Ordnung beitragen soll, grübe sich selbst die Hoffnung
auf eine bessere Zukunft ab, würde sie nicht die Ansätze des Fortschritts in unserer
Gesellschaft sorgfältig registrieren. Von ihnen sind die politischen Ansätze auf
Strukturreformen sichtbarer als jenes gesundheitspolitische Bewußtsein, das inzwischen
auch angehende und junge Ärzte entwickelt haben. Von hierher findet die Aussicht
Nahrung, künftige tiefgreifende Veränderungen, die von politischer Seite inauguriert
werden müssen, nicht mehr gegen die Ärzte und insbesondere ihre Standesorganisationen,
sondern gemeinsam mit fortschrittlichen Ärzten durchsetzen zu können.

Substanz geben diesen Erwartungen vor allem zwei Meinungsumfragen: die eine unter
Examenskandidaten der Medizin an der Freien Universität Berlin im Sommersemester
1971 (1); die andere ist eine im August 1973

noch unveröffentlichte Fragebogenaktion des Landesverbandes Berlin im Marburger


Bund, der Organisation der angestellten Ärzte, durchgeführt im Oktober 1972 (2). Unter
weitgehender Vernachlässigung bestimmter spezifischer Fragen in diesen Erhebungen -
einmal zur Qualität der Ausbildung bei den Examenskandidaten, die im übrigen als
miserabel angesehen wird (3), zum anderen zur Einschätzung des Marburger Bundes
durch seine Mitglieder - sollen an dieser Stelle vor allem die Einstellung der jungen
Mediziner zu gesundheitspolitischen Problemen interessieren.

Zuvor verdient die Tatsache Beachtung, daß es sich bei den Befragten beider Gruppen
keineswegs um besonders Aktive im Bereich der Gesellschaftspolitik handelt. Die
Auswertung der Umfrage unter den Examenskandidaten läßt den Schluß zu, man könne
bei den »befragten Studenten nicht von einem durchgängig besonders hoch entwickelten
Problembewußtsein in bezug auf gesellschaftliche Probleme sprechen« (4). Daß es sich
ferner bei den befragten angestellten Ärzten nicht um »Revolutionäre« handelte, beweisen
die ausnehmend »bürgerlichen« Antworten auf entsprechende Fragen. Diesen Tatbestand
berücksichtigend, können die Ergebnisse als repräsentativ für die Auffassungen der jungen
Ärztegeneration angesehen werden.

145

Auch die präzise Fassung des Alters der Befragten ist nach den Fragebogen möglich. Von
den Examenskandidaten war keiner unter 25 Jahre alt, 69,3 Prozent lagen zwischen 25 und
27 Jahren, 23,8 Prozent zwischen 28
und 30 Jahren und 6,9 Prozent zwischen 31 und 35 Jahren. Diese Altersstruktur weist
wiederum darauf hin, daß die Antworten nicht etwa als Symptom für eine unreflektierte
studentische Ideologie abgetan werden können, sondern sehr wohl als abgewogene
Meinung interpretiert werden müssen.

Die Altersstruktur der Ärzte des Marburger Bundes bei seiner Umfrage war wie folgt: gut
26 Prozent waren bis zu 30 Jahre alt, knapp 90 Prozent waren jünger als 40 Jahre; über 50
Jahre alt waren nur 3,1 Prozent.

Das durchschnittliche Alter der Befragten betrug 33,7 Jahre. In diesem Alter verfügen die
jungen Ärzte im Durchschnitt über eine praktische Erfahrung von fünf bis sechs Jahren.

Charakteristisch für die kritische Haltung der jungen Generation ist die Tatsache, daß nur
9 Protzen der Examenskandidaten am gegenwärtigen Gesundheitssystem nichts für
reformbedürftig halten; d. h. über 90 Prozent der jungen Ärzte stimmen nicht mit den
Behauptungen der ärztlichen Standesorganisationen überein, unser Gesundheitswesen sei
im Großen und Ganzen gut und auf der Höhe der Zeit. Eine spezielle grundsätzliche Frage
gab es im Fragebogen des Marburger Bundes dazu nicht, doch wenn hier 80,0 Prozent den
Marburger Bund und den Bund gewerkschaftlicher Ärzte in der ÖTV für die
wirkungsvollste Vertretung ihrer Interessen halten - gegenüber 6,8 Stimmen für die
Ärztekammer -, und zwar solcher Interessen, die nur zu einem geringen Teil in
individuellen Vorteilen gesehen wurden (5), so zeigt sich bei den angestellten Ärzten die
deutliche Tendenz zur Reformentschlossenheit.

7.2. Vorstellungen zur künftigen ambulanten Versorgung Nach den Vorstellungen der
Examenskandidaten wird sich die zukünftige ärztliche Versorgung gründlich von der
bestehenden unterscheiden. Den Beruf eines praktischen Arztes streben von ihnen nur 9,9
Prozent an, und nur 13,9 Prozent denken an eine Niederlassung in eigener Praxis. Das
bedeutet, daß von den 72,3 Prozent, die eine Facharztausbildung durchlaufen wollen, nur 4
Prozent eine freie Einzelpraxis zu eröffnen gedenken. Gegenüber der traditionellen
ärztlichen Versorgung favorisieren die angehenden Ärzte mit 41,6 Prozent deutlich die
Gruppenpraxis mit Kollegen mehrerer Fachrichtungen. Die in diesen Zahlen implizierte
Kritik am gegenwärtigen System erstreckt sich auch auf die mit ihm verbundenen 146

Einrichtungen und Organisationen: 55,4 Prozent bejahen eine Reform des


Krankenkassensystems und 44,6 Prozent halten eine Reform der den status quo
verteidigenden Ärzteorganisationen für nötig. Addiert man noch jene knapp 10 Prozent
hinzu, die eine durchgängige Kritik am Gesundheitswesen äußern, so ist das Ausmaß des
Unbehagens deutlich. Die Interpreten der Umfrageergebnisse an der FU Berlin schließen:
»10 Prozent wollen den traditionellen Berufsweg des praktischen Arztes einschlagen ... Nur
14 Prozent wollen noch eine eigene Arztpraxis eröffnen.

Demgegenüber steht die große Mehrheit derjenigen Examenskandidaten, die offenbar ein
Bewußtsein davon hat, wie wenig adäquat ein einzelner Arzt Patienten versorgen kann und
die daher in irgendeiner Form der Zusammenarbeit verschiedener Ärzte arbeiten wollen.«
(6) Als überraschend darf angesehen werden, daß sich trotz der permanenten Kampagne
der Ärzteorganisationen gegen Ambulatorien und Polikliniken doch noch 18,8 Prozent für
die Arbeit in diesem - mit Ausnahme der Universitäten - weitgehend noch gar nicht
existenten ärztlichen Versorgungszweig entschließen. Mehr noch: 21,8 Prozent plädieren
für die Einrichtung von mehr Polikliniken, entschieden sich also offen für die »sozialisierte
Form der Krankenbehandlung« als Regelversorgung. Bei Berücksichtigung des bereits
konstatierten wenig entwickelten gesellschaftlichen Bewußtseins der befragten
Examenskandidaten kommen diese Zahlen einer Revolution gleich.

Auch die Ärzte des Marburger Bundes votieren überwiegend für das kollegiale System. Bei
der anders angelegten Technik der Meinungsumfrage konnten sie ihrer Zustimmung oder
Ablehnung auch hinsichtlich der Intensität in einer Bewertung von +3 bis -3 Ausdruck
geben. Auf die Frage:

»Je mehr Ärzte an der Behandlung beteiligt sind, desto weniger wird den Patienten
wirklich geholfen« reagieren 33,9 Prozent mit der stärksten Ablehnung von -3, 20 Prozent
von -2 und etwa 13 Prozent von -1; knapp 70 Prozent also sprechen sich für die
Zusammenarbeit von Ärzten bei der Krankenbehandlung aus, was natürlich indirekt einer
teilweise entschiedenen Ablehnung der Einzelpraxis gleichkommt. Dem entspricht auch,
daß sogar die vom gesundheitspolitischen in den moralischen Bereich hineinreichende
Frage: »Die niedergelassenen Ärzte machen mit der Krankheit ein Geschäft« noch eine
durchschnittliche Zustimmung von

+0,31 erhält; rund 16 Prozent geben ihr +3, etwa 15 Prozent +2 und ca.

20 Prozent + 1.

Wesentlich stärker als die Examenskandidaten sprechen sich die Ärzte des Marburger
Bundes für Krankenhausambulatorien aus. Auf die zur Bewertung gestellte Aussage: »Um
die apparative Kapazität des Krankenhauses besser zu nutzen und um den
Behandlungserfolg zu erhöhen, 147

sollte eine prä- und poststationäre Diagnostik und Therapie an den Krankenhäusern
eingeführt werden, auch wenn das noch auf den Widerstand der Verbände der
niedergelassenen Ärzte stoßen sollte« gibt es starke Zustimmung. 50 Prozent werten mit +
3, 14 Prozent mit + 2 und 10 Prozent mit + 1; nur etwa 20 Prozent lehnen die
Krankenhausambulanz ab, der Durchschnittswert liegt bei + 1,42. Auch der noch
weitergehenden Aussage, die auf eine ärztliche Regelversorgung in Polikliniken mit der
Formulierung abzielt: »Die Poliklinik ist die bestmögliche Form der ambulanten
Versorgung der Patienten«, stimmt die Mehrheit mit einem Durchschnittswert von +0,45
zu; 26 Prozent votieren mit + 3, 16 Prozent mit + 2 und 14 Prozent mit + 1 gegen die
traditionelle freie Arztpraxis.

Die wohl bewußt auf den Versuch von Emotionalisierung gegen Gesellschaftsreformer hin
formulierte Kontrollfrage: »Den Tendenzen, das Gesundheitswesen zu sozialisieren, muß
entschieden entgegengetreten werden« erfährt eine rationale Ablehnung; der immanente
»Anti-Radikalen«-Appell verfängt nicht und beeinträchtigt das Urteil der Ärzte nicht:
Genau ein Drittel der Ärzte hat entschieden nichts (-3) gegen eine Sozialisierung des
Gesundheitswesens, rund 13 Prozent werten mit -2 und etwa 11 Prozent mit -1 gegen die
standespolitische Kampagne, die eine Sozialisierung des Gesundheitswesens verhindern
soll. Der Durchschnittswert liegt bei -0,65. Damit ist eine Mehrheit des Landesverbandes
Berlin im Marburger Bund für die radikale Umgestaltung des Gesundheitswesens.

Auf der gleichen Linie liegt die Ablehnung der Ärztekammern durch eine Mehrheit der
jungen Ärztegeneration. Adäquat ihrem Reformwillen geben 31 Prozent der These: »Die
Ärztekammer hat keine vernünftige Funktion, sie ist überflüssig« trotz der scharfen
Formulierung ihre entschiedene ( + 3) Zustimmung. Der Durchschnittswert von +0,47
zeigt, daß eine Mehrheit die Standesorganisation, der alle Ärzte durch
Zwangsmitgliedschaft angehören, abgeschafft wissen will. Dagegen lehnen 60 Prozent die
Anregung, der Marburger Bund habe sich nur um Tariffragen zu kümmern, mit -3 ab bei
einem hohen Durchschnitt von -1,95; 74,4 Prozent waren mit + 3 der Meinung, der
Marburger Bund brauche eine aktive Basis, um gesundheitspolitisch wirken zu können, bei
fast völligem Fehlen ablehnender Wertung.

7.3. Meinungen zur Krankenhausreform

Aufschlußreich sind auch die kritischen Auffassungen zum Krankenhaussektor. 68,3


Prozent der Examenskandidaten, zu denen die 9,9 Prozent 148

mit durchgängiger Kritik addiert werden müssen, halten eine Reform des Krankenhauses
für nötig. Dabei wenden sie sich vor allem gegen die hierarchische Krztestruktur im
Krankenhaus, die sie nicht etwa psychologisch bedingt aus der Perspektive der untersten
ärztlichen Stufe in der Hierarchie mit Mehrheit ablehnen, sondern aus Sachgründen, weil
es ihrer Meinung nach für diese reaktionäre Struktur keinen vernünftigen Grund gibt.

Auf die Frage »Basiert Ihrer Meinung nach die Autorität der Professoren auf Sachkenntnis
oder auf ihrer Stellung in der Krankenhaushierarchie?«

erkannten weniger als 7 Prozent auf eine sachbezogene, aber mehr als 50 Prozent auf eine
bloß stellungvermittelte Autorität. Der große Rest sah die professorale Autorität in beiden
begründet. Diese Antworten werden aufschlußreich ergänzt durch den Illusionsverlust, den
die Studen�

ten im Laufe ihres Studiums im Verhältnis zu den Professoren erleiden.

Bei Studienantritt glaubten noch 52,5 Prozent gegen 44,6 Prozent, ihre Lehrer müßten
»menschlich besonders eindrucksvolle Persönlichkeiten«

sein. Zur Examenszeit waren von den ursprünglich Beeindruckten keine 25

Prozent mehr dieser Meinung, eingeschlossen jener größere Teil, der seine Zustimmung zu
den Professoren mit einigen Einschränkungen versah.

Dagegen waren nun 42,6 Prozent der im 1. Semester den Professoren erwartungsvoll
Gegenübertretenden desillusioniert; für 23,8 Prozent von ihnen gab es einige Ausnahmen.

Bezeichnend für die implizit gegebene Chefarztkritik der Studenten ist auch jene Frage
nach den Konsequenzen, wenn dem Chefarzt ein »schwerer Fehler« unterlaufen würde.
Nur 3 Prozent meinen, der Chefarzt würde den Fall selbst zur Diskussion stellen, aber 64,4
Prozent sind sicher: »Keiner würde etwas unternehmen, weil alle befürchten, daß der
Chefarzt es übel nehmen könnte.« Daß eine solche hierarchische Macht, die wegen eines
möglichen » übelnehmens« berechtigte und für die Gesundheit des Patienten wichtige
Kritik (vorausgesetzt wird ein »schwerer Fehler«) unterbinden kann, durch kollegiale
Leistungsformen ersetzt werden muß, sollte keinem Zweifel unterliegen.

So sehen es auch die Examenskandidaten, die »im Zweifelsfall die letzte Entscheidung über
die Behandlung eines komplizierten Falles« nur zu 18,8 Prozent dem »Chefarzt allein nach
einem Diskussionsprozeß mit den beteiligten Arzten« überlassen möchten und zu 72,3
Prozent meinen, »die Mehrheit in einem qualifizierten Gremium« solle die letzte
Entscheidung treffen.

Gerade zum Chefarztproblem sind die Ansichten der Marburger-Bund

Arzte noch gewichtiger, denn es handelt sich bei ihnen um Krankenhaus

ärzte, die tagtäglich in der traditionellen hierarchischen Struktur arbeiten müssen. Aus
dieser Erfahrung heraus lehnt der größte Teil von ihnen 149

ebenfalls die Notwendigkeit der Institution »Chefarzt« mit Nachdruck ab. Die These: »Es
muß immer ein Chefarzt da sein, der die oberste'ärztliche Verantwortung trägt« wird mit
dem Durchschnittswert von -0,26

verworfen, wobei eine starke Gruppe von 27 Prozent der Absage die Intensität -3 gibt.
Auch in der fachärztlichen Weiterbildung wenden sich die Befragten gegen das Monopol
der Chefärzte: »Daß die bisher an den Chefarzt allein gebundene Ermächtigung zur
fachärztlichen Weiterbildung zur gemeinsamen Ermächtigung aller an der Abteilung
tätigen Fach

ärzte erweitert wird, hielten 87,4 Prozent für erstrebenswert. Dagegen sprachen sich 12,6
Prozent aus.« (7) Mit dem Chefarzt soll nach Meinung einer Zweidrittelmehrheit auch der
Privatpatient verschwinden. » Wer als Privatpatient für seine Gesundheit besonders zahlt,
hat auch ein Recht auf eine besondere ärztliche Behandlung« lautet die zur Wertung
aufgestellte Aussage, die von 63 Prozent mit allem Nachdruck (-3) abgelehnt wird.

Nur rund 15 Prozent halten die Sonderstellung der Privatpatienten noch für zeitgemäß.

Mit der Absage an die Institution Chefarzt korrespondiert ein deutliches Votum für das
kollegiale System. Von der Richtigkeit der Aussage: »Die Einführung des Kollegialsystems
im Krankenhaus würde die Qualität der medizinischen Versorgung der Patienten
wesentlich verbessern« waren 32 Prozent mit + 3 überzeugt, 25 Prozent mit + 2 und 23
Prozent mit

+ 1, insgesamt also 80 Prozent der Befragten. Allerdings ist eine breite Mehrheit von über
70 Prozent der angestellten Ärzte skeptisch, ob die meisten Ärzte die »Fähigkeit zur Kritik
und Selbstkritik, eine wesentliche Voraussetzung für kollegiale Zusammenarbeit« besitzen.
Offensichtlich muß bei Einführung der kollegialen Leitung im Rahmen der
Krankenhausreform erst ein allgemeiner demokratischer Lernprozeß für die Ärzte
beginnen.

Daß aber gute Voraussetzungen für seinen Erfolg gegeben sind, beweist die Bereitschaft
der jungen Ärztegeneration, die bestehenden autoritären Verhältnisse auch in den
Beziehungen der Ärzte zu Personal und Patient abzubauen. Das Statement: »Da der
einzelne Arzt ein nur sehr begrenztes Wissen und Können haben kann und auf die
Mitwirkung vieler angewiesen ist, sollte sein noch bestehendes autoritäres Verhältnis zu
Personal und Patient abgebaut und versachlicht werden« erhielt mit einem
Durchschnittswert von + 1,87 starke Zustimmung. Der prozentuale Anteil von 49,5 Prozent
bei + 3 beweist überzeugend, wie groß bei den Ärzten nicht nur die Bereitschaft, sondern
sogar der ausdrückliche Wunsch nach Demokratisierung des Krankenhauses ist.

150

7.4. Für ein neues Verhältnis zwischen Arzt und Patient Damit wird ein weiteres Tabu im
überkommenen autoritären ärztlichen Selbstverständnis angesprochen: die absolut
dominierende Rolle des Arztes in der Therapie. Die Objektfunktion des Patienten als
Ergebnis der ausschließlich naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Medizin, dem
Kranken bisher mit dem Anspruch der Selbstverständlichkeit aufgezwungen und von
diesem in seiner Rollenerwartung auch übernommen, soll nach dem Willen der
überwältigenden Mehrheit der jungen Ärzte beseitigt werden. Die These: »Der Patient
sollte nicht so viel fragen und lieber dem Arzt unbedingtes Vertrauen entgegenbringen«
findet mit dem sehr hohen Durchschnittswert von -2,06 eindeutige Ablehnung. 54,4 Prozent
verwerfen diesen traditionellen ärztlichen Anspruch sogar mit der Wertung

-3; Zustimmung fehlt fast völlig. Dagegen ist der noch höhere Durchschnittswert von + 2,26
der entgegengesetzten Auffassung: »Ein aufgeklärter Patient kann durch seine Mitwirkung
den Heilungsprozeß wesentlich beschleunigen.« Nur etwa 5 Prozent verneinen dies, 81,2
Prozent stimmen mit +3 und +2 (davon fast 60 Prozent +3) dafür.

Diese neue Einstellung der Ärzte zum Krankheitsbild beweist den Einbruch
gesellschaftlicher Elemente in die Medizin. Galt Krankheit im trad�tionellen
naturwissenschaftlich bestimmten Verständnis als objektive Größe, als eine vom Menschen
losgelöste und für sich betrachtbare Qualität, so ist bei den befragten jungen Ärzten die
Relevanz gesellschaftlicher Gegebenheiten für eine Krankheit und damit für ihre Heilung
unbestritten. Das Statement: »Die Berücksichtigung der psychischen und sozialen Faktoren
des Krankseins ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg von Diagnostik und
Therapie« findet eindeutige starke Zustimmung bei einer starken Gruppe um + 3: 5 8, 1
Prozent, der Durchschnittswert beträgt hohe + 2, 11, Ablehnung fehlt fast völlig.

Ähnliche Auffassungen zu einer neuen Arzt-Patient-Beziehung bestimmen auch die


Antworten der Examenskandidaten von der Freien Universität Berlin. Zur Frage »Sollten
die Ärzte den Patienten im allgemeinen über seine Krankheit aufklären?« äußerten sich
86,1 Prozent zustimmend und nur 5 Prozent ablehnend. Die Vorstellung der Studenten zur
aktiven Mitarbeit des Patienten bei der Heilung der Krankheit wird in der sehr
weitgehenden Frage: »Sollte der Patient nach Aufklärung über seine Krankheit und die
Behandlungsmöglichkeiten einen Einfluß auf die weiteren therapeutischen und
diagnostischen Maßnahmen ausüben können?« formuliert und von 73,3 Prozent bejaht.

Die Einsicht in die von der Therapie wie von den sozialen Auswirkungen her
unausweichliche Reform der Beziehungen zwischen Arzt und Patient 151

wurde den Studenten allerdings nicht von ihren Professoren vermittelt; sie dürfte vielmehr
der Niederschlag jenes allgemeinen stärkeren Interesses der jungen Medizinergeneration
an gesellschaftspolitischen Problemen sein, das auch unpolitische Studenten mehr und
mehr beeinflußt. Aufschlußreich für die konservative Haltung der Lehrergeneration zu
einem neuen Arzt/Patient-Verhältnis ist die Tatsache, daß 84,2 Prozent der
Examenskandidaten den Eindruck hatten, während ihres Studiums seien »die Probleme,
die das Verhältnis Arzt/Patient betreffen«, nicht »in ausreichender Weise angesprochen
worden«.

Nur 7,9 Prozent glauben sich hierüber hinreichend informiert, was bei einem Teil noch auf
ein fehlendes Problembewußtsein zurückzuführen sein dürfte und nicht auf ausreichende
Behandlung dieser wichtigen medizinischen und sozialen Frage.

7.5. Zur Situation im Arzneimittelwesen

Besonders kritisch denken die angehenden .Ärzte über das Arzneimittelwesen. Nicht
weniger als 97 Prozent halten seine Kontrolle für nötig, glauben aber nur zu 72,3 Prozent,
daß eine solche Kontrolle im Rahmen des marktwirtschaftlichen Systems wirksam sei. Von
den Befürwortern der Kontrolle wollen 60,4 Prozent die Aufsicht dem Staat übertragen,
18,8 Prozent einer neutralen Institution, 19,8 Prozent hatten dazu keine Vorstellungen.

Die Kritik am Arzneimittel-Bereich erstreckt sich auf den ökonomischen wie den
pharmakologischen Sektor. 75,2 Prozent der Befragten halten die hohen Gewinne der
Pharma-Industrie für nicht gerechtfertigt, nur 10,9 Prozent wollen sie ungeschmälert
lassen. Und 92,1 Prozent sind der Meinung, »daß oft Präparate auf den Markt kommen,
mit denen die Hersteller Gewinne machen wollen, daß jedoch die Präparate in Wirklichkeit
gar nicht gebraucht werden.«

Der Arzneimittelmißbrauch der pharmazeutischen Industrie wird klar erkannt. Die


gezielte Frage, ob die .Ärzte von den Herstellern genügend Informationen über die
Nebenwirkungen neuer Heilmittel erhalten, die jede Frage nach Informationen an andere
Zielgruppen und insbesondere an die allgemeine Öffentlichkeit miteinschließt und
überlagert, wird von 84,2 Prozent verneint und von 5 Prozent bejaht. Ein neues, und zwar
strenges Arzneimittelgesetz würde also von einer breiten Mehrheit der angehenden jungen
.Ärzte begrüßt.

152

7.6. Die jungen Mediziner zwischen Ethos und Einkommen

Interessante Einzelheiten lassen sich aus den materiellen Erwartungen der


Examenskandidaten und der Krankenhausärzte ableiten. Auf Statement und Frage: »Viele
Ihrer Kommilitonen hoffen, daß sie für das lange Studium und die Facharztausbildung
später materiell entschädigt werden.

Spielt diese Erwägung auch für Sie eine gewisse Rolle?« antworteten 30,7 Prozent mit »ja«,
68,3 Prozent mit »nein«. Diese Zahlen werden in einer Anlehnung an die Umfrage des
Marburger Bundes aussagekräftig.

Dort nämlich ist es möglich, Korrelationen zwischen dem finanziellen und dem
medizinischen Interesse der Befragten herzustellen. Von 581 jungen Krankenhausärzten
wollten 162 (27,9 Prozent) auf Dauer im Krankenhaus bleiben. Zu ihnen dürfte ein
erheblicher Teil der 247 ( 42,5 Prozent) noch Unentschiedenen stoßen, denn insgesamt 260
der Befragten erwägen unter Angabe der folgenden Gründe den Verbleib im
Krankenhaus: Prozent

1. größere diagnostische und therapeutische Möglichkeiten 37,8

2. mehr Möglichkeit zu ärztlicher Zusammenarbeit 21,6

3. Möglichkeit eigener Forschung

9,3
4. bessere Fortbildung
8,6

5. Ablehnung, Medizin mit Profitinteresse zu betreiben 7,5


6. geregelte Arbeitszeit
6,6
7. sicherer Verdienst, soziale Sicherheit
3,9

8. andere Gründe

2,9

9. Aufstiegsmöglichkeiten

1,9

Das Hauptmotiv bei den jungen Ärzten, die sich für das Krankenhaus entscheiden, bilden
vordringlich die - vergleichsweise zur freien Praxis -

besseren fachlichen und technischen Voraussetzungen für ihre Tätigkeit.

Man darf einem so eindeutigen Ergebnis entnehmen, daß diese Krankenhausärzte ihren
Beruf mit einem großen Verantwortungsgefühl ausüben, das materiellen Überlegungen nur
wenig Raum läßt. » Während die Verbände der niedergelassenen Ärzte hinter der
zunehmend geringeren Bereitschaft der jungen Ärzte im Krankenhaus, sich in freier
Praxis niederzulassen, eine Scheu vor dem wirtschaftlichen Risiko vermuten, war dieser
Grund nur für 3,9 Prozent der Befragten ausschlaggebend« (8), interpretiert die
Auswertung.

