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M. Gaßmann (Hrsg.

W. Marschall (Hrsg.)

J. Utschakowski (Hrsg.)

Psychiatrische Gesundheits- und Krankenpflege –

Mental Health Care


M. Gaßmann (Hrsg.)
W. Marschall (Hrsg.)
J. Utschakowski (Hrsg.)

Psychiatrische Gesundheits-
und Krankenpflege –
Mental Health Care

Mit 37 Abbildungen

123
Mirjam Gaßmann
Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin
Hindenburgdamm 30
12200 Berlin

Werner Marschall
Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Eschenallee 3
14050 Berlin

Jörg Utschakowski
FOKUS
Vegesackerstr. 174
28219 Bremen

ISBN-10 3-540-29432-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg


ISBN-13 978-3-540-29432-0 Springer Medizin Verlag Heidelberg

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V

Geleitwort
Mental Health Care ist als Disziplin der Pflegewissenschaften und praxisbezogenes Aufgaben-
feld ganzheitlich ausgerichtet und insofern besonders geeignet für eine gesundheitsförderliche
Orientierung.
Gesundheitsförderung bezieht sich als eines der wichtigsten Aufgabenfelder der angewand-
ten Gesundheitswissenschaften vor ihrem salutogenetischen Hintergrund holistisch auf alle
Lebensbezüge des Menschen. Im Mittelpunkt steht die Einheit von Leib, Psyche und Seele. An-
gesichts dieser Tatsache verwundert es, dass diese Trias zwar in der theoretischen Literatur zur
Gesundheitsförderung die ihr zukommende Beachtung erfährt, dass aber in den praxisbezo-
genen, angewandten Gesundheitswissenschaften die somatischen Aspekte weitaus mehr Berück-
sichtigung finden als die Implikationen einer ganzheitlichen Betrachtung. Dies mag vordergrün-
dig mit den Problemen der Operationalisierung und Messbarkeit von Gesundheit und gesund-
heitsorientierten Interventionseffekten zusammenhängen. Dieser Gesichtspunkt gewinnt eine
besondere Dominanz aus einem gewissen »Komplex«, den Prävention und Gesundheitsför-
derung im Vergleich zur kurativen Medizin haben, wenn es um die Erfassung von Kosten und
Nutzen und um die optimale Allokation von Ressourcen bei alternativen Verwendungsmöglich-
keiten geht. Hätte man in den letzten 100 bis 150 Jahren immer das harte Postulat des mathema-
tisch und statistisch exakten Nachweises der Wirksamkeit und Effizienz von Maßnahmen stets
auch an die kurative Medizin gestellt – wie dies heute von Prävention und Gesundheitsförderung
verlangt wird –, dann wären sicherlich wegen mangelnder finanzieller und ideeller Förderung
sowie geeigneter methodischer Verfahren viele der epochalen Fortschritte in der Medizin nicht
erzielt worden. Die ubiquitäre Finanzmittelknappheit hat jedoch hier neue Maßstäbe gesetzt, mit
denen insbesondere die angewandten Gesundheitswissenschaften heute leben und umgehen
müssen.
Die Weiterbildung im Bereich »Mental Health Care«, bei der Prävention und Gesund-
heitsförderung, Beratung und der personzentrierte Ansatz sowie die sozioökonomischen und
soziostrukturellen Kontextbedingungen eine herausragende Rolle spielen, gewinnt vor diesem
Hintergrund zunehmend an Bedeutung. Dies gilt insbesondere für den ambulant-komplemen-
tären Bereich, der angesichts neuer Kooperationsstrukturen im Gesundheitswesen, wie Managed
Care, Case Management, Disease Management und integrierter Versorgung, vor neuen Heraus-
forderungen steht.
Dass Mental Health kein Bereich der Gesundheit wie jeder andere ist, zeigen die zahlreichen
Bemühungen gerade auch international agierender Organisationen wie der WHO, die durch den
Aufbau und die Pflege von Kollaborationszentren zu Mental Health seit vielen Jahren versucht,
diesen Bereich der Gesundheitsversorgung zu stärken. So entstand zwar ein Netzwerk auf die-
sem Gebiet kompetenter Partner, doch konnten die gewonnenen Erkenntnisse und Fertigkeiten
kaum Eingang in die Weiterbildung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den psychiatri-
schen Aufgabenfeldern finden.
Die Bedeutung der Weiterbildung für die Berufsausübung ist im Gesundheitswesen wie in
allen relevanten Feldern unseres Wirtschafts- und Gesellschaftslebens unumstritten. Gewandelte
ökonomische und soziale Rahmenbedingungen sowie neue gesundheitspolitische Orientierun-
gen haben einen Fort- und Weiterbildungsbedarf generiert, der allen Akteuren auf der Angebots-
und Nachfrageseite innovative Ideen und Initiativen, neue Lehr- und Lernformen, ein hohes
Maß an Flexibilität und Mobilität und insbesondere einen verstärkten persönlichen Einsatz
abverlangt.
VI Geleitwort

