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Primary Health Care

Interdisziplinarität, Partizipation,
Gemeindeorientierung

Mit Beiträgen von Heinz-Harald Abholz,


Óscar Arteaga, Cristóbal Cuadrado,
Lígia Giovanella, Kerstin Hämel, Patricia Hänel,
Markus Herrmann, Jens Holst, Eva Jansen,
Corinna Jung, Maria Helena Magalhães
de Mendonça, Soledad Martínez, Susan Pullon,
Cristián Rebolledo, Doris Schaeffer, Nicolás Silva,
Peter Tschudi, Luís Velez Lapão

Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften 50


Herausgeber und Redaktion: Prof. Dr. Regina Brunnett, Dr. Anja Dieterich,
MPH, Prof. Dr. Raimund Geene, MPH, Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger,
Prof. Dr. Daphne Hahn, Prof. Dr. Markus Herrmann MPH, M.A., Dr. Dr. Jens
Holst, MPH, Prof. Dr. Susanne Kümpers, MPH, Dr. Uwe Lenhardt, Kathrin
Ottovay, M. A., Prof. Dr. Klaus Stegmüller

Zum Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften


Das Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften bietet ein Forum
für die kritischeAuseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen von Ge-
sundheit und Krankheit sowie mit Fragen der gesundheitsbezogenen Versorgung und
der Gesundheitspolitik. Die Reihe erscheint seit Mitte der 1970er Jahre im Argument
Verlag und geht auf einen Impuls zurück, der Anfang der 1970er Jahre mit einem
Einzelband der Zeitschrift Das Argument mit dem Titel »Kritik der bürgerlichen
Medizin« entstand. Aus der Grundidee des Einzelbandes wurde 1976 eine eigene Rei-
he: das Jahrbuch für Kritische Medizin. Als Antwort auf die allmähliche Erweiterung
des thematischen Spektrums der veröffentlichten Beiträge kam es 2009 zur Umbenen-
nung der Reihe in Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften.
Jeder Band ist einem Schwerpunktthema gewidmet, zu dessen Vorbereitung die Re-
daktion üblicherweise einen Call for Papers versendet und ins Netz stellt. Beiträge
außerhalb der Schwerpunktthemen sind ebenfalls willkommen. Manuskriptangebote
sind nach den im Internet abrufbaren Autorenhinweisen zu gestalten und in elektro-
nischer Form per E-Mail (mit Anhang) an die Redaktion zu senden. Die Begutach-
tung eingereichter Manuskripte erfolgt in der Regel durch ein Mitglied der Redaktion
sowie eine/n externe/n sachkundige/n Wissenschaftlerin/Wissenschaftler.
Das Jahrbuch und die Redaktion sind im Internet unter www.jkmg.de erreichbar. Mitt-
lerweile steht ein Archiv mit allen früheren Bänden zur Verfügung; ausgenommen
sind der jeweils aktuelle und vorletzte Band. Jedes einzelne Jahrbuch ist im Buchhan-
del erhältlich.

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sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2014
Glashüttenstraße 28 · 20357 Hamburg · www.argument.de
Umschlagentwurf: Johannes Nawrath, Hamburg
Satz: Iris Konopik · Druck: docupoint, Magdeburg
Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier
Erste Auflage 2014
ISSN 1869-1145 · ISBN 978-3-86754-650-8
Editorial ............................................................................5

Primary Health Care


Kerstin Hämel, Doris Schaeffer
Kommunale Gesundheitszentren in Finnland
Entwicklung und aktuelle Herausforderungen in der
ländlichen Primärversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Luís Velez Lapão


Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in der primären
Gesundheitsversorgung in Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça


Primary Health Care in Brasilien: multiprofessionelle
Teamarbeit und Gemeindeorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Óscar Arteaga, Cristián Rebolledo, Nicolás Silva,


Cristóbal Cuadrado, Soledad Martínez, Jens Holst
Das chilenische Gesundheitssystem und die Primärversorgung:
Erfolgreiche Integration? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

Susan Pullon, Markus Herrmann


Primärversorgung in Neuseeland:
Lehren aus einem kleinen Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Corinna Jung, Peter Tschudi


Schritte zur Konsolidierung der Hausarztausbildung
und Stärkung von Primary Health Care in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . 122

Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen


Landärztliche Ausbildung zur Reduzierung der medizinischen
Unterversorgung auf dem Land – Erfahrungen, Chancen,
Widrigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Heinz-Harald Abholz
Die Verdrängung des Individuums aus der Medizin
Über Kollateralschäden des Fortschritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Über die Autorinnen und Autoren ........................................ 190


5

Editorial

Primary Health Care – im Deutschen meist eher schlecht als recht mit
»Primäre Gesundheitsversorgung« übersetzt – gehört zu den wohl wich-
tigsten und beständigsten Themen der gesundheitspolitischen Debatte.
Die viel zitierte Konferenz von Alma Ata im Jahr 1978, auf der sich die
Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeinsam
dem Ziel verpflichteten, ihren BürgerInnen die für gesellschaftliche
Teilhabe erforderliche Gesundheit zu ermöglichen, war Ausgangspunkt
für die »Globale Strategie für Gesundheit für alle« der WHO. Gesund-
heit ist nach dieser Programmatik nicht mehr eine bloße medizinische
Angelegenheit, sondern eine Frage der Menschenrechte und damit eine
der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Partizipation.
Primary Health Care (PHC) wurde zur ersten »Weltgesundheitspoli-
tik« und damit zu einem frühen Versuch, Gesundheitspolitik als globale
Aufgabe wahrzunehmen und anzuerkennen. Genau 30 Jahre nach Alma
Ata setzte die WHO dieses Thema mit ihrem 2008er Weltgesundheits-
bericht »Primary Health Care – Now More Than Ever« noch einmal
prominent auf die Tagesordnung. Mittlerweile geraten viele Länder im
Zuge der Globalisierung unter Druck und können ihre Gesundheits-
systeme nicht in der Form aufrechterhalten, dass sie angemessen und
schnell auf neue Herausforderungen reagieren können. Die WHO weist
in ihrem Jahresbericht von 2008 darauf hin, dass dies mit einer stär-
keren Orientierung auf die Primärversorgung sehr wohl möglich sei.
Dabei benennt sie fünf wesentliche Elemente:
• Verringerung von Ausgrenzung und sozialer Ungleichheit in Bezug
auf Gesundheit (universal coverage reforms);
• Ausrichtung der Versorgung an den Bedürfnissen und Erwartungen
der Menschen (service delivery reforms);
• Berücksichtigung von Gesundheitsfragen in allen relevanten Politik-
feldern (public policy reforms);
• Verwirklichung gemeinsamer Ansätze eines partnerschaftlichen Dia-
logs (leadership reforms);
• Förderung der Partizipation von Interessengruppen (stakeholder par-
ticipation).

Die globale Umsetzung von PHC ist seit jeher eng mit der Frage knap-
per bzw. ungleich verteilter Ressourcen verbunden. Die Besinnung auf
primäre Versorgung in den 1970er Jahren war auch eine Antwort auf die
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6 Editorial
unzureichenden finanziellen Mittel vieler Länder des globalen Südens,
die keine flächendeckende medizinische Versorgung aufrechterhalten
konnten. Mittlerweile erklingt der Ruf nach Ausbau der Primärversor-
gung auch in den reichen Ländern des Nordens. Hier liegen die Ursa-
chen in dem wachsenden Kostendämpfungsdruck, der zum einen dem
kontinuierlichen Rückzug der öffentlichen Hand aus der Gesundheits-
finanzierung oder gar einer dezidierten Austeritätspolitik geschuldet
und zum anderen auf den herrschenden Wunsch nach Befriedigung
der Renditeerwartungen mächtiger Lobbygruppen zurückzuführen ist,
vor allem spezialisierter FachvertreterInnen, der pharmazeutischen und
medizintechnologischen Industrie und nicht zuletzt privater Klinik-
betreiberInnen.
Wie vor drei Jahrzehnten spielen auch heute wieder ökonomische
Argumente eine wichtige Rolle beim PHC-Revival. Zwar weisen inter-
nationale Systemvergleiche darauf hin, dass eine starke Primärversor-
gung mit größerer Zugangsgerechtigkeit und höherer Lebenserwartung
assoziiert ist. Eingang in die gesundheitspolitische Debatte findet aber
in erster Linie die Erkenntnis, dass in stärker primärversorgungsorien-
tierten Systemen der Einsatz der Gesundheitsausgaben auch ökonomi-
scher und effizienter zu sein scheint als anderswo.
International ist zurzeit eine zunehmende Tendenz zur Reform oder
zum Neuaufbau von PHC-Ansätzen und -Modellen zu beobachten.
Dabei zeigt sich, dass Länder mit einer bereits bestehenden stärkeren
Ausrichtung des Gesundheitswesens auf die Primärversorgung wie
Brasilien, Finnland, Neuseeland oder Portugal an einer weiteren Kon-
solidierung dieser Versorgungsebene arbeiten, während sich andere
Länder wie Chile, Deutschland oder auch die Schweiz schwertun, die
medizinische Versorgung überhaupt erst einmal mehr in den primären
Sektor zu verlagern. Neben den gewachsenen, teils festgefahrenen und
von machtvollen Interessen getragenen Strukturen spielen dabei auch
finanzielle Kriterien eine gewichtige Rolle. Denn die Durchökonomi-
sierung aller Lebensbereiche hat schon lange das Gesundheitswesen
insgesamt erfasst und dabei die Primärversorgung nicht ausgespart.
Den makroökonomischen Kostendämpfungs- und Sparzielen stehen
in jedem Gesundheitswesen die Partialinteressen von Leistungs-
erbringerInnen gegenüber, die immer auch eigene Gewinninteressen
verfolgen. Eine grundlegende, in verschiedenen Systemen bestehende
Herausforderung für die Stärkung der Primärversorgung ergibt sich
aus den tendenziell geringeren Renditeerwartungen im Vergleich zur
Sekundär- und Tertiärversorgung vor allem in den Ländern, in denen
sich aufgrund hoher Gesundheitsbudgets und privatmarktwirtschaft-
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Editorial 7
licher Anreize verschiedene LeistungserbringerInnen hohe Gewinne
versprechen.
Während der letzten 20 Jahre kam es in Deutschland zu Veränderun-
gen in der Primärversorgung: Akademisierung weiterer Gesundheits-
berufe, stärkere Orientierung auf evidenzbasierte Konzepte, Leitlinien-
entwicklung, Managed Care, Bürokratisierung, neue Hausarztmodelle
einschließlich Substitution und Delegation ärztlicher Leistungen sowie
andere innovative Organisationsformen. Die Attraktivität der hausärzt-
lichen Tätigkeit ist unterdessen deutlich gesunken. Im internationalen
Vergleich ist festzustellen, dass die Primärversorgung in Deutschland
im Unterschied zu Ländern in Skandinavien oder Südeuropa bislang
weiterhin stark arzt- und medizindominiert ist; als ersteR Ansprechpart-
nerIn bei Gesundheitsproblemen hat »der Hausarzt« bzw. »die Hausärz-
tin« hierzulande eine lange Tradition. In der alten und der vereinigten
Bundesrepublik war und ist primäre weitgehend identisch mit primär-
medizinischer Versorgung und erfolgt/e überwiegend durch ÄrztInnen
in privatwirtschaftlich agierenden Einzelpraxen; das umfassendere und
multiprofessionell bzw. interdisziplinär betriebene Primärversorgungs-
system der ehemaligen DDR fand auf vehementes Betreiben von Politi-
kerInnen, Kassen- und ÄrztefunktionärInnen nach der Vereinigung ein
jähes und – wie sich immer mehr herausstellt – vorschnelles Ende.
Heute stehen Interdisziplinarität, Partizipation und Gemeindeorien-
tierung in der Primärversorgung weit oben auf der globalen gesund-
heitspolitischen Agenda. In Deutschland haben diese zentralen Aspekte
bisher nicht den Weg aus programmatischen Diskursen in die Wirklich-
keit der Primärversorgung geschafft. Vor dem Hintergrund der Domi-
nanz ärztlicher Selbstverwaltung für viele Bereiche der Gesundheits-
versorgung tut sich die Ärzteschaft noch schwer, in gleichberechtigter
Kooperation und im Dialog mit anderen Gesundheitsberufen eine in-
tegrierte Primärversorgung zu gewährleisten. In Ländern mit stärkerer
staatlicher Steuerung der Gesundheitsversorgung scheint die Realisie-
rung von Interdisziplinarität, Partizipation und Gemeindeorientierung
hingegen leichter zu gelingen, auch wenn dem Anspruch bisher kaum
ein Gesundheitssystem auf der Welt wirklich gerecht wird. Das traditio-
nell eher dominante Rollenverständnis der MedizinerInnen paart sich
nicht selten mit einer recht engen allgemeinärztlichen Perspektive von
PHC, die grundlegende Aspekte umfassender Primärversorgung und
die Akzeptanz eines wirklichen Professionenmix vermissen lässt.
Der vorliegende Themenband stellt PHC-Strategien und -Erfahrungen
verschiedener Länder vor und bettet sie in die globale gesundheitspoli-
tische Diskussion ein. Dabei kommen Widerstände gegen eine stärkere
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8 Editorial
Rolle von PHC sowie wichtige AkteurInnen und Analysemodelle für
die Transformation der Primärversorgung zu mehr Interdisziplinarität,
Partizipation und Gemeindeorientierung zur Sprache. Andere Beiträge
diskutieren die Bedeutung von Aus-, Weiter- und Fortbildung sowie die
Professionalisierung und Akademisierung von Gesundheitsberufen für
die Weiterentwicklung im Sinne von Primary Health Care. Die inhaltli-
che Mischung und die Inhalte der verschiedenen Artikel des vorliegen-
den JKMG-Bandes zu internationalen Erfahrungen mit Primary Health
Care geben Anregungen für die Analyse und Diskussion der notwendi-
gen Transformation der Primärversorgung in Deutschland. Die Beiträ-
ge zeigen, dass auch in anderen Ländern der Entwicklungsprozess einer
PHC-Orientierung im Sinne der WHO längst nicht abgeschlossen und
mit strategischen Schwächen verbunden ist.
Den Auftakt macht der Beitrag von Hämel und Schaeffer über
Versorgungsmodelle für ländliche und strukturschwache Regionen
in Finnland. Sie schildern zunächst die Entwicklung kommunaler
Gesundheitszentren und erörtern deren Zielsetzung, Aufgaben und
Arbeitsweise. Anhand eines Beispiels stellen sie die zweischneidige
Rolle ländlicher Gesundheitszentren dar, die aktuelles Problemkind
und zugleich Vorbild sind, von dem wichtige Impulse nicht nur für die
Umstrukturierung der Primärversorgung in Finnland, sondern auch für
die hiesige Diskussion über mögliche Versorgungsmodelle für ländli-
che und strukturschwache Regionen ausgehen.
Der darauf folgende Artikel von Velez Lapão bietet einen Rückblick
auf die fünfzigjährige Geschichte von PHC-Reformen in Portugal
im Hinblick auf Fragen der Politikgestaltung und des Veränderungs-
managements. Der Beitrag stellt Eckpunkte der PHC-Reform in Portu-
gal vor, die aus einer Reihe gezielter Reformschritte bzw. »Reformwel-
len« bestand. Dazu bedient sich der Wissenschaftler aus Lissabon des
Multiple-Streams-Ansatzes der Politikentwicklung von Kingdon zur
Analyse der Bedeutung von Personen, Institutionen und »leadership« für
erfolgreiche Reformen. Eine Frage von Belang für die PHC-Diskussion
in Deutschland ist die nach geeigneten politischen Gelegenheiten und
der Bildung durchsetzungsfähiger gesundheitspolitischer Allianzen.
Die beiden Gesundheitswissenschaftlerinnen Giovanella und
Magalhães de Mendonça stellen das Familiengesundheitskonzept in
der brasilianischen Primärversorgung vor. Als Bestandteil einer grund-
legenden Erneuerung des PHC-Ansatzes beinhaltet es zentrale Steue-
rung und umfassende Versorgung im Rahmen einer integralen Primär-
versorgungsstrategie, die universellen Zugang zum Versorgungssystem
garantieren, soziale Ungleichheiten abbauen und die neuen demografi-
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Editorial 9
schen und epidemiologischen Herausforderungen angehen soll. Dabei
stehen multiprofessionelle Teamarbeit und Gemeindeorientierung im
Vordergrund. Die Auswertung einer externen Evaluierung des brasilia-
nischen Programms zur Verbesserung des Zugangs und der Qualität
zeigt, dass die Primärversorgung weiterhin vor großen Herausforderun-
gen steht, allen BürgerInnen Zugang zu bedarfsgerechter guter medi-
zinischer Versorgung zu gewährleisten und gleichzeitig gesellschaftli-
chen Ungleichheiten entgegenzuwirken.
Wie das deutsche ist auch das chilenische Gesundheitswesen
durch eine ausgeprägte Zweiteilung gekennzeichnet. Der Beitrag von
Arteaga, Rebolledo, Silva, Cuadrado, Martínez und Holst beleuchtet
die historische Entwicklung des chilenischen Gesundheitswesens unter
besonderer Berücksichtigung der Primärversorgung. Allen Bemühun-
gen um eine sukzessive Vereinheitlichung zum Trotz blieb das Ver-
sorgungssystem immer aufgeteilt, in vergangenen Jahrzehnten nach
beruflichem Status und seit den Reformen der Militärdiktatur Anfang
der 1980er Jahre nach Einkommen. Offenbar steht die Segmentierung
eines Systems den Versuchen einer Stärkung der Primärversorgung im
Wege – eine Erkenntnis, die auch für die aktuelle Debatte in Deutsch-
land über Primärversorgung und ihre Stärkung im Gesundheitswesen
von Relevanz ist.
Neuseeland kann auf eine lange erfolgreiche Geschichte eines PHC-
gesteuerten Versorgungssystems zurückblicken. Der Beitrag von Pullon
und Herrmann stellt Aspekte des neuseeländischen und deutschen Ge-
sundheitswesens nebeneinander und dabei wesentliche Unterschiede bei
Zahl, Möglichkeiten und Qualifikationen der in der Primärversorgung
tätigen Arbeitskräfte heraus. Er diskutiert die Rollen und Kooperations-
beziehungen von HausärztInnen und Pflegekräften in der Primärver-
sorgung auf dem Weg Neuseelands zu einer zunehmenden, professio-
nenübergreifenden Zusammenarbeit im Bereich Primary Health Care.
Erkenntnisse über die Bedeutung der Aus- und Weiterbildung der betei-
ligten Professionen geben wertvolle Erkenntnisse für die Diskussion in
Deutschland.
Der folgende Artikel von Jung und Tschudi beschreibt die Bedeutung
und die Aufgaben von HausärztInnen in der Schweiz. Vor dem Hinter-
grund des sich abzeichnenden Hausarztmangels schildert der Beitrag
die politische Ausgangslage und gesundheitspolitische Maßnahmen
zur Förderung des hausärztlichen Nachwuchses durch die Entwick-
lung eines Curriculums für die Hausarztmedizin im Medizinstudium.
Die im Unterschied zu Deutschland erfolgte Umsetzung der Bologna-
Beschlüsse und die Umstellung des Medizinstudiums auf Bachelor-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
10 Editorial
Master-Strukturen versprechen eine bessere Integration der Hausarzt-
medizin in das Studium.
Herrmann, Hänel und Jansen gehen vor dem Hintergrund entspre-
chender internationaler Erfahrungen und einschlägiger WHO-Empfeh-
lungen der Frage nach, inwieweit bereits das Medizinstudium Anreize
für eine spätere ärztliche Tätigkeit auf dem Lande setzen kann. Die Flä-
chenländer Kanada, Australien und Neuseeland bereiten Studierende
der Medizin sowie anderer Gesundheitsberufe schon seit geraumer Zeit
gezielt auf eine Tätigkeit in ländlichen Gebieten vor. Ein Pilotprojekt
in Deutschland wirft die Frage der Übertragbarkeit und Umsetzbarkeit
landärztlicher Ausbildungsinhalte in deutsche Ausbildungsstätten auf.
Der letzte Artikel dieses Bandes hat zwar thematischen Bezug zu den
vorangehenden Betrachtungen über die haus- bzw. allgemeinärztliche
Tätigkeit, widmet sich aber nicht dem Thema der primären Gesund-
heitsversorgung. In seinem Beitrag fordert Abholz die angemessene
Berücksichtigung des Individuums in der Medizin und geht dabei der
Hypothese nach, evidenzbasierte Medizin, Standardisierung, Präven-
tions-Orientierung und Industrialisierung der Medizin trügen zu einer
zunehmenden Verdrängung des Individuums bei. Die Redaktion ver-
steht diesen Artikel als streitbaren Beitrag zu einer notwendigen Dis-
kussion über aktuelle Inhalte und Themen einer Kritik an Medizin und
Gesundheitswissenschaften, die in den nächsten Bänden ihre Fortset-
zung finden wird.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


11
Kerstin Hämel, Doris Schaeffer

Kommunale Gesundheitszentren in Finnland –


Entwicklung und aktuelle Herausforderungen in
der ländlichen Primärversorgung

Zusammenfassung
Die Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung in ländlichen Re-
gionen ist für viele Länder eine besondere Herausforderung. Finnland
hat bereits vor vielen Jahrzehnten auf diese Versorgungsprobleme mit
dem flächendeckenden Aufbau kommunaler Gesundheitszentren re-
agiert und ein umfassendes, multiprofessionelles Primärversorgungs-
modell etabliert. Der vorliegende Beitrag untersucht, inwiefern diese
Gesundheitszentren den sich wandelnden Anforderungen an die länd-
liche Versorgung gerecht werden und sich der finnische Ansatz heu-
te (erneut) als tragfähiges Modell erweist. Abschließend analysiert er
mögliche Anregungen für die Diskussion und Weiterentwicklung der
Primärversorgung in Deutschland.

Abstract
Ensuring access to high-quality health care for the rural population is
a major challenge for many countries. Several decades ago, Finland
responded to unmet needs in rural primary care by building municipal
health centres across the country; simultaneously, the government int-
roduced a new comprehensive, multi-professional primary care model.
This article takes a closer look at the adjustments Finnish health cen-
tres have undertaken to meet the changing requirements of rural health
care. Furthermore, the viability of Finland’s current care model will be
assessed. Finally, the paper discusses possible lessons Germany could
learn from Finland’s experience for the further development of its own
primary care system.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


12 Kerstin Hämel, Doris Schaeffer
Einleitung

Regionale Unterschiede der Alters-, Morbiditäts- und Mortalitätsstruk-


tur stehen in vielen Ländern zunehmend im Fokus der Aufmerksamkeit,
ebenso bereits vorhandene oder drohende Unterversorgungserschei-
nungen in ländlichen Gebieten. Daher liegt es nahe, für die vorhan-
denen Probleme nicht nur national, sondern auch international nach
Lösungen zu suchen und dabei nach Versorgungsmodellen Ausschau
zu halten, die gerade für ältere und chronisch kranke Menschen eine
umfassende, bedarfsgerechte Versorgung ermöglichen, denn sie bilden
die Hauptnutzergruppe. Dies war Intention eines von der Robert Bosch
Stiftung geförderten und von 2012 bis 2014 an der Universität Biele-
feld durchgeführten Projekts1, in dessen Mittelpunkt eine international
vergleichende Analyse ländlicher Versorgungsmodelle in Kanada und
Finnland stand (vgl. Schaeffer et al. i. E.).
Im nachfolgenden Beitrag konzentrieren wir uns auf Finnland und die
dort seit vielen Jahrzehnten bestehenden Gesundheitszentren. Zunächst
wird die Entwicklung der Gesundheitszentren in Finnland geschildert und
deren Zielsetzung, Aufgaben und Arbeitsweise erörtert. Anschließend
wird ein Beispiel dargestellt, das u. a. verdeutlicht, dass die ländlichen
Gesundheitszentren aktuell teils als Problemkind, teils nach wie vor als
Vorbild gelten, von dem wichtige Impulse für die (Weiter-)Entwicklung
der Primärversorgung in Finnland ausgehen. In jedem Fall aber stehen sie
vor einem Umstrukturierungsprozess, dessen Ausgang noch nicht klar ab-
sehbar ist. Gleichwohl bieten sie für die hiesige Diskussion über mögliche
Versorgungsmodelle für ländliche und strukturschwache Regionen eine
Reihe an interessanten Anregungen, die abschließend diskutiert werden.

Methodisches Vorgehen
Der Beitrag basiert auf einer Literaturanalyse und zwei empirischen
Untersuchungsschritten. In einem ersten Schritt erfolgten telefoni-
sche, leitfadenbasierte Experteninterviews mit finnischen Vertretern
aus Wissenschaft (Verwaltungs-, Sozialwissenschaft, Public Health)
und Praxis (Modellentwicklung, Projektmanagement, Interessensver-
tretung/Politikberatung). Ziel war es, die Entwicklung der ländlichen
Versorgung in Finnland zu eruieren und Untersuchungsregionen für
eine vertiefende Analyse zu identifizieren. Der zweite Untersuchungs-
schritt umfasste zwei Exkursionen in die Regionen Päijät-Häme und

1 Projektbeteiligte: Doris Schaeffer, Kerstin Hämel, Janina Kutzner, alle Universität


Bielefeld, in Kooperation mit Michael Ewers, Charité – Universitätsmedizin Berlin.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Kommunale Gesundheitszentren in Finnland 13
Südkarelien. Dort wurden Einrichtungen vor Ort aufgesucht und wei-
tere leitfadengestützte Experteninterviews mit VertreterInnen aus dem
Management, der in den besuchten Versorgungseinrichtungen tätigen
Gesundheitsprofessionen sowie der Forschung geführt. Die Interviews
erfolgten überwiegend in englischer und teilweise in deutscher Spra-
che. Alle Interviews wurden protokolliert, teilweise auch transkribiert
und inhaltsanalytisch ausgewertet. Die Ergebnisse sind in verdichteten
Modellbeschreibungen zusammengefasst (siehe Schaeffer et al. i. E.).

Entwicklung der Primärversorgungszentren in Finnland


Die Entstehung der heutigen Primärversorgung in Finnland reicht bis
in die 1960er Jahre zurück. Zu jener Zeit zeigten sich deutliche Kapa-
zitätsengpässe in der ambulanten Versorgung (Miilunpalo et al. 1995;
Jespersen und Wrede 2009: 167f.). Mit der Einführung der obligato-
rischen nationalen Gesundheitsversicherung im Jahr 1963 entspannte
sich die Situation, denn sie führte zu einer Gründungswelle an privaten
Arztpraxen. Die Gründungswelle konzentrierte sich jedoch auf städti-
sche Regionen. Die ländlichen Regionen blieben weitgehend unberührt
und damit litten weite Teile der Bevölkerung nach wie vor unter Ver-
sorgungsengpässen (Vuorenkoski 2008a: 21f.). Um die Tragweite der
Situation zu verstehen ist wichtig zu erwähnen, dass bis heute 62 % der
finnischen Bevölkerung auf dem Land leben, womit Finnland unter den
OECD-Ländern den (nach Irland) zweithöchsten Anteil an ländlicher
Bevölkerung aufweist (OECD 2011: 23). Daher wurde der Ausgleich
regionaler Unterschiede nun zum Ziel der Gesundheitspolitik erhoben.
Dazu diente das Primärversorgungsgesetz von 1972, das den flächen-
deckenden Aufbau von staatlich geförderten kommunalen Gesund-
heitszentren (Terveysasemat) ermöglichte.
Mit dieser Entwicklung war Finnland der internationalen Bewegung
für eine umfassende Primärversorgung um einige Jahre voraus: Erst
1978 wurde mit der Deklaration von Alma Ata »Gesundheit für Alle«
zur Globalstrategie der WHO. Bis heute gelten die Gesundheitszen-
tren in Finnland als Pilotprojekte der globalen Bewegung für ein weiter
gefasstes Verständnis von Primärversorgung (Miilunpalo et al. 1995;
WHO 2008; Melkas 2013). Denn die finnischen Gesundheitszentren
ermöglichen eine breit angelegte, multiprofessionelle Versorgung, die
über medizinische Betreuungsangebote hinaus soziale Hilfen, Präven-
tion, Gesundheitsförderung sowie Pflege und Rehabilitation umfasst
(Kokko 2009). Typisch für sie ist außerdem eine doppelte Ausrich-
tung: die Zentren arbeiten individuen- und zugleich gemeindeorientiert
(Vuorenkoski 2008a: 105f.; Mäkelä et al. 1998).
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
14 Kerstin Hämel, Doris Schaeffer
In vielen anderen Ländern sind ähnliche Primärversorgungsmodelle
entstanden (z. B. Kanada, USA, Australien, Schweden, Belgien, Grie-
chenland, Indien und Südafrika). Finnland gehört jedoch zu den weni-
gen hochindustrialisierten Ländern, die über ein dichtes, flächendecken-
des Netz an Gesundheitszentren verfügen. Ihm kommt hohe Bedeutung
für die Versorgung zu: Etwa 55 % aller ambulanten Arzt- und 47 %
der Zahnarztkontakte erfolgen in den kommunalen Gesundheitszentren
(THL 2013: 138; eigene Berechnungen). Insgesamt bietet Finnland
damit einen international einzigartigen Umsetzungs- und Erfahrungs-
reichtum (Kokko 2009: 2).
Die kommunalen Gesundheitszentren bilden den Kern der Primär-
versorgung in Finnland. Kleinräumig angelegt sind sie für die Gesund-
heitserhaltung der Bevölkerung zuständig und sollen zugleich eine
umfassende und gut erreichbare Versorgung gewährleisten. Der Tradi-
tion nordischer Wohlfahrtsstaaten folgend ist der Zugang zur Gesund-
heitsversorgung (ähnlich wie auch zu Erziehung, Bildung und sozialen
Diensten) universell, die Zentren stehen allen Bürgern offen. Darüber
hinaus adressieren sie sich besonders an benachteiligte Bevölkerungs-
gruppen, z. B. Langzeitarbeitslose, für die sie zur Minderung sozialer
Ungleichheiten zusätzliche Angebote entwickelt haben.
Dennoch sind auch die nordischen Wohlfahrtsstaaten nicht vor (zu-
nehmenden) sozialen und regionalen Ungleichheitserscheinungen ge-
schützt (Wahlbeck et al. 2008: 48f.). So hat sich in den Städten der
parallel zum öffentlichen Gesundheitswesen existente private Ver-
sorgungssektor stetig erweitert und ausdifferenziert (Laamanen et al.
2010; Häkkinen 2005). Auf dem Land obliegt die Versorgung jedoch
bis heute weitgehend den kommunalen Gesundheitszentren.
Besonders in den 1980er und 1990er Jahren waren die ländlichen
Gesundheitszentren sogar Vorbild für die Weiterentwicklung der städti-
schen Versorgungsstrukturen. Denn sie stellten den großen, fast kranken-
hausähnlichen, anonymen Gesundheitszentren der Städte ein alternatives
Modell gegenüber: Durch ihre überschaubare Größe, Nähe zur Bevölke-
rung und gute Erreichbarkeit ermöglichten sie eine individuelle und kon-
tinuierliche Versorgung wie auch eine kleinräumige Integration sozialer
und gesundheitlicher Dienste in der Kommune. Nach ihrem Vorbild ent-
standen in den 1980er und 1990er Jahren in den Städten dezentrale klei-
nere stadtteilorientierte Zentren. Auch Kommunen, die zuvor gemeinsam
mit anderen Kommunen im Verbund ein Gesundheitszentrum betrieben
hatten, bauten nun eigene Einrichtungen auf (Kokko 2009).
Die Vorteile kleiner Zentren sind bis heute unbestritten. Allerdings
sind sie mittlerweile unter Problem- und Kostendruck geraten und das
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Kommunale Gesundheitszentren in Finnland 15
wiederum vor allem in ländlichen Regionen. Daher setzt die finnische
Gesundheitspolitik seit Mitte der 2000er Jahre nach einer Periode der
Fokussierung auf kommunale Autonomie und Dezentralisierung nun
auf die Regionalisierung der kommunalen Gesundheitsversorgung.
Regionalisierung bedeutet in Finnland – im Unterschied zur Debatte in
Deutschland – die Bündelung von Versorgungseinrichtungen zu grö-
ßeren regionalen Einheiten und Netzen (Järvelin und Pekurinen 2006;
Vuorenkoski 2008b; Tynkkynen 2010). Seither hat ein Prozess des Zu-
sammenschlusses kleiner Zentren in regionale Verbünde mit einem ge-
meinsamen Management und zentralisierter Administration begonnen,
der die (ökonomische) Überlebensfähigkeit sichern soll.

Ziele, Aufgaben, Arbeitsweise der kommunalen Gesundheitszentren


Die Ziele und Aufgaben der Gesundheitszentren stellen sich folgender-
maßen dar. Generell obliegt ihnen das Monitoring der Gesundheit der
Bevölkerung, ebenso die bedarfsgerechte Ausgestaltung der Versor-
gung gemäß den regional gegebenen Bedingungen (Kokko 2009; Vuo-
renkoski 2008a: 106f.). Die (Angebots-)Profile der Gesundheitszentren
können und sollen je nach Bedarf der Bevölkerung einer Region vari-
ieren. Gleichwohl besteht ihre zentrale Aufgabe darin, eine umfassen-
de, koordinierte, gemeindenahe Versorgung zu leisten (Kokko 2009).
Zum Angebot gehören daher nicht allein die (allgemein-)medizinische
Betreuung und Versorgung, sondern auch Prävention und Gesundheits-
förderung, Familienplanung, Mutter- und Kind-, Schul- und Mundge-
sundheit bzw. zahnärztliche Versorgung, Pflege, Physiotherapie, Re-
habilitation, Teile der Notfallversorgung, psychosoziale Unterstützung
und betriebliche Gesundheitssicherung sowie Arbeitsschutz. Einige
Gesundheitszentren halten darüber hinaus spezielle Versorgungsleis-
tungen vor (z. B. zur psychiatrischen, geriatrischen oder palliativen
Versorgung) und bieten zusätzliche fachärztliche Sprechstunden an
(Kokko 2009; Teperi et al. 2009: 49).
International besehen zeichnen sich die finnischen Gesundheitszen-
tren durch eine Besonderheit aus: Charakteristisch für sie ist, dass viele
über eine stationäre Abteilung verfügen, die sowohl der Akut- als auch
der Langzeitversorgung dient und mehrheitlich auf die Versorgung
älterer und chronisch kranker Menschen zielt. Zwar werden die statio-
nären Kapazitäten seit einigen Jahren abgebaut, doch sind die statio-
nären Abteilungen besonders im ländlichen Raum weiterhin wichtige
Säule des Angebotsspektrums.
Wie die dargestellte Angebotspalette andeutet, sind die finnischen
Gesundheitszentren multiprofessionell angelegt. Neben Allgemeinärz-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
16 Kerstin Hämel, Doris Schaeffer
tInnen und ÄrztInnen anderer Fachrichtungen sind dort v. a. Pflegende,
Hebammen, PhysiotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen und Psycholo-
gInnen tätig (OECD 2005: 27; Vuorenkoski 2008a: 106ff.). Die zah-
lenmäßig größte Berufsgruppe bildet die Pflege; das Verhältnis von
Pflegenden zu ÄrztInnen liegt bei 2:1 (OECD 2005: 54). Die Arbeits-
weise bei der medizinischen Versorgung folgt in vielen Zentren dem
»personal doctor« Prinzip, d. h. jedeR PatientIn erhält eine/n persönlich
zuständige/n A(e)rztIn als Bezugsperson und feste/n Ansprechpartne-
rIn, den er/sie bei allen Gesundheitsproblemen im Lauf seines/ihres
Lebens aufsucht. Dabei sind einem/r A(e)rztIn seine/ihre PatientInnen
üblicherweise nach Wohnort zugeteilt und diesen auf diese Weise per-
sonelle Kontinuität und in diesem Sinn auch kontinuierliche Versor-
gung garantiert. Dieses im Rahmen der internationalen Diskussion über
»patient-centred medical homes« für wichtig erachtete Prinzip (Rosser
et al. 2010; Crabtree et al. 2010) wurde in Finnland schon Mitte der
1980er Jahre eingeführt, um der zunehmenden »Depersonalisierung«
entgegenzutreten, wie sie in den größeren Gesundheitszentren herrsch-
te. Zugleich sollten so lange Wartezeiten auf Arzttermine vermieden
werden, die aufgrund des um sich greifenden Ärztemangels schon da-
mals zunahmen (Vohlonen et al. 1989; Vuorenkoski 2008a: 24).
Parallel und in Erweiterung dieses Ansatzes etablierten einige Kom-
munen − ebenfalls initiiert durch das Gesundheitsministerium − schon
in den 1980er Jahren ein multiprofessionell ausgerichtetes Modell, das
dem Muster der kleinräumigen Populationsverantwortung folgt: Nicht
allein die Medizin, sondern auch die anderen Gesundheitsprofessionen
sind (teils über Einrichtungsgrenzen und Sektoren hinweg) für kleine
Gebiete mit ca. 1.500-8.000 EinwohnerInnen verantwortlich, in de-
nen sie gemeinsam die Versorgung sicherstellen (Mäkelä et al. 1998;
Koponen et al. 1997; Kokko 2009; Vourenkoski 2008: 108). Dabei
können unterschiedliche Professionen beteiligt sein, z. B. ÄrztInnen,
Pflegende, Public Health Nurses, SozialarbeiterInnen, Physiotherapeu-
tInnen, Haushaltshilfen und andere.
Während der Exkursionen sind uns verschiedene Arbeitsformen be-
gegnet: multiprofessionelle Teams innerhalb eines Zentrums, und hier
vor allem Arzt-Pflege-Teams, die sich überwiegend der medizinischen
Versorgung der Bevölkerung in einem Gebiet widmen. Pflegende sind
dann ähnlich den AllgemeinärztInnen in geteilter Verantwortung als Ge-
neralisten für alle EinwohnerInnen des Gebiets tätig (Jakonen et al. 2002:
266). Die häusliche Pflege und soziale oder Rehabilitationshilfen sind
ausgelagert und eigenständig organisiert. Sie arbeiten ebenfalls kleinräu-
mig (entlang denselben Gebietszuschnitten) in Teams (Häkkinen 2005:
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Kommunale Gesundheitszentren in Finnland 17
S109; Mäkelä et al. 1998; Niskanen 2002: 5). Die verschiedenen Teams
arbeiten eng zusammen, um auf diese Weise eine umfassende, koordi-
nierte Versorgung der EinwohnerInnen der Gemeinde zu gewährleisten.
So erfolgen beispielsweise ein regelmäßiger (telefonischer oder persön-
licher) Austausch zur Koordination und Abstimmung zwischen Gesund-
heitszentrum und häuslichen Pflegeteams, ebenso Fallbesprechungen
über gemeinsame PatientInnen. Die verschiedenen Teams sichern aber
nicht nur die Versorgung der PatientInnen, sondern entwickeln und ko-
ordinieren auch gemeindeorientierte Interventionen (z. B. Aufklärung zu
Diabetes, Demenz, Beratung für Herz-Kreislauf-RisikopatientInnen).
Wie verbreitet die teambasierte kleinräumige Arbeitsweise in der
Primärversorgung heute ist, lässt sich schwer einschätzen. Einigen Ein-
schätzungen zufolge ist sie weniger bedeutend geblieben als die arzt-
zentrierte Arbeitsweise (exempl. Kokko 2009), anderen (einschließlich
der befragten ExpertInnen) zufolge ist ihr Stellenwert gestiegen (ex.
Teperi et al. 2009). Generell lässt sich beobachten, dass die Bedeutung
der Pflege in der Primärversorgung in den letzten Jahren gewachsen ist
(siehe Exkurs) und damit eine andere Aufgaben- und Verantwortungs-
teilung zwischen ÄrztInnen und Pflegenden Einkehr in das finnische
Gesundheitswesen gehalten hat.

Exkurs: Rolle der Pflege in der Primärversorgung


Die Pflege spielt in der Primärversorgung in Finnland traditionell eine
wichtige Rolle und ist sehr angesehen. Auch das Qualifikationsniveau
ist höher als in Deutschland: bereits Ende der 1970er Jahre hat die
Akademisierung begonnen und seit Anfang der 1990er Jahre ist ein
Bachelorabschluss für Pflegende bindend (Råholm et al. 2010). Heute
weist die Pflege ein recht breites Spektrum an Spezialisierungen auf,
das u. a. auch Public Health Nursing vorsieht (Jakonen et al. 2002).
Denn das Aufgabenspektrum der finnischen Pflege unterscheidet sich
deutlich von dem in Deutschland: es ist sehr viel breiter und umfasst
neben klassischen Pflegetätigkeiten u. a. Aufgaben im Bereich der
Prävention (Impfprogramme, Aufklärung), der Mutter- und Kind- so-
wie Schulgesundheit und – ausgelöst durch den demografischen und
epidemiologischen Wandel – der Gesundheitserhaltung und -versor-
gung im Alter und bei chronischer Krankheit (Miilunpalo et al. 1995;
exemplarisch Kuronen et al. 2011). Mittlerweile versorgen Pflegende
in Finnland zudem eigenständig leichte akute Gesundheitsbeschwer-
den und nehmen etliche früher den ÄrztInnen vorbehaltende Aufgaben
wahr wie beispielsweise das Nähen von Wunden, diagnostische und
therapeutische Maßnahmen und die Ausstellung von Arbeitsunfähig-
keitsbescheinigungen im Krankheitsfall. Bei chronisch Kranken füh-

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


18 Kerstin Hämel, Doris Schaeffer
ren sie eigenverantwortlich Kontrolluntersuchungen durch und über-
wachen das Medikamentenregime. Anfänglich durften Pflegende nur
Kontrazeptiva verordnen, doch seit Beginn der 2000er Jahre erfuhr
ihre Verschreibungsbefugnis eine sukzessive Erweiterung: Einige
Gesundheitszentren haben zunächst in lokalen Richtlinien Patienten-
gruppen und Medikamente definiert, für die Pflegende Verordnungen
vorschlagen, die dann der ärztlichen Zustimmung bedürfen (Delamaire
et al. 2010: 79ff.). 2010 wurde schließlich ein Gesetz verabschiedet,
das Pflegenden erlaubt, Folgerezepte auszustellen und bei bestimmten
chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus Typ 2
und Bronchialasthma eigenverantwortlich Medikamente zu verschrei-
ben (Ministry of Social Affairs and Health 2010: 6ff; vgl. Tynkkynen
2010; Delamaire und Lafortune 2010: 80; Fagerström und Glasberg
2011). In den Zentren ist auszubuchstabieren, welche Medikamente
und Geltungsbereiche das Verschreibungsrecht umfasst. Zudem ist eine
Zusatzqualifikation gesetzlich vorgeschrieben. Die ersten Pflegekräfte
haben diese erst im Frühjahr 2013 abgeschlossen, sodass bisher kaum
Erfahrungen mit der Umsetzung vorliegen.
Es zeigt sich, dass die Aufgabenerweiterung der Pflege seit Jahrzehn-
ten sukzessiv voranschreitet. Das ist vor allem auf den Anstieg chro-
nischer Erkrankungen zurückzuführen, die in Finnland als »nursing
diseases« und damit als Pflegethema gelten. Die Stärkung der Position
der Pflege hat aber auch durch den Ärztemangel an Dynamik gewonnen
(Kokko 2009), der sich auch in Finnland besonders in den ländlichen
Regionen bemerkbar macht. In den ländlichen Gesundheitszentren ist
der Ärztemangel Anlass, neue Arbeitsweisen und einen anderen Profes-
sionenmix zu erproben. In der Summe kann daher konstatiert werden,
dass die Pflege, der anfänglich vornehmlich arztunterstützende Funk-
tion zugedacht wurde, mittlerweile verstärkt arztersetzend tätig ist.

Das Gesundheitszentrum Savitaipale in Südkarelien


Wie sich die Aufgaben- und Verantwortungsteilung in der finnischen
Primärversorgung angesichts der aktuellen Herausforderungen der
ländlichen Versorgung wandelt, soll das folgende Beispiel des kleinen
ländlichen Gesundheitszentrums Savitaipale im Südosten Finnlands
illustrieren. Das Gesundheitszentrum ist für die Primärversorgung der
knapp 3.800 EinwohnerInnen der Gemeinde zuständig. Savitaipale
und die Nachbargemeinden sind mit den typischen Herausforderungen
ländlich-strukturschwacher Regionen konfrontiert: Modellrechnungen
zeigen, dass der Versorgungsbedarf dort aufgrund der wachsenden
Zahl hochaltriger Menschen in den kommenden Jahren stark ansteigen
und zugleich der Fachkräftemangel infolge des Wegzugs junger und
erwerbstätiger Menschen anwachsen wird. Da die Kommunen in der
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Kommunale Gesundheitszentren in Finnland 19
Region schon seit langem bei der Krankenhausversorgung kooperieren,
haben sie beschlossen, sich auch in der Primärversorgung zu vernetzen
und die kommunalen, bis dahin autonomen Gesundheitszentren unter
ein gemeinsames Verwaltungsdach zu stellen. Dazu haben sie sich 2010
zum Social and Health Care District Südkarelien (Eksote) zusammenge-
schlossen, der die Primär-, Facharzt- und die akutstationäre Versorgung
für die 133.000 Einwohner der Region Südkarelien ebenso sicherstellt,
wie soziale Dienste und die Langzeitversorgung und somit die ganze
Bandbreite kommunaler Versorgungsaufgaben bündelt. Eksote operiert
als Großanbieter mit einem Budget von etwa 377 Mio. Euro (2011)
und ist mit rund 4.000 Mitarbeitern zugleich der größte Arbeitgeber in
der Region. Durch gemeinsames Management und bessere Koordina-
tion sollen Synergieeffekte entstehen. Für die vormals in kommunaler
Eigenregie geführten Gesundheitszentren besteht seither die Aufgabe,
gemeinsame Prozesse und Standards zu entwickeln und umzusetzen.
Wie für Gesundheitszentren üblich ist auch das in Savitaipale mul-
tiprofessionell ausgerichtet. Dort tätige Gesundheitsprofessionen sind:
Allgemeinmedizin, Kinderheilkunde, Zahnheilkunde, Physiotherapie
und Pflege mit unterschiedlichen Spezialisierungen (Rheuma, Diabe-
tes, Asthma, psychische und Schulgesundheit). Dass der Pflege auch
hier eine bedeutende Rolle für die Versorgung zukommt, zeigt sich in
der Zusammensetzung des Kernteams, das aus drei Vollzeitstellen für
AllgemeinärztInnen und 4,5 für Pflegende besteht.
Bis zum Jahr 2011 waren die PatientInnen in Savitaipale einem/r per-
sönlich zuständigen A(e)rztIn zugeteilt, dem/der mit Unterstützung durch
Pflegekräfte die medizinische Betreuung oblag. Dem sich verschärfenden
Ärztemangel versuchte man wie in vielen anderen ländlichen Kommu-
nen auch in Savitaipale zunächst durch den Einsatz von LeihärztInnen zu
mildern. Ursprünglich als Flexibilisierungsinstrument gedacht, um parti-
elle Engpässe auszugleichen, hat sich das Leiharbeitssystem, das sich bei
ÄrztInnen aufgrund der guten Verdienstmöglichkeiten großer Beliebt-
heit erfreut, rasch verbreitet und das Festanstellungsprinzip der Zentren
mehr und mehr ausgehöhlt (vgl. Tynkkynen et al. 2012).
Infolgedessen wurden LeihärztInnen in vielen kleinen Orten Südkare-
liens nicht mehr nur als Urlaubs- und Krankheitsvertretungen eingesetzt,
sondern dienten der Aufrechterhaltung des Alltagsbetriebs. Doch mit
ihrem Einzug wurde die Sicherstellung einer kontinuierlichen Versorgung
durch eine/n persönlich zuständige/n A(e)rztIn in den Gesundheitszentren
zunehmend schwierig. So kamen in Savitaipale mit seinen Außenstellen,
wo im Jahr 2011 insgesamt 10 ÄrztInnen eingeplant waren (inkl. Urlaubs-
und Krankheitsvertretungen), letztlich 39 ÄrztInnen zum Einsatz.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
20 Kerstin Hämel, Doris Schaeffer
Um Nachteile aus den häufigen Personalwechseln für die PatientIn-
nen zu vermeiden, führten die Gesundheitszentren in Südkarelien ein
neues Konzept ein: Sie ernannten Pflegende zu ErstansprechpartnerIn-
nen für die PatientInnen und zum Garanten der Kontinuitätssicherung
der Versorgung. Die PatientInnen haben seither eine(n) Pflegende(n)
als persönliche Bezugsperson, der/die auch AnsprechpartnerIn bei der
Terminsuche ist, den Bedarf abklärt, u. U. ein Assessment durchführt
und dann eine entsprechende Terminplanung im Zentrum vornimmt.
Wie in Finnland üblich, setzt auch das Gesundheitszentrum in Savi-
taipale eine längere Konsultationszeit an, als sie beispielsweise in
Deutschland zu finden ist: Je nach Bedarf werden 15 oder 30 Minuten
pro PatientIn veranschlagt. Die Festlegung bemisst sich nicht allein nach
medizinischen Gesichtspunkten, sondern auch an sozialem und kommu-
nikativem bzw. informativem Unterstützungsbedarf, um auf diese Wei-
se eine der Problemsituation der PatientInnen gerecht werdende und
überdies präventiv ausgerichtete Versorgung zu ermöglichen.
Auch die Pflegenden halten eigene Sprechstunden ab, denn sie tra-
gen in geteilter Verantwortung mit den ÄrztInnen die gesundheitliche
Versorgung der Menschen in der Region. Während Arztbesuche immer
vorab terminlich vereinbart sein müssen, bieten die Pflegenden mor-
gens für zwei Stunden eine offene Sprechstunde an. Hinzu kommen
termingebundene Sprechzeiten am Nachmittag, in denen die Versor-
gung von Menschen mit chronischen Krankheiten im Mittelpunkt steht.
Hier nehmen die Pflegenden zunehmend arztersetzende Funktion wahr.
Die Verlagerung der Primärversorgungsaufgaben in Richtung Pflege
schlägt sich auch in der Versorgungsstatistik nieder: So ist die Zahl
der ambulanten Arztkontakte in den kommunalen Gesundheitszentren
Südkareliens deutlich zu Gunsten der Pflegekontakte zurückgegangen.
Zudem haben sich die Wartezeiten für Termine stark verkürzt.
Die neue Arbeitsteilung zwischen Medizin und Pflege erfordert eine
enge Koordination und Kooperation. Die MitarbeiterInnen schätzen
daher die räumliche Nähe im Gesundheitszentrum – sie stellt ihrer
Einschätzung nach eine gute Voraussetzung für eine intensive Zusam-
menarbeit dar. Auch regelmäßige Teambesprechungen und Austausch
sichern die Kooperation und dienen der Koordination, für die außerdem
eine regional einheitliche elektronische Patientenakte sorgt, die zur
Abstimmung der Versorgung innerhalb und außerhalb des Zentrums
beiträgt. Insgesamt, so die Einschätzung der InterviewpartnerInnen in
Savitaipale, haben die stärkere Rolle und Position der Pflege, die neue
Aufgabenteilung zwischen Medizin und Pflege sowie die Veränderung
der Koordination und Kooperation zur Verbesserung der Arbeitsweise
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Kommunale Gesundheitszentren in Finnland 21
des Gesundheitszentrums und der Zufriedenheit von PatientInnen und
Beschäftigten beigetragen.
Typisch für die Arbeitsweise des Gesundheitszentrums ist außerdem
das Prinzip der Gemeindeorientierung. Das Zentrum führt Informa-
tions- und Aufklärungsveranstaltungen in der Gemeinde durch und ist
regelmäßig mit VertreterInnen der Gemeinde im Gespräch. Erwähnens-
wert ist, dass das kleine Zentrum anhand vergleichender kommunaler
Morbiditätsdaten, die in Finnland sehr gut aufbereitet sind, die gesund-
heitliche Lage der Bevölkerungs(gruppen) der Gemeinde beobachtet.
Die Daten sind Entscheidungshilfe für Ziel- und Schwerpunktsetzun-
gen und begründen die Durchführung gemeindeorientierter Interven-
tionen, beispielsweise der Diabetesprävention.
Auch in Savitaipale existiert ein stationärer Bereich mit jeweils 15
Betten für die Akut- und die Langzeitversorgung. Die Leitung obliegt
einem Arzt und einer Pflegedienstleitung, die Betreuung wiederum
zwei Pflegeteams, die am Wochenende gelegentlich auch die ambulan-
te Versorgung von PatientInnen, beispielsweise Wundbehandlungen,
übernehmen. Am Wochenende liegt die stationäre Versorgung allein
in der Verantwortung der Pflegenden. Wird eine ärztliche Intervention
erforderlich, ziehen sie konsultativ eine/n feste/n ärztliche/n Ansprech-
partnerIn des regionalen Krankenhauses hinzu.
Die LangzeitpatientInnen sind allesamt in hohem Maß pflegebe-
dürftig und auf eine intensive, spezialisierte pflegerische Versorgung
angewiesen. Viele können nicht mehr selbstständig das Bett verlas-
sen und leiden unter massiven Funktionseinschränkungen. Die Be-
treuung der PatientInnen erfolgt nach dem »primary nursing« Prinzip
(Bezugspflege), d. h. auch sie haben eine(n) Pflegenden als feste(n)
Ansprechpartner(in), der/die eine individuell bedarfsgerechte, kontinu-
ierliche Versorgung gewährleisten soll. Auch in Deutschland wird die
Bezugspflege als wünschenswert angesehen, aber eher selten realisiert.
Mit ihren Zwei- und Dreibettzimmern und ihrer Ausstattung ent-
spricht die Station allerdings nur bedingt heutigen Vorstellungen (Un-
terbringung im Einzelzimmer, eigene Möblierung, wohnliches Umfeld)
und erinnert an die früheren Chronikerabteilungen im Krankenhaus.
Dennoch werden gesundheitspolitische Bestrebungen in Südkarelien,
die insgesamt noch bestehenden 700 Langzeitpflegeplätze in den kom-
munalen Gesundheitszentren weiter abzubauen, in Savitaipale kritisch
gesehen. Denn die dortige Langzeitversorgung gewährleistet ein hohes
pflegerisches und medizinisches Versorgungsniveau, das Pflegeheime
zurzeit nicht vorhalten. Generell werden seitens der Gesundheitspoli-
tik derzeit traditionsreiche Prinzipien der Gesundheitszentren in Frage
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
22 Kerstin Hämel, Doris Schaeffer
gestellt – so auch das der Wohnortnähe. So soll bei der Zuweisung von
akutstationär versorgten PatientInnen an die Gesundheitszentren künf-
tig nicht mehr allein der Wohnort der PatientInnen entscheidend sein,
sondern der zeitlich nächst freiwerdende Platz in einem der regiona-
len Gesundheitszentren, der jedoch u. U. bis zu 100 km vom Wohnort
und dem heimischen Gesundheitszentrum entfernt liegen kann (vgl.
Korpela et al. 2012). Aus Sicht der Verwaltung überwiegen dabei die
Vorteile (Optimierung des Ressourceneinsatzes), die MitarbeiterInnen
in Savitaipale sehen hingegen das Prinzip der Versorgungskontinuität
verletzt.
Dies verdeutlicht das Spannungsfeld, in dem sich derzeit viele länd-
liche Gesundheitszentren in Finnland bewegen. Denn wie eingangs
erwähnt wird der Zusammenschluss der kleinen kommunalen Gesund-
heitszentren zu größeren regionalen Einheiten weiter vorangetrieben.
Für diese Zusammenlegung spricht, dass gerade kleine ländliche Kom-
munen angesichts des fortschreitenden demografischen und wirtschaft-
lichen Wandels unzureichend dafür gerüstet sind, eine umfassende
Primärversorgung sicherzustellen und dass wohnortnahe Zentren durch
die gemeinsame Organisation letztlich stabilisiert werden könnten. Zu
befürchten ist jedoch, dass damit der Rückzug aus der Fläche begüns-
tigt wird und die Zentren in ländlichen Regionen zunehmend unter
Rechtfertigungsdruck geraten, welche Leistungen vor Ort vorzuhalten
unverzichtbar ist. Ob der verwaltungstechnischen nun auch eine räum-
liche Zentralisierung folgen wird, kleine Gesundheitszentren verstärkt
Funktionen abgeben müssen, oder ob sich die Tradition der kleinen
Zentren − möglicherweise in neuem Gewand − behaupten kann, wird
sich in den kommenden Jahren zeigen. Festzuhalten bleibt, dass sie
zentrale Säulen der ländlichen Versorgung sind. Ihre Errungenschaften
sind nicht zu übersehen und daher ist zu wünschen, dass die wohnort-
nahen Strukturen auch künftig erhalten bleiben.

