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Interdisziplinarität, Partizipation,
Gemeindeorientierung
Heinz-Harald Abholz
Die Verdrängung des Individuums aus der Medizin
Über Kollateralschäden des Fortschritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Editorial
Primary Health Care – im Deutschen meist eher schlecht als recht mit
»Primäre Gesundheitsversorgung« übersetzt – gehört zu den wohl wich-
tigsten und beständigsten Themen der gesundheitspolitischen Debatte.
Die viel zitierte Konferenz von Alma Ata im Jahr 1978, auf der sich die
Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeinsam
dem Ziel verpflichteten, ihren BürgerInnen die für gesellschaftliche
Teilhabe erforderliche Gesundheit zu ermöglichen, war Ausgangspunkt
für die »Globale Strategie für Gesundheit für alle« der WHO. Gesund-
heit ist nach dieser Programmatik nicht mehr eine bloße medizinische
Angelegenheit, sondern eine Frage der Menschenrechte und damit eine
der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Partizipation.
Primary Health Care (PHC) wurde zur ersten »Weltgesundheitspoli-
tik« und damit zu einem frühen Versuch, Gesundheitspolitik als globale
Aufgabe wahrzunehmen und anzuerkennen. Genau 30 Jahre nach Alma
Ata setzte die WHO dieses Thema mit ihrem 2008er Weltgesundheits-
bericht »Primary Health Care – Now More Than Ever« noch einmal
prominent auf die Tagesordnung. Mittlerweile geraten viele Länder im
Zuge der Globalisierung unter Druck und können ihre Gesundheits-
systeme nicht in der Form aufrechterhalten, dass sie angemessen und
schnell auf neue Herausforderungen reagieren können. Die WHO weist
in ihrem Jahresbericht von 2008 darauf hin, dass dies mit einer stär-
keren Orientierung auf die Primärversorgung sehr wohl möglich sei.
Dabei benennt sie fünf wesentliche Elemente:
• Verringerung von Ausgrenzung und sozialer Ungleichheit in Bezug
auf Gesundheit (universal coverage reforms);
• Ausrichtung der Versorgung an den Bedürfnissen und Erwartungen
der Menschen (service delivery reforms);
• Berücksichtigung von Gesundheitsfragen in allen relevanten Politik-
feldern (public policy reforms);
• Verwirklichung gemeinsamer Ansätze eines partnerschaftlichen Dia-
logs (leadership reforms);
• Förderung der Partizipation von Interessengruppen (stakeholder par-
ticipation).
Die globale Umsetzung von PHC ist seit jeher eng mit der Frage knap-
per bzw. ungleich verteilter Ressourcen verbunden. Die Besinnung auf
primäre Versorgung in den 1970er Jahren war auch eine Antwort auf die
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6 Editorial
unzureichenden finanziellen Mittel vieler Länder des globalen Südens,
die keine flächendeckende medizinische Versorgung aufrechterhalten
konnten. Mittlerweile erklingt der Ruf nach Ausbau der Primärversor-
gung auch in den reichen Ländern des Nordens. Hier liegen die Ursa-
chen in dem wachsenden Kostendämpfungsdruck, der zum einen dem
kontinuierlichen Rückzug der öffentlichen Hand aus der Gesundheits-
finanzierung oder gar einer dezidierten Austeritätspolitik geschuldet
und zum anderen auf den herrschenden Wunsch nach Befriedigung
der Renditeerwartungen mächtiger Lobbygruppen zurückzuführen ist,
vor allem spezialisierter FachvertreterInnen, der pharmazeutischen und
medizintechnologischen Industrie und nicht zuletzt privater Klinik-
betreiberInnen.
Wie vor drei Jahrzehnten spielen auch heute wieder ökonomische
Argumente eine wichtige Rolle beim PHC-Revival. Zwar weisen inter-
nationale Systemvergleiche darauf hin, dass eine starke Primärversor-
gung mit größerer Zugangsgerechtigkeit und höherer Lebenserwartung
assoziiert ist. Eingang in die gesundheitspolitische Debatte findet aber
in erster Linie die Erkenntnis, dass in stärker primärversorgungsorien-
tierten Systemen der Einsatz der Gesundheitsausgaben auch ökonomi-
scher und effizienter zu sein scheint als anderswo.
International ist zurzeit eine zunehmende Tendenz zur Reform oder
zum Neuaufbau von PHC-Ansätzen und -Modellen zu beobachten.
Dabei zeigt sich, dass Länder mit einer bereits bestehenden stärkeren
Ausrichtung des Gesundheitswesens auf die Primärversorgung wie
Brasilien, Finnland, Neuseeland oder Portugal an einer weiteren Kon-
solidierung dieser Versorgungsebene arbeiten, während sich andere
Länder wie Chile, Deutschland oder auch die Schweiz schwertun, die
medizinische Versorgung überhaupt erst einmal mehr in den primären
Sektor zu verlagern. Neben den gewachsenen, teils festgefahrenen und
von machtvollen Interessen getragenen Strukturen spielen dabei auch
finanzielle Kriterien eine gewichtige Rolle. Denn die Durchökonomi-
sierung aller Lebensbereiche hat schon lange das Gesundheitswesen
insgesamt erfasst und dabei die Primärversorgung nicht ausgespart.
Den makroökonomischen Kostendämpfungs- und Sparzielen stehen
in jedem Gesundheitswesen die Partialinteressen von Leistungs-
erbringerInnen gegenüber, die immer auch eigene Gewinninteressen
verfolgen. Eine grundlegende, in verschiedenen Systemen bestehende
Herausforderung für die Stärkung der Primärversorgung ergibt sich
aus den tendenziell geringeren Renditeerwartungen im Vergleich zur
Sekundär- und Tertiärversorgung vor allem in den Ländern, in denen
sich aufgrund hoher Gesundheitsbudgets und privatmarktwirtschaft-
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Editorial 7
licher Anreize verschiedene LeistungserbringerInnen hohe Gewinne
versprechen.
Während der letzten 20 Jahre kam es in Deutschland zu Veränderun-
gen in der Primärversorgung: Akademisierung weiterer Gesundheits-
berufe, stärkere Orientierung auf evidenzbasierte Konzepte, Leitlinien-
entwicklung, Managed Care, Bürokratisierung, neue Hausarztmodelle
einschließlich Substitution und Delegation ärztlicher Leistungen sowie
andere innovative Organisationsformen. Die Attraktivität der hausärzt-
lichen Tätigkeit ist unterdessen deutlich gesunken. Im internationalen
Vergleich ist festzustellen, dass die Primärversorgung in Deutschland
im Unterschied zu Ländern in Skandinavien oder Südeuropa bislang
weiterhin stark arzt- und medizindominiert ist; als ersteR Ansprechpart-
nerIn bei Gesundheitsproblemen hat »der Hausarzt« bzw. »die Hausärz-
tin« hierzulande eine lange Tradition. In der alten und der vereinigten
Bundesrepublik war und ist primäre weitgehend identisch mit primär-
medizinischer Versorgung und erfolgt/e überwiegend durch ÄrztInnen
in privatwirtschaftlich agierenden Einzelpraxen; das umfassendere und
multiprofessionell bzw. interdisziplinär betriebene Primärversorgungs-
system der ehemaligen DDR fand auf vehementes Betreiben von Politi-
kerInnen, Kassen- und ÄrztefunktionärInnen nach der Vereinigung ein
jähes und – wie sich immer mehr herausstellt – vorschnelles Ende.
Heute stehen Interdisziplinarität, Partizipation und Gemeindeorien-
tierung in der Primärversorgung weit oben auf der globalen gesund-
heitspolitischen Agenda. In Deutschland haben diese zentralen Aspekte
bisher nicht den Weg aus programmatischen Diskursen in die Wirklich-
keit der Primärversorgung geschafft. Vor dem Hintergrund der Domi-
nanz ärztlicher Selbstverwaltung für viele Bereiche der Gesundheits-
versorgung tut sich die Ärzteschaft noch schwer, in gleichberechtigter
Kooperation und im Dialog mit anderen Gesundheitsberufen eine in-
tegrierte Primärversorgung zu gewährleisten. In Ländern mit stärkerer
staatlicher Steuerung der Gesundheitsversorgung scheint die Realisie-
rung von Interdisziplinarität, Partizipation und Gemeindeorientierung
hingegen leichter zu gelingen, auch wenn dem Anspruch bisher kaum
ein Gesundheitssystem auf der Welt wirklich gerecht wird. Das traditio-
nell eher dominante Rollenverständnis der MedizinerInnen paart sich
nicht selten mit einer recht engen allgemeinärztlichen Perspektive von
PHC, die grundlegende Aspekte umfassender Primärversorgung und
die Akzeptanz eines wirklichen Professionenmix vermissen lässt.
Der vorliegende Themenband stellt PHC-Strategien und -Erfahrungen
verschiedener Länder vor und bettet sie in die globale gesundheitspoli-
tische Diskussion ein. Dabei kommen Widerstände gegen eine stärkere
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8 Editorial
Rolle von PHC sowie wichtige AkteurInnen und Analysemodelle für
die Transformation der Primärversorgung zu mehr Interdisziplinarität,
Partizipation und Gemeindeorientierung zur Sprache. Andere Beiträge
diskutieren die Bedeutung von Aus-, Weiter- und Fortbildung sowie die
Professionalisierung und Akademisierung von Gesundheitsberufen für
die Weiterentwicklung im Sinne von Primary Health Care. Die inhaltli-
che Mischung und die Inhalte der verschiedenen Artikel des vorliegen-
den JKMG-Bandes zu internationalen Erfahrungen mit Primary Health
Care geben Anregungen für die Analyse und Diskussion der notwendi-
gen Transformation der Primärversorgung in Deutschland. Die Beiträ-
ge zeigen, dass auch in anderen Ländern der Entwicklungsprozess einer
PHC-Orientierung im Sinne der WHO längst nicht abgeschlossen und
mit strategischen Schwächen verbunden ist.
Den Auftakt macht der Beitrag von Hämel und Schaeffer über
Versorgungsmodelle für ländliche und strukturschwache Regionen
in Finnland. Sie schildern zunächst die Entwicklung kommunaler
Gesundheitszentren und erörtern deren Zielsetzung, Aufgaben und
Arbeitsweise. Anhand eines Beispiels stellen sie die zweischneidige
Rolle ländlicher Gesundheitszentren dar, die aktuelles Problemkind
und zugleich Vorbild sind, von dem wichtige Impulse nicht nur für die
Umstrukturierung der Primärversorgung in Finnland, sondern auch für
die hiesige Diskussion über mögliche Versorgungsmodelle für ländli-
che und strukturschwache Regionen ausgehen.
Der darauf folgende Artikel von Velez Lapão bietet einen Rückblick
auf die fünfzigjährige Geschichte von PHC-Reformen in Portugal
im Hinblick auf Fragen der Politikgestaltung und des Veränderungs-
managements. Der Beitrag stellt Eckpunkte der PHC-Reform in Portu-
gal vor, die aus einer Reihe gezielter Reformschritte bzw. »Reformwel-
len« bestand. Dazu bedient sich der Wissenschaftler aus Lissabon des
Multiple-Streams-Ansatzes der Politikentwicklung von Kingdon zur
Analyse der Bedeutung von Personen, Institutionen und »leadership« für
erfolgreiche Reformen. Eine Frage von Belang für die PHC-Diskussion
in Deutschland ist die nach geeigneten politischen Gelegenheiten und
der Bildung durchsetzungsfähiger gesundheitspolitischer Allianzen.
Die beiden Gesundheitswissenschaftlerinnen Giovanella und
Magalhães de Mendonça stellen das Familiengesundheitskonzept in
der brasilianischen Primärversorgung vor. Als Bestandteil einer grund-
legenden Erneuerung des PHC-Ansatzes beinhaltet es zentrale Steue-
rung und umfassende Versorgung im Rahmen einer integralen Primär-
versorgungsstrategie, die universellen Zugang zum Versorgungssystem
garantieren, soziale Ungleichheiten abbauen und die neuen demografi-
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Editorial 9
schen und epidemiologischen Herausforderungen angehen soll. Dabei
stehen multiprofessionelle Teamarbeit und Gemeindeorientierung im
Vordergrund. Die Auswertung einer externen Evaluierung des brasilia-
nischen Programms zur Verbesserung des Zugangs und der Qualität
zeigt, dass die Primärversorgung weiterhin vor großen Herausforderun-
gen steht, allen BürgerInnen Zugang zu bedarfsgerechter guter medi-
zinischer Versorgung zu gewährleisten und gleichzeitig gesellschaftli-
chen Ungleichheiten entgegenzuwirken.
Wie das deutsche ist auch das chilenische Gesundheitswesen
durch eine ausgeprägte Zweiteilung gekennzeichnet. Der Beitrag von
Arteaga, Rebolledo, Silva, Cuadrado, Martínez und Holst beleuchtet
die historische Entwicklung des chilenischen Gesundheitswesens unter
besonderer Berücksichtigung der Primärversorgung. Allen Bemühun-
gen um eine sukzessive Vereinheitlichung zum Trotz blieb das Ver-
sorgungssystem immer aufgeteilt, in vergangenen Jahrzehnten nach
beruflichem Status und seit den Reformen der Militärdiktatur Anfang
der 1980er Jahre nach Einkommen. Offenbar steht die Segmentierung
eines Systems den Versuchen einer Stärkung der Primärversorgung im
Wege – eine Erkenntnis, die auch für die aktuelle Debatte in Deutsch-
land über Primärversorgung und ihre Stärkung im Gesundheitswesen
von Relevanz ist.
Neuseeland kann auf eine lange erfolgreiche Geschichte eines PHC-
gesteuerten Versorgungssystems zurückblicken. Der Beitrag von Pullon
und Herrmann stellt Aspekte des neuseeländischen und deutschen Ge-
sundheitswesens nebeneinander und dabei wesentliche Unterschiede bei
Zahl, Möglichkeiten und Qualifikationen der in der Primärversorgung
tätigen Arbeitskräfte heraus. Er diskutiert die Rollen und Kooperations-
beziehungen von HausärztInnen und Pflegekräften in der Primärver-
sorgung auf dem Weg Neuseelands zu einer zunehmenden, professio-
nenübergreifenden Zusammenarbeit im Bereich Primary Health Care.
Erkenntnisse über die Bedeutung der Aus- und Weiterbildung der betei-
ligten Professionen geben wertvolle Erkenntnisse für die Diskussion in
Deutschland.