Auf der anderen Seite sind sich 172 der 581 Ärzte darüber im klaren, daß sie »nicht im
Krankenhaus« bleiben werden. Mit dem Rest der Unentschiedenen und jenen, die keine
Angaben machen, bilden sie etwa 57 Prozent der Befragten; 45 Prozent wollen in
Wertungen von +3, 12 Prozent 153

mit + 2 ausdrücklich und »auf jeden Fall« die Freiberuflichkeit der niedergelassenen Ärzte
erhalten wissen. Hier scheinen Überlegungen eine Rolle zu spielen, die weniger an der
Effektivität der medizinischen Arbeit orientiert sind als an den hohen Honoraren der
freien Praxis. Merken wir in diesem Zusammenhang die Kritik der zur Arbeit im
Krankenhaus Entschlossenen an: Fast 60 Prozent von ihnen halten »in der bislang üblichen
Alternative zur Krankenhaustätigkeit, der Einzelpraxis, eine effektive, wissenschaftlichen
Ansprüchen genügende Betreuung der Patienten nicht für gewährleistet.« (9)

Eine ähnliche Differenzierung nach mehr oder minder starker Ausrichtung auf fachliche
und materielle Interessen wird bei den 68,3 Prozent: 30,7 Prozent der PU-Studenten
erlaubt sein, die über Nichtexistenz bzw.

Existenz ihrer materiellen Erwartungen Auskunft gaben. Die Auswerter stellten aus
Korrelationen verschiedener Fragen fest: »Fehlende Möglichkeiten, Eigeninitiative zu
entfalten, kritisieren besonders die zukünftigen Poliklinikärzte und Wissenschaftler.
Dagegen legen diejenigen, die eine traditionelle Arztpraxis eröffnen wollen, darauf keinen
Wert.

Dieses Ergebnis ist insofern erstaunlich, als man gerade von denen erwarten könnte, die
sich später selbständig machen wollen, daß sie die Obernahme von Verantwortung und
Eigeninitiative im Sinne eines Unternehmerrisikos reizen müßte. Dagegen sind es gerade
diejenigen mit der Berufsperspektive der sogenannten abhängigen Berufe, die betonen, daß
sie mehr Verantwortung übernehmen wollen.« (10)

Es ist ein merkwürdiger Bruch bei den Marburger-Bund�Ärzten zu notieren. Eine große
Mehrheit von ihnen steht hinter gründlichen Reformen des Gesundheitswesens, zu denen
der niedergelassene Arzt herkömmlichen Stils schlecht paßt. Dennoch findet sich eine
Mehrheit für die Beibehaltung seiner Freiberuflichkeit, während sich eine ähnlich große
Mehrheit von 60 Prozent ( + 3 : 42,7 Prozent) für die Beibehaltung des
Angestelltenverhältnisses beim Krankenhausarzt ausspricht. Solche wenig konsistenten
Antworten zeigen, wie verbreitet die Einsicht in die Notwendigkeit von Änderungen im
Gesundheitsbereich ist, daß diese Einsicht aber im konkreten Falle, wenn der junge Arzt
individuell für sich die Möglichkeit erkennt, von den alten Privilegien zu profitieren, den
persönlichen Vorteilen untergeordnet wird.

Allerdings bevorzugen auch von den Ärzten, die mit dem Gedanken der Niederlassung
spielen, nur 10,6 Prozent die bislang übliche Einzelpraxis.

19,5 Prozent würden ihre Einzelpraxis einer Apparategemeinschaft anschließen, 48,8


Prozent wünschen die integrierte Gruppenpraxis, 21,1 Prozent plädieren für die Arbeit im
staatlichen Ambulatorium. Unter diesen 104 Ärzten dürfte sich, wie ein Vergleich der
absoluten Zahlen 154

nahelegt, ein Teil jener Gruppe verbergen, die beim gegenwärtigen Stand des
Gesundheitswesens im Krankenhaus zu bleiben gedenkt.

Ein Vergleich zwischen den Auffassungen der jungen Ärztegeneration und der offiziellen
Standesideologie beweist, daß die von der Bundesärztekammer so oft beschworene
»Einheit der Ärzteschaft« unwiderruflich der Vergangenheit angehört. Eigene
Erfahrungen haben Medizinstudenten und junge Ärzte bewogen, sich von dem aus dem 19.
Jahrhundert überkommenen traditionellen Zunftdenken zu lösen und eine entschiedene
Reform des Gesundheitswesens anzustreben. Das Statement der konservativen
Standesorganisationen: »Gerade die Krzteschaft sollte sich vor internen
Auseinandersetzungen hüten, sonst verliert sie das Vertrauen der Patienten und kann sich
in der Öffentlichkeit nicht mehr richtig durchsetzen« bekam von den Ärzten des
Marburger Bundes die durchschnittliche Ablehnung -1,19 bei einem Anteil von 44 Prozent
mit -3, 16 Prozent mit - 2 und 9 Prozent mit -1.

Eine neue »Einheit« bahnt sich an: die zwischen dem fortschrittlichen Teil der Jüzteschaft
und den Sozialversicherten. Von diesem Bündnis wird die gesundheitspolitische
Entwicklung in der Bundesrepublik während der kommenden Jahre entscheidend
beeinflußt werden.

155
8. Die Gesundheitspolitik der Parteien 8.1. Gesundheitspolitik in der Bundesrepublik -
ärztliche Interessenvertretung

»Nicht die Parteien bedienten sich des Sachverstandes ihrer Ärzte, sondern die Ärzte
bedienten sich der Parteien, um ihre ärztliche Standespolitik durchzusetzen.« Diese
Feststellung Günther Wollnys, von ihm selbst als

»überspitzt und verallgemeinernd« bezeichnet, ist das Ergebnis einer Überlegung, aus
welchen Gründen »Gesundheitspolitik in der Bundesrepublik .. . bisher im wesentlichen
von den Ärzten formuliert worden (ist), obwohl sie selbst Interessenten sind«. Jede Partei
habe eben - so antwortet Wollny auf die selbstgestellte Frage - »einen Gesundheits-,
mindestens aber einen Sozialpolitischen Ausschuß. Und in jeder Partei ließen sich jeweils
Ärzte in solche Ausschüsse wählen. Sie verstanden ja etwas von der Sache - also gut. Aber
sobald es politisch um die Gesundheit ging, übernahmen diese Ärzte - quer durch die
Parteien - die Federführung ...

ein internationaler Vergleich zeigt nur zu deutlich, daß alle jene Gesetze, die Ärzte
angehen, in der Bundesrepublik wie in keinem anderen Land der Erde auch nach dem
Geschmack der Ärzte sind: teuer, honorarträchtig und für den Arzt praktisch ohne
Kontrolle.« (1)

Diese von Wollny zutreffend beschriebene dominierende gesellschaftliche Position konnten


die niedergelassenen Ärzte in allen Parteien der Bundesrepublik Jahrzehnte hindurch
halten. Entscheidende Voraussetzung dafür war die Kooperation der Ärzte im Bundestag
über alle parteipolitischen Schranken hinweg. Die großen Erfolge dieser Allparteien-
Koalition wurden durch den Deutschen Ärztetag öffentlich anerkannt. Er verlieh die 1952
gestiftete »höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft für verdiente Ärzte«, die
Paracelsus-Medaille, an Bundestagsabgeordnete verschiedener politischer Couleur. Geehrt
wurden »für erfolgreiche berufsständische Arbeit« u. a.: Dr. med. Viktoria Steinbiß {1961),
CDU-Mitglied des Bundestages von 1949 bis 1963, Inhaberin des Großen Verdienstkreuzes
der Bundesrepublik Deutschland; Dr. med. Elinor Hubert (1965), sozialdemokratische
Bundestagsabgeordnete von 1949 bis 1969, jahrelang Vorsitzende des
Gesundheitspolitischen Ausschusses im Bundestag und Vorsitzende des gleichen
Ausschusses beim SPD-Parteivorstand; Dr. med.

Gerhard Jungmann (1969), CDU-MdB von 1961 bis 1972, Präsidiumsmitglied des
Deutschen Ärztetages.

156

Auf dem gleichen konservativen gesundheitspolitischen Kurs wie die oben Genannten
agierte die FDP-Abgeordnete Dr. med. Hedda Heuser, MdB

von 1962 bis 1967 und 1968/69.

Der erfolgreichen interfraktionellen Zusammenarbeit der Standespolitiker im Bundestag


ist ebenso die Verabschiedung des Kassenarztrechts von 1955
zu verdanken wie Ende 1970 die Ausweitung des kassenärztlichen Monopols im 2.
Krankenversicherungsänderungsgesetz.

Auch als 1972 im Vorfeld der Bundestagswahlen vom 19. November programmatische
Erklärungen der drei etablierten Parteien veröffentlicht wurden, waren sie in der
sozialkonservativen Substanz weitgehend identisch. So hieß es im ersten, durch eine
Indiskretion bekanntgewordenen, aber erst später und in Leitsatz-Form veröffentlichten
CDU-Programm u. a.: »Die CDU kann der Aufgabe, klarzustellen, wie sie sich von der SPD
unterscheidet, auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik nur in Grenzen nachkommen.« (2)
Zuvor (Ende Juni) war der Entwurf der vom Gesundheitspolitischen Ausschuß beim
Parteivorstand der SPD erarbeiteten »Leitsätze« bekanntgegeben worden, der im April
1973 durch den Parteitag in Hannover abgelehnt werden sollte. Im September 1972

formulierte der Bundesfachausschuß für Sozialpolitik der FDP »Schwerpunkte der


Gesundheitspolitik«. Diese drei Programme kommentierte der (konservative) Kölner
»Dienst für Gesellschaftspolitik« am 12. 10. 1972

folgendermaßen: »Damit liegen ... drei Programme vor, von denen zwar noch keines von
den Parteitagen sanktioniert worden ist, von denen aber zumindest zwei als innerparteilich
unangefochten gelten dürfen. Das gilt für das SPD-Programm, das vor allem in Hinsicht
auf ärztliche Interessen recht zurückhaltend und verschwommen formuliert ist und das
schlechte Image der DGB-Forderungen abschwächen sollte (es handelt sich also zweifellos
um ein weitgehend taktisch bestimmtes Programm), und es gilt auch für das FDP-
Programm, das natürlich von vornherein ärztefreundlich bestimmt sein mußte. Umstritten
ist innerhalb der eigenen Partei eigentlich nur der CDU-Entwurf, eine erste Vorlage, schon
dank der mitwirkenden ärztlichen Autoren sehr im Sinne der Arzteschaft gehalten und
deshalb dem linken Parteiflügel suspekt; dieser Entwurf liegt vorerst auf Eis.«

Am 7. November 1972 veröffentlichte die CDU schließlich »Leitsätze der Christlich-


Demokratischen Union Deutschlands zur Gesundheitspolitik«, in denen sie sich zum
bestehenden System der Gesundheitssicherung bekannte und seine Sozialisierung ablehnte.
Vorschläge zu einer Strukturreform waren in den »Leitsätzen« ebenso wenig enthalten, wie
in den programmatischen Erklärungen von SPD und FDP.

157

Wenige Tage zuvor, am 3. November, hatte sich der stellvertretende CDU-Vorsitzende und
Sozialexperte seiner Partei, Hans Katzer, vor der Jahreshauptversammlung des Verbandes
der niedergelassenen Ärzte Deutschlands im Kölner Gürzenich gegen die Kritiker am
gegenwärtigen System der Gesundheitssicherung gewandt. Gegen deren Auffassungen
setzte er das konventionelle Konzept der Union: Erhaltung der ambulanten Behandlung
und Vorsorge in der Hand freiberuflich tätiger Ärzte, Erhaltung der freien Arztwahl und
Niederlassungsfreiheit.

Die gleiche Position zugunsten der Ärzte und gegen die Kritiker hatte für die
Regierungskoalition Bundesarbeitsminister Arendt bereits im Sommer 1972 bezogen. Am
30. Mai 1972 erklärte er vor der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung in W esterland/Sylt, er habe

»volles Verständnis dafür, daß einige Berichte der letzten Zeit Ihr Mißfallen erregt haben.
Ich bin aber auch der Meinung, daß Sie sich durch solche kritischen Äußerungen nicht ins
Bockshorn jagen lassen sollten«.

Arendt empfahl den niedergelassenen Ärzten, »einige kritische Äußerungen, auch wenn sie
fehl am Platze sind, nicht zu tragisch zu nehmen« (3).

Dann verlieh er Muschallik, dem 1. Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung,


das Große Bundesverdienstkreuz. Später wurde auch deren 2. Vorsitzenden, Schmitz-
Formes (SPD), die gleiche Auszeichnung verliehen. Hier sei darauf hingewiesen, daß die
beiden die Hauptverantwortlichen sind für jene Ausgabensteigerung von 24,8 Prozent (in
absoluten Zahlen: DM 1351 Mrd.), die 1971 von den Kassenärztlichen Vereinigungen
gegenüber den Kassen der GKV durchgesetzt worden waren. Es handelte sich dabei um
den größten jährlichen Honorarzuwachs in der Geschichte der sozialen
Krankenversicherung in Deutschland, nicht ohne sozialpolitische Paradoxie deshalb, weil
er unter einem sozialdemokratischen Arbeitsminister erfolgte.

Gleich Arendt umwarb auch Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel die


freipraktizierenden Ärzte. Kurz vor den Bundestagswahlen versandte sie einen offenen
Brief an alle Ärzte, in dem sie darlegte, daß die Freiheit der Berufswahl, die
Niederlassungsfreiheit, die freie Berufsausübung und die freie Arztwahl »unabdingbare
Bestandteile unserer freiheitlichen Demokratie« (4) seien.

Im Oktober 1972 äußerte sich auch der FDP-Bundestagsabgeordnete Kurt Spitzmüller zur
Gesundheitspolitik seiner Partei. Er übernahm die stereotypen standespolitischen Thesen
der Ärzteverbände, z.B. »Selbstverwaltung und Vertragsfreiheit der Krankenkassen und
Kassenärzte; Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung durch die zuständigen
Organisationen der Kassenärzteschaft« usw. Ferner proklamierte er jene Leerformeln, mit
denen in allen Parteien Reformabsichten vorgetäuscht, die 158

Reformen selbst jedoch ernsthaft nicht angestrebt werden. Beispiel: »In der kurativen
Medizin müssen Koordinierung und Kooperation von ambulanter und stationärer
Versorgung verbessert werden.« (5) Das Kernproblem lautet hier: Ambulatorien - ja oder
nein!

Am 26. Oktober 1972 veröffentlichte das Deutsche Arzteblatt die .Antworten einer
Umfrage zur Gesundheitspolitik der Parteien. Dabei identifizierten sich alle Parteien fast
ohne Einschränkungen mit den Interessen der freipraktizierenden Arzte. Die FDP,
vertreten durch den Geschäftsführer des Hartmannbundes, Deneke, antwortete mit einer
programmatischen Erklärung, die »für die Arzte keinerlei Sprengstoff enthält« (6).

Im gleichen Sinne äußerten sich für die CDU Hans Katzer und der Staatssekretär im
schleswig-holsteinischen Sozialministerium Dr. med. Fritz Beske. Die CSU lehnte
»pseudostaatliche Einrichtungen, vor allem Ambulatorien« (7) ausdrücklich ab und
erklärte dazu durch ihren Generalsekretär Tandler: »In der vorstationären ambulanten
Diagnostik und in der ambulanten Nachbehandlung durch das Krankenhaus erblickt die
CSU keinen Weg zur Verbesserung dieser Behandlungsmöglichkeiten.« (8) Nach einem »
Werben um Arzte« betitelten Bericht des »Dienstes für Gesellschaftspolitik« war die SPD
auf die Umfrage des Deutschen Arzteblattes »intensiv bemüht, vor der nahenden
Bundestagswahl den nachteiligen Eindruck zu verwischen, den die gesundheitspolitischen
Forderungen aus dem gewerkschaftlichen Lager und sog. progressiven Kreisen in der
Partei bei den Arzten hervorgerufen haben« (9).

Insgesamt exerzierten die Arzteverbände bei den Bundestagswahlen 1972

erneut jenes Spiel mit den Parteien, das sie jahrzehntelang vor allen Parlamentswahlen
erfolgreich betrieben hatten. Indem sich die niedergelassene Arzteschaft als
meinungsbildende Gruppe von angeblich großem Einfluß aufbauschte, zwang sie vor den
Wahlkämpfen die Parteiführungen zur Anerkennung ihrer gegen die Interessen der
Sozialversicherten gerichteten Standespolitik. Daß es sich bei dem Anspruch auf
wesentliche Beeinflussung der öffentlichen Meinung um eine Fiktion handelt, hat 1971 der
Landtagswahlkampf in Rheinland-Pfalz eindeutig bewiesen, bei dem die SPD mit einem
progressiven Gesundheitsprogramm in offener Konfrontation mit einigen Kassenärztlichen
Vereinigungen einen viel beachteten Erfolg errang. Während sich die offiziellen
Erklärungen der Parteien zur Gesundheitspolitik sich im Herbst 1972 noch an den von der
Bundesärztekammer bestimmten Tenor hielten, bahnte sich gleichzeitig jedoch auf dem
Außerordentlichen SPD-Parteitag am 12./13. Oktober in Dortmund eine auf entschiedene
Reformen im Gesundheitssektor zielende Entwicklung an, die sich an den Interessen der
Arbeitnehmer orientiert.

159

8 .2 Die Vernachlässigung der Sozialversicherten Mit der Kontrolle über die meist von
Sozialdemokraten geleiteten, sozialpolitisch militanten und von Göring als »marxistisch«
bezeichneten Krankenkassen durch das NS-Regime im Jahre 1933 haben die
Sozialversicherten ihren Einfluß auf die Entwicklung des Gesundheitswesens verloren und
bis heute nicht wiedergewonnen. Nach 1945 wurde der gesundheitspolitische Status der
Weimarer Republik nicht wieder hergestellt. Vielmehr haben in der Bundesrepublik - so
die WWI-Studie des DGB - »als das Feld nach dem letzten Krieg für eine Neugestaltung
frei war, die konservativen Kräfte in der Sozialpolitik überwogen. Von der Sozialpolitik
mit ihrem Anspruch auf bestimmende Einflußnahme im Gesundheitswesen sind auf diese
Weise in den fünfziger Jahren die Möglichkeiten für eine fortschrittliche Reform blockiert
worden. Das Gesundheitswesen hat sich aus der Enge eines Ansatzes, der nur auf den
kranken Menschen, nur auf das Verhältnis zwischen dem Individuum und seinem auf
Behandlung gerichteten, individualärztlich orientierten Arzt abgestellt war, nicht zu
befreien vermocht - so wenig wie aus den Fesseln einer gesetzlichen Krankenversicherung,
deren Leistungsstruktur wesentlich von den Notständen der ersten industriellen Revolution
bestimmt worden ist.

Den Bedingungen des Lebens in der technisierten Umwelt unserer Zeit mit ihrem von
chronischen Leiden und Zivilisationsschäden beherrschten Krankheitsspektrum wird eine
derart fixierte medizinische Versorgung nicht gerecht. Die Aufgaben der Vorsorge und
Krankheitsfrüherkennung, der Rationalisierung der Behandlung mit dem Ziel der
optimalen Wiederherstellung jedes Kranken und schließlich der bestmöglichen
Wiedereingliederung in beruflicher und jedenfalls in gesellschaftlicher Hinsicht fordern
strukturelle Knderungen in weiten Teilen der medizinischen Versorgung.«

Ober die ob des Ausbleibens der Reform entstandene Unzufriedenheit in der Bevölkerung
war sich das Establishment durchaus im klaren. So veranlaßte das damals von dem CDU-
Politiker Theodor Blank geleitete Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung eine
repräsentative Meinungsumfrage zur Reform der sozialen Krankenversicherung, die vom
Allensbacher Institut für Demoskopie im März und April 1958 durchgeführt wurde (11).
Das daraufhin erstellte »Gutachten über die Einstellung der Bevölkerung« wurde für
vertraulich erklärt - vermutlich, weil es ein breites Spektrum an Unzufriedenheit
offenbarte. Es ist - soweit dem Autor dieses Buches bekannt - nie veröffentlicht worden.

Ein Vergleich zwischen den Ergebnissen der Meinungsumfrage von 19 5 8

einerseits und der Modelluntersuchung in Baden-Württemberg (1969/70) 160

sowie den statistischen Angaben im Gesundheitsbericht der Bundesregierung (1971)


andererseits ergibt, daß die Misere des Gesundheitszustandes unter Arbeitnehmern schon
damals bestanden hat. Auf die Frage »Könnten Sie mir ... sagen, was Ihnen gefehlt hat,
weshalb Sie das letzte Mal beim Arzt waren?« ergaben sich 1958 folgende Zahlen:
Kreislaufstörungen

28 Prozent

»Wegen dem Herzen«

20 Prozent

Erkältungen, Grippe, Schnupfen

21 Prozent

Rheuma, Ischias, Gicht, Bandscheiben

16 Prozent

Nerven

13 Prozent

Galle, Leber

10 Prozent

Hatte mit dem Magen zu tun

10 Prozent (12)
Auf Grund dieser Ergebnisse hätte vom Gesundheitszustand der Bevölkerung her die
Einführung der präventiven Medizin schon damals zumindest vorbereitet werden müssen.
Statt sich aber um die gesundheitspolitischen Interessen der Sozialversicherten zu
kümmern, hatte der Bundestag es drei Jahre vorgezogen, zuvor das Kassenarztrecht zu
verabschieden.

Auf die Frage » Wie würden Sie im großen und ganzen Ihren Gesundheitszustand
beschreiben?«, antworteten: sehr gut

16 Prozent

ziemlich gut

32 Prozent

es geht

39 Prozent

ziemlich schlecht

11 Prozent

sehr schlecht

2 Prozent (13)

Ober die Leistungen der sozialen Krankenversicherung urteilten fast durchweg negativ

41 Prozent

teilweise negativ

29 Prozent

überwiegend positiv

30 Prozent (14)

Nur 54 Prozent der Befragten waren der Meinung, daß »man in der dritten Klasse heute
auch ganz gut« liege (15). Nur 57 Prozent der befragten Ortskrankenkassenmitglieder
würden sich bei einer freien Wahl der Krankenkasse wieder in der AOK versichern (16).
Die Frage, ob Privatpatienten beim Arzt bevorzugt behandelt werden, wurde zu 43 Prozent
bejaht (17). 61 Prozent waren der Auffassung, daß den Kassenpatienten moderne
Heilmittel nicht sofort zur Verfügung stünden (18). In der Auswertung der Umfrage heißt
es: »Die Masse der Pflichtversicherten wünscht sich demnach, daß die soziale
Krankenversicherung in den Stand gesetzt werde, ihre Leistungen zu verbessern.
Angesichts der Breite, in der 161
hier kritische Argumente gegen die soziale Krankenversicherung vorgebracht werden,
könnte der Gedanke naheliegend erscheinen, daß die kritische Einstellung der breiten
Öffentlichkeit der schlechten Presse zuzuschreiben sei ... Die illustrierte Presse hat die
vorhandenen Tendenzen in der Bevölkerung vielleicht noch verstärkt, aber nicht
hervorgerufen ...

»Krankheit« indessen ist eine publizistisch äußerst wirksame Materie und es erscheint
nicht ausgeschlossen, daß man mit Fortsetzungsberichten dieser Art ein latent vorhandenes
Unbehagen der Bevölkerung allmählich in akute Unzufriedenheit überführen kann.« (19)
Zur Frage, »ob die Bevölkerung in ihren Ansichten und Nei ngen bereits vollkommen
festgelegt gu

ist«, wird in der Auswertung festgestellt: »Die Masse der Bevölkerung, gewöhnt an die
bisherige Praxis der Krankenversicherung, hat großenteils noch keine dezidierten
Standpunkte gewonnen. Dazu muß bemerkt werden, daß die Bevölkerung nicht in allen
Fragen von öffentlichem Belang so unentschlossen wirkt. Vor der Rentenreform
beispielsweise wußte sie sehr genau, was sie wollte.« (20)

Seit dieser Meinungsumfrage sind 15 Jahre vergangen, in denen das gesundheitspolitische


Bewußtsein der Bevölkerung sich langsam, aber stetig entwickelt hat. Für die Reform des
Gesundheitswesens gilt heute, was damals für die Rentenreform galt: die Arbeitnehmer
identifizieren sich mit gewissen Reformvorschlägen, z. B. dem klassenlosen Krankenhaus
oder einer Kontrolle der pharmazeutischen Industrie, und die Parteiführungen sind schon
aus wahltaktischen Gründen gezwungen, darauf einzugehen. Hinzu kommt, daß in den
Parteien von der Basis her ein Druck auf das Establishment ausgeübt wird; er manifestiert
sich vor allem auf Parteitagen, auf denen zumindest von einem Teil der Delegierten die
gesellschaftlichen Grundströmungen der Bevölkerung reflektiert und vertreten werden.

8.3. Neue Tendenzen in der SPD

Dies vollzog sich auf dem SPD-Parteitag m Dortmund am 12./13.