Viele in der Fort- und Weiterbildung aktive Einrichtungen – und dazu gehören auch die
Universitäten und Hochschulen – haben dies erkannt und widmen sich zunehmend der wissen-
schaftlichen Weiterbildung auf zahlreichen Gebieten der Gesundheitswissenschaften. Mental
Health Care ist dabei allerdings eher ein Stiefkind geblieben. Umso bemerkenswerter und
verdienstvoller ist es, dass sich Robert Bosch Stiftung und die Charité Universitätsmedizin Berlin
gerade dieser wichtigen Aufgabe angenommen haben und mit ihrem Lehrbuch zur Gesundheits-
und Krankenpflege in der Psychiatrie ein ganzheitlich orientiertes Weiterbildungskompendium
vorgelegt haben, das der komplexen Sicht von Mental Health Care voll gerecht wird. In sechs
Sektionen werden die Grundlagen der psychiatrischen Pflege, die Organisationsstruktur der
psychiatrischen Pflege, die psychiatrische Pflege mit ihren psychologischen Grundlagen, Pflege-
interventionen und pharmakologische Besonderheiten, die allgemeine psychiatrische Pflege mit
Ausführungen zur Anatomie und Physiologie des ZNS, Krankheitsverläufen, Psychopathologie
und Einteilungsmodellen psychischer Erkrankungen, die spezielle psychiatrische Krankheitsleh-
re mit Pflege, Behandlung und Prävention sowie rechtliche Grundlagen und Rehabilitation in
allen relevanten Facetten beleuchtet. Damit wird den Lernenden ein Weiterbildungskompen-
dium an die Hand gegeben, das ihnen den neuesten Stand der Disziplin Mental Health Care
im Sinne eines ganzheitlichen personzentrierten Ansatzes in der Gesundheits- und Kranken-
pflege vermittelt.
Es wäre wünschenswert, wenn dieses schriftliche Lernmaterial im Sinne des Blended Learn-
ing durch Präsenzveranstaltungen und Unterstützung durch Information, Kommunikation und
E-Learning-Elemente beispielsweise auf der Basis einer Lernplattform mittelfristig abgerundet
werden und so auch der Erwerb eines qualifizierten (Hochschul-)Zertifikates ermöglicht werden
könnte.
Auf jeden Fall wurde mit dem Buchprojekt der Charité Universitätsmedizin Berlin eine oft
beklagte Lücke in der weiterbildenden Literatur für in der psychiatrischen Pflege tätige Personen
geschlossen, die sich über den neuesten Stand ihrer Disziplin und zukünftige Gestaltungsmög-
lichkeiten informieren wollen. Das Kompendium ist geeignet, zu einer Kompetenzerweiterung
und zusätzlichen Professionalisierung von Pflegekräften in der psychiatrischen Gesundheits-
und Krankenpflege beizutragen.

Prof. Dr. H. Kreuter


Hochschule Magdeburg-Stendal (FH)
Weiterbildungsbeauftragter der Hochschulen des Landes Sachsen-Anhalt
VII