Perspektiven für die Weiterentwicklung der Primärversorgung in


Deutschland
Auch in Deutschland steht angesichts zunehmender Unterschiede der
regionalen Entwicklungen und zunehmender Unterversorgungserschei-
nungen in einigen ländlichen Gebieten an, zu konstruktiven Überle-
gungen für eine bedarfsgerechte Weiterentwicklung ländlicher Versor-
gungsstrukturen zu gelangen. Da eine systematische Diskussion und
auch eine auf die speziellen Anforderungen in ländlichen Regionen
gerichtete Modellentwicklung in Deutschland noch aussteht (Hämel
et al. 2013), lohnt ein Blick auf Erfahrungen in anderen Ländern. Die
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Kommunale Gesundheitszentren in Finnland 23
kommunalen Gesundheitszentren in Finnland bieten einen reichhalti-
gen Erfahrungsschatz und zahlreiche Anregungen für die hiesige Aus-
einandersetzung: Sie sind zentrale Säulen der Versorgungssicherheit im
ländlichen Raum und haben dort mehrfach auf die erschwerten Versor-
gungsbedingungen reagiert. Zugleich ermöglichen sie eine umfassende
Versorgung aus einer Hand, bieten ein Kontinuum unterschiedlicher,
aufeinander abgestimmten Hilfen, während in Deutschland bis heute
eine kleinteilige und zersplitterte Angebotsstruktur existiert und damit
verbunden Versorgungsbrüche und Zugangsbarrieren den Alltag prä-
gen (Ewers und Schaeffer 2012).
Betrachtet man die in Deutschland anstehenden Herausforderungen
der Versorgung (siehe dazu exemplarisch SVR 2009, 2014) erschei-
nen vor allem folgende Aspekte der finnischen kommunalen Gesund-
heitszentren und des ihnen zugrundeliegenden Primärversorgungs-
konzepts bedeutsam:
Wenngleich die Gestaltung der Zentren nicht überall gleichförmig
ist und heute andere Formen der Organisation und Governance gesucht
werden, eröffnet die flächendeckende Verbreitung und der wohnort-
nahe Charakter der Zentren den PatientInnen und NutzerInnen nach
wie vor einen einfachen, niedrigschwelligen Zugang zur Gesund-
heitsversorgung. Zugleich lehrt die Entwicklung in Finnland, dass
wandelnde gesellschaftliche und regionale Bedingungen eine fortlau-
fende Anpassung verlangen. Um dennoch ein kohärentes Konzept auf-
rechtzuerhalten, werden gemeinsame Prinzipien und Zielvisionen der
Gesundheitszentren für wichtig erachtet: an erster Stelle ist hier die
Bevölkerungs- und Gemeindeorientierung zu nennen, denn die Gesund-
heitszentren richten sich an dem Versorgungsbedarf der Bevölkerung
und den sozialen Bedingungen in einer Region oder Kommune aus.
Sie federn regionale wie auch soziale Ungleichheiten ab, denn durch
die populationsorientierte Arbeitsweise haben sie auch die Sozial-
struktur der verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Einzugsgebiet im
Blick. Eine stärker populationsorientierte Versorgungsgestaltung ist
angesichts des regional unterschiedlich verlaufenden demografischen
Wandels und der Zunahme sozialräumlicher und gesundheitlicher Un-
gleichheit auch in Deutschland erforderlich (SVR 2009), hierzulande
aber bisher kaum realisiert.
Wie zuvor dargestellt, beschränken sich finnische Gesundheitszen-
tren nicht etwa auf medizinische Aufgaben, sondern bündeln unter-
schiedliche Angebote und Professionen unter einem Dach, bieten da-
mit eine ›integrierte‹ und wohnortnahe Primärversorgung, die auch bei
komplexen Problemlagen tragfähig und überdies leicht zugänglich und
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
24 Kerstin Hämel, Doris Schaeffer
räumlich gut erreichbar ist. Durch den sektorenübergreifenden Cha-
rakter ist Kontinuität gewährleistet und können Versorgungsbrüche
vermieden werden. Zudem ist dadurch möglich, die Versorgung um-
fassend und flexibel zu gestalten. Viele der bisher in Deutschland ent-
wickelten integrierten Versorgungsmodelle bleiben weit hinter diesem
Ansatz zurück.
Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass die finnischen Ge-
sundheitszentren auch kleine stationäre Einheiten vorhalten, die – wie
erwähnt – sowohl einige Akut- wie Langzeitversorgungsbetten vorhal-
ten. Sie sind damit einmal mehr in der Lage, den gesamten (Grundver-
sorgungs-)Bedarf in ländlichen Regionen abzudecken und bieten damit
eine ›Versorgungssicherheit‹, die von der Bevölkerung sehr geschätzt
wird – ein Gesichtspunkt der in Deutschland intensivere Beachtung fin-
den sollte.
Während in Deutschland nach wie vor traditionelle hierarchische
Formen der Kooperation und Aufgabenteilung zwischen den Gesund-
heitsprofessionen den Alltag prägen, hat in der finnischen Primärver-
sorgung eine teamorientierte, multiprofessionelle Arbeitsweise Einkehr
gehalten. Auf ihrer Grundlage haben die Zentren die Aufgaben- und
Verantwortungsteilung zwischen Medizin und Pflege weiterentwickelt
und einen anderen Professionenmix herausgebildet. Markant ist die
Stärkung der Rolle der Pflege in der Primärversorgung und die darge-
stellte Erweiterung ihres Aufgabenspektrums. Wie in vielen anderen
Ländern ist die Pflege in Finnland heute gerade in ländlichen Gebieten
zunehmend arztersetzend tätig (Bushy 2002; Winters und Lee 2010) −
gestützt durch akademische Qualifizierungen (Fagerström 2009;
Råholm et al. 2010). Auch in Deutschland gewinnt die Akademisie-
rung der Pflege allmählich an Zugkraft, liegt aber noch weit hinter der
Entwicklung in anderen Ländern zurück (SVR 2014, Wissenschaftsrat
2012; Ewers et al. 2012, Behrens et al. 2012) und zudem fehlt eine flan-
kierende Entwicklung von Praxisfeldern für erweiterte Pflegeaufgaben.
Wenn sie angegangen wird – was zweifelsohne bald erfolgen sollte –
ist den Erfahrungen der finnischen Gesundheitszentren zufolge vielver-
sprechend, Pflegenden größere Verantwortung in der Primärversorgung
von Menschen mit chronischen Krankheiten zu übertragen.
Die Arbeitsweise der Zentren ist zudem durch eine enge Koordina-
tion der Versorgung geprägt. Sie umfasst eine systematische Bedarfs-
klärung und Termin- und Maßnahmenkoordination, regelmäßige Ar-
beits- und Fallbesprechungen auch mit den Gesundheitsprofessionen in
anderen Versorgungszweigen und wird durch eine einheitliche elektro-
nische Patientenakte, die Informationen über die PatientInnen bündelt
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Kommunale Gesundheitszentren in Finnland 25
und allen beteiligten AkteurInnen jederzeit zugänglich macht, gestützt.
Viele dieser in Finnland realisierten Ansätze sind auch für die hiesige
(Primär-)Versorgungsdebatte interessant und inspirierend. Sie sind be-
sonders begrüßenswert, weil sie langen Suchbewegungen von Patien-
tInnen im Versorgungssystem entgegenwirken und eine abgestimmte
Versorgung aller Beteiligten befördern.
Aus NutzerInnenperspektive ist zudem personelle Kontinuität ein
wichtiges Qualitätskriterium. Sie wird durch eine für den/die Patien-
ten/in zuständige Bezugsperson – einen »personal doctor« oder einer
»personal nurse« – hergestellt, die als erste Anlaufadresse fungieren.
Kontinuität ist gerade für die Versorgung bei chronischen Erkrankun-
gen und komplexen Versorgungsproblemen von besonderer Bedeu-
tung (WHO 1981; WHO EURO 1987; Schaeffer 2009; Schaeffer und
Moers 2011). Deutschland setzt hier stark auf Konzepte wie Case oder
Care Management zur Überwindung von bestehenden Strukturdefizi-
ten und durch sie bedingte Versorgungsbrüche. Die positiven Erfah-
rungen aus Finnland zeigen jedoch, dass es möglicherweise hilfreicher
wäre, Kontinuität durch die Organisation der Versorgungsstrukturen
zu sichern.
Schließlich lehrt die Entwicklung in Finnland auch, dass einmal eta-
blierte und eingespielte Modelle nicht für die Ewigkeit Bestand haben
und fortlaufende Anpassung an sich wandelnde gesellschaftliche Be-
dingungen erfordern. Die Gesundheitszentren sind diese Schritte mutig
gegangen, ohne ihre ursprünglichen Intentionen zu verlieren und haben
auf ihrem Weg eine unter vielen Gesichtspunkten zukunftsfähige Ver-
sorgungsgestaltung etabliert.

Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Kerstin Hämel
Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld
Universitätsstraße 25
33615 Bielefeld
Tel.: +49 (0)521 106 38 94
Fax: +49 (0)521 106 64 37
E-Mail: kerstin.haemel@uni-bielefeld.de

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


26 Kerstin Hämel, Doris Schaeffer
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JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


30
Luís Velez Lapão

Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in der


primären Gesundheitsversorgung in Portugal

Zusammenfassung
Primäre Gesundheitsversorgung (PHC) gilt als Strategie sowohl für
eine Verbesserung des Zugangs zu medizinischer Versorgung als auch
zugleich für die Kontrolle zunehmender Gesundheitsausgaben und
den Umgang mit steigenden Qualitätserwartungen der BürgerInnen.
Dieser Artikel gibt zunächst einen Überblick über die 50-jährige Re-
formgeschichte der Primärversorgung in Portugal und liefert dabei
Hintergründe zum Verständnis der Rolle verschiedener Reform- und
Umsetzungsstrategien aus einer Perspektive der Politikgestaltung
und des Veränderungsmanagements. Dabei dient Kingdons »Multiple
Streams«-Theorie der Politikentwicklung als Grundlage zur Bestim-
mung und Analyse der Politikzyklen während des Reformprozesses. Mit
Hilfe dieser Theorie lässt sich die Bedeutung von Personen, Institutio-
nen und »leadership« für erfolgreiche Reformen erklären, die zudem
geeignete politische Momente brauchen. Der Artikel stellt Eckpunkte
der PHC-Reform in Portugal vor, die aus einer Reihe gezielter Reform-
schritte bzw. »Reformwellen« bestand.

Abstract
Primary health care (PHC) is acknowledged as strategic means to im-
prove access to health care and, at the same time, to address the issu-
es of rising costs and users’ quality expectations. The paper gives an
overview of the last 50 years of PHC reform in Portugal and provides
the background for understanding the role of the various reform and
implementation strategies from the perspective of policy making and
change management. Kingdon’s »multiple streams« theory of policy
development was used to analyse and identify the cycles of policy ma-
king during the reform process. This theory helps defining the relevance
of individuals, institutions, and leadership for successful reforms that
have to make use of appropriate windows of opportunity. The paper
depicts highlights of the PHC reform in Portugal implemented as a set
of focused reforms or »reform waves«.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in Portugal 31
Resumo

A função dos cuidados de saúde primários (CSP) é reconhecida como


adequada estratégia para melhorar o acesso aos cuidados de saúde e,
ao mesmo tempo, de conseguir lidar com o crescimento dos custos e as
expectativas dos cidadãos de maior qualidade. Neste artigo apresenta-
se uma revisão do que sucedeu em Portugal nos últimos 50 anos de
reforma dos CSP, fornecendo antecedentes para compreender o papel
de um conjunto de estratégias de reforma e de implementação tiveram,
numa perspectiva de desenho de políticas e de gestão da mudança.
A teoria do desenvolvimento de políticas dos »fluxos múltiples« de
Kingdon foi utilizada para analisar e salientar deste processo os vários
ciclos de desenvolvimento de políticas. Esta teoria ajuda a definir a re-
levância das pessoas, instituições e lideranças no sucesso das reformas
que têm de aproveitar as »janelas de oportunidade«. Apresentam-se
pontos chave da reforma dos CSP em Portugal, como um conjunto de
reformas focalizadas, ou »ondas de inovação«.

Die Rolle der Primärversorgung


Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) setzt sich seit langem für eine
Stärkung der Primärversorgung ein. 30 Jahre nach der Konferenz von
Alma-Ata im Jahr 1978 legte sie den Weltgesundheitsbericht 2008 vor,
in dem sie zu dem Ergebnis kam, eine gut organisierte Primärversor-
gung (englisch: Primary Health Care – PHC) sei heute »nötiger denn
je« (WHO 2008). Demnach eignet sich PHC nicht nur als Strategie zur
Verbesserung des Zugangs zur Krankenversorgung, sondern bietet zu-
gleich Lösungen für die Herausforderungen wachsender Gesundheits-
ausgaben und steigender Erwartungen der PatientInnen an die Qualität
der medizinischen Versorgung.
Neu waren diese Erkenntnisse allerdings nicht, denn zuvor hatten
beispielsweise der Pflegewissenschaftler Avenis Donabedian (2005)
und der ehemalige Leiter von Medicare und Medicaid in den USA,
Donald Berwick (2001), auf die Notwendigkeit einer verbesserten me-
dizinischen Versorgungsqualität hingewiesen. Unterstützung erhielt
die Forderung nach einer stärkeren Beachtung der Primärversorgung
durch die renommierte Gesundheitswissenschaftlerin Barbara Starfield
und KollegInnen (1998; 2002; 2007; 2011), denn sie lieferten schon
früh empirische Belege für positive Auswirkungen einer starken Pri-
märversorgung auf die gesundheitliche Lage in einem Land.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
32 Luís Velez Lapão
Mit der Deklaration von Alma Ata (WHO 1978), deren PHC-Defini-
tion bis heute Gültigkeit hat, war anfangs die Erwartung verbunden, die
meisten Länder würden dieser Strategie folgen. Zwar finden die Kern-
elemente von PHC zumindest in Ansätzen fast überall Anwendung,
aber bei der Primärversorgung bestehen weltweit und auch innerhalb
Europas erhebliche Unterschiede, wie das Projekt Euprimecare der
Europäischen Kommission (2012) zeigte.

Reform der gesundheitsbezogenen Primärversorgung


PHC-Reformen zielen in erster Linie auf Qualitätsverbesserungen und
Kosteneinsparungen ab. Das European Health Observatory empfiehlt
flexiblere Organisationsstrukturen, um besser auf die zunehmende
Komplexität der Krankenversorgung reagieren zu können (Mckee und
Healy 2002). Trisolini (2004) verwies auf das Potenzial einer starken
primären Gesundheitsversorgung, die Qualität zu verbessern und die
Gesundheitsgaben zu verringern, betonte dabei aber auch, der Weg da-
hin sei alles andere als einfach und erfordere sowohl politische Führung
als auch angemessenes Management. In Kanada, Portugal und Groß-
britannien gilt leadership als Kernaspekt von Gesundheitsreformen
(Dickson 2009; Lapão und Dussault 2011). In Großbritannien wie in
einigen weiteren Ländern sind die meisten AllgemeinärztInnen (GP)
vertraglich in ein Versorgungsprogramm eingebunden (Campbell et al.
2007; Reischauer et al. 2003).
Eine Stärkung der Primärversorgung setzt neue Tätigkeiten und
Aufgaben voraus, um entscheidende PHC-Ziele wie gleichen Zugang
für alle, zweckmäßige Behandlung und die Befriedigung der Bedürf-
nisse und Erwartungen der Bevölkerung zu gewährleisten. Das erfor-
dert angemessene Antworten auf verschiedenen Ebenen. In der inter-
nationalen Diskussion bezeichnet Capacity dabei die Fähigkeit von
Organisationen, über Management und mit den verfügbaren finanziel-
len, technischen und personellen Ressourcen ihre Ziele zu bestimmen
und zu erreichen (Potter und Brough 2004; Mizrahi 2004). Zugleich
sind für umfassendere Veränderungen wie eine Reform der primären
Gesundheitsversorgung geeignete regulatorische, institutionelle und
politische Rahmenbedingungen von wesentlicher Bedeutung. Dabei
ist beispielweise die Anpassung der Arbeits- und Aufgabenteilung
zwischen den verschiedenen beteiligten Berufsgruppen an den Ver-
sorgungsbedarf unerlässlich (Barringer und Jones, 2004). Insgesamt
erfordert der Aufbau einer qualitativ hochstehenden Primärversorgung
besser organisierte LeistungserbringerInnen, qualifiziertere Leitungen
und besser ausgebildete Gesundheitsfachleute, eine bessere Verzah-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in Portugal 33
nung mit der Sekundärversorgung und ein übergreifendes Patienten-
informationssystem.
Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Reformen der Primär-
versorgung in Portugal während der letzten 50 Jahre und beleuchtet
dabei die verschiedenen Reform- und Umsetzungsstrategien aus poli-
tischer Perspektive und im Hinblick auf Veränderungsprozesse. Er be-
ginnt mit einem kurzen Überblick über die PHC-Politik und die Pri-
märversorgungsstrukturen in Portugal, um anschließend die jüngeren
Reformentwicklungen seit 2005 darzustellen. Dabei dient der Multiple
Streams-Ansatz der Politikentwicklung von John Kingdon (1995) mit
seinen Politikzyklen bzw. Reformwellen als analytische Grundlage für
die Auswertung der 50-jährigen Reformerfahrung. Das Modell von
Kingdon dient dazu, zum einen die Rolle der beteiligten Individuen
und zum anderen der Politikentscheidungen herauszuarbeiten. Dieser
Ansatz erlaubt es, Reformprozesse zu bewerten und förderliche wie
hemmende Faktoren bei der Umsetzung politischer Vorhaben in tat-
sächliche Veränderungen zu erkennen.

Überblick über das Portugiesische Gesundheitssystem


Portugal führte 1979 ein öffentliches, universelles und überwiegend
steuerfinanziertes Gesundheitswesen ein (Barros und Simões 2011),
dessen Steuerung bei fünf Regionalbehörden und einer Zentralen Ge-
sundheitsverwaltung liegt, die das Budget auf der Basis einwohnerbezo-
gener Kopfpauschalen und unter Berücksichtigung historischer Budgets
auf Grundlage der in den Vorjahren erbrachten Leistungen festlegt. Die
regionalen Gesundheitsämter sind für die Umsetzung von bevölke-
rungsbezogenen Maßnahmen und die Überwachung und Kontrolle von
77 Krankenhäusern und 53 Primärversorgungsverbünden (s. u.) verant-
wortlich. Bei Bedarf verhandeln die Regionalbehörden mit privaten An-
bieterInnen, um zusätzliche Leistungen einzukaufen. Einen wichtigen
Beitrag liefert das Nationale Institut für Medizinische Notfallversor-
gung (Instituto Nacional de Emergências Médicas – INEM), das ein in-
tegriertes medizinisches Notfallsystem koordiniert und landesweit eine
angemessene Notfallversorgung gewährleistet.
JedeR registrierte BürgerIn hat freien Zugang zu Konsultationen bei
einem/r A(e)rztIn (oder Pflegekraft) in den Primärversorgungseinrich-
tungen; die Terminvergabe erfolgt nach Dringlichkeit. In dringenden
Fällen kann ein/e PatientIn sofort einen Termin bekommen und damit
eine Reihe klar definierter Notfallbehandlungen in Anspruch nehmen;
andernfalls liegt die Wartezeit für einen Behandlungstermin bei zwei
bis drei Tagen. JedeR PatientIn muss eine Zuzahlung von etwa 5 € leis-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
34 Luís Velez Lapão
ten, chronisch Kranke und Kinder sind davon befreit. In den Primärver-
sorgungszentren herrschen in der Regel gute Bedingungen mit geräu-
migen Sprechzimmern für ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen sowie
bequemen Warteräumen. Bei Bedarf können die PatientInnen auch per
Telefon oder Email einen Behandlungstermin ausmachen, und seit kur-
zem gibt es für bestimmte PatientInnen wie ChronikerInnen auch eine
internet-basierte eAgenda zur automatischen Terminvereinbarung.
Die vergleichsweise gute Qualität im Verhältnis zu den relativ gerin-
gen Ausgaben macht das portugiesische heute zu einem der effizientes-
ten Gesundheitssysteme in Europa. In der internationalen vergleichen-
den Bewertung im Weltgesundheitsbericht 2000 mit dem Titel »Health
systems: improving performance« (WHO 2000) nahm Portugal den
zwölften Platz ein, wohingegen Deutschland vor allem aufgrund der
höheren Kosten und der mangelnden Koordinierung der Versorgung
nur auf Platz 25 landete (Herrmann und Giovanella 2013). Portugal
kann eine positive Nutzung der verfügbaren Ressourcen für die Versor-
gung der Bevölkerung vorweisen (Gomes und Lapão 2011). Verschie-
dene Gegebenheiten des portugiesischen Gesundheitswesens, von poli-
tischen Entscheidungsprozessen bis zur Beteiligung der Bevölkerung,
könnten für andere europäische Systeme von Interesse sein, wenn sie
eine Reform in Richtung eines stärker primärversorgungsorientierten
Gesundheitswesen anstreben.

Reformwellen der portugiesischen Primärversorgung


Wie in anderen OECD-Ländern zielten die Reformbemühungen in Por-
tugal auf eine Stärkung von Familiengesundheitsdiensten und den Auf-
bau einer universell zugänglichen Primärversorgung ab. Mittlerweile
gilt der portugiesische Reformprozess im internationalen Kontext als
interessantes Fallbeispiel (WHO 2008: 3). Dabei ist allerdings zu be-
denken, dass sich eine »Reform« jeweils über etliche Jahre erstreckt
und letztlich das Ergebnis einer Folge kleiner »Reformen« oder Inter-
ventionen im Sinne von Innovationswellen (Butter und Hoogendoorn
2008) ist. Reformen der Primärversorgung erfolgten in Portugal in fünf
Wellen, die 1962 mit dem Aufbau von Gesundheitszentren begannen,
sich seither über alle fünf Dekaden erstreckten und ihren bisherigen
Abschluss in der Einführung selbstorganisierter »Familiengesundheits-
einheiten« (Unidades de Saúde Familiar – USF) fanden.
Der Anfang des in den 1960er Jahre begonnen Aufbaus eines Primär-
versorgungssystems zielte in erster Linie auf eine Senkung der hohen
Kindersterblichkeit ab, die damals bei 77,5 pro Tausend Lebendgebur-
ten lag (INE 2001). Kernstück war neben einem umfassenden Impf-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in Portugal 35
programm die Etablierung eines landesweiten Netzes von Mutter-Kind-
Gesundheitseinrichtungen mit Unterstützung des Gesundheitsnetzwerks
Santas Casas da Misericórdia der Katholischen Kirche. Grafik 1 zeigt die
Veränderung der Kindersterblichkeit in mehreren europäischen Ländern
zwischen 1970 und 2007, die in Portugal den stärksten Rückgang zeigte.

Grafik 1: Änderung der Kindersterblichkeit in Europa zwischen 1970 und 2007;


Anordnung der Länder nach den Raten von 2008 in aufsteigender Reihenfolge
(Quelle: Ministério da Saúde 2009).

Nach der Demokratisierung 1974 war der Aufbau eines Nationalen


Gesundheitsdienstes (NHS) nach britischem Vorbild eins der erklärten
Ziele der Regierung. Im Anschluss an die Einführung des NHS im Jahr
1979 etablierte Portugal drei Jahre später per Gesetz die Ausbildung
zum/r Facha(e)rztIn für Familienmedizin und errichtete im Folgejahr
eine zweite Generation von Primärversorgungszentren. Hierbei spiel-
ten die neuen FachärztInnen für Familienmedizin eine zentrale Rolle,
waren aber zur gleichen Zeit noch mit der genauen Rollendefinition und
der Organisation ihrer Arbeit befasst (Pisco 2008). Kritisch war neben
der Überforderung der betrauten FamilienmedizinerInnen und Pflege-
kräfte die Tatsache, dass die Neureglung die Bevölkerung gesetzlich
verpflichtete, sich in einem Primärversorgungszentrum einzuschreiben,
um sich dort behandeln zu lassen und bei Bedarf Anspruch auf Über-
weisung an andere Fachrichtungen oder ins Krankenhaus zu haben.
1985 entstand eine Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin
(Associação Portuguesa de Medicina Geral e Familiar – APMCG),
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
36 Luís Velez Lapão
die alle in der Primärversorgung tätigen ÄrztInnen zusammenbringen
und für eine stärkere Unterstützung der Reform werben sollte. 1990
gab die Gesellschaft ein »Blaues Buch« heraus, das etliche drängende
Herausforderungen in der Primärversorgung aufzeigte (APMCG 1991).
1996 erfolgte die versuchsweise Einführung neuer Organisations- und
Leitungsstrukturen wie der »Alpha-Gruppen«; dabei vereinbarten Fa-
milienärzteteam mit den regionalen Gesundheitsbehörden gemeinsame
Ziele zur Verbesserung der Versorgungsqualität. Ein weiteres Beispiel
ist das »Experimentelle Regulatorische Regime« (RRE), ein erweitertes
»Alpha-Modell«, in dem ÄrztInnen die Zuweisung von PatientInnen
und eine leistungsabhängige Kopfpauschalenbezahlung akzeptierten
(Conceição et al. 2005).
1999 führte die Regierung eine dritte Generation von selbstorgani-
sierten Primärversorgungseinheiten ein, die patientenbedarfsbasierte
und klinische Management- und Governance-Praktiken wie klinische
Audits, Leitlinien und Teamarbeit einsetzten (van Zwanenberg und
Harrison 2007; Biscaia et al. 2006; Baker et al. 2001). 2003 erfolgte die
Veröffentlichung erster Evaluierungsergebnisse über die »Experimen-
tellen Regulatorischen Regimes«, die insgesamt positive Schlussfolge-
rung erlaubten und zum wichtigsten Argument für eine vierte Reform-
welle wurden (Gouveia et al. 2005).

Die Reform 2005–2012


Die bisher letzte Reform der Primärversorgung in Portugal erfolgte
zwischen 2005 und 2012. Sie bestand hauptsächlich in der Einführung
neuer Management- und klinischer Governancestrukturen zur weiteren
Verbesserung des Zugangs zur Versorgung, zur Eindämmung der unan-
gemessenen Inanspruchnahme der sekundären und Notfallversorgung,
zur Steigerung der Effizienz und zur besseren Kontrolle der Ausgaben.
Letztlich verfolgte diese Reform das Ziel, jedem/r EinwohnerIn in Por-
tugal Zugang zu einem/r FamilienmedizinerIn in einem bestimmten
Gesundheitszentrum zu garantieren (Lapão 2008). Die Reform begann
2005 unter ausgesprochen günstigen politischen und ökonomischen Be-
dingungen; sie hatte die Unterstützung einer Mehrheitsregierung (zuvor
hatten zumeist Koalitionen regiert), und die wirtschaftlichen Prognosen
waren positiv. Die größten Herausforderungen bestanden im Mangel an
FamilienmedizinerInnen und in der Einführung neuer Organisations-
strukturen. Das Reformvorhaben deckte sich mit allgemeinen Trends
innerhalb der OECD (2001) und knüpfte an die Maßnahmen der voran-
gegangenen 30 Jahre an. Neben der Einführung eines/r Facha(e)rztIn für
Familienmedizin, der Förderung von Gruppenpraxen und Teamarbeit
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in Portugal 37
und zusätzlicher Honorierungsformen wie Kopfpauschalen als Ergän-
zung zur Einzelleistungsvergütung beinhaltete die Reform auch den
Aufbau häuslicher Betreuungs- und gemeindebasierter psychiatrischer
Versorgungsstrukturen sowie eine Stärkung der Gatekeeper-Rolle der
Familienmedizin bzw. der Primärversorgung als erster Kontaktpunkt
der Versorgung (Bodenheimer et al. 2002; Macinko et al. 2003; Grum-
bach und Bodenheimer 2004; WHO 2008).
Zunächst rief das Gesundheitsministerium eine »Kommission für
die PHC-Reform« ins Leben, die den Aufbau autonomer Familien-
gesundheitseinheiten (USF) koordinieren sollte, die auf Grundlage
eines jährlichen Wirtschaftsplans und mit Leistungszielen arbeiten
(Biscaia 2006; Lapão 2008). Die ersten vier USF nahmen im Septem-
ber 2006 ihre Arbeit auf. Nur 15 Monate später öffnete im Dezember
2007 schon die hundertste USF, und im Mai 2014 gab es 396 solcher
Zentren, die rund 5,7 Millionen Menschen bzw. 59 % der Bevölke-
rung versorgten. Dafür sind in den Familiengesundheitseinrichtun-
gen 2.516 AllgemeinärztInnen und 2.597 Pflegekräfte beschäftigt
(USF-AN 2014). JedeR A(e)rztIn in einer USF ist – abhängig von
den Bedingungen der PatientInnen – für eine feste Gruppe von etwa
2.000 bis 2.500 Personen zuständig, wobei chronisch Kranke höher
gewichtet sind. Die USF nutzen entweder den verfügbaren Raum in-
nerhalb eines bestehenden Gesundheitszentrums oder einen von den
regionalen Gesundheitsbehörden errichteten Neubau; vielfach haben
die Gemeinden dafür den Grund und Boden zur Verfügung gestellt.
Die USF sind sehr gut ausgestattet und bieten eine angenehme Um-
gebung, womit ein neues, modernes Aussehen in die Gesundheitszen-
tren Einzug gehalten hat.
2009 begann eine zweite Reformphase: Es entstanden 73 Verbünde
von Gesundheitszentren (Agrupamentos de Centros de Saúde – ACES),
die zwischen 50.000 und 200.000 Menschen versorgen. Ihre Manage-
mentstruktur umfasst einen Exekutivdirektor (ED), einen Klinischen Rat
(CC9), ein Vierpersonenteam, das die Einführung von klinischer Go-
vernance verfolgt, und eine Managementunterstützungseinheit (UAG)
zur Förderung verschiedener Leitungsaufgaben (s. Grafik 2). Der Klini-
sche Rat besteht aus einem/r FamilienmedizinerIn als Vorsitzendem/r,
einem/r Public-Health-MedizinerIn, einer Pflegekraft und einer weite-
ren Gesundheitsfachkraft.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


38 Luís Velez Lapão

Grafik 2: Struktur und Netzwerkorganisation der »Health Centres trusts«


(nach Missão para os Cuidados de Saúde Primários – Lapão und Dussault 2012)

Bei den ACES handelt es sich um neue Verwaltungsstrukturen im ge-


samten portugiesischen Kernland, die Koordinierung und Effizienz der
lokalen Primärversorgung verbessern sollen. Die ACES sind nur zum
Teil selbständig, da sie über keine Finanzhoheit verfügen. Sie sind ge-
genüber den Regionalbehörden (ARS – Administração Regional de
Saúde) rechenschaftspflichtig, bei denen die Verantwortung für Planung
und Ressourcenallokation liegt. Insgesamt stellen die ACES in einem
Land mit langer zentralistischer Tradition einen wichtigen Schritt in
Richtung Dezentralisierung dar. Ihre Entstehung warf die Frage nach
Managementkapazitäten für die Leitung multiprofessioneller Teams
auf, die zu einem neuen Governance-Modell passen mussten. Da die
StelleninhaberInnen der meisten der 400 neu besetzten Leitungspositio-
nen keine oder nur geringe Managementerfahrung besaßen, ließ das Ge-
sundheitsministerium ein On-the-job-Trainings-Programm entwickeln,
um die ACES mit angemessener individueller und Teamleitungs- sowie
Managementkompetenz auszustatten (Lapão und Dussault 2011). Vier
Monate vor der Einrichtung der ACES begann im Dezember 2008 das
PACES genannte Weiterbildungsprogramm für ExekutivdirektorInnen,

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in Portugal 39
und mit der Einrichtung der ACES erreichte die Neuorganisation der
PHC im März 2009 eine neue Stufe, die auch ein neues Governance-Mo-
dell mit Verwaltungsautonomie umfasste (Lapão und Dussault 2011).
In Abhängigkeit von den verfügbaren Ressourcen können die ACES
an die Besonderheiten der von ihnen versorgten Community angepasste
Maßnahmen beschließen und umsetzen. Sie sind außerdem für den Auf-
bau ihrer eigenen Organisationsstruktur und Managementmethoden,
die Festlegung klinischer und technischer Governance-Systeme, die
Einbeziehung von GemeindevertreterInnen und die Partizipationsme-
chanismen verantwortlich – allesamt neue Herausforderungen für die
MitarbeiterInnen und Einrichtungen, so dass zunächst der Aufbau ent-
sprechender Kapazitäten erforderlich war. 2012 beschloss das Gesund-
heitsministerium eine Verringerung der Zahl der ACES auf nur noch 53
und legte dafür rund 20 Einrichtungen zusammen; dabei berücksichtig-
te das Ministerium sowohl die jeweilige Population (einige Einzugsbe-
reiche waren mit deutlich weniger als 200.000 EinwohnerInnen recht
klein) als auch den Zugang zu Krankenhäusern (einige ACES waren so
zugeschnitten, dass sie zwei verschiedenen Krankenhäusern zuweisen
mussten).

Reform und politische Ökonomie


Das Multiple Streams-Modell politischer Prozesse von Kingdon (1995)
ist nützlich, um zu verstehen, wie ein Thema auf die politische Agenda
kommt und möglicherweise konkrete politische Maßnahmen verursacht.
Dieser Ansatz hilft auch bei der Analyse der Ursachen für das Ausblei-
ben erwarteter Ergebnisse politischer Entscheidungen. Der »Problem-
Strom«, in dem Themen aufkommen und an die Öffentlichkeit gelangen,
der »Politik-Strom«, in dem PolitikerInnen alternative Optionen iden-
tifizieren, und der «politische Strom», in dem politische AkteurInnen
ein Thema in ihre eigene Agenda aufnehmen, lassen sich als ein »Satz
von Prozessen« auffassen, den man rückblickend rekonstruieren kann,
um die Einflussfaktoren für den Ablauf einer Reform zu erkennen. Bei
der jüngsten portugiesischen PHC-Reform folgte jeder dieser drei Strö-
me seiner eigenen Logik und unterlag seinen eigenen Triebkräften. Die
Kombination einer handelnden Regierung mit anderen AkteurInnen er-
zeugte kurzzeitig förderliche politische Rahmenbedingungen für eine
solche Gesundheitsreform. Üblicherweise gilt: »These policy windows,
the opportunities for action on given initiatives, present themselves and
stay open for only short periods« (Kingdon 1995: 166) – das war auch
der Fall bei der Primärversorgung in Portugal. Solche politischen Gele-
genheitsfenster sind meistens eng, denn nicht alle AkteurInnen spielen
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
40 Luís Velez Lapão
mit. Berufsverbände, medizinische Fakultäten, die pharmazeutische In-
dustrie und Facharztverbände stellten sich zwar nicht offen gegen die
Reform, aber ihre Unterstützung war eher halbherzig, weil sie nicht
in den Entwurf einbezogen waren. Die erforderliche Zeit zum Aufbau
der technischen, regulatorischen und administrativen Strukturen im Zu-
sammenhang mit der Reform verlangsamte mehrmals deren Dynamik.
Zusätzlich sind die finanziellen Auswirkungen von Reformmaßnahmen
in besonderem Maße zu beachten.
Die PHC-Reform 2005-2012 ist ein Beispiel für erfolgreiches ge-
sundheitspolitisches Vorgehen. Eine Gesundheitsreform lässt sich
als Transformationsprozess betrachten, in dem Verantwortliche eine
Führungsrolle spielen sollen bei der Unterstützung ihrer KollegInnen,
die nach innovativen Lösungen für komplexe Probleme in einem sich
verändernden Umfeld suchen (Plsek und Wilson 2001; Lapão 2008;
Dickson 2009). Da jeder Umbauprozess ein komplexes und zeit-
intensives Unterfangen ist, gilt Führung (leadership) als wesentliche
Voraussetzung für den Erfolg einer Reform. So war beispielsweise
Leitungskapazität erforderlich, um das Fachpersonal in den Prozess
zur Erarbeitung besserer Versorgungsleistungen einzubeziehen. Nach
zwei Jahren waren die ACES-Leitungen in der Lage, eine erste positive
Evaluierung der Kapazitäten ihrer Organisationen zu liefern und da-
mit zur Fortsetzung der PHC-Reform beizutragen (Lapão und Dussault
2012). Einige ExekutivdirektorInnen waren erfolgreicher als andere,
was zeigt, dass Leitungsqualität und persönliches Engagement für die
Überwindung vieler Hindernisse, von mangelnden Ressourcen und
fehlender Motivation bis zu bürokratischen Hürden, von besonderer
Relevanz sind.

Erkenntnisse aus 50 Jahren PHC-Reformerfahrungen


Der portugiesische PHC-Reformprozess verdeutlicht, dass nachhaltige
Veränderungen viele Jahre dauern und ein systematisches und kohä-
rentes Vorgehen der meisten AkteurInnen im Gesundheitswesen er-
fordern. Derartige Anstrengungen beruhen vielfach auf individuellem
Engagement und Führungsverantwortlichkeit sowie auf den politischen
Rahmenbedingungen. Betrachtet man die Entwicklung der Kinder-
sterblichkeitsrate, die als guter Indikator für die Leistungsfähigkeit
eines Gesundheitssystem gilt, beruht ihr deutlicher Rückgang auf vier
Jahrzehnte währenden Anstrengungen in der Primär- und Sekundärver-
sorgung (s. Grafik 3). Allein seit 2003 sank die Kindersterblichkeit von
4,1/10.000 Lebendgeburten über 3,8 (2004), 3,4 (2007) und erreichte
2010 mit 2,4 das Niveau Finnlands, das die niedrigste Rate in Euro-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in Portugal 41
pa aufweist, stieg aber 2012 wieder auf 3,4/10.000 Lebendgeburten;
in Deutschland lag die Kindersterblichkeit 2010 und 2012 bei 3,4 bzw.
3,3/10.000 Lebendgeburten (Europäische Kommission 2014).

Grafik 3: Die Entwicklung der Kindersterblichkeit in Portugal zwischen 1960


und 2001 in Folge einer Vielzahl von Maßnahmen auf den verschiedenen
Versorgungsebenen (Quelle: Lapão 2010)

Die Überprüfung von Politikalternativen an Hand der Ergebnisse ver-


schiedener zwischen 1996 und 2004 durchgeführter Pilotprogramme
(Gouveia et al. 2005) beispielsweise im Hinblick auf die Kosteneffek-
tivität (vgl. Ness 2010) führte dazu, dass die portugiesische Regierung
die Reform der Primärversorgung in ihr Programm aufnahm. Diese Re-
form stand mehr als 15 Jahre lang in der Diskussion, aber erst 2005 fiel
die politische Entscheidung mit der Bereitstellung der erforderlichen
Mittel. Die Umsetzung delegierte die Regierung an eine Taskforce,
womit sich die Reform von einem politischen Regierungsvorhaben zu
einer Verwaltungsaufgabe verschob. Die Umsetzung war alles andere
als einfach, es kam zu Verzögerungen bei der Eröffnung von Ausbil-
dungseinrichtungen und zu Problemen bei der Anpassung der Frühpen-
sionierungsregelungen, die zu einer erhöhten Ausscheidungsquote bei
ÄrztInnen beitrug. Zudem lag keine ausreichende Analyse des erfor-
derlichen Professionenmix und der entsprechenden beruflichen Qua-
lifikation von MitarbeiterInnen vor. In den Primärversorgungszentren
gibt es annähernd ebenso viele FamilienärzInnen wie Pflegekräfte. Ein
Problem besteht darin, dass MedizinerInner oft skeptisch gegenüber der
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
42 Luís Velez Lapão
Delegation von Aufgaben an das Pflegepersonal und einer Erweiterung
von deren Aufgabenbereichen sind, selbst wenn dadurch eine Steige-
rung der Effizienz zu erreichen wäre.
Man kann unter Rückgriff auf den Multiple Streams-Ansatz an der
PHC-Reform in Portugal erkennen, dass jeder der drei Ströme seine
eigene Logik und seinen eigenen Dynamiken hatte. Einflussreiche
Mitglieder der portugiesischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin
(APMGF) gehörten der Sozialistischen Partei an, die bei den Wahlen
von 2005 gewann und die Reform des Primärversorgungssystems nicht
nur auf die politische Agenda setzte, sondern auch zum Regierungs-
programm machte. Die Unterstützung durch Berufsverbände erzeugte
günstige politische Bedingungen, die allerdings nur von kurzer Dauer
waren, da sich nicht alle Stakeholder so engagiert einsetzten wie die
AllgemeinmedizinerInnen. Der lange Zeitraum, der für den Aufbau der
erforderlichen technischen, regulatorischen und administrativen Struk-
turen verging, verringerte die Reformdynamik. 2009 erreichte zudem
die globale Wirtschaftskrise Portugal und beeinträchtigte die finanzielle
Unterstützung der Reform. Insgesamt führte eine Mischung aus inter-
nen und externen Faktoren zu einer zunehmenden Verschlechterung
der anfangs günstigen Reformbedingungen. Erschwerend kam hinzu,
dass es in Portugal keine explizite Arbeitsmarktpolitik für Mitarbei-
terInnen im Gesundheitswesen gibt; unter solchen Bedingungen wird
die Rolle von ExpertInnen insbesondere auf der Leitungsebene noch
entscheidender. In der Gesamtschau lassen sich vier wesentliche Prob-
lemlagen herausstellen:

1. Es fehlte ein Rahmen, um die Ausbildungs- und Einstellungsbedin-


gungen für Arbeitskräfte im Gesundheitswesen mit den Zielen einer
Reform in Einklang zu bringen, die in ihren Anfängen fünf Jahre
zuvor als Vorzeigeinitiative der Regierung gestartet war.
2. Die politischen Maßnahmen waren weitgehend losgelöst vom Bedarf
derjenigen, die für die praktische Umsetzung der vielfach über Ad-
hoc-Initiativen erfolgten PHC-Reform vor Ort verantwortlich sind.
3. Um Organisationsherausforderungen angehen und das Versorgungs-
management verbessern zu können, ist die Führungsebene auf ein
unterstützendes, gegenüber Innovationen offenes Umfeld angewie-
sen (Hamel 2006).
4. Für die Überwindung der vielen Reformhemmnisse ist zugleich die
Entwicklung und Beibehaltung einer neuen Managementkultur un-
umgänglich (Dickson 2009).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in Portugal 43
Nach Aussagen von Leitungskräften in Primärversorgungseinrichtungen
waren diese Bedingungen nicht in vollem Umfang erfüllt (Lapão und
Dussault 2012). Auch wenn diese Einschätzungen nur von ausgewählten
Personen stammen und nicht repräsentativ sind, sollte man sie durch-
aus ernst nehmen, da die Arbeitsbedingungen und -möglichkeiten die
Motivation und das Verhalten der Leitungsebene beeinflussen, was sich
wiederum auf die entsprechenden Bedingungen bei den Leistungserbrin-
gerInnen auswirkt.
Hauptziel der PHC-Reform war die Umgestaltung der Gesund-
heitszentren, um die Leitungsebene näher an die Versorgungspraxis vor
Ort heranzubringen, so die Qualität der Versorgung zu verbessern und
gleichzeitig die Kosten zu verringern. Man richtete kleinteilig arbeiten-
de, technisch unabhängige Einheiten ein, die häufigere Kontakte und
engmaschigere Betreuung der BürgerInnen gewährleisten können, um
damit die Versorgungsqualität zu steigern sowie besser kontrollieren zu
können. Um den Strukturwettbewerb zu überwinden und Skaleneffekte
zu erreichen, legte man außerdem Leitungsverantwortlichkeiten und
Ressourcen zusammen. Darüber hinaus definierte die Taskforce genaue
Prinzipien für die Umgestaltung der bestehenden Gesundheitszentren:
Sie müssen stärker »gemeindeorientiert« arbeiten (u. a. mehr Zeit der
Gemeinde widmen), gefragt sind »Organisationsflexibilität« (z. B. bes-
sere Anpassung an den variablen Bedarf und Öffnung an Samstagen),
»Leitung und Teamarbeit« (u. a. engere Zusammenarbeit und gegen-
seitige Unterstützung), »innovative Fähigkeiten« (z. B. bessere Kom-
munikation), »Vereinfachung« (u. a. Bereitschaft zur Optimierung von
Abläufen), »ergebnisorientiertes Management« (z. B. deutlicher Fokus
auf gesundheitsbezogene Resultate), »Autonomie und Rechenschafts-
pflicht« (u. a. durch offene Analyse des Abschneidens) und »kontinu-
ierliche Qualitätsverbesserung« (u. a. Lernen aus Ergebnissen und Ein-
satz zur Veränderung dessen, was tatsächlich nicht gut läuft) (MCSP
2013).

Aktuelle Entwicklungen
In den letzten beiden Jahrzehnten lag die Gesundheitsquote in Portugal,
also der Anteil der gesamten Gesundheitsausgaben am Bruttoinlands-
produkt, durchschnittlich bei etwa 10 %. Dazu trugen vor allem seit
2010 auch verschiedene Kostendämpfungsansätze wie 20-prozentige
Einkommenskürzungen beim Fachpersonal im Gesundheitswesen und
Einsparungen bei medizinischem Material wie Arzneimitteln, klini-
schem Bedarf u. ä. bei. Obwohl diese Kürzungen Einschnitte bei der
Versorgung und letztlich eine Bedrohung des Nationalen Gesundheits-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
44 Luís Velez Lapão
systems (NHS) bedeuteten, zwangen sie die AnbieterInnen auch zur
Steigerung der Effizienz, wobei sie immer den universellen Anspruch
medizinische Versorgung aufrechterhalten mussten. Es gibt Hinweise
darauf, dass es den meisten ACES-Manager unter diesen schwierigen
Bedingungen offenbar dennoch gelungen zu sein scheint, die Abläufe
zu verbessern und klinische Leitlinien einzuführen, zu denen sich Por-
tugal im Rahmen des finanziellen Stabilisierungsabkommens mit der
Europäischen Zentralbank, dem Internationalen Währungsfonds und
der Europäischen Kommission verpflichtet hatte.
Die Auswirkungen der europäischen Finanzkrise auf die PHC-
Reform in Portugal lassen sich im Wesentlichen in drei verschiedenen
Bereichen festmachen. Es gab erhebliche Einsparungen bei den Investi-
tionen z. B. für den Aufbau neuer Familiengesundheitszentren (entstan-
den 2009 noch 40 neue USF, waren es 2014 nur noch vier), die Zahl
der Neueinstellungen von ÄrztInnen und Pflegepersonal ging deutlich
zurück, und die Zuzahlungen im Gesundheitswesen stiegen um 30 Pro-
zent – vorgeblich um die Nachfrage besser steuern zu können. Dabei ist
aber auch ein positives Ergebnis der Krise hervorzuheben, nämlich die
Auswirkung von Maßnahmen der Leitungsteams in den ACES. Denn
die Krise zwang aufgrund des Rückgangs verfügbarer Ressourcen zu
einem effektiveren Management und einer besseren Nutzung dieser
Ressourcen, was möglicherweise die Negativeffekte der Krise kompen-
siert haben könnte.
Die genaue Erfassung der Folgen der Finanzkrise für das portugiesi-
sche Gesundheitswesen und insbesondere die Primärversorgung steht
allerdings noch aus und ist Gegenstand verschiedener aktueller Untersu-
chungen. Eine erste, vorläufige Auswertung der Krankenhausfallzahlen
zeigt einen Rückgang der Inanspruchnahme von Notfallbehandlungen.
Dies ist zum einen auf die beiden wichtigsten krisenbedingten Maß-
nahmen, nämlich die etwa 30-prozentige Senkung der Realeinkommen
und den deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit, und zum anderen auf
die Verdoppelung der fälligen Zuzahlungen zurückzuführen. Auf den
ersten Blick könnte dies ein Hinweis auf den erwünschten Effekt sein,
durch bessere Primärversorgung die Häufigkeit medizinischer Notfälle
zu senken; aber dieser Rückgang könnte auch Ausdruck einer schäd-
lichen Verminderung der Inanspruchnahme sein. Die Ergebnisse lau-
fender Untersuchungen werden möglicherweise mehr Klarheit über die
Effekte der oktroyierten Kostendämpfung im portugiesischen Gesund-
heitswesen schaffen. Empirische Analysen der Auswirkungen der Aus-
teritätspolitik in anderen Krisenländern Europas weisen auf vielfältige
und teils schwerwiegende Veränderung bei der Versorgung und auch
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in Portugal 45
bei den gesundheitlichen Indikatoren hin (z. B. Karanikolos 2013). In
diesem Zusammenhang erscheint die Frage höchst relevant, ob Länder
mit stärker an der Primärversorgung ausgerichteten Gesundheitssyste-
men wie Portugal besser mit den Folgen finanzieller Krisen und Aus-
terität umgehen können als Länder wie Griechenland, wo die primäre
Versorgung traditionell keine Rolle spielt (Lionis 2009).

Wichtigste Aspekte der PHC-Reform in Portugal im Hinblick auf


Reformen in anderen Ländern
Portugal ist ein mittelgroßes europäisches Land mit etwa 10 Millionen
EinwohnerInnen, das 2 % der europäischen Wirtschaftskraft ausmacht
und in Bezug auf Bevölkerung und Fläche in etwa einem durchschnitt-
lichen deutschen Bundesland entspricht. Wie in den vorangehenden
Kapiteln dargestellt, kann Portugal auf eine 50-jährige Geschichte von
primärer Gesundheitsversorgung mit etlichen positiven Ergebnissen
zurückblicken.
Verschiedene AutorInnen gehen davon aus, dass viele reichere Län-
der nicht nur in Europa, sondern auch ärmere Entwicklungsländer (Sur-
aratdecha et al. 2005) von einem starker primärversorgungsorientierten
Gesundheitswesen profitieren würden. Der Fall Portugals verdeutlicht,
wie wichtig dabei die umfassende Anerkennung der Rolle von Famili-
enärztInnen sowohl bei der Koordinierung der Versorgung als auch bei
der Überweisung an andere Versorgungsebenen ist. In vielen Ländern
konzentrieren sich AllgemeinmedizinerInnen immer noch vorwiegend
auf die Behandlung in Akutsituationen, die auf der primären Versor-
gungsebene zu behandeln sind. Diese Prioritätensetzung behindert eine
angemessene längerfristige Strategie, die darauf ausgerichtet ist, dauer-
hafte Beziehungen aufzubauen, die das Vertrauen und Verständnis der
PatientInnen verbessert. Ein integraler Ansatz ermöglicht mehr Parti-
zipation und Verantwortlichkeit von Seiten der Gesundheitsteams und
erleichtert gleichzeitig die Entstehung einer effizienteren Organisation
mit besserem Professionenmix.
Eine wichtige und sehr schwierige Aufgabe ist dabei auch der Auf-
bau eines Informationssystems zur Erfassung von Patienten- und Fa-
miliengesundheitskarteien, die eine versorgungsniveauübergreifende
Datenerhebung und -nutzung erlauben (Kuhn et al. 2007; Ludwick und
Doucette 2009). In Portugal gibt es in der Primärversorgung seit 2004
ein Informationssystem, das große Vorteile bietet (MCSP 2013) und
vielfach auch Krankenhausdaten einschließt; die größte Stärke liegt im
Überweisungssystem der Primärversorgung, das ein gutes Management
von stationär eingewiesenen Fällen ermöglicht. In Abhängigkeit von
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
46 Luís Velez Lapão
Fachrichtung und Dringlichkeit erfolgt die stationäre Aufnahme bei
elektiven Behandlungen in der Regel innerhalb weniger Wochen, wo-
bei sich Wartezeit für erforderliche Untersuchungen nutzen lässt.
Die Einführung von Qualitätsstandards sollte in Verbindung mit kli-
nischer Governance und der Anwendung klinischer Leitlinien erfolgen
(van Zwanenberg und Harrison 2007). Die Einführung von klinischer
Governance in der Primärversorgung profitierte von verschiedenen
Bedingungen wie dem gut ausgebildeten Gesundheitsfachpersonal,
umfangreichen Patientendaten, etablierten klinischen Regeln an den
Schnittstellen der Versorgungsebenen und Möglichkeiten zur Diskus-
sion und zum Lernen. Heute kann man in verschiedenen ACES große
Anstrengungen zur weiteren Verbesserung des Überweisungssystems
in Krankenhäuser beobachten (Machaqueiro und Lapão 2014).
Ein Hindernis stellt üblicherweise die krankenhauszentrierten Aus-
richtung eines Gesundheitswesens dar. So hat zum Beispiel der Liba-
non mehr Herzoperationseinheiten pro EinwohnerIn als Deutschland,
aber kein Programm zur Verringerung kardiovaskulärer Risikofaktoren
(Ammar 2003). Das heißt, Gesundheitssysteme nutzen vielfach ineffi-
ziente Wege, um Gesundheitsprobleme anzugehen, und lassen keine ef-
fizienteren Wege zur Organisation der gesundheitlichen Versorgung zu
(Whitehead und Dahlgren 2006; Starfield und Shi 2002). Die meisten
OECD-Länder haben versucht, dies zu überwinden und die Abhängig-
keit von Krankenhäusern zu senken, indem sie die Opportunitätskosten
einer krankenhauszentrierten Versorgung in Bezug auf Effektivität und
soziale Gerechtigkeit thematisieren (OECD 2007). Viele andere und
vor allem Niedrigeinkommensländer tappen allerdings in dieselbe Falle
(WHO 2008). Der Druck einflussreicher Teile von VerbraucherInnen
und LeistungserbringerInnen sowie die Komplexität des Gesundheits-
wesens führen dazu, dass sowohl öffentliche als auch private Mittel
zu Lasten der Primärversorgung überproportional in den Krankenh-
aussektor fließen (Relman 1980). Zu viele gesundheitspolitische Ent-
scheidungsträgerInnen vermeiden es, diesem Trend entgegenzuwirken
und sich damit für ein besseres Gesundheitssystem für die BürgerInnen
einzusetzen (WHO 2008).

Schlussfolgerungen
Dieser Artikel verdeutlicht den bisherigen Erfolg der PHC-Reform in
Portugal, die aus einer Reihe von fokussierten Teilreformen bzw. In-
novationswellen während der letzten 50 Jahre bestand. Der größte Teil
dieses Erfolgs beruhte auf den folgenden wesentlichen Bedingungen:

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in Portugal 47
• Gute Ausbildung der Gesundheitsfachkräfte (von dem/r engagierten
Familiena(e)rztIn und Pflegekraft bis hin zu anderen Berufsgruppen)
und Förderung von Teamarbeit;
• Ausgangspunkt, Dauer und Abläufe von Überweisungen aus der Pri-
märversorgung in Krankenhäuser;
• Innovative Ansätze für organisatorische Probleme und ein Lernpro-
zess, der zielgenauere Folgereformen ermöglichte;
• Entwicklung integrierter Informationssysteme, die vielerorts auch
mit dem jeweiligen Krankenhaus verbunden sind;
• Grundlegende Änderungen der Leitungsstrukturen, die eine schnelle-
re Reaktion auf Probleme erlauben.

Hierbei muss man sich bewusst machen, dass die bloße Verabschie-
dung von Gesetzen und Bestimmungen ohne Zuweisung entsprechen-
der Mittel und ohne weiterführende Regelungen nicht ausreicht, eine
Reform wie die Stärkung der Primärversorgung und deren Etablierung
als Zugangspunkt zum gesamten Krankenversorgungssystem umzuset-
zen. Denn ein solches Unterfangen führt eher zu Spannungen zwischen
PolitikerInnen, Führungskräften und LeistungserbringerInnen, anstatt
wirklich dem Bedarf der Bevölkerung entgegenzukommen. Dabei ist
das Multiple Streams-Modell von Kingdon hilfreich, um die Bedeu-
tung von Individuen, Institutionen, Führungsebenen und politischen
Opportunitäten zu erkennen. Neue politische Gelegenheiten werden
sich ergeben: Es bleibt abzuwarten, ob politische Entscheidungsträge-
rInnen sie ausnutzen, sei es in Portugal, Deutschland, Angola, China
oder anderswo.