Oktober 1972 in geradezu klassischer Weise. Er demonstrierte einerseits die entschiedene


Hinwendung der Sozialdemokratie zur Arbeitnehmerschaft. Andererseits lag ihm der
Entwurf einer Wahlplattform vor, deren die Gesundheitssicherung betreffender Inhalt
scharfe Kritik der Delegierten und ergänzende Anträge auslöste. So warf die Tübinger
Ärztin Dr.

med. Edith Schieferstein die Frage auf: »Wen unterstützen wir? Eine kleine Lobby oder
die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung?« (21) Und ihr Freiburger Kollege Dr. med.
Rüdiger Dierkesmann erklärte, man finde 162

im gesundheitspolitischen Abschnitt des Entwurfs »keine kritisch-analytischen Ansätze,


keine Perspektiven« (22). Der rheinland-pfälzische Delegierte Hans Schweitzer,
Sozialexperte in der Mainzer Landtagsfraktion, sprach von einem »mehr als mangelhaften
Abschnitt« (23) über das Gesundheitswesen. Der Delegierte Lothar Klemm (Hessen-Süd)
stellte fest, der Entwurf enthalte keine »programmatische Aussage darüber, was die SPD in
den nächsten vier Jahren im Bereich des Gesundheitswesens zu leisten gedenkt« (24). Der
Hanauer Landrat Martin Woythal erklärte:

» ... wenn wir uns darüber einig sind, daß das Geschäft mit der Krankheit aufhören muß,
dann müssen wir dazu auch eine Aussage in der Wahlplattform der SPD machen.« (25)
Dem Parteitag lagen ein Antrag der Landesorganisation Bremen sowie zwei
Initiativanträge des Bezirks Rheinland-Hessen-Nassau und des Landesverbandes Baden-
Württemberg vor, in denen sich die Auffassungen der Parteibasis spiegelten. Aufnahme in
die Wahlplattform fanden einige Grundsatzforderungen, die eine entschiedene Reform des
Gesundheitswesens anvisierten: »Jeder Bürger hat im Krankheitsfall Anspruch auf eine
zeitlich nicht begrenzte ambulante oder stationäre medizinische Behandlung bis zur
höchstmöglichen Wiederherstellung seiner Gesundheit« (26). (Aus dem Initiativantrag
RHN). Gestrichen wurden die Worte

»mit den modernsten wissenschaftlichen Methoden«. Die gleiche Forderung war noch auf
der gesundheitspolitischen Konferenz der SPD in Travemünde (April 1971) von einer
sozialkonservativen Mehrheit abgelehnt worden. Aufnahme in die Plattform fand ferner
der folgende Passus aus dem Bremer Antrag: »Nicht die wirtschaftliche und soziale
Stellung des Kranken, sondern allein die Art und Schwere der Krankheit dürfen dabei
maßgebend sein. Deshalb wollen wir die herkömmliche Klasseneinteilung mit erheblich
unterschiedlicher Berechnung erkaufter ärztlicher Sonderbehandlung und Sonderpflege
überwinden.« (27) Auf dem Dortmunder Parteitag zeigte sich, daß die fortschrittlichen, auf
eine Strukturreform des Gesundheitswesens drängenden Kräfte in der SPD
vergleichsweise zum Saarbrücker Parteitag erheblich an Boden gewonnen hatten, auch
wenn ihre konkreten Forderungen, z. B. nach dem klassenlosen Krankenhaus, nach
Krankenhausambulatorien oder nach dem stufenweisen Ausbau der begrenzten zu
allgemeinen Vorsorgeuntersuchungen nicht in die Wahlplattform aufgenommen worden
waren.

Sechs Monate nach dem Dortmunder Außerordentlichen Parteitag fand der Ordentliche
Parteitag von Hannover statt (10.-14. 4. 73). Das steigende Interesse der Parteibasis an
einer Intensivierung sozialdemokratischer Gesundheitspolitik drückte sich in 71
gesundheitspolitischen Anträgen aus, davon 30 zum Abschnitt »Gesundheitssicherung« im
»Entwurf 163

eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens für die Jahre 1973 bis 1985«. 39


Anträge bezogen sich auf aktuelle und grundsätzliche Probleme des Gesundheitswesens.
Hinzu kamen die Initiativanträge Nr. 24 und Nr. 25, die geschlossene gesundheitspolitische
Konzeptionen enthielten.

Die Delegierten mißbilligten die vom Gesundheitspolitischen Ausschuß beim


Parteivorstand erarbeiteten »Leitsätze« mit der Begründung, sie seien »hinsichtlich ihres
Ansatzes erheblich hinter den aktuellen Stand der innerparteilichen Diskussion«
zurückgefallen und nähmen »insbesondere allzu deutlich Rücksicht auf die einseitigen
Standesinteressen der organisierten li..rzteschaft« (28).

Damit wurde der neu zu bildenden Gesundheitspolitischen Kommission beim


Parteivorstand indirekt der Auftrag erteilt, den Entwurf eines neuen
gesundheitspolitischen Programms zu entwickeln. Diese inzwischen gebildete Kommission
setzt sich aus acht vom Parteivorstand benannten und 22

Vertretern der Bezirke zusammen. Sie tagte erstmals am 18. September und diskutierte
Perspektiven und Chancen einer entschiedenen Reform des Gesundheitswesens. Der
Parteitag beschloß ferner, die »Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer li..rzte und
Apotheker« für andere am Gesundheitswesen beteiligte Personengruppen zu öffnen. Damit
wurde die standespolitische Exklusivität einer Organisation aufgehoben, die in den
vergangenen Jahrzehnten als li..rztelobby in der SPD fungierte und deren
sozialkonservativen Kurs in der Gesundheitspolitik entscheidend mitbestimmt hat.

Alle anderen Anträge wurden der neu zu bildenden Gesundheitspolitischen Kommission


beim Parteivorstand überwiesen.

Als der wichtigste gesundheitspolitische Beschluß des Parteitages in Hannover ist zweifellos
die Bestätigung der dem Initiativantrag Nr. 25

entnommenen Forderung »nach Erstellung einer Programmkommission aus den


Vertretern der Bezirke und des Parteivorstandes« zu bewerten. Damit werden in die Arbeit
dieses obersten Gremiums jene zahlreichen gesundheitspolitischen Initiativen eingebracht,
die das neue Gesundheitsprogramm der SPD weitgehend bestimmen dürften.

164

9. Gedanken zu einer freiheitlichen Gesellschafts- und Gesundheitspolitik

9.1. Der Begriff der Freiheit

Es bleibt einer Schlußbetrachtung vorbehalten, den Maßstab der in diesem Buch geübten
Kritik am Gesundheitswesen der Bundesrepublik darzulegen

- nicht zuletzt deshalb, weil er zugleich der Wegweiser für die gesellschaftliche und damit
auch gesundheitspolitische Zukunft ist. Kritische Sonde aber und die Substanz für die
gesellschaftspolitischen Projektionen sind nichts anderes als die konkrete und konsequente
Anwendung der Grundwerte des Godesberger Programms der SPD auf dem Sektor der
Gesundheitspolitik; sie lauten: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität.

Nun ist allenthalben und hauptsächlich von konservativer Seite ein nahezu inflationärer
Gebrauch des Wortes Freiheit zu registrieren: im letzten Abschnitt des Dokumentes Nr. 2
findet es sich in einem einzigen Satz nicht weniger als fünf Mal in adjektivischer oder
substantivischer Gestalt. Es gilt eine »freiheitlich-demokratische Grundordnung« zu
wahren und Arzte kämpfen um »Freiheit für Arzt und Patient«. Der Begriff droht so
verschlissen zu werden, daß er nur noch emotionalisierende Wirkungen auszulösen
vermag, sein Inhalt aber kaum noch abgefragt wird.

Anknüpfend an die einführende Bemerkung, Freiheit für Patient und Arzt schlössen sich
gegenseitig aus, sei zunächst festgestellt, daß in dem so bestimmten Verhältnis von Arzt
und Patient - logisch zu Ende gedacht -
das erstrebenswerte Maximum an »Freiheit« für den Patienten ein Minimum an »Freiheit«
für den Arzt mit sich brächte. Keine Gesellschaftsreform nach humanen Gesichtspunkten
kann jedoch zum Ziel haben, eine Gruppe oder Schicht in »Unfreiheit« zu setzen. Wenn
also die Patient/

Arzt-Dialektik in unserer Gesellschaft unvermeidlich zu solchen absurden Schlüssen führt,


muß irgendwo ein Fehler verborgen sein, der unschwer dort auszumachen ist, wo er
reflektionslos tagtäglich gerade von Politikern und Arzten multipliziert wird: beim
verschwenderischen Umgang mit dem Begriff »Freiheit«. Der gängige bürgerliche
Freiheitsbegriff stammt aus der Aufklärung. Die von dorther im Liberalismus
proklamierte freie Bestätigung des Individuums erlebte im ökonomischen Raum im Zuge
der Industrialisierung ihren antithetischen Umschlag: statt Freiheit, in deren Auftrag die
meist liberalen Unternehmer sich wähnten, stifteten sie für die 165

zahllosen Fabrikarbeiter lastende Unfreiheit. Im Widerstreit zwischen liberaler Theorie


und profitabler Praxis für die sich bildende neue bürgerliche Oberschicht wurde der
Begriff seiner humanistischen Substanz entleert oder ideologisiert. Die bürgerliche
Demokratie hat an der inhaltlichen Deformation des Freiheitsbegriffes ebenso wenig
ändern wollen wie an seinem manipulativen Gebrauch; hinzu kommt die Fähigkeit der
bürgerlichen Oberschicht, jene Methoden zu entwickeln, die bewerkstelligen, daß die
Ideologie der Herrschenden zugleich herrschende Ideologie ist, womit der ideologisierte
Inhalt des Begriffes für das Volk unaufspürbar bleibt.

Der bürgerliche Begriff von Freiheit ist heute entweder völlig abstrakt, er wird als
wohlklingende Leerformel verwendet, oder aber er meint in einer konkreten Fassung
Privilegien, die eine kleine gesellschaftliche Gruppe auf Kosten der Bevölkerung genießen
will.

Genau von dieser Art ist die vielgepriesene »Freiheit« des Arztes: da er sich niederlassen
kann, wo er will, drängen die Ärzte in die lukrativen Regionen der Bundesrepublik,
während die ärztliche Versorgung in ländlichen Gebieten oder in Städten mit armer
Bevölkerung mangelhaft ist.

Immer gilt die eigene Besserstellung, die ideologisch als Freiheit mißverstanden wird. In
diesem Zusammenhang ist die »Aktion Freiheit für Arzt und Patient« entlarvend, und
zwar durch die Reihenfolge der Freiheitsbetonung. Obwohl im Mittelpunkt des
Gesundheitswesens eindeutig der kranke Mensch zu stehen hat (wie es Prof. Albert
Begemann, Präsident des Wiesbadener lnternistenkongresses mit seiner Forderung, der
Patient solle

»Hauptakteur sein und der Arzt nur sein wichtigster Partner (1), zum Ausdruck gebracht
hat) denkt die standespolitische Aktion zunächst an die

»Freiheit« des Arztes, an seine Privilegiensicherung. Der Patient verdankt seine


Berücksichtigung lediglich der Tatsache, daß er zur Basisverbreiterung dieser Aktion
herhalten sollte: als manipulierter Abhängiger wurde er gegen seine erst langsam
begriffenen Interessen zur Interessenverteidigung der Ärzte eingesetzt.
Wie auch die Floskel »Freiheit für den Patienten« zeigt, versuchen es die Herrschenden
dieser Gesellschaft, den von ihnen Abhängigen die Überzeugung zu suggerieren, auch sie
besäßen »Freiheit«. In dieser Gesellschaft werden der »Freiheit« Spielwiesen eingerichtet,
auf denen das Bedürfnis nach Freiheit in Fiktionen befriedigt werden kann, wo die
konkrete Freiheit ein Zerrbild von sich selbst zeigt, das von der unaufgeklärten Masse für
das Original gehalten wird, und das zudem noch systemerhaltende und sogar -stützende
Wirkung hat. Ein solches Zerrbild von Freiheit ist die

»Freiheit« zum Konsum im Rahmen der für die meisten Bürger beschränkten
Möglichkeiten, die »Freiheit« als Arbeitnehmer, in einem geschlossenen System sich den
Ausbeuter selbst aussuchen zu können, oder aber auch die 166

»Freiheit« des Patienten, zweitklassige Diagnostik und Therapie beim Kassenarzt X oder Y
zu empfangen. Wer dagegen reale Freiheit anstrebt, stößt sehr schnell an die Grenzen, die
das System setzt.

Reale Freiheit - das kann nur ein historisch und gesellschaftlich vermittelter Begriff sein.
Das Wort von Rosa Luxemburg, Freiheit sei die der Andersdenkenden, ist abzuwandeln in:
Freiheit ist die des anderen.

Dieses Verhältnis aber kann dort, wo Privilegien die Freiheiten der anderen einschränken,
nicht gelten. Reale Freiheit ist nur dort verwirklicht, wo alle frei sind. Diese Aussage hat
nur solange utopischen Charakter, wie unberücksichtigt bleibt, daß der Mensch zur
Freiheit geboren ist, sie deshalb in seiner Gesellschaft zu organisieren vermag, und
überdies der von ihm bewußt oder unbewußt vorangetriebene Geschichtsprozeß mit ihm
verbündet ist.

Die Grundlage der gesellschaftlichen Unfreiheit ist die Zerklüftung der Gesellschaft in zwei
antagonistische Klassen: in die Besitzer der Produktionsmittel und die Nichtbesitzenden.
Sie ist weder Naturnotwendigkeit, wie Konservative gern behaupten, noch ist sie heute aus
arbeitsorganisatorischen Gründen nötig, wie manche Liberale und moderne Technokraten
anführen. Sie ist das Ergebnis eines historischen Prozesses, der Ungerechtigkeit und
Ausbeutung zur Norm hatte und noch hat, weshalb beide auch heute noch für das nicht
antizipierende Bewußtsein normativ sind. Und der Riß durch die Gesellschaft ist ein
gesellschaftlicher Widerspruch, der mit reformerischen Teillösungen nicht aufzuheben ist,
sondern nur mit zielbewußten Aktionen, die über die Strukturen dieser
Gesellschaftsorganisation hinausführen. Das hat nichts mit »Neidkomplexen« zu tun, wie
die Standespolitiker behaupten, aber alles mit der Würde des Menschen, denn es ist
unwürdig, mit der eigenen Existenz nicht von selbstbestimmten Bedingungen, sondern von
fremdbestimmten abhängig zu sein

- unwürdig für den, dem sie aufgezwungen werden und unwürdig für den, der sie
oktroyiert: er beleidigt sich selbst in der Erniedrigung des anderen.

Spätestens hier sollte deutlich sein, daß demokratischer Sozialismus nichts mit einem
Herrschaftstausch zu tun hat: etwa mit der Diktatur einer Partei oder des Staates. Wir
halten es mit Ota Sik, der gesagt hat: »Der Kommunismus hat nichts gemein mit der
humanen Idee des Sozialismus. Im Gegenteil. Er hat diese menschliche
Gesellschaftsvorstellung unglaublich profaniert. Er ist einer sozialistischen Gesellschaft
nicht näher als der gegenwärtige Kapitalismus.« (2) Der demokratische Sozialismus will -

und das ist sein unumstößliches Ziel - die effektive Selbstbestimmung aller in der
Gesellschaft, und er nennt das den verwirklichten Humanismus.

Konkrete Freiheit ist demnach nur dann gegeben, wenn alle in einer gesellschaftlichen
Ordnung unter selbstbestimmten Bedingungen leben und alle 167

für die Menschen dieser Gesellschaft deren wirkliche Bedürfnisse auf effektivste Weise
erfüllen.

Wirkliche Bedürfnisse sind dabei jene, die nicht manipulativ mit raffinierten
psychologischen Methoden - im übrigen ein Beispiel für den Mißbrauch von Wissenschaft
in einem unfreien System - einem unkritischen Bewußtsein suggeriert werden. Ein solches
wirkliches Bedürfnis ist die Gesundheit des Menschen, womit sich die Frage nach einem
Gesundheitswesen in Freiheit stellt. Daß darin der kranke Mensch im Vordergrund steht,
wurde bereits gesagt.

Die Freiheit des Patienten in einem demokratisch-sozialistischen Gesundheitssystem hat u.


E. zwei Aspekte. Krankheit ist für sich selbst ein Zustand der Unfreiheit, auf deren
Beseitigung der Mensch in einer humanistischen Gesellschaft Anspruch hat. Freiheit
bedeutet also hier die möglichst schnelle und gründliche Befreiung von der Krankheit;
ausgeweitet vom Individuum auf die gesamte Gesellschaft verlangt sie ihre optimale
Versorgung mit Gesundheit. Da gibt es keine »Wahl« als »Freiheit«, etwa zwischen
Krankenhausklassen oder verschiedenen Leistungen der Krzte.

Gesundheit darf nicht wie eine Ware gehandelt werden und gehört entsprechend nicht in
ein Spiel von Angebot und Nachfrage: niemand kann auf eine Krankheit wie auf einen
Konsumartikel im Entscheidungsfalle auch verzichten. Die Erhaltung der Gesundheit ist so
eine primäre materielle Sicherung, daß selbst der bürgerliche Freiheitsbegriff mit seinen
freiheitsausschließenden Involvierungen sie aus humanistischem Denken nicht tangieren
sollte (daß hier ein Konjunktiv gesetzt werden muß, beweist die objektive
Unmenschlichkeit des Systems). Gesundheit ist Elementargut, und es darf keine »Freiheit«
zur Krankheit, nicht einmal nur Minderversorgung mit Gesundheit zugelassen sein. Gibt
es in einer Gesellschaft die zweifelhafte »Freiheit« zur »besseren« Gesundheit, ist das ein
deutliches Symptom für ihre Minderwertigkeit, denn in einem Bereich mit »Freiheit« zu
spielen, wo die Alternative zur Gesundheit Siechtum und Tod heißt, ist Zynismus.

Das stark differenzierte Gesundheitssystem der BRD zementiert geradezu Unfreiheit; der
niedergelassene Arzt als Hauptversorger des Kassenpatienten ist alles andere als Garant
für die Befreiung von der Krankheit.

Eine demokratische, sozialistische und freie Gesellschaft - die Adjektive sind Synonyme -
verlangt nach der optimalen Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheit, und die ist nur
in moderner Gruppenarbeit verschiedener Fachärzte in Verbindung mit moderner
medizinischer Technologie zu erschwinglichen Kosten erreichbar. Ganz in diesem Sinne
fordert das Godesberger Programm: »Das gleiche Lebensrecht aller Menschen ist auch
dadurch zu verwirklichen, daß bei Krankheit jeder unabhängig von seiner 168

wirtschaftlichen Lage einen unbedingten Anspruch auf alle dem Stande der ärztlichen
Wissenschaft entsprechenden Heilmaßnahmen hat.« (3) Der andere Aspekt der Freiheit
des Patienten ist sozusagen sein

»privater«. \Vie er heute die »Wahl« zwischen den mehr oder weniger unzulänglichen
Arztpraxen zu seiner Versorgung hat, so soll er in Zukunft die Freiheit der Wahl zwischen
Gruppenpraxen und Ambulatorien haben.

Erst wenn die materielle Sicherung des Menschen, zu der ganz vordringlich seine
Gesundheit gehört, voll gegeben ist, wird jene Freiheit oberhalb der Versorgung des
materiellen Bedarfs möglich: die materielle Basis ist das Fundament für die geistige, die
ideelle Freiheit. Dann wird auch das Recht auf den Tod, den die amerikanischen »Bill of
Rights« für den Patienten im vierten ihrer zwölf Punkte fordert, zur wirklichen Freiheit,
und es ist nicht mit »Freiheit« kaschierte Notwendigkeit durch ärztliche Unterversorgung.

Wie nun ist in einer freien Gesellschaft die rechtverstandene Freiheit des Arztes
beschaffen? Das Negativbeispiel unseres Gesundheitswesens zeigte, daß das »Geschäft mit
der Krankheit« mißverstandene Freiheit ist, weil die Ausnutzung der Gesellschaft zum
eigenen Vorteil die Verwechslung von Freiheit und Privileg zur Grundlage hat.

Die spezifische Freiheit des Arztes in der Gesellschaft liegt in der Möglichkeit einer
befriedigenden Ausübung seines Berufes; diese wiederum kann nur in der optimalen
Ausfüllung dieser wichtigen Funktion, der Heilung kranker Menschen liegen. Der Arzt als
Arzt findet nur dann zur Selbstverwirklichung, wenn ihm die zeitgemäßen Möglichkeiten,
seine Kunst auszuüben, von der Gesellschaft geboten werden, wie sie ihm jetzt nur
mangelhafte Ausbildung und unbefriedigende Berufspraxis ermöglicht.

Das Godesberger Programm fordert deshalb in diesem Punkte, für den Arzt »alle
Möglichkeiten zu gesundheitserhaltenden Maßnahmen und zur Vorbeugung gegen
Krankheiten zu eröffnen.« (4)

9.2. Gerechtigkeit und Solidarität in der neuen Gesellschaft

Daß der demokratische Sozialismus im Godesberger Programm feststellen kann: »Freiheit


und Gerechtigkeit bedingen einander«, dürfte nach der Freiheitsdiskussion deutlich sein:
nur eine Gesellschaft, die die Freiheit als Möglichkeit zur Persönlichkeitsentfaltung in der
Gesellschaft als Selbstbestimmung und als Chance optimaler Bedürfnisbefriedigung aller
Menschen verwirklicht, kann auch Gerechtigkeit verwirklichen. Die Solidarität schließlich
ist das subjektive Lebensgefühl in einer objektiv freien und 169

gerechten Gesellschaft. Ihm liegt die Erkenntnis zugrunde, daß Freiheit nur innerhalb der
Gesellschaft erreichbar ist und nicht in der Distanz von ihr. Bewußtseinsgetrübte
Menschen, die letztere suchen, kommen merkwürdigerweise nie auf den Gedanken, daß
ihre Abneigung gegen die Gesellschaft nur ein Reflex der Dialektik ihrer eigenen
vielfältigen Beziehungen zur Gesellschaft sind. Solidarität mit dem Kranken sollte auch das
Verhältnis des Arztes zum Patienten bestimmen, und nicht etwa die praktizierte Distanz
von den naturwissenschaftlich urteilenden Wissenden zum

»Fall«, zum durch Krankheit objektivierten Individuum.

9.3. Sozialistische Zukunft und freie Gesellschaft Wenn beiläufig gesagt wurde, der
Geschichtsprozeß sei ein V erblindeter der Gesellschaftsveränderung, so heißt das nicht,
blind und passiv einer wie auch immer gearteten Instanz »Geschichte« die Gestaltung der
Zukunft zu überlassen. Geschichte ist nichts als die Summe des menschlichen Schaffens,
ihr Gesicht ist also seine Schöpfung. Dennoch kommt ihr die Funktion eines Motors des
gesellschaftlichen Fortschritts zu, weil der die Natur immer stärker zu beherrschen
lernende Mensch neue Produktionsmöglichkeiten entwickelt, die in Widerspruch zum sich
darüber aufgebauten Gesellschaftssystem geraten, wie die Anfänge des Kapitalismus die
gesellschaftlichen Strukturen der Feudalgesellschaft aus dem 18. Jahrhundert beseitigt
haben.

Es ist unsere Überzeugung, daß der demokratische Sozialismus, d. h. die freie Gesellschaft,
die Zukunft ist - in den kapitalistischen wie in den kommunistischen Staaten; zur Frage
steht lediglich der Zeitraum, der zur Überwindung der gegebenen Situationen benötigt
wird. Bei uns sind die technologischen Voraussetzungen für Produktionsformen erreicht,
die den Oberbau einer freien, sozialistischen Gesellschaft verlangen, das gilt fiir die
Industrieproduktion wie für die Medizintechnologie. Hier brauchen die Spezialisierungen
des Wissens und die Entwicklung komplizierter Apparaturen die Großpraxis, die
Poliklinik oder das Ambulatorium -

andere Formen ärztlicher Arbeit gehen an der Zeit vorbei.

Wird dieser Prozeß als historischer Auftrag begriffen und gelingt es den Verantwortlichen
dieser bestehenden Gesellschaft, in seinem Sinne zu handeln, so wird die unaufhaltsame
Entwicklung ohne größere Komplikationen und gesellschaftliche Eruptionen in der freien
Gesellschaft münden.

Das verlangt einen klaren Blick gerade der Ärzte, für die Notwendigkeit 170

traditionelle, aber veraltete standespolitische Kriterien über Bord zu werfen, und die neuen
Formen ärztlicher Versorgung selbst mit zu gestalten.

Die junge Generation der Ärzte scheint dazu entschlossen.

Kleben die Standesorganisationen indessen an den überlebten Organisationsformen und


üben sie aus finanziellen Interessen Widerstand gegen den geschichtlichen Prozeß, so muß
es unvermeidlich zu politischen Konflikten kommen. Damit kann die Entwicklung zur
freien Ordnung nur verzögert, nicht aber aufgehalten werden.

Leider scheint den Standespolitikern diese Einsicht in die Notwendigkeit schwer zu fallen,
wie ihre Reaktion gegen die Reform des Gesundheitswesens beweist. Somit ist politischer
Kampf für die Zukunft mit seiner immanenten Verzögerung der Reformen einzuplanen.
Paul Lüth dürfte Recht behalten: »Genau das Gegenteil dessen, was die Standespolitiker
seit nun bald hundert Jahren unverdrossen predigen, scheint damit wahr zu werden: Die
Sozialisierung der Gesundheitspolitik kommt nicht von links, sondern wird durch die
immanenten Zwänge des Systems herbeigeführt.« ( 5) Ziel aller Reformen ist die
Verwirklichung des Grundrechtes auf Gesundheit, die in den Grundzügen der 1948
gegründeten Weltgesundheitsorganisation folgendermaßen definiert wird: »Gesundheit ist
ein Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des
Freiseins von Krankheiten. Der Genuß des höchsten erreichbaren Gesundheitszustandes ist
eines der Grundrechte jeden menschlichen Wesens ohne Unterschied der Rasse, der
Religion, der politischen Anschauung, der wirtschaftlichen oder der gesellschaftlichen
Stellung.«

Wenn die Arbeitnehmer in aller Welt dieses Grundrecht auf Gesundheit verwirklicht sehen
wollen, müssen sie in erster Linie selbst dafür kämpfen.

Die Aufforderung fehlt in den Grundsätzen der Weltgesundheitsorganisation. Es sei


erlaubt, sie hier hinzuzufügen.