Der folgende Artikel von Jung und Tschudi beschreibt die Bedeutung
und die Aufgaben von HausärztInnen in der Schweiz. Vor dem Hinter-
grund des sich abzeichnenden Hausarztmangels schildert der Beitrag
die politische Ausgangslage und gesundheitspolitische Maßnahmen
zur Förderung des hausärztlichen Nachwuchses durch die Entwick-
lung eines Curriculums für die Hausarztmedizin im Medizinstudium.
Die im Unterschied zu Deutschland erfolgte Umsetzung der Bologna-
Beschlüsse und die Umstellung des Medizinstudiums auf Bachelor-
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Master-Strukturen versprechen eine bessere Integration der Hausarzt-
medizin in das Studium.
Herrmann, Hänel und Jansen gehen vor dem Hintergrund entspre-
chender internationaler Erfahrungen und einschlägiger WHO-Empfeh-
lungen der Frage nach, inwieweit bereits das Medizinstudium Anreize
für eine spätere ärztliche Tätigkeit auf dem Lande setzen kann. Die Flä-
chenländer Kanada, Australien und Neuseeland bereiten Studierende
der Medizin sowie anderer Gesundheitsberufe schon seit geraumer Zeit
gezielt auf eine Tätigkeit in ländlichen Gebieten vor. Ein Pilotprojekt
in Deutschland wirft die Frage der Übertragbarkeit und Umsetzbarkeit
landärztlicher Ausbildungsinhalte in deutsche Ausbildungsstätten auf.
Der letzte Artikel dieses Bandes hat zwar thematischen Bezug zu den
vorangehenden Betrachtungen über die haus- bzw. allgemeinärztliche
Tätigkeit, widmet sich aber nicht dem Thema der primären Gesund-
heitsversorgung. In seinem Beitrag fordert Abholz die angemessene
Berücksichtigung des Individuums in der Medizin und geht dabei der
Hypothese nach, evidenzbasierte Medizin, Standardisierung, Präven-
tions-Orientierung und Industrialisierung der Medizin trügen zu einer
zunehmenden Verdrängung des Individuums bei. Die Redaktion ver-
steht diesen Artikel als streitbaren Beitrag zu einer notwendigen Dis-
kussion über aktuelle Inhalte und Themen einer Kritik an Medizin und
Gesundheitswissenschaften, die in den nächsten Bänden ihre Fortset-
zung finden wird.
Zusammenfassung
Die Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung in ländlichen Re-
gionen ist für viele Länder eine besondere Herausforderung. Finnland
hat bereits vor vielen Jahrzehnten auf diese Versorgungsprobleme mit
dem flächendeckenden Aufbau kommunaler Gesundheitszentren re-
agiert und ein umfassendes, multiprofessionelles Primärversorgungs-
modell etabliert. Der vorliegende Beitrag untersucht, inwiefern diese
Gesundheitszentren den sich wandelnden Anforderungen an die länd-
liche Versorgung gerecht werden und sich der finnische Ansatz heu-
te (erneut) als tragfähiges Modell erweist. Abschließend analysiert er
mögliche Anregungen für die Diskussion und Weiterentwicklung der
Primärversorgung in Deutschland.
Abstract
Ensuring access to high-quality health care for the rural population is
a major challenge for many countries. Several decades ago, Finland
responded to unmet needs in rural primary care by building municipal
health centres across the country; simultaneously, the government int-
roduced a new comprehensive, multi-professional primary care model.
This article takes a closer look at the adjustments Finnish health cen-
tres have undertaken to meet the changing requirements of rural health
care. Furthermore, the viability of Finland’s current care model will be
assessed. Finally, the paper discusses possible lessons Germany could
learn from Finland’s experience for the further development of its own
primary care system.
Methodisches Vorgehen
Der Beitrag basiert auf einer Literaturanalyse und zwei empirischen
Untersuchungsschritten. In einem ersten Schritt erfolgten telefoni-
sche, leitfadenbasierte Experteninterviews mit finnischen Vertretern
aus Wissenschaft (Verwaltungs-, Sozialwissenschaft, Public Health)
und Praxis (Modellentwicklung, Projektmanagement, Interessensver-
tretung/Politikberatung). Ziel war es, die Entwicklung der ländlichen
Versorgung in Finnland zu eruieren und Untersuchungsregionen für
eine vertiefende Analyse zu identifizieren. Der zweite Untersuchungs-
schritt umfasste zwei Exkursionen in die Regionen Päijät-Häme und
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Kerstin Hämel
Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld
Universitätsstraße 25
33615 Bielefeld
Tel.: +49 (0)521 106 38 94
Fax: +49 (0)521 106 64 37
E-Mail: kerstin.haemel@uni-bielefeld.de
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Zusammenfassung
Primäre Gesundheitsversorgung (PHC) gilt als Strategie sowohl für
eine Verbesserung des Zugangs zu medizinischer Versorgung als auch
zugleich für die Kontrolle zunehmender Gesundheitsausgaben und
den Umgang mit steigenden Qualitätserwartungen der BürgerInnen.
Dieser Artikel gibt zunächst einen Überblick über die 50-jährige Re-
formgeschichte der Primärversorgung in Portugal und liefert dabei
Hintergründe zum Verständnis der Rolle verschiedener Reform- und
Umsetzungsstrategien aus einer Perspektive der Politikgestaltung
und des Veränderungsmanagements. Dabei dient Kingdons »Multiple
Streams«-Theorie der Politikentwicklung als Grundlage zur Bestim-
mung und Analyse der Politikzyklen während des Reformprozesses. Mit
Hilfe dieser Theorie lässt sich die Bedeutung von Personen, Institutio-
nen und »leadership« für erfolgreiche Reformen erklären, die zudem
geeignete politische Momente brauchen. Der Artikel stellt Eckpunkte
der PHC-Reform in Portugal vor, die aus einer Reihe gezielter Reform-
schritte bzw. »Reformwellen« bestand.
Abstract
Primary health care (PHC) is acknowledged as strategic means to im-
prove access to health care and, at the same time, to address the issu-
es of rising costs and users’ quality expectations. The paper gives an
overview of the last 50 years of PHC reform in Portugal and provides
the background for understanding the role of the various reform and
implementation strategies from the perspective of policy making and
change management. Kingdon’s »multiple streams« theory of policy
development was used to analyse and identify the cycles of policy ma-
king during the reform process. This theory helps defining the relevance
of individuals, institutions, and leadership for successful reforms that
have to make use of appropriate windows of opportunity. The paper
depicts highlights of the PHC reform in Portugal implemented as a set
of focused reforms or »reform waves«.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in Portugal 31
Resumo
Aktuelle Entwicklungen
In den letzten beiden Jahrzehnten lag die Gesundheitsquote in Portugal,
also der Anteil der gesamten Gesundheitsausgaben am Bruttoinlands-
produkt, durchschnittlich bei etwa 10 %. Dazu trugen vor allem seit
2010 auch verschiedene Kostendämpfungsansätze wie 20-prozentige
Einkommenskürzungen beim Fachpersonal im Gesundheitswesen und
Einsparungen bei medizinischem Material wie Arzneimitteln, klini-
schem Bedarf u. ä. bei. Obwohl diese Kürzungen Einschnitte bei der
Versorgung und letztlich eine Bedrohung des Nationalen Gesundheits-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
44 Luís Velez Lapão
systems (NHS) bedeuteten, zwangen sie die AnbieterInnen auch zur
Steigerung der Effizienz, wobei sie immer den universellen Anspruch
medizinische Versorgung aufrechterhalten mussten. Es gibt Hinweise
darauf, dass es den meisten ACES-Manager unter diesen schwierigen
Bedingungen offenbar dennoch gelungen zu sein scheint, die Abläufe
zu verbessern und klinische Leitlinien einzuführen, zu denen sich Por-
tugal im Rahmen des finanziellen Stabilisierungsabkommens mit der
Europäischen Zentralbank, dem Internationalen Währungsfonds und
der Europäischen Kommission verpflichtet hatte.
Die Auswirkungen der europäischen Finanzkrise auf die PHC-
Reform in Portugal lassen sich im Wesentlichen in drei verschiedenen
Bereichen festmachen. Es gab erhebliche Einsparungen bei den Investi-
tionen z. B. für den Aufbau neuer Familiengesundheitszentren (entstan-
den 2009 noch 40 neue USF, waren es 2014 nur noch vier), die Zahl
der Neueinstellungen von ÄrztInnen und Pflegepersonal ging deutlich
zurück, und die Zuzahlungen im Gesundheitswesen stiegen um 30 Pro-
zent – vorgeblich um die Nachfrage besser steuern zu können. Dabei ist
aber auch ein positives Ergebnis der Krise hervorzuheben, nämlich die
Auswirkung von Maßnahmen der Leitungsteams in den ACES. Denn
die Krise zwang aufgrund des Rückgangs verfügbarer Ressourcen zu
einem effektiveren Management und einer besseren Nutzung dieser
Ressourcen, was möglicherweise die Negativeffekte der Krise kompen-
siert haben könnte.
Die genaue Erfassung der Folgen der Finanzkrise für das portugiesi-
sche Gesundheitswesen und insbesondere die Primärversorgung steht
allerdings noch aus und ist Gegenstand verschiedener aktueller Untersu-
chungen. Eine erste, vorläufige Auswertung der Krankenhausfallzahlen
zeigt einen Rückgang der Inanspruchnahme von Notfallbehandlungen.
Dies ist zum einen auf die beiden wichtigsten krisenbedingten Maß-
nahmen, nämlich die etwa 30-prozentige Senkung der Realeinkommen
und den deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit, und zum anderen auf
die Verdoppelung der fälligen Zuzahlungen zurückzuführen. Auf den
ersten Blick könnte dies ein Hinweis auf den erwünschten Effekt sein,
durch bessere Primärversorgung die Häufigkeit medizinischer Notfälle
zu senken; aber dieser Rückgang könnte auch Ausdruck einer schäd-
lichen Verminderung der Inanspruchnahme sein. Die Ergebnisse lau-
fender Untersuchungen werden möglicherweise mehr Klarheit über die
Effekte der oktroyierten Kostendämpfung im portugiesischen Gesund-
heitswesen schaffen. Empirische Analysen der Auswirkungen der Aus-
teritätspolitik in anderen Krisenländern Europas weisen auf vielfältige
und teils schwerwiegende Veränderung bei der Versorgung und auch
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Erkenntnisse aus 50 Jahren Reformerfahrung in Portugal 45
bei den gesundheitlichen Indikatoren hin (z. B. Karanikolos 2013). In
diesem Zusammenhang erscheint die Frage höchst relevant, ob Länder
mit stärker an der Primärversorgung ausgerichteten Gesundheitssyste-
men wie Portugal besser mit den Folgen finanzieller Krisen und Aus-
terität umgehen können als Länder wie Griechenland, wo die primäre
Versorgung traditionell keine Rolle spielt (Lionis 2009).
Schlussfolgerungen
Dieser Artikel verdeutlicht den bisherigen Erfolg der PHC-Reform in
Portugal, die aus einer Reihe von fokussierten Teilreformen bzw. In-
novationswellen während der letzten 50 Jahre bestand. Der größte Teil
dieses Erfolgs beruhte auf den folgenden wesentlichen Bedingungen:
Hierbei muss man sich bewusst machen, dass die bloße Verabschie-
dung von Gesetzen und Bestimmungen ohne Zuweisung entsprechen-
der Mittel und ohne weiterführende Regelungen nicht ausreicht, eine
Reform wie die Stärkung der Primärversorgung und deren Etablierung
als Zugangspunkt zum gesamten Krankenversorgungssystem umzuset-
zen. Denn ein solches Unterfangen führt eher zu Spannungen zwischen
PolitikerInnen, Führungskräften und LeistungserbringerInnen, anstatt
wirklich dem Bedarf der Bevölkerung entgegenzukommen. Dabei ist
das Multiple Streams-Modell von Kingdon hilfreich, um die Bedeu-
tung von Individuen, Institutionen, Führungsebenen und politischen
Opportunitäten zu erkennen. Neue politische Gelegenheiten werden
sich ergeben: Es bleibt abzuwarten, ob politische Entscheidungsträge-
rInnen sie ausnutzen, sei es in Portugal, Deutschland, Angola, China
oder anderswo.
Korrespondenzadresse:
Luís Velez Lapão
Professor for International Public Health Management
WHO Collaborating Center for Health Workforce Policy und Planning
Instituto de Higiene e Medicina Tropical
Universidade Nova de Lisboa – Portugal
Tel.: +351 (0)213 652 600
Fax: +351 (0)213 632 105
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Zusammenfassung
Seit Ende der 1990er Jahre ist »Familiengesundheit« die Primärver-
sorgungsstrategie im Rahmen einer grundlegenderen Umgestaltung
des Versorgungsmodells, des Einheitlichen Gesundheitssystems SUS,
in Brasilien. Der vorliegende Beitrag beschreibt die Primärversorgung
in Brasilien, analysiert das der Familiengesundheitsmodell und disku-
tiert die Herausforderungen von multiprofessioneller Teamarbeit und
Gemeindeorientierung unter Auswertung einer externen Evaluierung
des »Nationalen Programms zur Verbesserung des Zugangs und der
Qualität der Primärversorgung«. Dabei zeigt sich, dass trotz einer
spürbaren Verbesserung der Primärversorgung Brasilien weiterhin vor
großen Herausforderungen steht, universellen Zugang zu einer qualita-
tiv hochwertigen, an den Bedürfnissen der BürgerInnen ausgerichteten
medizinischen Versorgung zu gewährleisten und gleichzeitig den ge-
sellschaftlichen Ungleichheiten in Folge der sozialen Determinanten
von Gesundheit entgegenzuwirken.
Abstract
Since the late 1990s, »Family Health« is the primary-health care (PHC)
strategy in the context of a broader reform of the healthcare model of
the Brazilian Unified Health System (SUS). This article analyses the
Family Health Strategy with special focus on two principal components
of the Brazilian primary health care approach: multi-professional
teamwork and community orientation. The paper presents and analy-
ses information from the national database of surveys conducted in the
external evaluation of the »National Programme for Improving Access
and Quality of Primary Care« (PMAQ-AB). Despite an evident im-
provement of primary health care in Brazil, important challenges still
remain for ensuring universal access to quality health services, while
simultaneously addressing social determinants of health and reducing
social inequalities.
Einleitung
Im zurückliegenden Jahrzehnt standen auch in Lateinamerika die
Stärkung der medizinischen Primärversorgung (Primary Health Care
bzw. PHC) und der Aufbau koordinierter Versorgungsnetze auf der
gesundheitspolitischen Agenda. Damit verfolgten die Länder das Ziel,
universellen Zugang zum Versorgungssystem zu garantieren, soziale
Ungleichheiten abzubauen und die neuen demografischen und epide-
miologischen Herausforderungen anzugehen. Die Alterung der Bevöl-
kerung, Veränderungen der Familienstrukturen und das Vordringen
chronischer Erkrankungen verlangen nach unterschiedlichen komple-
xen Dienstleistungen und ihrer Koordination. Dabei kommt prinzipiell
der Primärversorgung eine entscheidende Rolle zu, die barrierefrei, von
hoher Qualität und in das allgemeine Fürsorgenetz integriert sein muss.