Geleitwort der Robert Bosch Stiftung


Auch in der psychiatrischen Pflege gilt: Der ambulant-komplementäre Bereich gewinnt immer
mehr an Bedeutung. Dies hat Auswirkungen auf die Berufsrolle der Pflegenden. Neben dem
spezifischen Fachwissen gewinnen andere Kompetenzen an Bedeutung. Gesundheitsförderung,
Beratung und der personzentrierte Ansatz sowie das soziokulturelle Umfeld nehmen eine immer
größere Rolle bei der Pflege ein. Spätestens seit dem Ende der neunziger Jahre und dem von der
Robert Bosch Stiftung geförderten Projekt »Psychiatrische Pflege im ambulant-komplementären
Bereich« ist diese Erkenntnis empirisch belegt und in ihren Details offenkundig.
Es ist erfreulich, dass das damalige Projekt, an dem die Autoren dieses Buches entscheiden-
den Anteil hatten, heute weiter seine Wirkung entfaltet. Die gewonnenen Erkenntnisse werden
mittlerweile in der Fort- und Weiterbildung umgesetzt, etwa durch die Integration in das Curri-
culum für die Fachweiterbildung »Pflege in der Psychiatrie«. Die neuartigen Ansätze in diesem
Lehrbuch zeigen, dass die Weiterentwicklung der psychiatrischen Pflege im ambulant-komple-
mentären Bereich nicht nur anhält, sondern sich mittlerweile neben und gemeinsam mit dem
stationären Bereich vollzieht.
Wir hoffen, dass die im vorliegenden Lehrbuch dargelegten Sachverhalte Vorbild und An-
sporn sind und eine weite Verbreitung finden werden.

Robert Bosch Stiftung


IX

Vorwort
Mit der Erstauflage dieses Lehrbuches stellen wir das Verhältnis von Gesundheitsförderung und
psychiatrischer Pflege in den Mittelpunkt der Betrachtung. Ihr komplexer Zusammenhang wird
beleuchtet und im Hinblick auf zu erarbeitende Handlungskompetenzen unter dem Blickwinkel
der Professionalisierung der psychiatrischen Pflege beschrieben.
Im Aufbau des Lehrbuches werden die Aspekte der Gesundheitsförderung in den einzelnen
Kapiteln ausgehend vom historischen Kontext bis zur aktuellen Situation in der psychiatrischen
Pflege dargelegt/dargestellt. Die Behandlung, Betreuung und Pflege psychisch erkrankter
Menschen wird immer mehr aus der Klinik in das Lebensumfeld der Betroffenen verlagert. Da-
durch stellen sich ebenso wie für die anderen Berufsgruppen im psychosozialen Bereich auch
und speziell für die Berufsgruppe der Pflegekräfte neue Aufgaben und Herausforderungen. In
diesem Zusammenhang stellt sich auf allen Ebenen der Versorgung und Behandlung die An-
forderung nach gesundheitsförderlichem Handeln und einer neuen selbstbewussten Profes-
sionalisierungsausrichtung.
Die Qualität des Lehrbuches beruht nicht zuletzt auf einer fundierten theoretischen Grund-
lage (Forschungsprojekt »Psychiatrische Pflege im ambulant-komplementären Bereich« Robert
Bosch Stiftung). In dem vorliegenden Lehrbuch sind darüber hinaus speziell die aktuellen Ent-
wicklungen in der Psychiatrie wie z.B. Empowerment, Beratung und Gesundheitsförderung
integriert. Die besonderen, veränderten Anforderungen an psychiatrische Pflege erfordern Wei-
terbildungskonzepte, die die ganze Person in kognitiven, affektiven und handlungsbezogenen
Lerndimensionen ansprechen.
Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es
notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche
und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie Umweltanforderungen meistern bzw.
verändern können. Für diese Ausrichtung bietet sich, wie in dem vorliegenden Lehrbuch be-
schrieben, besonders das Konzept des »personzentrierten Arbeitens in der Psychiatrischen
Pflege« an, das eine hohe Lernintensität und hohen Handlungs- und Problembezug mit metho-
discher Vielfalt ermöglicht. Das Kerngebiet einer zukünftigen gesundheitsfördernden psychia-
trischen Pflegeprofession ist der Erhalt der Alltagskompetenzen und die Förderung der Selbst-
pflegefähigkeiten (Erhaltung von Gesundheit im Sinne eines selbstbestimmten Lebens). Durch
die Änderung des Krankenpflegegesetzes finden heute verstärkt Inhalte der Gesundheitsför-
derung Eingang in die Weiterbildung und Pflegepraxis. Dieser Tatsache trägt die inhaltliche Aus-
richtung dieses Lehrbuches Rechnung. Eine Ausrichtung, die sich in der Qualifizierung der
psychiatrischen Pflege künftig verstärkt an den neuen Aufgaben in den erweiterten Tätigkeits-
feldern der Gemeindepsychiatrie, wie Case -Management oder Soziotherapie, orientieren wird.
Die Entwicklung von Schlüsselkompetenzen wie Umgang mit Verantwortung, Gestaltung der
Beziehung zum Patienten, Reflexionsfähigkeit, das Verhalten dem Patienten gegenüber, die
Organisation der Arbeit und das Selbstmanagement, sind in den erweiterten Tätigkeitsfeldern
von entscheidender Bedeutung.
Uns als Herausgeber des Lehrbuches, ist es dabei wichtig, auf die enge Verzahnung
zwischen theoretischem Wissen und praktischer Anwendung in den beruflichen Handlungs-
feldern zu achten.
X Vorwort