171

Anmerkungen

Anmerkungen zur Einleitung

1 Anträge an den SPD-Parteitag, Vorlage 3, Antrag G 4 S. 95

2 Elektronische Datenverarbeitung in der Medizin, Denkschrift der Deutschen


Forschungsgemeinschaft, Bonn-Bad Godesberg 1971, S. 15

3 Thesen für ein gesundheitspolitisches Programm, verabschiedet vom Verband der Ärzte
Deutschlands (Hartmannbund) am 1. Mai 1972, Schriftenreihe des Hartmannbundes, V er
lag Kirchheim & Co GmbH, Mainz, S. 10

4 Zitiert aus Thesen des Hartmannbundes, S. 14

5 Gesundheitspolitisches Programm des Deutschen Gewerkschaftsbundes, beschlossen am


5. 5. 1972, DGB-Zentrale, Düsseldorf, Hans-Böckler-Haus, s. 5, 11

6 DGB-Programm S. 8

Anmerkungen zu Kapitel 1

1 So die Reichsversicherungsordnung in § 368

2 Gerhard A. Friedl, Die Selbstverwaltung demonstriert ihre Ohnmacht m:

»Die Zeit« vom 8.12.1972


3 Zitiert nach Gerhard A. Friedl, ebd.

4 ebd.

5 Günther Wollny, Eine Schule für Kompromisse, Bayerischer Rundfunk, 1. Programm


vom 18.5.1973

6 Detaillierte Angaben dazu s. Tabellarischer Teil, Tabellen 1 und 2

7 Eine übersieht über die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung s.


Tabellarischer Teil, Tabelle 3

8 Hier sind im Gegenteil noch viele Notwendigkeiten offen. Erst im Frühsommer 1973 gab
die DAG ein Memorandum zur Gesetzlichen Krankenversicherung heraus, in dem u. a.
folgende weitere Leistungen für die Versicherten gefordert wurden:

'' Ausbau der Vorsorgeuntersuchungen

'' Volle Einbeziehung der prothetischen Versorgung durch den Zahnarzt in das
Sachleistungssystem, ebenso der Leistungen der Kriegsorthopäden

* Beratung über Schwangerschaftsverhütung

* Übernahme der Kosten beim Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen oder


bei aufgezwungener Schwangerschaft (Vergewaltigung) In den Regierungsfraktionen sind
als neue Leistungen im Gespräch: 173

•� Einführung eines Rechtsanspruches auf zeitlich unbegrenzte Gewährung von


Krankenhauspflege statt der 78 Wochen Limitierung bisher.

,.. Zahlung von Krankengeld bei einem Verdienstausfall, wenn ein erkranktes Kind bis zu 8
Jahren zu Hause betreut werden muß.

* Eine Haushaltshilfe, wenn wegen eines Krankenhaus- oder Kuraufenthaltes dem


Versicherten oder dem Ehegatten die Haushaltsführung nicht möglich ist und ein Kind
unter 8 Jahren oder ein auf Hilfe angewiesenes Kind zum Haushalt gehört.

Darüber hinaus gibt es Überlegungen, daß die gesetzlichen Krankenkassen in jedem Falle
die Kosten des legalisierten Schwangerschaftsabbruches übernehmen sollen.

9 Prof. Dr. Bruno Molitor, Sozialpolitische Experimente: Krankenschein-Prämie und


prozentuale Rezeptgebühr in »Soziale Sicherheit« vom Januar 1973

10 Eine übersieht über das Verhältnis von Mitgliedern und Rentnern in der AOK nach
Ländern geordnet, s. Tabellarischer Teil, Tabelle 4

11 Zit. nach »Die Krankenversicherung«, herausgegeben vom Bundesverband der


Innungskrankenkassen, März 1973
12 ebd.

13 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Wochenbericht 18/73 vom 3. Mai 1973

14 Eine übersieht über den Krankenstand der Pflichtmitglieder nach Kassenarten von
1969 bis 1972 s. Tabellarischer Teil, Tabelle 5

15 Detaillierte Angaben dazu s. Tabellarischer Teil, Tabelle 6

16 DIW-Wochenbericht 18/73 vom 3. Mai 1973

17 ebd.

17a Eine Fortschreibung des Ausgabenanstiegs der GKV bis 1985 am Beispiel der
Leistungsausgaben je Mitglied s. Tabellarischer Teil, Tabelle 11

Anmerkungen zu Kapitel 2

1 Pressedienst der Ortskrankenkassen, Ausgabe 12/1972

2 Zit. nach »Süddeutsche Zeitung« vom 1.2.1973

3 DIW-Wochenbericht 18/73 vom 3.5.1973

4 Eine übersieht über die Versichertenstruktur bei der GKV s. Tabellarischer Teil, Tabelle
7

5 DIW-Wochenbericht 18/73

6 Pressedienst der Ortskrankenkassen 12/1972

7 »Frankfurter Rundschau« vom 14.5.1973

8 Eine Darstellung der Verwaltungskosten der Ortskrankenkassen von 1951

bis 1971 nach Ländern geordnet im Tabellarischen Teil, Tabelle 7

9 Zit. nach »Neue Ruhr Zeitung« vom 26.1.1973

10 Dr. Christoph Uleer, Es gibt keine Zwei-Klassen-Medizin in »Arbeit und Sozialpolitik«


Heft 1, Januar 1973

11 Volksversicherung - eine sozialpolitische Torheit in »Der niedergelassene Arzt« vom


Februar 1973

12 Zit. nach »Hannoversche Allgemeine Zeitung« vom 30.5.1973

13 Umfrage der Wickert-Institute vom Sommer 1973 im Auftrag des Hartmannbundes 174
Anmerkungen zu Kapitel 3

1 DIW-Wochenbericht 18/73 vom 3. Mai 1973

2 vgl. Tabellarischer Teil, Tabelle 6

3 Deutsches Krzteblatt vom 5. 4. 1973

4 ebd.

5 So Pohl in einem Leserbrief an den »Kölner Stadt-Anzeiger« vom 15.2.1973

6 Peter-Paul Henkel im 2. Programm des Südwestfunks am 25. 1. 1973

7 »Selecta« vom 26.2.1973

8 So der Frankfurter Medizinsoziologe Horst Baier in Wiesbaden vor dem Jahreskongreß


1973 der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 9 »HB-Information« des Verbandes
der Krzte Deutschlands (Hartmannbund) Bonn-Bad Godesberg, Anlage zur Presseschau
Nr. 123/73 vom 9. Juli 1973

s. 1

10 Fragebogenerhebung des Marburger Bundes, Landesverband Berlin, Okto-her 1972, S.


22

11 Marburger-Bund-Erhebung, S. 21

12 Zit. nach »Krztliche Praxis« vom 6.1.1973

13 ebd.

14 »Berliner Gesundheitsinformationen« vom September 1972

15 Günther Wollny, Im Arzthonorar steckt eine Monopolrente, Bayerischer Rundfunk 1.


Programm v. 1.3.1973

16 ebd. Gerhard A. Friedl nennt einen Preis von 130,- für 18 Untersuchungen 17 Zit. nach
»Der Spiegel« vom 19.2.1973

18 Zit. nach »Berliner Krzteblatt« vom 16.2.1973

19 ebd.

20 ebd.

21 Zit. nach »Rheinische Post« vom 21.2.1973

22 ebd.
23 »Berliner Krzteblatt« vom 16.2.1973

24 Zit. nach »Der Spiegel« vom 19.2.1973

25 Günther Wollny im 1. Programm des Bayerischen Rundfunks vom 1. 3. 73

26 ebd.

27 ebd.

28 So Gerhard A. Friedl, Medizinisch-technische Leistungen der Krzte im Kreuzfeuer, in


»Bayerische Staatszeitung und Bayerischer Staatsanzeiger« vom 2. 3.

1973

29 ebd.

30 Zit. nach »Der Spiegel« vom 19.2.1973

31 »Frankfurter Rundschau« vom 16.2.1973

32 Zit. nach »Die Welt« vom 15.2.1973

33 Leserbrief von Dr. Otto Fenner und Dr. Hermann Lommel an »Die Welt«, veröffentlicht
am 24. 2. 1973

34 »Deutsche Zeitung-Christ und Welt« vom 23.2.1973

35 Die Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben vom


Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes,
Bund-Verlag, Köln 1971, S. 65

36 Die Gesundheitssicherung ... (WSI-Studie) S. 66

37 WSI-Studie, S. 68

38 WSI-Studie, S. 68/69

175

Anmerkungen zu Kapitel 4

1 »Bonner Rundschau« vom 2.8.1973

2 » Welt der Arbeit« vom 1. Mai 1973

3 Eine übersieht über den Pro-Kopf-Verbrauch von Medikamenten in europäischen und


außereuropäischen Ländern s. Tabellarischer Teil, Tabelle 9
4 Günther Windschild, Von Pillen und Milliarden - Der Arzneimittelmarkt in der
Bundesrepublik, Deutsche Welle am 2.2.1973

5 Zit. nach » Welt der Arbeit« vom 5. 6. 1973

6 So das »Bauer-Papier«

7 »Mannheimer Morgen« vom 5./6. 5. 1973

8 »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 16.4.1973

9 »Der Spiegel« vom 30.4.1973

10 Preisangaben in »Der Spiegel« vom 30.4.1973

11 »Die Welt« vom 23. Juli 1973

12 Aufstellung aus »Arbeit und Sozialpolitik« vom Februar 1973

13 Eine übersieht über die Preisvergleiche s. Tabellarischer Teil, Tabelle 10

14 »Die Pharmazeutische Industrie« vom April 1973

15 »Mannheimer Morgen« vom 5./6. 1973

16 »Rheinische Post« vom 7.12.1972

17 So die »Bonner Rundschau« am 2.8.1972

18 Kurt Joachim Fischer, Contergan ist schon vergessen, in »Rheinischer Merkur« vom 26.
1. 1973

19 »Offertenblatt«, Zentralmarkt am 26.5.1973

20 »Die Ersatzkasse« vom Oktober 1972

21 Zit. nach »Handelsblatt« vom 20. 12. 1972

22 Ob er allerdings den Anteil von 40 Prozent der Gesamtkosten erreicht, den die
ansonsten nicht gerade industriefeindliche »Bonner Rundschau« vom 2. 8.

1973 nennt, ist sehr zweifelhaft

23 »Sozialdemokratischer Pressedienst« vom 30.10.1972

24 So das »Liefmann-Keil-Gutachten«, Zit. nach » Welt der Arbeit« vom 1. 5.

1973
25 »Rheinische Post« vom 12.10.1972

26 Nach dem Bericht von Karl-Heinz Welkens in »Rheinische Post« vom 12.
10. 1972
27 »Rheinische Post« vom 3.3.1973

28 Ein detaillierter Bericht über die Tagung von Alfred Pullmann in »Rheinische Post«
vom 3.3.1973

29 ebd.

30 Zit. nach Dr. K. J. Fischer, Katastrophe mit Mißbildungen kann sich wieder-holen; in
»Bonner Rundschau« vom 13.4.1973

31 Thomas von Randow, Arme Schlucker, »Zeit-Magazin« vom 16.2.1973

32 ebd.

33 Ministerin Dr. Focke in einem Gespräch mit der NRZ, dort veröffentlicht am 13.3.1973

34 Th. von Randow, Arme Schlucker, »Zeit-Magazin« vom 16.2.1973

35 ebd.

36 ebd.

37 »Der Spiegel« vom 28.5.1973

38 ebd.

176

39 Jürgen Peter Stössel, »Psychopharmaka - Die verordnete Anpassung -

München 1973, Zit. nach »Der Spiegel« vom 28.5.1973

40 ebd.

41 »Die Zeit« vom 9.3.1973

42 ebd.

43 Christian Schütze, Arznei - Wirksam, aber unschädlich m »Süddeutsche Zeitung« vom


1. 3. 1973

44 Neue Ruhr/Rhein-Zeitung vom 13.3.1973

45 So die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 30.4.1973


46 FAZ vom 30.4.1973

47 ebd.

48 »Die Arznei-Polizei« Zu einem dubiosen Buch über die amerikanische Arzneimittel-


Behörde. Rezension von A. Student in FAZ v. 4. 7. 1973

49 » Westdeutsche Allgemeine Zeitung« vom 14. 6. 1973

50 »Gesundheitspolitische Umschau« vom März 1973

51 Aus der Umfrage des Hartmannbundes

52 Aus dem »Bauer-Papier«

Anmerkungen zu Kapitel 5

1 Martin Woythal, Das klassenlose Krankenhaus - Eine Zwischenbilanz, Hanau 1971, S. 15


ff.

2 Woythal, a.a.O., S. 16

3 Gesundheitsbericht der Bundesregierung, S. 13

4 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik, S. 67

5 ebd.

6 Gesundheitsbericht, S. 68

7 ebd.

8 Deutsches lirzteblatt Nr. 24/72, S. 1690

9 Ärzteblatt 24/72, S. 1692

10 Gesundheitsbericht der Bundesregierung, S. 133

11 Bayerische Staatszeitung und Bayerischer Staatsanzeiger, vom 9.3.1973

12 K. Fritz, Krankenhausprobleme und Krankenhausreform, in »Der Krankenhausarzt«


12/72

13 ebd.

14 Eigene Ermittlungen des Autors

15 Hannoversche Allgemeine vom 27.4.1973


16 ebd.

17 ebd.

18 Sozialbericht 1970 der Bundesregierung, S. 83

19 Die Ortskrankenkassen 1971; herausgegeben vom Bundesverband aer


Ortskrankenkassen Bonn-Bad Godesberg, S. 84

20 Ortskrankenkasse 1971, S. 85

21 Handelsblatt vom 1.3.1973

22 H. Clade, Das kranke Krankenhaus, Deutsche Industrie Verlags GmbH, Köln 1973, S.
89

23 Clade, S. 87

24 Clade, S. 88

177

25 Frankfurter Rundsd1au vom 30.3.1973

26 Stuttgarter Zeitung vom 23.6.1973

Anmerkungen zu Kapitel 6

Bundesdrucksame 7/454; Berimt der Bundesregierung über die Erfahrungen mit der
Einführung von Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten als Pflimt!eistungen
der Krankenkassen sowie den zusätzlich von den Krankenkassengewährten Maßnahmen
der Vorsorgehilfe, Heger Verlag, Bonn-Bad Godesberg, 1973

2 7/454, s. 5

3 7/454, s. 61

4 7/454, s. 63

5 7/454, s. 64

6 7/454,S.25

7 7/454, s. 67

8 Informationssmrift der Deutsmen Medizinismen Zentren, Frankfurt/Main 9


Bundestagsdrucks. 7/454, S. 6
10 ebd.

11 ebd.

12 7/454, s. 7

13 ebd.

14 7/454, s. 6

15 7/454, s. 7

16 Versimertenbefragung zur Inansprumnahme der Früherkennungs-Untersuchungen auf


Krebs für Frauen und Männer (Unterrimtsveranstaltung Allgemeinmedizin des 2.
Studienjahres 1972/73 Universität Ulm unter Leitung von PD Dr. med. Siegfried Häussler),
Smriftenreihe der Vereinigung der Homsmullehrer und Lehrbeauftragten für
Allgemeinmedizin e. V., Stutt-GART/Degerlom, Xrztehaus, Jahnstr. 30, Heft 2

17 Versichertenbefragung, S. 3

18 Versimertenbefragung, S. 10

19 Versimertenbefragung, S. 15

20 Versimertenbefragung, S. 16

21 Versimertenbefragung, S. 17

22 Versichertenbefragung, S. 11

23 Versimertenbefragung, S. 20

24 Versimertenbefragung, S. 19

25 ebd.

26 Versimertenbefragung, S. 26

27 Versimertenbefragung, S. 20

28 V ersimertenbefragung, S. 22

29 Versimertenbefragung, S. 25

30 Versimertenbefragung, S. 26

31 Versimertenbefragung, S. 21

32 HB-Information, Anlage zur Pressesmau des Verbandes der Arzte Deutschlandes


(Hartmannbund), Bonn-Bad Godesberg, Nr. 123/73, S. 14

33 HB-Information, S. 14

34 HB-Information, S. 37

178

35 Statistisches Jahrbuch 1972, Herausgeber: Statistisches Bundesamt Wiesbaden,


Kohlhammer Verlag, Stuttgart, S. 60

36 Bundestagsdrucksache, 7/454, S. 25

37 ebd.

38 ebd.

39 ebd.

40 ebd.

41 7/454,S .39

42 ebd.

43 ebd.

44 Gesundheitsbericht der Bundesregierung, S. 51

45 Statistisches Jahrbuch 1972, S. 60

46 Statistisches Jahrbuch der DDR 1973, S. 503

47 Versichertenbefragung Ulm, S. 14

48 Versichertenbefragung Ulm, S. 37

49 Statistisches Jahrbuch der DDR, S. 502

50 Gesundheitsbericht, S. 56

51 Deutsches Krzteblatt, 21/73, S. 1379

52 Bundesdrucksache, 7/454, S. 41

53 Modell einer allgemeinen Vorsorgeuntersuchung, Schlußbericht, Stuttgart 1972,S. 5

54 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 7
55 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 7

56 ebd.

57 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 13

58 ebd.

59 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 14

60 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 16

61 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 17

62 ebd.

63 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 19

64 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchu.ng, S. 23

65 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 24

66 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 27

67 Modell einer allgemeinen Vorsorgeuntersuchung, Zwischenbericht,


BadenWürttemberg, 1969/70, Stuttgart S. 83

68 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 36

69 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 36-37

70 Zwischenbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 11

71 Schlußbericht Vorsorgeuntersuchung, S. 37

Anmerkungen zu Kapitel 7

Studienreform und Berufsbild. Umfrage unter Examenskandidaten der Medizin an der


Freien Universität Berlin im SS/1971

Pressedienst Wissenschaft FU Berlin 9/1972

2 Arbeitstitel: Fragebogenerhebung des Marburger Bundes Landesverband Berlin im


Oktober 1972

179
3 Vgl. insbesondere Fragen 1-53

4 Studienreform und Berufsbild. Einleitung der Auswerter S. 6/7

5 So der Abschnitt 5 der MB-Umfrage. Vgl. auch unser Kap. 7.4

6 Studienreform und Berufsbild. Interpretation der Ergebnisse der Umfrage durch die
Auswerter S. 23

7 Fragebogenerhebung des Marburger Bundes. Darstellung des Auswerters Manuskript S.


20

8 MB-Erhebung. Darstellung des Auswerters, S. 24

9 ebd.

10 Studienreform und Berufsbild. Interpretation der Umfrage S. 24

Anmerkungen zu Kapitel 8

Günther Wollny, Kommentar im Bayerischen Rundfunk, 26.4.1973

2 Zit. nach» Vorwärts«, 29. 9. 1973

3 Deutsches Ärzteblatt, 23/72, S. 1448

4 s. Dokument 2

5 Bonner Informationsdienst, 10/15. 10. 1972

6 Dienst für Gesellschaftspolitik, 2. 11. 1972

7 ebd.

8 ebd.

9 ebd.

10 Die Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Studie des WSI-Instituts


des DGB, Bund-Verlag, Köln 1971, S. 9

11 Zur Reform der Krankenversicherung - Gutachten über die Einstellung der


Bevölkerung, Institut für Demoskopie Allensbach/Bodensee, 1958

12 Allensbach-Gutachten, Tab. 29

13 Allensbach-Gutachten, Tab. 30

14 Allensbach-Gutachten, Tab. 18
15 Allensbach-Gutachten, Tab. 37

16 Allensbach-Gutachten, Tab. 6

17 Allensbach-Gutachten, Tab. 13

18 Allensbach-Gutachten, Tab. 16

19 Allensbach-Gutachten, S. 33/34

20 Allensbach-Gutachten, S. 6

21 Außerordentlicher Parteitag der SPD 12.-13. Oktober 1972, Dortmund, Protokolle,


herausgegeben vom SPD-Vorstand, Bonn, Seite 193. Auszüge aus den Diskussionen s.
Dokument 1

22 Parteitagsprotokolle, Dortmund S. 195

23 Parteitagsprotokolle, Dortmund S. 202

24 Parteitagsprotokolle, Dortmund S. 199

25 Parteitagsprotokolle, Dortmund S. 208

26 Parteitagsprotokolle, Dortmund S. 460

27 Parteitagsprotokolle, Dortmund, S. 460

28 Anträge an den SPD-Parteitag in Hannover, herausgegeben vom SPD-Vorstand Bonn,


Vorlage 3, S. 95

180

Anmerkungen zu Kapitel 9

1 Zit. nach »Der Spiegel« vom 30.4.1973

2 Ota Sik, Der dritte Weg. Die marxistisch-leninistische Theorie und die moderne
Industriegesellschaft, Hamburg 1972, S. 16

3 Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom


Außerordentlichen Parteitag der SPD in Bad-Godesberg vom 13. bis 15. November 1959
in: Programm der deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963, S. 200

4 ebd.

5 Paul Lüth, Die Ärzte und ihr Stand. Essay in »Der Spiegel« vom 15. 1. 1973

181
Tabellarischer Teil

Tabelle 1: übersieht über die Beitragssätze verschiedener Ortskrankenkassen . . . . . . . . . . .


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Tabelle 2: übersieht über die Beitragssätze m der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . .


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Tabelle 3: Verhältnis von Mitgliedern und Rentnern bei den Ortskrankenkassen . . . . . . . . .


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Tabelle 4: Verteilung der allgemeinen Beitragssätze bei den Allgemeinen


Ortskrankenkassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

Tabelle 5: übersieht über den Krankenstand der Pflichtmitglieder nach Kassenarten . . . . .


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Tabelle 6: Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung m Millionen . . . . . . . . . . . . . . .


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Tabelle 7: Zahl der Versicherten m der gesetzlichen Krankenversicherung

191

Tabelle 8: Verwaltungskosten je Versicherten der AOK . . . . . . . . . . . . . 192

Tabelle 9: Pro-Kopf-Verbrauch von Arzneimitteln in verschiedenen europäischen und


außereuropäischen Ländern . . . . . . . . . . . . 192

Tabelle 10: Preisvergleich verschiedener Arzneimittel in der BRD, der Schweiz und
Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Tabelle 11: Leistungsausgaben je Mitglied in der Gesetzlichen Krankenversicherung für


1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Tabelle 12: Eine Muschallik widerlegende Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

183
TABELLE 1

übersieht über die Beitragssätze verschiedener Ortskrankenkassen

Stand 1.1.1973

Kasse

allgemeiner Kasse

allgemeiner

Beitragssatz

Beitragssatz

Schleswig-Holstein

Hessen

Ahrensburg

7,8

Dieburg

8,3

Bad Segeberg

8,2

Erbach

8,2

Meldorf

8,5

Frankfurt

7,4

Tönning

8,0

Friedberg
8,0

Groß-Gerau

8,0

N ordrhein-W estf alen

Hanau

7,4

Melsungen

8,2

Bonn

10,5

Offenbach

7,8

Euskirchen

10,5

Wetzlar

8,0

Gladbach u. Neuss

8,1

Kempen

10,8

Rheinland-Pfalz

Leverkusen

10,5

Monschau

8,2
Bitburg-Prüm

11,0

Remscheid

8,1

Daun

10,5

Bottrop

10,5

Kirchheim hol.

8,5

Brackwede

8,5

Simmern

8,1

Bünde

8,5

Trier

11,2

Halle

8,5

Hamm

11,0

Baden-Württemberg

Herford-Stadt

8,5
Heidenheim

Herford-Land

8,5

8,5

Herne

11,1

Schwäb. Gmünd

8,5

W anne-Eickel

10,5

Vaihingen/Enz

7,5

Wattenseheid

10,5

Baden-Baden

8,4

Bruchsal

7,8

Niedersachsen

Mannheim

11,0

Rastatt

8,2

Braunschweig

8,5
Sinsheim

8,4

Borkum

8,0

Balingen

8,0

Emden

8,2

Blaubeuren

8,0

Esens

8,0

Ehingen

7,8

Gifhorn

8,0

Hechingen

8,0

Hannover

8,2

Laupheim

8,5

Leer

8,3

Reutlingen
7,7

Neustadt a. Rbge

8,4

Riedlingen

8,5

Peine

8,5

Tailfingen

7,5

Rinteln

8,0

Tübingen

7,9

Soltau

8,3

Ulm

7,9

Walsrode

8,5

Urach

8,5

Winsen

8,0

Emmendingen

8,0
Delmenhorst

10,5

Schramberg

8,2

185

Kasse

allgemeiner Kasse

allgemeiner

Beitragssatz

Beitragssatz

Schwenningen

7,9

Kelheim

8,5

Spaichingen

8,5

Landshut

7,5

Passau

7,5

Pfarrkirchen

8,0

Bayern
Regen

7,6

Straubing

7,0

Bad Tölz

8,5

Bamberg

7,0

Erding

7,0

Bayreuth

8,0

Freising

7,5

Coburg

7,0

Garmisch-Partenk.

8,5

Hof

7,1

Ingolstadt

7,5

Wunsiedel

7,2

Landsberg
8,0

Aschaffenburg

8,0

Mühldorf

7,8

Schweinfurt

8,0

Rosenheim

8,0

Würzburg

7,8

Amberg

7,6

Augsburg

7,8

Cham

8,0

Donauwörth

7,8

Neumarkt

7,5

Günzburg

7,5

Regensburg

7,7
Immenstadt

7,4

Tirschenreuth

8,0

Kaufbeuren

8,0

Weiden

7,6

Kempten

· 7,5

Bogen

6,8

Lindau

8,0

Deggendorf

6,6

Memmingen

7,4

186

TABELLE 2

übersieht über die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung Beitragssatz in v.