Diese Herausforderungen veranlassten die Panamerikanische Ge-
sundheitsorganisation (PAHO) (2005) und die Weltgesundheitsorga-
nisation (WHO) (2008), einen Prozess zur »Erneuerung von Primary
Health Care« einzuleiten (vgl. Labonté et al. 2009). So widmete die
WHO ihren Weltgesundheitsbericht 2008 der medizinischen Primär-
versorgung (PHC), die sie für »nötiger denn je« hielt. Der WHO-
Bericht ordnet PHC die Koordinierungsfunktion für eine umfassende
und abgestimmte Antwort auf allen Versorgungsebenen zu. PHC ist
dabei Teil eines komplexen Reformansatzes im Sinne einer universel-
len Absicherung und nicht mehr bloß ein »armes Programm für Arme«
(World Health Organization 2008).
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 55
Seit der PHC-Konferenz von Alma Ata besteht allerdings auch in
Lateinamerika ein Spannungsverhältnis zwischen zwei unterschiedli-
chen PHC-Konzepten, nämlich a) einer selektiven Primärversorgung
(selective primary care), die auf der Grundlage begrenzter staatlicher
Interventionen im Rahmen einer segmentierten Gesundheitsversorgung
extrem armen Bevölkerungsgruppen in Abhängigkeit von deren Ein-
kommen ein Minimalpaket an Versorgungsleistungen gewährt, und
b) einer integralen Primärversorgung (comprehensive primary health
care) als einer das gesamte Gesundheitssystem umfassenden und orga-
nisierenden Strategie, die ein universell gültiges Recht auf Gesundheit
und den bedarfsgerechten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen un-
abhängig vom Einkommen garantiert.
Anders als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern
mit segmentierten Gesundheitssystemen (Fleury 2001; ISAGS 2012),
wo also verschiedene Teilsysteme für unterschiedliche Bevölkerungs-
gruppen bestehen, begann Brasilien vor mehr als zwei Jahrzehnten mit
der Einführung des weiter unten eingehender vorgestellten universellen
öffentlichen Gesundheitssystems »Sistema Único de Saúde« (Einheit-
liches Gesundheitssystem, abgekürzt SUS) und seit Ende der 1990er
Jahre mit der Entwicklung einer Familiengesundheitsstrategie (mit
der portugiesischen Abkürzung ESF) als neuem Fürsorgemodell der
Primärversorgung. Diese Familiengesundheitsstrategie ist Bestandteil
einer grundlegenden Erneuerung des PHC-Ansatzes im Rahmen des
SUS. Sie beinhaltet Elemente eines integralen Konzepts von Primär-
versorgung, wobei multiprofessionelle Teamarbeit und Gemeinde-
orientierung im Vordergrund stehen sollen. Diese Strategie unterschei-
det sich von anderen Primärversorgungskonzepten wie beispielsweise
dem deutschen, in denen diese Aspekte unzureichend oder gar nicht zur
Geltung kommen.
Der vorliegende Beitrag beschreibt wesentliche Ansätze der Primär-
versorgung in Brasilien, analysiert die Merkmale des Fürsorgemodells
der Familiengesundheitsstrategie ESF und diskutiert die Herausforde-
rungen, die mit der wirksamen Umsetzung von multiprofessioneller
Teamarbeit und Gemeindeorientierung verbunden sind. Die Darstel-
lung ausgewählter Tätigkeiten der Familiengesundheitsteams beruht
auf der Auswertung von Informationen einer Datenbank des Natio-
nalen Programms zur Verbesserung des Zugangs und der Qualität der
Primärversorgung (PMAQ-AB) des brasilianischen Gesundheitsmi-
nisteriums (Ministério da Saúde 2012). Als Teil dieses Programms
erfolgten 2012 eine externe Evaluierung der in Brasilien auch als
»Basisversorgung« bezeichneten Primärversorgung, eine Erfassung
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
56 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
aller Primärgesundheitseinrichtungen sowie eine Befragung der Fa-
miliengesundheitsteams, die am PMAQ-Programm teilnehmen. Die
MitarbeiterInnen der Familiengesundheitsteams beantworteten dafür
einen Fragebogen über Tätigkeiten und Arbeitsprozesse der Teams,
die Organisation der Versorgung und die Einbindung der Primärver-
sorgung in das Gesamtnetzwerk der Gesundheitsdienste. Landesweit
beteiligten sich 17.201 Teams bzw. etwa 38.000 Einrichtungen der
Primärgesundheit an der Evaluierung. Von den zahlreichen Aspekten
der umfangreichen Evaluation stehen im vorliegenden Beitrag zwei
Aspekte im Mittelpunkt: multiprofessionelle Teamarbeit und Gemein-
deorientierung.
Hintergrund
Brasilien ist ein sehr ausgedehntes Land mit rund 200 Millionen Ein-
wohnerInnen und einer relativ jungen Bevölkerungsstruktur, die zur-
zeit im Rahmen eines raschen demografischen und epidemiologischen
Wandels spürbaren Änderungen unterliegt. Brasilien ist die siebtgrößte
Volkswirtschaft der Welt, verzeichnet ein mittleres Einkommensniveau
und weist eine regional sehr heterogene Wirtschaftsentwicklung sowie
gravierende soziale Ungleichheiten auf (s. Tab. 1). In den vergange-
nen Jahrzehnten haben Links- und Mitte-Links-Regierungen in Brasi-
lien ebenso wie in anderen lateinamerikanischen Ländern eine Politik
der sozialen Absicherung vorangetrieben. Nicht zuletzt aufgrund der
Programme zur Armutsminderung kann Lateinamerika insgesamt Ver-
besserungen der ökonomischen und sozialen Indikatoren vorweisen
(s. Tab. 1). Während der Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da
Silva (2003-2010) konnten schätzungsweise 28 Millionen Menschen
in Brasilien der Armut entfliehen. Maßgeblichen Anteil daran hatten
die reale Erhöhung des monatlichen Mindestlohns von ca. 80 auf 250
Euro und die Ausweitung des Sozialhilfeprogramms Bolsa Família, das
heute 13,9 Millionen Familien mit 25 bis 113 Euro im Monat unter-
stützt. Trotz einer Verbesserung der Einkommensverteilung in den letz-
ten Jahren besteht in Brasilien allerdings weiterhin eine extrem große
Einkommensungleichheit, erkennbar an einem Gini-Koeffizienten von
0,508 gegenüber 0,290 in Deutschland (2011).
Ökonomische Indikatoren
2,49 Billionen
Bruttoinlandsprodukt (2012)
USD
Einkommen pro Kopf USD KKP
11.720
(2012)
Arbeitslosigkeit (2013) 7,5%
Informelle Arbeit (2012) 43%
Anteil der Bevölkerung in Armut 2002 2008 2011
Extreme Armut (%)
13,2 7,3 6,1
(<1,25 USD/Tag)
Armut (%) (<2,5 USD/Tag) 32,4 22,6 20,9
Index für menschliche
2000 2005 2012
Entwicklung (HDI)
0,669 0,699 0,730
Gini-Koeffizient zur
0,572 0,552 0,508
Einkommenskonzentration
Demografische Indikatoren
Bevölkerung (2010) 190.732.694
unter 18 Jahren 29,6%
60 Jahren und älter 11,3%
Lebenserwartung Männer Frauen insgesamt
Brasilien (2011) 70,6 77,7 74,1
Nordosten (2009) 66,9 74,1 70,4
Süden (2009) 71,9 78,7 75,2
Fertilitätsrate
1,9
(Lebendgeburten je Frau) (2010)
Säuglingssterblichkeit
(Säuglingssterbefälle je 1995 2010
1000 Lebendgeborene)
Brasilien 31,9 15,3
Nordosten 50,4 20,1
Süden 17,5 11,3
Todesursachen (2010)
Krankheiten des Kreislaufsystems 32,0%
Neubildungen 16,5%
Äußere Ursachen 13,6%
Krankheiten des Atmungssystems 10,9%
Infektiöse und parasitäre Krank-
4,9%
heiten
Bestimmte Zustände perinatalen
3,0%
Ursprungs
1 Als Beispiele seien hier der Seguro Básico de Salud (SBS) in Bolivien und der
Seguro Integral de Salud (SIS) in Peru genannt. Beide steuerfinanzierten Program-
me boten der armen Bevölkerung anfangs ausschließlich Leistungen im Bereich der
Mutter-Kind-, sowie im Fall des SIS auch der Jugendgesundheit, und entwickelten
sich erst später zu Ansätzen für ein bisher nicht erreichtes universelles System in
beiden Ländern.
Dimensionen Merkmale
Reformperiode 1980er
Jahr der Verabschie-
dung des Gesetzes 1988
Politischer Kontext Übergang von einem diktatorischen Regime zur
Demokratie
Soziales Gesundheits- Nationaler Gesundheitsdienst – Beveridge-Modell
versorgungsmodell
Bezeichnung Sistema Único de Saúde (SUS) / Einheitliches
Gesundheitssystem
Allgemeine Prinzipien Gesundheit als Bürgerrecht – Universalität
Umfassende Gesundheitsfürsorge (öffentliche
Gesundheit und persönliche primäre, sekundäre und
tertiäre Versorgung)
Gesundheit als Komponente des sozialen Wohl-
fahrtssystems
System der sozialen Partizipation
Organisatorische Dezentralisierung und verteilte
Verantwortlichkeiten auf den drei Ebenen Bund,
Länder und Kommunen
Wichtige Reform- Soziale »Gesundheitsbewegung« getragen von
Akteure einzelnen Parlamentariern, Verwaltungsfachkräften
und Grassroots-Organisationen
Finanzierung Der SUS wird aus Steuermitteln der drei Regie-
rungsebenen finanziert: der Bund zu 44,8%, die
Länder zu 25,6% und die Kommunen zu 29,6%
(2010); es gibt keine Zuzahlungen.
Soziale Schichtung Der SUS deckt die gesamte Bevölkerung beitrags-
frei ab, unabhängig von Einkommen und Beschäf-
tigungsstatus.
Neben dem Zugang zum SUS haben 25% der
Bevölkerung eine zweite Absicherung, einen so-
genannten privaten Gesundheitsplan im Rahmen
einer Privatversicherung (teilweise in Form einer
vom Arbeitgeber bezahlten Lohnzusatzleistung).
Gemeindeorientierung % der
Teams
Territorialisierung (Definition des Einzugsbereichs)
Das sozialräumliche Einzugsgebiet des Teams ist definiert 98%
Das ESF-Team besitzt Karten mit Eintragungen des 85%
Einzugsbereichs
Die Gebietskarte enthält:
Markierung der ACS-Mikrobereiche 72%
Markierung der sozialen Einrichtungen (Geschäfte, Kirchen, 46%
Schulen)
Kennzeichnung der Patienten mit prioritären Krankheitsbildern 26%
(Diabetes, Bluthochdruck, mentale Gesundheit
Monitoring und Analyse der Gesundheitsindikatoren und 82%
-informationen der Gebietsbevölkerung
Intersektorialität
In der Arbeitsagenda des Teams ist das Angebot von 79%
gesundheitsbildenden Gruppenaktivitäten und Gemeinde-
aktionen vorgesehen
Bei der Aktivitätenplanung berücksichtigt das Team:
die Einbindung der Gemeindeorganisationen 63%
(Partnerschaft und Aushandeln mit der Gemeinde)
die Einbindung anderer im Gebiet agierender 60%
Sektoren/Diensten
die Einbindung der Gemeindeakteure 57%
Verhältnis zu anderen Sektoren
Register der im Programm Bolsa Família eingeschriebenen 82%
Familien des Territoriums liegt vor
Aktivitäten der Gesundheitserziehung in den Schulen des 75%
Quartiers/der Gemeinde
Korrespondenzadresse:
Prof. Lígia Giovanella
National School of Public Health / Oswaldo Cruz Fundation
Av. Brasil, 4036
21040-361 Rio de Janeiro RJ
Brasil
Tel.: +55 (0)21 3882 9134 / 2209 3347
Fax: +55 (0)21 2209 3119
E-Mail: giovanel@ensp.fiocruz.br
4 Damit sind die stationären Aufnahmen gemeint, die potenziell durch gute am-
bulante Versorgung vermeidbar wären. Ambulant-sensitive Krankenhausfälle treten
vor allem auf bei
1. akuten Erkrankungen, die durch Impfung oder andere präventive Maßnahmen
zu vermeiden gewesen wären,
2. akuten Erkrankungen, die bei adäquater Behandlung und Kontrolle ambulant
zu beherrschen wären,
3. Exacerbationen chronischer Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Hypertonie
und chronischer Herzinsuffizienz, die durch angemessene ambulante Versor-
gung vermeidbar wären (vgl. Burgdorf/Sundmacher 2014: 215).
Zusammenfassung
Das chilenische Gesundheitswesen ist durch eine ausgeprägte Zwei-
teilung gekennzeichnet, die anders als in Deutschland auch die Leis-
tungserbringerseite einschließt. Dieser Beitrag beleuchtet zunächst die
historische Entwicklung des chilenischen Gesundheitssystems von den
Anfängen bis zur jüngsten umfassenden Reform von 2005 unter beson-
derer Berücksichtigung der Primärversorgung. Es zeigt sich, dass seg-
mentierte Systeme vor allem aufgrund ihrer organisatorischen Unter-
teilung und der unterschiedlichen Finanzierungsströme einer Stärkung
der Primärversorgung im Wege stehen. Abschließend analysiert der
Beitrag denkbare Schlussfolgerungen aus den chilenischen Versuchen
einer besseren Integration der Primärversorgung für die aktuelle De-
batte in Deutschland.
Abstract
The Chilean health care system is characterised by a striking segmen-
tation that includes also health care providers – different from the situ-
ation in Germany. The paper starts depicting the historical evolution of
the Chilean healthcare sector from the beginning until the most recent
major reform of 2005, with particular reference to primary health care
(PHC). Obviously, segmented healthcare systems tend to make efforts
to strengthen PHC more challenging due to organisational division
and separate financial flows. Finally, the article analyses conceivable
lessons learned from the Chilean approach to better integrate PHC in
view of the current debate on PHC in Germany.
Resumen
El sistema de salud chileno se caracteriza por una clara segmentación
que incluye el sector prestador, a diferencia de la situación en Alemania.