Korrespondenzadresse:
Luís Velez Lapão
Professor for International Public Health Management
WHO Collaborating Center for Health Workforce Policy und Planning
Instituto de Higiene e Medicina Tropical
Universidade Nova de Lisboa – Portugal
Tel.: +351 (0)213 652 600
Fax: +351 (0)213 632 105
E-Mail: luis.lapao@ihmt.unl.pt

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


48 Luís Velez Lapão
Literatur

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53
Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça

Primary Health Care in Brasilien:


multiprofessionelle Teamarbeit und
Gemeindeorientierung

Zusammenfassung
Seit Ende der 1990er Jahre ist »Familiengesundheit« die Primärver-
sorgungsstrategie im Rahmen einer grundlegenderen Umgestaltung
des Versorgungsmodells, des Einheitlichen Gesundheitssystems SUS,
in Brasilien. Der vorliegende Beitrag beschreibt die Primärversorgung
in Brasilien, analysiert das der Familiengesundheitsmodell und disku-
tiert die Herausforderungen von multiprofessioneller Teamarbeit und
Gemeindeorientierung unter Auswertung einer externen Evaluierung
des »Nationalen Programms zur Verbesserung des Zugangs und der
Qualität der Primärversorgung«. Dabei zeigt sich, dass trotz einer
spürbaren Verbesserung der Primärversorgung Brasilien weiterhin vor
großen Herausforderungen steht, universellen Zugang zu einer qualita-
tiv hochwertigen, an den Bedürfnissen der BürgerInnen ausgerichteten
medizinischen Versorgung zu gewährleisten und gleichzeitig den ge-
sellschaftlichen Ungleichheiten in Folge der sozialen Determinanten
von Gesundheit entgegenzuwirken.

Abstract
Since the late 1990s, »Family Health« is the primary-health care (PHC)
strategy in the context of a broader reform of the healthcare model of
the Brazilian Unified Health System (SUS). This article analyses the
Family Health Strategy with special focus on two principal components
of the Brazilian primary health care approach: multi-professional
teamwork and community orientation. The paper presents and analy-
ses information from the national database of surveys conducted in the
external evaluation of the »National Programme for Improving Access
and Quality of Primary Care« (PMAQ-AB). Despite an evident im-
provement of primary health care in Brazil, important challenges still
remain for ensuring universal access to quality health services, while
simultaneously addressing social determinants of health and reducing
social inequalities.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


54 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Resumo

Desde o final da década de 1990, a »Saúde da Família«, é a estraté-


gia para a transformação do modelo assistencial no Sistema Único de
Saúde (SUS), o serviço nacional de saúde brasileiro de acesso univer-
sal e financiamento fiscal. Este artigo analisa o modelo assistencial da
Estratégia Saúde da Família com foco em dois componentes, o trabalho
em equipe multi-profissional e orientação para a comunidade, a partir
de informações do banco de dados nacional dos inquéritos realizados
na avaliação externa do »Programa Nacional para Melhoria do Aces-
so e Qualidade da Atenção Básica (PMAQ-AB)«. Não obstante uma
melhora notável na atenção primária, permanecem importantes desa-
fios para garantir o acesso universal à atenção à saúde de qualidade
conforme necessidades e simultaneamente enfrentar determinantes
sociais da saúde para reduzir as desigualdades sociais.

Einleitung
Im zurückliegenden Jahrzehnt standen auch in Lateinamerika die
Stärkung der medizinischen Primärversorgung (Primary Health Care
bzw. PHC) und der Aufbau koordinierter Versorgungsnetze auf der
gesundheitspolitischen Agenda. Damit verfolgten die Länder das Ziel,
universellen Zugang zum Versorgungssystem zu garantieren, soziale
Ungleichheiten abzubauen und die neuen demografischen und epide-
miologischen Herausforderungen anzugehen. Die Alterung der Bevöl-
kerung, Veränderungen der Familienstrukturen und das Vordringen
chronischer Erkrankungen verlangen nach unterschiedlichen komple-
xen Dienstleistungen und ihrer Koordination. Dabei kommt prinzipiell
der Primärversorgung eine entscheidende Rolle zu, die barrierefrei, von
hoher Qualität und in das allgemeine Fürsorgenetz integriert sein muss.
Diese Herausforderungen veranlassten die Panamerikanische Ge-
sundheitsorganisation (PAHO) (2005) und die Weltgesundheitsorga-
nisation (WHO) (2008), einen Prozess zur »Erneuerung von Primary
Health Care« einzuleiten (vgl. Labonté et al. 2009). So widmete die
WHO ihren Weltgesundheitsbericht 2008 der medizinischen Primär-
versorgung (PHC), die sie für »nötiger denn je« hielt. Der WHO-
Bericht ordnet PHC die Koordinierungsfunktion für eine umfassende
und abgestimmte Antwort auf allen Versorgungsebenen zu. PHC ist
dabei Teil eines komplexen Reformansatzes im Sinne einer universel-
len Absicherung und nicht mehr bloß ein »armes Programm für Arme«
(World Health Organization 2008).
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 55
Seit der PHC-Konferenz von Alma Ata besteht allerdings auch in
Lateinamerika ein Spannungsverhältnis zwischen zwei unterschiedli-
chen PHC-Konzepten, nämlich a) einer selektiven Primärversorgung
(selective primary care), die auf der Grundlage begrenzter staatlicher
Interventionen im Rahmen einer segmentierten Gesundheitsversorgung
extrem armen Bevölkerungsgruppen in Abhängigkeit von deren Ein-
kommen ein Minimalpaket an Versorgungsleistungen gewährt, und
b) einer integralen Primärversorgung (comprehensive primary health
care) als einer das gesamte Gesundheitssystem umfassenden und orga-
nisierenden Strategie, die ein universell gültiges Recht auf Gesundheit
und den bedarfsgerechten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen un-
abhängig vom Einkommen garantiert.
Anders als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern
mit segmentierten Gesundheitssystemen (Fleury 2001; ISAGS 2012),
wo also verschiedene Teilsysteme für unterschiedliche Bevölkerungs-
gruppen bestehen, begann Brasilien vor mehr als zwei Jahrzehnten mit
der Einführung des weiter unten eingehender vorgestellten universellen
öffentlichen Gesundheitssystems »Sistema Único de Saúde« (Einheit-
liches Gesundheitssystem, abgekürzt SUS) und seit Ende der 1990er
Jahre mit der Entwicklung einer Familiengesundheitsstrategie (mit
der portugiesischen Abkürzung ESF) als neuem Fürsorgemodell der
Primärversorgung. Diese Familiengesundheitsstrategie ist Bestandteil
einer grundlegenden Erneuerung des PHC-Ansatzes im Rahmen des
SUS. Sie beinhaltet Elemente eines integralen Konzepts von Primär-
versorgung, wobei multiprofessionelle Teamarbeit und Gemeinde-
orientierung im Vordergrund stehen sollen. Diese Strategie unterschei-
det sich von anderen Primärversorgungskonzepten wie beispielsweise
dem deutschen, in denen diese Aspekte unzureichend oder gar nicht zur
Geltung kommen.
Der vorliegende Beitrag beschreibt wesentliche Ansätze der Primär-
versorgung in Brasilien, analysiert die Merkmale des Fürsorgemodells
der Familiengesundheitsstrategie ESF und diskutiert die Herausforde-
rungen, die mit der wirksamen Umsetzung von multiprofessioneller
Teamarbeit und Gemeindeorientierung verbunden sind. Die Darstel-
lung ausgewählter Tätigkeiten der Familiengesundheitsteams beruht
auf der Auswertung von Informationen einer Datenbank des Natio-
nalen Programms zur Verbesserung des Zugangs und der Qualität der
Primärversorgung (PMAQ-AB) des brasilianischen Gesundheitsmi-
nisteriums (Ministério da Saúde 2012). Als Teil dieses Programms
erfolgten 2012 eine externe Evaluierung der in Brasilien auch als
»Basisversorgung« bezeichneten Primärversorgung, eine Erfassung
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
56 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
aller Primärgesundheitseinrichtungen sowie eine Befragung der Fa-
miliengesundheitsteams, die am PMAQ-Programm teilnehmen. Die
MitarbeiterInnen der Familiengesundheitsteams beantworteten dafür
einen Fragebogen über Tätigkeiten und Arbeitsprozesse der Teams,
die Organisation der Versorgung und die Einbindung der Primärver-
sorgung in das Gesamtnetzwerk der Gesundheitsdienste. Landesweit
beteiligten sich 17.201 Teams bzw. etwa 38.000 Einrichtungen der
Primärgesundheit an der Evaluierung. Von den zahlreichen Aspekten
der umfangreichen Evaluation stehen im vorliegenden Beitrag zwei
Aspekte im Mittelpunkt: multiprofessionelle Teamarbeit und Gemein-
deorientierung.

Hintergrund
Brasilien ist ein sehr ausgedehntes Land mit rund 200 Millionen Ein-
wohnerInnen und einer relativ jungen Bevölkerungsstruktur, die zur-
zeit im Rahmen eines raschen demografischen und epidemiologischen
Wandels spürbaren Änderungen unterliegt. Brasilien ist die siebtgrößte
Volkswirtschaft der Welt, verzeichnet ein mittleres Einkommensniveau
und weist eine regional sehr heterogene Wirtschaftsentwicklung sowie
gravierende soziale Ungleichheiten auf (s. Tab. 1). In den vergange-
nen Jahrzehnten haben Links- und Mitte-Links-Regierungen in Brasi-
lien ebenso wie in anderen lateinamerikanischen Ländern eine Politik
der sozialen Absicherung vorangetrieben. Nicht zuletzt aufgrund der
Programme zur Armutsminderung kann Lateinamerika insgesamt Ver-
besserungen der ökonomischen und sozialen Indikatoren vorweisen
(s. Tab. 1). Während der Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da
Silva (2003-2010) konnten schätzungsweise 28 Millionen Menschen
in Brasilien der Armut entfliehen. Maßgeblichen Anteil daran hatten
die reale Erhöhung des monatlichen Mindestlohns von ca. 80 auf 250
Euro und die Ausweitung des Sozialhilfeprogramms Bolsa Família, das
heute 13,9 Millionen Familien mit 25 bis 113 Euro im Monat unter-
stützt. Trotz einer Verbesserung der Einkommensverteilung in den letz-
ten Jahren besteht in Brasilien allerdings weiterhin eine extrem große
Einkommensungleichheit, erkennbar an einem Gini-Koeffizienten von
0,508 gegenüber 0,290 in Deutschland (2011).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 57
Tabelle 1:
Ausgewählte ökonomische, demografische und gesundheitliche
Indikatoren Brasiliens

Ökonomische Indikatoren
2,49 Billionen
Bruttoinlandsprodukt (2012)
USD
Einkommen pro Kopf USD KKP
11.720
(2012)
Arbeitslosigkeit (2013) 7,5%
Informelle Arbeit (2012) 43%
Anteil der Bevölkerung in Armut 2002 2008 2011
Extreme Armut (%)
13,2 7,3 6,1
(<1,25 USD/Tag)
Armut (%) (<2,5 USD/Tag) 32,4 22,6 20,9
Index für menschliche
2000 2005 2012
Entwicklung (HDI)
0,669 0,699 0,730
Gini-Koeffizient zur
0,572 0,552 0,508
Einkommenskonzentration

Demografische Indikatoren
Bevölkerung (2010) 190.732.694
unter 18 Jahren 29,6%
60 Jahren und älter 11,3%
Lebenserwartung Männer Frauen insgesamt
Brasilien (2011) 70,6 77,7 74,1
Nordosten (2009) 66,9 74,1 70,4
Süden (2009) 71,9 78,7 75,2
Fertilitätsrate
1,9
(Lebendgeburten je Frau) (2010)

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


58 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça

Säuglingssterblichkeit
(Säuglingssterbefälle je 1995 2010
1000 Lebendgeborene)
Brasilien 31,9 15,3
Nordosten 50,4 20,1
Süden 17,5 11,3
Todesursachen (2010)
Krankheiten des Kreislaufsystems 32,0%
Neubildungen 16,5%
Äußere Ursachen 13,6%
Krankheiten des Atmungssystems 10,9%
Infektiöse und parasitäre Krank-
4,9%
heiten
Bestimmte Zustände perinatalen
3,0%
Ursprungs

Quelle: Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística 2013; ECLAC 2012;


Ministério de Saúde (2012c)

Das Einheitliche Gesundheitssystem – Sistema Único de Saúde (SUS)


Im Rahmen des allgemeinen Demokratisierungsprozesses nach dem
Ende der Militärdiktatur in Brasilien (1964-1985) setzte sich in den
1980er Jahren eine starke Bürgergesundheitsbewegung aus Intellek-
tuellen, Gesundheitsfachkräften, GesundheitskommunalbeamtInnen,
Gewerkschaften, Nachbarschaftsorganisationen, Studierenden und der
organisierten Zivilgesellschaft für das universelle Recht auf Gesundheit
ein. Diese soziale Bewegung führte im größten Land in Lateinamerika
den Widerstand gegen die weltweite neoliberale Agenda der 1980er
und 1990er Jahre an, die einen Rückbau des Staates und die Privatisie-
rung aller gesellschaftlicher Bereiche anstrebte (Paim et al. 2011).
Anders als in den meisten anderen Ländern Lateinamerikas, die zu
Vorreitern der neoliberalen Politik wurden, erfolgte im brasilianischen
Gesundheitswesen eine Strukturreform, die der öffentlichen Hand eine
zentrale Rolle zuwies. Die brasilianische Verfassung von 1988 macht
Gesundheit zu einem universellen Grundrecht und Gesundheitsfürsor-
ge zu einer verpflichtenden Aufgabe des Staates. Die Einführung des
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 59
Einheitlichen Gesundheitssystems SUS als steuerfinanziertes Kran-
kenversorgungssystem mit freiem universellen Zugang für alle Bürger
bedeutete den Übergang von einem am Bismarck-Modell orientierten
Sozialversicherungssystem zu einem Beveridge-Modell (Giovanella
und Porto 2004). Gleichzeitig stellte die Einführung des SUS einen we-
sentlichen Schritt in Richtung universeller Absicherung im Krankheits-
fall dar. Angehörige des großen informellen Sektors – damals 60 % und
heute immerhin noch 43 % der Bevölkerung – hatten vorher keinen An-
spruch auf Sozialversicherungsschutz und waren somit praktisch von
der medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Das steuerfinanzierte
SUS ermöglichte und verbesserte für die Bevölkerungsmehrheit den
Zugang zur Krankenversorgung (Paim et al. 2011). Die Grundprinzi-
pien des SUS als National Health Service Brasiliens sind universeller
Zugang zu einer umfassenden Versorgung, soziale Partizipation und
Dezentralisierung.
Universeller Zugang zu umfassender Versorgung schließt Gesund-
heitsförderung und Prävention ebenso ein wie die bedarfsgerechte
Behandlung im Krankheitsfall auf allen Versorgungsebenen. Einen
klar definierten Leistungskatalog des SUS gibt es zwar nicht, aber das
Leistungsangebot des SUS umfasst im Prinzip die gesamte ambulante
und stationäre Versorgung unterschiedlicher Komplexität sowie alle
Leistungen von der Impfung bis zur Nierentransplantation; allerdings
ist das tatsächliche Versorgungsangebot in der Praxis vielfach unzu-
reichend. In begrenztem Umfang stellen die öffentlichen Versorgungs-
einrichtungen kostenlos Arzneimittel zur Verfügung; darüber hinaus
gewährleisten spezifische öffentliche Gesundheitsprogramme wie das
für Aids-PatientInnen eine umfassende Arzneimittelversorgung.
Soziale Partizipation bedeutet die Beteiligung der Bevölkerung an
gesundheitsbezogenen Entscheidungsprozessen. Dafür sorgen heute re-
gelmäßig tagende Gesundheitsräte sowohl auf Bundesebene als auch in
allen 26 Bundesländern und im Bundesdistrikt Brasília, sowie in allen
5.560 Kommunen. Die Gesundheitsräte sind paritätisch mit Vertrete-
rInnen der Leistungsempfänger und der Leistungserbringer besetzt. Die
Zielvorgaben des SUS sehen alle vier Jahre Gesundheitskonferenzen
auf den drei Verwaltungsebenen vor.
Die mit der Einführung des SUS verbundene Dezentralisierung des
Gesundheitssystems beinhaltet eine Dreiteilung der Verantwortlich-
keiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Die Kommunen sind
dabei alleine für die Primärversorgung verantwortlich und teilen sich
die Verantwortung für die fachärztliche und stationäre Versorgung mit
den Bundesländern. Für die medizinische Versorgung stehen sowohl
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
60 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
öffentliche als auch private LeistungserbringerInnen zur Verfügung:
etwa 38.000 kommunale Gesundheitszentren in öffentlicher Trä-
gerschaft garantieren die Primärversorgung; private und öffentliche
Fach(poli)kliniken, Labore und Krankenhäuser erbringen auf der Basis
vertraglicher Regelungen mit dem SUS weiterführende Leistungen.
Im Unterschied zu anderen Nationalen Gesundheitssystemen zeich-
net sich das brasilianische dadurch aus, dass vor allem die fachärztli-
che und teilweise die stationäre Versorgung überwiegend durch private
LeistungserbringerInnen erfolgt. Zwei Drittel der Krankenhausbetten
(65 %) sind in privater Hand, 72 % davon hat das SUS unter Vertrag
genommen. Auch die meisten Diagnostikeinrichtungen und Großgeräte
sind privat geführt, und nur ein Drittel der MRT-Geräte in Brasilien
steht dem SUS zur Verfügung (CNES 2012).
Die Dezentralisierung des brasilianischen Gesundheitswesens be-
deutet auch, dass sich alle drei Verwaltungsebenen an der Finanzie-
rung des SUS beteiligen. Der Bund trägt zurzeit knapp die Hälfte der
SUS-Ausgaben, die Länder etwa ein Viertel und die Kommunen rund
30 %. Zwischen 2000 und 2008 ging der Anteil des Bundes an der
SUS-Finanzierung von etwa 60 auf rund 45 % zurück; und obwohl die
Kommunen nur rund ein Fünftel der gesamten öffentlichen Einnahmen
erhalten, tragen sie aktuell rund 30 % zur SUS-Finanzierung bei (Piola
et al. 2012).
Dieses bisher für Schwellenländer einzigartige, überaus ambitionierte
politische Projekt, im Zuge einer grundlegenden Reform in vergleichs-
weise kurzer Zeit ein universelles Absicherungssystem im Krankheits-
fall aufzubauen, stieß trotz seiner teilweise konkreten Konzeption und
Ausgestaltung immer wieder auf erhebliche Widerstände. So litt das
SUS in den 1990er Jahren erkennbar unter der zeitgleich stattfindenden
generellen Strukturanpassungspolitik und der neoliberal ausgerichteten
Umgestaltung des brasilianischen Staates. Dem Abbau staatlicher Ver-
antwortlichkeiten, der Reduzierung öffentlicher Ausgaben, der Priva-
tisierung im Infrastrukturbereich und der Flexibilisierung des Arbeits-
marktes zum Trotz blieb aber das Verfassungsgebot zur Umsetzung
einer universellen Gesundheitsversorgung formal auf der politischen
Agenda aller Regierungen.
So konnte Brasilien sein universelles, steuerfinanziertes nationales
Gesundheitssystem in einer Zeit durchsetzen, als etliche andere Län-
der in Lateinamerika definierte Basisversorgungspakete für die ärmere
Bevölkerung, Zuzahlungen für medizinische Behandlungen in öffent-
lichen Gesundheitseinrichtungen und soziale Absicherungsprogramme
für ausgewählte Gruppen wie Schwangere, Kleinkinder oder Arme ein-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 61
1
führten . In Brasilien hielten hingegen selbst die von rechten oder ge-
mäßigt-rechten Parteien geführte Regierungen an einer vergleichsweise
progressiven Gesundheitspolitik fest (Victora et al. 2011). Ein entschei-
dendes Manko blieb jedoch immer die unzureichende Finanzierung, die
in der Praxis schwerlich die ausreichende medizinische Versorgung aller
BürgerInnen erlaubt: Bis heute liegen die öffentliche Gesundheitsquote
in Brasilien bei gerade einmal 3,7 % und der Anteil der öffentlichen
an den gesamten Gesundheitsausgaben unter 50 %, was Brasilien eine
Ausnahmeposition unter den Ländern mit universeller Absicherung im
Krankheitsfall beschert, denn andernorts liegt der Anteil öffentlicher
Ausgaben bei mindestens zwei Drittel und oft sogar über drei Viertel
(WHO 2014: 142ff.). Die Pro-Kopf-Ausgaben lagen 2010 bei 970 USD
in Kaufkraftparitäten und damit deutlich unter dem mitteleuropäischen
Niveau (Piola et al. 2012).
Die anhaltende Unterfinanzierung verursacht nicht nur erhebliche
Mängel in der Versorgungsqualität, sondern auch Zugangsbarrieren
insbesondere bei der Facharztbehandlung, die sich in teils langen War-
telisten niederschlägt. Das unzureichende Versorgungsangebot des
SUS verstärkt die ohnehin bestehende starke soziale Segmentierung im
brasilianischen Gesundheitswesen: JedeR Vierte hat zusätzlich eine pri-
vate Krankenversicherung abgeschlossen – die meisten von ihnen über
den Arbeitsplatz im Rahmen einer formalen Beschäftigung (Giovanella
et al. 2012). Damit können Bessergestellte nicht nur vermeiden, mit ar-
men SUS-PatientInnen ein Zimmer im öffentlichen Krankenhaus teilen
zu müssen, sondern sie bekommen darüber auch schnelleren Zugang
zu ambulanter Facharztbehandlung und Diagnostik. Einige ausgewähl-
ten Strukturmerkmale des brasilianischen Gesundheitssystems sind in
Tabelle 2 zusammengefasst.

1 Als Beispiele seien hier der Seguro Básico de Salud (SBS) in Bolivien und der
Seguro Integral de Salud (SIS) in Peru genannt. Beide steuerfinanzierten Program-
me boten der armen Bevölkerung anfangs ausschließlich Leistungen im Bereich der
Mutter-Kind-, sowie im Fall des SIS auch der Jugendgesundheit, und entwickelten
sich erst später zu Ansätzen für ein bisher nicht erreichtes universelles System in
beiden Ländern.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


62 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Tabelle 2:
Merkmale des brasilianischen Gesundheitssystems

Dimensionen Merkmale
Reformperiode 1980er
Jahr der Verabschie-
dung des Gesetzes 1988
Politischer Kontext Übergang von einem diktatorischen Regime zur
Demokratie
Soziales Gesundheits- Nationaler Gesundheitsdienst – Beveridge-Modell
versorgungsmodell
Bezeichnung Sistema Único de Saúde (SUS) / Einheitliches
Gesundheitssystem
Allgemeine Prinzipien Gesundheit als Bürgerrecht – Universalität
Umfassende Gesundheitsfürsorge (öffentliche
Gesundheit und persönliche primäre, sekundäre und
tertiäre Versorgung)
Gesundheit als Komponente des sozialen Wohl-
fahrtssystems
System der sozialen Partizipation
Organisatorische Dezentralisierung und verteilte
Verantwortlichkeiten auf den drei Ebenen Bund,
Länder und Kommunen
Wichtige Reform- Soziale »Gesundheitsbewegung« getragen von
Akteure einzelnen Parlamentariern, Verwaltungsfachkräften
und Grassroots-Organisationen
Finanzierung Der SUS wird aus Steuermitteln der drei Regie-
rungsebenen finanziert: der Bund zu 44,8%, die
Länder zu 25,6% und die Kommunen zu 29,6%
(2010); es gibt keine Zuzahlungen.
Soziale Schichtung Der SUS deckt die gesamte Bevölkerung beitrags-
frei ab, unabhängig von Einkommen und Beschäf-
tigungsstatus.
Neben dem Zugang zum SUS haben 25% der
Bevölkerung eine zweite Absicherung, einen so-
genannten privaten Gesundheitsplan im Rahmen
einer Privatversicherung (teilweise in Form einer
vom Arbeitgeber bezahlten Lohnzusatzleistung).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 63

Abdeckung durch SUS sorgt für eine universelle Absicherung mit


Dienstleistung umfassender Versorgung von einer Basis- bis
Tertiärversorgung (z. B. Organtransplantationen);
beim SUS stehen sowohl öffentliche wie private
Leistungserbringer unter Vertrag.
Die meisten Primärversorgungseinrichtungen sind
in öffentlicher Trägerschaft; 65% der Krankenhaus-
betten sind privat.
Privatversicherte haben einen frühzeitigeren
Zugang zu Leistungen bei einem Netz privater
Leistungserbringer ihrer Versicherer.
Unmittelbare Reform- Universalisierung des Zugangs zu einer umfassen-
ergebnisse den Versorgung
Dezentralisierung bei Fragmentierung für 5.560
Stadtverwaltungen
Zugangsbarrieren und Wartelisten in der fachärzt-
lichen Versorgung
Abdeckung der SUS: 100%
Bevölkerung 2012 Zusätzliche freiwillige private Versicherung: 25%

Der SUS und das Konzept der Primären Gesundheitsversorgung


Primary Health Care (PHC) spielte von Anfang an eine wichtige Rol-
le in der brasilianischen Gesundheitsreform zur Einführung des SUS.
In den 1990er Jahren ging die Verantwortung für die in Brasilien als
Basisgesundheitsversorgung bezeichnete Primärversorgung an die
Stadtverwaltungen (Municípios) über. Diese übernahmen nach und
nach neue Verantwortlichkeiten in der medizinischen Versorgung, die
sich in einer beachtlichen und über die Jahre zunehmenden Ausweitung
des Leistungsangebotes niederschlugen. Über die Jahre war das PHC-
Konzept des SUS verschiedenen Veränderungen unterworfen:
Zunächst war die Primärversorgung selektiv, d. h. ein restriktiv zu-
sammengestellter Leistungskatalog war vorrangig auf die ärmsten Be-
völkerungsschichten ausgerichtet. 1990 entstand das Programm der
»Gemeindegesundheitsarbeiter« und 1994 begann eine erste Phase des
Familiengesundheitsprogramms.
Im Laufe der 1990er Jahren definierte das SUS die Primärversorgung
als erste Versorgungsebene: »Die Basisversorgung besteht aus einer
Palette von individuellen und kollektiven Leistungen auf der ersten
Versorgungsebene zur Gesundheitsförderung und -vorsorge, Behand-
lung und Rehabilitation bei Krankheit« (Ministério da Saúde 1996).
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
64 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Heute verfolgt die »Nationale Politik der Primärversorgung« ein
umfassendes Versorgungskonzept als grundlegende Strategie zur Or-
ganisation des Gesundheitswesens und zur gesamtgesellschaftlichen
Gesundheitsförderung (Ministério da Saúde 2006; 2011).
Ab 1998 schuf die Bundesregierung mit der Zuweisung einer Kopf-
pauschale für die Primärversorgung ihrer BürgerInnen an die 5.560
Kommunen und zusätzlichen Sondertransfers an jedes Familiengesund-
heitsteam einen starken Anreiz zur Umsetzung der Familiengesundheits-
strategie. Dieser neue Ansatz in der medizinischen Primärversorgung
sollte das bis dahin geltende Fürsorgemodell ablösen. Das »Familien-
gesundheitsprogramm« (Programa de Saúde Familiar – PSF) genannte
Konzept erweitert den ursprünglichen PHC-Ansatz von der Fürsorge
mit eingeschränktem Leistungskatalog für extrem arme Bevölkerungs-
gruppen zu einem grundlegenden Versorgungskonzept für die ganze
Bevölkerung.
Die derzeitige brasilianische Primärversorgungspolitik folgt dem
Konzept des Comprehensive Primary Health Care (CPHC) und basiert
auf folgenden Grundlagen: Universeller und kontinuierlicher Zugang
zu effektiven Gesundheitsdienstleistungen; PHC als wichtigster Zu-
gang zum Gesundheitssystem (first contact service), umfassende und
verzahnte Versorgung (comprehensiveness), Versorgungssteuerung im
Leistungserbringernetz (coordination), Entwicklung von nachhaltigen
Vertrauensbeziehungen zwischen Familiengesundheitsteams und Be-
völkerung im Einzugsbereich (longitudinality) und soziale Partizipa-
tion (community oriented) (Ministério da Saúde 2006, 2011).
Auch wenn sie für die Versorgung letztlich unzureichend blieben,
stärkten die über ein Jahrzehnt vom Bund geleisteten Finanztransfers
an die Kommunen die Primärversorgung und setzten wichtige Impulse
für die flächendeckende Verbreitung der Familiengesundheitsstrategie
ESF. 2014 erreichte sie mit rund 35.000 Teams und 258.000 Gemein-
degesundheitsarbeiterInnen (Community Health Worker – CHW) über
90 % der brasilianischen Kommunen und damit etwa 110 Millionen
Menschen oder 56 % der Bevölkerung (s. Tabelle 3). Allerdings weist
das brasilianische Versorgungssystem nach wie vor gravierende Unter-
schiede zwischen den bzw. innerhalb der verschiedenen Regionen sowie
enorme sozialen Ungleichheiten auf. Um diese regionalen Unterschiede
zu verringern, erfolgte die Umsetzung der Familiengesundheitsstrategie
schneller und umfassender im armen und wenig entwickelten Nordosten
des Landes sowie in kleineren Gemeinden mit vergleichsweise wenigen
Primärversorgungseinrichtungen als in den großen Städten, wo es schon
vorher Primärversorgungsstrukturen gegeben hatte.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 65
Tabelle 3:
Anzahl der Teams und geschätzte Abdeckung der Bevölkerung
pro Familiengesundheitsteam in den Regionen Brasiliens, 2013

Region Bevölke- ACS ESF ESB An-


rung Anzahl % Ab- Anzahl % Ab- zahl
deckung deckung NASF

Norden 16.347.807 30.101 79,45 2.647 52,75 1.730 230

Nord- 53.907.144 102.045 86,72 13.598 75,76 1.405 1.357


osten

Zentrum- 14.423.952 18.791 65,06 2.483 55,73 1.862 191


Osten

Südosten 81.565.983 75.706 49,35 11.077 44,34 6.058 685

Süden 27.730.644 31.293 58,47 4920 56,51 2.995 304

Brasilien 193.976.530 257.936 64,74 34.715 56,37 23.150 2.767

Stand: Dezember 2013


Quelle: MS/SAS/DAB 2014
ACS (Gemeinde-Gesundheitsarbeiter) · ESF (Familiengesundheitsteam)
ESB (Mundgesundheitsteams)

Auch das Leistungsangebot im Bereich der Primärversorgung erfuhr


seit der Entstehung des SUS eine spürbare Erweiterung. So hat sich
seither die Zahl der Primärversorgungseinrichtungen auf bundesweit
38.000 verdoppelt, und heute liegt die Primärversorgung ganz über-
wiegend in öffentlicher Hand und in der Verantwortung der Gemein-
den. Dabei sind die meisten kommunalen Einrichtungen klein oder sehr
klein und verfügen nur über ein Primärversorgungsteam: 13 % arbeiten
ohne ärztliches Personal, 68 % verfügen nur über einen und nur 19 %
über zwei oder mehr Ärzte (PMAQ-AB 2012).
Das erweiterte Angebot an Primärversorgungseinrichtungen führte
auch zu einer stärkeren Inanspruchnahme. Ein Indikator dafür ist der
Zugang zu bzw. die Verfügbarkeit von regelmäßig geöffneten Gesund-
heitseinrichtungen (regular source of care). Als 1998 der Sockeltrans-
fer für die Primärversorgung an die Kommunen begann, hatten 71 %
der BrasilianerInnen irgendeine Art regelmäßigen Zugangs zur Versor-

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


66 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
gung. Dieser Anteil stieg bis 2003 auf 79 %, sank allerdings 2008 wie-
der auf 74 % (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística 2010). »Ge-
sundheitsposten« oder »Gesundheitszentren« sind die häufigste Form
dieser regelmäßig verfügbaren Einrichtungen; 57 % der Bevölkerung
und drei Viertel der Armen nehmen deren Dienste in Anspruch (ibid.).
Seit Ende der 1990er Jahre ist »Familiengesundheit« die Primärver-
sorgungsstrategie im Rahmen einer grundlegenderen Umgestaltung
des Versorgungsmodells im SUS. Dabei verknüpft Familiengesundheit
Prävention, Gesundheitsförderung und medizinische Versorgung in
einem bestimmten Einzugsbereich (Territorium), um den wichtigsten
Gesundheitsproblemen der dort lebenden Bevölkerung zu begegnen.
Das dahinter stehende Versorgungsmodell beruht im Wesentlichen auf
multiprofessionellen (ESF-)Teams, die in ihrem jeweiligen Einzugs-
gebiet tätig sind. Sie sollen eine gut erreichbare erste Anlaufstelle sein
und für die gesamte gesundheitsbezogene Versorgung der Bevölkerung
ihres Einzugsbereichs verantwortlich sein. Als gemeindeorientiertes
Angebot sollen die Teams Vertrauen zu den dort lebenden Familien
aufbauen und die soziale Partizipation der Bevölkerung fördern. Sie
sollen Gesundheitsprobleme und Risikosituationen in ihrer Umgebung
erkennen, gesundheitsförderliche sektorenübergreifende Maßnahmen
zur Problemlösung entwickeln und in einem Netzwerk mit fachärzt-
licher und stationärer Versorgung eine umfassende und koordinierte
Versorgung gewährleisten.
Die multiprofessionellen ESF-Teams in öffentlichen Gesundheitszen-
tren sollten sich in der Regel aus einem/einer AllgemeinmedizinerIn,
einer akademisch ausgebildeten Pflegefachkraft, zwei Krankenpflege-
Hilfskräften (mit einem Abschluss der Primar- oder Berufsschule) und
fünf bis sechs GemeindegesundheitsarbeiterInnen (CHW) zusammen-
setzen.2 Jedes ESF-Team ist verantwortlich für 700 bis 1.000 Fami-
lien bzw. etwa 3.000 Personen. JedeR GemeindegesundheitsarbeiterIn
ist für bestimmte Haushalte zuständig und begleitet nach anfänglicher
Registrierung 100 bis 150 Familien, vor allem durch monatliche Haus-
besuche. Die GesundheitsarbeiterInnen haben eine Vermittlerrolle
zwischen der Primärgesundheitseinrichtung, den jeweils vor Ort vor-
handenen Laien-Kompetenzen und -Kenntnissen und der behandlungs-
bedürftigen Bevölkerung (Fonseca et al. 2013).
Die GemeindegesundheitsarbeiterInnen (CHW) sollen kollektiv
arbeitende Public-Health-ArbeiterInnen für ihr Viertel sein. Zu ihren
Aufgaben gehören die Registrierung der Familien ihres Einzugsge-

2 Näheres zu Qualifikation und Tätigkeit siehe weiter unten.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 67
biets, Aufklärungsarbeit über präventive Maßnahmen, Durchführung
einer »Gemeindediagnostik«, Organisation von Einwohnerversamm-
lungen, Identifizierung von Risikofamilien, Begleitung ausgewählter
Personengruppen (Säuglinge, Schwangere, Diabetiker, Bluthochdruck-
patienten) durch regelmäßige Hausbesuche, bei der Wahrnehmung von
Impfterminen oder anderen präventiven und gesundheitsfördernden
Maßnahmen, bei der Einhaltung von regelmäßigen Arztbesuchen oder
bei der Kontrolle der Medikamenteneinnahme. Ebenso wie die anderen
Mitglieder des ESF-Teams sind die CHW vollzeitbeschäftigte Ange-
stellte. Sie arbeiten in den Quartieren, in denen sie wohnen, hatten in
der Anfangsphase in der Regel keine gesundheitliche Vor- oder Ausbil-
dung und erwerben ihre Kompetenzen meistens »on the job«. Eigent-
lich sah die 2002 gesetzlich festgelegte Regelung der Berufsordnung für
CHW eine formalisierte technische Ausbildung im Umfang von 1.200
Unterrichtsstunden (in drei Durchgängen mit jeweils 400 Stunden) vor,
um den GesundheitsarbeiterInnen Kompetenzen für die Durchführung
von individuellen und kollektiven Maßnahmen der Gesundheitserzie-
hung, Verhütung von Krankheiten und Gesundheitsförderung in einzel-
nen Haushalten und in der Gemeinde zu vermitteln (Governo do Brasil
2002). Mittlerweile nehmen die meisten CHW diesen Kurs allerdings
nicht mehr wahr und verfügen nur über eine 80- bis 400-stündige Aus-
bildung. Auch sind ihre Kompetenzen und Tätigkeitsbereiche bisher
nicht klar definiert. Eine ihrer unbestrittenen Hauptaufgaben ist zwar
die Gesundheitserziehung, aber weder das Vorgehen noch die Ausrich-
tung ist eindeutig festgelegt (David 2011).
In die Familiengesundheitsstrategie eingebettet sind seit 2003
auch Mundgesundheitsteams sowie seit 2008 so genannte Unterstüt-
zungsteams (NASF), die in unterschiedlich zusammengesetzten multi-
professioneller Gruppen arbeiten (Tabelle 3). Dabei gibt es zwei Arten
von Mundgesundheitsteams, die sich in der Zahl und Qualifikation des
dem Zahnarzt oder -chirurgen assistierenden Personals unterscheiden
(Mundgesundheitstechniker oder Mundgesundheitshelfer). Heute ar-
beiten in ganz Brasilien 23.150 solcher Mundgesundheitsteams. Die
multiprofessionellen Unterstützungsteams haben die Aufgabe, das Pri-
märversorgungsangebot der Familiengesundheitsteams zu erweitern.
In den Unterstützungsteams fließen acht verschiedene Strategiebe-
reiche zusammen: physische Aktivitäten, integrative und ergänzende
Praktiken (Alternativmedizin), Rehabilitation, Ernährung, psychische
Gesundheit, Sozialarbeit, Gesundheit von Kindern und Jugendlichen,
Frauengesundheit und pharmazeutische Versorgung. Ein NASF-Team
arbeitet jeweils drei bis neun Familiengesundheitsteams zu.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
68 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Multiprofessionelle Teamarbeit
Die von der Familiengesundheitsstrategie ESF geleistete Versor-
gung beruht auf multiprofessioneller Teamarbeit und richtet sich an
Bevölkerungsgruppen in definierten Einzugsgebieten, für deren Ge-
sundheit das Team die Verantwortung übernimmt. Zur Steigerung der
Effizienz der Teams in der konkreten Primärversorgung brach man
mit der technisch-hierarchischen Arbeitsweise und drängte die domi-
nante Rolle der ÄrztInnen im Gesundheitsteam zurück (Almeida und
Mishima 2001). Denn die Arbeit im multiprofessionellen Team ver-
langt ein kooperatives, Professionen übergreifendes Vorgehen, eine
gemeinsame Entwicklung von Projekten sowie gemeinsame Prioritä-
tensetzungen.
Die im Rahmen der PMAQ-AB-Evaluierung erhobenen Daten, die
auf Interviews mit tausenden Teamleitern in ganz Brasilien beruhen,
geben anschaulichen Einblick in die Grundzüge und Schwerpunkte der
Arbeit der ESF-Teams. Tabelle 4 vermittelt einen Überblick über we-
sentliche Aspekte der multiprofessionellen Teamarbeit bei der Famili-
engesundheitsstrategie im Hinblick auf die Teammitglieder, Teamlei-
tung, die Planung der Teamarbeit, Themen der Teamsitzungen und die
Zusammenarbeit mit den NASF-Unterstützungsteams.
Die Erhebung zeigte, dass die befragten Familiengesundheitsteams
wie vorgesehen jeweils eine/n A(e)rztIn (95 %), eine/n akademische
KrankenpflegerIn (100 %) sowie GemeindegesundheitsarbeiterInnen
(100 %) und Krankenpflegehilfskräfte (auf dem Niveau von Facharbei-
terInnen) (71 %) umfassen. Gut vier Fünftel der Teams unterstehen
der Leitung des/der akademischen KrankenpflegerIn. Es gibt eine klar
geregelte Kooperation und Arbeitsteilung zwischen Krankenpflege-
kraft und MedizinerIn: Gemeinsam mit den ÄrztInnen versorgen die
akademisch ausgebildeten Pflegekräfte chronisch Kranke und führen
selbständig verschiedene administrative und klinische Aufgaben, Prä-
ventivmaßnahmen in Form von Gruppenfortbildungen sowie Patien-
tenschulungen durch. Außerdem veranlassen sie Früherkennungs- und
Vorsorgeuntersuchungen sowie Impfungen und leiten die Gemein-
degesundheitsarbeiterInnen an bzw. bilden sie aus (Giovanella et al.
2009).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 69
Tabelle 4:
Charakteristika der multiprofessionellen Teamarbeit
bei der Familiengesundheitsstrategie in Brasilien

Arbeit im multiprofessionellen Team % der


Teams
Teammitglieder
Arzt 95%
Akademische Krankenpflege 100%
Hilfskräfte-Krankenpflege (Niveau Facharbeiter) 71%
Hilfskräfte-Krankenpflege (Niveau Hilfskraft) 41%
GemeindegesundheitsarbeiterInnen 100%
Zahnarzt 71%
MundgesundheitstechnikerInnen 27%
Mundgesundheitshilfskraft 57%
Teamleitung durch akademische Krankenpflege 81%
Planung der Teamarbeit
Planung der Teamarbeit in den letzten 12 Monaten 88%
Erhebungen von Problemen 80%
Festlegung von Prioritäten 81%
Festlegung eines Aktionsplans 77%
Arbeitsprozesse im Team
Arbeitssitzungen 98%
Arbeitssitzungen, wöchentlich 42%
Arbeitssitzungen, ein oder zwei Mal im Monat 46%
Wöchentliche unter den Fachkräften ausgehandelte Agenda 81%
zu Maßnahmen liegt vor
Themen der Teamsitzungen
Organisation des Arbeits- und Dienstleistungsprozesses 95%
Maßnahmenplanung 94%

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


70 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça

Diskussion über Familiensituation und Krankheitsfälle 88%


(schwierige Fälle, Herausforderungen)
Monitoring und Analyse der Gesundheitsindikatoren 78%
Klinische Qualifizierung unter Mitwirkung der Unterstüt- 47%
zungsteams NASF (Liaisonteams)
Festlegung Einzelfall-Therapieprojekte 47%
Aktivitäten der NASF Unterstützungsteam in
Zusammenarbeit mit den Familiengesundheitsteams
Behandlung überwiesener PatientInnen aus der Primärversorgung 75%
Hausbesuche 63%
Gemeinsame Konsultationen und Aufgabenteilung bei 62%
klinischen Maßnahmen (Diskussion klinischer Fälle)
Organisierung von Interventionen auf dem Territorium 55%
Ständige gesundheitsbildende Maßnahmen 52%
Gemeinsames Festlegen von Einzelfall-Therapieprojekten 46%

Quelle: PMAQ-AB. [Datenbank Evaluierung 2012].


N = 17.201 am PMAQ-AB teilnehmende Familiengesundheitsteams

Die Teamarbeit umfasst auch die Planung der gesundheitsbezogenen


Interventionen. Die Survey-Ergebnisse zeigen, dass 88 % der Teams
ihre Aktivitäten gemeinsam planen, 81 % definieren abgestimmte Prio-
ritäten und 77 % entwerfen Aktionspläne. Die Arbeitsplanung der
Teams erfolgt bei 98 % der Teams in regelmäßigen wöchentlichen
(42 %) oder monatlichen (46 %) Sitzungen. Dabei geht es um die Klä-
rung von Zuständigkeiten, die Verteilung anstehender Aufgaben bzw.
die Organisation von Abläufen (in 95 % der Fälle), um die Diskussion
familiärer Fallgeschichten und Krankheitsfälle (88 %) sowie das Moni-
toring bzw. die Analyse gesundheitsrelevanter Indikatoren (78 %). Für
etwa die Hälfte der Teams gehört auch Weiterbildung zur Verbesserung
der klinischen Qualifikation zu den Sitzungsthemen, die unter Beteili-
gung der multiprofessionellen NASF-Teams stattfinden (vgl. Tabelle
4). Die unterstützenden NASF-Teams begleiten jeweils zwischen 8 und
20 ESF-Teams und bieten ihnen fachliche sowie technisch-pädagogi-
sche Unterstützung. Dies soll als Dialog im Rahmen einer horizontalen,
nicht-hierarchischen Beziehung zwischen den Spezialisten der NASF-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 71
Teams und dem Familiengesundheitsteam geschehen (Giovanella und
Mendonça 2012).
2013 waren in Brasilien 2.767 multiprofessionell zusammenge-
setzte NASF-Teams im Einsatz; das berufliche Spektrum ihrer Mit-
arbeiterInnen umfasst PhysiotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen,
FrauenärztInnen, PsychologInnen, PsychiaterInnen, SportlehrerInnen,
ErnährungsberaterInnen, HomöopathInnen, AkupunkteurInnen, Ergo-
therapeutInnen und LogopädInnen. Aus der PMAQ-Erhebung geht her-
vor, dass die NASF-Unterstützungsteams in Zusammenarbeit mit den
Familiengesundheitsteams überwiesene Patienten aus der Primärver-
sorgung (75 %) behandeln, Hausbesuche durchführen (63 %), an ESF-
Teambesprechungen teilnehmen und gemeinsame Konsultationen bei
besonderen Patientenfällen (62 %) durchführen. Sie organisieren Aktio-
nen im Wohnviertel (55 %) – zum Beispiel Nachbarschaftsversamm-
lungen zu Gesundheitsproblemen – und sorgen für die Weiterbildung
der ESF-Teams (52 %) (Tabelle 4).
Die Verbesserung der multiprofessionellen Teamarbeit ist eine kom-
plexe Herausforderung, die gegenseitigen Respekt und flachere bzw.
eingeebnete Hierarchien verlangt (Almeida und Mishima 2001). In
der Zusammenarbeit sollen sich die jeweiligen Disziplinen ergänzen
und gemeinsame Entscheidungen entstehen, die fachliche Autonomie
jeder Disziplin jedoch gewahrt bleiben. Zugleich erfordert die Team-
arbeit eine flexible Arbeitsorganisation und -teilung sowie gleichzeitig
die Beachtung der fachlichen Besonderheiten in komplementärer und
interdependenter Form (Peduzzi 2001). Eine solche Zusammenarbeit
gelingt einfacher und besser zwischen Fachkräften desselben Ausbil-
dungsniveaus als zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen. Obwohl
in Brasilien sowohl ÄrztInnen als auch KrankenpflegerInnen eine uni-
versitäre Ausbildung haben, sind die Beziehungen offenbar weiterhin
von Konflikten geprägt (Pedrosa und Teles 2001). Bei der Arbeit in
den Gesundheitseinrichtungen besteht bis heute eine Dominanz von
ÄrztInnen gegenüber anderen Fachkräften im Gesundheitswesen, ins-
besondere gegenüber dem Pflegepersonal, was nicht zuletzt eine Folge
hierarchischer Geschlechterverhältnisse ist, denn die meisten Pflege-
kräfte sind weiblich. Die Dominanz der Medizin spiegelt sich auch in
der Hierarchie in den Gesundheitseinrichtungen wieder und erschwert
die Zusammenarbeit der verschiedenen Professionen. Die Beziehun-
gen der Familiengesundheitsteams mit den Fachkräften des Unterstüt-
zungsteams NASF sind weniger konfliktgeladen, da sich diese im All-
gemeinen aus Fachkräften unterschiedlicher nichtärztlicher Disziplinen
zusammensetzen.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
72 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Gemeindeorientierung

Die Familiengesundheitsstrategie strebt eine gemeindeorientierte


Primärversorgung an. Der Aufbau einer umfassenden Gesundheits-
primärversorgungsstruktur verlangt neben einer angemessenen
medizinischen Versorgung auch Public Health-Interventionen im
Wohnviertel und sektorenübergreifende Aktivitäten, um die sozia-
len Determinanten von Gesundheit angemessen zu berücksichtigen.
Nach dem Verständnis von Comprehensive Primary Health Care im
Sinne von Alma Ata ist die Gesundheit der Bevölkerung untrennbar
mit der ökonomischen und sozialen Entwicklung verbunden. Sie ist
abhängig von Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, vom
Einkommen, von Bildung, Freizeitaktivitäten, Ernährung, Wohnver-
hältnissen, Mobilität sowie vom Zugang zu Gesundheitsdiensten. Um
diese vielfältige soziale Bedingtheit von Gesundheit berücksichtigen
zu können, ist eine übergreifende Verknüpfung aller öffentlichen
Sektoren der Daseinsfürsorge erforderlich, um die nötigen komple-
mentären Interventionen und Aktivitäten durchführen zu können.
Hier spielen die GemeindegesundheitsarbeiterInnen eine gewichtige
Rolle, indem sie die gesundheitlichen Probleme in ihrem Einzugsbe-
reich erkennen, AnwohnerInnen und Nachbarschaftsorganisationen
mobilisieren und Nachbarschaftsversammlungen organisieren, um
Maßnahmen zur Problemlösung und Druck auf andere öffentliche
Einrichtungen zu entwickeln. Da die CHW ihre Quartiere kennen,
sind sie in der Lage, den Bedarf der BewohnerInnen zu erkennen.
Insofern ist ihre Tätigkeit für die Einrichtung sektorenübergreifen-
der Kooperationen von großer Bedeutung; sie sind damit auch ein
strukturbildendes Element einer umfassenden primären Gesundheits-
versorgung.
Die ESF-Teams sollen Antworten geben auf individuelle und
kollektive Bedürfnisse der Familien in ihrem Einzugsbereich. Um
Risikosituationen und Probleme in der Nachbarschaft zu erkennen,
haben sie die Aufgabe, sozioökonomische Familiendaten zu erfas-
sen und in Stadtteilversammlungen zur Diskussion zu stellen, um
daraus Maßnahmen zur Problemlösung abzuleiten. Um die sozialen
Determinanten hinreichend zu berücksichtigen, sollen die Familien-
gesundheitsteams eng mit Organisationen und Institutionen anderer
Sektoren zusammenarbeiten, so mit den Behörden für Wasserversor-
gung oder der Müllabfuhr, um deren Dienstleistungen zu sichern, mit
Schulen, um dort beispielsweise Zahnprophylaxe oder Kariespräven-
tion zu betreiben, oder mit Sozialhilfediensten, um beispielsweise
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 73
die gesundheitlichen Maßnahmen im Rahmen des Bolsa-Família-
Programms zu begleiten.3
Die Ergebnisse einer repräsentativen Stichprobe von registrierten
Familien und ESF-Teams in vier großen brasilianischen Städten zei-
gen, dass die GemeindegesundheitsarbeiterInnen (CHW) eine wich-
tige Rolle bei der Problemerkennung und der Mobilisierung der Be-
wohnerInnen der jeweiligen Wohnviertel spielen, damit diese Druck
auf die GemeindevertreterInnen ausüben und ihre Forderungen ver-
treten können (Giovanella et al 2009). Die Studie zeigt auch, welch
große Anstrengungen die ESF-Fachkräfte bei der Entwicklung von
Interventionen in der community an den Tag legen. Diese Erhebung
verdeutlicht an Hand verschiedener Indikatoren die gemeindeorien-
tierte Arbeit der ESF-Teams: So untersuchten zwei Drittel der Ge-
meindegesundheitsarbeiter den Zugang der Familien zu Trinkwasser
und zur Abwasserentsorgung, und zwischen einem Drittel und einem
Viertel der ÄrztInnen sowie zwischen einem und zwei Dritteln der
akademischen Pflegekräfte hatten im letzten Monat eine Versamm-
lung in der Nachbarschaft durchgeführt. Bis zu 40 % der ÄrztInnen
und 58 % der Pflegekräfte arbeiteten mit anderen Organisationen zu-
sammen, um Problemen in der Gemeinde zu begegnen (Giovanella
et al 2009).
Die Daten der Evaluierungsstudie PMAQ-AB (s. Tab. 5) belegen
zudem, dass die meisten ESF-Teams tatsächlich die konkrete Fest-
legung eines Einzugsbereiches (Bedingung für die gemeindeorien-
tierte Arbeit), Planungen von Gemeindeaktivitäten und gemeinsame
Aktionen mit anderen lokalen Organisationen vorgenommen haben.
98 % kennen ihr sozialräumlich klar definiertes Einzugsgebiet und
85 % besitzen eine Karte ihres Territoriums und 82 % der Teams ana-
lysieren die Gesundheitsindikatoren ihres Einzugsbereichs. Eine kar-
tografische Kennzeichnung der Mikro-Bereiche haben immerhin 72 %
der Teams vorgenommen, aber nur ein Viertel hat darauf das gesund-
heitliche oder soziale Risikoprofil vermerkt (26 %). Aber immerhin:

3 Die Inanspruchnahme von Leistungen des Sozialhilfeprogramms Bolsa Família


ist an die Erfüllung der folgenden Gesundheitsvorsorgemaßnahmen gebunden: Kon-
trolle von Wachstum und Entwicklung sowie Impfungen bei Kindern und Schwan-
gerschaftsvorsorge. Die GesundheitsarbeiterInnen sind nicht nur verantwortlich für
die Begleitung und Registrierung der Gesundheitsbedingungen des Bolsa-Família-
Programms, sondern auch für die Identifizierung der extrem armen Familien für das
Programm.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


74 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Tabelle 5:
Charakteristika der gemeindeorientierten Arbeit im Rahmen der
Familiengesundheitsstrategie in Brasilien

Gemeindeorientierung % der
Teams
Territorialisierung (Definition des Einzugsbereichs)
Das sozialräumliche Einzugsgebiet des Teams ist definiert 98%
Das ESF-Team besitzt Karten mit Eintragungen des 85%
Einzugsbereichs
Die Gebietskarte enthält:
Markierung der ACS-Mikrobereiche 72%
Markierung der sozialen Einrichtungen (Geschäfte, Kirchen, 46%
Schulen)
Kennzeichnung der Patienten mit prioritären Krankheitsbildern 26%
(Diabetes, Bluthochdruck, mentale Gesundheit
Monitoring und Analyse der Gesundheitsindikatoren und 82%
-informationen der Gebietsbevölkerung
Intersektorialität
In der Arbeitsagenda des Teams ist das Angebot von 79%
gesundheitsbildenden Gruppenaktivitäten und Gemeinde-
aktionen vorgesehen
Bei der Aktivitätenplanung berücksichtigt das Team:
die Einbindung der Gemeindeorganisationen 63%
(Partnerschaft und Aushandeln mit der Gemeinde)
die Einbindung anderer im Gebiet agierender 60%
Sektoren/Diensten
die Einbindung der Gemeindeakteure 57%
Verhältnis zu anderen Sektoren
Register der im Programm Bolsa Família eingeschriebenen 82%
Familien des Territoriums liegt vor
Aktivitäten der Gesundheitserziehung in den Schulen des 75%
Quartiers/der Gemeinde

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 75

Karte für Begleitung der im Bolsa-Família-Programm 62%


eingeschriebenen Familien
Soziale Partizipation
Lokaler Gesundheitsrat 59%
Kommunikationskanäle mit den Nutznießern 73%
Quelle: PMAQ-AB. [Datenbank Evaluierung 2012].
N = 17.201 am PMAQ-AB teilnehmende Familiengesundheitsteams

Trotz aller bisherigen Erfolge bleibt die Umsetzung einer umfassenden


Primärversorgung in Brasilien eine zentrale Herausforderung, schließ-
lich erfordern die Entwicklung von Gemeindeaktivitäten und der Auf-
bau eines Sektoren übergreifenden Zusammenspiels das eine ange-
messene Reaktion auf die sozialen Gegebenheiten und eine effektive
Gesundheitsförderung erlaubt, anhaltende und dezidierte Bemühungen
(Giovanella et al. 2009). Mittlerweile zeigen die Daten des PMAQ-AB-
Surveys aber, dass fast vier Fünftel der ESF-Teams im Rahmen ihrer
Agenda gesundheitsfördernde Gruppenangebote und Gemeindeaktivi-
täten als gemeindeorientierte Initiativen anbieten (79 %). In ihrer Pla-
nung legen die Teams dabei Wert auf eine intersektorale Perspektive.
Knapp zwei Drittel der ESF-Teams (63 %) berücksichtigten bei ihrer
Aktivitätenplanung die Einbindung von Gemeindeorganisationen und
von anderen Bereichen der öffentlichen Hand (60 %) für ein gemeinsa-
mes Vorgehen im Wohnviertel, um angemessen die sozialen Determi-
nanten von Gesundheit berücksichtigen zu können.
Die Einbindung von AkteurInnen aus der Gemeinde in die geplan-
ten Aktivitäten (bei 57 % der Teams) und die Präsenz von lokalen Ge-
sundheitsräten bei den Primäreinrichtungen (bei 59 % der Teams) sind
weitere Komponenten der Community-Orientierung. Dabei zeigen die
Daten auch, dass es sich bei den kooperierenden öffentlichen Dienst-
leisterInnen vor allem um Einrichtungen der Sozialarbeit und Schulen
handelt. Drei Viertel der Teams führen gesundheitsfördernde Aktivi-
täten in Schulen durch, 82 % verfügen über ein Register der Familien
im Bolsa-Família-Programm in ihrem Einzugsgebiet, und 62 % haben
sogar eine gezeichnete Karte mit der Adresse dieser Sozialhilfeemp-
fänger, so dass sie die Einhaltung der Gesundheitsvorsorgemaßnahmen
regelmäßig überprüfen können (s. Tab. 5).
Zwar können die ESF-Teams Sektoren übergreifende Initiativen
auf den Weg bringen, insgesamt ist ihr Handlungsspielraum gegen-

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


76 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
über grundlegenden sozialen Problemen aber eher begrenzt. Befragte
Führungskräfte weisen auf die Notwendigkeit hin, die Grenzen der Ge-
meindearbeit des ESF-Teams anzuerkennen, schließlich bedürfen ef-
fektive intersektorale Initiativen gemeinsamer Interventionen auf ver-
schiedenen Verwaltungsebenen. Im kommunalen Bereich sind sie am
wirkungsvollsten, wenn sie sich in strukturellen Vorgaben der Stadtver-
waltung niederschlagen, d. h dass alle Sektoren der öffentlichen Hand
gemeinsam Probleme erkennen, in gemeinsamer Planung angehen und
abgestimmte Maßnahmen ergreifen (Giovanella et al. 2009).
Ein weiteres Hindernis bei der Weiterentwicklung der Gemeindear-
beit stellen neuere Veränderungen der Tätigkeit kommunaler Gesund-
heitsarbeiterInnen (CHW) vor allem in Großstädten wie Rio de Janeiro
dar, wo ihre zunehmende Einbindung in bürokratische Verwaltungsab-
läufe die Wahrnehmung von Gemeindeaktivitäten beeinträchtigt. Ur-
sprünglich waren die CHW in ihrer Tätigkeit als »AufklärerInnen« eng
in die Gemeinde eingebunden, aber im Lauf der Zeit nahm der Anteil
technischer und administrativer Tätigkeiten in den Gesundheitszentren
zu. Zudem stehen die CHW bei der Patientenaufnahme, Digitalisierung
von Krankenakten, Eingabe der erfüllten Voraussetzungen für die Aus-
zahlung von Sozialtransfers im Rahmen des Bolsa-Família-Programms
und ähnlichen Dingen viel stärker unter ständiger Beobachtung durch
das Pflegepersonal als bei ihrer Arbeit vor Ort in den Gemeinden.