H. des Grundlohnes am

Kassenart

1. Januar 1. Januar

1. Juli
1. Januar
1971

1972

1972

1973

Ortskrankenkassen

8,09

8,24

8,40

8,95

Landkrankenkassen

8,83

8,81

9,01

Betriebskrankenkassen

7,47

7,62

7,76

8,19

Innungskrankenkassen

7,79

7,96

8,05

8,47
See-Krankenkasse

6,60

6,20

6,20

6,20

Bundesknappschaft

9,60

9,60

9,60

11,60

Ersatzkassen für Arbeiter

8,00

8,05

8,22

8,97

Ersatzkassen für Angestellte

8,68

8,68

8,69

9,65

Sämtliche Kassen

8,12

8,25

8,37

9,01
TABELLE 3

Verhältnis von Mitgliedern und Rentnern bei den Ortskrankenkassen (nach Ländern
geordnet)

Stand 1. Januar 1972

Land

Pflicht-

Freiwillige

Rentner

mitglieder

Mitglieder

Schleswig-Holstein

376 612

42 772

250 914

Hamburg

260 025

20 782

168 622

Niedersachsen

968 870

98 472

634 929

Bremen

144 608

17 522

78 896
Nordrhein-Westfalen

2 205 068

179 741

1 180 306

Hessen

902 939

99 831

483 915

Bayern

1 909 826

210 898

1 013 534

Rheinland-Pfalz

541 581

47 822

323 645

Baden-Württemberg

1 763 738

173 933

824 854

Saarland

205 650

19 220

91 493

Berlin (West)
409 446

83 984

380 457

Bundesrepublik Deutschland

mit Berlin (West)

9 688 169

994 977

5 431 565

187
TABELLE 4

Bundesverband der Ortskrankenkassen

Bonn-Bad Godesberg

Verteilung der allgemeinen Beitragssätze

bei den Ortskrankenkassen des Bundesgebietes einschließlich Berlin (West)

(Zahl der Kassen und ihr vH-Anteil an der Gesamtzahl der Pflid:itmitglieder mit
Ansprud:i auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle für mindestens 6
Wod:ien)

6,5-6,9

7,0-7,4

7,5-7,9

8,0-8,4

8,5-8,9

Kas- vH Kas- vH Kas- vH Kas-

vH Kas-

vH

Stand sen der sen der sen der sen

der

sen

der

Mitgl.

Mitgl.

Mitgl.

Mitgl.

Mitgl.

1
2

10

1. 2.70 3

0,92 16 7,30 62 20,13 191 43,96

88 17,50

1. 4.70 3

0,94 16 7,33 61 20,08 186 42,61

90 18,02

1. 7.70 3

0,98 17 7,47 60 20,01 182 41,84

94 18,87

1.10.70 4 1,12 15 6,84 63 20,90 176 .41,01

93 18,57

1. 1.71 5

3,97 23 8,06 73 20,30 176 41,55

87 18,24

1. 4.71 5

3,97 25 8,76 72 19,97 176 41,24


87 18,37

1. 7.71 5

3,96 27 9,23 70 19,61 172 40,75

88 18,37

1.10.71 5 3,98 26 9,15 67 19,46 164 38,69

96 19,96

1. 1.72 5

3,97 18 6,54 54 17,34 134 32,86 115 22,71

1. 2.72 4 3,86

18 6,49 54 16,30 129 31,63 121 25,13

1. 3.72 4

3,85 18 6,50 53 16,06 124 30,80 121 24,99

1. 4.72 5

3,94 18 6,54 52 16,10 113 29,09 122 24,78

1. 5.72 5

3,94 17 6,47 53 16,26 110 27,94 122 24,76

1, 6.72 5 3,93 17 6,46 53 16,26 104 26,27 119 22,50

1. 7.72 5

3,93 16 6,31 46 15,06

96 25,07 118 21,18

1. 8.72 5

3,94 15 6,07 44 14,87

89 21,32 114 19,99

1. 9.72 5

3,93 15 6,06 43 14,73


87 20,96 114 20,15

1.10.72 5 3,94 15 6,08 43 14,73

82 20,23 105 18,71

1.11.72 4 3,85 15 6,09 44 14,88

81 20,02 105 18,71

1.12.72 4 3,86 15 6,08 44 14,89

81 20,00 104 18,58

1. 1.73 2

0,32 10 5,07 26 11,20

41

9,61

83 18,79

Anderung gegenüber Vormonat

Zugang

2,87

1,55

31

9,96

Abgang 2 3,50

5 1,01 19

6,49

45 11,92

52
9,89

188

9,0-9,4

9,5-9,9

10,0-10,4 10,5-10,9 11,0 u. höher durm-

smnitt-

Kas-

vH Kas- vH Kas- vH Kas- vH Kas- vH limer sen

der sen der

sen

der sen der sen der Bei-

Mitgl.

Mitgl.

Mitgl.

Mitgl.
Mitgl. trags-

satz

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

34

8,93

1,26

- - - - - - 8,14

38

9,76

1,26

- - - - - - 8,15

37

9,59
7

1,24

- - - - - - 8,15

41 10,26

1,30

- - - - - - 8,16

31

7,37

0,51

- - - - - - 8,07

29

6,86

0,50

0,33

--

- - 8,07

33

7,48

0,27

1
0,33

--

- 8,07

35

8,02

0,41

0,33

- - - - 8,08

53

12,98 12

2,65

0,95

- - - 8,25

53

13,01 12

2,64

0,94

-
-

- 8,27

57 14,07 13

2,71

7 1,02 -

- 8,28

67 15,64 13

2,71

1,20

- 8,30

66

15;28 17

4,15

1,20

- 8,32
73

18,49 18

4,72

1,37

- 8,35

82 20,16 23

5,37 12

2,92

- - - 8,40

91 22,21 28

8,68 12

2,92

- - - - 8,46

91 22,16 29

8,81 14

3,20

- - - - 8,47

93 22,37 41 10,68 15

3,26

- - - - 8,49
91 21,99 42 10,87 17

3,59

- - - - 8,50

91 21,97 43 11,04 17

3,58

- 8,50

99 22,70 77 18,48 45 10,77 10 1,40

1,66 8,95

58 13,54 49 11,17 33

7,93

8 1,18

1,66

so 12,84 15

3,70

0,53

189

TABELLE 5

übersieht über den Krankenstand der Pflichtmitglieder nach Kassenarten Jahresdurchschnitt


Kassenarten

1969

1970

1971

1972

Ortskrankenkassen

5,2

5,6

5,1

5,3

Landkrankenkassen

3,0

3,1

2,9

3,1

Betriebskrankenkassen

6,1

7,2

6,9

7,1

Innungskrankenkassen

4,3

4,7

4,5

4,6
See-Krankenkasse

3,9

5,0

6,0

7,5

Knappschaftliche Krankenkassen

(Bundesknappschaft)

7,7

9,5

9,4

10,0

Ersatzkassen für Arbeiter

4,9

5,2

5,3

5,6

Ersatzkassen für Angestellte

3,8

4,6

4,7

4,8

Sämtliche Kassen

5,1

5,6

5,3
5,5

TABELLE 6

Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Millionen DM

(1972 geschätzt)

Kostenarten

1960

1965

1970

1972

Allgemeine Krankenversicherungen

Leistungsausgaben insgesamt

7 636

12 257

17 273

24 720

Arzte

1 536

2 536

3 995

5 490

Zahnärzte

436

892

1 564

2 050
Arzneien (Apotheken)

754

1 349

2 378

3 160

Krankenhäuser

1 175

2 093

3 869

5 980

Krankenversicherung der Rentner

Leistungsausgaben insgesamt

1 329

2 657

6 576

9 943

Arzte

338

658

1 463

2 090

Zahnärzte

31

62

144
200

Arzneien (Apotheken)

340

671

1 846

2 560

Krankenhäuser

393

854

2 140

3 400

Zusammen

Leistungsausgaben insgesamt

8 965

14 914

23 849

34 663

Arzte

1 874

3 195

5 458

7 580

Zahnärzte

468

953
1 708

2 250

Arzneien (Apotheken)

1 093

2 021

4 224

5 720

Krankenhäuser

1 568

2 947

6 009

9 380

190

TABELLE 7

Zahl der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung (Jahresdurchschnitt)

1961

1966

1971 Veränderungen

in 1000

1961/1971

in Prozent

Sämtliche Kassen

Pflichtmitglieder und

freiwillige Mitglieder

22 012
22 901

23 228

5,5

Rentner

5 582

6 023

8 259

48,0

Mitglieder und Rentner zusammen

27 594

28 924

31 487

14,1

Mitversicherte Familienangehörige

19 437

21 369

23 530

21,1

Versicherte insgesamt

47 031

50 293

55 017

17,0

Ortskrankenkassen

Pflichtmitglieder und
freiwillige Mitglieder

11 618

11 527

10 900 - 6,2

Rentner

3 838

3 846

5 245

36,7

Mitglieder und Rentner zusammen

15 456

15 373

16 145

4,5

Betriebskrankenkassen

Pflichtmitglieder und

freiwillige Mitglieder

3 155

3 163

3 248

2,9

Rentner

549

707

1 016
85,1

Mitglieder und Rentner zusammen

3 704

3 870

4 264

15,1

Ersatzkassen für Angestellte

Pflichtmitglieder und

freiwillige Mitglieder

4 952

5 804

6 746

36,2

Rentner

316

503

909

187,7

Mitglieder und Rentner zusammen

5 268

6 307

7 655

45,3

191
TABELLE 8

Verwaltungskosten je Versicherten (ohne Rentner) der AOK in DM

Bereich

1951

1961

1965

1970

1971

Schleswig-Holstein

9,73

20,25

26,75

38,96

47,54

Hamburg

11,82

27,62

36,31

43,83

55,18

Niedersachsen

9,33
20,06

27,92

41,96

52,37

Bremen

11,14

23,53

28,91

44,77

53,95

Nordrhein

10,07

21,52

30,00

41,57

51,87

Westfalen

9,62

20,13

27,70

38,07

49,54

Hessen

12,42

23,58
28,70

37,17

48,92

Bayern

9,55

20,45

26,32

38,77

45,07

Rheinland-Pfalz

11,06

21,51

28,22

39,36

49,71

ehern. Württemberg-Baden

9,85

18,22

23,20

34,20

42,21

ehern.Baden

10,13

17,86

22,74
32,32

40,70

ehern. Württ.-Hohenzollern

8,77

16,17

20,70

28,83

37,18

Saarland

28,09

35,49

45,66

55,04

Berlin (West)

28,31

35,55

51,65

61,16

Bundesgebiet

10,11

21,22

27,72

39,12

48,37

TABELLE 9
Pro-Kopf-Verbrauch von Arzneimitteln m verschiedenen europäischen und

außereuropäischen Ländern

Bundesrepublik Deutschland 1969: 105,- DM

1960: 45,- DM

Frankreich

1969: 141,- DM

1960: 51,- DM

Italien
1969:
95,- DM

1962: 52,- DM

Japan

1969: 127,- DM

1960: 28,- DM

Niederlande
1969:
85,- DM

1960: 29,- DM

Schweden

1969: 101,- DM

1960: 41,- DM

Schweiz

1969: 128,- DM

1963: 71,- DM

Ungarn

1968: 118,- DM

1960: 60,- DM

USA

1968: 120,- DM

1960: 80,- DM

Bolivien
1970:
5,- DM

Vergleichszahlen liegen

Chile
1970:
19,- DM

nicht vor

Columbien
1970:
17,- DM

Ecuador
1970:
16,- DM

Peru
1970:
16,- DM

192

TABELLE 10

Preisvergleich verschiedener Arzneimittel in der BRD, der Schweiz und

Frankreich

Das Heilmittel

der Firma kostet in

Deutsche

Franzosen

Deutsch-

bezahlen

zahlen

land

soviel

soviel

DM

mehr als

weniger als

Schweizer

Schweizer

100 Stück

Bellergal-Dragees

Sandoz
17,60

+ 66 0/o

-27,5 0/o

100 Stück

Gynergen-Dragees

Sandoz

27,80

+ 54,5 0/o

-44 0/o

100 Stück

Optalidon-Dragees

Sandoz

14,20

+ 25 0/o

-62 0/o

10 Stück

Madribon-Tabletten

Roche

5,05

+ 6 0/o

-49 0/o

50 Stück

Valium-Tabletten (5 mg) Roche

13,05

+ 27,5 0/o
-11 0/o

50 Stück

Librium-Tabletten (10 mg) Roche

10,90

+ 21,5 0/o

-14 0/o

15 ml

Coranin-Tropfen

Ciba-Geigy 3,10

+ 55 0/o

-55 0/o

100 Stück

Glyvenol-Kapseln

Ciba-Geigy 42,80

+ 23 0/o

-21,5 °/o

20 Stück

Mexaform-Tabletten

Ciba-Geigy 6,25

+ 38 0/o

-15 0/o

15 Gramm

Locacorten-Creme

Ciba-Geigy 8,90

+ 24 0/o
-84 0/o

50 Stück

Butazolidin

Ciba-Geigy 17,95

+ 116 0/o

- 7 0/o

50 Stück

Irgapyrin

Ciba-Geigy 18,55

+ 102 0/o

-37 0/o

193

TABELLE 11

Leistungsausgaben je Mitglied in der Gesetzlichen Krankenversicherung

(alle Kassen ohne KVdR)

nach Schätzung von Dr. Peter Rosenberg, DIW Berlin

Kostenarten

1970

1972

1985

Leistungsausgaben insgesamt

763,02 DM

1 045,42 DM

4 452,14 DM

Ärzte
176,46 DM

232,17 DM

834,65 DM

Zahnärzte

69,08 DM

86,70 DM

419,28 DM

Arzneien (Apotheken)

105,03 DM

133,64 DM

571,31 DM

Sonstige Heil- und Hilfsmittel

20,58 DM

33,83 DM

167,46 DM

Zahnersatz

25,51 DM

43,98 DM

209,96 DM

Krankenhäuser

170,91 DM

252,90 DM

1 333,54 DM

Barleistungen

109,00 DM
147,17 DM

451,22 DM

Vorbeugung und Verhütung

8,65 DM

22,84 DM

111,87 DM

M utterschaftshilfe

48,56 DM

56,25 DM

191,87 DM

Sonstiges

29,25 DM

35,95 DM

160,98 DM

194

TABELLE 12

Eine Muschallik widerlegende Statistik

Aus : Deutsches Ärzteblatt, Heft 21 vom 24. Mai 1973

Redaktioneller Vorspann: Thesen und Tatsachen

Die Erhaltung der freiberuflichen ärztlichen Tätigkeit auf der Grundlage des derzeitigen
Kassenarztrechts dient den Interessen der Kranken Dr. med. Hans Wolf Muschallik

Mit den aktuellen gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen und Entwicklungen im


Rahmen der allgemeinen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen beschäftigte sich
Dr. med. Hans Wolf Muschallik in einem großangelegten Referat am 5. Mai 1973 in Köln
vor der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, deren
Vorsitzender er ist. Er untermauerte seinen in diesem Zusammenhang erstatteten Bericht
über die Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung der Bevölkerung mit einer Fülle
von - bisher in diesem Umfang nicht zur Verfügung stehenden - Daten und Fakten aus dem
Bereich Nordrhein. Dr.
Muschallik, der bekanntlich auch Erster Vorsitzender der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung ist, ging in seinem Referat, das von den 123 Delegierten in der
Vertreterversammlung der KV Nordrhein mit großem Beifall aufgenommen wurde,
insbesondere auf die Bundespolitik und deren aktuelle Strömungen ein, wodurch seine
Ausführungen über den Landesteil Nordrhein hinaus Bedeutung gewinnen und Interesse
verdienen.

Zitat aus dem Referat:

»Auch die Ergebnisse der Früherkennungsuntersuchungen im Landesteil Nordrhein im


Jahre 1972 sind, wie ich meine, wohl nicht zum wenigsten auch wegen unseres anhaltenden
Appells zur verstärkten Inanspruchnahme durch alle Versicherten schon durchaus
beachtlich ... Bei der Krebsuntersuchung für Männer wurden 123 043 Untersuchungen
durchgeführt und dabei 7024 Krebserkrankungen des Enddarms oder der Prostata ..
festgestellt.«

Dazu Notiz in der FAZ vom 22. 8.:

Überschrift: Vorsorgeuntersuchungen zu wenig genutzt

» ... Wie wichtig Vorsorgeuntersuchungen sein können, zeigen Untersuchungsergebnisse im


Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein ... Danach wurden bei 5,7 Prozent
der 123 043 untersuchten Männer Prostata- und Mastdarmkrebs ... festgestellt.«

Widerlegende Statistik:

Zahl der Krebskranken in der BRD

350 000

(Gesundheitsbericht der Bundesregierung, S. 51)

Anteil der männlichen Krebskranken je 10 000

35,02

(Da in der BRD keine Krebsstatistik, entnommen

dem Statistischen Jahrbuch der DDR 1973, S. 502) Zahl der krebskranken Männer in der
BRD

167 510

(Unter Zugrundelegung der männlichen Krebskrankenquote aus der DDR-Statistik, S.


502)) 195

Anteil der Krebserkrankungen des Mastdarms in Prozent 5,0

(Gesundheitsberidit, S. 56)
Anteil der Krebserkrankungen der Prostata in Prozent 7,9

(Gesundheitsbericht, S. 56)

Anteil der Krebserkrankungen von Mastdarm und Prostata 12,9

Krebserkrankungen des Mastdarms und der Prostata 20 668

(12,9 Prozent der Gesamtzahl krebskranker Männer von 167 510)

Einwohnerzahl der Bundesrepublik

61 000 000

Einwohnerzahl des Bereidis der KV Nordrhein

9 200 000

(Deutsdies .i\rzteblatt 21/73)

Anteil der Einwohner des KV-Bereidis Nordrhein

in Prozenten der Einwohnerzahl der BRD

15,08

Ansprudisbereditigte Männer über 45 Jahre in der BRD (Bundestagsdrmksadie 7 / 454, S.


7)

8 200 000

Anteil der anspruchsbereditigten

Männer im Bereidi der KV Nordrhein=

15,08 Prozent von 8,2 Millionen

1 230 000

Entsprediender Anteil der Mastdarm- und Prostatakrebskranken unter den


ansprudisbereditigten Männern im KV-Bereidi Nordrhein = 15,08 Prozent von 20 668

3 099

Untersudit wurden nadi Angaben Musdialliks von

den 1,23 Millionen ansprudi.sbereditigten Männern im KV-Bereidi Nordrhein

123 043
Untersuchte Männer im KV-Bereidi Nordrhein in

Prozent aller ansprudisbereditigten Männer

(123 043 von 1,23 Millionen)

10,0

Vorhandene Krebserkrankungen des Mastdarms und

der Prostata bei den 123 043 untersuditen Männern im Bereich der KV-Nordrhein (10
Prozent von 3 099) 310

Bundesdurdisdinitt der diagnostizierten Mastdarmkrebse bei laut Bundestagsdrucksadie


7/454, S. 39

in Prozenten

0,07

Nadi dem Bundesdurchsdinitt von 0,07 Prozent zu

erwartende Diagnosen auf Mastdarmkrebs bei

123 043 untersuchten Männern im KV-Bereidi Nordrhein 86

Zu erwartende Diagnosen bei Prostatakrebs bei den 123 043 im Bereidi der KV Nordrhein
untersuditen Männern entsprechend der Relation von 5,0 zu

7,9 Prozent aller Krebserkrankungen bei Männern

136

Insgesamt nadi dem Bundesdurdisdinitt von 0,07

Prozent bei den 123 043 untersudi.ten Männern des KV-Bereidis Nordrhein zu erwartende
Diagnosen

von Mastdarmkrebs plus Prostatakrebs

222

Laut Behauptung Musdialliks von den .i\rzten der KV Nordrhein angeblidi entdeckte
Krebserkrankungen bei 123 043 untersuditen Männern

7 024

Diese Zahl übertrifft die nadi dem Bundesdurdisdinitt zu erwartenden Diagnosen um das
31 fadie.
196

Dokumentarischer Teil

Dokumentarisd-te Übersid-tt über die Entwicklung der gesundheitspolitischen Diskussion


in der SPD bis 1973

A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

B. Dokumente über die letzte Phase der gesundheitspolitischen Diskussion in der Partei . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Dokument 1: Aus dem Protokoll des Außerordentlichen Parteitages der SPD vom 12. -13.
Oktober 1972 in Dortmund . . . . . . . . . . 200

Dokument 2: Brief von Gesundheitsminister Frau Käte Strobel an die Ärzte in der BRD
vom November 1972 . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Dokument 3: Initiativgesetzentwurf der SPD-Fraktion im Landtag von Baden-


Württemberg - Drucksad-te 6/1690, vom 15.2.1973 . 206

Dokument 4: Anträge G 12 und G 15 (gleid-tlautend) an den Bundesparteitag der SPD in


Hannover vom 10. -14. April 1973 . . 210

Dokument 5: Initiativantrag Nr. 24 an den Parteitag in Hannover, eingebrad-tt von Dr.


Horst Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

Dokument 6: Initiativantrag Nr. 25 an den Parteitag in Hannover, eingebrad-tt von Joseph


Sd-tolmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

Dokument 7: Bilanz der gesundheitspolitischen Ereignisse beim SPD

Parteitag in Hannover, gezogen vom berufsständisd-ten Ärzteorgan »Status« in Nr. f0/73 . .


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

197

Dokumentarische übersieht über die Entwicklung der gesundheitspolitischen Diskussion in


der SPD bis 1973

A. Einführung

1. Die offizielle parteipolitische Diskussion in der SPD über das Gesundheitswesen begann
mit den 19 Anträgen an den Saarbrücker Parteitag von 1970.

Die Anträge sind abgedruckt im dokumentarischen Anhang zu: Joseph Scholmer, Die
Krankheit der Medizin, Darmstadt und Neuwied, 1972 2 S. 154-170

2. Im Oktober 1970 nahm der Landesparteitag der SPD-Saar einen Initiativantrag der
Genossen Dr. Brandenburg, Läpple (heute Vorsitzender des gesundheitspolitischen
Ausschusses der SPD) und Dr. Heintz mit einer progressiven Weichenstellung an. Der
Antrag ist abgedruckt bei Scholmer, a.a.O.

s. 188-189

3. Zwei Monate später faßten die Jungsozialisten auf ihrem Bremer Bundeskongreß die bis
dahin umfassendsten Beschlüsse. Sie legten bereits ein Programm vor. Die wichtigsten
Passagen daraus sind abgedruckt bei: Anne Winters, Das Gesundheitswesen in der
Diskussion, Kammweg-Verlag, Troisdorf 1973

4. Zu den Landtagswahlen im Frühjahr 1971 in Rheinland-Pfalz und Schleswig

Holstein nahmen die jeweiligen Landesdelegiertenkonferenzen progressive


Gesundheitsprogramm an; sie sind abgedruckt bei Scholmer, a.a.O., S.190/191 bzw. 192-
197

5. Die SPD in Baden-Württemberg erarbeitete zu Beginn des Jahres 1971 ihr

»Modell für ein demokratisches Gesundheitswesen«. Es ist als Broschüre erhältlich,


herausgegeben vom SPD-Landesverband Baden-Württemberg, 7000 Stuttgart 1,
Friedrichstr. 13 (s. Dok. 3)

6. Der regen Aktivität an der Basis der Partei wurde konservativer Widerstand aus den
Reihen der Partei entgegengesetzt. In Travemünde fand im April 1971

eine gesundheitspolitische Konferenz statt, bei der diese Kräfte, insbesondere aus der
Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Ärzte (ASX), unterstützt von der damaligen
Gesundheitsministerin Strobel, Vertreter der ärztlichen Standesorganisationen und der
pharmazeutischen Industrie, in der Mehrheit waren. Der »Dienst für Gesundheitspolitik«
zog Bilanz: Es war die Absicht des SPD-Parteivorstandes, mit Hilfe der Travernünder
Gesundheitskonferenz die zum Teil sehr extremen Anträge zu neutralisieren, die dem
Saarbrücker Parteitag vorgelegen hatten. Dieses taktische Ziel wurde in Travemünde
zweifellos erreicht, denn die Mehrheit der Delegierten zeigte sich nicht bereit, der
radikalen Linken zu folgen. Immerhin bildeten die Verfechter eines klassenlosen
Krankenhauses, einer forcierten Expansion des öffentlichen Gesundheitsdienstes und einer
staatlichen Preisaufsicht in der pharmazeutischen Industrie in Travernünde eine
zumindest quantitativ ernstzunehmende Gruppe. In informellen Gesprächen mit diesen
Verfechtern sozialistischer Gesundheitspolitik konnte man auch unverblümt die Meinung
hören, die »Realisierung progressiver Gesundheitspolitik« müsse zwangsläufig eine
empfindliche Beeinträchtigung des Status der niedergelassenen Ärzte wie der
marktwirtschaftlichen Verfassung der pharmazeutischen Industrie zur Folge haben. Die
Partei sei nur zur Stunde noch nicht bereit, sich zu diesen Konsequenzen offen zu
bekennen.

In der Tat war die Kongreßleitung in Travemünde ebenso wie


Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel immer wieder geflissentlich bemüht, diese
Partei 199
vor einer totalen Konfrontation mit der niedergelassenen Arzteschaft und der
pharmazeutischen Industrie zu bewahren. In den Diskussionsbeiträgen zu ihren Vorträgen
bekamen jedoch die Gastreferenten aus Arzteschaft, Krankenhausträgern und
pharmazeutischen Industrie deutlich zu spüren, wohin der Wind in der
sozialdemokratischen Gesundheitspolitik weht. Insofern dürfte Travemünde die
betroffenen Gruppen in ihrem traditionellen Argwohn vor der gesundheitspolitischen
Strategie und Taktik der SPD nur bestärkt haben.

7. Die Diskussion an der Basis war indes nicht zu stoppen. Der Parteitag des SPD-Bezirkes
Rheinland -Hessen-Nassau nahm am 17.6.1972 in Simmern ein progressives
gesundheitspolitisches Programm an. Es ist abgedru<X.t in Anne Winters, a.a.O., S. 145-
148

B. Dokumente über die letzte Phase der gesundheitspolitischen Diskussion in der

Partei

Dokument 1

Aus dem Protokoll des außerordentlichen Parteitags der SPD vom 12.-13. Oktober 1972 in
Dortmund

Dr. Edith Schieferstein, Baden-Württemberg: Genossen! Der Unterabschnitt

»Gesundheit« kann in der Wahlplattform so nicht stehenbleiben. Ich will euch das
begründen. Man fragt sich, wenn man ihn liest, warum er eigentlich so dürftig ausgefallen
ist. Er enthält, so wichtig es wiederum ist, nichts weiter als eine Aufzählung der
allerwichtigsten Reformen der letzten drei Jahre. Vielleicht haben die Verfasser der
Wahlplattform gemeint, es gäbe wichtigere Probleme als Gesundheitspolitik.