Este artículo comienza con una presentación de la evolución histórica del
sistema sanitario desde lo principios hasta la más reciente reforma am-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Das chilenische Gesundheitssystem und die Primärversorgung 83
plia del 2005, poniendo énfasis en la atención primaria de salud (APS).
Se puede concluir que los sistemas segmentados tienden a estorbar el
fortalecimiento de la APS, principalmente por la division organizativa y
la separación de los flujos financieros. Al final, el artículo analiza posib-
les lecciones aprendidas que se pueden sacar de los enfoques chilenos de
major integración de la APS para el debate actual en Alemania.
Einleitung
Seit den 1990er Jahren liegt zunehmende empirische Evidenz für einen
positiven Zusammenhang zwischen gesundheitlicher Primärversorgung
(primary health care = PHC) und den Gesundheitsindikatoren eines
Landes vor (Starfield 1991, 1994). Zumindest für die Industrienationen
der westlichen Welt ließ sich zeigen, dass eine größere Bedeutung der
Primärversorgung in einem Gesundheitssystem mit guten gesundheit-
lichen Ergebnissen und insbesondere mit vergleichsweise niedrigen
Gesundheitsausgaben, größerer Patientenzufriedenheit, besserem Ge-
sundheitszustand und niedrigem Medikamentengebrauch verbunden ist
(ibid.). Vor diesem Hintergrund wurde Primary Health Care (PHC) zu
einer wichtigen Strategie zur Erreichung des programmatischen Ziels
»Gesundheit für Alle«.
Chile leitete 2005 eine Gesundheitsreform ein, mit der das Land auf
den demografisch-epidemiologischen Wandel, gesundheitliche Un-
gleichheiten und die Unzufriedenheit der NutzerInnen des Gesund-
heitswesens reagierte. Ein zentraler Bestandteil dieser Reform war die
Trennung der Funktionen, um das öffentliche Teilsystem zu stärken,
soziale Ungleichheiten abzubauen und vor allem die medizinische
Versorgung stärker an der Primärversorgung auszurichten. Explizite
Ziele waren die Verbesserung der gesundheitsbezogenen Ergebnisse,
die Anpassung an die Herausforderungen der alternden Bevölkerung,
der Abbau von Ungleichheiten und die Befriedigung des Bedarfs sowie
der Erwartungen der BürgerInnen (MINSAL 2008). Das Versorgungs-
modell galt dabei als Reforminstrument, da es die Gesundheitsförde-
rung, die Prävention, die Integration der Versorgung und die Stärkung
der Primärversorgung einbezieht.
Im Zuge der Reform von 2005 setzte sich erneut die Erkenntnis durch,
dass PHC im Rahmen eines umfassenden Versorgungsmodells und mit
einem Zuschnitt auf Familie und Gemeinde Grundlage für die Entwick-
lung des Gesundheitssystems sein sollte. Allerdings gilt PHC weiter-
hin als Versorgung geringer Komplexität, auch wenn sie in der Lage
ist, 90 % der gesundheitlichen Probleme einer Bevölkerung zu lösen,
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
84 Arteaga, Rebolledo, Silva, Cuadrado, Martínez, Holst
zugleich Ausgangspunkt der allermeisten Überweisungen an bzw. von
den anderen Versorgungsniveaus ist und damit den Großteil der am-
bulanten Gesundheitsbedarfs befriedigt (MINSAL 2008). Dessen un-
geachtet gibt es Faktoren, die der Reformabsicht im Wege stehen, PHC
besser in die gesamte gesundheitsbezogene Versorgung zu integrieren.
Der vorliegende Beitrag beschreibt und analysiert die Geschichte des
chilenischen Gesundheitswesens unter besonderer Berücksichtigung
der Primärversorgung und geht dabei insbesondere auf die Faktoren ein,
die erkennbaren Einfluss auf die aktuelle Situation hatten. Der folgende
Abschnitt fasst zunächst die wichtigsten historischen Entwicklungen
des chilenischen Gesundheitssystems zusammen und beschreibt einige
spezifische Elemente des primären Versorgungsniveaus in verschiede-
nen historischen Phasen. Es folgen eine Darstellung ausgewählter As-
pekte der Primärversorgung in Chile und eine kritische Analyse des
chilenischen Gesundheitssystems unter besonderer Berücksichtigung
der Bereiche, die nach Auffassung der AutorInnen einer Weiterent-
wicklung zu einem integrierten Versorgungssystem im Wege stehen.
Das Abschlusskapitel widmet sich vergleichenden Betrachtungen und
möglichen Rückschlüssen der chilenischen PHC-Erfahrungen auf die
Primärversorgung in Deutschland.
Aktuelle Reformbemühungen
Die bisher letzte Gesundheitsreform, deren Einführung im Januar 2005
begann, zielte auf eine Steigerung der Solidarität und sozialen Gerech-
tigkeit des chilenischen Gesundheitswesens ab (Burrows 2008; Infante
und Paraje 2010). Die vom Parlament verabschiedete Reform bestand
aus zwei wesentlichen Maßnahmen, nämlich der Einführung einer Ex-
pliziten Universellen Zugangsgarantie (Plan de Acceso Universal con
Garantías Explícitas – AUGE)2 und der Stärkung der nationalen und
regionalen Gesundheitsbehörden sowie der Selbstverwaltung der Kran-
kenhäuser.
Die Regelung über Garantien beim Zugang zu Krankenversorgungs-
leistungen war eine der ersten teilsystemübergreifenden gesundheits-
politischen Maßnahmen in Chile (Superintendencia de Salud 2014);
sie gewährleistet für anfangs 56 und mittlerweile 80 epidemiologisch
relevante Gesundheitsprobleme Zugang, Zweckmäßigkeit, Qualität und
finanzielle Absicherung. Im Hinblick auf den Zugang zur Versorgung
verpflichtet der sogenannte Plan AUGE alle FinanzierungsträgerInnen
und LeistungserbringerInnen, erforderliche elektive Behandlungen in-
nerhalb von maximal zwei Monaten sicherzustellen. In vergleichbarer
Weise ist mit Einführung dieser Behandlungsgarantien die maximale
jährliche Zuzahlungsbelastung auf zwei Monatseinkommen begrenzt.
Die Regulierung der maximalen Wartezeiten stellt eine große Heraus-
2 Ley 19.966 de Régimen General de Garantías en Salud – Gesetz 19.966 für die
Generelle Regelung über Behandlungsgarantien.
Lessons learned
Der Fall Chiles ist ein Beleg für die empirische Erkenntnis aus an-
deren Teilen der Welt, dass die Verbindung zwischen den jeweiligen
politisch-administrativen Körperschaften und der Leistungserbringung
auf primärer Ebene für das Funktionieren der Primärversorgung von
Bedeutung ist. In diesem Sinne besteht kein Unterschied zwischen
einer Schwächung bestehender Integrierungsansätze und ihrem völli-
gen Fehlen, wie es weitgehend in deutschen Gesundheitswesen der Fall
ist. Hierzulande liegt die Erbringung nicht nur kurativer Behandlungs-
leistungen, sondern auch der meisten primärmedizinischen Präven-
tions- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen bei einer Untergruppe
der KassenärztInnen, nämlich den AllgemeinmedizinerInnen. Für eini-
ge präventive und gesundheitsfördernde Leistungen sind wiederum die
Gesundheitsämter als öffentliche Behörden zuständig. Dazu ist anzu-
merken, dass die Honorierung der Allgemein- oder HausärztInnen über
die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) (und in geringerem Maße
über private Krankenversicherungen) erfolgt.5
die Bundesanstalt für Arbeit verantwortlich sind. Aus Gründen der besseren Über-
sichtlichkeit verzichten die AutorInnen sowohl für Deutschland als auch für Chile,
wo es ein der Gesetzlichen Unfallversicherung vergleichbares Absicherungssystem
für arbeitsassoziierte Gesundheitsprobleme gibt, die Asociación Chilena de Seguridad
(ACHS), auf die Berücksichtigung der organisatorisch und finanziell von der übrigen
Primärversorgung getrennten betrieblichen Gesundheitsförderung und -erhaltung.
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Zusammenfassung
Gesundheitssysteme mit führender Rolle der Primärversorgung bieten
viele Vorzüge. Der vorliegende Artikel stellt Gesichtspunkte des neu-
seeländischen und deutschen Gesundheitswesens nebeneinander, hebt
dabei wesentliche Unterschiede bei Größe, Möglichkeiten und Qualifi-
kationen der in der Primärversorgung tätigen Arbeitskräfte hervor und
zeigt die Bedeutung der Aus- und Weiterbildung der betroffenen Pro-
fessionen auf. Dabei gibt es wertvolle Erkenntnisse, die für kleine und
größere Länder gleichermaßen gelten.
Abstract
Primary care-led health systems have many advantages. This article
compares aspects of the New Zealand and German health systems, em-
phasises key differences in the size, scope and skill mix of the respective
primary care workforces, and demonstrates the importance of educa-
tion and training for the primary care professions. There are valuable
lessons that can be shared between small and larger countries.
Einleitung
Neuseeland ist mit seinen 4,4 Mio. EinwohnerInnen ein kleines Land
im Vergleich zu Deutschland mit einer Bevölkerung von 81,7 Millio-
nen. Trotz der unterschiedlichen Größe und Struktur beider Länder
haben Neuseeland und Deutschland grundlegende Gemeinsamkeiten
wie die zunehmenden gesundheitlichen Herausforderungen durch die
Alterung der Bevölkerung und tendenziell steigende Gesundheitsaus-
gaben. Und unter den sich rasch verändernden Rahmenbedingungen
stellt die Sicherstellung der Versorgung in ländlichen und benachtei-
ligten Gebieten die Gesundheitssysteme beider Länder vor besondere
Probleme.
Wie in anderen Industrieländern weist die Gesundheitsquote auch
in beiden Ländern steigende Tendenz auf: In Deutschland stieg sie
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primärversorgung in Neuseeland 105
zwischen 2000 und 2010 von 10,4 % auf 11,5 %, in Neuseeland von
7,6 % auf 10,1 % (Weltgesundheitsorganisation 2013). Bekannterma-
ßen führt ein von der Primärversorgung gesteuertes Gesundheitswesen
zu einer besseren Versorgung und niedrigeren Kosten im Vergleich
zu Systemen mit ungeregeltem bzw. marktbestimmtem Zugang zur
Sekundärversorgung (Starfield 1994; Starfield 2003). In beiden Län-
dern besteht daher die Notwendigkeit, intensiver die Vorteile einer
stärkeren Rolle der Primärversorgung im Gesundheitswesen und der
Prinzipien von PHC als »erste Anlaufstelle« im Gesundheitssystem
aufzugreifen.
Wichtige nationale Gesundheitsindikatoren zeigen, dass sich Neusee-
länderInnen in der Regel guter Gesundheit erfreuen. Zum Beispiel hatte
Neuseeland 2011 mit 83 Jahren bei Frauen und 78 Jahren bei Männern
eine vergleichsweise hohe durchschnittliche Lebenserwartung sowie
eine niedrige Kindersterblichkeit von 6 pro 1.000 Lebendgeburten
(Statistics New Zealand 2013). Allerdings bestehen teils erhebliche
gesundheitliche Ungleichheiten in Form deutlicher gesundheitlicher
Benachteiligung von Personen mit niedrigem sozioökonomischen Sta-
tus, insbesondere für Maori und BewohnerInnen aus dem pazifischen
Raum, im Vergleich zu den nationalen Durchschnittswerten (Govern-
ment of New Zealand 2013). Insgesamt sind die Gesundheitsindika-
toren in beiden Ländern vergleichbar, denn die Lebenserwartung lag
in Deutschland im Jahr 2011 bei Frauen bei 83 und bei Männern bei
78 Jahren, die Kindersterblichkeit bei 4/1000 Lebendgeburten) (World
Health Organization 2013).
Der vorliegende Artikel beschreibt und analysiert die Unterschiede
im Aufbau der Gesundheitssysteme, bei den Gesundheitsprofessionen
und bei den Aus- und Weiterbildungsbedingungen beider Länder. Aus-
gehend von der entscheidenden Rolle der Berufsgruppen im Gesund-
heitswesen sowie ihrer Aus- und Weiterbildung für die aktuelle und zu-
künftige bedarfsorientierte Versorgung der Bevölkerung beschreibt und
diskutiert dieser Artikel die Zusammensetzung, Arbeitsteilung und De-
tails der Ausbildung der Gesundheitsberufe in Neuseeland, die Rollen
der dortigen HausärztInnen und Pflegekräfte in der Primärversorgung
sowie Neuseelands Weg hin zu einer zunehmenden, Professionen über-
greifenden Zusammenarbeit im Bereich Primary Health Care (PHC).
Die in den letzten 10-12 Jahren in der neuseeländischen Primärversor-
gung gesammelten Erfahrungen liefern gewichtige Argumente, auch
in Deutschland die Primär- im Sinne einer stärker interprofessionellen
Grundversorgung auszubauen.
Erwerbspersonen im Gesundheitswesen
Zu den Schlüsselherausforderungen beider Länder gehören die Alte-
rung des Personals im Gesundheitswesen, dessen ungleiche regionale
Verteilung und die Notwendigkeit, eine flexible und zugleich ange-
messene Qualifizierungsmischung zu erreichen. Verschiedene Gesund-
heitssysteme erzeugen eine jeweils unterschiedliche demografische
Struktur bei den verschiedenen Gesundheitsberufen, die wiederum die
Gesundheitssysteme beeinflusst. Fachverbände der Gesundheitsberu-
fe und insbesondere ärztliche Aufsichtsbehörden nehmen seit langem
erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Gesundheitssysteme. In
Deutschland haben sich die Kassenärztlichen Vereinigungen, die etwa
150.000 ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen vertreten, erfolgreich für
den offenen Zugang zur nicht-hausärztlicher Facharztbehandlung ein-
gesetzt. Da ein großer Teil der ÄrztInnen in Neuseeland Allgemeinärz-
tInnen sind, kann deren Vertretung, das Royal New Zealand College of
General Practitioners (RNZCGP), seine vergleichsweise einflussreiche
Position nutzen, um die zentrale Steuerungsfunktion der Primärver-
sorgung zu stärken. Das Sicherstellungsgesetz der Kompetenzen der
Gesundheitsberufe (Health Practitioners Competence Assurance Act –
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
110 Susan Pullon, Markus Herrmann
HPCAA) (Government of New Zealand 2003) legt Praxisrichtlinien für
13 verschiedene Gesundheitsberufe fest, um eine engere Zusammen-
arbeit der Professionen zu fördern.