An dieser Stelle möchten wir es nicht versäumen, all jenen, die an der Entstehung des
Lehrbuches mitgewirkt haben, sehr herzlich zu danken. Besonders den Autoren für die gute
Zusammenarbeit und den Ansprechpartnern des Verlags, die uns stets beratend zur Seite
standen, gebührt ein sehr herzlicher Dank.

Mirjam Gaßmann
Werner Marschall
Jörg Utschakowski
XI

Inhaltsverzeichnis

3 Gesundheitsförderung in der
Grundlagen der Psychiatrie: Konzepte und Modelle 39
psychiatrischen Pflege Gerhard Huck
3.1 Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . 40
3.2 Grenzen der Gesundheit: einige Thesen 44
1 Zur Geschichte der Psychiatrie und 3.3 Salutogenese: Ein Modell der Gesund-
der psychiatrischen Krankenpflege heitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
im deutschsprachigen Raum . . . . . . 3 3.4 Pflegerische Möglichkeiten der Gesund-
Thomas Müller heitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . 54
1.1 Die frühe institutionalisierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.2 Entkriminalisierung, Entmystifizierung, 4 Die Rolle der Pflegenden in
Medikalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 4 der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . 65
1.3 Frühe Formen der institutionalisierten Martin Meyer
Krankenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 4.1 Berufsrolle und persönliche Entwicklung 66
1.4 Der gesellschaftliche und medizinische 4.2 Helfersyndrom und Helferproblematik 77
Kontext des 19. Jahrhunderts . . . . . . . 6 4.3 Interdisziplinär und multi-professionell:
1.5 Die neurologische Wende . . . . . . . . . 8 Pflege im Team . . . . . . . . . . . . . . . . 80
1.6 Psychotherapeutische Einflüsse . . . . . . 8 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
1.7 Der Darwinismus und die Degenera-
tions-Hypothese. . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.8 Trauma und Krieg . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.9 Pflege und Psychiatrie im National- Organisationsstruktur der
sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 psychiatrischen Pflege
1.10 Die Nachkriegszeit in den beiden
deutschen Staaten . . . . . . . . . . . . . . 11
1.11 Die Reformen der 1970er Jahre . . . . . . 12 5 Organisation und Mitarbeiter-
1.12 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Helmut Schiffer
5.1 Wertewandel und veränderte
2 Pflege in der Psychiatrie: Anforderungen im Arbeitsprozess . . . . 89
Konzepte und Modelle . . . . . . . . . . 17 5.2 Motivation und Leistung
Martina Roes (Kap. 2.1 u. Kap. 2.2), von Mitarbeitern . . . . . . . . . . . . . . . 95
Gertrud Schmälzle (Kap. 2.2) 5.3 Projektmanagement . . . . . . . . . . . . . 101
2.1 Pflegeforschung . . . . . . . . . . . . . . . 18 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
2.2 Pflegetheorien und Pflegeverständnis 23
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 6 Methoden der Pflegepraxis . . . . . . . 107
Karin Bähr-Heintze, Susanne Stern
6.1 Pflegeformen . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
6.2 Der Pflegeprozess . . . . . . . . . . . . . . 112
XII Inhaltsverzeichnis