Nun muß man allerdings fragen: Was nützt der Wohlstand, wenn die deutschen Arbeiter
zu Tausenden in die Frühinvalidität getrieben werden, nur weil sie am Arbeitsplatz
verheizt werden? Was nützt ein modernes Betriebsverfassungsgesetz, wenn sich der
Arbeiter in der sensibelsten Zeit seines Lebens, nämlich wenn er krank ist, einer
Klassenmedizin ausgeliefert sieht?

(Beifall)

Auch etwas anderes ist unverständlich: Warum nimmt diese Partei keine Stellung zu den
gesundheitspolitischen Vorstellungen des Gewerkschaftsbundes? Der DGB

hat in den letzten Monaten zwei bedeutende Schriften publiziert, nämlich die WWI-Studie
und das gesundheitspolitische Programm. Die erste Schrift analysiert unser
Gesundheitswesen, wie gesagt, die Klassenmedizin. Das gesundheatspolitische Programm
des DGB zeigt ganz detailliert Wege auf, wie die Mißstände abzubauen sind ....

Jetzt frage ich euch: Wie sollen wir uns vor dieser Wahl verhalten, wenn die Bürger
fragen, was wir denn dazu meinen? Die in den öffentlichen Medien der Offentlichkeit
bekanntgemachten gesundheitspolitischen Leitsätze der SPD unterscheiden sich in keiner
Weise von den Zielvorstellungen der CDU. Wie verhalten wir uns also gegenüber der Frage
des Wählers: Unterstützt ihr die Bemühungen der Gewerkschaften oder nicht?

200

Man kann sich schlecht vorstellen, daß es keinen Widerspruch zwischen den Interessen der
Ärzteschaft und denen der Patienten gibt. Das erschiene einigermaßen schizophren. Wenn
es aber Widersprüche, wenn es Alternativen gibt, dann müssen wir uns fragen: Wen
unterstützen wir? Eine kleine Lobby oder die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung?

(Beifall) ...

Dr. Dierkesmann, Baden-Württemberg: Genossinnen und Genossen! Es ist tatsächlich so,


daß in dieser Partei in den letzten Jahren wesentliche Papiere erarbeitet worden sind, die
eine breite Mehrheit gefunden haben und die gesundheitspolitischen Vorstellungen dieser
Partei in der Basis, in den Gliederungen dargelegt haben. Diese Vorstellungen finden sich
in der sogenannten Wahlplattform nicht wieder. Hier besteht also eine Kluft zwischen der
Bewußtseinslage und dem Diskussionsstand in der Partei, in den Gliederungen und dem,
was uns hier vorgelegt worden ist. Diese Kluft ist unübersehbar. Darüber hinaus meine ich,
wir alle in diesem Saal sind uns darüber einig, daß eine Wahlplattform einerseits auf die
Verdienste dieser Regierung Bezug nehmen und sie würdigen muß - das ist geschehen-,
andererseits aber auch die Perspektiven für die nächste Regierung, für unsere Regierung
aufweisen muß; genau das aber tut sie nicht ...

Die Sozialdemokratische Partei hat sich eigentlich im Gegensatz zu dem Selbstverständnis


der CDU immer - lassen Sie es mich mit dem Schlagwort sagen - um den ganzen Menschen
gekümmert. Die CDU hat in ihren Vorlagen den Menschen immer sehr viel stärker oder
ausschließlich daran gemessen, inwieweit er als Produzent von Bruttosozialprodukt zu
gebrauchen ist. Es besteht kein Zweifel daran, daß der Mensch höher zu bewerten ist, daß
er nicht ausschließlich danach zu bewerten ist, obwohl Leistung - darin ist kein Zweifel -
einen wesentlichen Punkt für die Lebensqualität und für die Selbstverwirklichung des
Menschen darstellt.

Wir wollen Krankheit aber nicht nur deshalb verhindern, weil sie Arbeitsunfähigkeit zur
Folge hat. Gesundheit im weitesten Sinne ist eben mehr, sie ist zentrales Bedürfnis eines
Menschen, Voraussetzung, ohne die es nicht geht, für seine Selbstverwirklichung ... Ich
stelle die Frage: Wo steht in diesem Papier etwas von Chancengleichheit für alle Bürger?
Wo steht etwas von einer etwas umfassenderen Gesundheitsdefinition, wobei ich nicht nur
auf die Definition der Weltgesundheitsorganisation abheben möchte? Wo zeigt sich, daß
wir schon lange erkannt haben - lange vor allen anderen -, daß Gesundheitspolitik
integrierte Gesellschaftspolitik ist, daß es hier keine heiligen Kühe gibt, die wir aus Angst
nicht schlachten wollen, daß das Gespräch geführt werden muß? Wir finden keine kritisch-
analytischen Ansätze, keine Perspektiven. Wo bleibt die Forderung nach Aktivierung der
Betroffenen, sprich: nach funktionsgerechter Mitbestimmung auch im Gesundheitssektor?
...
Noch eine Frage: Wo steht die Forderung nach grundgesetzlicher Verankerung des Rechts
auf möglichst beste Versorgung auf Schutz vor schädigenden Umwelteinflüssen? Das Recht
auf Bildung ist im Grundgesetz verankert, ist quasi einklagbar geworden. Gesundheit ist
nicht einklagbar, sondern einem freien Wechselspiel ausgesetzt. Ich glaube, es müssen
endlich Ansätze kommen, hier Mittel und Wege zu einer Lösung zu finden.

Genossinnen und Genossen, bevor ich zu unserem Antrag selbst Stellung nehme, laßt mich
einen Appell an euch richten, den ich mit den Worten von Erhard Eppler verbinde, der
gesagt hat, es werden Progressive sein, die sich der Realität stellen, die sich fragen, was
innerhalb der nun sichtbar werdenden Grenzen Fort-201

schritt sei, und sie werden gründliche Kurskorrekturen verlangen, nicht weil sie
behaupten, den Weg zur Seligkeit gefunden zu haben, sondern weil sie begriffen haben,
daß die Fortschreibung des Gewohnten nicht nur keine ideale, sondern gar keine Zukunft
mehr ergibt. Sie werden den Fortschritt wollen, obwohl oder gerade deshalb, weil er sehr
viel schwieriger zu haben ist, als viele glauben ...

Lothar Klemm, Hessen-Süd: ... Gestern wurde die Sozialdemokratische Partei hier von allen
Rednern eindeutig als die Partei verstanden, die die Interessen der abhängig Beschäftigten,
der Arbeiter und Angestellten vertritt. Ich glaube, daran sollten wir uns auch erinnern,
wenn wir hier die Vorstellungen der Partei auf dem Gebiete des Gesundheitswesens
diskutieren ...

Genossinnen und Genossen, ich glaube, daß diese Vorstellungen .•. hinter die Diskussionen
in der Partei zurückgegangen sind ... In dem uns vorliegenden Vorschlag ist kein Wort
über die Krankenhausreform enthalten, die darauf abgestellt sein muß, die Privilegien
einer Minderheit abzubauen und Strukturreformen im Krankenhauswesen zu schaffen.
Genossinnen und Genossen, es ist kein Wort über den Bereich der Hessen-Klinik, über die
Diskussion des klassenlosen Krankenhaues enthalten. Ich glaube, das ist zu wenig ...

In der Vorlage ist kein Wort über die unzureichende ärztliche Versorgung auf dem flachen
Land enthalten, kein Wort darüber, daß die .i'i.rztekammer in weiten Bereichen nicht in
der Lage ist, ihrer Verpflichtung nachzukommen, die ärztliche Versorgung der
Bevölkerung in diesem Lande tatsächlich zu gewährleisten. Es ist kein Wort darüber
enthalten, daß ambulante medizinische Versorgung zumindest anzustreben ist, um der
breiten Masse der Bevölkerung in diesem Lande tatsächlich ausreichende ärztliche
Versorgung zur Verfügung zu stellen ....

Genossinnen und Genossen, es geht darum, durch die Einschaltung von Betriebs

ärzten bei der Gestaltung der Bedingungen am Arbeitsplatz die Veränderung der
Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Durch Einrichtung auch überbetrieblicher
betriebsärztlicher Programme müssen Möglichkeiten geschaffen werden, zu
menschenwürdigen Bedingungen am Arbeitsplatz zu kommen ...
Horst-Werner Franke, Bremen: Liebe Genossinnen und Genossen! Ich bitte euch, den
Antrag Nr. 6, den die Landesorganisation Bremen gestellt hat, vorzunehmen.

Aus diesem Antrag ist von der Antragskommission ein Satz in die Wahlplattform
übernommen worden, ein, wie ich glaube, bemerkenswerter Satz: Nicht die wirtschaftliche
und soziale Stellung des Kranken, sondern allein die Art und Schwere der Krankheit
dürfen maßgebend sein. Genossinnen und Genossen, hierzu wird sich natürlich jeder
verstehen. Die Frage ist aber: Wie machen wir das? Unser Antrag enthält einen zweiten
Satz, der wenigstens einigermaßen konkret andeutet, wie Sozialdemokraten es
bewerkstelligen können, daß nicht die soziale Stellung, sondern die Art und Schwere der
Krankheit für die Behandlung der einzige Bezugspunkt sind. Dieser Satz, der der
wichtigere ist, der aussagt, wie man es macht, ist von der Antragskommission leider nicht
übernommen worden.

Dieser Satz lautet: »Deshalb wollen wir die herkömmliche Klasseneinteilung mit erheblich
unterschiedlicher Berechnung erkaufter ärztlicher Sonderbehandlung und Sonderpflege
überwinden.«

(Beifall)

Genossen, ich wäre sehr neugierig auf die Begründung, warum Sozialdemokraten, die
Überwindung - und Überwindung als Prozeß - der Klasseneinteilung sowie die
Abschaffung erkaufter Sonderbehandlung und Sonderpflege nicht als Ziel in ihre
Wahlplattform hineinschreiben wollen.

(Erneuter Beifall)

202

Die Antragskommission muß sich dabei ja etwas gedacht haben. Vielleicht kann noch
einmal begründet werden, warum die Sozialdemokraten in dieser Situation, wo wir doch
fortwährend hier am Pult erklären, daß wir in unserem Wahlkampf für die sozial
Schwachen, für die Anhängigen die Akzente setzen, das Krankenhaus, das allein auf seine
Bedürfnisse zugeschnitten ist, in unserer Wahlplattform nicht ansprechen.

(Beifall)

Wir wären also, wie gesagt, auf eine Antwort neugierig.

Diese Antwort kann nicht so lauten - wie es hier heute vom Pult schon einmal angedeutet
worden ist -: Das ist ein unausgegorener Begriff. Genossen, das klassenlose Krankenhaus
ist eine sehr präzise Sache, und man kann es nicht damit ablehnen, daß man sagt: Na ja,
darunter können wir uns nichts vorstellen. Wenn Sozialdemokraten diesen Begriff nicht
inhaltlich ausfüllen können, dann hätten wir ja in den Landen draußen, in den
Unterbezirken und Landesorganisationen, Dutzende von Diskussionen bis heute vergeblich
geführt, die auf die Präzision dieses Begriffes ausgerichtet waren. (Beifall)

Hans Schweitzer, Rheinland-Hessen-Nassau: Liebe Genossinnen und Genossen! ...


Aus unserem Antrag wurde der Anspruch unserer Bürger »auf eine zeitlich nicht
begrenzte, ambulante oder stationäre medizinische Behandlung mit den modernsten
wissenschaftlichen Methoden bis zur höchstmöglichen Wiederherstellung seiner
Gesundheit« in die neue Fassung übernommen. Das gleiche gilt für die Feststellung, daß
nicht die wirtschaftliche und soziale Stellung des Kranken, sondern allein die Schwere
seiner Krankheit maßgebend sein müsse. Damit ist der erste Absatz unseres Vorschlages zu
Abs. 9 erfüllt. Wenn man das soeben Erwähnte aber will, muß man, so meinen wir, auch
sagen, wie man es machen will. Und hier ist die Antragskommission meines Erachtens an
der Sache vorbeigegangen. Sie verschiebt die Lösung dieser Frage auf den nächsten
ordentlichen Parteitag. Wir hätten es für erforderlich gehalten, daß wir uns bekennen. Vor
der Beantwortung der Frage: »Sozialdemokraten, wie haltet ihr's mit der
Gesundheitspolitik?«, brauchen wir uns nämlich nicht zu scheuen. Aber wir können sie
auch nicht mehr länger vor uns herschieben ...

Was wir nicht wollen, ist, daß das Geschäft mit der Gesundheit im Vordergrund steht.
Vielmehr wollen wir die Sorge um den Menschen als öffentliche Aufgabe.

Wer das will, muß zu einigen Punkten deutlich machen, daß wir auch bereit sind, heiße
Eisen anzufassen.

Dazu gehören erstens der jetzt in die Formulierung aufgenommene Anspruch des Bürgers
auf zeitlich unbegrenzte ambulante oder stationäre Behandlung und difl Feststellung, daß
niemand anders als nach der Schwere seiner Krankheit behandelt werden darf. Dazu
gehört zweitens - und hier bin ich anderer Meinung als der Kollege Bardens, der meint,
daß wir das nicht aufnehmen können, weil wir nicht wissen, ob wir es in vier Jahren
schaffen; dann müßte so manches aus diesem Programm gestrichen werden - der erklärte
Wille zum stufenweisen Ausbau der begrenzten Vorsorgeuntersuchungen zu allgemeinen
Vorsorgeuntersuchungen.

Dazu gehört drittens der Ausbau des Betriebsgesundheitswesens und das Recht der
Zulassung zur vollen Behandlung. Ich teile nicht die Meinung des Genossen Bardens, daß
das problematisch sei; denn wir haben nicht geschrieben, daß wir die Pflicht zur
Behandlung aufgenommen wissen wollen. Hierzu hat übrigens die 203

Bundesregierung bereits einen Gesetzentwurf verabschiedet. Warum soll eigentlich zu


dieser Frage nichts in unserer Wahlplattform stehen?

Dazu gehört viertens, daß das in den meisten Bereichen noch vorherrschende System der
Krankenhausklassen nach Armen und Reichen abgeschafft wird. Ich weiß gar nicht,
Genossinnen und Genossen, warum wir uns so scheuen, hier die Bezeichnung »klassenloses
Krankenhaus« zu verwenden ...

Horst-Werner Franke, Bremen: ...

Genossen, zum Schluß noch ein Won zu einer Sache, die mir unterschwellig in der
Ablehnung des Wortes »klassenlos« mitzuschwingen scheint, obwohl man es nicht
ausspricht. Deswegen will ich es tun. Ich glaube, wir scheuen uns, in Wahlplattformen die
Worte »klassenloses Krankenhaus« hineinzuschreiben, weil uns der Begriff »klassenlos«
möglicherweise als Sozialdemokraten diskreditieren könnte.

Genossen, die anderen vertreten aber gerade die Aufrechterhaltung der Klassen, die
anderen scheuen sich nicht, von den Klassen, die sie haben wollen, weiter zu sprechen. Die
anderen operieren mit dem Begriff der Klassen. Warum sollte in diesem speziellen Punkt
die sozialdemokratische Gegenposition »klassenlos«

belastend sein? Sie ist ein Ehrentitel, ein Ehrenwort, und nicht etwas, das uns diskreditiert.

(Beifall)

Dokument2

Brief von Gesundheitsminister Frau Käte Strobel an die Ärzte der BRD vom November
1972

Käte Strobel

53 Bonn-Bad Godesberg 1,

Bundesminister

Kennedyallee 105-107

für Jugend, Familie und Gesundheit

Telefon 7061

An alle

Arzte in der Bundesrepublik

Deutschland

Sehr geehrte Frau Doktor, sehr geehrter Herr Doktor!

Es mag Ihnen etwas ungewöhnlich erscheinen, daß die Bundesregierung sich mit diesem
offenen Brief unmittelbar an Sie wendet. Der Grund liegt darin, daß die gegenwärtige,
zuweilen recht heftig geführte gesundheitspolitische Diskussion zu einer gewissen Unruhe
bei einem Teil der Ärzteschaft geführt hat. Bei einigen von Ihnen besteht die Sorge, es sei
beabsichtigt, die Freiheit der ärztlichen Berufsaus

übung zu beschränken.

Diese Befürchtungen sind unbegründet. Die Bundesregierung hat nichts getan oder auch
nur angekündigt oder geplant, was eine solche Besorgnis rechtfertigen würde.

Bereits in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 ist zu den


Grundvoraussetzungen Ihres Berufs eindeutig Stellung genommen worden.
»Die Bundesregierung bekennt sich zum Grundsatz der freien Arztwahl und der freien
Berufsausübung der Heilberufe.«

204

Im Gesundheitsbericht der Bundesregierung von 1971 ist diese klare Aussage bekräftigt
und erläutert worden. In den vom Kabinett beschlossenen »Grundsätzen zur
Gesundheitspolitik« heißt es:

»Die Bundesregierung begrüßt und fördert die freie Initiative und das Engagement vieler
Träger, Einrichtungen, Berufe und Personen im großen Aufgabengebiet des
Gesundheitswesens. Sie hält die gegenwärtige Form des Wirkens und Zusammenwirkens
von freien Kräften und Staat für die unserer Gesellschaft gemäße Praxis des
Gesundheitswesens. Sie will auf dieser Basis für die Menschen die Sicherung der
Gesundheit und die Hilfe und Heilung bei Krankheit weiter ausbauen.«

Mitglieder der Bundesregierung sowie führende Vertreter der sie tragenden Parteien
haben diese unabdingbaren Grundsätze im Bundestag, auf den Deutschen Ärztetagen und
auch bei vielen anderen Veranstaltungen nicht nur der Ärzteschaft, sondern auch bei
anderen Organisationen immer wieder bekräftigt. Diese Haltung der Bundesregierung ist
auch von den Vertretern der Ärzteschaft anerkannt worden.

Wir sollten es alle begrüßen, daß die Gesundheitspolitik zu einem wichtigen Thema der
innenpolitischen Diskussion geworden ist, denn keine Politik kann ohne das echte Interesse
und Engagement der Offentlichkeit, den offenen Dialog und ohne die zum Wesen der
Demokratie gehörende freimütige Auseinandersetzung über strittige Fragen wirklich zu
gangbaren Lösungen kommen. Es muß unser gemeinsames Ziel sein, im Interesse der
Gesundheit der Bevölkerung unser System der Gesundheitssicherung weiter zu entwickeln
und zu verbessern. Diese Notwendigkeit wird von niemandem ernsthaft bestritten. Dabei
müssen wir aber erkennen, daß es keine umfassenden Patentrezepte gibt und geben kann.

Die Bundesregierung weiß, daß Verbesserungen und Fortschritte auf dem Gebiet des
Gesundheitswesens ohne die Mitwirkung der Arzte nicht möglich sind.

Gesundheit_spolitik ist gewiß nicht nur die Aufgabe des Staates oder staatlicher
Einrichtungen oder der Ärzteschaft und ihrer Organisationen, sondern gemeinschaftliche
Aufgabe und zugleich Verpflichtung aller in unserer Gesellschaft tätigen Kräfte. Aus vielen
Beiträgen und Vorschlägen der jüngsten Zeit, so unterschiedlich sie auch sein mögen,
spricht die Bereitschaft, an der zukünftigen Entwicklung unseres Gesundheitswesens
mitzuwirken und mitzuhelfen. Wir wissen, daß sich die Ärzteschaft ihrer besonderen
Verantwortung bewußt ist und daß sie wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft
bereit sein wird, mit Vorschlägen und auch Kritik mitzuwirken.

Gerade im Gesundheitswesen, in dem sich weite Bereiche für eine gesetzliche Regelung
nicht eignen, ist das gegenseitige Vertrauen unerläßliche Voraussetzung für den Erfolg der
gemeinsamen Bemühungen; das Vertrauen zwischen Arzt und Patient, aber auch das
Vertrauen zwischen freien Kräften und Staat. Nur wenn dieses Vertrauen zerstört oder
auch nur ernsthaft gestört wird, ist unser Gesundheitswesen und mehr als das wirklich in
Gefahr.

Für uns sind nach wie vor die Freiheit der Berufswahl, die Niederlassungsfreiheit, die freie
Berufsausübung und die freie Arztwahl unabdingbare Bestandteile unserer freiheitlichen
Demokratie.

Mit freundlichen Grüßen

Käte Strobel

205

Dokument3

Initiativgesetzentwurf der SPD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg -

Drucxsache 6/1690 vom 15. 2. 1973

Der Landtag wolle beschließen, dem nachstehenden Initiativgesetzentwurf seine


Zustimmung zu erteilen:

Entwurf eines Krankenhausgesetzes

Der Landtag hat am ........• das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird:
ERSTER ABSCHNITT

Sicherstellung der Krankenhausversorgung und Krankenhausplanung

§ 1 Sicherstellung

Das Land sowie die Stadt- und Landkreise stellen die Krankenhausversorgung der
Bevölkerung als öffentliche Aufgabe sicher.

§ 2 Trägerschaft

Krankenhäuser können von öffentlich-rechtlichen, freigemeinnützigen und privaten


Trägern errichtet und unterhalten werden.

§ 3 Aufstellung des Krankenhausbedarfsplanes

(1) Zur Versorgung der Bevölkerung mit Krankenhausleistungen erstellt die


Landesregierung einen Krankenhausbedarfsplan. Er sieht ein System leistungsfähiger
Krankenhäuser für die Grund-, Regel- und Zentralversorgung vor und schließt die
Geriatrie, die stationäre und teilstationäre psychiatrische Versorgung und den Ausbau von
Rehabilitationseinrichtungen in Verbindung mit Krankenhäusern ein.

Der Krankenhausbedarfsplan muß auch eine Gliederung nach Akut- und


Langzeitkrankenhäusern enthalten.
(2) Der Krankenhausbedarfsplan weist den Bedarf an Krankenhausbetten nach Zahl und
Standort und die hierzu erforderlichen Krankenhäuser aus.

(3) Der Bedarf an Krankenhäusern ist insbesondere nach der Bevölkerungszahl und -
struktur, der Verweildauer, der Bettenausnutzung, der Morbidität, der
Krankenhaushäufigkeit sowie nach der sonstigen ärztlichen und medizinischen Versorgung
zu bestimmen.

(4) Bei der Aufstellung des Krankenhausbedarfsplans sind Versorgungsgebiete zu bilden,


in denen die Krankenhäuser nach fachlichen und organisatorischen Erfordernissen zu
einem bedarfsgerecht gegliederten System zusammengefaßt werden. Die Krankenhäuser
sind entsprechend dem Bedarf des Versorgungsgebietes nach ihrer Größe, Ausstattung
und Zwecxbestimmung aufeinander abzustimmen.

(5) Der Krankenhausbedarfsplan wird im Staatsanzeiger für Baden-Württemberg


veröffentlicht.

(6) Die Aufnahme eines Krankenhauses in den Krankenhausbedarfsplan wird durch


Bescheid des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung festgestellt.

§ 2 Durchführung des Krankenhausbedarfsplanes

(1) Auf der Grundlage des Krankenhausbedarfsplanes sind nach § 6 Abs. 1 des Gesetzes
zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der 206

Krankenhauspflegesätze - KHG - vom 29. Juni 1972 (BGBL I S. 1009) die Programme zur
Durchführung des Krankenhausbaues und deren Finanzierung aufzustellen.

(2) Die Programme werden vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung
im Einvernehmen mit dem 1nnenministerium und dem Finanzministerium aufgestellt und
fortgeschrieben; sie bedürfen der Zustimmung der Landesregierung.

(3) Die Landesregierung bestimmt durch Rechtsverordnung die sonstigen wesentlich


Beteiligten, die nach § 6 Abs. 3 Satz 1 KHG bei der Aufstellung des
Krankenhausbedarfsplanes und der Programme anzuhören sind.

ZWEITER ABSCHNITT

Pflichten der Krankenhausträger

§ 5 Geltungsbereich

Dieser Abschnitt gilt für alle Krankenhäuser, die in den Krankenhausbedarfsplan


aufgenommen sind.

§ 6 Krankenhausbettennachweis

(1) Es wird ein nach Versorgungsgebieten gegliederter Bettennachweis eingerichtet, der die
freien Bettenkapazitäten und die Belegungsquote der Krankenhäuser erfaßt sowie den
Krankentransport koordiniert. Er weist bei Bedarf stationäre Behandlungsmöglichkeiten
nach. Das Recht auf freie Krankenhauswahl bleibt unberührt.

(2) Die Krankenhausträger sind verpflichtet, dem Bettennachweis ihre freien


Bettenkapazitäten zu melden.

(3) Der Bettennachweis kann einer Leitstelle des Unfallhilfs- und Rettungsdienstes oder
einem Gesundheitsamt angegliedert werden.

(4) Das Nähere, insbesondere über Zahl, Standort, Verfahren und Kosten des
Bettennachweises sowie über die Form, den Inhalt und das Verfahren der Meldungen wird
durch Rechtsverordnung geregelt.

§ 7 Anspruch auf Aufnahme in ein Krankenhaus

(1) Wer nach ärztlicher Beurteilung der stationären Behandlung bedarf, hat Anspruch auf
Aufnahme in ein Krankenhaus.

(2) Der Anspruch auf Aufnahme richtet sich gegen den Träger des Krankenhauses.

(3) Der Krankenhausträger ist nach Maßgabe seiner stationären


Behandlungsmöglichkeiten zur Aufnahme von Patienten verpflichtet. Durch die Aufnahme
erlangt der Patient einen Anspruch auf eine seiner Krankheit angemessene Behandlung,
ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder soziale Stellung.

(4) Der Anspruch des Krankenhausträgers gegenüber dem Patienten oder seinem
Kostenträger auf Übernahme der Behandlungskosten bleibt unberührt.

(5) Unbeschadet der Aufnahmepflicht nach Absatz 3 besteht die Pflicht zur Hilfe in
Notfällen.

207

DRITTER ABSCHNITT

Innere Struktur der Krankenhäuser

§ 8 Geltungsbereich

Dieser Abschnitt gilt für Krankenhäuser, die Förderungsmittel nach dem KHG

erhalten, für die Krankenhäuser des Landes und für die Universitätskliniken; das
Hochschulgesetz bleibt unberührt.