2011 lag der Anteil der praktizierenden Ärzte in Deutschland zwischen
3,45 und 5,4 und in Neuseeland bei 2,65 pro 1.000 EinwohnerInnen.
Bei höherer Arztdichte in Deutschland gibt es hierzulande einen gerin-
geren Anteil von AllgemeinärztInnen (0,69 Allgemeinärzte pro 1.000
EinwohnerInnen in Deutschland gegenüber 0,82 in Neuseeland) (Bun-
desministerium für Gesundheit 2013; Medical Council of New Zealand
2012). In dem Inselstaat arbeiten die meisten Grundversorgungspflege-
kräfte (primary care [practice] nurses) in der allgemeinärztlichen Praxis
und in der Primärversorgung gibt es mehr Pflegekräfte als Hausärz-
tInnen. Pflegekräfte arbeiten in der Regel selbstständig mit eigenem
Aufgabenbereich. Auch wenn nicht alle Pflegekräfte zu allen Aufga-
ben befähigt sind, umfasst ihre Tätigkeit die selbständige Beratung zur
Raucherentwöhnung, Entnahme und Verfolgung von Zervixabstrichen,
Wachstumsprogramme und Impfungen bei Kindern, Wundversorgung
einschließlich Hautnaht. Pflegekräfte in der Primärversorgung arbeiten
gemeinsam mit ÄrztInnen bei der Versorgung akuter Erkrankungen
wie bei Infektionen der oberen Atem- oder der Harnwege sowie bei
chronischen Erkrankungen wie z. B. Asthma oder Diabetes. Auch eine
kleinere Zahl von Pflegekräften mit einem Master-Abschluss und brei-
teren Tätigkeitsbereichen ist in der Grundversorgung tätig.
Ein Vergleich der Pflegesituation zwischen verschiedenen Ländern ge-
staltet sich schwierig, denn Daten über die Arbeitskräfte in Neuseeland
und Deutschland sind deswegen mit Vorsicht zu interpretieren, weil die
Rolle der Pflege in beiden Ländern unterschiedlich ist. Von 46.000 re-
gistrierten Pflegekräften in Neuseeland sind rund 5.500 in verschiedenen
Bereichen der Grundversorgung tätig (Nursing Council of New Zealand
2012), womit etwa genauso viele HausärztInnen wie Pflegekräfte in
der Primärversorgung arbeiten. In Deutschland arbeiten 1,56 Millionen
Menschen in der Pflege, viele davon als geringer qualifizierte Pflegehel-
ferInnen oder PraxisassistentInnen: 748.000 examinierte Gesundheits-
und KrankenpflegerInnen, 266.900 KrankenpflegerhelferInnen und
549.400 medizinische Fachangestellte (Bundesagentur für Arbeit 2010).
Während medizinische Fachangestellte vor allem in Praxen von nieder-
gelassenen ÄrztInnen tätig sind, arbeiten Pflegekräfte und -helferInnen
vor allem in Krankenhäusern, Pflegeheimen und der häuslichen Pflege.
Eigenverantwortliche Tätigkeit in der Primärversorgung ist für medizi-
nische Fachangestellte, eine Weiterentwicklung des ehemaligen Berufs
von ArzthelferInnen, derzeit nur sehr begrenzt möglich. Vorrangige
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primärversorgung in Neuseeland 111
Aufgaben in Deutschland sind die Erhöhung der Zahl der Fachkräfte in
der Krankenpflege, die Erweiterung ihres Handlungsspielraums und die
Schaffung entsprechender Ausbildungskapazitäten. Der Bedarf an Pfle-
gekräften wird in Zukunft in allen Bereichen steigen, vor allem in der
ambulanten und stationären Langzeitpflege (SVR Gesundheit 2012).
Bei dem Personal in der Primärversorgung beider Länder vollzieht
sich ein zunehmender Alterungsprozess. Das Durchschnittsalter der
HausärztInnen liegt in Deutschland mittlerweile bei 53 und in Neu-
seeland bei 51 Jahren (BMG 2013; Medical Council of New Zealand
2012). Die in Neuseeland in der Grundversorgung tätigen Pflegekräfte
sind durchschnittlich 49 Jahre alt (Nursing Council of New Zealand
2012), und in Deutschland ist der Anteil der über 50-Jährigen unter den
Pflegekräften zwischen 1999 und 2010 von 12,2 % auf 25,5 % gestiegen
(Bundesagentur für Arbeit 2013). Ohne einen raschen Ausbau der Aus-
und Weiterbildungsmöglichkeiten für HausärztInnen und Pflegekräfte
für die Primärversorgung wird weder Deutschland noch Neuseeland
diejenigen ersetzen können, die in den nächsten 10 bis 15 Jahren in den
Ruhestand gehen werden.
Die Rekrutierung von ÄrztInnen, Pflegekräften und anderen Gesund-
heitsberufen für kleine ländliche Krankenhäuser und ländliche Gesund-
heitszentren gestaltet sich schwierig. Neuseeland sieht sich den geogra-
fischen Herausforderungen gegenüber, wo eine kleine Bevölkerung sich
unregelmäßig über das langgezogene, schmale Land verstreut ist und
kämpft daher nicht nur darum, Arbeitskräfte für dünn besiedelte und ab-
gelegene Gebiete zu gewinnen, sondern auch um genügend ÄrztInnen
und ChirurgInnen mit der für kleinere regionale Krankenhäuser uner-
lässlichen breiten und umfassenden Qualifikation und Erfahrung (Health
Workforce Advisory Committee 2005). In Deutschland gibt es im Norden
und im Osten außerhalb der Großstädte eine deutlich niedrigere Dichte
von ÄrztInnen, Pflegekräften und anderen Gesundheitsberufen als im
Süden und Westen der Republik. Vor allem in ländlichen und struktur-
schwachen Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte lassen sich Kas-
senarztsitze nicht (mehr) besetzen, was vor allem die Niederlassung von
Haus- bzw. AllgemeinärztInnen betrifft (SVR Gesundheit 2012).
Diskussion
Ähnlich wie in einigen europäischen Ländern (Niederlande, Skandi-
navien, Großbritannien) hat Neuseeland damit begonnen, auf die ak-
tuelle Belastung des Gesundheitswesens mit einer Stärkung der Pri-
märversorgung zu reagieren und dabei Möglichkeiten einer besseren
professionenübergreifenden Zusammenarbeit, Praxis und Teamarbeit
zu untersuchen. Auf internationaler Ebene, vor allem in Kanada und
Australien, besteht eine deutlichere Tendenz in Richtung Primärversor-
gung die Gesundheitsversorgung voranzutreiben und die Anerkennung
der Allgemein- bzw. HausärztInnen in der medizinischen Versorgung
(Primärversorgung, Familienmedizin und Gemeindemedizin) zu stär-
ken. Im Allgemeinen ist das Profil der Hausärzte in vielen Ländern
breiter als in Deutschland. Das auch in verschiedenen europäischen
Ländern etablierte Primary-Care-Modell zwingt AllgemeinärztInnen
eine stärkere Lenkungsfunktion wahrzunehmen als ihre KollegInnen in
Deutschland (Herrmann et al. 2000).
Bei deutschen HausärztInnen wächst die Unzufriedenheit mit vielen
Aspekten des derzeitigen Systems. In einer internationalen Umfrage
unter deutschen, australischen, kanadischen, niederländischen, neusee-
ländischen, britischen und US-amerikanischen AllgemeinärztInnen
von 2007 beschrieben 83 % der deutschen HausärztInnen und damit
signifikant mehr als ihre KollegInnen aus den anderen Ländern, ihre
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
116 Susan Pullon, Markus Herrmann
Situation habe sich in den letzten fünf Jahren verschlechtert (in Neu-
seeland lag der Anteil bei 25 %, in Australien bei 17 %). Im Vergleich
zu den meisten anderen Ländern einschließlich Neuseeland beträgt die
durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit deutscher HausärztInnen
50 Stunden bei einer sehr hohen durchschnittlichen Zahl von Patien-
tenkontakten (243/Woche) und kurzen Konsultationszeiten (im Durch-
schnitt 7,8 Minuten pro PatientIn). HausärztInnen arbeiten in Neusee-
land hingegen durchschnittlich 41 Stunden und sehen im Durchschnitt
112 PatientInnen pro Woche mit einer durchschnittlichen Kontaktzeit
von 15,8 Minuten, vergleichbar mit der Situation in anderen Ländern
wie den Niederlanden oder Australien (Koch et al. 2007). Angesichts
dieses offensichtlichen Drucks, unter denen deutsche ÄrztInnen arbei-
ten, überrascht es, dass 80 % der deutschen Hausärzteschaft ähnlich wie
ihre internationalen Kollegen mit der Ausübung ihres ärztlichen Berufs
dennoch zufrieden sind (Neuseeland 78 %, internationale Streuung zwi-
schen 76-90 %) (Koch et al. 2007).
Trotz etlicher positiver Eigenschaften steht das neuseeländische
Gesundheitswesen auch vor Herausforderungen. So gibt es für einige
besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen Probleme beim Zu-
gang zur Primärversorgung sowie Wartelisten für weniger dringliche
Interventionen in der weiterführenden Facharztversorgung (Raymont
et al. 2008). Auch ist die Etablierungszeit für neue Therapiemethoden
deutlich länger, was von Ärzten und der Bevölkerung oft als Nachteil
erlebt wird. Einige dieser Probleme liegen an begrenzten Ressourcen
oder betreffen kleine Bevölkerungsgruppen, andere aber gehen an die
Substanz des öffentlichen, mischfinanzierten und von der Primärver-
sorgung geleiteten Systems.
Selbstverständlich lassen sich nicht alle Aspekte des neuseeländischen
Gesundheitswesens auf Deutschland übertragen. Es wurden immer wie-
der Forderungen nach Veränderungen der Aus- und Weiterbildung für
AllgemeinärztInnen in Deutschland laut, nicht nur um sie besser auf die
Aus- und Weiterbildung in anderen Ländern abzustimmen, sondern auch
um die Rollen und Aufgabenverteilung im Rahmen der Professions-
entwicklung in der Allgemeinmedizin zu erweitern und damit besser
den steigenden Gesundheitsbedürfnissen zu begegnen (Herrmann et al.
2003). Neue Modelle sind nur möglich, wenn HausärztInnen in der Lage
und befähigt sind, sich als konstruktive Mitglieder eines Primärversor-
gungsteams in einer umfassenden Primärversorgung zu begreifen, wo
Pflege und andere Gesundheitsberufe gleichermaßen anerkannt sind.
In Neuseeland ist die Primärversorgung fest in die grundständige Me-
dizinerausbildung eingebunden, unmittelbar nach dem Studium breite
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primärversorgung in Neuseeland 117
allgemeinmedizinische Kompetenz erforderlich und die allgemein-
medizinische Facharztweiterbildung landesweit verfügbar. In dem In-
selstaat nehmen HausärztInnen kompetent viele Aufgaben einer umfas-
senden medizinischen Versorgung wahr (New Zealand Royal College
of General Practitioners 2002). Die Herausforderung im 21. Jahrhundert
besteht nach wie vor in der Übertragung dieser wertvollen Vielfalt von
Fertigkeiten auf voll funktionsfähige Primärversorgungsteams. Dabei
ist ein deutlicher Fortschritt bei der zunehmenden Wertschätzung der
Pflege, der Implementierung integrierter Versorgungsmodelle und der
interdisziplinären Aus- und Weiterbildung zu erkennen.
Ausblick
Die Stärken des neuseeländischen Gesundheitssystems mit seiner
starken Ausrichtung an der Primärversorgung erlauben einige Rück-
schlüsse, die auch für die Diskussion in Deutschland relevant sind.
Beachtenswert sind insbesondere das breite Tätigkeitsspektrum von
HausärztInnen und ihre fachärztliche Weiterbildung, die sie auf diese
Aufgaben vorbereitet, und jüngere Tendenzen zur Unterstützung und
Finanzierung von PHC-Teams unter besonderer Anerkennung und
Stärkung der Pflege in der Primärversorgung (unabhängig der Notwen-
digkeit einer verbesserten postgradualen Weiterbildung). Empfehlens-
wert erscheint auch ein Registriersystem für PatientInnen in der Pri-
märversorgung, da es die Kontinuität der Versorgung verbessert und
systematische Vorsorge erst ermöglicht. Obgleich die freie Arztwahl
in Deutschland ein hohes Gut darstellt, zielen neue Instrumente wie die
Hausarztverträge und integrierte Versorgungsverträge (z. B. zu Homöo-
pathie) implizit daraufhin, auch in Deutschland ein Einschreibesystem
zu erproben und gesellschaftlich annehmbar zu machen.
Des Weiteren wäre eine Stärkung der Gatekeeper- oder Lotsenfunk-
tion der Primärversorgung in Deutschland zu empfehlen. Auf jeden Fall
sollten nicht primärärztlich tätige FachärztInnen weiterführende Be-
handlungen komplexer Versorgungsleistungen ausschließlich auf haus-
ärztliche Überweisung hin tätig werden können, und das mit möglichst
geringen Wartezeiten. Die neuseeländischen Erfahrungen lassen eine
Finanzierung der Primärversorgung auf Grundlage der eingeschriebe-
nen Bevölkerung empfehlenswert erscheinen, da eine Kopfpauscha-
lenhonorierung der Leistungserbringer spürbar die Teamarbeit in der
Primärversorgung fördert. Allerdings bedeuten selbst bescheidene Nut-
zergebühren in Neuseeland Zugangsbarrieren vor allem für sozial Be-
nachteiligte; nach Abschaffung der Praxisgebühr in Deutschland könn-
te der Weg zu besseren Lösungen der Finanzierung offen stehen.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
118 Susan Pullon, Markus Herrmann
Angesichts gesellschaftlicher Veränderungen wie der zunehmenden
Alterung der Bevölkerung und Entsiedelung ganzer Landstriche ist
eine umfassende Stärkung der Primärversorgung und der Rolle der All-
gemeinmedizin in Deutschland unumgänglich, um eine angemessene
Versorgung zu gewährleisten. Die klassischen deutschen HausärztIn-
nen als EinzelkämpferInnen mit einer oder zwei HelferInnen stellen
ein Auslaufmodell dar. Bevorstehende Aufgaben und Anforderungen
erfordern neue Arbeitsmodelle, die eine Weiterentwicklung des Selbst-
verständnisses der Professionen und ihrer Rollen. Wie in Neuseeland
werden auch die deutschen AllgemeinärztInnen in Zukunft eine stär-
kere Einbeziehung anderer Gesundheitsberufe durch Zusammenarbeit
und Dialog suchen müssen.