6.3 Patientenaufnahme und Betreuung . . . 115 10 Pflegeinterventionen . . . . . . . . . . . 169


Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Sibylle Linke (Kap. 10.1 u. Kap. 10.2),
Jeannette Bischkopf (Kap. 10.3),
7 Kommunikation und Gesprächs- Astrid Sonntag (Kap. 10.3),
führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Ilona Hippold (Kap. 10.4),
Mark Helle Mirjam Gaßmann (Kap. 10.5),
7.1 Was ist Kommunikation? . . . . . . . . . . 126 Werner Marschall (Kap. 10.5),
7.2 Allgemeine Kommunikationstheorien 127 Helmut Thiede (Kap. 10.6)
7.3 Die fünf Axiome menschlicher 10.1 Beziehung Patient und Pflegekraft . . . . 172
Kommunikation (Watzlawick) . . . . . . . 129 10.2 Nähe und Distanz . . . . . . . . . . . . . . . 178
7.4 Das Nachrichtenquadrat (Schulz v. Thun) 131 10.3 Gruppenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
7.5 Der personzentrierte Ansatz 10.4 Aggressionsmanagement –
und Kommunikation (Rogers) . . . . . . . 134 Deeskalationsstrategien . . . . . . . . . . 183
7.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . 136 10.5 Zusammenarbeit mit ambulant-
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 komplementären Einrichtungen . . . . . 186
10.6 Soziotherapie nach § 37a SGB V . . . . . . 187
8 Interkulturelle Kompetenz Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
in der psychiatrischen Pflege . . . . . . 139
Heike Pfitzner 11 Pharmakologie
8.1 Einleitung – Wozu braucht die Pflege in der psychiatrischen Pflege . . . . . . 195
einen kultursensiblen Ansatz? . . . . . . . 140 Katrin Nehring
8.2 Betrachtungen zum Begriff 11.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
»interkulturell« . . . . . . . . . . . . . . . . 141 11.2 Grundsätzliches zum Umgang
8.3 Was bedeutet »Kultur«? . . . . . . . . . . . 141 mit Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . 197
8.4 Was bedeutet dann interkulturelle 11.3 Neuroleptika . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Kompetenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 11.4 Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
8.5 Aktuelle Konzepte der interkulturellen 11.5 Phasenprophylaktika . . . . . . . . . . . .
Kommunikation in der Pflege . . . . . . . 143 (Lithium, Antiepileptika) . . . . . . . . . . 202
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 11.6 Benzodiazepine . . . . . . . . . . . . . . . . 204
11.7 Antidementiva . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

Psychiatrische Pflege

Allgemeine psychiatrische
9 Psychologische Grundlagen Pflege
psychiatrischer Pflege . . . . . . . . . 147
Jeannette Bischkopf, Astrid Sonntag
9.1 Einführung in die psychologischen 12 Anatomie und Physiologie
Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 des zentralen Nervensystems (ZNS) 209
9.2 Urteilsbildung und diagnostische Ewald Proll
Einschätzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 156 12.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
9.3 Psychologische Grundlagen des 12.2 Hirnstamm: verlängertes Mark
Handelns in pflegerischen Arbeitsfeldern 158 und Hinterhirn (Metencephalon) . . . . . 210
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 12.3 Zwischenhirn . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
12.4 Endhirn (Großhirn, Telencephalon) . . . . 214
12.5 Wie arbeitet das Gehirn? . . . . . . . . . . 216
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
XIII
Inhaltsverzeichnis

13 Theorien zur Krankheitsentstehung 219 17.1 Demenzielle Erkrankungen . . . . . . . . 256


Claudia Heinz 17.2 Delir (Delirium). . . . . . . . . . . . . . . . . 260
13.1 Biologisch-medizinische Ursachen . . . . 220 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
13.2 Psychologische Ursachen . . . . . . . . . . 221
13.3 Soziale Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . 221 18 Pflege bei Schizophrenie
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 und wahnhaften Störungen . . . . . . 263
Katrin Nehring
14 Verlauf psychischer Erkrankungen . . 223 18.1 Pflege bei Schizophrenie . . . . . . . . . . 264
Claudia Heinz, Jörg Utschakowski 18.2 Pflege bei wahnhaften Störungen . . . . 267
14.1 Krankheitsepisoden . . . . . . . . . . . . . 224 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
14.2 Chronifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . 224
14.3 Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 19 Pflege bei neurotischen, Belastungs-
14.4 »Drehtürpsychiatrie« und Hospitalismus 226 und somatoformen Störungen . . . . 271
14.5 Kasuistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Katrin Hartung, Kerstin Müller
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 19.1 Angststörungen und Phobien . . . . . . . 272
19.2 Zwangsstörungen . . . . . . . . . . . . . . 274
15 Psychopathologie . . . . . . . . . . . . . 231 19.3 Belastungs- und Anpassungs-
Martin Meyer störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
15.1 Erkennen von Bewusstseinsstörungen 232 19.4 Weitere neurotische Störungen . . . . . . 278
15.2 Erkennen von Orientierungsstörungen 233 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
15.3 Erkennen von Aufmerksamkeits-
und Konzentrationsstörungen . . . . . . . 234 20 Persönlichkeits- und Verhaltens-
15.4 Erkennen von Gedächtnisstörungen . . . 234 störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
15.5 Erkennen von Denkstörungen . . . . . . . 236 Winfried Böhner, Martin Meyer
15.6 Erkennen von Ängsten und Zwängen . . 239 20.1 Verhaltensstörungen . . . . . . . . . . . . . 282
15.7 Erkennen von Störungen des 20.2 Paranoide Persönlichkeitsstörung . . . . 285
Ich-Erlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 20.3 Schizoide Persönlichkeitsstörung . . . . . 286
15.8 Erkennen von Affektstörungen . . . . . . 241 20.4 Zwanghafte Persönlichkeitsstörung . . . 286
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 20.5 Depressive Persönlichkeitsstörung . . . . 286
20.6 Grundsätzliches zur Pflege
16 Einteilungsmodelle psychischer bei Persönlichkeits- und Verhaltens-
Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
16.1 ICD 10 und DSM IV . . . . . . . . . . . . . . 246 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
16.2 DRGs in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . 247
16.3 Pflegediagnosen in der Psychiatrie – 21 Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . 289
ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Winfried Böhner, Martin Meyer
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 21.1 Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
21.2 Manie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Spezielle psychiatrische 22 Pflege bei posttraumatischen