Bestehende Herausforderungen bei der Umsetzung des umfassenden


Primary-Health-Care-Konzepts
Trotz aller Fortschritte bei der Primärversorgung in Brasilien bleiben
wesentliche Herausforderungen bei der Implementierung der Familien-
gesundheitsstrategie im Sinne von comprehensive primary health care
bestehen. Denn letztlich sind hierfür nicht weniger als eine Neuorga-
nisation des Gesundheitssystems und die tatsächliche Gewährleistung
des universellen Bürgerrechts auf Gesundheit erforderlich. Vorausset-
zungen wären die Erweiterung der Versorgungs- und Behandlungs-
möglichkeiten der Familiengesundheitszentren, ein erweitertes SUS-
Leistungsangebot an fachärztlicher Versorgung sowie eine deutliche
weitere Förderung und konkrete Umsetzung der Intersektoralität, also
eine durchsetzungsmächtigere Politik zur Förderung der Zusammen-
arbeit zwischen den Sektoren, um die sozialen Determinanten von Ge-
sundheit und Krankheit stärker berücksichtigen zu können. Die größte
Herausforderung bei der Implementierung einer CPHC-Strategie in
Brasilien bleibt aber die gleichzeitige Gewährleistung des garantierten
Zugangs zu qualitativ hochwertiger medizinischer Versorgung, die sich
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 77
an den Bedürfnissen und Erwartungen der BürgerInnen orientiert, und
gesellschaftliche Gesundheitsinterventionen, die den sozialen Ursachen
gesundheitlicher Ungleichheit entgegenwirken.
Die generelle Personalknappheit im Gesundheitsbereich ist auch in
Brasilien ein grundlegendes Problem. Das betrifft sowohl die Ausbil-
dung und Qualifikation der in der Primärversorgung tätigen Fachkräfte
als auch die oft unattraktiven Arbeitsbedingungen und die Strategien zur
Personalrekrutierung bzw. -bindung für die Familiengesundheitsfürsorge.
In Brasilien kommen 1,8 A(e)rztInnen auf 1.000 EinwohnerInnen, wobei
erhebliche regionale Unterschiede bestehen (zwischen 0,7 im nördlichen
Bundesland Pará und 3,5 im Bundesland Rio de Janeiro); bei weniger als
5.000 FachärztInnen in Allgemeinmedizin ist deren Versorgungsdichte
überall in Brasilien sehr niedrig. Hinzu kommt die hohe Fluktuation der
Fachkräfte und vor allem der ÄrztInnen, die nach wie vor ein großes Hin-
dernis für effektive Teamarbeit im Primärversorgungssystem darstellt.
Als Antwort startete Brasilien Ende 2013 das Bundesprogramm »Pro-
grama Mais Médicos« (»Programm mehr Ärzte«) zur Rekrutierung
ausländischer ÄrztInnen für die Primärversorgung in benachteiligten
Regionen, darunter 11.000 MedizinerInnen aus Kuba, die im Rahmen
eines Vertrags mit der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation
(PAHO) ins Land kamen. Zu diesem Programm gehört aber auch die
Erweiterung der Aus- und Weiterbildung in Allgemeinmedizin durch
die Einrichtung von 11.400 neuen Medizinstudienplätzen in öffentli-
chen wie in privaten Universitäten im ganzen Land – und hier insbeson-
dere in unterversorgten Gebieten – und von 12.000 neuen Stellen für die
allgemeinmedizinische Facharztweiterbildung bis zum Jahr 2018.
Dies soll einem weiteren wesentlichen Problem entgegen treten, näm-
lich der unzureichenden Ausbildung von ÄrztInnen und Pflegekräften
für die Primärversorgung mit angemessener Vorbereitung auf indivi-
duelle und kollektive Public-Health-Tätigkeiten. In Brasilien existiert
keine Hausarzt-Tradition, und die Ausbildung der Fachkräfte ist nicht
auf die Primärversorgung orientiert, auch wenn es in den letzten Jah-
ren verschiedene Fördermaßnahmen des Gesundheitsministeriums zur
Aus- und Weiterbildung im Bereich von PHC gab.
Abschließend lässt sich festhalten: In Brasilien hat sich die Primärver-
sorgung in den letzten Jahren aufgrund gesetzlicher Neuerungen, finan-
zieller Anreize, technischer Entwicklungen und des Aufbaus politischer
Strukturen in der Gesundheitsverwaltung spürbar verbessert. Allen fort-
bestehenden Problemen zum Trotz gibt es Hinweise darauf, dass die Fa-
miliengesundheitsstrategie positive Auswirkungen auf die Gesundheit
der Bevölkerung hat, erkennbar an einem Rückgang der Kindersterb-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
78 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
lichkeit (Rasella et al. 2010), der kardiovaskulären Mortalität (Rasella
et al 2014) und der stationären Behandlungsfälle für ambulant-sensitive
Bedingungen4 (Macinko et al. 2011; Guanais und Macinko 2009). Nicht
zuletzt diese Ergebnisse haben dazu beigetragen, dass PHC heute zu
einem vorrangigen Thema in der Gesundheitspolitik geworden ist.
Die Weiterentwicklung der Primärversorgung in Brasilien war nicht
nur bisher ein Wegbereiter für den Ausbau des SUS, sondern bleibt
es auch in der Zukunft. Die wichtigste Herausforderung besteht in der
Reorganisation des brasilianischen Gesundheitssystems auf Basis einer
umfassenden Primärversorgung, die strukturbildend für die Versor-
gungsprozesse, erfolgreich in das gesamte Gesundheitswesen integriert
und in hohem Maße gemeindeorientiert ist, Perspektiven für den Ab-
bau sozialer und regionaler Ungleichheiten eröffnet und einen besse-
ren Zugang zu sowie eine höhere Inanspruchnahme von Gesundheits-
leistungen gewährleistet. Eine derartige Neuausrichtung des gesamten
Gesundheitswesens würde die Aussichten auf Durchsetzung des Men-
schenrechts auf Gesundheit verbessern.

Korrespondenzadresse:
Prof. Lígia Giovanella
National School of Public Health / Oswaldo Cruz Fundation
Av. Brasil, 4036
21040-361 Rio de Janeiro RJ
Brasil
Tel.: +55 (0)21 3882 9134 / 2209 3347
Fax: +55 (0)21 2209 3119
E-Mail: giovanel@ensp.fiocruz.br

Übersetzung: Lutz Taufer; redaktionelle Bearbeitung: Jens Holst

4 Damit sind die stationären Aufnahmen gemeint, die potenziell durch gute am-
bulante Versorgung vermeidbar wären. Ambulant-sensitive Krankenhausfälle treten
vor allem auf bei
1. akuten Erkrankungen, die durch Impfung oder andere präventive Maßnahmen
zu vermeiden gewesen wären,
2. akuten Erkrankungen, die bei adäquater Behandlung und Kontrolle ambulant
zu beherrschen wären,
3. Exacerbationen chronischer Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Hypertonie
und chronischer Herzinsuffizienz, die durch angemessene ambulante Versor-
gung vermeidbar wären (vgl. Burgdorf/Sundmacher 2014: 215).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 79
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JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


82
Óscar Arteaga, Cristián Rebolledo, Nicolás Silva,
Cristóbal Cuadrado, Soledad Martínez, Jens Holst

Das chilenische Gesundheitssystem und die


Primärversorgung: erfolgreiche Integration?

Zusammenfassung
Das chilenische Gesundheitswesen ist durch eine ausgeprägte Zwei-
teilung gekennzeichnet, die anders als in Deutschland auch die Leis-
tungserbringerseite einschließt. Dieser Beitrag beleuchtet zunächst die
historische Entwicklung des chilenischen Gesundheitssystems von den
Anfängen bis zur jüngsten umfassenden Reform von 2005 unter beson-
derer Berücksichtigung der Primärversorgung. Es zeigt sich, dass seg-
mentierte Systeme vor allem aufgrund ihrer organisatorischen Unter-
teilung und der unterschiedlichen Finanzierungsströme einer Stärkung
der Primärversorgung im Wege stehen. Abschließend analysiert der
Beitrag denkbare Schlussfolgerungen aus den chilenischen Versuchen
einer besseren Integration der Primärversorgung für die aktuelle De-
batte in Deutschland.

Abstract
The Chilean health care system is characterised by a striking segmen-
tation that includes also health care providers – different from the situ-
ation in Germany. The paper starts depicting the historical evolution of
the Chilean healthcare sector from the beginning until the most recent
major reform of 2005, with particular reference to primary health care
(PHC). Obviously, segmented healthcare systems tend to make efforts
to strengthen PHC more challenging due to organisational division
and separate financial flows. Finally, the article analyses conceivable
lessons learned from the Chilean approach to better integrate PHC in
view of the current debate on PHC in Germany.

Resumen
El sistema de salud chileno se caracteriza por una clara segmentación
que incluye el sector prestador, a diferencia de la situación en Alemania.
Este artículo comienza con una presentación de la evolución histórica del
sistema sanitario desde lo principios hasta la más reciente reforma am-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Das chilenische Gesundheitssystem und die Primärversorgung 83
plia del 2005, poniendo énfasis en la atención primaria de salud (APS).
Se puede concluir que los sistemas segmentados tienden a estorbar el
fortalecimiento de la APS, principalmente por la division organizativa y
la separación de los flujos financieros. Al final, el artículo analiza posib-
les lecciones aprendidas que se pueden sacar de los enfoques chilenos de
major integración de la APS para el debate actual en Alemania.

Einleitung
Seit den 1990er Jahren liegt zunehmende empirische Evidenz für einen
positiven Zusammenhang zwischen gesundheitlicher Primärversorgung
(primary health care = PHC) und den Gesundheitsindikatoren eines
Landes vor (Starfield 1991, 1994). Zumindest für die Industrienationen
der westlichen Welt ließ sich zeigen, dass eine größere Bedeutung der
Primärversorgung in einem Gesundheitssystem mit guten gesundheit-
lichen Ergebnissen und insbesondere mit vergleichsweise niedrigen
Gesundheitsausgaben, größerer Patientenzufriedenheit, besserem Ge-
sundheitszustand und niedrigem Medikamentengebrauch verbunden ist
(ibid.). Vor diesem Hintergrund wurde Primary Health Care (PHC) zu
einer wichtigen Strategie zur Erreichung des programmatischen Ziels
»Gesundheit für Alle«.
Chile leitete 2005 eine Gesundheitsreform ein, mit der das Land auf
den demografisch-epidemiologischen Wandel, gesundheitliche Un-
gleichheiten und die Unzufriedenheit der NutzerInnen des Gesund-
heitswesens reagierte. Ein zentraler Bestandteil dieser Reform war die
Trennung der Funktionen, um das öffentliche Teilsystem zu stärken,
soziale Ungleichheiten abzubauen und vor allem die medizinische
Versorgung stärker an der Primärversorgung auszurichten. Explizite
Ziele waren die Verbesserung der gesundheitsbezogenen Ergebnisse,
die Anpassung an die Herausforderungen der alternden Bevölkerung,
der Abbau von Ungleichheiten und die Befriedigung des Bedarfs sowie
der Erwartungen der BürgerInnen (MINSAL 2008). Das Versorgungs-
modell galt dabei als Reforminstrument, da es die Gesundheitsförde-
rung, die Prävention, die Integration der Versorgung und die Stärkung
der Primärversorgung einbezieht.
Im Zuge der Reform von 2005 setzte sich erneut die Erkenntnis durch,
dass PHC im Rahmen eines umfassenden Versorgungsmodells und mit
einem Zuschnitt auf Familie und Gemeinde Grundlage für die Entwick-
lung des Gesundheitssystems sein sollte. Allerdings gilt PHC weiter-
hin als Versorgung geringer Komplexität, auch wenn sie in der Lage
ist, 90 % der gesundheitlichen Probleme einer Bevölkerung zu lösen,
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
84 Arteaga, Rebolledo, Silva, Cuadrado, Martínez, Holst
zugleich Ausgangspunkt der allermeisten Überweisungen an bzw. von
den anderen Versorgungsniveaus ist und damit den Großteil der am-
bulanten Gesundheitsbedarfs befriedigt (MINSAL 2008). Dessen un-
geachtet gibt es Faktoren, die der Reformabsicht im Wege stehen, PHC
besser in die gesamte gesundheitsbezogene Versorgung zu integrieren.
Der vorliegende Beitrag beschreibt und analysiert die Geschichte des
chilenischen Gesundheitswesens unter besonderer Berücksichtigung
der Primärversorgung und geht dabei insbesondere auf die Faktoren ein,
die erkennbaren Einfluss auf die aktuelle Situation hatten. Der folgende
Abschnitt fasst zunächst die wichtigsten historischen Entwicklungen
des chilenischen Gesundheitssystems zusammen und beschreibt einige
spezifische Elemente des primären Versorgungsniveaus in verschiede-
nen historischen Phasen. Es folgen eine Darstellung ausgewählter As-
pekte der Primärversorgung in Chile und eine kritische Analyse des
chilenischen Gesundheitssystems unter besonderer Berücksichtigung
der Bereiche, die nach Auffassung der AutorInnen einer Weiterent-
wicklung zu einem integrierten Versorgungssystem im Wege stehen.
Das Abschlusskapitel widmet sich vergleichenden Betrachtungen und
möglichen Rückschlüssen der chilenischen PHC-Erfahrungen auf die
Primärversorgung in Deutschland.

Die historische Entwicklung des chilenischen Gesundheitswesens1


Das chilenische Gesundheitssystem entstand seit den ersten Jahrzehn-
ten des 20. Jahrhunderts im Zuge sukzessiver Bemühungen, ein sozia-
les Sicherungssystem aufzubauen. Die wichtigsten Eckpunkte in dieser
Anfangsphase waren
1. Verabschiedung des Gesundheitsgesetzes (Código Sanitario) im
Jahr 1918, das öffentliche Verantwortlichkeiten für allgemeine
Hygiene und Präventionsprogramme definierte.
2. das 1924 verabschiedete Sozialversicherungsgesetz, das Arbeite-
rInnen (blue collar workers) und ihren Familienangehörigen so-
ziale Absicherung im Krankheitsfall gewährleistete.
3. Gründung des Gesundheitsministeriums 1924 (Illanes 1993; Jimé-
nez und Bossert 1995).

Einige WissenschaftlerInnen erklären diese frühe Entwicklung als Ant-


wort auf den Druck der Arbeiterorganisationen in der Salpeterindustrie
1 Vergleiche hierzu auch die Ausführungen von Vallejos (1976) als frühe deutsch-
sprachig erschienene Darstellung der Entwicklung und Herausforderungen des chi-
lenischen Gesundheitswesens, die zudem eine Beschreibung der Gesundheitspolitik
der Unidad-Popular-Regierung 1970-73 enthält.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Das chilenische Gesundheitssystem und die Primärversorgung 85
im Norden des Landes und mit dem Einfluss der europäischen Sozial-
versicherungsmodelle auf liberale PolitikerInnen und die medizinisch-
gesundheitswissenschaftliche Intelligentsia (Miranda 1993; Ilanes
1993). Dabei ist zu betonen, dass jenes frühe Sozialversicherungsgesetz
Angestellte (white collar workers) nicht einschloss, was den ersten
Schritt zum Aufbau eines unterteilten Gesundheitssystems bedeutete.
Mit der Verabschiedung des Präventionsmedizingesetzes (Ley
de Medicina Preventiva) folgte 1938 die Einführung von Überwa-
chungsprogrammen für einige Krankheiten wie Tuberkulose, Syphi-
lis und Krebs (Jiménez und Bossert 1995). Auch wenn dieses Gesetz
sowohl ArbeiterInnen als auch Angestellte erfasste, gab es Letzteren
das Recht, ihr eigenes gesundheitliches Präventionssystem aufzubau-
en. Das ermöglichte 1942 die Einführung eines medizinischen Diens-
tes ausschließlich für Angestellte. Die Entstehung dieses Nationalen
Medizinischen Dienstes für Angestellte (Servicio Médico Nacional de
Empleados – SERMENA (Horwitz et al. 1995) wurde der zweite Mei-
lenstein beim Aufbau eines mehrgliedrigen Gesundheitswesens.
Im Jahr 1952 entstand der Nationale Gesundheitsdienst (Servicio
Nacional de Salud – SNS). Obwohl der SNS mit seinen präventiven
und gesundheitsfördernden Aktivitäten für die gesamte chilenische
Bevölkerung einen universellen Anspruch verfolgte, schloss er Ange-
stellte nicht in den Kreis der Anspruchsberechtigten für Krankenver-
sorgungsleistungen ein. Das ist deswegen wichtig zu betonen, weil der
vom britischen Beveridge-System beeinflusste Nationale Gesundheits-
dienst SNS zwar weltweit als ein Modell für ein integriertes Gesund-
heitswesen in Entwicklungsländern galt (Roemer 1991), aber nicht die
gesamte chilenische Bevölkerung erfasste. Tatsächlich schloss der SNS
Angestellte von der Inanspruchnahme von Krankenversorgungsleistun-
gen aus, was in den folgenden Jahrzehnten auf Druck der Mittelschicht
ergänzende Regelungen nach sich ziehen sollte.
In der Gründungsphase des chilenischen Gesundheitssystems erlangte
die Primärversorgung zunehmende Bedeutung. Die Einführung des Sozi-
alversicherungsgesetzes führte zum Aufbau ambulanter Versorgungszen-
tren in den Städten, die im Volksmund »Polikliniken der Kassen« (Poli-
clínicos del Seguro) hießen. Zugleich stellte der chilenische SNS, ähnlich
wie der englische National Health Service (NHS) seit 1948, einen Versuch
dar, die verschiedenen bestehenden Institutionen des Gesundheitswesens
in einem zentral organisierten, landesweiten System zusammenzufassen
(Jiménez und Bossert 1995). In diesem Sinne wurden die Polikliniken in
den 1960er und 1970er Jahren zum Ausgangspunkt für den Ausbau der
Primärversorgung im entstehenden nationalen Gesundheitssystem.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
86 Arteaga, Rebolledo, Silva, Cuadrado, Martínez, Holst
1968 verabschiedete die damalige christdemokratische Regierung das
Medizinische Behandlungsgesetz (Ley de Medicina Curativa), das dem
1942 gegründeten Servicio Médico Nacional de Empleados (SERME-
NA) das Recht einräumte, nicht nur präventive, sondern über Vertragsan-
bieterInnen auch kurative Leistungen zu erbringen (Jiménez und Bossert
1995). Die Finanzierung dieses Systems war dreiteilig und erfolgte über
Beiträge von ArbeitnehmerInnen, ArbeitgeberInnen und Regierung. Da-
nach konnten SERMENA-Versicherte den/die LeistungserbringerIn aus
der Liste der VertragsanbieterInnen von SERMENA auswählen und er-
hielten bei Behandlung auf Krankenschein einen Zuschuss zu den anfal-
lenden Kosten. Die Honorierung der LeistungserbringerInnen erfolgte
dabei per Einzelleistungsvergütung. Damit etablierte das Medizinische
Behandlungsgesetz die Teilnahme individueller (ÄrztInnen) und institu-
tioneller (Krankenhäuser) PrivatanbieterInnen am chilenischen Gesund-
heitssystem und bildete zugleich die Grundlage für die Wahlfreiheit als
gesellschaftlichen Wert, der bis heute in Chile tief verankert ist.
Seit den 1950er und bis in die 1970er Jahre verfolgte die Gesund-
heitspolitik eine Stärkung der Rolle der öffentlichen Hand sowohl in
der Finanzierung als auch der medizinischen Versorgung. Diese Ent-
wicklung erfährt eine Unterbrechung durch das Militärregime, das
1973 die Macht an sich riss. Anders als frühere Regierungen strebte
die Diktatur eine Stärkung des Privatsektors und die Zurückdrängung
des Staates an. Die wichtigsten Veränderungen in dieser Zeit lassen
sich folgendermaßen zusammenfassen (Arteaga 1997; Oyarzo 2000;
MIDEPLAN 2000):

• Umwandlung des zentralisierten Nationalen Gesundheitsdienstes


SNS in das Nationale System von Gesundheitsdiensten (Sistema
Nacional de Servicios de Salud – SNSS), das sich aus 28 regiona-
len Gesundheitsdiensten und drei landesweiten Instituten zusam-
mensetzt, allesamt autonome dezentrale Institutionen als juristische
Personen im Sinne des Zivilrechts und mit eigenem Betriebsvermö-
gen.
• Dezentralisierung der Primärversorgung und Übertragung der meis-
ten Versorgungseinrichtungen in die Verantwortlichkeit der Kom-
munen; nur ein kleiner Teil der primärmedizinischen Einrichtungen
entgeht der Dezentralisierung und verbleibt weiterhin bei den Ge-
sundheitsdiensten.
• Gründung des Nationalen Gesundheitsfonds (Fondo Nacional de
Salud – FONASA) als landesweite öffentliche Institution innerhalb
des SNSS, die für Erhebung, Verwaltung und Zuweisung der Kran-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Das chilenische Gesundheitssystem und die Primärversorgung 87
kenversicherungsbeiträge der ArbeitnehmerInnen sowie der Steuer-
zuschüsse zum Gesundheitswesen zuständig ist.
• Einführung eines privaten Krankenversicherungsmarktes zur Ver-
waltung der Pflichtbeiträge zur sozialen Absicherung im Krank-
heitsfall. Diese »Gesundheitsvorsorgeinstitutionen« (Instituciones
de Salud Previsional – ISAPRE) genannten Privatkassen ähneln in
gewisser Weise den Health Maintenance Organizations (HMO) im
US-amerikanischen Gesundheitssystem (Miranda et. al. 1995).

Diese Reformen haben Auswirkungen auf zwei entscheidenden Ebe-


nen. Zum einen bedeuten sie die Einführung des Krankenkassenwett-
bewerbs sowohl innerhalb des Privatsektors als auch zwischen Pri-
vatversicherungen und der einen öffentlichen sozialen Krankenkasse,
dem Nationalen Gesundheitsfonds. Seit der Reform von 1981 haben
ChilenInnen – zumindest in der Theorie – die Wahlfreiheit zwischen
einer öffentlichen und mehreren privaten Krankenversicherungen. Da-
mit wurde Chile neben Deutschland zum einzigen Land mit univer-
seller Bevölkerungsabsicherung im Krankheitsfall, das ein komplettes
Ausscheiden aus der Sozialversicherung und den Wechsel in eine Pri-
vatkasse als Vollversicherung erlaubt. Alle anderen Länder, die ihre
gesamte Bevölkerung über ein soziales Krankenkassensystem absi-
chern, lassen private Krankenkassen nur als Zusatzversicherungen für
Besserverdienende zu, stellen diese aber nicht von der Beitragspflicht
gegenüber der öffentlichen Kasse frei. Im Unterschied zu Deutschland
verlangt das chilenische System nicht das Überschreiten einer unteren
Einkommensgrenze als Voraussetzung für den Wechsel in eine priva-
te Krankenversicherung; die Entscheidung für eine Privatpolice hängt
allein von der Kaufkraft der Haushalte und der Preisgestaltung der Ver-
sicherungen ab. Dazu muss man wissen, dass in Chile Krankenversi-
cherungspflicht besteht und jedeR BürgerIn mindestens 7 % des steuer-
pflichtigen Einkommens für die soziale Absicherung im Krankheitsfall
ausgeben muss (vgl. Holst 2005: 127ff).
Im Unterschied zum Kassenwettbewerb in Deutschland, der sich aus-
schließlich auf gesetzliche Kassen beschränkt und Privatversicherungen
nicht einbezieht, bezieht sich der Kassenwettbewerb in dem südameri-
kanischen Land in erster Linie auf Privatversicherungen und besteht
nur sehr eingeschränkt zwischen diesen und der öffentlichen Kasse.
Gleich sind allerdings in beiden Ländern die unfairen Ausgangsbedin-
gungen: Nur für die Gesetzliche Krankenversicherung und die öffentli-
che Krankenkasse FONASA besteht Kontrahierungspflicht, nicht aber
für private AnbieterInnen von Versicherungsleistungen. Zwar haben im
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
88 Arteaga, Rebolledo, Silva, Cuadrado, Martínez, Holst
Prinzip alle ChilenInnen Wahlfreiheit zwischen FONASA und einer
ISAPRE, müssen aber über ein ausreichendes Einkommen verfügen,
um eine Privatpolice bezahlen zu können. Deren Preis hängt bei gesetz-
lich vorgegebenem Leistungspaket vom Umfang der Kostenübernahme
ab und liegt ausschließlich in der Hand der Versicherer, die zudem An-
wärterInnen aufgrund ihres gesundheitlichen Risikoprofils oder Alters
ablehnen können. Das hat dazu geführt, dass die Segregation des chile-
nischen Gesundheitssystems heute nicht mehr wie zuvor aufgrund der
Beschäftigungsart zwischen ArbeiterInnen und Angestellten entsteht,
sondern unmittelbar durch Einkommen bzw. Kaufkraft.
Im Hinblick auf die Versorgung und das chilenische PHC-Modell be-
endet die Reform von 1981 mit der Überführung der Gesundheitszen-
tren in die Verantwortlichkeit der Kommunen nicht nur die bis dahin
bestehende einheitliche Verwaltung von Krankenhäusern und Primär-
versorgungseinrichtungen, sondern führt auch unterschiedliche Finan-
zierungsmechanismen für die primäre und die stationäre Versorgung
ein, was erhebliche Auswirkungen auf die Integration des chilenischen
Gesundheitswesens hat.
Nach dem Ende der Militärdiktatur 1990 war die Gesundheitspolitik
der aufeinander folgenden, demokratisch gewählten Regierungen auf
eine Stärkung des öffentlichen Sektors im Gesundheitswesen und eine
verbesserte Regulierung des Privatsektors ausgerichtet (Jiménez 1991;
Massad 1995). In den 1990er Jahren gab es mehrere Initiativen, die
wichtige VorläuferInnen für die strukturellen Änderungen der bisher
letzten, ab 2002 eingeleiteten Gesundheitsreform waren. Erwähnens-
wert sind dabei folgende Maßnahmen:

• Annähernde Verdoppelung der Gesundheitsausgaben zwischen 1990


und 2000 (MIDEPLAN 2000);
• Trennung der Funktionen zur Stärkung von FONASA als Leistungs-
einkäuferIn für primäre und stationäre Gesundheitseinrichtungen
(Oyarzo und Galleguillos 1995);
• vermehrte Rechenschaftspflicht (accountability) durch die Einfüh-
rung von Managementverpflichtungen (Lenz und Fresard 1995);
• Modernisierung des Personalmanagements durch Änderung der ar-
beitsrechtlichen Rahmenbedingungen der Arbeitsverhältnisse in den
Gesundheitseinrichtungen (Quiroga 2000);
• erweiterte Wahlmöglichkeiten für Versicherte durch die Einführung
einer Kopfpauschalenfinanzierung in der Primärversorgung ab 1995
nach Anzahl der in einem Gesundheitsposten Eingeschriebenen
(Duarte 1995; Bossert et al. 2003);
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Das chilenische Gesundheitssystem und die Primärversorgung 89
• stärkere Regulierung des Privatsektors vor allem durch die Einfüh-
rung einer Privatversicherungsaufsicht im Jahr 1990 (Ferreiro 2000).

Im Hinblick auf die Primärversorgung begannen in den 1990er Jahren


Bemühungen um eine verstärkte Fokussierung auf Familiengesundheit,
was sich in dem Vorschlag niederschlug, allgemeinärztliche Praxen zu
Familiengesundheitszentren weiterzuentwickeln (MINSAL 2008). Im
Zuge eines Akkreditierungsprogramms, das die Erfüllung bestimmter,
von der nationalen Gesundheitsbehörde festgelegter Voraussetzungen
verlangt, können die Primärversorgungseinrichtungen die Anerkennung
als Familiengesundheitszentren beantragen. Die Vorgaben umfassen
unter anderem die Einrichtung sozialräumlich aufgestellter Pflegeteams
für Familien im Einzugsgebiet des Gesundheitszentrums, die Organisa-
tion klinischer Verzeichnisse in Form von Familienkrankenakten und
die Weiterbildung der Beschäftigten in Familiengesundheit.

Aktuelle Reformbemühungen
Die bisher letzte Gesundheitsreform, deren Einführung im Januar 2005
begann, zielte auf eine Steigerung der Solidarität und sozialen Gerech-
tigkeit des chilenischen Gesundheitswesens ab (Burrows 2008; Infante
und Paraje 2010). Die vom Parlament verabschiedete Reform bestand
aus zwei wesentlichen Maßnahmen, nämlich der Einführung einer Ex-
pliziten Universellen Zugangsgarantie (Plan de Acceso Universal con
Garantías Explícitas – AUGE)2 und der Stärkung der nationalen und
regionalen Gesundheitsbehörden sowie der Selbstverwaltung der Kran-
kenhäuser.
Die Regelung über Garantien beim Zugang zu Krankenversorgungs-
leistungen war eine der ersten teilsystemübergreifenden gesundheits-
politischen Maßnahmen in Chile (Superintendencia de Salud 2014);
sie gewährleistet für anfangs 56 und mittlerweile 80 epidemiologisch
relevante Gesundheitsprobleme Zugang, Zweckmäßigkeit, Qualität und
finanzielle Absicherung. Im Hinblick auf den Zugang zur Versorgung
verpflichtet der sogenannte Plan AUGE alle FinanzierungsträgerInnen
und LeistungserbringerInnen, erforderliche elektive Behandlungen in-
nerhalb von maximal zwei Monaten sicherzustellen. In vergleichbarer
Weise ist mit Einführung dieser Behandlungsgarantien die maximale
jährliche Zuzahlungsbelastung auf zwei Monatseinkommen begrenzt.
Die Regulierung der maximalen Wartezeiten stellt eine große Heraus-

2 Ley 19.966 de Régimen General de Garantías en Salud – Gesetz 19.966 für die
Generelle Regelung über Behandlungsgarantien.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


90 Arteaga, Rebolledo, Silva, Cuadrado, Martínez, Holst
forderung für den öffentlichen Gesundheitssektor dar, wo der Zugang
insbesondere zu fachärztlicher Behandlung oft mit langen Wartezei-
ten verbunden ist (vgl. Salinas et al. 2014). Die einkommensabhängi-
ge Obergrenze für Zuzahlungen stellt hingegen vor allem die ISAPRE
vor Herausforderungen, die das für private Krankenversicherer übliche
Äquivalenzprinzip auf der Ausgabenseite anwenden und diejenigen mit
den höchsten Zuzahlungen belasten, die sich noch so eben eine Privat-
police leisten können (Holst et al. 2004: 278f). Die Einführung der Qua-
litätsgarantie war deswegen besonders komplex und zeitaufwändig, weil
dafür ein allgemeingültiges Akkreditierungssystem sowohl für öffentli-
che als auch für private LeistungserbringerInnen zu entwickeln war.
Die zweite wichtige Maßnahme der Reform von 2005, die Neurege-
lung der Gesundheitsbehörde und Krankenhausautonomie,3 verfolgte
eine bessere Regulierung des Gesundheitssektors auf nationaler und
regionaler Ebene. Außerdem umfasst sie verwaltungstechnische Ände-
rungen im stationären Sektor zur Einführung eines flexibleren Manage-
ments in den Krankenhäusern der Maximalversorgung in Chile.
Bei der Primärversorgung gab es im Rahmen dieser jüngsten Reform
keine anderen Entwicklungen als bei früheren gesundheitspolitischen
Maßnahmen. Allerdings bestimmte die explizite Festlegung von Be-
handlungsgarantien auch die Definition von Behandlungsalgorithmen,
um diese auf Grundlage nachweislich evidenzbasiert wirksamen Vor-
gehens einlösen zu können. Ausgehend von der Verdachtsdiagnose ent-
fallen nämlich etliche der im Plan AUGE vorgesehen Leistungen auf
Maßnahmen der primären gesundheitsbezogenen Versorgung. Daher
betrifft die Einführung von Behandlungsgarantien auch die Primärver-
sorgung, insbesondere weil hier ebenfalls im öffentlichen Sektor teils
erhebliche Wartezeiten bestehen (Letelier und Cifuentes Rivas 2014).
Bemerkenswert im Zusammenhang mit der Primärversorgung ist bei
dieser letzten Gesundheitsreform die Botschaft des damaligen Präsiden-
ten Ricardo Lagos (2000–2006) bei der Vorstellung des Gesetzentwurfs
zum Gesundheitsamt und zur Selbstverwaltung der Krankenhäuser, bei
der er einen starken Akzent auf die Stärkung der primären Versorgungs-
ebene legte (Montero et al. 2010). In den Artikeln des Gesetzentwurfs
taucht der Begriff PHC allerdings nicht ein einziges Mal auf; und die-
selben Autoren gestehen ein, dass die Reform die chronischen Probleme
der Primärversorgung in Chile gar nicht aufgreifen (ibid.: 2).

3 Ley 19.937 de Autoridad Sanitaria und Hospitales Autogestionados en Red – Ge-


setz 19.937 über das Gesundheitsamt und vernetzte selbstverwaltete Krankenhäuser.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Das chilenische Gesundheitssystem und die Primärversorgung 91
Primärversorgung in Chile

Heute basiert die Primärversorgung in Chile mehrheitlich auf kommu-


nalen Gesundheitseinrichtungen, denen die Betreuung einer zugewie-
senen Bevölkerung in einem festgelegten Einzugsgebiet nach techni-
schen Vorgaben des chilenischen Gesundheitsministeriums (MINSAL)
obliegt. Die Finanzierung liegt in der Hand der Kommunen und erfolgt
über die Zuweisung einer Kopfpauschale für die in einer Einrichtung
eingeschriebene Bevölkerung sowie zusätzlich über direkte Zuschüsse
der Gemeinden, die im Landesdurchschnitt 27 % der PHC-Finanzierung
ausmachen. Darüber hinaus gibt es noch einige wenige Gesundheitszen-
tren unter der Verwaltung der Gesundheitsdienste, die auch für die öf-
fentlichen Krankenhäuser zuständig sind. Insgesamt umfasst das chi-
lenische Primärversorgungssystem 2.072 Einrichtungen, davon jeweils
277 allgemeinärztliche Praxen (CGU) in städtischen und 181 (CGR) in
ländlichen Gebieten, 99 Familiengesundheitszentren (CSF), 1.175 länd-
liche Gesundheitsposten (PSR), 228 primärmedizinische Notfallzentren
(SAP) sowie 113 solcher Zentren auf dem Land (SUR) (Zuleta 2012).
Dabei versorgen 21 % der Gesundheitszentren eine eingeschriebene
Bevölkerung von mehr als 30.000 Personen; bei gut sieben Prozent der
Zentren liegt die Größe der registrierten Bevölkerung zwischen 40.000
und 60.000m und weniger als ein Prozent ist für mehr als 60.000 ein-
geschriebene BürgerInnen zuständig, einige wenige davon sogar für
Bevölkerungen über 100.000 Personen (MINSAL 2013). Erwähnens-
wert ist dabei das ab 1993 eingeführte Versorgungsmodell mit seinem
Fokus auf Familien- und Gemeindegesundheit (MINSAL 2008b), das
Gesundheitsleistungen grundsätzlich über multiprofessionelle Versor-
gungsteams erbringt, die unter anderem ÄrztInnen, Pflegepersonal,
Hebammen, BeschäftigungstherapeutInnen, KrankengymnastInnen,
SozialarbeiterInnen, PsychologInnen und ZahnärztInnen umfasst.

Die Primärversorgung im Kontext der Integrationsbemühungen


Bei der Betrachtung der Primärversorgung ist zu bedenken, dass Chile
streng genommen nie ein einheitliches Gesundheitssystem für die gesam-
te Bevölkerung hatte. Wie die Darstellung der historischen Entwicklung
des Systems gezeigt hat, erreichten die im Laufe der Zeit entwickelten
Maßnahmen zur sozialen Absicherung nicht die ganze Bevölkerung,
sondern immer nur bestimmte Bevölkerungsgruppen. So beschränkte
sich das Sozialversicherungsgesetz von 1924 auf ArbeiterInnen, und das
Präventivmedizingesetz von 1938 ermöglichte trotz seines universellen
Anspruchs die spätere Einrichtung eines eigenen Versorgungssystems
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
92 Arteaga, Rebolledo, Silva, Cuadrado, Martínez, Holst
für Angestellte (SERMENA). Einer universellen Regelung am nächsten
kam die Gründung des Nationalen Gesundheitssystems SNS im Jahr
1952, aber wie erwähnt blieben Angestellte hierbei erneut von der Nut-
zung der Krankenversorgungsleistungen ausgeschlossen. Erst mit der
Verabschiedung des Medizinischen Behandlungsgesetzes 1968 konn-
ten auch die über SERMENA abgesicherten Angestellten medizinische
Leistungen des SNS in Anspruch nehmen. Die soziale Unterteilung
nach Beschäftigungsart hat ihre Fortsetzung in den ISAPRE genannten
privaten Krankenversicherungen gefunden, die seit 1981 Rosinenpicke-
rei betreiben und nach Einkommensverhältnissen selektieren.
Die Panamerikanische Gesundheitsorganisation (PAHO) unterstützt
seit Längerem die Stärkung Integrierter Versorgungsnetzwerke (Redes
Integradas de Servicios de Salud – RISS), die bestimmte Voraussetzun-
gen auf vier Ebenen erfordern: Pflegemodell, Governance und Strate-
gie, Organisation und Management sowie Anreizmechanismen. Hinzu
kommen die Empfehlungen eines einheitlichen Governance-Systems
für das gesamte Versorgungsnetzwerk, umfassende soziale Partizipa-
tion, Sektor übergreifendes Vorgehen mit Fokus auf sozialen Determi-
nanten von Gesundheit und soziale Gerechtigkeit (PAHO/WHO 2010).
Vor diesem Hintergrund lassen sich aus Sicht der AutorInnen bestimm-
te strukturelle Faktoren erkennen, die Fortschritten auf dem Weg zu
einem einheitlichen Gesundheitswesen in Chile im Wege stehen.
Dezentralisierungstendenzen im Gesundheitssystem begannen in
Lateinamerika in den 1980er Jahren, und Chile war mit der Überfüh-
rung der Primärversorgung in die Verantwortlichkeit der Kommunen
eins der ersten Länder, die dies politisch umgesetzt haben. Der als ver-
tikales Modell bezeichnete und von der damaligen Militärdiktatur be-
stimmte chilenische Dezentralisierungsansatz trug allerdings weder zu
einer vermehrten Teilhabe von BürgerInnen und Gemeinden bei, noch
förderte er die Entstehung lokaler Kapazitäten (Acosta Ramírez et al.
2011). Die Zerschlagung des Nationalen Gesundheitsdienstes SNS und
insbesondere die Zerstörung der verwaltungstechnischen Verbindung
zwischen Gesundheitsdiensten und primärer Versorgung schwächten
die Integrationsmöglichkeiten nicht nur in der kurativen Versorgung,
sondern auch mit Präventions- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen
auf lokaler Ebene (ibid. 2011).
Den Bemühungen verschiedener Regierungen zum Trotz bestehen die
strukturellen Verhältnisse im chilenischen Gesundheitswesen unverän-
dert fort. Seit der Dezentralisierung des SNS gibt es unterschiedliche
Honorierungsformen für Krankenhäuser und Primärversorgung. Zwi-
schen 1981 und 1994 erhielten Einrichtungen der Grundversorgung ihre
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Das chilenische Gesundheitssystem und die Primärversorgung 93
Bezahlung nach dem Prinzip der Einzelleistungsvergütung bis zu einem
Budgetdeckel, über die hinaus Gesundheitszentren keine weiteren Zah-
lungen erhielten. Seit 1994 erhalten Primärversorgungseinrichtungen
für die registrierte Bevölkerung eine Kopfpauschale, die an das Ausmaß
der Armut und der ländlichen Abgeschiedenheit einer Gemeinde ange-
passt ist, um sozioökonomische Ungleichheiten auszugleichen (Duarte
1995). Dabei ist anzumerken, dass nicht die Gesundheitszentren die
entsprechenden Mittel erhalten, sondern die Kommunalverwaltung, die
damit das Gesundheitspersonal in Form fester Gehälter bezahlt. Anders
als die Bezahlung der Primärversorgung erfolgt die Krankenhausfinan-
zierung landesweit auf Grundlage zentral festgelegter, gewichteter Leis-
tungsentgelte, die für bestimmte Behandlungen in Abhängigkeit von der
Komplexität oder einer möglichen Zusammenfassung von Leistungen
zu Behandlungspaketen variieren können.

Partizipation und Governance im chilenischen Gesundheitswesen


Typische Argumente im Zusammenhang mit Dezentralisierungsmaß-
nahmen sind die Förderung sozialer Partizipation und der Einbindung
der Gemeinschaft in Entscheidungsprozesse. In Lateinamerika gibt
es diesbezügliche Erfahrungen mit den Lokalen Systemen Integrier-
ter Gesundheitsversorgung (Sistemas Locales de Atención Integral de
Salud – SILAI) in Nicaragua (Jaramillo 2000) und der Lokalen Gesund-
heitsverwaltungsgemeinschaft (Comunidad Local de Administration en
Salud – CLAS) in Peru (Iwami und Petchey 2002), beides partizipative
Instanzen für strategische Entscheidungsprozesse mit Beteiligung von
VertreterInnen sozialer und gemeinschaftlicher Organisationen. Brasi-
lien kann die am weitesten entwickelten Dezentralisierungserfahrungen
vor- und auf umfassende Beteiligung der mit Entscheidungsbefugnissen
ausgestatteten Bevölkerung verweisen, was unter anderem in der Ein-
richtung von Verwaltungsräten und nationalen Gesundheitskonferenzen
in den verschiedenen einheitlichen sozialen Sicherungssystemen in den
Bereichen Gesundheit und Bildung erkennbar ist (Fleury 2007; Moreira
und Escore 2009).4 Insgesamt haben die verschiedenen in Lateinameri-
ka entstandenen institutionalisierten Ansätze zur Förderung der gesell-
schaftlichen Partizipation jedoch vorwiegend konsultativen und kaum
Entscheidungscharakter – Chile ist da keine Ausnahme.
Seit der Wiederherstellung der Demokratie im Jahr 1990 war gesell-
4 Die brasilianischen Ansätze und Erfahrungen mit dezentralisierter Primärversor-
gung beschreibt ausführlich der Beitrag »Primary Health Care in Brasilien: multi-
professionelle Teamarbeit und Gemeindeorientierung« von Lígia Giovanella und
Maria Helena Magalhães de Mendonça in diesem Band.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


94 Arteaga, Rebolledo, Silva, Cuadrado, Martínez, Holst
schaftliche Partizipation expliziter Bestandteil der Gesundheitspolitik
(Massad 1995), wobei allerdings alle Ansätze nur beratenden Charakter
hatten, im Wesentlichen der Information der Bevölkerung dienten und
keine Entscheidungskompetenzen vorsahen. Die letzte entsprechende
Initiative war Teil der Gesundheitsreform von 2005 und schlug sich in der
Einrichtung von Integrationsräten von Behandlungsnetzen (Consejos de
Integration de Redes Asistenciales – CIRA) nieder (Artaza et al. 2013).
Hauptanliegen dieser Institution ist aber die Organisation der Leistungs-
erbringung im Gesundheitswesen und nicht die gesellschaftliche Teilha-
be. Die Idee, solche Räte zur besseren Integration einzurichten, beruhte
auf der Erkenntnis, dass die Versorgung in Chile fragmentiert und in Pri-
mär- und Krankenhausversorgung aufgespalten ist (Biblioteca Congreso
Nacional 2004). Obwohl dies bei der Einführung dieser Räte nicht expli-
zit vorgesehen war, sind in manchen Gesundheitsdiensten auch Gemein-
derepräsentantInnen vertreten, was die Mitglieder insgesamt sehr positiv
bewerten (Artaza et al. 2013) und potenziell zum Abbau des wiederholt
berichteten Partizipationsdefizits im chilenischen Gesundheitssystem
beitragen könnte (Méndez und Vanegas 2010). Somit ist die Bereitschaft
zu gesellschaftlicher Beteiligung in einigen Kommunen über die engen
institutionellen Vorgaben für diese Räte hinausgegangen. In den unter-
suchten Fällen hat die Einbeziehung von GemeindevertreterInnen dazu
beigetragen, dass die Integrationsräte der Behandlungsnetze ihre koordi-
nierende Rolle besser ausfüllen konnten (ibid.)
Governance ist ein weiterer kritischer Aspekt des chilenischen Ge-
sundheitswesens. Versteht man Governance im Gesundheitsbereich als
Fähigkeit des Systems, sich selber zu steuern und im Zusammenhang
mit umfassenderen Systemen angemessen Konflikte zwischen ver-
schiedenen AkteurInnen zu lösen (Huffy 2006; Bazzani 2010), lässt das
chilenische Gesundheitswesen diesbezüglich Schwächen erkennen. Die
Regierungswechsel unter demokratischen Vorzeichen im letzten Vier-
teljahrhundert führte zu ständiger Fluktuation bei der Besetzung von
Führungspositionen im Gesundheitssystem auf nationaler wie lokaler
Ebene sowie in den primären und stationären Behandlungseinrichtun-
gen. Tatsächlich ziehen Wechsel der nationalen und kommunalen Re-
gierungen regelhaft einen Austausch von Leitungspersonal nach sich,
was die Kontinuität der Entwicklungsprozesse der Institutionen ebenso
betrifft wie den Aufbau stabiler Leitungen.
Allen Problemen und Herausforderungen zum Trotz kann Chile bei der
Entwicklung seines Gesundheitswesens im 20. Jahrhundert vor allem im
Hinblick auf einen Sektor übergreifenden Ansatz und die Berücksichtigung
der sozialen Determinanten von Gesundheitsproblemen durchaus Erfolge
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Das chilenische Gesundheitssystem und die Primärversorgung 95
vorweisen. Insbesondere im Vergleich lateinamerikanischer Gesund-
heitssysteme findet Chile aufgrund seiner guten Gesundheitsindikatoren
internationale Anerkennung (PAHO 2013). Zur Erreichung dieser Erfolge
hat insbesondere in früheren Jahren auch das Krankenversorgungssystem
beigetragen, das nach Komplexität und Lösungsebenen gegliedert ist, ein
ausgedehntes Netz öffentlicher Krankenhäuser und städtischer wie ländli-
cher Primärversorgungseinrichtungen umfasst, und insbesondere ein Ver-
sorgungsnetz aus mehr als 1.000 ländlichen Gesundheitsposten im ganzen
Land unterhält, das die Versorgung großer Bevölkerungsteile ermöglicht.
Diese ausgedehnte Versorgungsstruktur war wesentliche Voraussetzung
für die erfolgreichen Maßnahmen zur Verbesserung der Mutter-Kind-
Gesundheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Jiménez und
Romero 2007), die zur Senkung der Säuglingssterblichkeit von 342 im
Jahr 1900 (Kaempffer und Medina 2006) auf zurzeit 7,7 pro Tausend
Lebendgeburten beitrugen (DEIS 2014). In jüngerer Zeit fand das 2006
ins Leben gerufene Kinderschutzprogramm »Chile crece contigo« (Chile
wächst mit Dir) Anerkennung als Beispiel für eine universelle, Sektor
übergreifende politische Maßnahme (Leppo et al. 2013).
Chile hat in den letzten Jahrzehnten einen raschen Alterungsprozess
vollzogen, was die Bedeutung chronischer Erkrankungen zunehmend
in den Vordergrund gerückt hat: Nach jüngeren Untersuchungen beruht
die Krankheitslast zu 84 % auf chronisch-degenerativen Problemen
(MINSAL 2007). Der landesweite Gesundheitssurvey (ENS) von 2009
zeigte unter anderem bei Erwachsenen eine Diabetes-mellitus-Prävalenz
von 9,4 % sowie Hinweise auf ein unzureichendes Versorgungssystem
(MINSAL 2010): So erreicht z. B. das Herz-Kreislauf-Programm im
öffentlichen Sektor bloß 53,6 % der DiabetikerInnen, und nur 42,1 %
dieser PatientInnen sind mit einem HbA1c-Wert unter sieben Prozent
ausreichend behandelt (Vargas 2012).
Die Ungleichheiten im chilenischen Gesundheitssystem stehen schon
seit über zwei Jahrzehnten in der Kritik (Hsiao 1995; Reichard 1996),
vor allem die Tatsache, dass die Privatversicherungen nur einen kleinen
Bevölkerungsteil absichern und dafür einen großen Teil der gesamten
Gesundheitsausgaben verbrauchen. Eine der ersten Untersuchungen
zur Evaluierung der Gesundheitsreform von 2005 mit der Einführung
von Behandlungsgarantien kam zu dem Ergebnis, dass diese Maßnah-
me die Zugangs- und Finanzierungsgerechtigkeit bei den meisten Be-
handlungen nicht verbessert hat; zugleich weist die Studie darauf hin,
dass nach der Reform die Hürden für eine größere Zugangsgerechtig-
keit fortbestehen (Paraje und Vásquez 2012). Dies zeigt sich auch bei
der Primärversorgung, schließlich wies dort schon vor gut zehn Jah-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
96 Arteaga, Rebolledo, Silva, Cuadrado, Martínez, Holst
ren eine Untersuchung erhebliche Ungleichheiten bei der Finanzierung
nach: Da einkommensstärkere Gemeinden ihren kommunalen Gesund-
heitszentren mehr Geld zur Verfügung stellen als ärmere Kommunen,
korrelieren die Budgets mit dem Wohlstand der Gemeinden, aber nicht
mit dem Bedarf der Bevölkerung (Arteaga et al. 2002).
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die chilenische Gesell-
schaft beim Aufbau ihres Gesundheitswesens Wege eingeschlagen hat,
die zu einem segmentierten, nach sozialer Schicht aufgeteilten System
geführt haben. Auch wenn die letzte Reform eine Hinwendung zu einem
sozialen Absicherungsverständnis markiert, wie es in Industrieländern
besteht, bleibt dieser Ansatz recht schwach und unzureichend, um das
Wesen einer Krankenversicherung als kollektive und solidarische Lö-
sung für gesundheitsbezogene Probleme gesamtgesellschaftlich (wie-
der)herzustellen. Der Aufbau eines sozial gerechten Gesundheitssystems
mit gleichem Anspruch für alle BürgerInnen bleibt somit in Chile eine
Herausforderung. Gleichzeitig steht dem Land mit seiner von großen
sozialen Ungleichheiten geprägten Gesellschaft und Krankenversorgung
die Aufgabe bevor, die Primärversorgung tatsächlich in den wichtigsten
Zugang der ganzen Bevölkerung zum Gesundheitswesen zu verwandeln
und damit zur Verringerung der Ungleichheiten beizutragen.