Korrespondenzadresse:
Prof. Sue Pullon
Department of Primary Health Care & General Practice Department
Te Tari Hauora Tūmatanui me te Mātauranga Rata Whānau
University of Otago, Wellington
23A Mein Street / PO Box 7343
Wellington
New Zealand
E-Mail: sue.pullon@otago.ac.nz
Danksagung
Die Autoren möchten besonders danken Dr. Sabine Stanley, Allge-
meinärztin in Neuseeland GP, die in Deutschland ausgebildet wurde
und ihre Weiterbildung in Neuseeland absolviert hat, sowie allen Mit-
arbeiterInnen in der Abteilung Primary Health Care und Allgemein-
medizin, Otago-Universität, Wellington, Neuseeland.
Abstract
In coming years, Switzerland will face a serious shortage of General
Practitioners (GP), and a sufficient number of young professionals is
not in sight. There is need for action from a medical, social and health
policy perspective in order to ensure adequate primary care in the next
decades. The paper starts with a description of the importance and tasks
of GP’s and depicts the medical training of GP’s. Thereafter the article
analyses the political framework conditions and presents health-policy
measures for promoting GP training with particular reference to an
appropriate GP curriculum.
Zusammenfassung
In der Schweiz ist in den kommenden Jahren mit einem ernstzuneh-
menden Hausarztmangel zu rechnen und ausreichender Nachwuchs ist
nicht in Sicht. Aus medizinischer, gesellschaftlicher und gesundheits-
politischer Perspektive besteht Handlungsbedarf, um eine zufrieden-
stellende Primärversorgung in den kommenden Jahrzehnten sicher-
stellen zu können. Der Artikel beschreibt zunächst die Bedeutung und
Aufgaben von HausärztInnen stellt die hausarztmedizinische Ausbil-
dung in der Schweiz vor. Anschließend schildert der Beitrag die politi-
sche Ausgangslage und gesundheitspolitische Maßnahmen zur Förde-
rung der Hausarztausbildung unter besonderer Berücksichtigung eines
Curriculums für die Hausarztmedizin.
Einleitung
Das Schweizer Gesundheitssystem bietet seinen PatientInnen eine im
internationalen Vergleich gute medizinische Versorgung (OECD und
WHO 2012). Allerdings ist, wie in vielen anderen europäischen Län-
dern auch, die Zahl der AllgemeinmedizinerInnen, die für den größten
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in der Schweiz 123
Teil der ambulanten Versorgung zuständig sind, rückläufig. Die vom
Schweizerischen Gesundheitsobservatorium für das Jahr 2011 ange-
gebene Zahl von durchschnittlich 0,9 GrundversorgerInnen1 pro 1.000
EinwohnerInnen (inklusive Pädiatrie) variiert zwischen den verschie-
denen Kantonen. Während in einigen Regionen, wie etwa dem Kanton
Basel-Stadt, durchschnittlich 1,4 GrundversorgerInnen für 1.000 Ein-
wohnerInnen zuständig sind, liegt ihre Dichte in anderen Regionen bei
unter 0,7 Praktizierenden pro 1.000 EinwohnerInnen (Burla und Widmer
2012).2 Dazu gehören etwa Appenzell-Innerrhoden, Uri oder Fribourg.
Bis 2022 werden mit 48,3 % knapp die Hälfte der heute praktizie-
renden HausärztInnen in den Ruhestand gehen oder das Pensionsalter
bereits überschritten haben (ibid.). Zurzeit ist nicht erkennbar, dass eine
ausreichende Anzahl von AbsolventInnen des Medizinstudiums diese
Lücke füllen könnte. Nur circa 13 % der Medizinstudierenden bekundet
am Ende des Studiums Interesse an Allgemeinmedizin (Buddeberg-
Fischer et al. 2006).3 Aus medizinischer, gesellschaftlicher und gesund-
heitspolitischer Perspektive besteht daher Handlungsbedarf, um eine
zufriedenstellende Primärversorgung in den kommenden Jahrzehnten
weiterhin gewährleisten und bestenfalls ausbauen zu können.
Im Folgenden werden zunächst die Bedeutung und Aufgaben von
HausärztInnen im Schweizer Gesundheitssystem skizziert (1). Daran
schließt eine Beschreibung der hausarztmedizinischen Ausbildung an
(2). Der dritte Abschnitt schildert die politische Ausgangslage sowie
die gesundheitspolitischen Aktivitäten und Maßnahmen zur Priorisie-
rung der Hausarztausbildung (3). Da das Medizinstudium für angehen-
de MedizinerInnen die erste Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit der
7 Halter et al. zeigen, dass der Anteil der Medizinstudentinnen, die Hausärztinnen
werden wollen, von 4,1 % zu Studienbeginn auf 12,6 % am Ende des 4. Jahreskurses
ansteigt und schließlich bis zum Ende des Studiums wieder leicht auf 9,8 % zurück-
fällt. Im Gegensatz dazu steigt der Anteil der männlichen Medizinstudierenden mit
Interesse an Hausarztmedizin kontinuierlich vom 1. Jahreskurs mit 3,8 % bis zum
6. Jahreskurs auf 9,4 % an. Gründe für den leichten Rückgang bei den Frauen nennen
die AutorInnen nicht; sie vermuten lediglich, das insgesamt eher geringe Interesse an
der Hausarztmedizin sei auf das Ansehen von GrundversorgerInnen, fehlende Per-
spektiven und eine mangelnde spezifische Weiterbildung zum/r Hausa(e)rztIn zu-
rückzuführen (Halter et al. 2005).
11 Vorschläge finden sich beispielsweise auf der Website der Universität Basel
unter https://ihamb.unibas.ch/lehre/1-ma-studienjahr/einzeltutoriat/ablauf-et.html.
12 Bisher liegen keine Daten vor, inwieweit sich der frühe Kontakt mit der Haus-
arztpraxis auf das Interesse der Studierenden an der Hausarztmedizin auswirkt.
Das Institut für Hausarztmedizin Zürich (IHAMZ) ist zurzeit das einzi-
ge Institut für Hausarztmedizinmedizin mit einem Lehrstuhl. Ein Team
mit insgesamt elf MitabeiterInnen, deren Stellenanteile einem Voll-
zeitäquivalent von 5,15 Stellen entsprechen, unterrichtet dort jährlich
circa 250 Medizinstudierende. Der angebotene Unterricht besteht aus
34 Stunden Vorlesung zu allgemeinmedizinischen Themen, 10 Stun-
den Gruppenarbeiten sowie alternierend entweder im dritten oder im
vierten Studienjahr insgesamt 36 Stunden Einzeltutoriat oder klinischer
Kurs. Der klinische Kurs findet – anders als das Einzeltutoriat – in
Zweiergruppen statt. Studierende beschäftigen sich mit dem Berufsbild
und den Kernkompetenzen von HausärztInnen, erhalten Einblick in den
Tagesablauf einer Praxis und wenden bereits erlerntes Fachwissen un-
ter Praxisbedingungen an.
Inhaltlich bietet die Universität Zürich in den ersten beiden Jahren
vorwiegend Themen wie die Rolle der Hausarztmedizin im Gesund-
heitswesen, Aufgaben von GrundversorgerInnen und Einblick in den
Praxisalltag (Institut für Hausarztmedizin Zürich 2014). Das sechste
Korrespondenzadresse:
Dr. phil. Corinna Jung MA
Institut für Hausarztmedizin
c/o Institut für Bio- und Medizinethik
Universität Basel
Bernoullistr. 28 / Raum 202
CH-4056 Basel
Tel.: +41 (0)61 267 17 82
Fax: +41 (0)61 267 17 80
E-Mail: corinna.jung@unibas.ch
Literatur
Zusammenfassung
Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwieweit bereits das Medizin-
studium Anreize für eine spätere ärztliche Tätigkeit auf dem Lande
setzen kann. Ausgehend vom internationalen Kontext stellt der vor-
liegende Beitrag die Empfehlungen der WHO zur Verbesserung der
medizinischen Versorgung auf dem Lande und beispielhaft bisheri-
ge Ansätze und Erfahrungen aus den Flächenländern Kanada, Aus-
tralien und Neuseeland vor, die Studierende der Medizin und auch
anderer Gesundheitsberufe schon lange gezielt auf eine Tätigkeit im
ländlichen Raum vorbereiten. Daran schließen sich die Beschreibung
und Diskussion eines Pilotprojekts an, das erstmalig in Deutschland
Medizinstudierende auf dem Land mit dem Leben in dörflicher Struk-
tur und der landärztlichen Versorgung in Kontakt bringt. Der letzte
Teil beschäftigt sich im Ausblick mit der Frage der Übertragbarkeit
und Umsetzbarkeit landärztlicher Ausbildungsinhalte in deutsche
Ausbildungszentren.
Abstract
This paper explores the extent to which already medical undergradu-
ate training can create incentives for future medical practice in rural
areas. Based on the international context the paper describes the WHO
recommendations to improve medical care in rural and shows exem-
plary previous approaches and experiences of Canada, Australia and
New Zealand, where medical students and other health professionals
are being prepared for rural areas for several years. The next sec-
tion describes and discusses a pilot project in Germany that was the
first in this country to expose medical students to rural care and life
in a small village. The last section discusses the options to introduce
rural medical education into the German undergraduate curriculum
of medicine.
Abbildung 1:
Verteilung der Allgemeinärzte in Weiterbildung in Sachsen-Anhalt
Kanada
Als flächenmäßig größtes Land der Erde mit sehr geringer Bevölke-
rungsdichte steht Kanada im Hinblick auf die medizinische Versorgung
auf dem Land durch qualifiziertes Fachpersonal vor erheblichen Pro-
blemen. Zur Überwindung der Mangelversorgung in den ausgedehnten
ländlichen Regionen bemühen sich die Kommunen auf verschiedene
Arten und Weisen, die Niederlassung von ÄrztInnen auf dem Land
attraktiv zu machen. Schon seit den 1980er Jahren ist die ländliche Un-
terversorgung Auslöser für anreizfördernde und strukturelle Maßnah-
men der medizinischen Hochschulen des nordamerikanischen Landes.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Landärztliche Ausbildung 149
MitarbeiterInnen der medizinischen Fakultät der Memorial University
of Newfoundland führten 2004 eine Metaanalyse bestehender Evalua-
tionen von hochschulpolitischen Maßnahmen zur Verbesserung der Si-
tuation in ländlichen Gegenden durch (Curran et al. 2004). Dabei stellte
die Forschergruppe fest, dass die gezielte Rekrutierung von Studierenden
aus ländlichen Gebieten gleichermaßen am mangelnden Interesse der
Zielgruppe und an fehlenden Angeboten der Hochschulen scheitert, ge-
zielt auf deren Bedürfnisse einzugehen. Die Studierendenzahlen belegen
eine mangelnde Repräsentation Studierender aus ländlichen Gebieten.3
WissenschaftlerInnen aus Neufundland kamen 2004 außerdem zu dem
Ergebnis, dass die Intensität und Dauer des Kontakts mit den Gegeben-
heiten auf dem Land während des Studiums ein Schlüsselfaktor bei der
Entscheidung für die Arbeit auf Land ist. Je mehr Zeit die Studieren-
den während ihrer Ausbildung auf dem Land verbrachten, desto weniger
Vorbehalte hatten sie gegenüber einer Tätigkeit in ländlichen Regionen.
Finanzielle Anreize für Studierende und junge ÄrztInnen stellten sich
bei der Metaanalyse hingegen als weniger erfolgversprechend heraus:
Sobald die mit der zusätzlichen Bezahlung eingegangene Verpflichtung
erfüllt war, zog es die TeilnehmerInnen an solchen Programmen zurück
in die Stadt. Weitaus gelungener erschienen Continous Medical Educa-
tion- und Professional Development-Programme: die Bereitstellung not-
wendiger Informationen und der erforderlichen technischen Ausrüstung
für Weiterbildung und Fernlehrgänge in der regionalen Abgeschieden-
heit bewog viele junge MedizinerInnen dazu, sich längerfristig auf eine
ländliche Tätigkeit einzulassen (Curran et al. 2004). Wie Kapadia und
McGrath (2011) feststellen, häufen Studierende aus ländlichen Gegen-
den einen höheren Schuldenberg an, machen sich größere Sorgen um die
Finanzierung ihrer Ausbildung und stehen unter größeren finanziellen
Druck als ihre KommilitonInnen aus der Stadt (Kwong et al. 2005).
Als Beispiel für erfolgreiche Maßnahmen gilt das ländliche Rotations-
programm der McMaster University in Hamilton. Studierende, die am
Mac-CARE (McMaster Community and Rural Education) Programm
teilnahmen, schnitten dabei ebenso gut ab wie ihre KommilitonInnen,
die ihr Praktikum in einer Stadt leisteten, und in Abschlussklausuren
sogar signifikant besser (Bianchi et al. 2008). Offenbar fördern Ver-
netzung und längere Aufenthalte auf dem Land, geeignete Wahlpflicht-
3 Obwohl in Kanada fast ein Drittel der Bevölkerung auf dem Land lebt, haben
nur 6 % der Studierenden einen ländlichen Hintergrund (Rourke/Newbery/Topps
2000) Weitere Zahlen besagen, dass bei einem ländlichen Bevölkerungsanteil von
insgesamt 22 % im Jahre 2000 der Anteil der Medizinstudierenden aus ländlichen
Gebieten bei 10,8 % lag (Dhalla et al. 2002).
Australien
In Australien lebt mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung außer-
halb von Städten, Studierende aus ländlichen Regionen machen aber
nur ein Viertel aller angehenden MedizinerInnen aus (Dunbabin und
Levitt 2003; Hutten-Czapski et al. 2005). Im Hinblick auf seine Aus-
dehnung und die geringe Bevölkerungsdichte ähneln die Voraussetzun-
gen auf dem fünften Kontinent sehr stark denen in Kanada. Um einer
medizinischen Unterversorgung auf dem Land entgegenzuwirken, gibt
es im Bereich der medizinischen Ausbildung zahlreiche Programme
der Zentralregierung und der Kommunen mit jeweils unterschiedlichen
Schwerpunkten. Im Mittelpunkt stehen dabei die gezielte Rekrutierung
von Studierenden aus ländlichen Gegenden, die Förderung universitä-
rer Einrichtungen in ländlichen Gebieten, Pflichtpraktika in unterver-
sorgten Gebieten sowie finanzielle Anreize für Studierende, sich dort
beruflich niederzulassen. Der folgende Abschnitt stellt einige ausge-
wählte, bereits evaluierte Programme vor.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Landärztliche Ausbildung 151
Im Jahr 1997 startete die Flinders University in Adelaide eine erste
Initiative namens Parallel Rural Community Curriculum, die sich mitt-
lerweile auf andere Orte im Süden und Norden Australiens erstreckt.