§ 9 Arztliche und pflegerische Versorgung

(1) Der Anspruch des Patienten auf ärztliche und pflegerische Versorgung einschließlich
seiner Unterbringung im Krankenzimmer richtet sich nach Art und Schwere seiner
Erkrankung.

(2) Eine Differenzierung nach Pflegeklassen und ein besonderes Liquidationsrecht für
ärztliche Leistungen sind unzulässig.

§ 10 Gliederung der Krankenhäuser

(1) Krankenhäuser sind nach medizinischen Fachgebieten so aufzugliedern, daß die


einzelnen Fachabteilungen ein übersdiaubares Maß nidit übersdireiten.

(2) Soweit dies zur Verwirklichung der Ziele des Krankenhausbedarfsplans erforderlidi ist,
werden Größe, Ausstattung und Organisation der Abteilungen, Stationen, Funktions- und
Pflegeeinheiten und Krankenzimmer durch Rechtsverordnung bestimmt.

VIERTER ABSCHNITT

Förderung der Krankenhäuser

§ 11 Förderungsvoraussetzung

(1) Krankenhäuser werden in die Förderung nadi dem KHG nur einbezogen, wenn sie

1. die Verpfliditungen aus dem Zweiten und Dritten Abschnitt erfüllen oder 2. die
Förderung benötigen, um die Voraussetzungen zur Erfüllung dieser Verpflichtungen zu
sdiaffen.

(2) Die Förderung wird eingestellt, wenn die Krankenhäuser ihren Verpflichtungen aus
dem Zweiten und Dritten Absdinitt nicht nachkommen.

FÜNFTER ABSCHNITT

Verbundsystem der Datenverarbeitung

§ 12 Datenverarbeitung im Krankenhauswesen

(1) Die Landesregierung wird ermächtigt, Aufgaben aus dem Bereidi der
Krankenhausversorgung in ein Verbundsystem der Datenverarbeitung einzubeziehen.

(2) Die Krankenhausträger der Krankenhäuser, die in den Krankenhausbedarfsplan


aufgenommen sind, sind verpfliditet, die notwendigen medizinischen und wirtschaftlichen
Daten im Bereich der Krankenhausversorgung unter Wahrung der ärztlichen
Schweigepflidit weiterzuleiten und sich dem Datenverarbeitungssystem anzuschließen,
soweit die erforderlidien tedinischen Voraussetzungen gegeben sind.

208

(3) Das Nähere, insbesondere


1. die Mitwirkung der Krankenhausträger 1m Verbundsystem der Datenverarbeitung, 2.
die Abgeltung der Kosten durch die Krankenhausträger für die Inanspruchnahme des
Verbundsystems, 3. die Bestimmung der medizinischen und wirtschaftlichen Daten, die
nach Absatz 2 weiterzuleiten sind,

4. Beginn und Umfang des Anschlußzwanges sowie die Ausnahme von Anschlußzwang
wird durch Rechtsverordnung geregelt.

SECHSTER ABSCHNITT

Schlußbestimmungen

§ 13 Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am ... in Kraft.

14. 2. 1973 Walter Krause, Dr. Schieler, Weyrosta, Daffinger, Dr. Schröder und Fraktion

Begründung

Mit dem lnitiativgesetzentwurf eines Krankenhausgesetzes will die SPD-Fraktion die


Versorgung der Bevölkerung mit leistungsfähigen Krankenhäusern sicherstellen. Diesem
Ziel dient eine landesweite Planung (§§ 3 und 4). Der Krankenhausbedarfsplan des Landes
soll sich nicht auf die Krankenhäuser beschränken, die nach dem
Krankenhausfinanzierungsgesetz des Bundes gefördert werden. In die Planung sollen die
Geriatrie, die stationäre und teilstationäre psychiatrische Versorgung sowie der Ausbau
von Rehabilitationseinrichtungen einbezogen werden.

Bei der Ermittlung des Bedarfs an Krankenhäusern ist neben der Bevölkerungszahl, der
Verweildauer und der Bettenausnutzung auch die sonstige ärztliche und medizinische
Versorgung zu berücksichtigen.

Darüber hinaus sieht das Gesetz vor, die finanzielle Förderung nach dem
Krankenhausfinanzierungsgesetz des Bundes von der Voraussetzung abhängig zu machen,
daß die innere Struktur der Krankenhäuser verbessert wird (§§ 8 bis 11).

Diese Vorschriften gelten auch für die Universitätskliniken und alle Landeskrankenhäuser.

Für Krankenhäuser, die Förderungsmittel nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz


erhalten, für die Landeskrankenhäuser und die Universitätskliniken wird eine
Differenzierung nach Pflegeklassen und ein besonderes Liquidationsrecht für ärztliche
Leistungen nicht mehr zugelassen (§ 9). Anstelle des bisherigen Liquidationsrechts sollen
alle Ärzte im Krankenhaus feste Bezüge erhalten. Die Krankenhäuser sind nach
medizinischen Fachgebieten so aufzugliedern, daß die einzelnen Fachabteilungen ein
überschaubares Maß nicht überschreiten.

Mit einem Krankenhausbettennachweis und einem Verbundsystem der Datenverarbeitung


soll mehr Übersichtlichkeit und mehr Information im Krankenhauswesen ermöglicht
werden. Der Krankenhausbettennachweis weist bei Bedarf stationäre
Behandlungsmöglichkeiten nach - er berührt das Recht des Patienten auf freie
Krankenhauswahl nicht.

209

Dokument4

Antrag G 12 und G 15 (gleichlautend) an den Bundesparteitag der SPD in Hannover vom


10.-14. April 1973

Der Bundesparteitag möge beschließen:

1. Die Gesundheitspolitik muß sicherstellen, daß jedermann in der Bundesrepublik den


bestmöglichen Schutz für seine Gesundheit erhält und über alle Möglichkeiten informiert
wird, diesen Schutz zu erlangen.

Dazu ist erforderlich,

- daß ihm alle Möglichkeiten und Einrichtungen zur gesundheitlichen Vorsorge und zur
Früherkennung von Krankheiten offenstehen;

- daß er bei Gefährdung oder Schädigung seiner Gesundheit alle vorbeugenden und
heilenden Maßnahmen erhält, die notwendig sind, um die Gefahr abzuwenden und die
Gesundheit wiederherzustellen;

- daß er bei vorübergehenden oder dauernden körperlichen, geistigen oder psychischen


Schäden in die Lage versetzt wird, so gut wie möglich arbeiten und am gesellschaftlichen
Leben teilnehmen zu können.

Zu diesem Zweck muß das bisherige System der gesundheitlichen Versorgung durch ein
technisch und betriebswirtschaftlich rationell arbeitendes und bedarfsgerecht gegliedertes
System ersetzt werden, das lückenlos vorbeugende, früherkennende, heilende und
rehabilitierende Maßnahmen gewährleistet.

Auf dem Weg zu diesem Ziel

- sind alle Einrichtungen zu fördern, die eine traditionelle und optimale gesundheitliche
Betreuung ermöglichen, so vor allem miteinander zusammenarbeitende Zentren für
Beratung, Vorsorge, Diagnose und Behandlung;

- sind Ausbildungswege und Berufsbilder zu schaffen, die den Anforderungen dieser


Zentren entsprechen;

- sind die Leistungen der Träger der gesundheitlichen Sicherung zu harmonisieren und
weiterzuentwickeln und die Organisationsformen auf die Zielvorstellung auszurichten;

- ist die Honorierung der ärztlichen Tätigkeit auf der Grundlage einer staatlichen
Gebührenordnung zu harmonisieren;

- sind Planung und Ausbau aller Einrichtungen nach einem bundesweiten Bedarfsplan so
auszurichten, daß sie die geforderten Leistungen für jedermann leicht erreichbar
erbringen können.

2. Jeder hat das Recht auf Lebensumstände, die ihn vor Krankheit bewahren.

Dazu gehören:

- der umfassende Schutz gegen Gefahren der Umwelt;

- umfassende Sicherheit am Arbeitsplatz und die gesundheitliche Betreuung bei der Arbeit;

- der Schutz vor Stoffen und Erzeugnissen, die die Gesundheit gefährden oder schädigen.

3. Schutz der Gesundheit setzt Wissen, eigenes Interesse und Mitwirken voraus.

Deshalb sind

- alle Einrichtungen zu fördern und auszubauen, die Wissen über Gesunderhaltung


vermitteln und das Interesse daran wecken können;

- alle Maßnahmen dieser Einrichtungen zu koordinieren.

210

4. Bestmögliche Heilung ist nur zu erreichen, wenn Krankheiten früh erkannt werden.
Deshalb müssen

- rationelle und methodische Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten erforscht


und angewendet werden; alle Einrichtungen gefördert werden, die der Früherkennung
dienen;

- alle dafür personell und apparativ ausgestatteten Einrichtungen Untersuchungen zur


Früherkennung vornehmen, über die eine umfassende Dokumentation anzulegen ist;

geeignete Formen gefunden werden, um alle Bürger zu einer Beteiligung an den


Früherkennungsmaßnahmen anzuhalten.

5. Angeborene oder erworbene körperliche, geistige oder psychische Schäden können nur
gemildert oder beseitigt werden, wenn Vorsorge, Früherkennung, Heilung und
wiederherstellende Maßnahmen nahtlos ineinandergreifen.

Dazu ist erforderlich

- die Schadensfälle so früh wie möglich zentral zu erfassen;

- die für jeden Geschädigten jeweils besten Maßnahmen ohne Rücksicht auf seine
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Personengruppe sofort einzuleiten und

- ohne Unterbrechung bis zum bestmöglichen Erfolg durchzuhalten.

6. Eine umfassende und lückenlos ineinandergreifende Gesundheitsversorgung kann nur


überregional gewährleistet werden. Alle Institutionen, Träger und Einrichtungen sind
organisatorisch zusammenzufassen. Dazu ist erforderlich, aus einzelnen Einrichtungen und
Institutionen verschiedener Träger medizinisch-technisch, personell und
verwaltungsmäßig verbundene Einheiten zu bilden, die alle Leistungen erbringen können.

7. Auf diese Ziele ist die Gesetzgebung auszurichten. Im Gesundheitswesen ist dem Bund
die Gesetzgebungskompetenz zu geben, die es ihm ermöglicht, Schritt für Schritt, aber
doch in begrenztem Zeitraum zu bewirken,

- daß alle Bürger ohne Unterschied, die für die Gesundheit erforderlichen Leistungen
erhalten können;

daß Qualität und Preis der Medizinischen Leistungen für jedermann gleich sind;

daß nicht überlieferte Begrenzungen, sondern allein die Zweckmäßigkeit Maßstab für die
Zuordnung bestimmter Aufgaben zu einzelnen Heilberufen ist. Dabei ist die Entwicklung
neuer Berufsbilder zu fördern. Die Ausbildung ist darauf auszurichten;

- daß die medizinische Versorgung ungeachtet privatwirtschaftlicher Interessen gesichert


ist;

- daß die staatliche Aufsicht über das Gesundheitswesen so zu ordnen ist, daß sie
wirksamer wird.

Begründung:

Zu 1:

Das Gesundheits-»System« der Vergangenheit war auf die Sicherstellung der


Krankenversorgung ausgerichtet, d. h. der Mensch, der mit diesem System in Berührung
kam, befand sich bereits in einem akuten Stadium seiner Krankheit.

Nach dem derzeitigen System gibt es für ihn zwei Möglichkeiten, medizinische Leistungen
in Anspruch nehmen zu können:

211
1. durch den niedergelassenen Arzt in ambulanter Form (zur ambulanten Form zählen
auch die Leistungen der Polikliniken an Universitäts- und Lehrkrankenhäusern); 2. in der
Institution Krankenhaus als stationäre Versorgung (wobei man es als symptomatisch
bezeichnen kann, daß die Qualität dieser Institution heute noch durch die Anzahl der
vorgehaltenen Betten und nicht der medizinischen Leistungsstellen definiert wird).

Darüber hinaus bietet der öffentliche Gesundheitsdienst in äußerst beschränktem Umfang


Leistungen an, die ihm durch Gesetz als Aufgabe der Gesellschaft zugewiesen sind, z. B.
Umwelthygiene, schulärztliche Betreuung, Seuchenbekämpfung etc. Jede dieser an der
Gesundheitsversorgung beteiligten Organisationsreformen versucht, diese Aufgabe als in
sich geschlossene Einrichtung wahrzunehmen bzw.

darzubieten und gegen übergriffe aus anderen Zuständigkeitsbereichen zu verteidigen. Die


Folge davon sind neben Doppelleistungen und daraus resultierenden unnötigen
betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Kosten auch Verzögerung in der
Behandlung und vermeidbare Belastun�en für den Patienten.

Die Entwicklung der Medizin setzt heute zur Entfaltung ihrer vollen Wirksamkeit nicht
nur den Arzt, sondern auch entsprechende technische Einrichtungen voraus.

Dies wiederum bedingt ein entsprechend fachlich ausgebildetes Personal.

Die durch die Forschung bedingte Expansion des Wissensstoffs versetzt den im
Gesundheitswesen Tätigen immer weniger in die Lage, das notwendige Gesamtwissen zu
beherrschen. Die zunehmende Differenzierung bewirkt, daß die Medizin für den Patienten
unübersichtlich wird, bis er schließlich nicht mehr weiß, wohin bzw. an wen er sich mit
seinem Leiden wenden muß.

Bei dieser Spezialisierung entstehen wesentlich höhere Kosten für medizinische Leistungen.
Diesem Trend kann dadurch entgegengewirkt werden, daß man - beispielsweise -
bestimmte technische Leistungen automatisiert.

Hand in Hand mit einer Rationalisierung der medizinischen Versorgung muß eine
Harmonisierung auf dem Gebiet der Sozialen Krankenversicherung erfolgen, um den
unbefriedigenden Zustand zu beseitigen, daß für gleiche Leistungen unterschiedliche
Honorare gezahlt und unterschiedliche Beiträge gefordert werden.

In der Sozialen Krankenversicherung darf kein Platz mehr sein für Privilegien einzelner
Kassenarten und Personengruppen. Das bisherige Nebeneinander und -

schlimmer noch - Gegeneinander der Kassenverbände und Kassen verbaut den


Sozialversicherten die Durchsicht, verursacht unverantwortliche Reibungsverluste und
schwächt nicht zuletzt auch die Verhandlungsposition der Versicherten-Vertretungen.

Zu 2:

Auf diesem Gebiet ist stark der öffentliche Gesundheitsdienst angesprochen. Er sollte
einmal in die Lage versetzt werden, seine bisherigen Aufgaben wirklich effektiv
wahrzunehmen, darüber hinaus den Schutz der Gesundheit vor den zunehmenden
Umweltgefahren sicherzustellen.

Die arbeitsmedizinische und sicherheitstechnische Beratung und Betreuung der


arbeitenden Menschen ist für ihre Gesunderhaltung von besonderer Bedeutung.

Die körperlichen und seelischen Belastungen am Arbeitsplatz bestimmen heute in weitem


Maße das gesundheitliche Schicksal vieler Arbeitnehmer. Deshalb sind Arbeitsmittel,
Arbeitsverfahren und Arbeitsbedingungen an den Menschen anzupassen, ebenso wie dem
Menschen die Möglichkeit gegeben werden muß, sich auf diese Bedingungen einzustellen.

212

Eine spürbare Verbesserung der gesundheitlichen Betreuung der Arbeitnehmer in


Betrieben und Verwaltungen kann nur auf der Grundlage gesetzlicher Vorschriften
erreicht werden. Insofern unterstützen wir die Forderungen des DGB ...

Zu 4:

Mit den gesetzlichen Bestimmungen über die Früherkennung von Krankheiten ist erst ein
Anfang der umfassenden vorsorgenden ärztlichen Betreuung der gesamten Bevölkerung
gemacht. Die ersten Erfahrungen zeigen, daß von den damit gegebenen Möglichkeiten nur
zögernd Gebrauch gemacht wird. Dies liegt offenbar nicht nur daran, daß die Aufklärung
über die Früherkennung noch lückenhaft ist, sondern vor allem daran, daß die Form des
Angebots durch die frei praktizierenden Ärzte nicht ausreicht.

Als zweckmäßigste Lösung bietet sich an, die ärztlichen und technischen Kapazitäten der
Krankenhäuser lückenlos in die Früherkennung einzuschalten.

Es ist auch nicht einzusehen, warum schon vorhandene staatliche Einrichtungen nicht für
die Früherkennung genutzt werden sollen. Wenn alle denkbaren Träger Material zu einer
umfassenden zentralen Dokumentation liefern könnten, dürfte sich schon bald klarer
abzeichnen, wo neue Schwerpunkte der Früherkennung gesetzt werden müssen.

Das Interesse und die Teilnahme der Bürger an der Früherkennung könnte durch ein
breiteres und bequemeres Angebot erhöht werden, das allein dürfte aber nicht ausreichen.
Neben einer verbesserten Information sind deshalb materielle Anreize zu erwägen,
beispielsweise in Form verminderter Beiträge zur Krankenversicherung bei lückenloser
Inanspruchnahme der früherkennenden Maßnahmen.

Von besonderem Gewicht ist die Entwicklung effektiver rationeller Maßnahmen zur
Früherkennung; Untersuchungen in dieser Hinsicht müßten angestellt werden.

Eines der größten I-{emmnisse bei der Inanspruchnahme ist der dafür erforderliche
zeitliche Aufwand. Je rationeller und gleichzeitig bevölkerungsnäher die Einrichtungen
arbeiten können, desto breiter kann die Streuung der Maßnahmen werden.

Zu 5:
Wie früher andere Gesellschaften, hat auch die Industriegesellschaft gängige »normale«
Kriterien entwickelt, nach denen Menschen bewertet werden (Einkommen, sozialer Rang
und persönliche Wertschätzung, erworben durch Arbeitsleistung, Verantwortlichkeit und
Kontaktfähigkeit). Der Mensch mit angeborenen körperlichen, geistigen oder psychischen
Schäden steht auf der Wertskala am Schluß. Da er am »normalen« Rollenverhalten
gemessen wird, wird er in die Rolle des Außenseiters abgedrängt.

Gesellschaft und Staat haben die gleiche Verantwortung für die körperlich und seelisch
Kranken sowie für die körperlich und geistig Behinderten.

Ziel sozialdemokratischer Gesundheitspolitik muß es sein, zwischen dem Rechtsanspruch


auf freie Entfaltung der Persönlichkeit derjenigen Bürger, die durch körperliche, geistige
oder psychische Schäden stark benachteiligt sind bzw. für die die Gefahr solcher
Beeinträchtigungen besteht,

und

dem derzeitigen überwiegend mangelhaften, vielfach nur gewinnorientierten Angebot der


gesundheitlichen Betreuung der geschädigten Mitbürger einen angemessenen Ausgleich
herzustellen.

Dieser Anspruch kann nur erfüllt werden, wenn alle Maßnahmen und Hilfen nach neuen
Erkenntnissen hinsichtlich Vorsorge, Früherkennung, Diagnose, Therapie und
Rehabilitation sofort angewandt und ohne Unterbrechung durchgeführt 213

werden. Sozialer Status des Geschädigten und die Höhe der entstehenden Kosten dürfen
dabei keine Rolle spielen ...

Zu 7:

Die volle Gesetzgebungskompetenz des Bundes ist vonnöten, damit dieser auch außerhalb
der gesetzlichen Krankenversicherung bundeseinheitlich Ordnungsfunktionen
wahrnehmen kann. Dies ist ihm bisher nur auf einigen Gebieten (z.B.

Seuchengesetzgebung, Regelung der Krankenhausfinanzierung und der


Krankenhauspflegesätze, Zulassung zu den Heilberufen, der Lärmbekämpfung, der
Luftreinhaltung, Lebensmittelgesetzgebung, Arzneimittelsektor) möglich. Nur aufgrund
einer Rahmengesetzgebungskompetenz kann der Bund heute versuchen, den schlimmsten
Auswüchsen der Wasserverunreinigung zu wehren, nur mittelbar kann er versuchen, einen
bescheidenen Einfluß auf die regionale Verteilung der Krankenhäuser, ihre Kapazität und
ihre innere Struktur zu nehmen. Ganz verwehrt ist es ihm, über die Seuchengesetzgebung
hinaus und außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung
gesetzgeberische Maßnahmen z.B. auf dem Gebiete der Jugendzahnpflege sowie der
Gesundheitsbetreuung von Klein- und Schulkindern zu treffen. Gerade auf diesen
Gebieten traten deshalb beträchtliche Leistungsunterschiede zwischen den einzelnen
Bundesländern ein. Die Gesundheitschancen der jungen Bundesbürger hängen also
entscheidend davon ab, in welchem Land ihre Eltern zufällig wohnen.
Auf dem Gebiet der Zulassung zu den Heilberufen und damit auch der Formung der
Berufsbilder verfügt der Bund zwar über die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz,
sollte sie aber in Zukunft verstärkt auch zur Schaffung neuer Berufsbilder nutzen. Die
Zahl der Ärzte dürfte auch bei einer erheblichen gesteigerten Ausbildungskapazität in
Zukunft kaum ausreichen, um den Anforderungen, die neue Erkenntnisse, gewandelte
Erwartungshaltungen sowie gesellschaftliche und umweltbedingte Faktoren an die
gesundheitliche Betreuung stellen, gerecht zu werden. Darum wird man um die Schaffung
neuer, nichtärztlicher Berufsbilder nicht herumkommen. Man sollte dabei aber immer
prüfen, inwieweit diese neuen Berufe durch eine entsprechende spezialisierte Ausbildung in
die Lage versetzt werden können, Funktionen und Tätigkeiten zu übernehmen, die heute
noch traditionell dem Arzt vorbehalten sind.

Dokument 5

Initiativantrag Nr. 24 an den Parteitag in Hannover, formuliert von Dr. Horst Schmidt

Der Antrag entspricht den Voraussetzungen der Ziffer 9 der Geschäftsordnung.

Der Parteitag möge beschließen:

Gesundheitspolitische Leitsätze

Der als Material zum Parteitag vorgelegte Entwurf der gesundheitspolitisd1en

Leitsätze der SPD bedarf der Überarbeitung, Konkretisierung und Ergänzung.

Für die Überarbeitung der Leitsätze sind insbesondere folgende Gesichtspunkte zu


berücksichtigen:

1. Gesundheitspolitik muß die Voraussetzung dafür schaffen, daß alle Bürger unabhängig
von ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage die gleichen Chancen zur Erhaltung und
Wiederherstellung ihrer Gesundheit erhalten 214

- durch einen Ausbau der Vorsorge, Früherkennung, Behandlung und Rehabilitation


entsprechend dem jeweiligen Erkenntnisstand der Wissenschaft.

2. Zu diesem Zweck muß unser System der gesundheitlichen Versorgung so


weiterentwickelt und verbessert werden, daß es technisch und betriebswirtschaftlich
rationell arbeitet, bedarfsgerecht gegliedert ist und ineinandergreifende vorbeugende,
früherkennende, heilende und rehabilitierende Maßnahmen gewährleistet. Dabei müssen
niedergelassene Ärzte, Krankenhaus und öffentlicher Gesundheitsdienst unter Abbau der
bestehenden starren Schranken eng zusammenarbeiten.

3. Die gesundheitspolitischen Maßnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden sind so zu


koordinieren, daß auch in diesem Bereich die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse voll
gewährleistet wird. Bund und Länder müssen die ihnen gegebenen Kompetenzen und
Möglichkeiten voll nutzen.
4. Der Ausbau der Gesundheitsvorsorge und der Früherkennung von Krankheiten haben
vorrangige Bedeutung. Durch planmäßige Aufklärung ist die Bevölkerung mit allen
Möglichkeiten der Gestaltung eines gesunden Lebens und der Vorbeugung gegen
Krankheiten einschließlich der Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen
vertraut zu machen. Es sind schnellstmöglich die Voraussetzungen zu schaffen, daß weitere
gezielte Früherkennungsuntersuchungen - vor allem zur Bekämpfung der modernen
Zivilisationskrankheiten - in den Leistungskatalog der sozialen Krankenversicherung
aufgenommen werden.

An den Maßnahmen zur Vorsorge und Früherkennung sind außer den niedergelassenen
Ärzten auch die Krankenhäuser, der öffentliche Gesundheitsdienst und andere
Organisationsformen, wie zum Beispiel medizinischtechnische Zentren zu beteiligen.

5. über die Früherkennung hinaus erfordert die wissenschaftliche und technische


Entwicklung der Medizin zur Sicherstellung der ambulanten ärztlichen Versorgung
insbesondere in den ländlichen und Stadtrandgebieten neben der herkömmlichen Praxis
und neuen Formen gemeinsamer ärztlicher Berufsaus

übung die Schaffung von medizinisch-technischen Einrichtungen, in denen die


fortschreitende Technologie der Bevölkerung voll verfügbar gemacht wird.

Diese könnten sowohl von den Kassenärztlichen Vereinigungen, den Krankenhäusern, den
Kommunen und anderen Trägern, zum Teil auch als Gemeinschaftseinrichtungen,
errichtet werden. Sie müssen auch aus wirtschaftlichen Erwägungen sowohl für die
ambulante wie für die stationäre Diagnostik genutzt werden.

6. Die starre Abgrenzung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung ist, vor allem
für die vorstationäre Diagnostik und die ambulante Nachbehandlung durch die
Krankenhäuser, zu überwinden. Dies ist besonders für die Behandlung von psychisch
Kranken von Bedeutung. Entgegenstehende rechtliche Bestimmungen sind zu ändern.

7. Die begonnene Krankenhausreform ist konsequent fortzuführen mit dem Ziel,


Unterschiede in Behandlung und Pflege voll zu beseitigen, hierarchische Strukturen
abzubauen, eine leistungsgerechte Honorierung aller Krankenhausärzte bei gleichzeitigem
Abbau der Privatliquidation einzuführen und dem Krankenhauspersonal konkrete
Mitbestimmungsrechte zu sichern.