Krankheitslehre: Pflege, Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
Behandlung, Prävention 22.1 Definitionen und Klassifizierung . . . . . 298
22.2 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
22.3 Krankenbeobachtung . . . . . . . . . . . . 300
17 Pflege bei organisch-psychischen 22.4 Neurobiologische Veränderungen
Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 und deren Auswirkung im (stationären)
Christa Lehmann, Sibylle Linke Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
XIV Inhaltsverzeichnis

22.5 Alternativen zum selbstverletzenden 26 Forensische Psychiatrie . . . . . . . . . . 355


Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Michael Hülsen
22.6 Umgang mit Menschen nach Selbst- 26.1 Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . 356
verletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 26.2 Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . 358
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 26.3 Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
26.4 Besonderheiten der forensischen
23 Pflege bei Abhängigkeits- Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
Rosemarie Heger
23.1 Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . 310
23.2 Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
23.3 Folgeschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Rechtliche Grundlagen
23.4 Diagnose der Alkoholabhängigkeit . . . 314 und Rehabilitation
23.5 Co-Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 314
23.6 Behandlung der Alkoholabhängigkeit . . 315
23.7 Abwehrmechanismen . . . . . . . . . . . . 316 27 Rechtliche Grundlagen in der
23.8 Veränderungsprozesse . . . . . . . . . . . 317 Versorgung und Behandlung . . . . . 363
23.9 Überleitung – Netzwerke . . . . . . . . . . 320 Elke Bachstein
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 27.1 SGB II – Grundsicherung für Arbeits-
suchende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
24 Gerontopsychiatrie . . . . . . . . . . . . 321 27.2 SGB III – Arbeitsförderung . . . . . . . . . 365
R. Hellweg, Esther I. Strittmatter 27.3 SGB V – Krankenversicherung . . . . . . . 366
24.1 Organische Störungen . . . . . . . . . . . 322 27.4 SGB IX – Leistungen zur Rehabilitation
24.2 Affektive Erkrankungen . . . . . . . . . . . 329 und Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
24.3 Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 27.5 SGB XII – Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . 370
24.4 Weitere psychische Erkrankungen 27.6 Rechtliche Aspekte in der psychia-
im Senium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 trischen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 27.7 Unterbringungsrecht . . . . . . . . . . . . 373
27.8 Betreuungsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . 375
25 Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . 337 27.9 Berufsbildung und Berufsförderung . . . 378
Günter Koch, Christoph Kussmaul, Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
Wolf-Rüdiger Naussed
25.1 Psychische Entwicklung bei Kindern 28 Netzwerke und Modelle
und Jugendlichen – gesunde und der Behandlung und Versorgung . . . 381
gestörte Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . 338 Jörg Utschakowski
25.2 Ausgewählte Krankheitsbilder 28.1 Versorgungsmodelle . . . . . . . . . . . . . 382
bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . 340 28.2 Elemente der Behandlung . . . . . . . . . 384
25.3 Suizidalität im Kindes- und Jugendalter 349 28.3 Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
25.4 Intelligenzminderung, geistige 28.4 Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . 391
und psychische Behinderung . . . . . . . 349 28.5 Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
25.5 Anfallsleiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
25.6 Heil- und Sonderpädagogik, Verhaltens-
auffälligenpädagogik . . . . . . . . . . . . 351 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
25.7 Elternarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . 411
XV