Die Studierenden bleiben über einen Zeitraum von einem Jahr in einem
einzigen ländlichen Krankenhaus und lernen dort sämtliche Teilberei-
che der Medizin, anstatt wie ihre KommilitonInnen in den Städten durch
verschiedene Krankenhäuser und Abteilungen zu rotieren. Den Studie-
renden steht dabei vor Ort die erforderliche technische Ausrüstung für
die Vermittlung der Lerninhalte über die Distanz zur Verfügung (Flin-
ders University 2014). Trotz gewisser Erfolge des Programms, so stell-
ten Eley et al. (2012) fest, halten persönliche Lebensentscheidungen
und -umstände die Studierenden allerdings davon ab, später tatsächlich
auf dem Land tätig zu werden. Grundsätzlich gilt aber: Je mehr Zeit sie
mit ländlicher Tätigkeit verbracht haben, desto mehr Einfluss habe dies
jedoch auf zukünftige Interessen und Lebensentscheidungen.
Das 2001 entstandene Rural Clinical School-Programm, das mit
finanzieller Unterstützung des australischen Gesundheitsministeriums
und mit 17 ländlichen Zweigstellen arbeitet, stellt eine über die Re-
krutierung von Studierenden aus ländlichen Gegenden hinausgehende
wesentliche Maßnahme gegen die ärztliche Unterversorgung auf dem
Land dar. Dabei soll zumindest ein Viertel der Studierenden wenigs-
tens ein Jahr ihrer klinischen Ausbildung in ländlicher Umgebung ver-
bringen. Nach drei Jahren klinischer Praxis auf dem Land während des
Studiums – so stellte eine Studie fest – erhöhte sich signifikant die Zahl
der ÄrztInnen, die sich in ländlichen Gegenden niederließen, ebenso
wie die Zahl derjenigen, die den festen Vorsatz haben, dies in nächster
Zukunft zu tun (Forster et al. 2013, RCS 2014).
Die University of Western Sydney schickt Studierende seit einiger Zeit
im letzten Studienjahr in ländliche Regionen, damit sie dort praktische
Erfahrungen sammeln können. Dort rotieren sie zu einem/r Allgemein-
medizinerIn, in ein ländliches Krankenhaus und in eine lokale Kran-
kenpflegeeinrichtung. In einer Studie stellen die beiden australischen
Wissenschaftler Hudson Birden und Ian Wilson (2012) fest, dass diese
Kohorte Studierender sowohl fachlich als auch persönlich sehr zufrie-
den mit ihrer Ausbildung war. Gegenüber ihren KommilitonInnen in
städtischen Krankenhäusern gaben sie eine intensivere Lernerfahrung
in relevanten medizinischen Praktiken an. Dies spiegelte sich im Ab-
schlussranking wider, bei dem die Studierenden, die auf dem Land ihr
praktisches Jahr absolviert hatten, deutlich besser abschnitten. Aller-
dings hatte der ländliche Aufenthalt in diesem Fall keinerlei Einfluss
auf die spätere Wahl des Tätigkeitsortes.
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Die Australian National University hat zum Ziel, 25 % der Medizin-
studierenden aus ländlichen Gegenden zu rekrutieren und den gleichen
Anteil Studierender ihr praktisches Jahr außerhalb von Städten machen zu
lassen. Zudem bietet die Hochschule Wahlveranstaltungen zum Thema
landärztliche Versorgung an. Wie Lee et al. (2011) in einer Untersuchung
feststellen, waren die Studierenden der Australien National University
mit der Angebotskombination an Pflicht- und Wahlfächern bezüglich
landärztlicher Medizin sehr zufrieden. Trotz finanzieller Anreize gibt es
aber Schwierigkeiten, Studierende mit Familienanbindung in Städten auf
das Land zu versetzen. Aber die Kombination der Pflicht- und Wahl-
fächer veranlasste Studierende, die anfangs keine Ambitionen hatten, auf
dem Land zu arbeiten, dazu, dies ernsthaft in Betracht zu ziehen.
Die 1999 als einzige medizinische Hochschule im Norden Australiens
gegründete James Cook University School of Medicine (JCU) gilt als
besonderes Beispiel für die Integration ländlicher Themen und Aspekte
in die Medizinerausbildung. Das Konzept der Universität besteht darin,
angehende ÄrztInnen konkret auf die speziellen Voraussetzungen der
ländlichen Umgebung vorzubereiten und damit eine Ausbildung mit ru-
ralem, indigenem und tropischem Fokus anzubieten. Seit 2005 müssen
an der JCU alle Studierenden im sechsten Studienjahr ein achtwöchiges
Praktikum auf dem Land absolvieren. Hinzu kommt im zweiten und
vierten Studienjahr ein jeweils mindestens zwölfwöchiges Praktikum in
der ländlichen Versorgung, ergänzt durch spezielle theoretische Kurse
zu dieser Thematik. Die klinischen Verantwortlichkeiten während der
Praktika umfassen die Vollzeitversorgung stationärer und ambulanter
PatientInnen, die Erfahrung von peer-support, regelmäßigen wechsel-
seitigen Austausch innerhalb der Studierendengruppen in ländlichen
Gebieten und das Einholen von Feedback durch Supervision wie von
PatientInnen (Sen Gupta et al 2008; Viscomi et al. 2013; Hays 2001).
Eine Studie konnte den großen Erfolg dieses Konzept belegen: Im Ver-
hältnis zu anderen medizinischen Fachkräften in Australien lebt und
arbeitet eine signifikante Zahl der JCU-Graduierten in einem ländlichen
Umfeld (Sen Gupta et al. 2014). Die JCU ist neben der kanadischen
Northern Ontario School of Medicine eine der wenigen medizinischen
Hochschulen weltweit, deren erklärtes Ziel es ist, der ärztlichen Unter-
versorgung auf dem Land entgegenzuwirken (Tesson et al. 2005).
Neben den von Hochschulen initiierten Maßnahmen gibt es zahlreiche
vom australischen Gesundheitsministerium finanzierte Projekte wie das
Rural Incentive Program, das finanzielle Anreize für Studienanfänge-
rInnen, Studierende und bereits Praktizierende schafft (Ranmuthugala
et al. 2007). Auf der Website des australischen Gesundheitsministe-
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Landärztliche Ausbildung 153
riums finden sich zudem Programme wie das Stipendienprogramm
Rural Australia Medical Undergraduate Scholarship (RAMUS), das
durch die Förderung von 150 Studierenden mit einem ländlichen Hin-
tergrund mit jährlich 10.000 Australischen Dollars (knapp 7.000 €) An-
reize für die Aufnahme eines Medizinstudiums schaffen will. Zudem
bietet das Ministerium verschiedene verpflichtende Programme an, um
ÄrztInnen mit finanziellen Zuschüsse zu einer Tätigkeit in bestimmten
Regionen zu bewegen; eine systematische Evaluierung dieser Program-
me ist bisher nicht erfolgt (Department of Health 2013).
Neuseeland
In Neuseeland arbeiten vier von fünf praktizierenden ÄrztInnen in Städ-
ten. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es sich bei den in ländlichem
Umfeld tätigen MedizinerInnen zum größten Teil um Frauen handelt. Die
Feminisierung des Arztberufs auf dem Land mit erhöhter Inanspruch-
nahme von Teilzeitoptionen und häufiger Mehrfachbelastung von Frauen
trägt insgesamt zu einer niedrigeren Arbeitsleistung bei. Insgesamt besteht
auf dem Land eine medizinische Unterversorgung; Abhilfe soll unter an-
derem die Rekrutierung von ÄrztInnen aus dem Ausland schaffen. Für die
Medizinerausbildung stehen zwei Fakultäten zur Verfügung: Eine auf der
bevölkerungsreichen Nordinsel in der Millionenstadt Auckland und eine
weitere in der University of Otago mit drei Standorten in Dunedin, Christ-
church und Wellington (Garces-Ozanne et al. 2011; Poole et al. 2009).
Eine Initiative zur lokalen Gewinnung zukünftiger LandärztInnen ist
die Early Community Contact Week (ECCW), bei der Studierende der
drei Standorte der Ontario University im dritten Studienjahr für eine
Woche in unterschiedlichen ländlichen Gemeinden untergebracht sind.
Wie Dowell et al. (2001) zeigen, ist bereits ein so knapper Zeitrah-
men ausreichend, um einen Eindruck von den kulturellen, sozioöko-
nomischen und medizinischen Anforderungen vor Ort zu bekommen.
Außerdem gibt es auch in Neuseeland ein Bonding Scheme, das finan-
zielle Anreize schafft in der Form, dass junge ÄrztInnen sowie für Heb-
ammen und Pflegekräfte einen Teil der Studiendarlehen nicht zurück-
zahlen müssen, sofern sie bereit sind, sich drei bis fünf Jahre lang in
abgelegenen Gegenden niederzulassen (Garces-Ozanne et al.2011).
Die Dunedin School of Medicine schickt seit 2000 Studierende in
ihrem fünften Studienjahr für sieben Wochen in ländliche Gebiete, wo
sie sowohl in der ambulanten Versorgung als auch in regionalen Kran-
kenhäusern tätig sind. Williamson et al. (2003) konnten feststellen, dass
ein solches Praktikum auf dem Land einen sehr positiven Einfluss auf
die Entscheidung hat, sich später auf dem Land niederzulassen. Bei Stu-
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dierenden, die selbst einen ländlichen Hintergrund aufweisen, war die
Wahrscheinlichkeit, sich später auf dem Land niederzulassen, sowohl
vor als auch nach dem Kurs höher als bei ihren KommilitonInnen.
Das 2007 gegründete New Zealand Rural Medical Immersion Pro-
gramme (RMIP) an der Otago School of Medical Sciences basiert auf den
Erfahrungen des Rural Rotation Programme in der Flinders University
in Australien und des erwähnten fünfwöchigen Praktikums der Dunedin
School of Medicine. Der Ansatz des RMIP ist die Entwicklung einer in-
novativen, patientenzentrierten Medizinerausbildung gemeinsam mit den
ländlichen Gemeinden Neuseelands. Studierende haben die Möglichkeit,
sich parallel in verschiedene Disziplinen einzuarbeiten, bei Operationen
zu assistieren, Hausbesuche durchzuführen, an der Laborarbeit teilzu-
nehmen und sich in das lokale Behandlungsteam zu integrieren. Neben
Unterstützung bei der Unterbringung und Organisation stehen ihnen
MentorInnen und technische Ausrüstung zur Durchführung eines e-lear-
ning-Programms zur Verfügung (Farry et al. 2010; Garces-Ozanne et al.
2011). Rudland et al. (2011) konnten zeigen, welchen Einfluss das RMIP
auf die Entwicklung von Fähigkeiten bei Studierenden hat: Die Teilneh-
merInnen des RMIP berichteten über größere Erfahrung und Kompetenz
bei der Untersuchung und Aufklärung von PatientInnen im Vergleich zu
ihren KommilitonInnen, die dieses Programm nicht durchlaufen hatten.
4 Das Ökodorf Sieben Linden liegt im Altmarkkreis Salzwedel und gehört zum
Dorf Poppau, etwa 60 km nordöstlich von Wolfsburg und 30 km südlich von Salzwe-
del. Dort leben heute etwa 100 Erwachsene und 40 Kinder im Alter von 0 bis 74
Jahren in verschiedenen Haushaltsstrukturen zusammen, in Wohngemeinschaften,
Wohnungen und Bauwagen. Die Idee eines »selbstversorgten, ökologischen Dorfes«
entstand bereits 1989, die ersten BewohnerInnen zogen im Juni 1997 mit Bauwagen
nach Sieben Linden. Neben Strohballenhäusern ist eine weitere Besonderheit die
Verwendung von Komposttoiletten ohne Wasserspülung, welche den Wasserver-
brauch auf ca. 2/3 des Bundesdurchschnitts reduzieren und das Abwasser wesentlich
weniger belasten. Das Gemeinschaftsgebäude bietet nicht nur den BewohnerInnen
Raum für verschiedene Veranstaltungen und Begegnungen, sondern auch für Se-
minare und Wochenendveranstaltungen von Gästen. Auf ca. 3 ha Land wird ökolo-
gischer Gartenbau betrieben, der einen Großteil des Eigenbedarfs an Gemüse, Obst
und Kräutern deckt. Die Gemeinschafts- und Seminarküche stellt ausschließlich
vegetarische, größtenteils vegane Mahlzeiten her (www.siebenlinden.de).
Abbildung 2:
Wahrscheinlichkeit späterer landärztlicher Tätigkeit der 15 Teilnehmer
(Skala 0 unwahrscheinlich bis 10 sehr wahrscheinlich)
Wahrscheinlich-
keit einer land-
ärztl. Tätigkeit
vor Wahlfach
Wahrscheinlich-
keit einer land-
ärztl. Tätigkeit
nach Wahlfach
»Ich hatte immer nur mehr oder weniger die Schreckensgeschichten von den
Ärzten gehört, die heillos überfordert sind. Und dann jetzt zu sehen, dass es
eben nicht so ist und dass es finanzierbar ist. Und was es alles so für Praxis-
möglichkeiten gibt.«
»Das Gespräch mit den Ärzten, also, so ein Gespräch hatte ich noch nie mit
nem Arzt, das war sehr interessant und sehr informativ.«
»Sieben Linden kennen zu lernen, total spannend, auch zu sehen, was sich
hier in Sachsen-Anhalt entwickelt hat.(…) Mehr in Kontakt zu kommen mit
Menschen, die in dieser Region hier arbeiten und mehr über die Strukturen zu
erfahren … Zusammenarbeit, Dienste, Patientenklientel und so was.«
»Viele Ängste sind weg, Ängste davor, dass ich überfordert sein könnte, aber
durch die ganzen Gespräche mit den Ärzten und die vielen Gespräche unter-
einander haben gezeigt, dass es nicht unmöglich ist, ein guter Arzt zu werden
auf dem Land.«
»Es herrscht ja eine ziemliche Ahnungslosigkeit. Mein Motiv war herauszu-
finden, was man auf dem Weg braucht und wie man das umsetzen kann. Und
diese Erwartungen wurden durchaus erfüllt.«
»Endlich mal Gleichgesinnte kennenzulernen, da ist mir echt ein Stein vom
Herzen gefallen. Wenn man das so seinen Mitkommilitonen erzählt, dann hat
man erst mal so ein Riesen-Fragezeichen sich gegenüberstehen, hm, bist du
sicher und so. Und jetzt hat man endlich mal das Gefühl, man ist angekom-
men und es gibt wirklich noch Leute, die diesen Beruf machen wollen.«
»Weil die Ärzte sehr offen erzählt haben und ja auch sehr unterschiedliche
Charaktere da waren. Man vergleicht sich ja dann auch immer so ein biss-
chen, ja, so könntest du das eventuell ja vielleicht auch machen, das ist so ein
Typ, der eher so ein bisschen ist wie du.«
Miteinander reden
Die Studierenden beschrieben, dass sie sich mit ihrem Interesse an land-
ärztlicher Tätigkeit und Primärversorgung außerhalb des Mainstreams
ihrer KommilitonInnen befinden. Der größte Anteil der KommilitonIn-
nen ihrer Semester strebe eine fachärztliche, klinikzentrierte Weiterbil-
dung an und zeige wenig Verständnis für eine landärztliche Perspektive.