215

8. Die Gebührenordnung muß kostenneutral so umgestaltet werden, daß den technischen


Leistungen der Vorrang genommen wird und Anreize entstehen, den eigentlichen
ärztlichen Leistungen wie der eingehenden Untersuchung und der Beratung das
Hauptgewicht zu geben.

9. Die Arzneimittelsicherheit ist durch eine schnelle Reform des gesamten


Arzneimittelrechts bestmöglichst zu gewährleisten. Diese soll auf folgenden Grundsätzen
beruhen:
- Voraussetzung für die Zulassung eines Arzneimittels durch das Bundesgesundheitsamt
ist, daß der Hersteller den Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit und der
Unschädlichkeit führt, wobei den Besonderheiten von Naturheilmitteln angemessen
Rechnung zu tragen ist.

- Das Bundesgesundheitsamt erhält eine umfassende Auflagenbefugnis, um sicherzustellen,


daß aus den Packungsbeilagen, der Information und der Werbung das Anwendungsrisiko
eindeutig hervorgeht.

- Ein Beobachtungs- und Alarmsystem zur Erfassung von Nebenwirkungen und sonstiger
Risiken aller auf dem Markt befindlichen Arzneimittel soll gesetzlidi verankert werden.

- Die Möglichkeiten, gefährliche Arzneimittel aus dem Markt zu ziehen, müssen erweitert
und somit wirksamer gestaltet werden.

10. Gleichzeitig ist durch eine erweiterte objektive Information über Qualitätsvergleiche,
Wirkung und Preiswürdigkeit der Arzneimittel eine bessere überschaubarkeit des
Arzneimittelangebotes zu schaffen. Diese dient, ebenso wie die notwendige Stärkung der
Stellung der Versicherungsträger auf dem Arzneimittelmarkt, auch dem Schutz vor
überhöhten Preisen.

Es muß überprüft werden, ob die in der endgültigen Fassung der gesundheitspolitischen


Leitsätze vorgeschlagenen Maßnahmen Kosten verursachen, die über den im
»Orientierungsrahmen« vorgesehenen Anteil am Bruttosozialprodukt hinausgehen.

Begründung:

Da es auf dem Parteitag nicht möglich ist, eine ausführliche gesundheitspolitische


Diskussion zur Überarbeitung der Leitsätze zu führen, bedarf es einiger
richtungsweisender Aussagen von grundsätzlicher Bedeutung zu umstrittenen Fragen bei
der Weiterentwicklung unseres Systems der Gesundheitssicherung, die zur Verdeutlichung
und Konkretisierung der Leitsätze auch als Grundlage für die entsprechenden Abschnitte
des neuen Orientierungsrahmens notwendig sind.

Dokument6

Initiativantrag Nr. 25 an den Parteitag in Hannover, formuliert von Joseph Scholmer

Der Antrag entspricht den Voraussetzungen der Ziffer 9 der Geschäftsordnung.

Der Parteitag möge beschließen:

Der Parteitag möge den Antrag G 15 (Vorlage 3, Seite 104-111) nach Ziffer 7

durch die nachfolgenden 12 gesundheitspolitischen Forderungen ergänzen und durch


Beschluß zur gesundheitspolitischen Plattform der SPD erheben.

Diese Plattform soll die Grundlage für ein gesundheitspolitisches Programm der SPD
darstellen. Zu seiner Erstellung ist eine Programmkommission aus den Ver-216

tretern der Bezirke und des Parteivorstandes zu bilden, deren Arbeit innerhalb eines
Jahres abzuschließen ist.

Im Anschluß an G 15, Ziffer 7:

Für den Anfang der Verwirklichung dieses Reformprogramms sind als nächste die
folgenden Maßnahmen erforderlich:

1. Die mit dem 1. Juli 1971 eingeführten begrenzten Vorsorgeuntersuchungen sind


stufenweise zu allgemeinen Vorsorgeuntersuchungen für die gesamte Bevölkerung
auszubauen. Als nächste Maßnahme hierzu sind Herz und Kreislauf in die
Vorsorgeuntersuchungen einzubeziehen.

Um den Sozialversicherten moderne Labortests zu ermöglichen, sind in Übereinstimmung


mit dem Gesundheitspolitischen Programm des DGB Medizinisch-Technische Zentren
einzurichten oder regionale Diagnostikzentren für Vorsorgeuntersuchungen zu schaffen.

2. In allen Krankenhäusern ist die Unterteilung der Patienten in Kassenpatienten und


Privatpatienten grundsätzlich abzuschaffen. Der sozial ungerechte Typ des traditionellen
Mehrklassenkrankenhauses ist in den sozial gerechten Typ des klassenlosen
Krankenhauses umzuwandeln.

Die Belegung der Betten hat ausschließlich nach medizinischen Kriterien (Schwere der
Krankheit usw.) zu erfolgen. Zuschüsse der öffentlichen Hand an Krankenhäuser sind nur
dann zu gewähren, wenn diese Reform seitens der Träger eingeleitet wird. Die Gewährung
öffentlicher Mittel für Krankenhausneubauten wird an die Planung klassenloser
Krankenhäuser gebunden.

3. Alle Krankenhäuser haben das Recht, nach dem Modell der Universitätskliniken eigene
Polikliniken oder Ambulatorien einzurichten. Jeder Sozialversicherte hat das Recht, diese
Institutionen ohne Überweisung durch den freipraktizierenden Arzt aufzusuchen. Die
Einbeziehung der Krankenhäuser in die ambulante medizinische Versorgung der
Bevölkerung muß rechtlich gesichert werden. Entgegenstehende gesetzliche Bestimmungen
sind zu ändern.

4. Das gegenwärtige Chefarztsystem in den Krankenhäusern wird durch ein ärztliches


Kollegialsystem ersetzt. Die Privatliquidationen der leitenden Arzte sind im
Zusammenhang mit einer Reform der Vergütungsstrukturen sämtlicher
Krankenhausärzte schon jetzt abzubauen. Es sind keine Anstellungsverträge mehr
abzuschließen, in denen dieses Recht enthalten ist.

Der Krankenhausleitung gehören Vertreter aller im Krankenhaus tätigen Berufsgruppen


an.

5. Das Betriebsgesundheitswesen ist auszubauen. Der werksärztliche Dienst hat


grundsätzlich von der Unternehmensleitung unabhängig zu sein. In allen Großbetrieben
mit mehr als 5000 Beschäftigten sind Betriebspolikliniken einzurichten. Alle Werksärzte
haben das Recht der vollen Behandlung der Betriebsangehörigen.

6. Die ärztliche Versorgung auf dem Lande und in den Stadtrandgebieten ist
sicherzustellen. Dazu ist es erforderlich

a) die Niederlassung von Arzten auf dem Lande durch großzügige materielle
Vergünstigungen zu fördern; b) in Übereinstimmung mit dem Deutschen Landkreistag an
den Landkrankenhäusern beschleunigt Ambulatorien zu errichten; 217

c) in ärztlich stark unterversorgten Gebieten mobile Ambulatorien einzusetzen.

Darüber hinaus sind wirksame gesetzliche Regelungen für den Fall zu schaffen, daß die
genannten Maßnahmen nicht ausreichen.

7. Als gemeinsame Einrichtung der beteiligten Sozialversicherungsträger ist ein


unabhängiger sozialärztlicher Dienst in Form der Körperschaft des öffentlichen Rechts zu
errichten. Seine Selbstverwaltungsorgane werden von der Selbstverwaltung der beteiligten
Träger bestimmt. Von ihnen wird auch die Finanzierung anteilig getragen.

8. Im Zuge einer langfristigen Planung sind die ghettoartigen Landesheilanstalten und


psychiatrischen Großkliniken aufzulösen. An ihrer Stelle sind in Schwerpunkt- und
Allgemeinkrankenhäusern psychiatrische Abteilungen einzurichten. Auf diese Weise
bleiben die Kranken im Kontakt mit ihren Familien und können besser als bisher der
Resozialisierung und beruflichen Rehabilitation zugeführt werden.

9. Das Arzneimittelwesen ist neu zu ordnen. Die Zahl der auf dem Markt befindlichen
Arzneimittel ist wesentlich zu vermindern. Neue Medikamente bedürfen der Lizensierung
durch eine staatliche Arzneimittelkommission. Die Lizensierung darf nur bei Vorliegen
eines nachweisbaren Bedarfs und nach wissenschaftlicher Prüfung durch staatliche
Institute erfolgen.

10. Es sind wirksame Maßnahmen zu treffen mit dem Ziel, die Beiträge zur gesetzlichen
Krankenversicherung auf dem gegenwärtigen prozentualen Beitragssatz konstant zu
halten. Dabei sollen die unvermeidlichen Ausgabensteigerungen für die Krankenanstalten
zu Lasten der Honorare für Arzte und Zahnärzte sowie der Ausgaben für Arzneimittel
gehen.

11. Da die Arbeitgeber den von ihnen zu zahlenden Anteil an den


Krankenversicherungsbeiträgen über die Preise auf die Verbraucher, das heißt:
überwiegend auf die Sozialversicherten selbst abwälzen, haben sie keinen Anspruch auf
eine paritätische Vertretung in den Organen der gesetzlichen Krankenversicherung.
Deshalb scheiden die Arbeitgeber aus den Leitungsgremien der gesetzlichen
Krankenversicherung aus.

12. Die gesetzlichen Krankenversicherungen werden mit dem Ziel der Einführung einer
Volksversicherung für alle Personengruppen geöffnet.
Begründung

Mit der Verabschiedung des »Gesundheitspolitischen Programms« des Deutschen


Gewerkschaftsbundes auf dessen Berliner Bundeskongreß im Mai 1972 sind erstmals
Forderungen erhoben worden, die sich bewußt an den Interessen der Arbeitnehmer
orientieren. Leider ist dieser gewerkschaftlichen Initiative kein inhaltlich entsprechender
Programmentwurf der SPD gefolgt, der den gesundheitspolitischen Ansprüchen der
Sozialversicherten in gleicher Weise gerecht geworden wäre.

Die vom Gesundheitspolitischen Ausschuß beim Parteivorstand im Juni 1972 vorgelegten


»Leitsätze« bieten zumeist nur Absichtserklärungen und Leerformeln an.

Sie eignen sich nicht als Diskussionsbasis.

Inzwischen hat sich die Krise des Gesundheitswesens weiter verschärft, vor allem im
finanziellen Bereich. Die gesetzliche Krankenversicherung belastet die Sozialversicherten
mit Beitragssteigerungen, die für einkommensschwache Arbeitnehmerschichten in Zukunft
nicht mehr tragbar sind. Unter den vermeidbaren Faktoren 218

sind ein überhöhter Honoraranstieg für Arzte und Zahnärzte sowie ungerechtfertigte
Preissteigerungen für Arzneimittel besonders anzuführen. Den wachsenden Ausgaben der
gesetzlichen Krankenversicherung, die für 1973 vom Bundesministerium für Arbeit und
Sozialordnung auf rund 40 Milliarden DM geschätzt werden, stehen keine entsprechenden
Leistungsverbesserungen gegenüber. Die seit Juli 1971 gesetzlich eingeführten
Vorsorgeuntersuchungen für Sozialversicherte werden überwiegend auf die freie ärztliche
Praxis beschränkt und haben sich deshalb in wesentlichen Teilen als ein Fehlschlag
erwiesen. Für die vorbeugende Medizin ist eine Entwicklung in Gang gekommen, »die dazu
führt, daß moderne Methoden - insbesondere im Bereich der diagnostischen Technik -
nicht für den von der sozialen Krankenversicherung erfaßten Personenkreis nutzbar
gemacht werden, sonderen einkommensstarken Schichten vorbehalten bleiben«
(Gesundheitspolitisches Programm des DGB).

Als führende Regierungspartei, die sich zudem als der Arbeitnehmerflügel in der
westdeutschen Gesellschaft versteht, kann die SPD zu dieser, die Sozialversicherten mehr
und mehr benachteiligenden Entwicklung im Gesundheitswesen nicht schweigen. Sie muß
auf diesem Parteitag eine programmatische Erklärung dazu abgeben und ihren festen
Willen bekunden, die Krise im Gesundheitswesen zu überwinden.

In dieser Absicht wurden 1970 dem Saarbrücker Parteitag 19 gesundheitspolitische


Anträge vorgelegt, die eine entschiedene Reform des Gesundheitswesens forderten.

In den folgenden Jahren wurden in zahlreichen Landesverbänden oder Bezirken und


Unterbezirken gesundheitspolitische Programme verabschiedet, die dem Anspruch der
modernen Industriegesellschaft gerecht zu werden suchen. Auch auf dem Dortmunder
Parteitag sprachen sich zahlreiche Delegierte für eine Strukturreform des
Gesundheitswesens aus. Ferner ist diesem Parteitag nach einem Beschluß des Saarbrücker
Parteitags aufgetragen, ein gesundheitspolitisches Programm für die Sozialdemokratie zu
verabschieden.
Dokument 7

Bilanz der gesundheitspolitischen Ereignisse beim SPD-Parteitag in Hannover, gezogen von


der Arztezeitschrift »Status« in Nr. 10/73:

» Was sich bereits seit einiger Zeit abzeichnete, traf auf dem ordentlichen Bundesparteitag
der SPD in Hannover ein: Die Gesundheitspolitik der führenden Regierungspartei bewegt
sich auf Linkskurs. Bereits anläßlich des XIII. Bundeskongresses der Arbeitsgemeinschaft
sozialdemokratischer Arzte und Apotheker (ASA) in Freiburg Anfang April dieses Jahres
wurde deutlich, daß die »Basis« (Beispiele: Heidelberg, Hannover) Gesundheitspolitik
nicht länger einer von »elitärem Denken« geprägten Gruppe einer »Standes-politischen
Vertretung in der SPD« (so in einem Kommentar des gesundheitspolitischen Publizisten
Peter Paul Henckel im parteioffiziellen » Vorwärts« Nr. 6) allein überlassen will.

Bereits lange vor Beginn der Hannoveraner Veranstaltung wurde die Trommel kräftig
gerührt, um die Genossen auch auf gesundheitspolitischem Gebiet auf konsequenten
Linkskurs zu bringen. Das unterstreichen beispielsweise einseitig auf die Person des
gesundheitspolitischen Obmannes und Bundestagsabgeordneten der SPD, Dr. med. Hans
Bardens MdB, zugeschnittene Artikel und Kommentare im parteioffiziellen » Vorwärts«,
die zuvor schon von der ehemaligen Gesundheits-219

ministerin Käte Strobel als »Diffamierungskampagne« und als »ungeredit und unfair«
bezeidinet wurden.

Ungeaditet dessen unternahm der »Arzt und Publizist« Joseph Sdiolmer mit seinem
Artikel »Nadihinken ist ungesund« (in der Parteitagsausgabe des » Vorwärts«) den
Versudi, dem Parteitag eine eindeutige gesundheitspolitisdie Marsdizahl auf den Weg zu
geben. Erneut wurde die ASK und deren »konservative Mehrheit« als Lobby der
freipraktizierenden Krzte in der SPD apostrophiert, die

»ein fortsdirittlidies gesundheitspolitisdies Programm bisher verhindert hat«

(Sdiolmer). Und wörtlidi hieß es: »Sie beeinflußt audi den gesundheitspolitischen Aussdiuß
beim Parteivorstand, dem unter anderem der Vorsitzende des Verbandes der
niedergelassenen Krzte Deutsdilands, Kaspar Roos, als Mitglied angehört.

Andere Aussdiußmitglieder gehören dem reaktionären Hartmannbund an.«

Der Eiferer in Sadien Gesundheitspolitik, Joseph Sdiolmer, kreuzte in Hannover sdilicht


unter seinem riditigen Namen Joseph Sdiölmeridi als Delegierter des SPD-Bezirks
Rheinland-Hessen-Nassau auf und tat sidi denn audi als Antragsteller hervor. Mit seinen
»Vorwärts«-Prophezeihungen sollte Sdiolmer zumindest in einem entsdieidenden Punkt
Redit behalten: Das auf dem Saarbrücker Parteitag im Mai 1970 geforderte neue
gesundheitspolitische Programm wurde von den Delegierten in Hannover nidit
verabsdiiedet. Es zeigt sidi vielmehr erneut, daß sidi die Parteispitze offenbar noch nidit
der großen innenpolitisdien Brisanz und Tragweite der Gesundheitspolitik und der vom
extrem linken Flügel der SPD verflochtenen Reformvorstellungen bewußt ist. Zwar
wurden anläßlidi einer gesundheitspolitischen Bundestagung der SPD in Travemünde im
April 1971 in einem meist von ASK-Gesundheitspolitikern beherrsditen Plenum
vorbereitende Beratungen für die Verabschiedung eines gesundheitspolitischen
Programms getroffen.

Dodi madite die »Basis« vor allem in den Reihen einiger extrem linker Krzte, der
Gewerksdiaften und gesundheitspolitischer Publizisten keinen Hehl aus ihrer Enttäusdiung
über den Fortgang der Beratungen. Dies führte in der Folgezeit zu einer lebhaften
Aktivität in verschiedenen Zirkeln und Unterorganisationen der Partei, die sidi im
Gegensatz und weit außerhalb der Vorstellungen der ASK bewegten.

Klassenloses Krankenhaus, Wiedererriditung von Polikliniken und Ambulatorien an den


öffentlidien Gesundheitseinriditungen - insbesondere Krankenhäusern und Kliniken zur
besseren gesundheitlidien Versorgung der Bevölkerung-, Vereinheitlichung der
Krankenversidierung und Einführung einer Volksgesundheitspflege waren die Postulate
der verschiedenen gesundheitspolitischen Papiere (Thesen, die im übrigen audi in den 19
Saarbrücker Anträgen zu finden sind). Zu nennen ist vor allem die von Joseph Scholmer
maßgeblidi formulierte sogenannte Neuwieder Plattform eines gesundheitspolitischen
Programms, deren wichtigste Elemente Eingang in das gesundheitspolitisdie Programm
der SPD Saar (Oktober 1970) fanden. Auch der Bremer Jungsozialistenkongreß vom
Dezember 1970 sowie die von versdiiedenen Landesverbänden der SPD entwickelten
gesundheitspolitischen Aktivitäten (etwa Baden-Württemberg, Bremen, Rheinland-Hessen-
Nassau) zeigten, daß sie das Furore madiende Buch von Joseph Sdiolmer »Die Krankheit
der Medizin« sowie dessen programmatische Vorstellungen gelesen hatten und sie für
akzeptabel hielten. Nach dem Probegalopp für die gesundheitspolitische Konferenz in
Travemünde, der XII. ASK-Tagung in Berlin, kam für den linken Flügel der SPD-
Gesundheitsgenossen in Travemünde ein Rückschlag. Denn die Anträge von Scholmer,
Rudnitzki und Schieferstein verfielen allesamt der Ablehnung des ASK-Establishments.

Vielleicht gerade deswegen gingen die regionalen Aktivisten in Baden-Württem-220

berg (Heidelberg) und in Rheinland-Pfalz (Simmerner Parteitag im Mai 1972) erst recht
auf Gegenkurs, um die sozialdemokratische Gesundheitspolitik aus der Rolle der "Nachhut
der Reformbewegung« in eine »fortschrittliche« Richtung zu bringen (Joseph Scholmer
im" Vorwärts« Nr. 20 vom 12. April 1973).

Daneben gab es verschiedene Einzelkämpfer, wie zum Beispiel im Unterbezirk Bonn und
Beuel, die in einem 20köpfigen Ausschuß an einem neuen Modell eines

»integrierten Gesundheitswesens« in zweijähriger Arbeit werkelten. Dieses Opus fand in


den voluminösen Anträgen Nummer zwölf des Ortsvereins Beuel sowie dem
gleichlautenden Antrag Nummer 15 des Ortsvereins Bonn-Süd seinen konkreten
Niederschlag. Die Anträge sind das Werk eines Arbeitskreises um die aktiven Bonner
Journalisten Peter Paul Henckel (Dr. Hans Bardens: »Ein Juso

Aquivalent«) und Werner Lürges (dpa-Sozialpolitische Nachrichten) sowie den


Geschäftsführer der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt, Dr. Gerhard Wilhelm Brück.
Der Ausschuß machte sich im wesentlichen ein theoretisches Gutachten der Arbeitsgruppe
Leverkusen, einer privatwirtschaftlichen Beratungsfirma für
Krankenhausplanungsfragen, zu eigen ...

Die Crux war nun die, daß zwar Joseph Scholmer alias Joseph Schölmerich als
ordentlicher Delegierter des Bezirks Rheinland-Hessen-Nassau im Plenum in Hannover
vertreten war, sich aber kein direkter Promoter des Bonn-Beueler Antrags unter den
Delegierten befand. Scholmer, offenbar von den Bonner Ideen angetan, pfropfte dem
Antrag einen eigenen Initiativantrag Nr. 25 als Ergänzung auf, in dem er forderte, den
Antrag G 15 (Vorlage 3, Seite 104 bis 111) -

ergänzt um zwölf gesundheitspolitische Scholmer-Forderungen - zur


gesundheitspolitischen Plattform der SPD zu erheben. Gefordert wurden von Scholmer die
Einrichtung medizinisch-technischer Zentren und regionale Diagnostikzentren für
Vorsorgeuntersudmngen. Der »sozial ungerechte Typ des traditionellen
Mehrklassenkrankenhauses« soll »in den sozial gerechten Typ des klassenlosen
Krankenhauses« umgewandelt werden. Die übrigen von Scholmer vielerorts propagierten
Forderungen sind mit Stichworten ausreichend gekennzeichnet: Die Errichtung von
eigenen Polikliniken an allen Krankenhäusern oder Ambulatorien; Einbeziehung der
Krankenhäuser in die ambulante medizinische Versorgung; Ersetzung des gegenwärtigen
Chefarztsystems in den Krankenhäusern durch ein ärztliches Kollegialsystem; Ausbau des
Betriebsgesundheitswesens durch Einrichtung von Betriebspolikliniken in allen
Großbetrieben mit mehr als 5000 Beschäftigten; Förderung der Niederlassung von Ärzten
auf dem Land durch »großzügige materielle Vergünstigungen«; Einsatz von mobilen
Ambulatorien in ärztlich stark unterversorgten Gebieten; Einrichtung von Ambulatorien
in Landkrankenhäusern; Errichtung eines unabhängigen sozialärztlichen Dienstes
sämtlicher Sozialversicherungsträger; Reduzierung der Zahl der auf dem Markt
befindlichen Arzneimittel und Lizenzierung durch eine staatliche Arzneimittelkommission;
wirksame Maßnahmen mit dem Ziel, die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung
auf dem gegenwärtigen prozentualen Beitrag konstant zu halten (Scholmer: »Dabei sollen
die unvermeidlichen Ausgabensteigerungen für die Krankenanstalten zu Lasten der
Honorare für Ärzte und Zahnärzte sowie der Ausgaben für Arzneimittel gehen.«); Ausbau
der Krankenversicherung mit dem Ziel einer Volksversicherung für alle Personengruppen.

Die 30 Abänderungsanträge zum Abschnitt »Gesundheitssicherung« des sogenannten


Orientierungsrahmens bis 1985 sowie die weiteren 40 allgemein-gesundheitspolitischen
Anträge wurden bis auf drei Ausnahmen dem Parteivorstand als Material oder zur
weiteren Behandlung der gesundheitspolitischen Leitsätze über-221

wiesen. Der Hessisdi.e Sozialminister Dr. med. Horst Sdi.midt, der diesen vorher
abgesprodi.enen Sdi.adi.zug vor dem Plenum begründete, nahm lediglidi. die Anträge
Nummer G 3 des Landesverbandes Baden-Württemberg und der Antrag G 29 des
Unterbezirks Wuppertal (zum Krankenhausfinanzierungsgesetz) aus und plädierte für die
Annahme. Die 433 SPD-Delegierten, durdi. die Beratung der insgesamt 977 Anträge (plus
30 Initiativanträge) am letzten Tag sdi.on reidi.lidi. strapaziert, nahmen diese Empfehlung
dankend auf und entspradi.en Dr.
Sdi.midts Vorsdi.lag, ohne sidi. darüber offenbar im klaren zu sein, daß damit die Weidi.en
für eine eindeutige linksbestimmte Gesundheitspolitik in der SPD gesetzt wurden.

In dem angenommenen Antrag Nummer drei wird festgestellt, daß die


gesundheitspolitisdi.en Leitsätze der SPD »hinsidi.tlidi. ihres Ansatzes erheblidi. hinter den
aktuellen Stand der innerparteilidi.en Diskussion« zurückfallen und zudem deutlidi.
Rücksidi.t auf »die einseitigen Standesinteressen der organisierten .1\rzteschaft nehmen,
der die Verfasser bezeidi.nenderweise denn audi. entstammen.« ... Ein weiteres Indiz für
den bevorstehenden Linkskurs in Samen Gesundheitspolitik ist audi. dies: Auf Grund eines
Votums der Antragskommission, unterstützt von Dr.

Horst Sdi.midt, wird die gesundheitspolitisdi.e Kommission beim Parteivorstand neu


gebildet, der dem Vernehmen nadi. adi.t Mitglieder des neugewählten Parteivorstandes
(von 36 Mitgliedern gehören 13 der extremen Linken an, vorher waren es nur drei), und 22
Vertreter der Bezirke angehören sollen. Entscheidendes wird von dem Vorsitzenden dieses
Gremiums abhängen. Frau Käte Strobel wird es mit Sidi.erheit nidi.t mehr führen; ihr
wurde in Hannover mit nur 130 von insgesamt 433 abgegebenen Stimmen eine klare
Absage erteilt.

222
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rende Resultate. Das kann Perfektion ihre Zeit und

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wie auch, sie zu bekämpfen.

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Mediziner, die die erstere

Vertreter ihres Fachs, die

Haltung für gesünder halten,

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dieses Heft werfen, zumal am

und sie pochen mit den

Schluß zwei Arbeiten abfeinsten Manieren. Der Umsturz gedruckt sind, die einen
auskommt im schwarzen Talar.

gezeichneten Überblick über

Daß dieser Umsturz Erfolge

die gesamte medizinsoziolohaben wird, ist abzusehen. Es gische Literatur in den USA

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