Lessons learned
Der Fall Chiles ist ein Beleg für die empirische Erkenntnis aus an-
deren Teilen der Welt, dass die Verbindung zwischen den jeweiligen
politisch-administrativen Körperschaften und der Leistungserbringung
auf primärer Ebene für das Funktionieren der Primärversorgung von
Bedeutung ist. In diesem Sinne besteht kein Unterschied zwischen
einer Schwächung bestehender Integrierungsansätze und ihrem völli-
gen Fehlen, wie es weitgehend in deutschen Gesundheitswesen der Fall
ist. Hierzulande liegt die Erbringung nicht nur kurativer Behandlungs-
leistungen, sondern auch der meisten primärmedizinischen Präven-
tions- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen bei einer Untergruppe
der KassenärztInnen, nämlich den AllgemeinmedizinerInnen. Für eini-
ge präventive und gesundheitsfördernde Leistungen sind wiederum die
Gesundheitsämter als öffentliche Behörden zuständig. Dazu ist anzu-
merken, dass die Honorierung der Allgemein- oder HausärztInnen über
die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) (und in geringerem Maße
über private Krankenversicherungen) erfolgt.5

5 Zusätzlich gehört auch der betriebliche Gesundheitsschutz zur Prävention und


Primärversorgung, für dessen Finanzierung im Wesentlichen die Unternehmen und

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Das chilenische Gesundheitssystem und die Primärversorgung 97
Allein diese Rahmenbedingungen verdeutlichen die Herausforderun-
gen bei der Integration der Primärversorgung in das Gesundheitssystem
in seiner Gesamtheit. Zum einen behindert die organisatorische und
verwaltungstechnische Trennung der verschiedenen für die Primärver-
sorgung zuständigen Einrichtungen ihre Integration. Zum anderen er-
schwert die korporatistische Struktur des deutschen Gesundheitssystems
die Lage zusätzlich. Außerdem stammen die Mittel zur Finanzierung der
primär- bzw. hausärztlichen Versorgung aus denselben Beitragsmitteln
der GKV wie die Ressourcen für die anderen Versorgungsebenen und
fließen über dieselben Kassenärztlichen Vereinigungen, die auch die
ambulante, nicht allgemeinärztliche Facharztversorgung gewährleisten
und finanzieren.
Zu dieser komplexen Struktur des ambulanten Sektors in Deutschland
kommt die organisatorische, administrative und finanzielle Zersplitte-
rung der Krankenhauslandschaft hinzu. Auch wenn die Finanzierung
der stationären Versorgung zunächst aus denselben Töpfen der gesetz-
lichen und privaten Krankenkassen erfolgt wie die ambulante Versor-
gung, sind die Honorierungsmodalitäten und -kanäle ebenso wie in Chile
unterschiedlich. Während die Kassenärztlichen Vereinigungen für die
Organisation, Gewährleistung und Finanzierung der ambulanten Ver-
sorgung im öffentlichen Sektor über eine Patientenkopfpauschale sowie
ausgewählte Einzelleistungsvergütung verantwortlich sind, obliegen die
Organisation der stationären Versorgung der Deutschen Krankenhaus-
gesellschaft, die Sicherstellung den Bundesländern und die Bezahlung
den Gesetzlichen Krankenkassen, die Krankenhäuser auf Grundlage
eines DRG-System honorieren; die Gesundheitsämter wiederum be-
zahlen ihre MitarbeiterInnen über feste Gehälter. Die Gemengelage im
komplexen deutschen System erzeugt im Vergleich zu Chile insgesamt
eher größere Hürden bei der Stärkung der Primärversorgung.
Im Unterschied zu Chile kann die Bundesrepublik Deutschland auf
eine stabile, siebzigjährige demokratische Phase ohne relevante poli-
tische Restriktionen der Partizipationsmöglichkeiten zurückblicken.
Es zeigt sich aber, dass demokratische Rahmenbedingungen und weit-
gehende bürgerliche Freiheiten weder automatisch ein partizipatives
Gesundheitssystem noch eine aktive oder gar entscheidende Rolle der

die Bundesanstalt für Arbeit verantwortlich sind. Aus Gründen der besseren Über-
sichtlichkeit verzichten die AutorInnen sowohl für Deutschland als auch für Chile,
wo es ein der Gesetzlichen Unfallversicherung vergleichbares Absicherungssystem
für arbeitsassoziierte Gesundheitsprobleme gibt, die Asociación Chilena de Seguridad
(ACHS), auf die Berücksichtigung der organisatorisch und finanziell von der übrigen
Primärversorgung getrennten betrieblichen Gesundheitsförderung und -erhaltung.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


98 Arteaga, Rebolledo, Silva, Cuadrado, Martínez, Holst
Menschen im Gesundheitswesen gewährleisten. Die Erfahrung der
Länder Lateinamerikas, die Militärdiktaturen durchlebt haben – so
auch Chile und Brasilien – legt vielmehr die Vermutung nahe, dass
diktatorische Regime die Forderung nach stärkerer Teilhabe begüns-
tigen können. Anders als eigentlich zu erwarten wäre, scheinen in de-
mokratischen Systemen größere Herausforderungen bei der Einführung
wirksamer Partizipationsmöglichkeiten zu bestehen.
Die Primärversorgung in Chile bestärkt eine allgemeine Erkenntnis
des ebenfalls segmentierten deutschen Gesundheitswesens. In diesem
Zusammenhang sei daran erinnert, dass Chile neben Deutschland das
einzige Land auf der Welt mit verpflichtender Krankenversicherung für
die ganze Bevölkerung ist, das ein Ausscheren aus dem öffentlichen
System und den Abschluss einer alternativen privaten Vollversicherung
erlaubt.6 In geringerem Maße als in Chile hat diese Zweiteilung negati-
ve Auswirkungen auf die soziale Gerechtigkeit, da sie privat Versicher-
ten im Prinzip schnelleren Zugang zu einem größeren Leistungspaket
ermöglicht. Die bestehende Ungleichheit kommt auch in den höheren
durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben im Privatsektor zum Ausdruck,
die als Folge des überwiegenden Einsatzes komplexer Leistungen an-
zusehen ist, da primärmedizinische Maßnahmen den von Privatversi-
cherungen per Einzelleistungsvergütung honorierten niedergelassenen
ÄrztInnen geringere Verdienstmöglichkeiten eröffnen. Im öffentlichen
Sektor ist der Negativanreiz zur Erbringung allgemeinärztlicher Leis-
tungen hingegen geringer, weil die Honorierung der AllgemeinärztIn-
nen dort im Prinzip unabhängig von der Art der erbrachten Leistungen
erfolgt.
Insgesamt unterstreichen die chilenischen Erfahrungen auf dem Ge-
biet der Primärversorgung deutlich, dass die Ausnutzung ihres Poten-
zials als strukturierendes Element zur Organisation des Zugangs der
ganzen Bevölkerung zum Gesundheitswesen und zur Verringerung von
Ungerechtigkeiten in einer Gesellschaft bzw. einem Gesundheitssys-
tem mit großen Ungleichheiten eine große Herausforderung darstellt.
Die Stärkung der Primärversorgung als zentrale Achse und Hebel für
eine effektivere Krankenversorgung erfordert letztlich eine Auseinan-
dersetzung mit den institutionellen Strukturen und mithin den Macht-
strukturen im Gesundheitswesen.

6 Alle anderen Länder mit vorwiegend sozialversicherungsbasierter Gesundheits-


finanzierung (z. B. Belgien, Frankreich, Luxemburg, Österreich) entlassen ihre Bür-
gerInnen nicht aus der Beitragspflicht für das soziale Krankenversicherungssystem
und erlauben nur den Abschluss privater Zusatzversicherungen.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Das chilenische Gesundheitssystem und die Primärversorgung 99
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Óscar Arteaga
Escuela de Salud Publica
Universidad de Chile
Av. Independencia 939
Santiago, Chile
Tel.: +56 (0)2 978 61 50
E-Mail: oarteaga@med.uchile.cl

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JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


104
Susan Pullon, Markus Herrmann

Primärversorgung in Neuseeland: Lehren aus


einem kleinen Land

Zusammenfassung
Gesundheitssysteme mit führender Rolle der Primärversorgung bieten
viele Vorzüge. Der vorliegende Artikel stellt Gesichtspunkte des neu-
seeländischen und deutschen Gesundheitswesens nebeneinander, hebt
dabei wesentliche Unterschiede bei Größe, Möglichkeiten und Qualifi-
kationen der in der Primärversorgung tätigen Arbeitskräfte hervor und
zeigt die Bedeutung der Aus- und Weiterbildung der betroffenen Pro-
fessionen auf. Dabei gibt es wertvolle Erkenntnisse, die für kleine und
größere Länder gleichermaßen gelten.

Abstract
Primary care-led health systems have many advantages. This article
compares aspects of the New Zealand and German health systems, em-
phasises key differences in the size, scope and skill mix of the respective
primary care workforces, and demonstrates the importance of educa-
tion and training for the primary care professions. There are valuable
lessons that can be shared between small and larger countries.

Einleitung
Neuseeland ist mit seinen 4,4 Mio. EinwohnerInnen ein kleines Land
im Vergleich zu Deutschland mit einer Bevölkerung von 81,7 Millio-
nen. Trotz der unterschiedlichen Größe und Struktur beider Länder
haben Neuseeland und Deutschland grundlegende Gemeinsamkeiten
wie die zunehmenden gesundheitlichen Herausforderungen durch die
Alterung der Bevölkerung und tendenziell steigende Gesundheitsaus-
gaben. Und unter den sich rasch verändernden Rahmenbedingungen
stellt die Sicherstellung der Versorgung in ländlichen und benachtei-
ligten Gebieten die Gesundheitssysteme beider Länder vor besondere
Probleme.
Wie in anderen Industrieländern weist die Gesundheitsquote auch
in beiden Ländern steigende Tendenz auf: In Deutschland stieg sie
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primärversorgung in Neuseeland 105
zwischen 2000 und 2010 von 10,4 % auf 11,5 %, in Neuseeland von
7,6 % auf 10,1 % (Weltgesundheitsorganisation 2013). Bekannterma-
ßen führt ein von der Primärversorgung gesteuertes Gesundheitswesen
zu einer besseren Versorgung und niedrigeren Kosten im Vergleich
zu Systemen mit ungeregeltem bzw. marktbestimmtem Zugang zur
Sekundärversorgung (Starfield 1994; Starfield 2003). In beiden Län-
dern besteht daher die Notwendigkeit, intensiver die Vorteile einer
stärkeren Rolle der Primärversorgung im Gesundheitswesen und der
Prinzipien von PHC als »erste Anlaufstelle« im Gesundheitssystem
aufzugreifen.
Wichtige nationale Gesundheitsindikatoren zeigen, dass sich Neusee-
länderInnen in der Regel guter Gesundheit erfreuen. Zum Beispiel hatte
Neuseeland 2011 mit 83 Jahren bei Frauen und 78 Jahren bei Männern
eine vergleichsweise hohe durchschnittliche Lebenserwartung sowie
eine niedrige Kindersterblichkeit von 6 pro 1.000 Lebendgeburten
(Statistics New Zealand 2013). Allerdings bestehen teils erhebliche
gesundheitliche Ungleichheiten in Form deutlicher gesundheitlicher
Benachteiligung von Personen mit niedrigem sozioökonomischen Sta-
tus, insbesondere für Maori und BewohnerInnen aus dem pazifischen
Raum, im Vergleich zu den nationalen Durchschnittswerten (Govern-
ment of New Zealand 2013). Insgesamt sind die Gesundheitsindika-
toren in beiden Ländern vergleichbar, denn die Lebenserwartung lag
in Deutschland im Jahr 2011 bei Frauen bei 83 und bei Männern bei
78 Jahren, die Kindersterblichkeit bei 4/1000 Lebendgeburten) (World
Health Organization 2013).
Der vorliegende Artikel beschreibt und analysiert die Unterschiede
im Aufbau der Gesundheitssysteme, bei den Gesundheitsprofessionen
und bei den Aus- und Weiterbildungsbedingungen beider Länder. Aus-
gehend von der entscheidenden Rolle der Berufsgruppen im Gesund-
heitswesen sowie ihrer Aus- und Weiterbildung für die aktuelle und zu-
künftige bedarfsorientierte Versorgung der Bevölkerung beschreibt und
diskutiert dieser Artikel die Zusammensetzung, Arbeitsteilung und De-
tails der Ausbildung der Gesundheitsberufe in Neuseeland, die Rollen
der dortigen HausärztInnen und Pflegekräfte in der Primärversorgung
sowie Neuseelands Weg hin zu einer zunehmenden, Professionen über-
greifenden Zusammenarbeit im Bereich Primary Health Care (PHC).
Die in den letzten 10-12 Jahren in der neuseeländischen Primärversor-
gung gesammelten Erfahrungen liefern gewichtige Argumente, auch
in Deutschland die Primär- im Sinne einer stärker interprofessionellen
Grundversorgung auszubauen.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


106 Susan Pullon, Markus Herrmann
Gesundheitssysteme

Das Gesundheitssystem in Neuseeland ist durch eine wichtige Rolle


der Primärversorgung geprägt, die in den letzten zehn Jahren seit der
Umsetzung der Neuseeländischen Primary-Health-Strategie noch stär-
ker geworden ist (King 2001), in dem der Staat eine koordinierende und
teilweise auch finanzierende Funktion wahrnimmt. Das Gesundheits-
wesen des Inselstaats ähnelt anderen Systemen mit gewichtiger PHC
Komponente wie dem der Niederlande, Kanadas, Großbritanniens und
der skandinavischen Länder (Smith und Mays 2007; Tenbensel 2008).
All diese Gesundheitssysteme knüpfen medizinische Behandlung an
die Registrierung in einer Einrichtung der Primärversorgung, verfügen
über einen großen Anteil an Berufstätigen in der Primärversorgung, set-
zen für den Zugang zu weiterführender Versorgung eine hausärztliche
Überweisung oder Lotsenfunktion (»Gatekeeper«) voraus (Mathers und
Hodgkin 1989) und wenden eine bevölkerungsbezogene Finanzierung
der Gesundheitsversorgung an. Die Regierung bezahlt die Leistungs-
erbringerInnen in der Primärversorgung, die für die Sicherstellung der
gesundheitlichen Versorgung der eingeschriebenen Bevölkerung zu-
ständig sind. Dabei liegt ein starker Akzent auf den Werten des univer-
sellen Zugangs zur Gesundheitsversorgung und der Kontinuität in der
medizinischen Grundversorgung über eine/n einzige/n AnbieterIn. Ein
Problem besteht für neuseeländische PatientInnen darin, dass sie oft auf
weniger dringliche Leistungen der Sekundärversorgung warten müssen.
Im Unterschied zu den genannten, ansonsten durchaus vergleichbaren
Systemen finanziert die Regierung in Neuseeland zwar einen Großteil
der Ausgaben für die Primärversorgung, aber PatientInnen müssen bei
Inanspruchnahme eine Zuzahlung leisten, ausgenommen sind Kinder
unter sechs Jahren, Unfälle und bestimmte Leistungen bei chronischen
Erkrankungen.
Obwohl der Zugang zur Erstversorgung in Deutschland und Neusee-
land in der Regel gleichermaßen niedrigschwellig ist, zeigt sich in den
beiden Ländern ein recht unterschiedliches Inanspruchnahmeverhal-
ten. In Neuseeland suchen Erwachsene im Durchschnitt vier bis fünf
Mal pro Jahr ihr Gesundheitszentrum auf, um entweder eine/n A(e)rz-
tIn oder eine/n KrankenpflegerIn zu konsultieren (Ministry of Health
2008), während in Deutschland pro Jahr durchschnittlich 18 Arztkon-
takte (Männer 15, Frauen 21) im ambulanten System anfallen (Schlen-
ker et al. 2010). Selbst wenn man Unterschiede bei der Länge der Be-
ratungszeiten berücksichtigt, die in Neuseeland mit 15,8 Minuten mehr
als doppelt so lang ist wie die 7,8 Minuten in Deutschland (Koch et al.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primärversorgung in Neuseeland 107
2007), scheint die ärztlich ambulante Inanspruchnahme in Deutschland
höher zu sein als in Neuseeland.
Diese Unterschiede lassen sich auf verschiedene denkbare Einfluss-
faktoren zurückführen. Ein wichtiger Punkt könnte die unterschiedliche
Steuerung des Gesundheitssystems sein. Im Gegensatz zu dem neusee-
ländischen Gesundheitssystem, dessen Primärversorgung ähnlich wie im
britischen NHS in staatlich koordiniert wird , spielt in Deutschland die
ärztliche Selbstverwaltung eine zentrale Rolle bei der Organisation der
Behandlungsabläufe und Versorgung. In der ärztlichen Selbstverwaltung
nehmen viele Facharztverbände über Leitlinien und Schlüsselpositionen
großen Einfluss auf Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundes-
vereinigung bzw. auf Länderebene über Ärztekammern und Kassen-
ärztliche Vereinigungen. Ebenfalls erbringen in Deutschland ambulant
tätige SpezialistInnen viele der Leistungen, die in Neuseeland zur Pri-
märversorgung gehören. Eine solche zweite Spezialistenschiene neben
der stationär verankerten spezialistischen Versorgung ist in Neuseeland
und in vielen Ländern mit einem Primärarztsystem nicht vorgesehen.
In Neuseeland sind viele, aber nicht alle Primärversorgungseinrich-
tungen hausärztliche Gemeinschaftspraxen mit mehreren Allgemeinärz-
tInnen, Pflegekräften, Empfangspersonal und Verwaltungsmitarbeite-
rInnen, um für die eingeschriebene Bevölkerung aller Altersgruppen
als erste Anlaufstelle eine umfassende, kontinuierliche und koordinier-
te Gesundheitsversorgung sicherzustellen (Royal New Zealand College
of General Practitioners 2011). Üblicherweise sind AllgemeinärztInnen
auch PraxisinhaberInnen, bei denen die anderen MitarbeiterInnen an-
gestellt sind aber es gibt mittlerweile auch immer mehr andere private
oder kommunale Geschäftsmodelle (z. B. Community Trusts,1 spezielle
Angebote für Maoris oder Franchise-Modelle), bei denen alle Mitarbei-
ter auch Ärzte angestellt sind.

1 Diese in den späten 1980er Jahren entwickelten, kommunalen Versorgungs-


modelle zur Sicherstellung der geburtshilflichen Versorgung in ländlichen Gebieten
unterscheiden sich hinsichtlich der Größe, der Organisation und dem bereitgestellten
Service. Die meisten Trusts bieten eine ärztliche Grundversorgung, manchmal aber
auch pflegerische Angebote wie Essen auf Rädern und häusliche Betreuung; bei an-
deren gehören zudem eine Tagesklinik oder die Versorgung durch Fachärzte zum
Angebot, die in regelmäßigen Abständen anreisen. Alle Community Trusts verfolgen
das Ziel, die Grundversorgung für die jeweilige Gemeinde zu sichern, wie Barnett
und Barnett (2001) kommen in einer deskriptiven Studie von neun Community Trusts
in Neuseeland aufzeigen, in der sie zu dem Ergebnis, dass fünf Faktoren mit dem
Erfolg dieser Trusts korrelieren: Lokale Verantwortung, finanzielles und sonstiges
Engagement vor Ort, Beteiligung von lokalen Fachkräften, Voneinander-Lernen und
betriebliche Effizienz (nach Götz et al. 2014).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


108 Susan Pullon, Markus Herrmann
Über 80 % der neuseeländischen Bevölkerung sind in einer Primärver-
sorgungspraxis eingeschrieben (Ministry of Health 2013), die Registrie-
rung der anspruchsberechtigten PatientInnen erfolgt computergestützt
an Hand der National Health Index Number (NHI) für jedeN BürgerIn,
was die Speicherung und Abrufung wichtiger patientenbezogener Daten
ermöglicht. Auf Grundlage der elektronischen Übermittlung von Rou-
tinedaten ihrer eingeschriebenen Praxispopulation an eine bestimmte
Regierungsbehörde erhalten die hausärztlichen Praxen in regelmäßigen
Abständen einen Teil ihrer Honorierung. Mit anderen Worten: Allein
die Einschreibung einer Person berechtigt die LeistungserbringerInnen
zu finanziellen Zuwendungen von Seiten der Regierung; anders als bei-
spielsweise in Deutschland ist die Honorierung also nicht an die Er-
bringung konkreter Leistungen geknüpft . Die Registrierung erlaubt den
Praxen der Primärversorgung auch, sich wirksam um die eingeschriebe-
nen BürgerInnen zu kümmern – zum Beispiel durch aktive Erinnerung
betroffener Personen an Präventionsmaßnahmen wie Impfungen bei
Kindern oder Gebärmutterhalskrebs-Screening bei Frauen.
Neuseeländische PatientInnen müssen bei einer Konsultation eine
Praxisgebühr zahlen, deren Höhe von den staatlichen Zuwendungen
an die jeweilige Primärversorgungseinrichtung abhängig ist. Chro-
nisch Kranke mit sehr hohem Bedarf an medizinischen Leistungen
oder Kinder unter sechs Jahren bekommen in der Regel gebührenfreie
Behandlung. Für die Versorgung besonderer Patientengruppen wie
Schwangerer und Traumatisierter steht den Praxen zusätzliche Finan-
zierung zu. Konsultationen erfolgen entweder bei einem/r A(e)rztIn
oder einer Pflegekraft, wobei die Praxisgebühr bei Behandlung durch
eine Pflegekraft in der Regel geringer ist als bei einem/r Medizine-
rIn. Die Sicherstellung der Grundversorgung wäre für den Großteil der
Bevölkerung nicht ohne eine zunehmend engere Zusammenarbeit von
medizinischem und Pflegepersonal sowie Verwaltungskräften in Arzt-
praxen wie auch bei anderen LeistungserbringerInnen (Pullon et al.
2009). Zugang zu der grundsätzlich für PatientInnen kostenfreien Se-
kundär- und Tertiärversorgung in öffentlich finanzierten Krankenhäu-
sern erfolgt fast immer durch Überweisung einer primärversorgenden
Praxis. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, mit einer Überweisung
von dem/r Hausa(e)rztIn privat Leistungen der Sekundärversorgung in
Anspruch zu nehmen, um die Wartelisten für elektive, chirurgische
Verfahren im öffentlichen System zu umgehen. Mehr als ein Viertel
der Bevölkerung hat zu diesem Zweck zusätzlich zur Absicherung über
das staatliche Gesundheitswesen freiwillig eine private Krankenversi-
cherung abgeschlossen.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primärversorgung in Neuseeland 109
In Deutschland sind nahezu 90 % der Bevölkerung Mitglieder der
Gesetzlichen Krankenversicherung und haben dabei die Wahl zwi-
schen zurzeit 131 Krankenkassen, die ein weitgehend standardisiertes
Leistungspaket absichern und sich nur in einzelnen, rechtlich nicht
vorgegebenen Leistungen unterscheiden können. Neben Selbständigen
und Beamten sind nur ArbeitnehmerInnen mit einem Einkommen über
der Pflichtversicherungsgrenze von derzeit 4.050 € pro Monat von der
Mitgliedschaftspflicht in einer gesetzlichen Krankenversicherung be-
freit und können ihrer Versicherungspflicht auch durch Abschluss einer
Privatpolice nachkommen. Die ambulante Versorgung stellen dezentral
organisierte Praxen in privater Trägerschaft von ÄrztInnen sicher, im
stationären Bereich ersetzen private Krankenhäuser und Klinik-Ketten
zunehmend die früher vorherrschenden öffentlichen und gemeinnützi-
gen Kliniken. Andere Gesundheitsberufe wie LogopädInnen, Physio-
therapeutInnen und ErgotherapeutInnen arbeiten selbständig oder als
Angestellte in Krankenhäusern. Deutschland hat traditionell das am
stärksten beschränkungsfreie und verbraucherorientierte Gesundheits-
system in Europa, da es PatientInnen den Zugang zum Versorgungssys-
tem über HausärztInnen, niedergelassene, nicht allgemeinmedizinische
FachärztInnen, Krankenhausambulanzen oder Rettungsstellen erlaubt
und keine festen Überweisungsabläufe vorgibt.

Erwerbspersonen im Gesundheitswesen
Zu den Schlüsselherausforderungen beider Länder gehören die Alte-
rung des Personals im Gesundheitswesen, dessen ungleiche regionale
Verteilung und die Notwendigkeit, eine flexible und zugleich ange-
messene Qualifizierungsmischung zu erreichen. Verschiedene Gesund-
heitssysteme erzeugen eine jeweils unterschiedliche demografische
Struktur bei den verschiedenen Gesundheitsberufen, die wiederum die
Gesundheitssysteme beeinflusst. Fachverbände der Gesundheitsberu-
fe und insbesondere ärztliche Aufsichtsbehörden nehmen seit langem
erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Gesundheitssysteme. In
Deutschland haben sich die Kassenärztlichen Vereinigungen, die etwa
150.000 ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen vertreten, erfolgreich für
den offenen Zugang zur nicht-hausärztlicher Facharztbehandlung ein-
gesetzt. Da ein großer Teil der ÄrztInnen in Neuseeland Allgemeinärz-
tInnen sind, kann deren Vertretung, das Royal New Zealand College of
General Practitioners (RNZCGP), seine vergleichsweise einflussreiche
Position nutzen, um die zentrale Steuerungsfunktion der Primärver-
sorgung zu stärken. Das Sicherstellungsgesetz der Kompetenzen der
Gesundheitsberufe (Health Practitioners Competence Assurance Act –
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
110 Susan Pullon, Markus Herrmann
HPCAA) (Government of New Zealand 2003) legt Praxisrichtlinien für
13 verschiedene Gesundheitsberufe fest, um eine engere Zusammen-
arbeit der Professionen zu fördern.
2011 lag der Anteil der praktizierenden Ärzte in Deutschland zwischen
3,45 und 5,4 und in Neuseeland bei 2,65 pro 1.000 EinwohnerInnen.
Bei höherer Arztdichte in Deutschland gibt es hierzulande einen gerin-
geren Anteil von AllgemeinärztInnen (0,69 Allgemeinärzte pro 1.000
EinwohnerInnen in Deutschland gegenüber 0,82 in Neuseeland) (Bun-
desministerium für Gesundheit 2013; Medical Council of New Zealand
2012). In dem Inselstaat arbeiten die meisten Grundversorgungspflege-
kräfte (primary care [practice] nurses) in der allgemeinärztlichen Praxis
und in der Primärversorgung gibt es mehr Pflegekräfte als Hausärz-
tInnen. Pflegekräfte arbeiten in der Regel selbstständig mit eigenem
Aufgabenbereich. Auch wenn nicht alle Pflegekräfte zu allen Aufga-
ben befähigt sind, umfasst ihre Tätigkeit die selbständige Beratung zur
Raucherentwöhnung, Entnahme und Verfolgung von Zervixabstrichen,
Wachstumsprogramme und Impfungen bei Kindern, Wundversorgung
einschließlich Hautnaht. Pflegekräfte in der Primärversorgung arbeiten
gemeinsam mit ÄrztInnen bei der Versorgung akuter Erkrankungen
wie bei Infektionen der oberen Atem- oder der Harnwege sowie bei
chronischen Erkrankungen wie z. B. Asthma oder Diabetes. Auch eine
kleinere Zahl von Pflegekräften mit einem Master-Abschluss und brei-
teren Tätigkeitsbereichen ist in der Grundversorgung tätig.
Ein Vergleich der Pflegesituation zwischen verschiedenen Ländern ge-
staltet sich schwierig, denn Daten über die Arbeitskräfte in Neuseeland
und Deutschland sind deswegen mit Vorsicht zu interpretieren, weil die
Rolle der Pflege in beiden Ländern unterschiedlich ist. Von 46.000 re-
gistrierten Pflegekräften in Neuseeland sind rund 5.500 in verschiedenen
Bereichen der Grundversorgung tätig (Nursing Council of New Zealand
2012), womit etwa genauso viele HausärztInnen wie Pflegekräfte in
der Primärversorgung arbeiten. In Deutschland arbeiten 1,56 Millionen
Menschen in der Pflege, viele davon als geringer qualifizierte Pflegehel-
ferInnen oder PraxisassistentInnen: 748.000 examinierte Gesundheits-
und KrankenpflegerInnen, 266.900 KrankenpflegerhelferInnen und
549.400 medizinische Fachangestellte (Bundesagentur für Arbeit 2010).
Während medizinische Fachangestellte vor allem in Praxen von nieder-
gelassenen ÄrztInnen tätig sind, arbeiten Pflegekräfte und -helferInnen
vor allem in Krankenhäusern, Pflegeheimen und der häuslichen Pflege.
Eigenverantwortliche Tätigkeit in der Primärversorgung ist für medizi-
nische Fachangestellte, eine Weiterentwicklung des ehemaligen Berufs
von ArzthelferInnen, derzeit nur sehr begrenzt möglich. Vorrangige
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primärversorgung in Neuseeland 111
Aufgaben in Deutschland sind die Erhöhung der Zahl der Fachkräfte in
der Krankenpflege, die Erweiterung ihres Handlungsspielraums und die
Schaffung entsprechender Ausbildungskapazitäten. Der Bedarf an Pfle-
gekräften wird in Zukunft in allen Bereichen steigen, vor allem in der
ambulanten und stationären Langzeitpflege (SVR Gesundheit 2012).
Bei dem Personal in der Primärversorgung beider Länder vollzieht
sich ein zunehmender Alterungsprozess. Das Durchschnittsalter der
HausärztInnen liegt in Deutschland mittlerweile bei 53 und in Neu-
seeland bei 51 Jahren (BMG 2013; Medical Council of New Zealand
2012). Die in Neuseeland in der Grundversorgung tätigen Pflegekräfte
sind durchschnittlich 49 Jahre alt (Nursing Council of New Zealand
2012), und in Deutschland ist der Anteil der über 50-Jährigen unter den
Pflegekräften zwischen 1999 und 2010 von 12,2 % auf 25,5 % gestiegen
(Bundesagentur für Arbeit 2013). Ohne einen raschen Ausbau der Aus-
und Weiterbildungsmöglichkeiten für HausärztInnen und Pflegekräfte
für die Primärversorgung wird weder Deutschland noch Neuseeland
diejenigen ersetzen können, die in den nächsten 10 bis 15 Jahren in den
Ruhestand gehen werden.
Die Rekrutierung von ÄrztInnen, Pflegekräften und anderen Gesund-
heitsberufen für kleine ländliche Krankenhäuser und ländliche Gesund-
heitszentren gestaltet sich schwierig. Neuseeland sieht sich den geogra-
fischen Herausforderungen gegenüber, wo eine kleine Bevölkerung sich
unregelmäßig über das langgezogene, schmale Land verstreut ist und
kämpft daher nicht nur darum, Arbeitskräfte für dünn besiedelte und ab-
gelegene Gebiete zu gewinnen, sondern auch um genügend ÄrztInnen
und ChirurgInnen mit der für kleinere regionale Krankenhäuser uner-
lässlichen breiten und umfassenden Qualifikation und Erfahrung (Health
Workforce Advisory Committee 2005). In Deutschland gibt es im Norden
und im Osten außerhalb der Großstädte eine deutlich niedrigere Dichte
von ÄrztInnen, Pflegekräften und anderen Gesundheitsberufen als im
Süden und Westen der Republik. Vor allem in ländlichen und struktur-
schwachen Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte lassen sich Kas-
senarztsitze nicht (mehr) besetzen, was vor allem die Niederlassung von
Haus- bzw. AllgemeinärztInnen betrifft (SVR Gesundheit 2012).

Aus- und Weiterbildung für die Grundversorgung


Eine Voraussetzung für die Stärkung der Primärversorgung ist eine
ausreichende Zahl von qualifizierten Arbeitskräften in den Gesund-
heitsberufen, die ausreichend geschult sind, um sicher und effektiv eine
Vielzahl von Aufgaben in der primären Gesundheitsversorgung vor Ort
wahrzunehmen. Die Ausbildung und die verfügbaren beruflichen Auf-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
112 Susan Pullon, Markus Herrmann
gabenfelder in dem Bereich müssen attraktiv sein und professionelle
Zufriedenheit erzeugen.
Der neuseeländische Ansatz der primärversorgungsorientierten Aus-
bildung in den letzten 30 Jahren zeichnete sich durch eine entschei-
dende Stärke aus: den Aufbau einer umfassenden, gut organisierten
Weiterbildung für AllgemeinärztInnen. Im Vergleich dazu ist die ent-
sprechende Weiterbildung in Deutschland eine Frage der individuellen
Initiative und es ist oft schwierig, das gesamte für einen Generalisten
notwendige Spektrum an Fertigkeiten zu erwerben, die für eine um-
fassende Betreuung erforderlich sind. Im Unterschied zu Neuseeland
bieten hierzulande nicht-allgemeinmedizinische FachärztInnen etliche
Leistungen, die in Neuseeland und anderswo HausärztInnen erbringen.
Anders als Deutschland legt Neuseeland seit 12 bis 15 Jahren bereits zu
Beginn der medizinischen und pflegerischen Ausbildung einen Schwer-
punkt auf die Primärversorgung und die Anerkennung des Potenzials
von Krankenpflegekräften sowie anderer medizinischer Fachkräfte, ihre
Primärversorgungskapazitäten auszubauen. Studierende der Medizin,
der Pflege und teilweise auch anderer Gesundheitsberufe haben so weit
wie möglich die Gelegenheit, klinische Praktika in ländlichen Gebie-
ten (in kleinen ländlichen Krankenhäuser und Gesundheitszentren der
Primärversorgung) zu absolvieren. Die beiden medizinischen Fakultäten
Neuseelands bieten ihren Studierenden die Möglichkeit, für längere Zeit
in das Leben auf dem Lande einzutauchen, wo sie durch klinische Tätig-
keit unter Aufsicht und Anleitung erfahrener KollegInnen in kleineren
ländlichen Gemeinden leben und lernen. Aktuelle Beispiele dafür sind
sechs- bis zwölfmonatige Praxisphasen in ländlichen Gesundheitszen-
tren für fortgeschrittene Studierende (Farry et al. 2010). Ein weiterer
Ansatz bringt eine Mischung angehender DiätberaterInnen, Zahnärz-
tInnen, KrankenpflegerInnen, MedizinerInnen, PharmazeutInnen sowie
Ergo- und PhysiotherapeutInnen im Rahmen integrierter fünfwöchiger
Rotationen in abgelegene ländliche Gebiete mit einem hohe Anteil Mao-
ris zusammen. Die Studierenden lernen mit-, von- und übereinander die
klinischen Fertigkeiten (Freeth, Hammick et al., 2002), indem sie klini-
sche Fähigkeiten erwerben, in Teams arbeiten, ihr Verständnis von Ge-
sundheitsbelangen der Maori vertiefen und Grundzüge der Versorgung
chronischer Erkrankungen anwenden (Pullon und Lawrenson 2012).
Für angehende ÄrztInnen in Neuseeland ist klinische Erfahrung in
der Allgemeinmedizin integraler Bestandteil der Lehrpläne in der Me-
dizinerausbildung. Nach dem Studienabschluss arbeiten die Absolven-
tInnen als AssistenzärztInnen, um unabhängig von der Fachrichtung
ihre Approbation zu erhalten. Voraussetzung für die Aufnahme einer
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primärversorgung in Neuseeland 113
Facharztweiterbildung, einschließlich der zum/zur Allgemeinmedizi-
nerIn, ist eine mindestens zweijährige Berufserfahrung im Kranken-
haus. Dabei erwerben angehende ÄrztInnen unter Anleitung klinische
Fähigkeiten und Handlungswissen in verschiedenen Spezialgebieten.
Seit 1978 gibt es im Anschluss eine dreijährige Facharztweiterbildung
in Allgemeinmedizin (Wright-St Clair 1989).
Jüngste politische Initiativen der Regierung haben für mehr Weiter-
bildungsplätze in der Allgemeinmedizin gesorgt, um vor allem in länd-
lichen Gebieten den Anteil von ÄrztInnen in der Primärversorgung zu
erhöhen. ÄrztInnen in der allgemeinärztlichen Weiterbildung verfügen
bereits über Erfahrungen in Innerer Medizin, Chirurgie, Kinderheilkun-
de, Notfallmedizin und anderen Bereichen. Die Schwerpunktsetzung
der allgemeinmedizinischen fachärztlichen Weiterbildung auf ein brei-
tes Spektrum praktischer Fertigkeiten versetzt die HausärztInnen in
Neuseeland in die Lage, selber einen großen Teil Anforderungen als
»erste Anlaufstelle« in der Grundversorgung zu erledigen und bei Be-
darf effizient die Überweisungsmöglichkeiten in weiterführende Versor-
gungseinrichtungen zu nutzen. Den überwiegenden Teil der klinischen
Erfahrung während der Facharztweiterbildung erwerben angehenden
HausärztInnen in der Primärversorgung unter direkter Beaufsichtigung
durch erfahrene akkreditierte WeiterbilderInnen. Die Betreuung ist im
ersten Weiterbildungsjahr am intensivsten und lässt im zweiten und
dritten Weiterbildungsjahr nach, aber es gibt durchgehend ein Seminar-
und akademisches Begleitprogramm (Royal New Zealand College of
General Practitioners 2011).
Zusätzliche, nicht verpflichtende universitäre Fortbildungen in Prima-
ry Health stehen im ganzen Land zur Verfügung. Mehrere dieser post-
gradualen Diplom- und Master-Programme sind vollständig professions-
übergreifend und erlauben AllgemeinärztInnen, Pflegekräften in der
Primärversorgung und anderen in der Grundversorgung tätigen Gesund-
heitsberufe wie beispielsweise ApothekerInnen, gemeinsam zu lernen und
so ihre berufsübergreifende Zusammenarbeit zu verbessern (McKinlay
und Pullon 2007). Ebenso wie in anderen Ländern (USA, Skandinavien,
Kanada) sind diese Primary-Care-Masterprogramme in Neuseeland kein
Ersatz für die kontinuierliche berufliche Weiterbildung, sondern vermit-
teln ein breiteres und tiefergehendes Verständnis der Theorie von und
Forschung zu Allgemeinmedizin und Primary Health Care.
Die Erfahrung in Deutschland sind auf diesem Gebiet ganz anders. Im
Zuge der europaweiten gegenseitigen Anerkennung der Medizineraus-
bildung im Rahmen des Harmonisierungsprozesses ist ab 1993 auch die
Facharztweiterbildung zum/zur AllgemeinmedizinerIn anerkannt und
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
114 Susan Pullon, Markus Herrmann
Voraussetzung für die Ausübung dieser Tätigkeit in der Europäischen
Union. Im Gegensatz zu anderen Fachgebieten erfolgt in Deutschland
die Weiterbildung in Allgemeinmedizin parallel zu der vollen Praxis-
tätigkeit. ÄrztInnen mit dem Interesse an einer allgemeinärztlichen
Facharztweiterbildung müssen ihre klinische Arbeit in der Regel sel-
ber organisieren und oftmals für den Erwerb der Fertigkeiten in den
verschiedenen Fachgebieten (Chirurgie, Innere Medizin, Pädiatrie) den
Arbeitgeber wechseln. Die finanzielle Vergütung war lange Zeit we-
der einheitlich geregelt, noch entsprach sie der Bezahlung akademisch
vergleichbarer Tätigkeit in anderen Fachgebieten. Bislang gibt es kei-
ne gemeinsamen Lehrpläne oder Qualitätskontrollen und anders als in
Neuseeland gab es bislang keine Mentoren Unterstützung oder »Train-
the-Trainer«-Programme (Donner-Banzhoff & Gerlach 2010). Dies än-
dert sich allerdings gerade in einzelnen Bundesländern wie Hessen und
Baden-Württemberg.
Die gesamtheitliche Betrachtung aller Arbeitskräfte im Gesundheits-
wesen trägt nachweislich zu einer erfolgreichen Primärversorgung in
Neuseeland bei, besonders die veränderten Rollen und Verantwortlich-
keiten der Pflege. Trotz einer 35-jährigen Geschichte von Pflegekräften
in der hausärztlichen Versorgung und der schrittweisen Entwicklung
semi-autonomer Rollen besteht allerdings weiterhin Verbesserungs-
potenzial bei der Teamarbeit im Zusammenhang mit der komplexen
Patientenversorgung (Pullon et al. 2011). Empfehlungen des deutschen
Sachverständigenrats stehen im Einklang mit diesem Modell und for-
dern eine vorsichtige Umstrukturierung der Aufgabenbereiche und der
Arbeitsteilung auch in der Teamarbeit, einschließlich der Übertragung
von mehr Verantwortung auf der einen und besserer Entwicklungs-
perspektiven für nicht-medizinische Gesundheitsberufe auf der anderen
Seite (SVR Gesundheit 2012).
Bei der Krankenpflege- Ausbildung in Neuseeland ist der Schwer-
punkt Primärversorgung im dreijährigen grundständigen Bachelor-
Studium beachtlich und umfassend. Nach dem Studienabschluss müs-
sen die neuen Pflegekräfte vor der endgültigen Berufsanerkennung
ein weiteres klinisches Praxisjahr unter Aufsicht absolvieren. Danach
sind postgraduale Weiterbildungen für verschiedene Tätigkeiten in
der Primärversorgung verfügbar, aber nicht obligatorisch. Tatsächlich
lernen die meisten in der Primärversorgung tätigen Pflegekräfte vie-
les während der Berufsausübung. Ihre Qualifizierungsmöglichkeiten
hängen weitgehend von der Fähigkeit und Bereitschaft der Hausärzte
und manchmal der unmittelbaren BerufskollegInnen ab. In den letzten
Jahre haben zusätzliche Zertifizierungsanforderungen zu einer starken
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primärversorgung in Neuseeland 115
Zunahme von Kurzlehrgänge für aufgabenbasierte Fertigkeiten wie für
Impfungen oder die Entnahme von Zervixabstrichen geführt, so dass
heute viele examinierte Pflegekräfte hier sehr gut qualifiziert sind. Trotz
dieser Entwicklungen gibt es für neuseeländische Pflegekräfte in der
Primärversorgung oft keinen definierten Karrierepfad und sie müssen
die Kosten für alle postgraduale Fortbildungen meist individuell selber
tragen (McKinlay 2006). Folge ist ein Mangel an Standardvorgaben für
die pflegerischen Aufgaben in der Primärversorgung. Trotz des Man-
gels an Standardisierungen und Qualitätsvorgaben zeigen Pflegekräfte
in ihrer alltäglichen Praxis, dass sie sich effektiv und umfassend in die
Patientenversorgung und Praxistätigkeit einbringen.
Die tendenziell ermutigenden Erfahrungen aus Neuseeland legen
auch für Deutschland eine kritische Überprüfung der Rolle und Ausbil-
dung der Pflege im Hinblick auf die Primärversorgung nahe. Neben an-
deren Empfehlungen hat der Sachverständigenrat Gesundheit in seinem
Sondergutachten 2012 die Notwendigkeit einer besseren Qualifizierung
von KrankenpflegerInnen und anderen Gesundheitsberufen in Primär-
versorgung erkannt (SVR Gesundheit 2012: 70, 91ff).

Diskussion
Ähnlich wie in einigen europäischen Ländern (Niederlande, Skandi-
navien, Großbritannien) hat Neuseeland damit begonnen, auf die ak-
tuelle Belastung des Gesundheitswesens mit einer Stärkung der Pri-
märversorgung zu reagieren und dabei Möglichkeiten einer besseren
professionenübergreifenden Zusammenarbeit, Praxis und Teamarbeit
zu untersuchen. Auf internationaler Ebene, vor allem in Kanada und
Australien, besteht eine deutlichere Tendenz in Richtung Primärversor-
gung die Gesundheitsversorgung voranzutreiben und die Anerkennung
der Allgemein- bzw. HausärztInnen in der medizinischen Versorgung
(Primärversorgung, Familienmedizin und Gemeindemedizin) zu stär-
ken. Im Allgemeinen ist das Profil der Hausärzte in vielen Ländern
breiter als in Deutschland. Das auch in verschiedenen europäischen
Ländern etablierte Primary-Care-Modell zwingt AllgemeinärztInnen
eine stärkere Lenkungsfunktion wahrzunehmen als ihre KollegInnen in
Deutschland (Herrmann et al. 2000).
Bei deutschen HausärztInnen wächst die Unzufriedenheit mit vielen
Aspekten des derzeitigen Systems. In einer internationalen Umfrage
unter deutschen, australischen, kanadischen, niederländischen, neusee-
ländischen, britischen und US-amerikanischen AllgemeinärztInnen
von 2007 beschrieben 83 % der deutschen HausärztInnen und damit
signifikant mehr als ihre KollegInnen aus den anderen Ländern, ihre
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
116 Susan Pullon, Markus Herrmann
Situation habe sich in den letzten fünf Jahren verschlechtert (in Neu-
seeland lag der Anteil bei 25 %, in Australien bei 17 %). Im Vergleich
zu den meisten anderen Ländern einschließlich Neuseeland beträgt die
durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit deutscher HausärztInnen
50 Stunden bei einer sehr hohen durchschnittlichen Zahl von Patien-
tenkontakten (243/Woche) und kurzen Konsultationszeiten (im Durch-
schnitt 7,8 Minuten pro PatientIn). HausärztInnen arbeiten in Neusee-
land hingegen durchschnittlich 41 Stunden und sehen im Durchschnitt
112 PatientInnen pro Woche mit einer durchschnittlichen Kontaktzeit
von 15,8 Minuten, vergleichbar mit der Situation in anderen Ländern
wie den Niederlanden oder Australien (Koch et al. 2007). Angesichts
dieses offensichtlichen Drucks, unter denen deutsche ÄrztInnen arbei-
ten, überrascht es, dass 80 % der deutschen Hausärzteschaft ähnlich wie
ihre internationalen Kollegen mit der Ausübung ihres ärztlichen Berufs
dennoch zufrieden sind (Neuseeland 78 %, internationale Streuung zwi-
schen 76-90 %) (Koch et al. 2007).
Trotz etlicher positiver Eigenschaften steht das neuseeländische
Gesundheitswesen auch vor Herausforderungen. So gibt es für einige
besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen Probleme beim Zu-
gang zur Primärversorgung sowie Wartelisten für weniger dringliche
Interventionen in der weiterführenden Facharztversorgung (Raymont
et al. 2008). Auch ist die Etablierungszeit für neue Therapiemethoden
deutlich länger, was von Ärzten und der Bevölkerung oft als Nachteil
erlebt wird. Einige dieser Probleme liegen an begrenzten Ressourcen
oder betreffen kleine Bevölkerungsgruppen, andere aber gehen an die
Substanz des öffentlichen, mischfinanzierten und von der Primärver-
sorgung geleiteten Systems.
Selbstverständlich lassen sich nicht alle Aspekte des neuseeländischen
Gesundheitswesens auf Deutschland übertragen. Es wurden immer wie-
der Forderungen nach Veränderungen der Aus- und Weiterbildung für
AllgemeinärztInnen in Deutschland laut, nicht nur um sie besser auf die
Aus- und Weiterbildung in anderen Ländern abzustimmen, sondern auch
um die Rollen und Aufgabenverteilung im Rahmen der Professions-
entwicklung in der Allgemeinmedizin zu erweitern und damit besser
den steigenden Gesundheitsbedürfnissen zu begegnen (Herrmann et al.
2003). Neue Modelle sind nur möglich, wenn HausärztInnen in der Lage
und befähigt sind, sich als konstruktive Mitglieder eines Primärversor-
gungsteams in einer umfassenden Primärversorgung zu begreifen, wo
Pflege und andere Gesundheitsberufe gleichermaßen anerkannt sind.
In Neuseeland ist die Primärversorgung fest in die grundständige Me-
dizinerausbildung eingebunden, unmittelbar nach dem Studium breite
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primärversorgung in Neuseeland 117
allgemeinmedizinische Kompetenz erforderlich und die allgemein-
medizinische Facharztweiterbildung landesweit verfügbar. In dem In-
selstaat nehmen HausärztInnen kompetent viele Aufgaben einer umfas-
senden medizinischen Versorgung wahr (New Zealand Royal College
of General Practitioners 2002). Die Herausforderung im 21. Jahrhundert
besteht nach wie vor in der Übertragung dieser wertvollen Vielfalt von
Fertigkeiten auf voll funktionsfähige Primärversorgungsteams. Dabei
ist ein deutlicher Fortschritt bei der zunehmenden Wertschätzung der
Pflege, der Implementierung integrierter Versorgungsmodelle und der
interdisziplinären Aus- und Weiterbildung zu erkennen.

Ausblick
Die Stärken des neuseeländischen Gesundheitssystems mit seiner
starken Ausrichtung an der Primärversorgung erlauben einige Rück-
schlüsse, die auch für die Diskussion in Deutschland relevant sind.
Beachtenswert sind insbesondere das breite Tätigkeitsspektrum von
HausärztInnen und ihre fachärztliche Weiterbildung, die sie auf diese
Aufgaben vorbereitet, und jüngere Tendenzen zur Unterstützung und
Finanzierung von PHC-Teams unter besonderer Anerkennung und
Stärkung der Pflege in der Primärversorgung (unabhängig der Notwen-
digkeit einer verbesserten postgradualen Weiterbildung). Empfehlens-
wert erscheint auch ein Registriersystem für PatientInnen in der Pri-
märversorgung, da es die Kontinuität der Versorgung verbessert und
systematische Vorsorge erst ermöglicht. Obgleich die freie Arztwahl
in Deutschland ein hohes Gut darstellt, zielen neue Instrumente wie die
Hausarztverträge und integrierte Versorgungsverträge (z. B. zu Homöo-
pathie) implizit daraufhin, auch in Deutschland ein Einschreibesystem
zu erproben und gesellschaftlich annehmbar zu machen.
Des Weiteren wäre eine Stärkung der Gatekeeper- oder Lotsenfunk-
tion der Primärversorgung in Deutschland zu empfehlen. Auf jeden Fall
sollten nicht primärärztlich tätige FachärztInnen weiterführende Be-
handlungen komplexer Versorgungsleistungen ausschließlich auf haus-
ärztliche Überweisung hin tätig werden können, und das mit möglichst
geringen Wartezeiten. Die neuseeländischen Erfahrungen lassen eine
Finanzierung der Primärversorgung auf Grundlage der eingeschriebe-
nen Bevölkerung empfehlenswert erscheinen, da eine Kopfpauscha-
lenhonorierung der Leistungserbringer spürbar die Teamarbeit in der
Primärversorgung fördert. Allerdings bedeuten selbst bescheidene Nut-
zergebühren in Neuseeland Zugangsbarrieren vor allem für sozial Be-
nachteiligte; nach Abschaffung der Praxisgebühr in Deutschland könn-
te der Weg zu besseren Lösungen der Finanzierung offen stehen.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
118 Susan Pullon, Markus Herrmann
Angesichts gesellschaftlicher Veränderungen wie der zunehmenden
Alterung der Bevölkerung und Entsiedelung ganzer Landstriche ist
eine umfassende Stärkung der Primärversorgung und der Rolle der All-
gemeinmedizin in Deutschland unumgänglich, um eine angemessene
Versorgung zu gewährleisten. Die klassischen deutschen HausärztIn-
nen als EinzelkämpferInnen mit einer oder zwei HelferInnen stellen
ein Auslaufmodell dar. Bevorstehende Aufgaben und Anforderungen
erfordern neue Arbeitsmodelle, die eine Weiterentwicklung des Selbst-
verständnisses der Professionen und ihrer Rollen. Wie in Neuseeland
werden auch die deutschen AllgemeinärztInnen in Zukunft eine stär-
kere Einbeziehung anderer Gesundheitsberufe durch Zusammenarbeit
und Dialog suchen müssen.

Übersetzung: Markus Herrmann und Jens Holst;


redaktionelle Bearbeitung: Jens Holst

Korrespondenzadresse:
Prof. Sue Pullon
Department of Primary Health Care & General Practice Department
Te Tari Hauora Tūmatanui me te Mātauranga Rata Whānau
University of Otago, Wellington
23A Mein Street / PO Box 7343
Wellington
New Zealand
E-Mail: sue.pullon@otago.ac.nz

Danksagung
Die Autoren möchten besonders danken Dr. Sabine Stanley, Allge-
meinärztin in Neuseeland GP, die in Deutschland ausgebildet wurde
und ihre Weiterbildung in Neuseeland absolviert hat, sowie allen Mit-
arbeiterInnen in der Abteilung Primary Health Care und Allgemein-
medizin, Otago-Universität, Wellington, Neuseeland.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primärversorgung in Neuseeland 119
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122
Corinna Jung, Peter Tschudi

Schritte zur Konsolidierung der


Hausarztausbildung und Stärkung von Primary
Health Care in der Schweiz

Abstract
In coming years, Switzerland will face a serious shortage of General
Practitioners (GP), and a sufficient number of young professionals is
not in sight. There is need for action from a medical, social and health
policy perspective in order to ensure adequate primary care in the next
decades. The paper starts with a description of the importance and tasks
of GP’s and depicts the medical training of GP’s. Thereafter the article
analyses the political framework conditions and presents health-policy
measures for promoting GP training with particular reference to an
appropriate GP curriculum.

Zusammenfassung
In der Schweiz ist in den kommenden Jahren mit einem ernstzuneh-
menden Hausarztmangel zu rechnen und ausreichender Nachwuchs ist
nicht in Sicht. Aus medizinischer, gesellschaftlicher und gesundheits-
politischer Perspektive besteht Handlungsbedarf, um eine zufrieden-
stellende Primärversorgung in den kommenden Jahrzehnten sicher-
stellen zu können. Der Artikel beschreibt zunächst die Bedeutung und
Aufgaben von HausärztInnen stellt die hausarztmedizinische Ausbil-
dung in der Schweiz vor. Anschließend schildert der Beitrag die politi-
sche Ausgangslage und gesundheitspolitische Maßnahmen zur Förde-
rung der Hausarztausbildung unter besonderer Berücksichtigung eines
Curriculums für die Hausarztmedizin.

Einleitung
Das Schweizer Gesundheitssystem bietet seinen PatientInnen eine im
internationalen Vergleich gute medizinische Versorgung (OECD und
WHO 2012). Allerdings ist, wie in vielen anderen europäischen Län-
dern auch, die Zahl der AllgemeinmedizinerInnen, die für den größten
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in der Schweiz 123
Teil der ambulanten Versorgung zuständig sind, rückläufig. Die vom
Schweizerischen Gesundheitsobservatorium für das Jahr 2011 ange-
gebene Zahl von durchschnittlich 0,9 GrundversorgerInnen1 pro 1.000
EinwohnerInnen (inklusive Pädiatrie) variiert zwischen den verschie-
denen Kantonen. Während in einigen Regionen, wie etwa dem Kanton
Basel-Stadt, durchschnittlich 1,4 GrundversorgerInnen für 1.000 Ein-
wohnerInnen zuständig sind, liegt ihre Dichte in anderen Regionen bei
unter 0,7 Praktizierenden pro 1.000 EinwohnerInnen (Burla und Widmer
2012).2 Dazu gehören etwa Appenzell-Innerrhoden, Uri oder Fribourg.
Bis 2022 werden mit 48,3 % knapp die Hälfte der heute praktizie-
renden HausärztInnen in den Ruhestand gehen oder das Pensionsalter
bereits überschritten haben (ibid.). Zurzeit ist nicht erkennbar, dass eine
ausreichende Anzahl von AbsolventInnen des Medizinstudiums diese
Lücke füllen könnte. Nur circa 13 % der Medizinstudierenden bekundet
am Ende des Studiums Interesse an Allgemeinmedizin (Buddeberg-
Fischer et al. 2006).3 Aus medizinischer, gesellschaftlicher und gesund-
heitspolitischer Perspektive besteht daher Handlungsbedarf, um eine
zufriedenstellende Primärversorgung in den kommenden Jahrzehnten
weiterhin gewährleisten und bestenfalls ausbauen zu können.
Im Folgenden werden zunächst die Bedeutung und Aufgaben von
HausärztInnen im Schweizer Gesundheitssystem skizziert (1). Daran
schließt eine Beschreibung der hausarztmedizinischen Ausbildung an
(2). Der dritte Abschnitt schildert die politische Ausgangslage sowie
die gesundheitspolitischen Aktivitäten und Maßnahmen zur Priorisie-
rung der Hausarztausbildung (3). Da das Medizinstudium für angehen-
de MedizinerInnen die erste Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit der

1 Der Begriff GrundversorgerIn ist in der Schweiz eine gebräuchliche Bezeich-


nung für die ambulant tätigen AllgemeinmedizinerInnen. Zurzeit geben die vom
Gesundheitsobservatorium veröffentlichten Angaben nur Auskunft über die Anzahl
der ÄrztInnen, nicht über die entsprechenden Vollzeitäquivalente, d. h. die Umrech-
nung auf 100 %-Stellen. Die valide Berechnung von Vollzeitäquivalenten ist für den
ambulanten Sektor dadurch erschwert, dass die diesbezüglichen Angaben freiwillig
erfolgten und auf einer nicht-repräsentativen Stichprobe beruhten (Burla und Wid-
mer 2012).
2 In der Schweiz ist »Unterversorgung« im Hinblick auf die Zahl und Qualifikation
der medizinischen LeistungserbringerInnen nicht eindeutig definiert. Der Bundesrat
initiierte daher 2014 Beratungen zu »Maßnahmen zur Verhinderung von Über- und
Unterversorgung« im ambulanten Bereich (EDI 2014). Die Ergebnisse dieser Bera-
tungen gibt der Bundesrat Anfang 2015 bekannt.
3 An den drei an der Befragung teilnehmenden medizinischen Fakultäten PC zeig-
ten in Basel 12,2 % der befragten Studierenden Interesse an Hausarztmedizin, in Bern
14,9 % und in Zürich 11,5 %.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


124 Corinna Jung, Peter Tschudi
Hausarztmedizin bietet, steht die Bedeutung der ärztlichen Ausbildung
für eine stärkere Hinwendung zur Primärversorgung im Mittelpunkt des
vierten Kapitels. Es beschreibt die auf die Ausbildung bezogenen Teil-
ziele des Projekts »Konsolidierung von Lehre und Forschung im Be-
reich medizinische Grundversorgung/Hausarztmedizin« der Schweize-
rischen Universitätskonferenz (SUK). Im Mittelpunkt des vorliegenden
Artikels stehen die Bemühungen um die Entwicklung eines Curricu-
lums für die Hausarztmedizin (4). Abschließend folgt eine kurze Zu-
sammenfassung gesellschaftlicher Transformationsprozesse im Spiegel
der Ausbildung zum Hausarzt (5).