Ein Seminar unter Gleichgesinnten empfanden die TeilnehmerInnen als
Erleichterung und Bereicherung – ein solcher reflexiver Rahmen für
Studierende mit ähnlichen Perspektiven sollte mehr Raum bekommen.
Ausblick
Die medizinische Ausbildung ist weitgehend geprägt durch eine Univer-
sitätsmedizin, deren Kliniken lediglich 1 % der PatientInnen versorgen.
Diese Bedingungen sind entscheidend für die ärztliche Sozialisation.
Die Orientierung an vorhandenen wie an fehlenden Rollenvorbildern
hat großen Einfluss auf die Fachgebietswahl und Berufsplanung der
Studierenden. Zuletzt entfiel nicht einmal jede zehnte Facharztprüfung
auf das Gebiet der Allgemeinmedizin (SVR 2014). Neben Naturwis-
senschaftlerInnen an theoretischen, patientenfernen Instituten fungie-
ren vor allem in der hochspezialisierten Universitätsmedizin tätige
ÄrztInnen als Rollenmodelle, während Vorbilder aus landärztlichen
Versorgungsstrukturen, kleineren Krankenhäusern und Landarztpraxen
in der Regel kaum das Rollenbild beeinflussen.
Das Interesse Studierender und junger ÄrztInnen an einer Weiterbil-
dung im Fach Allgemeinmedizin ist seit Jahrzehnten weltweit rückläu-
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fig, was vor allem die Versorgung der Bevölkerung in ländlichen und
strukturschwachen Räumen gefährdet (SVR 2009; Laven und Wilkin-
son 2003). Als Einflussfaktoren für die Entscheidung über eine Tätig-
keit in der landärztlichen Versorgung gelten neben der Anwerbung von
Studierenden entsprechender Herkunft ein an den Bedürfnissen auf dem
Land orientierter medizinischer Lehrplan und Lernerfahrungen in länd-
lichen Praxen sowie das Training von spezifischen Fertigkeiten (Curran
und Rourke 2004). Wie ober dargelegt, haben Länder mit großem Be-
darf an ländlicher Versorgung (z. B. USA, Kanada, Australien, Neusee-
land) damit begonnen, verstärkt Lehrangebote in ländlichen Versor-
gungsstrukturen in die Ausbildung einzubeziehen. Diese Maßnahmen
zeigen nachhaltigen Erfolg und konnten angehende ÄrztInnen für die
Weiterbildung und ärztliche Tätigkeit auf dem Lande gewinnen.
Studienaufenthalte (Rural longitudinal integrated clerkships – Couper
et al. 2011) während der Ausbildung in ländlichen Regionen ändern
nachhaltig die Einstellung von Medizin- und PharmaziestudentInnen so-
wie von Pflegekräften und erhöhen sowohl die Motivation als auch das
Selbstvertrauen, später auf dem Land tätig zu werden (Halaas et al. 2008;
Capstick et al. 2008; Kaye et al. 2010); dies gilt auch für Studierende mit
städtischem Hintergrund (Courtney et al. 2002; Capstick et al. 2008).
Eine Arbeit von Smucny et al. (2005) konnte aufzeigen, dass 84 % der
ÄrztInnen der Meinung sind, der Studienaufenthalt habe ihnen bei der
Entscheidung für eine berufliche Niederlassung im ländlichen Raum ge-
holfen. Auch haben Studierende, die einen Teil ihrer Ausbildung auf dem
Lande absolviert haben, größere Erfahrung bei der klinischen Untersu-
chung und Patientenführung als ihre ausschließlich in einer Universitäts-
klinik ausgebildeten KommilitonInnen (Rudland et al 2011).
Eine Integration von Aspekten ländlicher Gesundheit in den Studien-
plan Medizinstudierende bereitet effektiver auf eine zukünftige Tätigkeit
im ländlichen Raum vor und ermöglicht einen besseren Zugang zu den
PatientInnen und zum klinischen Lernen (Kaye et al. 2010; Worley et al.
2000; Couper et al. 2011). Norwegen ging angesichts des akuten Ärz-
temangels im Norden des Landes sogar einen Schritt weiter und gründete
1972 in der nördlichsten Provinz die Universität Tromsø eine medizi-
nische Fakultät, um Studierenden auf die Arbeit im abgelegenen länd-
lichen Raum vorzubereiten. Von den MedizinabsolventInnen, die dort
zwischen 1996 und 2001 ihren Abschluss machten, verblieben insgesamt
95 % in Nordnorwegen (Alexandersen et al. 2004).7 Im April 2014 stellte
Kontaktadresse:
Prof. Dr. Markus Herrmann
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Institut für Allgemeinmedizin
Leipziger Straße 44
D-39120 Magdeburg
Tel.: (0391) 6721 009
Fax: (0391) 6721 010
E-Mail: markus.herrmann@med.ovgu.de
http://www.med.uni-magdeburg.de/ialm.html
Literatur
Zusammenfassung
Das Individuum sollte im Mittelpunkt der Medizin stehen. Der vorliegen-
de Artikel arbeitet die Hypothese heraus, dass Entwicklungen in Medizin
und Gesellschaft, die mehrheitlich als Fortschritt gelten und diese
Wahrnehmung sicherlich auch teilweise erfüllen, auch immer zu einer
zunehmenden Verdrängung des Individuums aus dem Fokus beiträgt.
Dieser Beitrag untersucht diese Hypothese für die Team-Persönlichkeit
von ÄrztInnen, für die evidenzbasierte Medizin sowie für die Standardi-
sierung, Präventions-Orientierung und Industrialisierung der Medizin.
Abstract
The individual should be in the focus of attention of medical care. This
paper elaborates the hypothesis that developments in medicine and so-
ciety, which the majoriy considers as progress and which partly comply
with this perception, always contribute at the same time to crowd the
individual from the focus of attention. The present paper examines this
hypothesis fort he team-personality of physicians, for evidence-based
medicine, and for the standardisation, the orientation towards preven-
tion, and the indsutrialisation of medicine.
Einleitung
Der Titel dieses Artikels scheint eine Absurdität zu sein, denn Medizin
und ärztliche Tätigkeit sind in der innerprofessionellen und öffentli-
chen Wahrnehmung immer wesentlich auf das Individuum, den ein-
zelnen Patienten oder die einzelne Patientin, fokussiert. Nun gibt es
aber Entwicklungen in der Gesellschaft und in der Medizin, die faktisch
diese Fokussierung auf das Individuum bedrohen und auch schon deut-
lich zurückgedrängt haben. Es handelt sich um Prozesse, die vor Jahren
1 Stark überarbeitete und aktualisierte Fassung eines Vortrags, gehalten bei der Ta-
gung: »Standardisiert & verarmt: wie Kranke und Pflegende profitabel gemacht wer-
den« in Essen am 10. November 2012, veranstaltet von: Gen-Archiv/Impatientia e. V.
Widersprüchliches?
Die in diesem Artikel skizzierten Tendenzen sind nicht widerspruchs-
frei, teilweise lassen sich durchaus auch Gegentendenzen ausmachen.
So nehmen HausärztInnen seit einigen Jahren zunehmend für sich in
Anspruch, eine personalisierte bzw. individualisierte Versorgung zu
praktizieren, und erklären eben dies zum Grund dafür, dass sie so nach-
weislich oft von Leitlinien-Vorgaben abweichen. Daran wird deutlich,
dass es insbesondere in den Reihen der PrimärversorgerInnen noch Wi-
derstand gegen eine bürokratische Normierung der Medizin gibt, die
den Spielraum für eine individuelle Betrachtung und Behandlung des
Patienten bzw. der Patientin immer mehr einzuengen droht (Abholz
2008, 2014).
Seit einigen Jahren haben nun aber auch die Pharmakologie und die
Genetik den Begriff der personalisierten oder individualisierten Medi-
zin für sich entdeckt. Mit einer solchen Medizin ist die Hoffnung ver-
bunden, aufgrund der genaueren Kenntnis der genetischen Ausstattung
von PatientInnen künftig gezielt diejenigen herausfinden zu können, die
von einer bestimmten Behandlung profitieren bzw. nicht profitieren.
Die Nutzung des Begriffs der personalisierten Medizin ist hier dennoch
irreführend, da damit die Medizin nicht »anders« und das Individuum
nicht wieder in deren Zentrum rücken wird. Mit diesem Ansatz wird
man nämlich bestenfalls einen kleinen Teil von Patienten mit spezifi-
schen genetischen Prädispositionen besser versorgen können – und dies
auch nur auf diesen einen Aspekt hin. Für die Mehrzahl der Krankheits-
bilder und der Formen des »Krank-seins« aber wird diese Einengung
auf eine genetische Information völlig unzureichend bleiben.
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Heinz-Harald Abholz, geb. 1945, Univ.-Prof. emer., Dr. med., Facharzt für
Allgemeinmedizin, Facharzt für Innere Medizin, seit 30 Jahren Arbeit in
Public Health, 12 Jahre Krankenhaustätigkeit, 12 Jahre Praxistätigkeit in
Berlin, 1998 bis 2012 Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Uni-
versität Düsseldorf, seit 2 Jahren wieder Tätigkeit in Hausarztpraxis. Ar-
beitsschwerpunkte in Allgemeinmedizin und Public Health, insbesondere
Prävention und klinische Epidemiologie zum Nutzen von medizinischen
Interventionen sowie soziale Faktoren für Gesundheit und Krankheit.
Óscar Arteaga, geb. 1960, ist Arzt, promovierte an der Universität London
zum Doktor in Public Health und arbeitet seit vielen Jahren als Hochschul-
lehrer an der Medizinischen Fakultät der Universität Chile in Santiago,
deren Public-Health-Abteilung er 2011 übernahm. Zuvor war er Berater
der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO) sowie für die
Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank, und leitete ver-
schiedene wissenschaftliche Projekte in Chile und anderen lateinamerika-
nischen Ländern. 2014 war er Mitglied der Kommission zur Reform der
Privaten Krankenversicherung in Chile.
Markus Herrmann, geb. 1961, Univ.-Prof., Dr. med., MPH, M.A., Stu-
dium der Humanmedizin, Soziologie und Gesundheitswissenschaften,
Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapeut und Psychoanalytiker
und Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin der Otto-von-Guericke-
Universität Magdeburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen bei der
Arzt-Patienten-Kommunikation, Professionsentwicklung, Leitlinienent-
wicklung, Medizinsoziologie, hausärztlicher Versorgung sowie Planung
und Durchführung von qualitativen Hausarztbefragungen. Außerdem ist er
als Reviewer und Gutachter tätig und arbeitet zu internationalen Ansätzen
der Professionsentwicklung in der Allgemeinmedizin u. a. in Brasilien und
Neuseeland.
Jens Holst, geb. 1958, Dr. med., Dr. PH, Internist, Gesundheitswissen-
schaftler, Dozent und Publizist. Selbständiger Berater in der Entwick-
lungszusammenarbeit in den Bereichen Gesundheitssystementwicklung,
Gesundheitsfinanzierung und soziale Sicherung. Dozent und Lehrbe-
auftragter am Fachbereich Angewandte Gesundheitswissenschaften der
Hochschule Magdeburg-Stendal, Vertretungsprofessuren und Gastdozen-
turen u. a. an der Public Health-Abteilung der Medizinischen Fakultät der
Universität Chile in Santiago.
Luís Velez Lapão, geb. 1968, ist Professor für International Public Health
and Management sowie Mitglied des WHO Collaborating Center for
Health Workforce Policy and Planning am Institut für Hygiene und Tro-
penmedizin der Neuen Universität von Lissabon. Von 2008 bis 2010 leite-
te er PACES, das Nationale Leadership Programm zur Unterstützung der
PHC-Reform in Portugal und koordinierte zuvor verschiedene Primärver-
sorgungs- und eHealth-Projekte. Außerdem arbeitet er seit als 2005 Revi-
sor der Europäischen Kommission für Gesundheitsinformationssysteme.
Soledad Martínez, geb. 1974, ist Ärztin und promovierte an der Universität
von Kalifornien in Berkeley in »Health Services and Policy Analysis«. Sie
leitet das Programm »Gesundheitspolitik, -system und -management« der
gesundheitswissenschaftlichen Abteilung der Universität Chile und arbei-
tet vor allem zu Gerechtigkeitsfragen bei der Ressourcenallokation sowohl
in der Primärversorgung als auch im Gesundheitssystem insgesamt.
Nicolás Silva, geb. 1984, hat einen Abschluss in Humanmedizin und er-
warb an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Chile
einen Magister in Öffentlicher Politik. Zurzeit ist er wissenschaftlicher
Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Pharmakoökonomie der gesundheitswis-
senschaftlichen Abteilung dieser Universität, wo er zu Fragen der Preis-
gestaltung und Honorierung von LeistungserbringerInnen sowie der öko-
nomischen Evaluierung im Gesundheitswesen arbeitet. Außerdem leitet
er den Aufbau eines Tumorzentrums im Krankenhaus Las Condes und
ist dort mit der Entwicklung und Planung einer neuen Krebspräventions-
strategie betraut.
Peter Tschudi, geb. 1948, Prof. Dr. med., leitete von 2005 bis zu seiner
Emeritierung im September 2014 das Institut für Hausarztmedizin der
Universität Basel. Seit 1982 und später auch neben seiner Tätigkeit als
Institutsleiter war er bis 2013 als Hausarzt tätig sowie 2009–2014 Präsi-
dent des Initiativkomitees der Volksinitiative »Ja zur Hausarztmedizin«
und 2013–2014 des Komitees der eidgenössischen Volksabstimmung über
den Verfassungsartikel »Ja zur medizinischen Grundversorgung«. Seine
vorrangigen Arbeitsgebiete sind Gesundheitspolitik und Hausarztmedi-
zin, Förderung und Stärkung der akademischen Hausarztmedizin an den
Schweizer Universitäten, Hausarztpraxisforschung und Erforschung kar-
diovaskulärer Risikofaktoren.