Bedeutung und Aufgaben von HausärztInnen in der Schweiz


Der Begriff des »Hausarztes« beziehungsweise der »Hausärztin« be-
zeichnet in der Schweiz die in der ambulanten medizinischen Grund-
versorgung tätigen AllgemeinmedizinerInnen.4 Dabei handelt es sich
um GrundversorgerInnen mit einem Facharzttitel für »Allgemeine
Innere Medizin«, »Allgemeinmedizin« oder »Innere Medizin« sowie
dem Weiterbildungstitel »Praktischer Arzt/Praktische Ärztin«. Seit An-
fang 2011 gibt es nur noch den neuen Facharzttitel »Allgemeine Innere
Medizin«, der die beiden früheren Facharzttitel »Allgemeinmedizin«
und »Innere Medizin« abgelöst hat. Sowohl für die alten Facharzttitel
Allgemeinmedizin und Innere Medizin, als auch für den neuen Fach-
arzttitel Allgemeine Innere Medizin absolvieren deren TrägerInnen
eine mindestens fünfjährige Weiterbildung. Praktische ÄrztInnen hin-
4 Dies lässt sich im wissenschaftlichen Bereich etwa an den Namen der drei uni-
versitären Institute in der deutschsprachigen Schweiz ablesen, die alle diesen Begriff
im Namen tragen: so gibt es das Institut für Hausarztmedizin an der Universität Zü-
rich (IHAMZ), das Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) und das Institut für
Hausarztmedizin Basel (IHAMB). Damit führen 3 der 5 Institute, die an der Ausbil-
dung für Hausarztmedizin beteiligt sind, den Namen Hausarztmedizin. Die beiden
anderen Institute im französischsprachigen Teil bevorzugen hingegen eher die All-
gemeinmedizin. In Genf heißt die Einheit »Unité de médicine de premier recours«
(UMPR) und in Lausanne »Institut Universitaire de Médicine Générale« (IUMG). Im
(gesundheits-)politischen Bereich sprechen Berufsverbände und PolitikerInnen eben-
falls häufig vom »Hausarzt« oder »Hausarztmedizin«: Zu finden beim Berufsverband
»Hausärzte Schweiz« (www.hausaerzteschschweiz.ch) oder der von Grundversor-
gerInnen selbst initiierten, weiter unten näher beschriebenen Volksinitiative »Ja zur
Hausarztmedizin« sowie dem sogenannten »Masterplan Hausarztmedizin und medi-
zinische Grundversorgung« (BAG 12,13) . Beim letztgenannten handelt es sich um
einen Verbesserungsvorschlag für die Grundversorgung, den der für das Gesundheits-
wesen zuständige Bundesrat Alain Berset gemeinsam mit dem Ständerat lancierte.
Der Masterplan enthält den Vorschlag, den Begriff »Hausarztmedizin« – anstelle von
Allgemeinmedizin – expressis verbis in das Medizinalberufegesetz aufzunehmen.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in der Schweiz 125
gegen leisten nur eine dreijährige Weiterbildung ab und erfüllen damit
ausschließlich die Anforderungen der Basisweiterbildung (SIWF/FMH
2014).
Im Schweizer Gesundheitssystem sind HausärztInnen sehr wichtig,
denn sie sind im Regelfall die ersten AnsprechpartnerInnen bei ge-
sundheitlichen Problemen. So gaben bei einem vom Bundesamt für
Gesundheit (BAG)5 in Auftrag gegebenen »International Health Policy
Survey« 96,3 % der Befragten an, bei einem medizinischen Problem
zuerst ihren Hausarzt aufzusuchen (Petrini und Sturny 2013).6 Das
hausärztliche Aufgabenfeld umfasst die Versorgung aller Menschen,
von Kindern, über Erwachsene bis hin zu älteren oder Hochbetagten.
Außerdem übernehmen HausärztInnen Notfallversorgung in Form von
Nacht- oder Wochenenddiensten, machen Hausbesuche und bringen
Themen der Gesundheitsvorsorge in die tägliche Sprechstunde. Auch in
der Versorgung chronisch Kranker und am Lebensende spielen Haus-
ärztInnen eine wesentliche Rolle. Da in der Schweiz heute die meisten
Menschen nach einer längeren Phase allmählich zunehmender Pflege-
bedürftigkeit versterben (Binder und Wartburg 2009), sind Hausärz-
tInnen hier meist nicht nur PrimärversorgerInnen. Sie sind oft auch als
KoordinatorInnen zwischen verschiedenen ambulanten Pflegediensten,
SpezialistInnen und Angehörigen tätig (BAG 2012). Treffen die Prog-
nosen des Bundesamts für Statistik über den demografischen Wandel
zu, so wird die Versorgung von Menschen künftig einen noch größeren
Anteil der hausärztlichen Tätigkeit einnehmen.
Nicht zuletzt hat die hausärztliche Versorgung für das Gesundheitssys-
tem den Vorteil, dass sie kostengünstig ist. Internationale Untersuchun-
gen zeigen, dass eine größere Anzahl an PrimärversorgerInnen bezie-
hungsweise an Versorgungsmodellen, in denen die Verpflichtung besteht,
HausärztInnen als erste Ansprechpersonen für Gesundheitsprobleme auf-
zusuchen, die Kosten des Gesundheitssystems senken können (Davis und
Stremikis 2010; Starfield 1994; WHO 2008; Macinko et al. 2003).
Für die Zukunft ist mit Beschränkungen dieses umfassenden Auf-
gabenfeldes zu rechnen: Wie bereits erwähnt, ist derzeit knapp die
Hälfte der HausärztInnen über 54 Jahre alt (Burla und Widmer 2012).
Sie werden folglich in den nächsten zehn Jahren aus dem aktiven Be-
5 Das BAG ist Teil des Eidgenössischen Departement des Inneren (EDI). Sein
Aufgabenbereich entspricht etwa dem des Deutschen oder Österreichischen Bundes-
ministeriums für Gesundheit.
6 Knapp 1 % gab bei der Befragung an, ein Gesundheitszentrum aufzusuchen und
2,8 % berichteten, weder einen Hausarzt zu haben noch bei medizinischen Proble-
men ein Gesundheitszentrum aufzusuchen.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


126 Corinna Jung, Peter Tschudi
rufsleben ausscheiden. Für die Schweiz zeichnet sich daher im Bereich
Hausarztmedizin ein ernstzunehmender Ärztemangel ab. Berücksich-
tigt man zudem, dass 2011 fast jedeR sechste GrundversorgerIn einen
ausländischen Studienabschluss hatte (Burla und Widmer 2012), wird
die Notwendigkeit einer stärkeren Nachwuchsförderung deutlich.

Die derzeitige Ausbildungssituation in der Schweiz


Um die gesamtgesellschaftliche medizinische Versorgung in der
Schweiz weiterhin gewährleisten zu können, ist die Sicherstellung der
allgemein- bzw. hausärztlichen Versorgung mittlerweile zu einem zen-
tralen (gesundheits-)politischen Anliegen geworden. Ein besonderes
Augenmerk liegt dabei auf der universitären Medizinerausbildung: Un-
tersuchungen unter Medizinstudierenden in Basel seit 2002 zeigen, dass
sie ihre berufliche Karriere nur in geringem Maße planen. Zu Beginn
ihres Studiums können 25 % der Studierenden kein genaues Karriere-
ziel angeben. Etwa 18 % sind selbst am Studienende noch unschlüssig,
welchen Weg sie einschlagen wollen. Rund ein Drittel der Studienan-
fängerInnen gaben an, später in einer eigenen Praxis tätig sein zu wol-
len. Allerdings denkt dabei nur jede/r zehnte an eine Hausarztpraxis.
Bezogen auf die Gesamtzahl der StudienanfängerInnen hat somit nur
eineR von 25 Medizinstudierenden Interesse an der Hausarztmedizin
(Halter et al. 2005). Zwar verdreifacht sich dieser Anteil im Laufe des
Studiums7, umgerechnet auf die Gesamtzahl aller Studierenden liegt das
Interesse an der Hausarztmedizin aber auch dann nur bei rund 10 %.
Halter et al. zeigen auch, dass der größte Anstieg des Interesses an der
Hausarztmedizin zwischen dem dritten und vierten von sechs Jahreskur-
sen bzw. Studienjahren stattfindet. Dies ist die Zeit, in der Studierende
ein Einzeltutoriat – ein 1:1-Teaching in der Hausarztpraxis – absolvie-
ren. Die AutorInnen machen dafür die intensive Beziehung zwischen
den Studierenden und ihren TutorInnen, nämlich praktizierenden Haus-
ärztInnen, verantwortlich (Halter et al. 2005, Isler et al. 2009b). Auch

7 Halter et al. zeigen, dass der Anteil der Medizinstudentinnen, die Hausärztinnen
werden wollen, von 4,1 % zu Studienbeginn auf 12,6 % am Ende des 4. Jahreskurses
ansteigt und schließlich bis zum Ende des Studiums wieder leicht auf 9,8 % zurück-
fällt. Im Gegensatz dazu steigt der Anteil der männlichen Medizinstudierenden mit
Interesse an Hausarztmedizin kontinuierlich vom 1. Jahreskurs mit 3,8 % bis zum
6. Jahreskurs auf 9,4 % an. Gründe für den leichten Rückgang bei den Frauen nennen
die AutorInnen nicht; sie vermuten lediglich, das insgesamt eher geringe Interesse an
der Hausarztmedizin sei auf das Ansehen von GrundversorgerInnen, fehlende Per-
spektiven und eine mangelnde spezifische Weiterbildung zum/r Hausa(e)rztIn zu-
rückzuführen (Halter et al. 2005).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in der Schweiz 127
andere Literatur benennt frühe Kontakte mit der Arbeit in der Praxis als
Ursache für größeres Interesse bei Studierenden. Studierende bekom-
men dabei einen Bezug zur Praxis und können bereits gelernte Theo-
rie anwenden sowie diagnostische und kommunikative Fähigkeiten
ausbauen (Dornan et al. 2006; Yardley et al. 2013; Howe 2000; Howe
und Ives 2001). Für die Aufwertung der Hausarztmedizin und mehr In-
teresse angehender ÄrztInnen an einer Tätigkeit in der medizinischen
Grundversorgung kommt daher alternativen Lehrmodellen wie dem
Einzeltutoriat große Bedeutung zu (Pearson und McKinley 2010).
Bereits seit den 1990er Jahren gibt es Bestrebungen, das Medizin-
studium zu reformieren. Im Zuge des Bologna-Prozesses begann die
Umstellung auf Bachelor- und Masterabschlüsse (BA/MA). Ziel war
es, sich an internationalen Standards zu orientieren, mit neuen Curri-
culum-Strukturen eine gewisse Vergleichbarkeit zu erreichen und auch
attraktiver für Studierende aus anderen europäischen Ländern zu wer-
den (Patricio et al. 2012; Patricio et al. 2008; Michaud 2012). Diese
Umstellung war zwar erfolgreich, für eine tatsächliche Angleichung
des Medizinstudiums innerhalb Europas bedarf es jedoch auch weiter-
hin einer engen internationalen Zusammenarbeit (Patricio et al. 2012).
Im Jahre 2014 dauert nun das Medizinstudium sechs Jahre. Es gliedert
sich in jeweils drei Studienjahre Bachelor- und Masterstudium. Mit dem
erfolgreichen Ablegen der Eidgenössischen Prüfung in Humanmedizin am
Studienende erwerben die AbsolventInnen die Berechtigung zum Eintritt
in die fünfjährige Weiterbildung zum Facharzt und zur unselbständigen
ärztlichen Tätigkeit (FMH 2014). Insgesamt gibt es fünf Universitäten,
an denen Medizin voll – im Sinne eines Bachelor- und Masterstudiums –
studiert werden kann: Basel, Bern, Zürich, Genf und Lausanne.8 Das Stu-
dium der Humanmedizin wird auf kantonaler Ebene geregelt und ist daher
an den fünf Standorten unterschiedlich aufgebaut. Das bedeutet, dass in-
nerhalb der Schweiz ein Wechsel der Hochschule schwierig ist. Einzig das
Abschlussexamen, das Eidgenössische Staatsexamen, ist landesweit gere-
gelt. Alle Studierenden der fünf medizinischen Fakultäten legen die glei-
che Prüfung ab. Grundlage dafür ist der Schweizerische Lernzielkatalog
(Swiss Catalogue of Learning Objectives, SCLO), der die Lernziele bis
zum Ende ihres Studiums definiert (Joint Commission of the Swiss Me-
dical Schools 2008). Den einzelnen Hochschulen steht es jedoch frei zu
entscheiden, in welchem Studienjahr sie bestimmte Themen und Kurse
anbieten. Dies spiegelt sich auch in der Verankerung der Hausarztmedizin

8 In Fribourg können Studierende einen Bachelorabschluss in Medizin erwerben,


in Neuchâtel nur das erste Studienjahr Medizin absolvieren.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


128 Corinna Jung, Peter Tschudi
im universitären Studium wider. Schwerpunktsetzungen, Lehrveranstal-
tungsangebote und -umfang sowie Formen des Unterrichtens der einzel-
nen Institute für Hausarztmedizin variieren stark.
Am Institut für Hausarztmedizin (IHAMB) in Basel unterrichtet ein
Kernteam von sechs HausärztInnen (entsprechend 1,0 Vollzeitäquivalen-
ten) jeweils etwa 170 Studierende pro Jahr und vermitteln hausärztliche
Themen in insgesamt 80 Stunden Vorlesung, 47 Stunden Gruppenarbeit
und circa 100 Stunden Einzeltutoriat (Tandjung et al. 2014; Sommer und
Ritter 2013). Bereits im ersten Studienjahr findet ein erster Kontakt der
Studierenden mit der Hausarztmedizin in Form von drei Thementagen
statt: »Ärztlicher Alltag«, »Erste Hilfe« und »Muskeln und Gelenke«.9
Die Thementage unter Organisation und Leitung von HausärztInnen tei-
len sich in der Regel in Vorlesungen und Gruppenarbeiten auf. Im zweiten
Jahreskurs begleiten Studierende im Rahmen eines Wahlpflichtfaches in
Zweiergruppen eine Patientin oder einen Patienten von der Hausarztpraxis
ins Krankenhaus und besuchen diese/n später zuhause oder am Arbeits-
platz. Bei dieser Lehrveranstaltung sollen die Studierenden zum einen ak-
tiv einen Einblick in die Aufgaben und Rollen von HausärztInnen in der
Behandlungskette gewinnen, zum anderen ein Verständnis für die mög-
lichen sozialen Implikationen einer Diagnose und Hospitalisation ent-
wickeln. Zu denken ist dabei an Auswirkungen auf das familiäre Umfeld,
Schwierigkeiten mit dem/der ArbeitgeberIn, Abhängigkeiten von Pflege-
organisationen, Angst vor Krankheitsverläufen, etc. Im dritten Studienjahr
lehren HausärztInnen in einem Unterrichtsblock namens »Lebenszykle«
verschiedene Themen wie »häusliche Gewalt« oder »Schmerzen«, wobei
auch andere Fachgebiete in die Lehre eingebunden sind.
Die Lehre im Bachelorstudium (1.– 3. Studienjahr) findet vorwiegend
in der Universität statt. Erst das Einzeltutoriat im vierten Studienjahr
ermöglicht den Studierenden Praxiskontakt. Alle Studierenden ver-
bringen im Rahmen dieser Lehrveranstaltung über eine Zeit von 20–24
Wochen wöchentlich einen halben Tag (4 h) in einer Hausarztpraxis.10
Dort kommen sie mit häufigen Gesundheitsproblemen in Kontakt, etwa
dem Auftreten von Infekten oder der Behandlung von Langzeitpatien-
tInnen. Weiter lernen sie, Normalbefunde zu erheben, verschiedene
9 Hier werden exemplarisch einige typische Lehrveranstaltungen und -formen der
einzelnen medizinischen Fakultäten aufgeführt, um einen Eindruck der dort stattfin-
denden Lehre zu geben.
10 Differenzierungsmöglichkeiten zwischen einer fach- oder hausarztmedizinischen
Ausrichtung stehen nicht zur Verfügung. Die HausärztInnen erhalten für den zeitli-
chen Aufwand Fortbildungs-Credits und eine finanzielle Entschädigung von 3.000
CHF pro Studienjahr.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in der Schweiz 129
Untersuchungsmethoden anzuwenden, einfache Laboruntersuchungen
und EKGs zu machen sowie mit Notfällen umzugehen. Außerdem er-
halten sie Unterstützung beim Erlernen und Üben sozialer und kommu-
nikativer Fähigkeiten, vertiefen ihr Wissen und steigern ihr Interesse
für die Hausarztmedizin (Banderet 2014). Die gemachten Erfahrungen
zeichnen die Studierenden während des Einzeltutoriats in einem soge-
nannten Logbuch auf (Institut für Hausarztmedizin Basel 2014).
Die LehrärztInnen in den hausärztlichen Praxen entwerfen ein Pro-
gramm, das den üblichen Anforderungen in einer Hausarztpraxis ent-
spricht und nehmen sich an jedem Nachmittag, an dem Studierende in
ihrer Praxis sind, etwa eine Stunde Zeit für Fragen und Gespräche.11
Wie externe und interne Evaluierungen zeigen, ist das Einzeltutoriat
eine sehr beliebte Lehrveranstaltung. Es erhöht deutlich die Motivation
für den Arztberuf allgemein (Isler et al. 2009b) und hebt das Interes-
se an Hausarztmedizin auf das höchste Niveau während des Studiums
(Halter et al. 2005).
Das Institut Universitaire de Médecine Générale (IUMG) in Lausanne,
in dem ein Kernteam von sechs Personen mit umgerechnet 1,3 Vollzeit-
äquivalenten für die Lehre in der Hausarztmedizin verantwortlich ist,
legt wie die Universität Basel den Schwerpunkt auf Anwendungsbe-
zug. Der Unterricht erstreckt sich ebenfalls über alle sechs Jahreskurse
und bietet den jährlich 160 Studierenden 38 Stunden Vorlesungen, 40
Stunden Gruppenarbeit und 196 Stunden in Praxen (Sommer und Ritter
2013; Tandjung et al. 2014). Die HausärztInnen unterrichten Kurse wie
»Juristische und ökonomische Aspekte in der medizinischen Praxis«
(1. Studienjahr), »Einstellungen gegenüber Intimität und Berührung«
(2. Jahr) und »Der schwierige Patient« (4. Jahr) ebenso wie »Clini-
cal Skills« mit SimulationspatientInnen (2. Jahr), »Anamnese« oder
»Kommunikationstraining« (3. Jahr) (Policlinique Médicale Universi-
taire 2014). Anders als im Studium in Basel verbringen die Studieren-
den bereits im zweiten Studienjahr einen halben Tag (4 Stunden) sowie
im dritten und vierten Jahr jeweils vier halbe Tage (16 Stunden) in einer
Hausarztpraxis. Dieser Kontakt mit dem Praxisalltag findet immer in
Zweiergruppen statt. Im fünften Studienjahr absolvieren die Studieren-
den dann ein einmonatiges Praktikum (160 Stunden) in einer Hausarzt-
praxis (Sommer und Ritter 2013; Tandjung et al. 2014).12

11 Vorschläge finden sich beispielsweise auf der Website der Universität Basel
unter https://ihamb.unibas.ch/lehre/1-ma-studienjahr/einzeltutoriat/ablauf-et.html.
12 Bisher liegen keine Daten vor, inwieweit sich der frühe Kontakt mit der Haus-
arztpraxis auf das Interesse der Studierenden an der Hausarztmedizin auswirkt.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


130 Corinna Jung, Peter Tschudi
Tabelle 1:
Zusammenfassung und Vergleich der fünf Einrichtungen
im Bereich hausärztliche Lehre – Stand Studienjahr 2013/14

Studie- Personen Vollzeit- Stunden Stunden Stunden


rende invol- äquiva- Vor- Gruppen- Praxis-
viert in lente lesung arbeit einblick
hausärzt- Einzel-
licher tutoriat,
Lehre Zweier-
gruppen
o. Ä.
Basel 170 6 1,0 80 47 100
IHAMB
Lausanne 160 6 1,3 38 40 196
IUMG
Zürich 250 11 5,15 34 10 72
IHAMZ
Bern 190 8 2,75 30 12 216
BIHAM
Genf 140 8 1,5 15 44 48
UMPR

Das Institut für Hausarztmedizin Zürich (IHAMZ) ist zurzeit das einzi-
ge Institut für Hausarztmedizinmedizin mit einem Lehrstuhl. Ein Team
mit insgesamt elf MitabeiterInnen, deren Stellenanteile einem Voll-
zeitäquivalent von 5,15 Stellen entsprechen, unterrichtet dort jährlich
circa 250 Medizinstudierende. Der angebotene Unterricht besteht aus
34 Stunden Vorlesung zu allgemeinmedizinischen Themen, 10 Stun-
den Gruppenarbeiten sowie alternierend entweder im dritten oder im
vierten Studienjahr insgesamt 36 Stunden Einzeltutoriat oder klinischer
Kurs. Der klinische Kurs findet – anders als das Einzeltutoriat – in
Zweiergruppen statt. Studierende beschäftigen sich mit dem Berufsbild
und den Kernkompetenzen von HausärztInnen, erhalten Einblick in den
Tagesablauf einer Praxis und wenden bereits erlerntes Fachwissen un-
ter Praxisbedingungen an.
Inhaltlich bietet die Universität Zürich in den ersten beiden Jahren
vorwiegend Themen wie die Rolle der Hausarztmedizin im Gesund-
heitswesen, Aufgaben von GrundversorgerInnen und Einblick in den
Praxisalltag (Institut für Hausarztmedizin Zürich 2014). Das sechste

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in der Schweiz 131
Studienjahr umfasst auch einen dreitägigen Blockkurs »Hausarztmedi-
zin«. In Form von Vorlesungen, Workshops, Referaten und interaktiven
Präsentationen deckt dieser Kurs ein breites inhaltliches Spektrum von
Themen wie Praxisorganisation, Notfalldienst, Chronic Care und Chro-
nic Disease Management bis hin zu häuslicher Gewalt und Forschung
in der Hausarztmedizin ab (ibid.). Der Schwerpunkt des Züricher Insti-
tuts liegt vor allem auf der Forschung im Bereich Hausarztmedizin.
Am Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) unterrichten acht
Personen entsprechend einem Vollzeitäquivalent von 2,75 Stellen etwa
190 Studierende Sie geben 30 Stunden Vorlesungen zu hausärztlichen
Themen, 12 Stunden Gruppenkurse und 216 Stunden in Hausarzt-
praxen. In der Universität decken die HausärztInnen in Vorlesungen
und Kursen ein breites Spektrum an klinischen Spezialgebieten ab und
unterrichten auch Kommunikationstraining und Telefonkonsultation
(Tandjung et al. 2014); der größte Teil der Berner Lehre findet jedoch
in den Hausarztpraxen statt. Bereits im ersten Studienjahr findet der
erste Kontakt mit dem Praxisalltag statt: Alle Studierenden machen ein
Praktikum von acht halben Tagen (32 Stunden) in einer Hausarztpraxis.
Auch im zweiten und dritten Studienjahr stehen jeweils acht halbe Tage
in einer Praxis auf dem Lehrplan sowie im vierten Studienjahr ein drei-
wöchiges Praktikum (120 Stunden). Im sechsten Studienjahr besteht
zusätzlich die Möglichkeit, bis drei Monate in einer Hausarztpraxis zu
absolvieren (Schaufelberger 2013).
Die hausärztliche Ausbildung in Genf wird von der Unité de Médecine
de Premier Recours (UMPR) abgedeckt. Ein achtköpfiges Team entspre-
chend 1,5 Vollzeitäquivalenten bietet hier den jährlich circa 140 Studie-
renden 15 Stunden Vorlesungen, 44 Stunden Gruppenkurse in Haus-
arztpraxen und 48 Stunden praktischen Einblick in Hausarztmedizin an.
Dabei unterrichtet es medizinische Konsultation (2. Jahr), Medical Huma-
nities13 (2. Jahr), Ethik (3. Jahr), Kommunikationstraining (3. Jahr) sowie
im fünften Jahr ein Seminar zu Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (UMPR
2014). Die erste Begegnung mit dem Praxisalltag erfolgt im 2. Studien-
jahr in Form von 4 halben Tagen (16 Stunden), weitere Einblicke in die
allgemeinmedizinische Tätigkeit im vierten und fünften Studienjahr mit
insgesamt acht Halbtagen (32 Stunden) (Tandjung 2014).

13 Medical humanities versuchen, Medizin mit Geistes- und Sozialwissenschaften


und/oder Kunst, Theater, Literatur zusammenzubringen. Ziel ist es, (wissenschaftli-
che) Methoden anderer Disziplinen kennenzulernen und dadurch eine Horizonter-
weiterung zu erreichen. Im konkreten Fall in Genf erfahren die Studierenden unter
Leitung einer Medizinhistorikerin mehr über die historische Entstehung der medizi-
nischen Konsultation. HausärztInnen ergänzen die aktuelle Perspektive.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


132 Corinna Jung, Peter Tschudi
Diese kurze Darstellung führt vor Augen, wie sehr sich die Institute
und Einheiten unterscheiden. Während in Bern, Basel und Lausanne
jedeR MedizinstudentIn im Laufe des Studiums mehr als 200 Stunden
Unterricht von HausärztInnen erhält, sind dies in Genf und Zürich nur
etwas mehr als 100 Stunden. Ebenso legen Bern, Basel und Lausanne
großen Wert auf problem-orientiertes Lernen. Die Zahl der Vorlesungen
ist daher niedrig. Stattdessen gibt es Kurse und Unterrichtseinheiten in
Praxissettings. In Zürich dagegen nehmen Vorlesungen und Gruppen-
kurse innerhalb der Universität mehr als die Hälfte der ohnehin knapp
bemessenen angebotenen Stunden in Anspruch.
Auch die Lerninhalte unterscheiden sich stark. Bei Vorlesungen
und Seminaren geht das Spektrum der Lehrveranstaltungen von Prä-
vention, kardiovaskulären Erkrankungen, erster Hilfe oder ärztlicher
Schweigepflicht bis zu Veranstaltungen mit Namen wie Lebenszyklen
oder Psyche-Ethik-Recht, die ihren Lerninhalt nicht sofort erkennen
lassen (Sommer und Ritter 2013; Tandjung et al. 2014). Während bei
den meisten Lehrveranstaltungen der medizinisch-fachliche Inhalt im
Vordergrund steht, streben Seminare wie Psyche-Ethik-Recht oder
Lebenszyklen fächerübergreifenden und interdisziplinären Unterricht
mit Beteiligung von EthikerInnen, JuristInnen, Sozialwissenschaft-
lerInnen und anderen Berufsgruppen. Mit einem so weitgefächerten
Angebot gestaltet sich die Hausarztmedizin daher in der universitären
Ausbildung sehr unterschiedlich.
Während das Staatsexamen sicherstellt, dass alle Studierenden am
Ende der Ausbildung die gleichen Lernziele erreicht haben, kann dies im
Bereich Hausarztmedizin aufgrund der verschiedenen Angebote zurzeit
nicht möglich sein. Denn wie gezeigt findet beispielsweise in Basel die
Lehre zu Muskeln und Gelenken unter Leitung von HausärztInnen statt,
während dieses Thema anderenorts die OrthopädInnen übernehmen.
Diese Heterogenität in der Lehre erschwert es, gemeinsam Strategien
zu planen um damit mehr Studierende für die Allgemeinmedizin gewin-
nen zu können. Einige strukturelle Verbesserungen sind zurzeit jedoch
bereits absehbar: In Zürich gibt es schon seit 2008 einen Lehrstuhl – und
damit eine ordentliche Professur – für Hausarztmedizin. Im September
2014 wurde am IHAMB in Basel eine ordentliche Professur eingerichtet
und in Bern ist das Berufungsverfahren für die neue Professur zur Lei-
tung des Instituts im Gange. Lausanne und Genf planen ebenfalls in den
nächsten Jahren eine Berufung (Sommer und Ritter 2013). Neben der
Berufung von Professuren für Hausarztmedizin arbeitet das IHAMB in
Basel an der Entwicklung eines gemeinsamen Curriculums für Hausarzt-
medizin (Förderprogramm der Schweizer Universitäten 2013-2016).
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in der Schweiz 133
Die politische Ausgangslage und die Ergreifung von Maßnahmen zur
Priorisierung der Hausarztausbildung

Die Hausarztmedizin in der Ärzteausbildung zu stärken, ist Teil eines


gesamtschweizerischen Aktionsplanes für hausärztliches Engagement,
der 2006 initiiert wurde und das Ziel verfolgt, bessere Bedingungen für
HausärztInnen zu schaffen und einem Ärztemangel in der Grundver-
sorgung entgegenzuwirken. Die Hausarztmedizin in der Schweiz war
über die Jahre immer mehr in den Schatten der Facharztdisziplinen
gerückt. HausärztInnen sahen sich im Vergleich zu den fachärztlichen
KollegInnen nicht nur finanziell zunehmend schlechter gestellt. Sie
hatten ungünstigere Arbeitsbedingungen bezüglich diagnostischer und
therapeutischer Möglichkeiten und müssen Nacht- und Notfalldienste
leisten; im Vergleich zu anderen Facharztdisziplinen, so die Wahr-
nehmung, wirkte Hausarztmedizin damit unattraktiver auf Studieren-
de (Stricker 2013a). Die einschneidende, nicht nur finanziell, sondern
auch diagnostisch folgenreiche Kürzung der Honorierung von Labor-
untersuchungen durch den damals zuständigen Bundesrat Pascal Cou-
chepin im Jahr 2005 bewirkte eine Mobilisierung der HausärztInnen.
2006 verfassten alle Schweizer Hausarztverbände14 gemeinsam die Peti-
tion »Gegen die Schwächung der Hausarztmedizin und gegen den drohen-
den Hausärztemangel«, die in nur drei Monaten 300.000 BürgerInnen un-
terzeichneten. Gestärkt durch eine derart positive Resonanz in der eigenen
Fachgruppe und in der Bevölkerung, organisierten die HausärztInnen eine
landesweite Kundgebung vor dem Bundeshaus in Bern mit über 10.000
Hausärzten, Praxisangestellten, Angehörigen und Sympathisanten, um
»bessere Arbeitsbedingungen«, »umfassende Mitbestimmungsrechte«
und »praxisnahe Aus- und Weiterbildung in Hausarztmedizin« zu fordern
(Stricker 2013a, b). Die fehlende Verhandlungsbereitschaft der Politik
und insbesondere des zuständigen Bundesrats bewegte die Hausarztver-
bände dazu, im April 2010 eine eidgenössische Volksinitiative15 mit dem

14 Dabei handelte es sich um die Schweizerische Gesellschaft für Allgemein-


medizin (SGAM), die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin
(SGIM), sowie die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie (SGP), die Gesellschaft
der praktischen Ärzte (FMP) und das Kollegium für Hausarztmedizin (KHM).
15 In der Schweiz können stimmberechtigte BürgerInnen eine sogenannte Volks-
initiative einreichen, um damit eine Abstimmung der Bevölkerung zu erreichen.
Voraussetzung dafür sind 100.000 Unterschriften für die Initiative innerhalb von 18
Monaten. Gelingt dies, können anschließend alle BürgerInnen über dies Begehren ab-
stimmen. Initiativen lancieren können BürgerInnen oder Interessenverbänden, nicht
aber Regierung oder Parlament.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


134 Corinna Jung, Peter Tschudi
Titel »Ja zur Hausarztmedizin« einzureichen (Stricker 2013c), um die
medizinische Grundversorgung bzw. Hausarztmedizin in der Schweizeri-
schen Bundesverfassung zu verankern. Dies gelang am 18. Mai 2014. Die
Bevölkerung stimmte mit großer Mehrheit für Artikel 117a Medizinische
Grundversorgung:

1. Bund und Kantone sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine


ausreichende, allen zugängliche medizinische Grundversorgung von
hoher Qualität. Sie anerkennen und fördern die Hausarztmedizin als
einen wesentlichen Bestandteil dieser Grundversorgung.
2. Der Bund erlässt Vorschriften über:
a) Die Aus- und Weiterbildung für Berufe der medizinischen Grund-
versorgung und über die Anforderungen zur Ausübung dieser Berufe;
b) Die angemessene Abgeltung der Leistungen der Hausarztmedizin«.

Dies soll die qualitativ hochstehende hausärztliche Versorgung der Be-


völkerung in der ganzen Schweiz auch in Zukunft sicherstellen. Bund
und Kantone stehen gemeinsam in der Pflicht und sind für eine hoch-
wertige medizinische Versorgung durch HausärztInnen verantwortlich.
Es ist ihre Aufgabe, eine gute regionale Verteilung gewährleisten und
Hausärzte bei ihrer Praxisausübung unterstützen. Die genaue Ausge-
staltung ist jedoch nicht geregelt und erlaubt starke kantonale und lo-
kale Unterschiede (GDK 2012). Vorstellbar sind verschiedene Anreiz-
modelle von Gemeinden wie die finanzielle Beteiligung der Kommune
an zinslosen Darlehen für neue Praxisräume (Christien 2012) oder die
Schaffung von Ärztezentren mit Anstellungsmodellen, die auf die Be-
dürfnisse der ArbeitnehmerInnen zugeschnitten sind, wie beispielsweise
die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit (Geiser/Siegenthaler 2012) . Weiter
sind die Förderung und Stärkung der Hausarztmedizin vor allem in der
universitären Aus- und beruflichen Weiterbildung zum/r Facha(e)rztIn
sowie eine Steigerung der Attraktivität des Hausarztberufs angestrebt,
um mehr Nachwuchs zu gewinnen.
Nach vielen politischen Aktionen, Verhandlungen und Diskussio-
nen über die Initiative und das geeignete politische Vorgehen (Stricker
2013a) hat nun der aktuell für das Gesundheitswesen zuständige Bun-
desrat Alain Berset mit Unterstützung des Eidgenössischen Parlaments
und zusammen mit den kantonalen Gesundheits- und Erziehungsdirek-
toren, dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation
und dem Bundesamt für Gesundheit sowie Vertretern der Haus- und
Ärzteschaft den sogenannten »Masterplan Hausarztmedizin« vor-
gelegt. Dieser sieht neben anderen Vorschlägen wie der finanziellen
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Primary Health Care in der Schweiz 135
Besserstellung der HausärztInnen (BAG 2012) vor, die Hausarztme-
dizin zum einen explizit im eidgenössischen Medizinalberufegesetz16
und zum anderen strukturell an den Universitäten zu verankern. Auch
besondere Formen der Lehre wie das oben erwähnte Einzeltutoriat sol-
len fester Bestandteil der Ausbildung werden. Einige Punkte des Mas-
terplans wurden bereits umgesetzt oder auf den Weg gebracht (BAG
2013).
Für die Umsetzung der im MedBG aufgeführten Zielvorgaben sind
auf Ausbildungsebene die Schweizerische Universitätskonferenz (SUK)
und auf Weiterbildungsebene das Schweizerische Institut für Weiter-
und Fortbildung (SIWF) respektive die Verbindung der Schweizer Ärz-
te (FMH) zuständig.17 Die SUK hat zusätzliche finanzielle Mittel für den
Ausbau der universitären Hausarztmedizin an allen fünf Universitäten
zur Verfügung gestellt (SUK-Programm P-10). In einem vierjährigen
Projekt zur »Konsolidierung von Lehre und Forschung im Bereich me-
dizinische Grundversorgung/Hausarztmedizin« arbeiten nun alle fünf
Einrichtungen und Institute für Hausarztmedizin bis 2016 daran, neue
Konzepte für Ausbildung, didaktische Aufbereitung, Weiterbildung,
Forschung und Nachwuchsförderung zu entwickeln.

Potenziale für eine stärkere Hinwendung zur Primärversorgung und


Maßnahmen in der Ausbildung
Die Umstrukturierungspläne können nur erfolgreich sein, wenn sich
das Verhältnis zwischen Hausarztmedizin und Gesellschaft darin wi-
derspiegelt und die gegenseitig gestellten Anforderungen berücksich-
tigt: Hausärzte müssen zum einen fachlich gut ausgebildet werden, um
auf gesellschaftliche Veränderungen wie eine alternde Gesellschaft
oder mehr multimorbide und chronisch kranke Patienten eingestellt
zu sein; zum anderen muss das Berufsziel Hausarzt/Hausärztin für
Medizinstudierende attraktiver werden. Buddeberg-Fischer et al. haben
2008 gezeigt, dass Medizinstudierende mit Interesse an einer Spezia-
lisierung in Hausarztmedizin häufig weniger karriere- als familien-
orientiert sind. Wünschenswert wären daher sowohl eine Aufwertung
des Prestiges der Hausarztmedizin, um diese auch für karriereorien-
tierte Studierende interessant zu machen, als auch erweiterte Angebote

16 Das Medizinalberufegesetz (MedBG) regelt die Aus- und Weiterbildung von


universitären medizinischen Berufen. Der Bund legt darin die obligatorischen Ziel-
setzungen für Aus- und Weiterbildung fest.
17 Die SUK ist zu finden unter http://www.cus.ch, die SIWF und die FMH beide
unter http://www.fmh.ch.

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136 Corinna Jung, Peter Tschudi
von Teilzeitstellen, um dem Wunsch angehender Ärztinnen und Ärzte18
entgegenzukommen, Familie und Karriere besser vereinbaren zu kön-
nen. Eine Erhöhung der Zahl der Studienplätze gehört ebenso dazu wie
eine ansprechendere Gestaltung von Arbeitszeiten und Notfalldiensten
(Buddeberg-Fischer et al. 2002).
Nicht zuletzt die Honorierung ist von Bedeutung, da HausärztInnen
teilweise bis zu 50 % weniger verdienen als FachärztInnen. So machten
Künzli und Strub (2012) in ihrer Auswertung der Einkommen niederge-
lassener ÄrztInnen NeurochirurgInnen mit einem mittleren Jahresgehalt
von 414.650 CHF als SpitzenreiterInnen unter den FachärztInnen aus,
gefolgt von GastroenterologInnen mit 374.350 CHF, AugenärztInnen
mit 345.150 CHF, RadiologInnen mit 339. 700 CHF und Intensivmedi-
zinerInnen mit 333.400 CHF. Im Vergleich dazu finden sich Allgemein-
medizinerInnen mit 197.500 CHF und InternistInnen mit 189.600 CHF
eher am unteren Ende der Gehaltsskala. Dass eine solche Diskrepanz
für Unmut sorgt, zeigte auch der Commonwealth Fund International
Health Policy Survey 2012, eine Befragung unter GrundversorgerInnen
in verschiedenen Industrieländern (Kraft et al. 2012). Schweizer Haus-
ärztInnen gaben an, eigentlich mit ihrem Einkommen zufrieden oder
sehr zufrieden zu sein (57 %). Im Vergleich zu den Einkommen von
FachärztInnen sank diese Zufriedenheit jedoch auf nur noch 17 %.
Gesellschaftliche Anforderungen, Veränderungen und Entwicklun-
gen wirken sich auch auf die Medizin aus. Die sogenannte Mode-2-
Orientierung, das heißt eine Hinwendung zu mehr Praxisorientierung
und inter- sowie teilweise transdisziplinärer Zusammenarbeit zeichnet
sich ab (Nowotny et al. 2003; Michaud 2012). Erkennbar wird dies
etwa an der Zunahme der oben bereits kurz angesprochenen »Medi-
cal Humanities«. So lernen beispielsweise in Genf Medizinstudieren-
de Methoden und Ansätze aus anderen Disziplinen kennen, die ihnen
helfen können, ihre Urteilsfähigkeit zu stärken und ihre Fähigkeit zum
Zuhören, ihre Offenheit, Kreativität und Neugierde auszubauen. Solche
Kompetenzen zielen auf die Verbesserung der Kommunikation zwi-
schen ÄrztIn und PatientIn ab (Louis-Courvoisier 2003). Auch sind
die Zunahme besonderer praxisnaher Unterrichtsformen, wie z. B. im
Baseler Einzeltutoriat (Isler et al. 2009b; Banderet 2014) oder die in-
terdisziplinäre Kooperation in der Lehre in den bereits genannten Ver-
anstaltungen »Lebenszyklen« und »Psyche-Ethik-Recht« Schritte in
diese Richtung. Das Einüben der Kommunikation mit PatientInnen mit

18 Die Studie von Buddeberg-Fischer und KollegInnen (2008) stellt diesbezüglich


keinen signifikanten Unterschied zwischen den Geschlechtern fest.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in der Schweiz 137
anderen AkteurInnen im Gesundheitswesen findet so vermehrt seinen
Platz in der Ausbildung von HausärztInnen.
Wie internationale Untersuchungen belegen, sind solche Lehrfor-
men ein guter Weg, MedizinerInnen für die Allgemeinmedizin bzw.
Hausarztmedizin zu begeistern (Buddeberg-Fischer et al. 2006; Isler et
al. 2009b; Tschudi et al. 2003; Henderson et al. 2002; Howe und Ives
2001). Um eine zeitgemäße Ausbildung zum/r Hausa(e)rztIn anbieten
zu können, die Studierende interessiert und sie gleichzeitig auf ihren
Berufsalltag vorbereitet, entwickelt das Basler Institut für Hausarzt-
medizin im Rahmen des bereits genannten SUK-Projektes bis 2016 ein
Curriculum für die Hausarztmedizin.
In einem aufwändigen Verfahren werden die Inhalte und Lehrformen
in Abstimmung mit allen relevanten AkteurInnen entwickelt: Dazu er-
hebt das Institut zuerst mittels einer qualitativen Bestandsaufnahme alle
hausarztrelevanten Themen in den Inhalten der Lehrveranstaltungen
der Institute und Einheiten der fünf Universitäten und stellt besonders
erfolgreiche Lehrformen zusammen. Daran schließt sich eine Bedarfs-
analyse an, die der Frage nachgeht, welchen Erwartungen und Anforde-
rungen zukünftige HausärztInnen entsprechen sollen. Das IHAMB führt
dazu Interviews mit politischen Akteuren und VertreterInnen wichtiger
gesundheitspolitischer Verbände und Organisationen (Jung und Tschu-
di 2014) Ferner umfasst dies eine Recherche erfolgreicher internationa-
ler Erfahrungen mit der Hausarztausbildung wie auch die Analyse von
Schlüsselkompetenzen für MedizinerInnen (Heyse und Schircks 2012).
Zentral ist dabei die Frage, inwiefern beziehungsweise ob Haus-
ärztInnen andere Kompetenzprofile aufweisen sollten als andere Hu-
manmedizinerInnen. Dazu werden qualitative Interviews mit jungen
BerufsanfängerInnen und erfahrenen HausärztInnen gemacht, um In-
formationen über gegebenenfalls auftretende Probleme und Schwierig-
keiten von BerufseinsteigerInnen zu erfahren. Erfahrene HausärztInnen,
die seit mehr als 10 Jahren im Berufsleben stehen, liefern Hinweise auf
die Kompetenzen, die sie brauchen, um im Praxisalltag gut zurechtzu-
kommen. Danach folgt eine Analyse der Zugangskriterien von Studie-
renden, um herauszufinden, ob oder inwiefern der in der Schweiz an
einigen Universitäten durchgeführte Eingangstest potenziellen Haus-
ärztInnen den Weg zum Medizinstudium verwehrt. Eine Erhebung un-
ter Studierenden soll klären, welche Lehrkonzepte für welche Inhalte
die größte Akzeptanz erfahren und welches Lehrpersonal (z. B. Lehr-
ärztInnen, Personen aus anderen Disziplinen) aus Studierendensicht be-
sonders geeignet erscheint. Schließlich entwirft das Team des IHAMB
auf dieser Grundlage einen Curriculum für die Hausarztmedizin, das
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
138 Corinna Jung, Peter Tschudi
mit anderen Institutionen und Einheiten der Hausarztmedizin diskutiert
und auf seine Umsetzbarkeit hin überprüft wird. Nach Abschluss dieses
Verfahrens wird das neue Curriculum an die fünf medizinischen Fakul-
täten übergeben.

Schlussbetrachtung: Gesellschaftliche Transformationsprozesse im


Spiegel der Hausarztausbildung
Der vorliegende Artikel verdeutlicht, dass HausärztInnen in der
Schweizer Gesundheitsversorgung eine zentrale Rolle übernehmen. Sie
behandeln den größten Teil der PatientInnen, sind bei diesen gut ange-
sehen und arbeiten kostengünstig. Dessen ungeachtet bleibt seit einigen
Jahren der Nachwuchs aus und es zeichnet sich mittlerweile ein Ärz-
temangel in der Grundversorgung ab. Seit einiger Zeit laufen Bemü-
hungen, die Hausarztmedizin auf verschiedenen Ebenen zu stärken und
in Zukunft mehr GrundversorgerInnen zu finden. Die HausärztInnen
haben sich organisiert und in Verhandlungen mit den zuständigen Poli-
tikerInnen einiges erreicht: Es gibt einen Masterplan Hausarztmedizin,
der Hausarztberuf ist in das Medizinalberufegesetz aufgenommen und
der Bundesrat hat eine finanzielle Zuwendung für die Grundversorgung
in Höhe von jährlich 200 Millionen Franken bewilligt. Die Schweize-
rische Verfassung verpflichtet heute Bund und Kantone, eine hochwer-
tige medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Insgesamt haben
sich somit erste Verbesserungen der Rahmenbedingungen ergeben.
Auch in der Aus- und Weiterbildung ist Vieles in Bewegung. Finan-
zielle Zuschüsse zur Konsolidierung von Lehre und Forschung im
Bereich Hausarztmedizin sind geplant und die fünf Institute arbeiten
an einer konzertierten Grundlage für mehr Interesse an der Grundver-
sorgung bis 2016. Zurzeit läuft eine umfangreiche Evaluierung des
Angebots und der Qualität der einzelnen Hausarztlehrveranstaltungen,
um die besten Lehrformate zu ausfindig zu machen und ein gemeinsa-
mes Curriculum zu erarbeiten.19 Wie gezeigt, variieren die personellen,
finanziellen, zeitlichen und organisatorischen Ressourcen und Kapazi-
täten der einzelnen Institute und Einheiten stark. Bei der Integration
eines einheitlichen Hausarztcurriculums sind daher einige Schwierig-
keiten zu überwinden. Zu hoffen ist daher, dass die bereits bestehen-
den Bachelor-Master-Strukturen sich hier vorteilhaft auswirken: Da es
eine der ursprünglichen Zielsetzungen der BA/MA-Umstellung war,
von einer Trennung zwischen Vorklinik und Klinik abzurücken und für
mehr Transparenz und Mobilität im Medizinstudium zu sorgen, sollten

19 Die ersten Ergebnisse werden voraussichtlich Ende 2014 vorliegen.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in der Schweiz 139
diese Strukturen der Einführung eines Hausarztcurriculums insofern
zuträglich sein, als dass sich damit eine Tür öffnet, kantonale Unter-
schiede leichter zu überbrücken.
Die Schweiz ist aufgrund der vielen Veränderungen im Bereich der
Grundversorgung auch für andere Länder mit Hausarztmangel interes-
sant. Besonders in Bezug auf die Ausbildung lohnt es sich, die dortigen
Entwicklungen genauer zu verfolgen. Die Antworten auf Fragen nach
den von Studierenden und Lehrenden am besten evaluierten Veranstal-
tungen, nach den besten Lernbedingungen und der wirksamsten Moti-
vation für Hausarztmedizin können auch für die Gesundheitssysteme
anderer Länder wegweisend sein.

Korrespondenzadresse:
Dr. phil. Corinna Jung MA
Institut für Hausarztmedizin
c/o Institut für Bio- und Medizinethik
Universität Basel
Bernoullistr. 28 / Raum 202
CH-4056 Basel
Tel.: +41 (0)61 267 17 82
Fax: +41 (0)61 267 17 80
E-Mail: corinna.jung@unibas.ch

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JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


144
Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen

Landärztliche Ausbildung zur Reduzierung der


medizinischen Unterversorgung auf dem Land –
Erfahrungen, Chancen, Widrigkeiten

Zusammenfassung
Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwieweit bereits das Medizin-
studium Anreize für eine spätere ärztliche Tätigkeit auf dem Lande
setzen kann. Ausgehend vom internationalen Kontext stellt der vor-
liegende Beitrag die Empfehlungen der WHO zur Verbesserung der
medizinischen Versorgung auf dem Lande und beispielhaft bisheri-
ge Ansätze und Erfahrungen aus den Flächenländern Kanada, Aus-
tralien und Neuseeland vor, die Studierende der Medizin und auch
anderer Gesundheitsberufe schon lange gezielt auf eine Tätigkeit im
ländlichen Raum vorbereiten. Daran schließen sich die Beschreibung
und Diskussion eines Pilotprojekts an, das erstmalig in Deutschland
Medizinstudierende auf dem Land mit dem Leben in dörflicher Struk-
tur und der landärztlichen Versorgung in Kontakt bringt. Der letzte
Teil beschäftigt sich im Ausblick mit der Frage der Übertragbarkeit
und Umsetzbarkeit landärztlicher Ausbildungsinhalte in deutsche
Ausbildungszentren.

Abstract
This paper explores the extent to which already medical undergradu-
ate training can create incentives for future medical practice in rural
areas. Based on the international context the paper describes the WHO
recommendations to improve medical care in rural and shows exem-
plary previous approaches and experiences of Canada, Australia and
New Zealand, where medical students and other health professionals
are being prepared for rural areas for several years. The next sec-
tion describes and discusses a pilot project in Germany that was the
first in this country to expose medical students to rural care and life
in a small village. The last section discusses the options to introduce
rural medical education into the German undergraduate curriculum
of medicine.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Landärztliche Ausbildung 145
Einleitung

Nach einer aktuellen Studie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung


(2013) fehlen zur Sicherstellung der ärztlichen Grundversorgung bun-
desweit etwa 2.600 Hausarztpraxen – die meisten davon in ländli-
chen Gegenden der neuen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern,
Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Vielerorts ziehen junge
Menschen in die Stadt, lassen sich dort ausbilden und siedeln sich an.
Zurück bleiben Menschen, die im Allgemeinen älter, ärmer, kränker
und weniger gebildet sind als ihre städtischen MitbürgerInnen (Rourke
2010; Klement et al. 2008). Dieses Phänomen führt besonders in Län-
dern mit ausgedehnten ländlichen Gebieten zu erheblichen Ungleich-
gewichten und damit zu mangelnder medizinischer Versorgung (Stras-
ser und Netsy 2010). Selbst diejenigen, die sich für eine Tätigkeit in
der hausärztlichen Versorgung entscheiden, machen zum größten Teil
ihre Weiterbildung am Ort ihres Studiums – so bleiben nach Daten der
Koordinierungsstelle Allgemeinmedizin Sachsen Anhalt (2013) knapp
60 % der WeiterbildungsassistentInnen in den beiden Universitäts-
städten Halle und Magdeburg und lassen sich nicht auf dem Land nie-
der (vgl. Abb. 1).
Da bis 2021 damit zu rechnen ist, dass 51.000 Haus- und Fachärz-
te in den Ruhestand wechseln, wird sich auch die Lage in Zukunft in
Deutschland weiter zuspitzen (Kopetsch 2010). Die Politik hat mit dem
2012 in Kraft getretenen, sogenannten Versorgungsstrukturgesetz re-
agiert, das junge ÄrztInnen unter anderem durch Abschaffung der Resi-
denzpflicht zu einer Tätigkeit auf dem Land motivieren soll (Bundesmi-
nisterium für Gesundheit 2012). Auch den medizinischen Hochschulen
kommt bei der Vermeidung dauerhafter Unterversorgung auf dem Land
eine wichtige Rolle zu. Durch gezielte Rekrutierung von Studierenden
aus ländlichen Regionen und vermehrte Ausbildungsangebote zu spe-
zifischen, haus- bzw. landarzttypischen Fähigkeiten können sie bereits
in der Ausbildung wichtige Akzente setzen (Curran und Rourke 2004).
Dies entspricht den 2010 herausgegebenen Leitlinien der Weltgesund-
heitsorganisation zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation auf
dem Land (WHO 2010). Abgesehen von Wahlfächern und einigen ver-
einzelten Initiativen1 gibt es in Deutschland bisher kaum Bemühungen,
landärztliche Themen in nennenswertem Umfang in die Ausbildung zu
1 Ein Beispiel für eine Initiative ist die »Klasse Allgemeinmedizin« der Universität
Halle. Hier wird seit 2011 eine feste Anzahl Studierende systematisch auf die Tätig-
keit eines/r Allgemeinmediziners/in und Landa(e)rztes/in vorbereitet (Langosch et
al. 2012).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


146 Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen
integrieren. In Ländern wie Kanada, Australien und Neuseeland, die
schon länger mit der Herausforderung zu kämpfen haben, ausreichen-
den Nachwuchs an ÄrztInnen und weiteren Gesundheitsberufen für
ländliche und abgelegene Gemeinschaften sicherzustellen, liegen dazu
Konzepte und Erfahrungen vor.

Abbildung 1:
Verteilung der Allgemeinärzte in Weiterbildung in Sachsen-Anhalt

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Landärztliche Ausbildung 147
Die WHO-Leitlinien zur Verbesserung der medizinischen Versorgung
auf dem Land

Im Jahre 2010 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO)


nach zweijähriger Arbeit einer fast 70-köpfigen Expertengruppe 16
strategische Empfehlungen, wie sich die medizinische Versorgung in
ländlichen Gegenden dauerhaft sichern lässt (WHO 2010). Der Text
basiert auf 40 wissenschaftlichen Studien hauptsächlich aus Australien,
Kanada und den USA, bezieht jedoch auch Erfahrungen anderer Länder
ein.2 Die Empfehlungen beziehen sich auf das gesamte Berufsspektrum
von Gesundheitsfachkräften und verfolgen das Ziel, deren Motivation
für eine Tätigkeit auf dem Land zu steigern. Die Empfehlungen sind
in vier Bereiche gegliedert: Ausbildung, Regulierungen der Arbeits-
bedingungen, finanzielle Anreize und professionelle und persönliche
Unterstützung. Der folgenden Abschnitt benennt die fünf Richtlinien
zur medizinischen Ausbildung.

A1: Studierende mit einem ländlichen Hintergrund


Die Leitlinie fordert geeignete Zugangsvoraussetzungen für Ausbil-
dungsprogramme und Universitäten, die Studierende aus ländlichen
Gebieten bevorzugen. Damit ist die Erwartung verbunden, dass sich
diese nach dem Ausbildungsabschluss dazu entscheiden, in ländlichen
Gebieten zu praktizieren. Als maßgebliche AkteurInnen bei der ent-
sprechenden Regulierung der Zugangsvoraussetzungen für die medizi-
nische Ausbildung benennt die Empfehlung das jeweilige Gesundheits-
ministerium oder die medizinischen Hochschulen.

A2: Medizinische Ausbildungsinstitute außerhalb von Großstädten


Die Empfehlung beinhaltet auch die Ansiedlung der Ausbildungsstät-
ten wie etwa eines Campus oder Instituts in ländlichen Regionen, um
wesentliche Inhalte der medizinischen Arbeit auf dem Lande direkt
vermitteln zu können. Dafür sollten das jeweilige Gesundheitsministe-
rium, die medizinische Hochschule oder lokale Behörden verantwort-

2 Die Aufdeckung der Missstände und die entsprechende Maßnahmenverteilung


des Expertenteams der WHO kritisiert eine niederländische Forschergruppe 2011
heftig: sie befand die Anzahl der zusammengefassten Studien mit 40 Stück als nicht
aussagekräftig genug, um globale Schlüsse ziehen zu können. Alle im Bereich Aus-
bildung erfassten Studien bezogen sich ausschließlich auf die Ausbildungssysteme in
Kanada und den USA. Zudem bezog das Expertenteam der WHO nicht die Kontexte
der jeweiligen Ausbildungssituation mit ein, sondern fokussierte alleine auf den Out-
put der Studien (Dieleman et al. 2011).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


148 Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen
lich sein, die Maßnahme schließt aber auch die Zulassung neuer medi-
zinischer Einrichtungen ein.

A3: Klinische Rotationen in ländliche Gegenden während des


Studiums
Studierende unterschiedlicher Gesundheitsdisziplinen sollten bereits vor
dem ersten Abschluss praxisbezogene Seminare und Praktika auf dem
Land absolvieren, da sich dies auf ihre spätere Entscheidung über den Ort
der beruflichen Tätigkeit auswirkt; dafür sind die medizinischen Hoch-
schulen und andere medizinische Ausbildungsstätten verantwortlich.

A4: Gestaltung der Curricula, die den Bedarf ländlicher Bevölkerung


widerspiegeln
Die Leitlinie befürwortet die Verankerung solcher Themen im Curri-
culum, die besonderen Bezug zum Bedarf der ländlichen Bevölkerung
haben. Dies soll sowohl die Kompetenz als auch die berufliche Zufrie-
denheit der im Gesundheitsbereich Tätigen erhöhen. Die Umsetzung
dieser Zielvorgabe liegt hier ebenfalls primär bei den medizinischen
Hochschulen und anderen Ausbildungsstätten.

A5: Ständige Möglichkeiten der beruflichen Weiterentwicklung


Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, die vom Lebensmittelpunkt gut
zugänglich sind, könnten ebenfalls größere Anreize für medizinische
Fachkräfte schaffen, dauerhaft in ländlichen Gegenden zu arbeiten. Vor
allem professionelle Vereinigungen oder Berufsverbände sowie das
Gesundheitsministerium sind aufgerufen, entsprechende Programme
ins Leben zu rufen und zu zertifizieren.

Bestehende Programme und Maßnahmen zur Integration der


landärztlichen Medizin in die Ausbildung

Kanada
Als flächenmäßig größtes Land der Erde mit sehr geringer Bevölke-
rungsdichte steht Kanada im Hinblick auf die medizinische Versorgung
auf dem Land durch qualifiziertes Fachpersonal vor erheblichen Pro-
blemen. Zur Überwindung der Mangelversorgung in den ausgedehnten
ländlichen Regionen bemühen sich die Kommunen auf verschiedene
Arten und Weisen, die Niederlassung von ÄrztInnen auf dem Land
attraktiv zu machen. Schon seit den 1980er Jahren ist die ländliche Un-
terversorgung Auslöser für anreizfördernde und strukturelle Maßnah-
men der medizinischen Hochschulen des nordamerikanischen Landes.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Landärztliche Ausbildung 149
MitarbeiterInnen der medizinischen Fakultät der Memorial University
of Newfoundland führten 2004 eine Metaanalyse bestehender Evalua-
tionen von hochschulpolitischen Maßnahmen zur Verbesserung der Si-
tuation in ländlichen Gegenden durch (Curran et al. 2004). Dabei stellte
die Forschergruppe fest, dass die gezielte Rekrutierung von Studierenden
aus ländlichen Gebieten gleichermaßen am mangelnden Interesse der
Zielgruppe und an fehlenden Angeboten der Hochschulen scheitert, ge-
zielt auf deren Bedürfnisse einzugehen. Die Studierendenzahlen belegen
eine mangelnde Repräsentation Studierender aus ländlichen Gebieten.3
WissenschaftlerInnen aus Neufundland kamen 2004 außerdem zu dem
Ergebnis, dass die Intensität und Dauer des Kontakts mit den Gegeben-
heiten auf dem Land während des Studiums ein Schlüsselfaktor bei der
Entscheidung für die Arbeit auf Land ist. Je mehr Zeit die Studieren-
den während ihrer Ausbildung auf dem Land verbrachten, desto weniger
Vorbehalte hatten sie gegenüber einer Tätigkeit in ländlichen Regionen.
Finanzielle Anreize für Studierende und junge ÄrztInnen stellten sich
bei der Metaanalyse hingegen als weniger erfolgversprechend heraus:
Sobald die mit der zusätzlichen Bezahlung eingegangene Verpflichtung
erfüllt war, zog es die TeilnehmerInnen an solchen Programmen zurück
in die Stadt. Weitaus gelungener erschienen Continous Medical Educa-
tion- und Professional Development-Programme: die Bereitstellung not-
wendiger Informationen und der erforderlichen technischen Ausrüstung
für Weiterbildung und Fernlehrgänge in der regionalen Abgeschieden-
heit bewog viele junge MedizinerInnen dazu, sich längerfristig auf eine
ländliche Tätigkeit einzulassen (Curran et al. 2004). Wie Kapadia und
McGrath (2011) feststellen, häufen Studierende aus ländlichen Gegen-
den einen höheren Schuldenberg an, machen sich größere Sorgen um die
Finanzierung ihrer Ausbildung und stehen unter größeren finanziellen
Druck als ihre KommilitonInnen aus der Stadt (Kwong et al. 2005).
Als Beispiel für erfolgreiche Maßnahmen gilt das ländliche Rotations-
programm der McMaster University in Hamilton. Studierende, die am
Mac-CARE (McMaster Community and Rural Education) Programm
teilnahmen, schnitten dabei ebenso gut ab wie ihre KommilitonInnen,
die ihr Praktikum in einer Stadt leisteten, und in Abschlussklausuren
sogar signifikant besser (Bianchi et al. 2008). Offenbar fördern Ver-
netzung und längere Aufenthalte auf dem Land, geeignete Wahlpflicht-
3 Obwohl in Kanada fast ein Drittel der Bevölkerung auf dem Land lebt, haben
nur 6 % der Studierenden einen ländlichen Hintergrund (Rourke/Newbery/Topps
2000) Weitere Zahlen besagen, dass bei einem ländlichen Bevölkerungsanteil von
insgesamt 22 % im Jahre 2000 der Anteil der Medizinstudierenden aus ländlichen
Gebieten bei 10,8 % lag (Dhalla et al. 2002).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


150 Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen
fächer und spezielle Veranstaltungen zu ländlicher Versorgung die Ent-
scheidung für eine Tätigkeit auf dem Land (Blau et al. 2009).
Die Northern School of Medicine (NSOM) in Ontario entstand 2002
mit der Absicht, den lokalen Bedürfnissen im Norden dieser kanadi-
schen Provinz zu begegnen. Dazu gehört zum einen die Integration
frankophoner und indigener Bevölkerungsteile und zum anderen die
Rekrutierung von Studierenden aus großen ländlichen Regionen und
abgeschiedenen Siedlungen. Das gesamte Curriculum ist auf die Be-
sonderheiten von ländlicher Medizin zugeschnitten: Schon im ersten
Jahr gibt es ein vierwöchiges Praktikum auf dem Land, im zweiten
Jahr zwei sechswöchige Einsätze in einer abgeschiedenen Gemeinde in
Nordontario. Das gesamte dritte Jahr findet auf dem Land statt. Bisher
liegen noch keine validen Evaluierungen vor, es ist aber davon auszu-
gehen, dass sich fast alle Studierenden einer landärztlichen Tätigkeit
zuwenden, da sie eine speziell darauf zugeschnittene Ausbildung erfah-
ren haben (Tesson et al. 2005; Kapadia und McGrath 2011; Strasser et
al. 2009; Strasser 2010).
Ein weiteres Beispiel für die Integration ländlicher Themen in das me-
dizinische Curriculum liefert die University of Alberta. Dank gezielter
Rekrutierungsmaßnahmen zur Gewinnung von Studierenden aus ländli-
chen Regionen verdoppelte sich die Zahl der Studierenden. Im Vergleich
zur üblichen Ausbildung absolvieren sie vier Mal so lange Praktika auf
dem Lande, was dazu beigetragen haben dürfte, dass mittlerweile signi-
fikant mehr ÄrztInnen auf dem Land praktizieren (Moores et al. 1998).

Australien
In Australien lebt mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung außer-
halb von Städten, Studierende aus ländlichen Regionen machen aber
nur ein Viertel aller angehenden MedizinerInnen aus (Dunbabin und
Levitt 2003; Hutten-Czapski et al. 2005). Im Hinblick auf seine Aus-
dehnung und die geringe Bevölkerungsdichte ähneln die Voraussetzun-
gen auf dem fünften Kontinent sehr stark denen in Kanada. Um einer
medizinischen Unterversorgung auf dem Land entgegenzuwirken, gibt
es im Bereich der medizinischen Ausbildung zahlreiche Programme
der Zentralregierung und der Kommunen mit jeweils unterschiedlichen
Schwerpunkten. Im Mittelpunkt stehen dabei die gezielte Rekrutierung
von Studierenden aus ländlichen Gegenden, die Förderung universitä-
rer Einrichtungen in ländlichen Gebieten, Pflichtpraktika in unterver-
sorgten Gebieten sowie finanzielle Anreize für Studierende, sich dort
beruflich niederzulassen. Der folgende Abschnitt stellt einige ausge-
wählte, bereits evaluierte Programme vor.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Landärztliche Ausbildung 151
Im Jahr 1997 startete die Flinders University in Adelaide eine erste
Initiative namens Parallel Rural Community Curriculum, die sich mitt-
lerweile auf andere Orte im Süden und Norden Australiens erstreckt.
Die Studierenden bleiben über einen Zeitraum von einem Jahr in einem
einzigen ländlichen Krankenhaus und lernen dort sämtliche Teilberei-
che der Medizin, anstatt wie ihre KommilitonInnen in den Städten durch
verschiedene Krankenhäuser und Abteilungen zu rotieren. Den Studie-
renden steht dabei vor Ort die erforderliche technische Ausrüstung für
die Vermittlung der Lerninhalte über die Distanz zur Verfügung (Flin-
ders University 2014). Trotz gewisser Erfolge des Programms, so stell-
ten Eley et al. (2012) fest, halten persönliche Lebensentscheidungen
und -umstände die Studierenden allerdings davon ab, später tatsächlich
auf dem Land tätig zu werden. Grundsätzlich gilt aber: Je mehr Zeit sie
mit ländlicher Tätigkeit verbracht haben, desto mehr Einfluss habe dies
jedoch auf zukünftige Interessen und Lebensentscheidungen.
Das 2001 entstandene Rural Clinical School-Programm, das mit
finanzieller Unterstützung des australischen Gesundheitsministeriums
und mit 17 ländlichen Zweigstellen arbeitet, stellt eine über die Re-
krutierung von Studierenden aus ländlichen Gegenden hinausgehende
wesentliche Maßnahme gegen die ärztliche Unterversorgung auf dem
Land dar. Dabei soll zumindest ein Viertel der Studierenden wenigs-
tens ein Jahr ihrer klinischen Ausbildung in ländlicher Umgebung ver-
bringen. Nach drei Jahren klinischer Praxis auf dem Land während des
Studiums – so stellte eine Studie fest – erhöhte sich signifikant die Zahl
der ÄrztInnen, die sich in ländlichen Gegenden niederließen, ebenso
wie die Zahl derjenigen, die den festen Vorsatz haben, dies in nächster
Zukunft zu tun (Forster et al. 2013, RCS 2014).
Die University of Western Sydney schickt Studierende seit einiger Zeit
im letzten Studienjahr in ländliche Regionen, damit sie dort praktische
Erfahrungen sammeln können. Dort rotieren sie zu einem/r Allgemein-
medizinerIn, in ein ländliches Krankenhaus und in eine lokale Kran-
kenpflegeeinrichtung. In einer Studie stellen die beiden australischen
Wissenschaftler Hudson Birden und Ian Wilson (2012) fest, dass diese
Kohorte Studierender sowohl fachlich als auch persönlich sehr zufrie-
den mit ihrer Ausbildung war. Gegenüber ihren KommilitonInnen in
städtischen Krankenhäusern gaben sie eine intensivere Lernerfahrung
in relevanten medizinischen Praktiken an. Dies spiegelte sich im Ab-
schlussranking wider, bei dem die Studierenden, die auf dem Land ihr
praktisches Jahr absolviert hatten, deutlich besser abschnitten. Aller-
dings hatte der ländliche Aufenthalt in diesem Fall keinerlei Einfluss
auf die spätere Wahl des Tätigkeitsortes.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
152 Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen
Die Australian National University hat zum Ziel, 25 % der Medizin-
studierenden aus ländlichen Gegenden zu rekrutieren und den gleichen
Anteil Studierender ihr praktisches Jahr außerhalb von Städten machen zu
lassen. Zudem bietet die Hochschule Wahlveranstaltungen zum Thema
landärztliche Versorgung an. Wie Lee et al. (2011) in einer Untersuchung
feststellen, waren die Studierenden der Australien National University
mit der Angebotskombination an Pflicht- und Wahlfächern bezüglich
landärztlicher Medizin sehr zufrieden. Trotz finanzieller Anreize gibt es
aber Schwierigkeiten, Studierende mit Familienanbindung in Städten auf
das Land zu versetzen. Aber die Kombination der Pflicht- und Wahl-
fächer veranlasste Studierende, die anfangs keine Ambitionen hatten, auf
dem Land zu arbeiten, dazu, dies ernsthaft in Betracht zu ziehen.
Die 1999 als einzige medizinische Hochschule im Norden Australiens
gegründete James Cook University School of Medicine (JCU) gilt als
besonderes Beispiel für die Integration ländlicher Themen und Aspekte
in die Medizinerausbildung. Das Konzept der Universität besteht darin,
angehende ÄrztInnen konkret auf die speziellen Voraussetzungen der
ländlichen Umgebung vorzubereiten und damit eine Ausbildung mit ru-
ralem, indigenem und tropischem Fokus anzubieten. Seit 2005 müssen
an der JCU alle Studierenden im sechsten Studienjahr ein achtwöchiges
Praktikum auf dem Land absolvieren. Hinzu kommt im zweiten und
vierten Studienjahr ein jeweils mindestens zwölfwöchiges Praktikum in
der ländlichen Versorgung, ergänzt durch spezielle theoretische Kurse
zu dieser Thematik. Die klinischen Verantwortlichkeiten während der
Praktika umfassen die Vollzeitversorgung stationärer und ambulanter
PatientInnen, die Erfahrung von peer-support, regelmäßigen wechsel-
seitigen Austausch innerhalb der Studierendengruppen in ländlichen
Gebieten und das Einholen von Feedback durch Supervision wie von
PatientInnen (Sen Gupta et al 2008; Viscomi et al. 2013; Hays 2001).
Eine Studie konnte den großen Erfolg dieses Konzept belegen: Im Ver-
hältnis zu anderen medizinischen Fachkräften in Australien lebt und
arbeitet eine signifikante Zahl der JCU-Graduierten in einem ländlichen
Umfeld (Sen Gupta et al. 2014). Die JCU ist neben der kanadischen
Northern Ontario School of Medicine eine der wenigen medizinischen
Hochschulen weltweit, deren erklärtes Ziel es ist, der ärztlichen Unter-
versorgung auf dem Land entgegenzuwirken (Tesson et al. 2005).
Neben den von Hochschulen initiierten Maßnahmen gibt es zahlreiche
vom australischen Gesundheitsministerium finanzierte Projekte wie das
Rural Incentive Program, das finanzielle Anreize für Studienanfänge-
rInnen, Studierende und bereits Praktizierende schafft (Ranmuthugala
et al. 2007). Auf der Website des australischen Gesundheitsministe-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Landärztliche Ausbildung 153
riums finden sich zudem Programme wie das Stipendienprogramm
Rural Australia Medical Undergraduate Scholarship (RAMUS), das
durch die Förderung von 150 Studierenden mit einem ländlichen Hin-
tergrund mit jährlich 10.000 Australischen Dollars (knapp 7.000 €) An-
reize für die Aufnahme eines Medizinstudiums schaffen will. Zudem
bietet das Ministerium verschiedene verpflichtende Programme an, um
ÄrztInnen mit finanziellen Zuschüsse zu einer Tätigkeit in bestimmten
Regionen zu bewegen; eine systematische Evaluierung dieser Program-
me ist bisher nicht erfolgt (Department of Health 2013).

Neuseeland
In Neuseeland arbeiten vier von fünf praktizierenden ÄrztInnen in Städ-
ten. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es sich bei den in ländlichem
Umfeld tätigen MedizinerInnen zum größten Teil um Frauen handelt. Die
Feminisierung des Arztberufs auf dem Land mit erhöhter Inanspruch-
nahme von Teilzeitoptionen und häufiger Mehrfachbelastung von Frauen
trägt insgesamt zu einer niedrigeren Arbeitsleistung bei. Insgesamt besteht
auf dem Land eine medizinische Unterversorgung; Abhilfe soll unter an-
derem die Rekrutierung von ÄrztInnen aus dem Ausland schaffen. Für die
Medizinerausbildung stehen zwei Fakultäten zur Verfügung: Eine auf der
bevölkerungsreichen Nordinsel in der Millionenstadt Auckland und eine
weitere in der University of Otago mit drei Standorten in Dunedin, Christ-
church und Wellington (Garces-Ozanne et al. 2011; Poole et al. 2009).
Eine Initiative zur lokalen Gewinnung zukünftiger LandärztInnen ist
die Early Community Contact Week (ECCW), bei der Studierende der
drei Standorte der Ontario University im dritten Studienjahr für eine
Woche in unterschiedlichen ländlichen Gemeinden untergebracht sind.
Wie Dowell et al. (2001) zeigen, ist bereits ein so knapper Zeitrah-
men ausreichend, um einen Eindruck von den kulturellen, sozioöko-
nomischen und medizinischen Anforderungen vor Ort zu bekommen.
Außerdem gibt es auch in Neuseeland ein Bonding Scheme, das finan-
zielle Anreize schafft in der Form, dass junge ÄrztInnen sowie für Heb-
ammen und Pflegekräfte einen Teil der Studiendarlehen nicht zurück-
zahlen müssen, sofern sie bereit sind, sich drei bis fünf Jahre lang in
abgelegenen Gegenden niederzulassen (Garces-Ozanne et al.2011).
Die Dunedin School of Medicine schickt seit 2000 Studierende in
ihrem fünften Studienjahr für sieben Wochen in ländliche Gebiete, wo
sie sowohl in der ambulanten Versorgung als auch in regionalen Kran-
kenhäusern tätig sind. Williamson et al. (2003) konnten feststellen, dass
ein solches Praktikum auf dem Land einen sehr positiven Einfluss auf
die Entscheidung hat, sich später auf dem Land niederzulassen. Bei Stu-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
154 Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen
dierenden, die selbst einen ländlichen Hintergrund aufweisen, war die
Wahrscheinlichkeit, sich später auf dem Land niederzulassen, sowohl
vor als auch nach dem Kurs höher als bei ihren KommilitonInnen.
Das 2007 gegründete New Zealand Rural Medical Immersion Pro-
gramme (RMIP) an der Otago School of Medical Sciences basiert auf den
Erfahrungen des Rural Rotation Programme in der Flinders University
in Australien und des erwähnten fünfwöchigen Praktikums der Dunedin
School of Medicine. Der Ansatz des RMIP ist die Entwicklung einer in-
novativen, patientenzentrierten Medizinerausbildung gemeinsam mit den
ländlichen Gemeinden Neuseelands. Studierende haben die Möglichkeit,
sich parallel in verschiedene Disziplinen einzuarbeiten, bei Operationen
zu assistieren, Hausbesuche durchzuführen, an der Laborarbeit teilzu-
nehmen und sich in das lokale Behandlungsteam zu integrieren. Neben
Unterstützung bei der Unterbringung und Organisation stehen ihnen
MentorInnen und technische Ausrüstung zur Durchführung eines e-lear-
ning-Programms zur Verfügung (Farry et al. 2010; Garces-Ozanne et al.
2011). Rudland et al. (2011) konnten zeigen, welchen Einfluss das RMIP
auf die Entwicklung von Fähigkeiten bei Studierenden hat: Die Teilneh-
merInnen des RMIP berichteten über größere Erfahrung und Kompetenz
bei der Untersuchung und Aufklärung von PatientInnen im Vergleich zu
ihren KommilitonInnen, die dieses Programm nicht durchlaufen hatten.

Modellprojekt Klinisches Wahlfach, »Landärztliche Medizin«


Das Institut für Allgemeinmedizin der Universität Magdeburg bot zum
Sommersemester 2014 erstmalig Studierenden der Humanmedizin ein
klinisches Wahlpflichtfach zum Thema »Landärztliche Medizin« an.
Im Januar 2014 fand ein Vorbereitungstreffen mit knapp dreißig Inter-
essierten vornehmlich aus dem vierten und fünften Studienjahr statt. Das
Hauptinteresse der Studierenden war es, sich ein Bild über eine mögliche
Zukunftsgestaltung machen, Informationen sammeln und Fragen stellen
zu können; einige wollten bestehende Pläne konkretisieren, andere Hem-
mungen und Ängste überwinden, und manch eine/r wollte seine/ihre mög-
licherweise idealisierte Vorstellung vom Leben als Landa(e)rztIn überprü-
fen. Da nur wenige Studierende HausärztInnen in ihrer Verwandtschaft
hatten, fragten viele nach dem »landärztlichen Alltag«, der beruflichen
Erfüllung und der zu erwartenden Beanspruchung. Geäußerte Gründe für
eine Tätigkeit als Landa(e)rztIn waren das Landleben, die persönlichere
Verbindung zu den PatientInnen, der Heimatort, Familie und Gemein-
schaft auf dem Land, neue Herausforderungen, Selbstständigkeit und Job-
sicherheit; dabei überwogen private die arbeitsbezogenen Motive.
Aus der Diskussion der Frage, was im Studium zur Vorbereitung auf
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Landärztliche Ausbildung 155
eine landärztliche Tätigkeit fehle, entwickelte das Institut für Allgemein-
medizin ein zwei Wochenenden umfassendes Programm. Die Auswahl
der Teilnehmenden erfolgte anhand der Motivationsschreiben. Vierzehn
Studierende (dreizehn Frauen, ein Mann) verbrachten schließlich zwei
Wochenenden in dem kleinen Ort Sieben Linden in der Altmark, um dort
unmittelbar zu erfahren, was Arbeit und Leben auf dem Land bedeuten.4
Für die beiden, jeweils von Freitagnachmittag bis Sonntagmittag dau-
ernden Wochenenden gab es ein dichtes Programm nach den Wünschen
und Fragen der Studierenden. Unter Einbeziehung verschiedener didak-
tischer Mittel wie Referaten, Interviews und Diskussionsrunden sollten
die Studierenden die Attraktivität der landärztlichen Tätigkeit kennen-
lernen; eingeladene LandärztInnen wirkten als positive Rollenvorbilder.
Dazu fanden an beiden Wochenenden moderierte Diskussionen mit ins-
gesamt neun LandärztInnen aus der Region statt, die über ihre Tätigkeit
in unterschiedlichen Praxissettings berichteten, offen über ihre Motive
und Alltagserfahrungen Auskunft gaben und Fragen zur Weiterbildung
und künftiger Niederlassung sowie Formen der Anstellung diskutierten.
Die Studierenden trainierten spezifische Kommunikationskompetenzen
in der Patientenführung und Langzeitbegleitung von Menschen oder Fa-
milien in der Gemeinde, vor allem Fragetechniken und empathische Ge-
sprächsführung. Weiterhin reflektierten sie die eigenen Vorstellungen
von der späteren ärztlichen Tätigkeit und Lebensgestaltung. Mit einem
Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt und einem
Finanzberater konnten die Studierenden finanzielle und rechtliche Fra-
gen der Niederlassung erörtern. Außerdem kamen internationale Erfah-
rungen in der landarztmedizinischen Ausbildung zur Sprache.
Jeweils am Samstagabend sahen sie zusammen mit Dorfbewohne-

4 Das Ökodorf Sieben Linden liegt im Altmarkkreis Salzwedel und gehört zum
Dorf Poppau, etwa 60 km nordöstlich von Wolfsburg und 30 km südlich von Salzwe-
del. Dort leben heute etwa 100 Erwachsene und 40 Kinder im Alter von 0 bis 74
Jahren in verschiedenen Haushaltsstrukturen zusammen, in Wohngemeinschaften,
Wohnungen und Bauwagen. Die Idee eines »selbstversorgten, ökologischen Dorfes«
entstand bereits 1989, die ersten BewohnerInnen zogen im Juni 1997 mit Bauwagen
nach Sieben Linden. Neben Strohballenhäusern ist eine weitere Besonderheit die
Verwendung von Komposttoiletten ohne Wasserspülung, welche den Wasserver-
brauch auf ca. 2/3 des Bundesdurchschnitts reduzieren und das Abwasser wesentlich
weniger belasten. Das Gemeinschaftsgebäude bietet nicht nur den BewohnerInnen
Raum für verschiedene Veranstaltungen und Begegnungen, sondern auch für Se-
minare und Wochenendveranstaltungen von Gästen. Auf ca. 3 ha Land wird ökolo-
gischer Gartenbau betrieben, der einen Großteil des Eigenbedarfs an Gemüse, Obst
und Kräutern deckt. Die Gemeinschafts- und Seminarküche stellt ausschließlich
vegetarische, größtenteils vegane Mahlzeiten her (www.siebenlinden.de).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


156 Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen
rInnen einen Teil der Trilogie »Am Puls der Hausärzte« der Schwei-
zer Ethnologin, Filmemacherin und ehemaligen Hausärztin Sylviane
Gindrat, die vier Hausärzte und zwei Hausärztinnen über ein Jahr in
ihrem Alltag begleitete.5 Praxisstrukturen, notwendige Kompetenzen,
Arbeitsbelastung und mögliche Bewältigungsstrategien waren Ge-
genstand der anschließenden Diskussion. Praktische Fertigkeiten wie
die von einem Physiotherapeuten angebotene manuelle Therapie und
Yoga unter Anleitung einer Dorfbewohnerin gehörten ebenfalls an bei-
den Wochenenden zum Programm, das eine Dorfführung abrundete.
Zudem lernten die Studierenden nicht zuletzt auch alternative Formen
des Landlebens kennen: Der Seminarort war bewusst als Beispiel für
ein ungewöhnliches Lebenskonzept gewählt. Jeder Studierende musste
anschließend einen kurzen Beitrag zu einem der an den Wochenenden
behandelten Themen verfassen, um über das Erlebte zu reflektieren.
Eine wesentliche Herausforderung bei der Seminarkonzeption bestand
darin, das Interesse der Studierenden zu wecken und die bisherige Berufs-
planung zu diskutieren, anstatt klinisches oder naturwissenschaftliches
Wissen zu vermitteln. Mit dem neuen Angebot hat das Institut für All-
gemeinmedizin der Universität Magdeburg zwar kein absolutes Neuland
betreten, wie die dargestellten internationalen Versuche zeigen, Medizin-
studierende bereits im Studium an landärztliche Medizin heranzuführen.
Bestand das Angebot in Sachsen-Anhalt lediglich aus zwei Wochenen-
den, lassen die Vorläufermodelle dieser Idee Studierende in sogenannten
»longitudinal integrative clerkships« (LIC) (Ellaway et al. 2013) bis zu
einem Jahr lang verschiedene Fächer auf dem Land praktizieren. Die LIC-
Erfahrungen zeigen als spezifische Lernerfahrung intensiverer, längerer
Patientenkontakte das Erleben langfristiger klinischer Entwicklungen, die
Einbindung in das regionale medizinische Team und die dörfliche Ge-
meinschaft sowie eine langfristige Betreuung durch erfahrene ÄrztInnen
(Couper et al. 2011). Davon war in Sachsen-Anhalt naturgemäß an zwei
Wochenenden kaum etwas umzusetzen; vielmehr orientiert sich der Mag-
deburger Kurs an Konzepten aus der Motivationspsychologie und beson-
ders am Einfluss durch Rollenvorbilder (Avery et al. 2012), der Motivation
durch praktische Kompetenz und Selbstwirksamkeitserfahrung (Bandura
1977) und der sozialen Eingebundenheit (Deci und Ryan 1985). Es ent-
stand ein Angebots-Mix aus Diskussionsrunden mit LandärztInnen, prak-
5 Der Film gibt Einblick in die alltägliche hausärztliche Praxis in der Stadt, auf
dem Land und in einem Bergtal und lässt die Komplexität der Konsultation hautnah
miterleben. Die Protagonisten sprechen im Vertrauen zur Filmemacherin, die selber
20 Jahre Hausärztin war, über die Freude an ihrem Beruf und die aktuelle Krise, die
er zurzeit durchläuft (mehr zu dem Film unter http://www.ampulsderhausaerzte.ch/).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Landärztliche Ausbildung 157
tischen Trainings zu rasch umsetzbaren Kompetenzen wie Kommunika-
tionstechniken sowie vielen Möglichkeiten des Austauschs untereinander,
alles eingebettet in eine ganz besondere Umgebung ländlichen Lebens.

Abbildung 2:
Wahrscheinlichkeit späterer landärztlicher Tätigkeit der 15 Teilnehmer
(Skala 0 unwahrscheinlich bis 10 sehr wahrscheinlich)

Wahrscheinlich-
keit einer land-
ärztl. Tätigkeit
vor Wahlfach

Wahrscheinlich-
keit einer land-
ärztl. Tätigkeit
nach Wahlfach

Das Seminar begleitete eine von den Studierenden mitentwickelte,


schriftliche Evaluation mit offenen und geschlossen Fragen, die beson-
ders auf die Erfassung der Wertschätzung, der gemeinsamen Erarbeitung
der Seminarthemen, der Bewertung der Themen, der Wahrscheinlich-
keit einer späteren Tätigkeit auf dem Land (vor und nach dem Seminar)
sowie auf Themen besonderen Interesses und Verbesserungsvorschläge
zugeschnitten war. Zusätzlich erfolgte am Ende des zweiten Wochen-
endes eine aufgezeichnete und später transkribierte Gruppendiskussion
über Motive, Erwartungen und mögliche Auswirkungen des Seminars.6

6 Folgende Leitfragen wurden in der Fokusgruppe genutzt:


1. Was waren Ihre Motive und Erwartungen an dieses Seminar?
2. Inwiefern sind diese erfüllt worden? Inwieweit wurden sie erfüllt?
3. Was hat Ihnen am Seminar besonders gut gefallen und warum?
4. Was hat Ihnen nicht gut gefallen (warum), was sollte verändert werden?
(evtl. als Nachfrage: Weiterempfehlen der Veranstaltung – warum/warum nicht)
5.Was nehmen Sie für sich aus diesem Seminar mit? Was ist Ihnen daran beson-
ders wichtig?
6. Welche Auswirkungen, glauben Sie, hat diese Erfahrung auf Ihr weiteres Stu-
dium bzw. ihre spätere ärztliche Tätigkeit?

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


158 Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen
Ergänzend wurden zu Beginn des Seminarprogramms im Rahmen einer
laufenden Promotion mit den teilnehmenden Studierenden qualitative
Interviews geführt. Nach einem halben Jahr sind erneut Interviews mit
der gleichen Gruppe geplant.
Unmittelbar nach dem Seminar hielten alle TeilnehmerInnen eine spä-
tere ärztliche Tätigkeit auf dem Land für wahrscheinlicher als vorher
(vgl. Abb. 2). Die abschließende Diskussion zeigte zum einen deutlich
die Defizite der bisherigen Ausbildung in Hinblick auf eine spätere land-
ärztliche Tätigkeit und zum anderen den Mehrwert eines solchen Semi-
nars, das Medizinstudierende in einen ländlichen Raum eintauchen lässt.
Es half Unwissen und Ängste abzubauen, bot positive Rollenvorbilder
und weckte unter Gleichgesinnten weitere Neugier und Interesse an der
Vielfalt einer ärztlichen Tätigkeit und einem Leben auf dem Land.

»Ich hatte immer nur mehr oder weniger die Schreckensgeschichten von den
Ärzten gehört, die heillos überfordert sind. Und dann jetzt zu sehen, dass es
eben nicht so ist und dass es finanzierbar ist. Und was es alles so für Praxis-
möglichkeiten gibt.«
»Das Gespräch mit den Ärzten, also, so ein Gespräch hatte ich noch nie mit
nem Arzt, das war sehr interessant und sehr informativ.«
»Sieben Linden kennen zu lernen, total spannend, auch zu sehen, was sich
hier in Sachsen-Anhalt entwickelt hat.(…) Mehr in Kontakt zu kommen mit
Menschen, die in dieser Region hier arbeiten und mehr über die Strukturen zu
erfahren … Zusammenarbeit, Dienste, Patientenklientel und so was.«
»Viele Ängste sind weg, Ängste davor, dass ich überfordert sein könnte, aber
durch die ganzen Gespräche mit den Ärzten und die vielen Gespräche unter-
einander haben gezeigt, dass es nicht unmöglich ist, ein guter Arzt zu werden
auf dem Land.«
»Es herrscht ja eine ziemliche Ahnungslosigkeit. Mein Motiv war herauszu-
finden, was man auf dem Weg braucht und wie man das umsetzen kann. Und
diese Erwartungen wurden durchaus erfüllt.«
»Endlich mal Gleichgesinnte kennenzulernen, da ist mir echt ein Stein vom
Herzen gefallen. Wenn man das so seinen Mitkommilitonen erzählt, dann hat
man erst mal so ein Riesen-Fragezeichen sich gegenüberstehen, hm, bist du
sicher und so. Und jetzt hat man endlich mal das Gefühl, man ist angekom-
men und es gibt wirklich noch Leute, die diesen Beruf machen wollen.«
»Weil die Ärzte sehr offen erzählt haben und ja auch sehr unterschiedliche
Charaktere da waren. Man vergleicht sich ja dann auch immer so ein biss-
chen, ja, so könntest du das eventuell ja vielleicht auch machen, das ist so ein
Typ, der eher so ein bisschen ist wie du.«

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Landärztliche Ausbildung 159
Die wichtigsten Erkenntnisse aus diesem Pilotprojekt lassen sich fol-
gendermaßen zusammenfassen:

Das Rollenmodell »Arzt/Ärztin auf dem Land« ist aus der


universitären Ausbildung nicht vertraut
Die wenigsten der teilnehmenden Studierenden stammten aus Landarzt-
familien, und gerade fehlende eigene Erfahrung war ein wichtiges Mo-
tiv für die Teilnahme am Landärztlichen Seminar. Die TeilnehmerInnen
erhofften sich die Konkretisierung bzw. Korrektur ihrer Vorstellungen
von »der Landärztin« bzw. »dem Landarzt«. Sehr vertraut ist die ärztli-
che Rolle im Krankenhaus. Mit diesem Berufsbild sind Studierende im
klinischen Studienabschnitt durchgehend konfrontiert, sie beobachten
KollegInnen auf den Stationen, erleben deren Berufsalltag und orien-
tieren sich an ihren Haltungen. Im Rahmen des Blockpraktikums All-
gemeinmedizin erleben sie ebenfalls vorwiegend die Sichtweise eines/r
zumeist in der Stadt niedergelassenen MedizinerIn. Das weitgehende
Fehlen des Rollenmodells »Landa(e)rztIn« schränkt die Berufsperspek-
tiven der Studierenden in Deutschland ein. Selbstverständlich können
in anderthalbstündigen Diskussionen mit LandärztInnen auf einem
Zwei-Wochenend-Seminar keine nachhaltigen Rollenvorbilder entste-
hen, aber doch zumindest eine gewisse Vorstellung davon.

Der lebensweltliche Bezug einer späteren ärztlichen Tätigkeit – Leben


und Arbeiten – zusammen diskutieren
In vielen Gesprächen während des Seminars kam das Zusammengehen
von Berufs- und Lebensplanung zur Sprache. Die Überlegung, als Ärz-
tin/Arzt auf dem Land zu arbeiten und vermutlich auch dort zu leben,
erforderte für die SeminarteilnehmerInnen eine intensive Auseinander-
setzung mit ihrer Lebensplanung. Dass sich Privates und Berufliches
in kleineren Sozialstrukturen schwerer trennen bzw. vereinbaren lässt
als in der Stadt, war allen ebenso klar wie die Tatsache dass man als
Hausa(e)rztIn auf dem Dorf diese Rolle nach Ende der Sprechstunde
nicht einfach abstreifen kann oder dass ein Verlassen einmal etablierter
Praxisstrukturen schwieriger ist als die Kündigung einer Krankenhaus-
stelle. Ohne Standardkonzepte für diese Herausforderungen zu liefern,
waren die verschiedenen Lebens- und Arbeitsmodelle der Seminargäs-
te sehr lehrreich für die TeilnehmerInnen. Sie berichteten offen über
erfolgreiche wie über gescheiterte Strategien, Leben und Arbeit unter
einen Hut zu bringen. Konkrete Beispiele füllten den zuvor abstrakten
Reflexionsprozess mit konkreten Erfahrungen und lieferten den Studie-
renden unterschiedliche Vorstellungen für die eigene Planung.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
160 Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen
Verdienstmöglichkeiten auf dem Lande sind intransparent
Die Verdienstmöglichkeiten in der Weiterbildung oder später als Fach-
oder OberärztInnen in der Klinik sind relativ transparent und öffent-
lich einsehbar. Bei Niedergelassenen ist die Informationslage ungleich
schlechter. Alle TeilnehmerInnen waren verunsichert aufgrund der
vielen, unterschiedlich motivierten Presseberichte, die sowohl die Ver-
armungsgefahr als auch die Überbezahlung von Niedergelassenen be-
schreiben. Trotz vieler offener Fragen zu Umsatz, Verdienst, Kosten,
Risiken etc. hatte noch keine/r der TeilnehmerInnen selber Niederge-
lassene nach ihrer finanziellen Lage befragt. Dabei stellte die Unsicher-
heit über die finanziellen Risiken und Chancen eine der größten Hürden
für die Studierenden dar. Die notwendigen Investitionen, der Umfang
der anfänglichen Verschuldung, die finanzielle Doppelbelastung von
Praxisgründung und anstehender Familienplanung – all diese Themen
stellen wichtige Weichen bei der Planung des Berufsweges dar. Des-
halb waren die Informationen des Finanzberaters mit konkreten Zah-
lenbeispielen sehr wertvoll für die Studierenden.

Weitgehend unbekannte, individuell gestaltbare Weiterbildung zur


Allgemeinmedizin
Während die Studierenden aus ihren Praktika gut mit dem Ablauf kran-
kenhausbasierter Weiterbildungen vertraut sind, war ihnen die örtlich,
fachlich und sektoral sehr offene und individuell gestaltbare Weiterbil-
dung zur Allgemeinmedizin weitgehend unbekannt. Es herrschte große
Unsicherheit darüber, welche inhaltlichen Schwerpunkte sinnvoll sind, ob
und wann sich welche Fächer im Krankenhaus oder in der Praxis absol-
vieren lassen und welche Unterstützungsmöglichkeiten bestehen. Da die
hausärztliche Versorgung auf dem Land ein zentraler Teil der ländlichen
Versorgung ist, gehörte die Vorstellung eines Weiterbildungsverbundes
zu den wichtigen Bausteinen der landärztlichen Lehrveranstaltung.

Verwaltung, Management und Rahmenbedingungen kennen lernen


Während die medizinischen Aufgaben niedergelassener Hausärzte
größtenteils bekannt waren, war das bei den organisatorischen Rah-
menbedingungen kaum der Fall. Kassenarztrechtliche Themen zur
Bedarfsplanung (offene oder gesperrte Gebiete), Arztsitzvergabe (Pra-
xisübernahme, Neugründung), Praxisform (Einzelpraxis, Berufaus-
übungsgemeinschaft, Praxisgemeinschaft, Filialpraxis) oder Tätigkeits-
formen (angestellt, selbständig) waren den meisten TeilnehmerInnen
unbekannt, ebenso Fragen des Praxismanagements (Abrechnung, Per-
sonalbedarf, Arbeitsaufteilung im Team, Delegationsmöglichkeiten
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Landärztliche Ausbildung 161
etc.). Dazu lieferte insbesondere der Beitrag eines Vertreters der Kas-
senärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt wichtige Fakten, die sich
durch Nachfragen bei den Ärztinnen und Ärzten vertiefen ließen.

Praktische Kompetenzen erwerben


Ergänzend zur Wissens- und Erfahrungsvermittlung über landärztliche
Tätigkeit sowie Abgleich und Reflexion eigener beruflicher und lebens-
weltlicher Entwürfe sollte auch Raum sein für den Erwerb praktischer
Kompetenzen. Die ausgewählten Fertigkeiten sollten für die Studieren-
den schnell zu erlernen, zu üben und in der weiteren klinischen Aus-
bildung anwendbar sein. Kommunikationstrainings zu Fragetechniken
und empathischer Gesprächsführung erfüllten diesen Anspruch. Diese
Techniken kamen unmittelbar in den Gesprächen mit den Seminargäs-
ten zur Anwendung. Darüber hinaus bot die Einführung in Manuelle
Therapie eine Möglichkeit, praxisnahe Kompetenzen zu erleben.

Miteinander reden
Die Studierenden beschrieben, dass sie sich mit ihrem Interesse an land-
ärztlicher Tätigkeit und Primärversorgung außerhalb des Mainstreams
ihrer KommilitonInnen befinden. Der größte Anteil der KommilitonIn-
nen ihrer Semester strebe eine fachärztliche, klinikzentrierte Weiterbil-
dung an und zeige wenig Verständnis für eine landärztliche Perspektive.
Ein Seminar unter Gleichgesinnten empfanden die TeilnehmerInnen als
Erleichterung und Bereicherung – ein solcher reflexiver Rahmen für
Studierende mit ähnlichen Perspektiven sollte mehr Raum bekommen.

Ausblick
Die medizinische Ausbildung ist weitgehend geprägt durch eine Univer-
sitätsmedizin, deren Kliniken lediglich 1 % der PatientInnen versorgen.
Diese Bedingungen sind entscheidend für die ärztliche Sozialisation.
Die Orientierung an vorhandenen wie an fehlenden Rollenvorbildern
hat großen Einfluss auf die Fachgebietswahl und Berufsplanung der
Studierenden. Zuletzt entfiel nicht einmal jede zehnte Facharztprüfung
auf das Gebiet der Allgemeinmedizin (SVR 2014). Neben Naturwis-
senschaftlerInnen an theoretischen, patientenfernen Instituten fungie-
ren vor allem in der hochspezialisierten Universitätsmedizin tätige
ÄrztInnen als Rollenmodelle, während Vorbilder aus landärztlichen
Versorgungsstrukturen, kleineren Krankenhäusern und Landarztpraxen
in der Regel kaum das Rollenbild beeinflussen.
Das Interesse Studierender und junger ÄrztInnen an einer Weiterbil-
dung im Fach Allgemeinmedizin ist seit Jahrzehnten weltweit rückläu-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
162 Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen
fig, was vor allem die Versorgung der Bevölkerung in ländlichen und
strukturschwachen Räumen gefährdet (SVR 2009; Laven und Wilkin-
son 2003). Als Einflussfaktoren für die Entscheidung über eine Tätig-
keit in der landärztlichen Versorgung gelten neben der Anwerbung von
Studierenden entsprechender Herkunft ein an den Bedürfnissen auf dem
Land orientierter medizinischer Lehrplan und Lernerfahrungen in länd-
lichen Praxen sowie das Training von spezifischen Fertigkeiten (Curran
und Rourke 2004). Wie ober dargelegt, haben Länder mit großem Be-
darf an ländlicher Versorgung (z. B. USA, Kanada, Australien, Neusee-
land) damit begonnen, verstärkt Lehrangebote in ländlichen Versor-
gungsstrukturen in die Ausbildung einzubeziehen. Diese Maßnahmen
zeigen nachhaltigen Erfolg und konnten angehende ÄrztInnen für die
Weiterbildung und ärztliche Tätigkeit auf dem Lande gewinnen.
Studienaufenthalte (Rural longitudinal integrated clerkships – Couper
et al. 2011) während der Ausbildung in ländlichen Regionen ändern
nachhaltig die Einstellung von Medizin- und PharmaziestudentInnen so-
wie von Pflegekräften und erhöhen sowohl die Motivation als auch das
Selbstvertrauen, später auf dem Land tätig zu werden (Halaas et al. 2008;
Capstick et al. 2008; Kaye et al. 2010); dies gilt auch für Studierende mit
städtischem Hintergrund (Courtney et al. 2002; Capstick et al. 2008).
Eine Arbeit von Smucny et al. (2005) konnte aufzeigen, dass 84 % der
ÄrztInnen der Meinung sind, der Studienaufenthalt habe ihnen bei der
Entscheidung für eine berufliche Niederlassung im ländlichen Raum ge-
holfen. Auch haben Studierende, die einen Teil ihrer Ausbildung auf dem
Lande absolviert haben, größere Erfahrung bei der klinischen Untersu-
chung und Patientenführung als ihre ausschließlich in einer Universitäts-
klinik ausgebildeten KommilitonInnen (Rudland et al 2011).
Eine Integration von Aspekten ländlicher Gesundheit in den Studien-
plan Medizinstudierende bereitet effektiver auf eine zukünftige Tätigkeit
im ländlichen Raum vor und ermöglicht einen besseren Zugang zu den
PatientInnen und zum klinischen Lernen (Kaye et al. 2010; Worley et al.
2000; Couper et al. 2011). Norwegen ging angesichts des akuten Ärz-
temangels im Norden des Landes sogar einen Schritt weiter und gründete
1972 in der nördlichsten Provinz die Universität Tromsø eine medizi-
nische Fakultät, um Studierenden auf die Arbeit im abgelegenen länd-
lichen Raum vorzubereiten. Von den MedizinabsolventInnen, die dort
zwischen 1996 und 2001 ihren Abschluss machten, verblieben insgesamt
95 % in Nordnorwegen (Alexandersen et al. 2004).7 Im April 2014 stellte

7 Diese Einschätzung teilt auch ein vom Sachverständigenrat für Gesundheit in


Auftrag gegebenes Gutachten (Götz et al. 2014).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Landärztliche Ausbildung 163
der Weltverband der Hausärzte (WONCA) auf seiner 12. World Rural
Health Conference im brasilianischen Gramado ein Rural Medical Edu-
cation Guidebook vor.8 Es ist gedacht als frei zugängliche Ressource, um
ÄrztInnen und Lehrenden vor dem Erfahrungshintergrund vieler Kolle-
gInnen aus ganz unterschiedlichen Regionen und Kontexten praktische
Ideen für die landärztliche Ausbildung zur Verfügung zu stellen.
Aus Deutschland sind bislang kaum derartige Erfahrungen publiziert,
obgleich der zunehmende Mangel an ÄrztInnen in ländlichen Regio-
nen unbestritten ist und unmittelbarer Handlungsbedarf besteht. Zwar
scheine nach neuesten Informationen des Medizinischen Fakultätentags
der Bundesrepublik Deutschland bei einem 5,2-prozenztigen Zuwachs
bei der Facharztentscheidung für die Allgemeinmedizin das Interesse
an hausärztlicher und ländlicher Versorgung zu wachsen; zudem steige
die Bereitschaft, in Ortschaften mit weniger als 2.000 EinwohnerInnen
zu arbeiten um 7,6 % (Lemcke 2014). Allerdings ist diese Entwicklung
noch sehr verhalten auf niedrigem Niveau und unzureichend angesichts
des in den nächsten Jahren entstehenden ärztlichen Bedarfs in ländli-
chen Regionen.
Den notwendigen Übergang von einer an den Lerninhalten der ein-
zelnen Fächer zu einer an den ärztlichen Rollen und ihren erforderli-
chen Kompetenzen orientierten Ausbildung begrüßt nach einer Eva-
luierung der bisherigen Modellstudiengänge mittlerweile auch der
Wissenschaftsrat (2014). Die Organisation von Versorgungsprozessen
soll zukünftig verstärkt in multiprofessionellen Teams und somit ar-
beitsteilig erfolgen, was die Bedeutung der Zusammenarbeit mit an-
deren Gesundheitsfachberufen und damit der interprofessionellen
Ausbildung sowie eines entsprechenden Kompetenzaufbaus erhöht.
Darüber hinaus bedarf es einer Fokussierung der verpflichtend vorge-
schriebenen Anteile des Studiums auf ein Kerncurriculum, verbunden
mit einer Reduzierung der Prüfungsinhalte in den ärztlichen Prüfungen
und der Verständigung auf einen einheitlichen Lernzielkatalog. Bei der
Fokussierung der Ausbildung ist der primärärztlichen Versorgung ein
angemessener Stellenwert einzuräumen. Neben das Kerncurriculum
müssen konsequenter als bisher die Möglichkeit zur Bildung individu-

8 In 71 Kapiteln werden von 74 Autoren die bisherigen Erfahrungen in allen


Kontinenten vorgestellt zur Umsetzung ländlicher medizinischer Ausbildung. Die
Erstellung wurde unterstützt durch die WONCA Working Party on Rural Practice,
die Northern Ontario School of Medicine, Memorial University of Newfoundland
(MUN), und die Rockefeller Foundation. WONCA (2014): Rural Medical Education
Guidebook (http://www.globalfamilydoctor.com/groups/WorkingParties/RuralPrac-
tice/ruralguidebook.aspx).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


164 Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen
eller Studienschwerpunkte und damit eine stärkere Selbständigkeit der
Studierenden im Studium treten. Eine solche Diversifizierung bereits
in der Ausbildung sollte einen Studienschwerpunkt »landärztliche Me-
dizin« möglich machen. Im Rahmen der Weiterentwicklung nach den
Vorstellungen des Wissenschaftsrats wären für Interessierte sechs- bis
zwölfmonatige Lernphasen im ländlichen Raum zu konzipieren, wie es
bereits große Flächenländer entwickelt und positiv evaluiert haben.
Konkreter sind die aktuellen Empfehlungen des 2014er Gutachtens
des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Ge-
sundheitswesen, »Bedarfsgerechte Versorgung – Perspektiven für länd-
liche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche«. Demnach sollen
medizinische Fakultäten durch freiwillige »Landarzt-Tracks« nachhal-
tig die Ausbildung im Fach Allgemeinmedizin fördern und die Hoch-
schulfinanzierung dafür pekuniäre Anreize schaffen (SVR 2014: 395).
Ziel sollte dabei ein auf sechs Monate angelegtes longitudinales, ländli-
ches, integratives Lernsemester auf dem Land sein, das ausgehend von
einer Hausarztpraxis Rotationen in lokale Krankenhäuser und andere
Facharztpraxen ebenso ermöglicht wie den Austausch mit anderen Ge-
sundheitsberufen und Sektoren (Pflege, Physiotherapie, Palliativversor-
gung etc.). In Anlehnung an das jetzige Praktische Jahr könnte am Ende
der Ausbildung eine Rotation in Hausarztpraxen, Krankenhäuser und
Facharztpraxen in einer ländlichen Region stehen.
In dem hier vorgestellten Pilotprojekt war es Medizinstudierenden
an einer deutschen medizinischen Fakultät erstmalig möglich, im klini-
schen Abschnitt ihres Studiums mit LandärztInnen in ein moderiertes
Gespräch im Kontext einer ländlichen Dorfstruktur zu treten und ihre
weiteren beruflichen Pläne im Hinblick auf eine mögliche spätere land-
ärztliche Tätigkeit zu reflektieren. Es zeigt sich, dass die Nachfrage nach
einem solchen Angebot deutlich größer war als verfügbare Teilnehmer-
plätze, die TeilnehmerInnen das Seminar durchweg positiv evaluierten
und es als wichtige Ergänzung zu ihrem sonstigen Studium sowie als
Stärkung in ihrer Entscheidung für eine spätere landärztliche Tätigkeit
erlebten. Weitere Befragungen sollen untersuchen, wie nachhaltig diese
Pläne sind. Nach Rückmeldungen der TeilnehmerInnen an dem Pilot-
seminar fehlen grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten, die für eine
Tätigkeit im ländlichen Raum erforderlich sind. Nach ihren Erfahrun-
gen ist ein solches Angebot nicht nur dauerhaft zu verankern, sondern
auch weiter auszubauen, um bereits früh im Studium Lebensräume und
Arbeitsmöglichkeiten in der Primär- und ländlichen Versorgung erfahr-
bar zu machen und zu reflektieren. Im Sinne einer frühen Heranführung
interessierter Studierender an eine spätere allgemeinärztliche Tätigkeit
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Landärztliche Ausbildung 165
ist ein additives Lehrangebot bereits zu Beginn des Studiums ebenso
erforderlich wie die Vermittlung der dafür notwendigen ärztlichen und
wissenschaftlichen Fertigkeiten.
Wesentliche Elemente von Lehrveranstaltungen zur Thematik der
ländlichen Medizin, die auf freiwilliger Basis in das gesamte Studium
integriert sind – sogenannte »Landarzt-Tracks« – sollten nach diesem
Pilotprojekt unter Einbeziehung der internationalen Erfahrungen sein:

• Frühzeitiger angeleiteter und supervidierter Kontakt mit LandärztIn-


nen und Herausbildung einer professionellen Grundhaltung;
• Verständnis und Erwerb komplexer Kompetenzen für die Aufgaben,
Arbeitsweise und Entscheidungsfindung in der Primärversorgung
und der langfristigen Betreuung von PatientInnen und ihren Familien
in der Gemeinde;
• Basiswissen in wissenschaftlicher Methodik (Versorgungsforschung
u.a.)
• Anwendungserfahrung mit Evidenzgrundlagen für die Hausarztpraxis
mit Ausbildung eines Interesses an (Versorgungs-)Forschungsfragen;
• Grundkenntnisse (haus-)ärztlicher patientenzentrierter Gesprächsfüh-
rung;
• Aufbau einer langfristigen berufsbiografischen Perspektive in der
landärztlichen Medizin;
• Förderung einer multiprofessionell orientierten Arbeitsweise im Team;
• Vermittlung von kommunikativen Kompetenzen für die Langzeit-
betreuung von Patienten.

Diese Ideen stoßen allerdings an Systemschranken, die in erster Linie


aus primär intrauniversitären Zielkonflikten entstehen. Einerseits erhält
die Universität Landesmittel zur Qualifizierung von Ärzten für die Si-
cherstellung der medizinischen Versorgung. Demnach müsste es vor-
rangige Aufgabe der Hochschulen sein, deutlich mehr Studierende für
eine allgemeinärztliche und besonders für eine landärztliche Tätigkeit zu
gewinnen. Andererseits finanzieren sich medizinische Fakultäten aber
auch durch Forschungsmittel, die zum wesentlichen Teil in Grundlagen-
forschung und hochspezialisierte klinische Forschung fließen. Die theo-
retischen, patientenfernen Institute und die hochspezialisierten Univer-
sitätskliniken, die diese Mittel akquirieren, gewinnen bereits im Studium
Studierende durch Promotionen, studentische Mitarbeit in Forschungs-
projekten oder als zukünftige AssistentInnen und vermitteln darüber
auch wesentliche Rollenmodelle für die spätere ärztliche Tätigkeit.
Außerhalb der Hochschulen ist die bestehende Kapazitätsverord-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
166 Markus Herrmann, Patricia Hänel, Eva Jansen
nung zu nennen, die es derzeit kaum erlaubt, extrauniversitäre Ver-
sorgung in die Lehre einzubeziehen, ohne dass dies eine Ausweitung
der Ausbildungskapazität bedeuten würde.9 Um der Empfehlung der
WHO (2010) nachzukommen, gezielt Medizinstudierende während der
Ausbildung in ländlichen Versorgungseinrichtungen auszubilden und
das medizinische Curriculum um den Bedarf ländlicher Gesundheit zu
erweitern, ist es zwingend erforderlich, diesen Systemschranken Rech-
nung zu tragen. Dazu ist der Gesetzgeber gefordert, die bestehende
Kapazitätsverordnung zu ändern und die Approbationsordnung so zu
überarbeiten, dass sie eine Neukonzeption des Medizinstudiums mit
einem Kern- und einem fakultativen Mantelcurriculum nach den Emp-
fehlungen des Wissenschaftsrates erlaubt.
Neben Enthusiasmus und finanziellen Ressourcen ist darüber hinaus
auch wesentliche Überzeugungsarbeit sowohl in der Politik als auch bei
EntscheidungsträgerInnen an Universitäten und Fakultäten unumgäng-
lich, um sie von der Notwendigkeit, Machbarkeit und Sinnhaftigkeit
einer Weiterentwicklung des Medizinstudiums zu überzeugen, damit
es dem aktuellen ärztlichen Versorgungsbedarf Rechnung tragen kann.
Dabei gilt es deutlich zu machen, dass die an einer universitären Kli-
nik vermittelten Kenntnisse und Fertigkeiten nicht alleine ausreichen,
auf die Versorgungsbereiche, die 99 % der Versorgung ausmachen,
vorzubereiten. Mit dem Blockpraktikum Allgemeinmedizin, das seit
2005 in der Approbationsordnung verankert ist, gehören erstmalig auch
Lehranteile im ambulanten Sektor zu den Pflichtveranstaltungen. Diese
ambulanten Anteile gilt es weiter auszubauen, zumal auch in der der-
zeitigen Versorgung stationäre Leistungen in den ambulanten Sektor
verlagert werden. Um künftig den oben beschriebenen Zielkonflikt me-
dizinischer Fakultäten zu entschärfen, bedarf es einer Ausweitung der
Lehre und Forschung universitärer Medizin auf andere Versorgungsbe-
reiche. Dazu ist es erforderlich, die möglichen Vorteile von stärkerer
regionaler Unterstützung, der Vernetzung mit ambulanten Strukturen
auch in der Fläche, der Bildung überörtlicher Zuweisernetze herauszu-
arbeiten. Zudem gilt es, größere Aufmerksamkeit in der gesundheitspo-
litischen Debatte auf solche »Pilotprojekte« zur Nachwuchsförderung,
auf die Lehr- und Professionalisierungsforschung, auf Skillstraining
und die Ausweitung der Versorgungsforschung, auf die Anbindung
9 Durch die Kapazitätsverordnung wird anhand der Bettenkapazität einer Univer-
sitätsklinik die Anzahl der Studienplätze ermittelt. Durch eine Ausweitung der Lehre
in andere Versorgungsbereiche ist ein Anstieg der Studienplätze zu erwarten, was
von Seiten der Medizinischen Fakultäten nicht gewünscht wird, sofern nicht eine
zusätzliche Finanzierung erfolgt.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Landärztliche Ausbildung 167
möglicher Forschungspraxen an medizinischen Fakultäten sowie auf
eine Verbesserung der Förderbedingungen für Drittmittelprojekten zur
Versorgungsforschung zu lenken.

Kontaktadresse:
Prof. Dr. Markus Herrmann
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Institut für Allgemeinmedizin
Leipziger Straße 44
D-39120 Magdeburg
Tel.: (0391) 6721 009
Fax: (0391) 6721 010
E-Mail: markus.herrmann@med.ovgu.de
http://www.med.uni-magdeburg.de/ialm.html

Literatur

Alexandersen, Ø.; Jørgensen, E.; Østerås, J., Hasvold, T. (2004): Medisinerutdan-


ningen i Tromsø – sikrer den legerekrutteringen til Nord-Norge? Tidsskrift for
den Norske lægeforening tidsskrift for praktisk medicin, ny række 124 (16):
2107–2109 (http://tidsskriftet.no/pdf/pdf2004/2107-9.pdf).
Avery, D.M. Jr; Wheat, J.R.; Leeper, J.D.; McKnight, J.T.; Ballard, B.G.; Chen, J.
(2012): Admission factors predicting family medicine specialty choice: a literature
review and exploratory study among students in the Rural Medical Scholars Pro-
gram. J Rural Health 28 (2): 128-136. DOI: 10.1111/j.1748-0361.2011.00382.x
(http://onlinelibrary.wiley.com/store/10.1111/j.1748-0361.2011.00382.x/asset/
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173
Heinz-Harald Abholz

Die Verdrängung des Individuums aus der Medizin


Über Kollateralschäden des Fortschritts1

Zusammenfassung
Das Individuum sollte im Mittelpunkt der Medizin stehen. Der vorliegen-
de Artikel arbeitet die Hypothese heraus, dass Entwicklungen in Medizin
und Gesellschaft, die mehrheitlich als Fortschritt gelten und diese
Wahrnehmung sicherlich auch teilweise erfüllen, auch immer zu einer
zunehmenden Verdrängung des Individuums aus dem Fokus beiträgt.
Dieser Beitrag untersucht diese Hypothese für die Team-Persönlichkeit
von ÄrztInnen, für die evidenzbasierte Medizin sowie für die Standardi-
sierung, Präventions-Orientierung und Industrialisierung der Medizin.

Abstract
The individual should be in the focus of attention of medical care. This
paper elaborates the hypothesis that developments in medicine and so-
ciety, which the majoriy considers as progress and which partly comply
with this perception, always contribute at the same time to crowd the
individual from the focus of attention. The present paper examines this
hypothesis fort he team-personality of physicians, for evidence-based
medicine, and for the standardisation, the orientation towards preven-
tion, and the indsutrialisation of medicine.

Einleitung
Der Titel dieses Artikels scheint eine Absurdität zu sein, denn Medizin
und ärztliche Tätigkeit sind in der innerprofessionellen und öffentli-
chen Wahrnehmung immer wesentlich auf das Individuum, den ein-
zelnen Patienten oder die einzelne Patientin, fokussiert. Nun gibt es
aber Entwicklungen in der Gesellschaft und in der Medizin, die faktisch
diese Fokussierung auf das Individuum bedrohen und auch schon deut-
lich zurückgedrängt haben. Es handelt sich um Prozesse, die vor Jahren

1 Stark überarbeitete und aktualisierte Fassung eines Vortrags, gehalten bei der Ta-
gung: »Standardisiert & verarmt: wie Kranke und Pflegende profitabel gemacht wer-
den« in Essen am 10. November 2012, veranstaltet von: Gen-Archiv/Impatientia e. V.

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begonnen haben und bis heute andauern. Hierbei kommen das Alte und
das sich entwickelnde Neue immer nebeneinander vor. Dies ist bei der
Lektüre der folgenden Darstellung zu beachten, sollten dem/r LeserIn
dabei gegenteilige Beispiele in den Sinn kommen.
Der Begriff Individuum im hier gewählten Kontext meint die Einzig-
artigkeit einer Person. Dies impliziert, dass sich alle Individuen in ihrem
Erscheinungsbild und ihrem Wesen unterscheiden, man nur manch-
mal – dann aber auf einige wenige Aspekte beschränkt – Identisches
findet. Dies versteht man sofort, wenn man sich z. B. vergegenwärtigt,
dass in einem Gesicht jeweils leicht unterschiedlich ausgeprägte Merk-
male von Augen, Nase, Ohren, Mund, Haaren oder Augenbrauen zu
einem einzigartigen Bild beitragen. Und das Gesicht ist nur ein Teil
dessen, was eine Person auszeichnet und damit von anderen Indivi-
duen unterscheidet – weitere Körperlichkeit, Gestik, Mimik, Sprache
etc. kommen hinzu. Gefühle und deren Ausdrucksmöglichkeiten, der
Umgang mit sich und der Welt sowie die Einbettung und das Handeln
im sozialen Raum, all dies ist ebenfalls individuell. Das Individuum
unterscheidet sich von den Anderen – selbstverständlich auch in der
Krankheit.
Lange Zeit bestand ärztliche Kunst darin, Diagnostik und Therapie
auf diese Vielfältigkeit von Individuen auszurichten (Cassel 2004).
Konzeptionell und real läuft die Entwicklung aber nachgerade auf das
Gegenteil hinaus, nämlich auf die Verdrängung des Individuums aus
der Versorgung von PatientInnen. Befördert wird diese Tendenz vor
allem durch fünf Entwicklungen der letzten zwanzig bis dreißig Jahre:
• Evidenzbasierte Medizin (EBM)
• Bürokratisierung der Medizin mit zunehmender Standardisierung
• erweiterte, über Früherkennung und Impfungen hinausgehende Prä-
ventionsorientierung der versorgenden Medizin (= Medizinische
Prävention)
• Veränderung des Arztbildes weg von einer autoritär-paternalisti-
schen hin zu einer »Team-Persönlichkeit«
• Industrialisierung der Medizin.

Evidenzbasierte Medizin (EBM)


Die Mediziner Alvan Feinstein (1985) in den USA und David Sackett
(1985) in England entwickelten unabhängig voneinander auf Grund-
lage der klassischen Epidemiologie die »Klinische Epidemiologie«, die
die Ergebnisse medizinischer Intervention in den Bereichen Diagnos-
tik, Therapie und Prävention auf eine methodisch zuverlässigere Basis
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Die Verdrängung des Individuums aus der Medizin 175
stellen sollte – und dies auch tat. Richtig erfolgreich wurde der Ansatz
der Klinischen Epidemiologie jedoch erst nach seiner »Umbenennung«
in Evidenz basierte Medizin (EBM) (Sackett 2000). EBM zeichnet sich
einerseits durch eine intensivere Popularisierung des schon in der Klini-
schen Epidemiologie enthaltenen Grundgedankens sowie die Aufnahme
von stärker praxisrelevanten Aspekten wie z. B. der sog. systematischen
Literatursuche aus, andererseits durch ein entwickeltes Studienbewer-
tungssystem auf Basis formaler methodischer Kriterien. Ausgehend von
Nordamerika und England hat EBM im Laufe der letzten fünfzehn Jahre
zunehmend – wenn auch mit deutlicher zeitlicher Verzögerung – auch
die in Deutschland praktizierenden MedizinerInnen erreicht.
Die sich aus der EBM ergebende Notwendigkeit, mittels methodisch
hochwertiger Studien den Nutzen einer diagnostischen, therapeutischen
oder präventiven Maßnahme nachweisen zu müssen, bevor man sie ge-
nerell bzw. einzelnen PatientInnen empfehlen kann, steht heute nicht
mehr in Zweifel, sie ist gleichsam zu einem nicht mehr diskutierbaren
Paradigma geworden. Allerdings hängt die Auslegung »methodischer
Zuverlässigkeit« oft von der jeweiligen Interessenlage des Bewerten-
den ab, wie man an unterschiedlichen Bewertungen von Interventionen
auf Basis identischer Studien sehen kann. Das Urteil darüber, wie es
um die »methodische Qualität« einer Studie bestellt ist und was auf-
grund des Designs der Studie aus ihren Ergebnissen für den Alltag der
Versorgung abgeleitet werden kann, kann also nach wie vor nicht um-
standslos als »objektiv« und eindeutig betrachtet werden. Allerdings
ist der Korridor, innerhalb dessen sich argumentativ »streiten« lässt,
sowohl enger als auch deutlich transparenter geworden. Ein Beispiel ist
das Mammografie-Screening, das eine der bestuntersuchten medizini-
schen Interventionen darstellt, zu dessen Wirksamkeit es aber weiterhin
konträre Einschätzungen gibt (Gøtzsche 2013; Independent UK Panel
2012).
Die reale Umsetzung von EBM im klinischen Alltag und in der Ge-
sundheitspolitik fokussiert fast ausschließlich auf Studienergebnisse
und somit auf statistische Aussagen über Gruppen. Dies war so von
den »Vätern« der EBM durchaus nicht gewollt, bei Sackett z. B. heißt
es noch, dass immer die »beste verfügbare Evidenz« zu nutzen sei, die
eben auch in klinischer Erfahrung bestehen könne. Davon haben sich
die Argumentationen und Entscheidungen in der medizinischen Praxis,
der Gesundheitspolitik und der Gesundwissenschaft spürbar entfernt,
etwas anderes als »gesicherte« Erkenntnisse aus Studien scheint hier
inzwischen kaum noch zu zählen (Muir Gray 2001).
Hinzu kommt, dass dabei – und ebenfalls anders als von den Vätern
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der EBM vorgeschlagen – das Problem der Übertragbarkeit von Stu-
dienbefunden, also Gruppenergebnissen, auf einzelne PatientInnen
gar nicht zur Sprache kommt. Bei Sackett (2000) hingegen gehörte zu
EBM immer auch das »Herunterbrechen« von Gruppenergebnissen
auf den oder die Einzelne/n, welches gerade die »ärztliche Kunst« aus-
mache. Eine unverzichtbare Aufgabe besteht darin, die Vielzahl von
Informationen, die man zu einer Person hat – bzw. die Erfahrungen
mit ihr oder mit »ähnlichen Fällen« – integrierend in die Beurteilung
einer Krankheitssituation einfließen zu lassen (Reeve 2010). In der All-
gemeinmedizin wird dies als »Hermeneutisches Fallverständnis« be-
zeichnet und als einzig adäquater Zugang zu einer Problemlösung in
komplexen Versorgungssituationen mit zahlreichen Einfluss nehmen-
den Einzelfaktoren angesehen (Abholz 2012). Das Ergebnis dieses Pro-
zesses wird dann mit dem Wissen des Arztes oder der Ärztin – darunter
auch Aussagen medizinischer Leitlinien – abgeglichen. Im Mittelpunkt
steht dabei jeweils die Frage, ob und inwieweit sich etwas genauso bei
einem bestimmten Individuum anwenden lässt, wie es sich in Gruppen
(also aus Studien bekannt) als erfolgreich gezeigt hat.
Dieser Vorgang ist immer potenziell fehlerbehaftet, weil die konkre-
ten Entscheidungsschritte nicht unmittelbar mit Studien begründet wer-
den können, deren Teilnehmer ja keineswegs identisch mit dem Indivi-
duum sind, das es zu behandeln gilt (Abholz 2000, 2008). Das erwähnte
»Herunterbrechen« ist aber ohne Alternative, wenn man den Anspruch
des Individuums auf eine »Behandlung für sich« nicht zugunsten einer
uniformen »ent-individualisierten« Behandlung – so wie aus gruppen-
bezogenen Studienergebnissen ableitbar – vollends verraten will.
Aus meiner jahrzehntelangen Erfahrung in der Aus-, Weiter- und der
Fortbildung sowie als Patient kann ich aber sagen: ÄrztInnen, die sich
heute ja zunehmend auf EBM beziehen, richten ihr Versorgungshandeln
meist direkt und ungebrochen an Leitlinien oder Studien aus. Mögli-
cherweise aus Angst vor der potentiellen Fehlerhaftigkeit des Prozesses
einer »Übersetzung« auf den oder die Einzelne/n nehmen sie diese –
in dem Maße, wie EBM den Versorgungsalltags durchdringt – immer
seltener vor. Damit vertreten sie faktisch, wenn auch nicht unbedingt
explizit, eine Position, die sich konzeptionell nicht mehr vorrangig auf
den einzelnen Patienten oder die einzelne Patientin bezieht, sondern auf
die »Individuen-lose« Gruppe. Erfahrene und zumeist auch schon älte-
re ÄrztInnen hingegen spüren diese Diskrepanz zwischen Leitlinien-
Vorgabe (auf Basis von »Gruppenergebnissen«) und der besonderen
Konstellation des »Einzelfalls« immer noch. Von ihnen ist dann nicht
selten zu hören: Nach Leitlinie müssten Sie …, aber ich kann verstehen,
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dass … Oder: Wir müssen es in den Arztbrief aber so schreiben, wie es
in den Leitlinien steht; machen können Sie es ja auch anders.
Leitlinien, verstanden als Zusammenfassung von Ergebnissen aus
Studien hoher methodischer Qualität, werden heute zu Wahrheiten
bzw. »Standards« erklärt – spätestens vor Gericht. In den Köpfen der
ÄrztInnen passiert dies ebenfalls – allerdings nicht nur wegen der Ge-
richte, sondern auch deswegen, weil sich Leitlinien durchaus als reale
Hilfe für das eigene Handeln anbieten. Leitlinien gibt es zu bestimmten
Diagnosen oder zu speziellen (diagnostischen oder therapeutischen) Fra-
gestellungen mit Bezug auf eine solche Diagnose. Eine Diagnose stellt
jedoch immer eine massive Vereinfachung dar gegenüber der Vielfalt,
in der die Art, die Schwere und der Verlauf einer Erkrankung sowie das
Leiden der betroffenen PatientInnen ausgeprägt sind. Derartige Kate-
gorisierungen sind hilfreich und notwendig, aber sie reduzieren deut-
lich, was eigentlich vorliegt – auch im Falle einer Ausdifferenzierung
in diagnostische Unterkategorien (Graduierungen einer COPD, unter-
schiedliche Formen einer Anämie, variierende Verlaufsformen bei einer
MS etc.). Die einer solchen spezifischeren Unterkategorie zuzuordnen-
den Personen sind dennoch, schon rein medizinisch gesehen, »unter-
schiedlich krank«, abgesehen davon, dass sie mit der Krankheit auch
noch auf z. T. recht unterschiedliche Weise umgehen (Abholz 2014).
Die Tatsache, dass diese empirische Vielfalt für den/die forschende/n
MedizinerIn als Confounder, als störende Faktoren bei der Auswer-
tung, gilt, schlägt sich auch in den Studien-Designs nieder. Die Zu-
sammenstellung der Studiengruppen erfolgt sehr selektiv und aus den
genannten Gründen durch Festlegung einer Vielzahl von Kriterien für
PatientInnen, die von der Teilnahme an der Studie auszuschließen sind
(bestimmtes Alter oder Geschlecht, bestimmte Komorbiditäten, länge-
re Krankheitsdauer etc.). Klinisch-epidemiologische Studien umfassen
daher in der Regel Gruppen von PatientInnen, die in dieser Zusammen-
setzung im Behandlungsalltag kaum vorkommen. Nicht selten reprä-
sentieren Studienkollektive daher nur 10 % der realen PatientInnen mit
dem untersuchten Krankheitsbild (Abholz 2000).
Wissenschaftliche Medizin reagiert also auf das Problem der empiri-
schen Vielfalt des Krankheitsverlaufs sowie der Einflüsse hierauf not-
wendigerweise mit der Schaffung »idealisierter« Krankheitskollektive.
Dies darf man nie vergessen, wenn man von vielfältigen Studienergeb-
nissen auf die Gesamtheit der Personen mit einem Krankheitsbild schlie-
ßen will – ohne eine individualisierende »Übersetzung« geht es nicht.
Schließlich gibt es noch ein Problem bei der Leitlinien-Anwendung:
PatientInnen sind oft – im höheren Alter sogar mehrheitlich – multi-
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morbide. Multimorbidität kann aber ein einzelnes Krankheitsbild deut-
lich überformen und somit dessen leitliniengetreue Behandlung verun-
möglichen. Auch sind in Leitlinien für ein spezifisches Krankheitsbild
bestimmte Behandlungen ausgeschlossen (kontraindiziert), die gerade
für eine andere, unter Umständen gleichzeitig bestehende Krankheit als
indiziert vorgegeben sind (Boyd 2005).
All dies macht deutlich, dass bei der Behandlung von PatientInnen im-
mer eine »Rückübersetzung« von Leitlinien-Wissen auf den Einzelfall
erforderlich ist, da die den Leitlinien zugrunde liegenden Studien ihre
Befunde an zwar sinnvoll zusammengestellten, aber gleichwohl »arti-
fiziellen« Gruppen von PatientInnen gewonnen haben. Insbesondere
unerfahrene ÄrztInnen dürften die Notwendigkeit einer solchen Über-
setzungsleistung aber oftmals als Bedrohung eigener Handlungssicher-
heit erleben. Dabei werden ihnen nämlich Urteile und Entscheidungen
abverlangt, die eine komplexe Vielfalt von (meist nicht quantifizierba-
ren) Faktoren zu berücksichtigen haben, deren Interaktionsmuster man
nicht – zumindest nicht vollständig – kennt (Abholz 2012; Donner-Banz-
hoff 2014). Hiervon können sich ÄrztInnen subjektiv entlasten, indem sie
eine in die Form einer Leitlinie oder eines Qualitätsindikators gegossene
EBM-Vorgabe umstandslos und schematisch als »das Richtige« auch für
die konkrete Person erachten, die als PatientIn vor ihnen sitzt.
In Bezug auf das Befolgen von Leitlinien gibt es noch eine weitere –
ethische – Problematik. Wenn Studienergebnisse für eine medizinische
Intervention einen Nutzen – oder eben auch keinen Nutzen – belegen,
dann bezieht sich dies immer auf die Gesamtgruppe der Behandelten,
bestenfalls auf zwei oder drei analysierte Untergruppen. Hat nun eine
Studie keinen Nutzen der Behandlung X nachgewiesen, so heißt dies,
dass im Vergleich zur Kontrollgruppe zu wenige Personen aus der Be-
handlungsgruppe von der Intervention profitiert haben und folglich
kein statistischer Nutzennachweis zu erbringen war. In allen Studien
mit negativem Gesamtergebnis gibt es aber immer auch einige, die den-
noch von der Behandlung profitiert haben – nur stellen sie eben eine,
statistisch gesehen, zu kleine Minderheit dar. Befolgt man eine Leit-
linie, die das betreffende Studienergebnis zur Basis einer Empfehlung
gegen die Behandlung X macht, wird diese für den Einzelnen so wich-
tige Tatsache einer bestehenden Minderheit von Menschen, die von der
Behandlung aber profitieren, negiert – zum Nachteil der Personen, die
dieser Minderheit angehört (Abholz 2000; Abholz und Egidi 2009).
Trotz der skizzierten Probleme ist EBM als Fortschritt bei der Ver-
wissenschaftlichung der Medizin anzusehen: An die Stelle des Handelns
nach überliefertem oder qua Amt autorisiertem Wissen ist zunehmend
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die Begründung durch rational überprüfbare Studienbelege getreten.
Ebenso klar ist aber, dass die mehrheitlich praktizierte Anwendung von
EBM als »Rezept« für alle unter ein gemeinsames diagnostisches Label
subsumierten individuellen PatientInnen einen unreflektierten Umgang
mit Studienergebnissen bedeutet. Das in Qualitätsindikatoren gefasste
schematische Bemessen »guter Versorgung« an der Umsetzung von
Studien-Wissen stellt das sozial-rechtlich höchst problematische Ex-
trem hiervon dar (Abholz und Egidi 2009). Verwissenschaftlichte Me-
dizin – daran muss festgehalten werden – ist eben nicht unmittelbar in
eins zu setzen mit alltagstauglicher Medizin für den einzelnen Patienten
oder die einzelne Patientin.
Immerhin sprechen neuere Entwicklungen im Bereich medizinischer
Leitlinien für eine Zunahme diesbezüglichen Problembewusstseins.
Die Nationale Versorgungsleitlinie zur Diabetes 2-Therapie (Bundes-
ärztekammer et al. 2013) teilt dem Leser zwar noch mit, was aus rein
medizinischen Gründen das Optimum darstellt, gibt aber als übergeord-
netes Ziel an, dass mit den PatientInnen »individuelle Therapieziele« zu
vereinbaren sind, die der Vielfältigkeit sowie den Präferenzen der Be-
handelten Rechnung tragen. In ähnlichem Sinn wird die Notwendigkeit
zur Berücksichtigung individueller Besonderheiten der PatientInnen
und ihrer Wünsche auch in den neuen US-amerikanischen Leitlinien zu
Hochdruck und zu Cholesterin (Krumholz 2014) sowie zu Screenings
auf Prostata- (Hayes und Barry 2014) und Mamma-Karzinom (Pace
2014) hervorgehoben.

Standardisierung und Bürokratisierung


Seit Anfang des letzten Jahrhunderts, vor allem aber seit den 1950er
und 1960er Jahren, ist in der Medizin und der Gesundheitsadministra-
tion eine sich verstärkende Tendenz zur Standardisierung auszumachen
(Timmermans 2003). Von besonderer Bedeutung waren in diesem Zu-
sammenhang verschiedene Untersuchungen zur Varianz von Behand-
lungsmethoden bei identischen Diagnosen in den Händen unterschied-
licher Versorgungs-AkteurInnen. Gründe für diese Untersuchungen
ergaben sich sowohl aus dem Problem der Ressourcenknappheit (un-
terschiedliche Behandlungen kosten unterschiedlich viel, aber es wird
angenommen, dass nur eine Therapie richtig oder effektiv sein könne)
als auch aus der Funktion staatlicher Bürokratie, Gleichheit vor dem
Gesetz sowie gleiche Zugänglichkeit von Versorgungsleistungen zu
gewährleisten.
Will man die – als Zeichen von Über- oder Unterversorgung gewer-
tete – Varianz des Versorgungsgeschehens verringern, führt an Stan-
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180 Heinz-Harald Abholz
dardisierung kein Weg vorbei. Standards (der richtigen Behandlung)
basierten anfangs auf dem »Stand des Wissens« und später, seit der
Verwissenschaftlichung der Medizin, auf den Vorgaben der EBM (Berg
1997; Timmermans und Berg 2003). Was mindestens erheblich vom
Standard abwich, war demnach Ausdruck »fehlerhafter« Versorgung;
die Ausrichtung auf den Standard hingegen wurde als gleichbedeutend
mit einer Qualitätsverbesserung angesehen. Spätestens in den 1980er
und 1990er Jahren wurde aber deutlich, dass derartige Standards bei-
spielsweise für die Beurteilung von Krankenhäusern nicht besonders
tauglich sind, denn sie berücksichtigen nicht angemessen das soziale
Umfeld im Einzugsgebiet der Krankenhäuser, die Besonderheiten von
Universitätskliniken und ähnliche Faktoren, die erheblichen Einfluss
auf die gewählte Behandlungsmethode bei PatientInnen mit gleicher
Diagnose haben.
Die erfolgreiche Durchsetzung der Standardisierung war nur durch
das Zusammenspiel von bürokratietypischem Erfassungs- und Steu-
erungsbestreben – wenn auch oft mit Ziel gerechter Verteilung von
Mitteln – und einer rasanten informationstechnologischen Entwicklung
möglich. möglich. Die zentrale Rolle, die der Fortschritt bei der Da-
tenverarbeitung – von Lochkartensystemen über Personalcomputer bis
hin zu komplexen digitalen Netzwerken – in diesem Zusammenhang
gespielt hat, ist bei Timmermanns und Berg (2003) sowie Berg (1997)
eindrücklich beschrieben.
Der Bürokratisierung der Medizin unter Nutzung gut handhabbarer,
heute oft als »Qualitätsindikatoren« bezeichneter Standards haftet
durchaus auch etwas Vernünftiges an, schließlich möchte eine Gesell-
schaft nicht für Dinge zahlen, die nicht »dem Stand der Medizin«, also
dem »Richtigen«, entsprechen. Diese Standards per se für das (einzig)
»Richtige« zu nehmen, kann jedoch selbst zur Gefährdung einer ad-
äquaten Versorgung werden (Abholz 2009).
Nicht wenige MedizinerInnen scheinen das auch zu spüren, ein Hin-
weis darauf könnte die weitverbreitete sogenannte ärztliche Non-Com-
pliance gegenüber Leitlinien sein. Van den Bussche et al. (2013) haben
bei NeurologInnen und PsychiaterInnen untersucht, inwiefern Standards
der Demenzleitlinie der eigenen Fachgesellschaft eingehalten werden.
Erstaunlicherweise veranlassen diese FachärztInnen nur bei etwa einem
Drittel der ihnen zur Abklärung überwiesenen PatientInnen mit spä-
terer Demenzdiagnose ein bildgebendes Diagnostikverfahren (Compu-
ter- oder Magnetresonanztomografie) – nach geltender Leitlinie wäre
dies aber bei allen PatientInnen mit Demenzverdacht indiziert. Dazu
ist anzumerken, dass sich die Sinnhaftigkeit einer solchen, vergleichs-
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Die Verdrängung des Individuums aus der Medizin 181
weise aufwändigen und kostspieligen Diagnostik bei jedem Patienten
und jeder Patientin mit Verdacht auf Demenz in der Tat unterschiedlich
beurteilen lässt, denn die Betroffenen sind mehrheitlich hochbetagt und
multimorbid, so dass für mögliche therapeutische Konsequenzen aus
der bildgebenden Diagnostik zahlreiche Kontraindikationen bestehen.
Derartige Beispiele finden sich auch bei vielen anderen Leitlinien und
Fachgruppen. Den oben dargestellten Tendenzen einer Durchdringung
ärztlichen Handelns mit EBM zum Trotz steht bei vielen niedergelasse-
nen – vor allem älteren – ÄrztInnen ganz offensichtlich immer noch die
klinische Entscheidung nach individuellen Kriterien vor der Befolgung
von Standards, die oft als zu rigide und zudem als Ausdruck von »Spar-
Interessen« gelten (Karbach 2010).

Präventions-Orientierung der versorgenden Medizin


Individualisierende bzw. personalisierende Medizin steht und fällt
damit, ob eine individuelle Beurteilung aufgrund einer individuell un-
terschiedlichen äußeren Ausprägung von Krankheit und Gesundheit
überhaupt möglich ist. Bei Krankheiten mit Symptomen ist dies der
Fall. Sowohl ÄrztInnen als auch PatientInnen beurteilen anhand von
Symptomen, ob etwas »anspricht« oder nicht: Führt ein Therapieansatz
nicht zur gewünschten Änderung, kann man ihn wechseln oder ergän-
zen. Eine solche Symptom-Orientierung erlaubt(e) es meist auch, die
Beurteilung des Erfolgs einer Behandlung in überschaubaren Zeiträu-
men vorzunehmen. Bei der Betreuung von PatientInnen mit symptoma-
tischen Erkrankungen ist damit immer eine Art von Kommunikation
erfolgt, deren Inhalt das individuelle Ansprechen auf eine Behandlung
bzw. die Notwendigkeit einer individuell ausgerichteten Veränderung
oder Erweiterung der Behandlung war.
Mit zunehmender Orientierung der versorgenden Medizin in Rich-
tung auf medizinische Prävention, die klassische Früherkennung und
Verhaltensprävention ebenso beinhaltet wie das »vorbeugende Han-
deln« bei allen anderen medizinischen Maßnahmen, ist ein Wandel ein-
getreten: Es geht nun immer öfter um die Erkennung und Behandlung
der Früh- oder Vorformen von Krankheit bzw. von bloßen Risiken für
mögliche Erkrankungen, ohne dass Symptome vorliegen (Entfernung
von gutartigen Polypen im Rahmen einer Darmspiegelung, vorzeitige
medikamentöse Therapie eines gestörten Zucker- oder Fettstoffwech-
sels oder Behandlung auch einer asymptomatischen Refluxösophagitis
etc.). Immer geht es hier nur um statistisch belegte Risiken für die Grup-
pe der Merkmalsträger – die aber in ihrer Mehrheit, trotz des (meist
gering) erhöhten Gruppenrisikos, später gar nicht erkranken.
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182 Heinz-Harald Abholz
Dies ist insbesondere bei der klassischen Früherkennung ein gra-
vierendes Problem (Abholz 2010). Faktisch geht es dabei in manchen
Bereichen – z. B. dem Mammografie-Screening – um eine »Gruppen-
behandlung«, denn die einzelne Teilnehmerin hat fast nie etwas davon
zu erwarten – zu gering ist der auf eine Person herunter gerechnete Nut-
zen: Von 2000 Frauen, die zehn Jahre lang am Mammografie-Scree-
ning teilnehmen, profitiert nur eine in der Form, dass sie nicht an einem
Mamma-Karzinom verstirbt (Gøtzsche 2013).
Die zunehmende Hinwendung zur Behandlung von Risikofaktoren
und Krankheitsvor- oder -frühformen sowie zur Früherkennung, also
die gesamte Ausweitung der Medizinischen Prävention im Alltag von
ÄrztInnen und PatientenInnen, führt dazu, dass der Zeithorizont, in-
nerhalb dessen Erfolge oder Misserfolge bezüglich Morbidität und
Mortalität an dem/der Einzelnen feststellbar sind, enorm »gedehnt«
ist (Abholz 2010) und der Patient bzw. die Patientin sich nunmehr als
»RisikoträgerIn« erleben. Dies war einer der Gründe (wenn auch nicht
der wichtigste) dafür, das Mammografie-Screening in Deutschland
speziellen Zentren zu überantworten, denn hier konnte durch die Zu-
sammenfassung der »Ergebnisse« einer Vielzahl von Untersuchten der
Nutzen (oder Nicht-Nutzen) des eigenen professionellen Handelns für
die dort Arbeitenden wieder in sinnstiftender Weise »fassbar« gemacht
werden (Abholz 1993). Auf der individuellen Ebene hingegen kann der
Arzt oder die Ärztin dem Patienten bzw. der Patientin bestenfalls sa-
gen, welche Risikoreduktion er/sie bei einer bestimmten medizinischen
Maßnahme als Mitglied einer Risikogruppe statistisch erwarten kann –
und dieser Interventionsnutzen ist, bezogen auf die einzelne Person, im
Bereich von Früherkennung sehr gering.

Wandel des Arztbildes


Unter autoritativ-paternalistisch sind Menschen zu verstehen, die
selbstsicher und sich des Richtigen und Falschen gewiss handeln und
dabei meist pragmatisch abwägende Entscheidungen für sich und für an-
dere selbstverantwortlich treffen. Als ÄrztInnen sind diese Personen in
der Lage, aus den von ihnen erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten
heraus entscheidungsfreudig zu agieren. Auch in Behandlungssituatio-
nen, die durch hohe Unsicherheit geprägt sind, gilt für sie das Prinzip:
Entscheidungen sind erforderlich und müssen auf der Grundlage der ak-
tuell verfügbaren Informationen gefällt werden. Nicht die Partizipation
des Patienten oder der Patientin, sondern paternalistisches Handeln für
diese/n stehen dabei im Vordergrund. Und wenn, etwa in besonders leid-
vollen Situationen, sehr viel Nähe zur behandelten Person zu entstehen
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»droht«, wissen sich ÄrztInnen dieses Typs in der Regel gut abzugren-
zen, um nicht in den »emotionalen Strudel« des Gegenüber zu geraten.
Anders bei der »Team-Persönlichkeit«, die als Ausdruck eines über-
greifenden, langfristigen gesellschaftlichen Prozesses der Flexibilisie-
rung von Arbeits- und Lebensformen und des Wertewandels begriffen
werden kann. Bei den solchermaßen charakterisierbaren ÄrztInnen ste-
hen die Gleichberechtigung und Autonomie des Gegenüber (Entschei-
dungs-Partizipation) sowie das Hinterfragen der eigenen ärztlichen
Kompetenz im Vordergrund. Wenn aber über die PatientInnen-Partizi-
pation andere Sichtweisen als die eigene ins Spiel kommen und zudem
eigene professionelle Schwächen bekannt sind, kann leichter die Angst
entstehen, in Behandlungssituationen etwas falsch zu machen, zumal
aus der Partizipation des Patienten oder der Patientin sich ergebende
Handlungsoptionen auch noch in Konkurrenz zu dem stehen können,
was medizinische Leitlinien vorgeben. Die Überweisung zu bzw. Kon-
sultation mit weiteren ÄrztInnen mag dann subjektiv als Ausweg aus
der erhöhten Handlungsunsicherheit erscheinen: Ein anderer, mit mehr
Kompetenz, muss nun (mit)entscheiden und man selbst ist als Behandle-
rIn zumindest teilweise entlastet. Das Prinzip »Absichern« ist im Team
immer naheliegend und oft genug hilfreich, kann aber auch zur Frag-
mentierung von Entscheidungsprozessen führen. Problematisch wird
es dann, wenn niemand mehr die Vielzahl von Einzelentscheidungen
zusammenbringt und – unter dem Label »informed decision making« –
Entscheidungsverantwortung auf den/die Behandelte/n abgewälzt wird
(Gareus und Abholz 2012).
Die Angst davor, etwas falsch zu machen, ist sicherlich auch das Er-
gebnis professioneller Sozialisation in der medizinischen Aus- und Wei-
terbildung, die konstant die versteckte Botschaft vermittelt, dass man als
einzelner Arzt oder einzelne Ärztin selbst das eigene Fachgebiet nicht
einmal mehr annähernd beherrschen könne und ständig auf die Sub-
SpezialistInnen innerhalb des Faches angewiesen sei (Weisz 2006).
Was hat all dies mit der Thematik des Zurückdrängens des Individu-
ums in der Medizin zu tun? ÄrztInnen, die kaum mehr in der Lage sind,
die medizinisch zu versorgende Person als differenziertes Ganzes zu
behandeln oder auch nur zu beurteilen, müssen das Individuum in eine
Vielzahl von isolierten Aspekten zerlegen, die als solche einer sicheren
Beurteilung eher zugänglich sind. Dahinter haust die Angst vor Unwäg-
barkeiten, Widersprüchlichkeiten und daraus möglicherweise resultie-
renden Fehlentscheidungen (Williams 2003). Die Angst, nicht »das
Richtige« zu tun, dürfte im Umgang mit besonders schwer erkrankten
PatientInnen noch um einiges größer sein, auch weil in solchen Fäl-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
184 Heinz-Harald Abholz
len ein Verweisen auf andere Ärzte aus eigener Handlungsunsicherheit
zwar möglich ist, von dem/der betreffenden Patienten/in u. U. aber als
zwischenmenschliche Abweisung erlebt wird, die der Arzt bzw. die
Ärztin vor sich selbst nur schwer vertreten kann (Cassel 2004). Der/die
PatientIn verlangt mehr als in Ausschnitten betrachtet und behandelt zu
werden – besonders wenn er ernsthaft krank ist, bei quälenden, todbrin-
genden Krankheiten, oft auch bei psychiatrischen Erkrankungen.
Im Grunde ist es aber bei jedem ernsthaften Gespräch zwischen Pa-
tientInnen und ÄrztInnen so. Immer geht es in solchen Situationen um
die ganze Person, das Individuum. Wird dies von dem Arzt bzw. der
Ärztin ignoriert, kann sich der/die PatientIn rasch brüskiert fühlen.
Reeve et al. (2012) haben dies für den Bereich der Palliativmedizin
beschrieben: Die von ihnen befragten PatientInnen klagten darüber,
dass sie zwar eine persönliche (personal), aber keine personalisierte
(personalised) Betreuung erhielten. Sie machten deutlich, dass ihre Be-
treuerInnen perfekt(ioniert) auf alles eingingen, ohne sich etwas wirk-
lich nahegehen zu lassen. Die PatientInnen sahen sich nicht als Person,
sondern als Sammlung persönlicher Probleme wahrgenommen, die
man kategorisiert und mit vorher gelernten Antworten angeht. Kom-
munikationsprägend waren ärztlicherseits auf »Fallkonstellationen«
abgestimmte Formeln des freundlichen und optimistischen Umgangs
mit dem Patienten. Analysen von ÄrztInnen-PatientInnen-Gesprächen
in norwegischen Krankenhäusern führten zu einem ähnlichen Befund,
in diesem Fall umschrieben als Höflichkeit anstelle von Es-erfahren-
wollen (courteous not curious) (Agledahl 2011).
Hochschulen und Fortbildungen bieten Medizinstudierenden und jun-
gen ÄrztInnen heutzutage Trainings für den »optimalen« Umgang mit
PatientInnen – auch solchen in sehr leidvollen Situationen – an. Dies
ist gut und ein Fortschritt – nur steht zu befürchten, dass die Teilneh-
merInnen dabei z. T. auch mit Waffen zur Abwehr von erlebter Nähe
und Individualität ausgerüstet werden. Das Erlernen der Gesprächsfüh-
rung an »Standard-Modellen« (Standardisierte Patienten, Schauspiel-
patienten) birgt nämlich die Gefahr, dass im Wesentlichen nur eine
Sammlung von routinisiert abrufbaren Kommunikationsschablonen
angeeignet wird, mit denen auf die häufigsten PatientInnen-Probleme
reagiert werden kann und die eher der Abschottung vor Betroffenheit
dienen als dem Erlernen eines ernsthaften und angemessenen Umgangs
mit einem anderem Menschen – was immer Betroffenheit und sponta-
ne Gesprächsreaktionen verlangt. Was auf diese Weise eingeübt wird,
ist eben wahrscheinlich mehrheitlich nicht personalised care, sondern
personal care als befriedende Floskelanwendung.
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Zweifellos gibt es auch gute sachliche Gründe für eine »Abgrenzung«
des Arztes oder der Ärztin von der Person des/der Behandelten und
dessen/deren Leid. Wenn diese Abgrenzung aber routinisiert betrieben
und nicht als Problem reflektiert und dann jeweils individualisiert ent-
schieden wird, gerät sie für PatientInnen zum Problem. Kathan (2002)
macht in seiner historischen Analyse der Technologie-Entwicklung in
der Medizin darauf aufmerksam, dass alle diese Technologien auch der
zunehmenden Distanzierung von der Individualität des Patienten oder
der Patientin dienten: Statt anzufassen, erzählen zu lassen, zuzuhören
zieht man wie in einer Diagnostik-Klinik Befunde aus Labor und Bild-
gebung heran, um dann aus vermeintlich sicherer Position sagen zu
können, was an Krankheit vorliegt. Dies aber ist nicht unbedingt das,
was dem Patienten »fehlt« (Reeve 2010).

Industrialisierung der Medizin


Industrialisierung beschreibt hier die zunehmende Arbeitsteilung inner-
halb des medizinischen Leistungsprozesses, die auf Effizienzsteigerung
zielt und insofern auch immer etwas mit der Ökonomisierung der Me-
dizin zu tun hat (Unschuld 2009). Sie betrifft sowohl die ÄrztInnen
als auch alle anderen Gesundheitsberufe (Iliffe 2008) und verdrängt
zwangsläufig die PatientInnen als Individuen mehr und mehr aus dem
Blickfeld.
Eine Vertiefung der Arbeitsteilung ist wie gesagt nicht nur inner-
halb der Ärzteschaft, sondern z. B. auch in der Pflege zu beobachten.
In Heimen und Krankenhäusern ist diese schon lange in allgemeine
und spezialisierte Pflege aufgeteilt. Hinzu kommt, dass immer häufiger
eine Trennung erfolgt etwa zwischen denen, die »Betten machen«, und
denen, die »Medikamente stellen«; der Patient bzw. die Patientin hat
es faktisch immer mit zwei, drei und mehr Betreuenden zu tun. Beim
»Medikamente stellen« findet überdies zunehmend ein Outsourcing
an Apotheken statt. Der/die ApothekerIn kennt aber in der Regel den
einzelnen Patienten bzw. die einzelne Patientin nicht und weiß beim
Stellen für eine Woche nicht, was sich ggf. kurzfristig ändern kann. Die
Pflegenden vor Ort sind ihrerseits oft nicht mehr genau im Bilde, was
sie dem Patienten geben bzw. wie die eine oder andere Tablette aus-
sieht. Die Pflegekräfte büßen damit zumindest teilweise die Kontrolle
über und die Verantwortlichkeit für die Medikation ein. Sie können bei
auftretenden unerwünschten Wirkungen u. U. nicht einmal mehr ent-
scheiden, welches nun die Pille ist, die der Arzt oder die Ärztin deshalb
wegzulassen angeordnet hat.
All dies folgt einer bestimmten Rationalität, nämlich der einer Effi-
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zienzsteigerung mittels Zuordnung einzelner Tätigkeiten an eine dafür
spezialisierte oder sich »spezialisierende« Person, die routinierter und
schneller arbeiten kann. Damit soll zugleich eine Qualitätsverbesserung
einhergehen, weil z. B. die Vorbereitung der Medikamentenbehälter in
den Händen besonders erfahrener Personen liegt und unter besonders
hygienischen Verhältnissen erfolgt. Allerdings: derselbe mit zuneh-
mender Arbeitsteilung verbundene Industrialisierungsprozess, der sol-
che Verbesserungen der Qualität eventuell mit sich bringt, droht diese
zugleich in Frage zu stellen und zu untergraben, denn eine kleinteilige
Zergliederung der Arbeit führt tendenziell zu monotoner , sinnentleer-
ter Routine und schwächt so die Motivation der Arbeitenden – eben
weil der »ganzheitliche« Tätigkeitsbezug zu den versorgten Personen
immer mehr verloren geht.

Widersprüchliches?
Die in diesem Artikel skizzierten Tendenzen sind nicht widerspruchs-
frei, teilweise lassen sich durchaus auch Gegentendenzen ausmachen.
So nehmen HausärztInnen seit einigen Jahren zunehmend für sich in
Anspruch, eine personalisierte bzw. individualisierte Versorgung zu
praktizieren, und erklären eben dies zum Grund dafür, dass sie so nach-
weislich oft von Leitlinien-Vorgaben abweichen. Daran wird deutlich,
dass es insbesondere in den Reihen der PrimärversorgerInnen noch Wi-
derstand gegen eine bürokratische Normierung der Medizin gibt, die
den Spielraum für eine individuelle Betrachtung und Behandlung des
Patienten bzw. der Patientin immer mehr einzuengen droht (Abholz
2008, 2014).
Seit einigen Jahren haben nun aber auch die Pharmakologie und die
Genetik den Begriff der personalisierten oder individualisierten Medi-
zin für sich entdeckt. Mit einer solchen Medizin ist die Hoffnung ver-
bunden, aufgrund der genaueren Kenntnis der genetischen Ausstattung
von PatientInnen künftig gezielt diejenigen herausfinden zu können, die
von einer bestimmten Behandlung profitieren bzw. nicht profitieren.
Die Nutzung des Begriffs der personalisierten Medizin ist hier dennoch
irreführend, da damit die Medizin nicht »anders« und das Individuum
nicht wieder in deren Zentrum rücken wird. Mit diesem Ansatz wird
man nämlich bestenfalls einen kleinen Teil von Patienten mit spezifi-
schen genetischen Prädispositionen besser versorgen können – und dies
auch nur auf diesen einen Aspekt hin. Für die Mehrzahl der Krankheits-
bilder und der Formen des »Krank-seins« aber wird diese Einengung
auf eine genetische Information völlig unzureichend bleiben.

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Die Verdrängung des Individuums aus der Medizin 187
Korrespondenzadresse:
Prof. emer. Dr. Heinz-Harald Abholz
Institut für Allgemeinmedizin
Universitätsklinikum Düsseldorf
Moorenstraße 5
40225 Düsseldorf
Tel.: +49 (0)211 81 1 77 71
Fax: +49 (0)211 81 1 87 55
E-Mail: abholz@med.uni-duesseldorf.de

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190
Über die Autorinnen und Autoren

Heinz-Harald Abholz, geb. 1945, Univ.-Prof. emer., Dr. med., Facharzt für
Allgemeinmedizin, Facharzt für Innere Medizin, seit 30 Jahren Arbeit in
Public Health, 12 Jahre Krankenhaustätigkeit, 12 Jahre Praxistätigkeit in
Berlin, 1998 bis 2012 Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Uni-
versität Düsseldorf, seit 2 Jahren wieder Tätigkeit in Hausarztpraxis. Ar-
beitsschwerpunkte in Allgemeinmedizin und Public Health, insbesondere
Prävention und klinische Epidemiologie zum Nutzen von medizinischen
Interventionen sowie soziale Faktoren für Gesundheit und Krankheit.

Óscar Arteaga, geb. 1960, ist Arzt, promovierte an der Universität London
zum Doktor in Public Health und arbeitet seit vielen Jahren als Hochschul-
lehrer an der Medizinischen Fakultät der Universität Chile in Santiago,
deren Public-Health-Abteilung er 2011 übernahm. Zuvor war er Berater
der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO) sowie für die
Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank, und leitete ver-
schiedene wissenschaftliche Projekte in Chile und anderen lateinamerika-
nischen Ländern. 2014 war er Mitglied der Kommission zur Reform der
Privaten Krankenversicherung in Chile.

Cristóbal Cuadrado, geb. 1986, Arzt, promoviert zurzeit in der Public


Health Abteilung der Universität Chile. Er ist Mitglied der Jugendkommis-
sion zu »Global Governance for Health« (UiO/Lancet) und wissenschaftli-
cher Mitarbeiter im Programm »Gesundheitspolitik, -system und -manage-
ment« der gesundheitswissenschaftlichen Abteilung der Universität Chile.

Lígia Giovanella, geb. 1956, Ärztin und promovierte Gesundheitswissen-


schaftlerin, arbeitet als Professorin in der Abteilung für Gesundheitsver-
waltung und -planung der Nationalen School of Public Health/Stiftung
Oswaldo Cruz (ENSP/Fiocruz) in Rio de Janeiro. Wiederholte Forschungs-
aufenthalte als Gastwissenschaftlerin in Deutschland, so 2003 am Institut
für Medizinische Soziologie der Universität Frankfurt und 2012 am Fach-
bereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda. Forschungserfah-
rung auf den Gebieten Gesundheitsreform, Gesundheitssystemvergleich,
PHC-Evaluierung und Implementierung von PHC-Programmen in Brasi-
lien und Südamerika.

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Über die Autorinnen und Autoren 191
Kerstin Hämel, geb. 1987, Dr. rer. soc., ist Professorin für Gesundheits-
wissenschaften mit Schwerpunkt Pflegerische Versorgungsforschung an
der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Ihre
Arbeitsschwerpunkte sind regional differenzierte Versorgungsgestaltung,
Community Health und quartiersnahe Versorgung sowie Partizipation und
Kooperation im Bereich Gesundheit und Pflege.

Patricia Hänel, geb. 1970, Ärztin, forscht am Institut für Allgemeinmedi-


zin der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg zum Zusammenhang
zwischen Gesundheitssystem, Arbeitsbedingungen und Arbeitsmotivation
medizinischer Fachkräfte. Ein Schwerpunkt ist die Untersuchung von Ver-
sorgungslücken im ländlichen Bereich.

Markus Herrmann, geb. 1961, Univ.-Prof., Dr. med., MPH, M.A., Stu-
dium der Humanmedizin, Soziologie und Gesundheitswissenschaften,
Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapeut und Psychoanalytiker
und Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin der Otto-von-Guericke-
Universität Magdeburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen bei der
Arzt-Patienten-Kommunikation, Professionsentwicklung, Leitlinienent-
wicklung, Medizinsoziologie, hausärztlicher Versorgung sowie Planung
und Durchführung von qualitativen Hausarztbefragungen. Außerdem ist er
als Reviewer und Gutachter tätig und arbeitet zu internationalen Ansätzen
der Professionsentwicklung in der Allgemeinmedizin u. a. in Brasilien und
Neuseeland.

Jens Holst, geb. 1958, Dr. med., Dr. PH, Internist, Gesundheitswissen-
schaftler, Dozent und Publizist. Selbständiger Berater in der Entwick-
lungszusammenarbeit in den Bereichen Gesundheitssystementwicklung,
Gesundheitsfinanzierung und soziale Sicherung. Dozent und Lehrbe-
auftragter am Fachbereich Angewandte Gesundheitswissenschaften der
Hochschule Magdeburg-Stendal, Vertretungsprofessuren und Gastdozen-
turen u. a. an der Public Health-Abteilung der Medizinischen Fakultät der
Universität Chile in Santiago.

Eva Jansen, geb. 1982, ist promovierte Medizinethnologin am Institut für


Allgemeinmedizin der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Ihre
Schwerpunkte liegen auf der Erforschung von medizinischer Unterversor-
gung, Komplementärmedizin und Migration in Deutschland und Indien
sowie interkultureller Psychiatrie.

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192 Über die Autorinnen und Autoren
Corinna Jung, geboren 1975, Dr. phil., ist Soziologin und arbeitet als
Postdoctoral Researcher am Institut für Hausarztmedizin der Universität
Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. medizinische Ausbildung
und Grundversorgung sowie Versorgung am Lebensende. Zuvor war sie
am Institut für Bio- und Medizinethik der Universität Basel tätig und ar-
beitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro einer Abgeordneten im
Bereich Gesundheit im Deutschen Bundestag.

Luís Velez Lapão, geb. 1968, ist Professor für International Public Health
and Management sowie Mitglied des WHO Collaborating Center for
Health Workforce Policy and Planning am Institut für Hygiene und Tro-
penmedizin der Neuen Universität von Lissabon. Von 2008 bis 2010 leite-
te er PACES, das Nationale Leadership Programm zur Unterstützung der
PHC-Reform in Portugal und koordinierte zuvor verschiedene Primärver-
sorgungs- und eHealth-Projekte. Außerdem arbeitet er seit als 2005 Revi-
sor der Europäischen Kommission für Gesundheitsinformationssysteme.

Maria Helena Magalhães de Mendonça, geb. 1953, Soziologin und pro-


movierte Sozialmedizinerin am Sozialmedizinischen Institut der Bundes-
staatlichen Universität von Rio de Janeiro. Nach fünfzehnjähriger Tätigkeit
als Soziologin bei der brasilianischen Sozialversicherungsbehörde war sie
Vize-Direktorin für postgraduale Ausbildung und arbeitet seit mehr als zehn
Jahren als Professorin der Abteilung für Gesundheitsverwaltung und -pla-
nung der National School of Public Health/Stiftung Oswaldo Cruz (ENSP/
Fiocruz) in Rio de Janeiro. Sie kann auf besondere Forschungserfahrungen
in den Bereichen Gesundheitspolitikanalyse, Primary Health Care (PHC)
Evaluierung und Implementierung von PHC Programmen verweisen.

Soledad Martínez, geb. 1974, ist Ärztin und promovierte an der Universität
von Kalifornien in Berkeley in »Health Services and Policy Analysis«. Sie
leitet das Programm »Gesundheitspolitik, -system und -management« der
gesundheitswissenschaftlichen Abteilung der Universität Chile und arbei-
tet vor allem zu Gerechtigkeitsfragen bei der Ressourcenallokation sowohl
in der Primärversorgung als auch im Gesundheitssystem insgesamt.

Sue Pullon, geb. 1955, MPHC, FRNZCGP (Dist), PGCertTertTchg, PG-


DipGP, PGDipObs, MBChB, Ärztin, Professorin und Leiterin des Primary
Health Care & General Practice Department der Universität Otago in Wel-
lington. Über 30-jährige Tätigkeit als Hausärztin mit den Schwerpunkten
sexuelle und reproduktive Gesundheit, Zusammenarbeit in der Praxis so-
wie medizinische und Professionen übergreifende Ausbildung. Umfang-
reiche Lehrerfahrungen in der medizinischen Aus- und Weiterbildung und

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Über die Autorinnen und Autoren 193
klinische Beraterin für Lehrende in der Primär- und Sekundärversorgung.
Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Primärversorgung,
allgemeinärztliche Tätigkeit und Frauengesundheit.

Cristián Rebolledo, geb. 1983, Arzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter


im Programm »Gesundheitspolitik, -system und -management« der ge-
sundheitswissenschaftlichen Abteilung der Universität Chile. Dort arbeitet
er vor allem zu Gesundheitssystemen und Gesundheitsmanagement vor
allem im Hinblick auf die Primärversorgung.

Doris Schaeffer, Dr. phil, ist Professorin für Gesundheitswissenschaften


und Leiterin der Arbeitsgruppe Versorgungsforschung und Pflegewis-
senschaft an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität
Bielefeld und Direktorin des Instituts für Pflegewissenschaft (IPW) an
der Universität Bielefeld. Sie ist Mitglied des Sachverständigenrats zur
Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Ihre Arbeitsgebiete
sind Bewältigung chronischer Krankheit und von Gesundheitsproblemen
im Alter, nutzerorientierte Versorgungsgestaltung und Fragen der Theorie-
und Forschungsentwicklung in der Pflege.

Nicolás Silva, geb. 1984, hat einen Abschluss in Humanmedizin und er-
warb an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Chile
einen Magister in Öffentlicher Politik. Zurzeit ist er wissenschaftlicher
Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Pharmakoökonomie der gesundheitswis-
senschaftlichen Abteilung dieser Universität, wo er zu Fragen der Preis-
gestaltung und Honorierung von LeistungserbringerInnen sowie der öko-
nomischen Evaluierung im Gesundheitswesen arbeitet. Außerdem leitet
er den Aufbau eines Tumorzentrums im Krankenhaus Las Condes und
ist dort mit der Entwicklung und Planung einer neuen Krebspräventions-
strategie betraut.

Peter Tschudi, geb. 1948, Prof. Dr. med., leitete von 2005 bis zu seiner
Emeritierung im September 2014 das Institut für Hausarztmedizin der
Universität Basel. Seit 1982 und später auch neben seiner Tätigkeit als
Institutsleiter war er bis 2013 als Hausarzt tätig sowie 2009–2014 Präsi-
dent des Initiativkomitees der Volksinitiative »Ja zur Hausarztmedizin«
und 2013–2014 des Komitees der eidgenössischen Volksabstimmung über
den Verfassungsartikel »Ja zur medizinischen Grundversorgung«. Seine
vorrangigen Arbeitsgebiete sind Gesundheitspolitik und Hausarztmedi-
zin, Förderung und Stärkung der akademischen Hausarztmedizin an den
Schweizer Universitäten, Hausarztpraxisforschung und Erforschung kar-
diovaskulärer Risikofaktoren.

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