Autorenverzeichnis
Ruth Ahrens Prof. Dr. Rainer Hellweg
Freiherr-vom-Stein-Straße 11a, Charité – Universitätsmedizin Berlin,
55543 Bad Kreuznach Campus Benjamin Franklin,
Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie
Elke Bachstein und Psychotherapie
Heerstr. 11, 14052 Berlin Eschenallee 3, 14050 Berlin

Karin Bähr-Heintze Ilona Hippold


Winterseite 26, 35282 Rauschenbach/Schwabendorf Postfach 100825, 78408 Konstanz

Dr. Jeannette Bischkopf Gerhard Huck


Frei Universität Berlin, Im Bock 2, 74182 Obersulm-Eschenau
Fachbereich Erziehungswissenschaften
und Psychologie Michael Hülsen
Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin Kölnerstr. 82/55, 40764 Langenfeld

Dr. Winfried Böhner Dr. Günter Koch


Facharzt für Psychotherapeutische Medizin Petz e.V.
Kaulardstraße 19, 50354 Hürth Schwendenerstr. 39, 14195 Berlin

Meik Friedrich Christoph Kussmaul,


Universität Hannover, Petz e.V.
Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Schwendenerstr. 39, 14195 Berlin
Königsworther Platz 1, 30167 Hannover
Christa Lehmann
Mirjam Gaßmann Deutsches Rotes Kreuz,
Charité – Universitätsmedizin Berlin, Heimleiterin der Seniorenbetreuungseinrichtung
Campus Benjamin Franklin »Saalower Berg«, Horstweg 1,
Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin 15838 Am Mellensee/OT Saalow

Katrin Hartung Sybille Linke


Kollwitzstraße 12, 10405 Berlin Charité – Universitätsmedizin Berlin,
Campus Benjamin Franklin, Psychiatrische Klinik –
Rosemarie Heger Modul Integrative Psychiatrie (Station 18B)
Feldstr. 7 A, 12207 Berlin-Lichterfelde Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin

Claudia Heinz Werner Marschall


Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie Charité – Universitätsmedizin Berlin,
Am Barkhof 35, 28209 Bremen Campus Benjamin Franklin
Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin
Prof. Dr. Mark Helle
Hochschule Magdeburg-Stendal (FH), Martin Meyer
Standort Stendal IfEG-Institut
Osterburger Straße 25, 39576 Stendal Iltisstraße 23, 50825 Köln
XVI Autorenverzeichnis

Dr. Thomas Müller Helmut Thiede


Zentrum für Human- und Gesundheitswissen- Gesellschaft für ambulante psychiatrische
schaften der Berliner Hochschulmedizin (ZHGB) Dienste GmbH
Institut für Geschichte der Medizin Waller Heerstraße 103, 28219 Bremen
Klingsorstrasse 119, 12203 Berlin
Jörg Utschakowski
Kerstin Müller FOKUS
Lychener Straße 8, 10437 Berlin Vegesackerstr. 174, 28219 Bremen

Wolf-Rüdiger Naussed Christoph Vauth


Petz e.V. Universität Hannover,
Schwendenerstr. 39, 14195 Berlin Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät
Königsworther Platz 1, 30167 Hannover
Katrin Nehring
Schwerinstraße 12, 10783 Berlin

Dr. Heike Pfitzner


STIC – Personalentwicklung
Russland/Ukraine/Belarus
Geschwister-Scholl-Straße 11, 20251 Hamburg

Dr. Ewald Proll


Arzt für Psychiatrie/Psychotherapie
Varresbecker Straße 20, 42115 Wuppertal

Prof. Dr. Martina Roes


Hochschule Bremen FB 8 – ISP
Neustadtswall 30, 28199 Bremen

Helmut Schiffer
Schulenburgring 5, 12101 Berlin

Gertrud Schmälzle
Campus Benjamin Franklin IPB Bereich
Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin

Dr. Astrid Sonntag


Dorfstraße 41, 06888 Dietrichsdorf

Susanne Stern,
Maßmannstraße 11, 12163 Berlin

Dr. Esther Strittmatter


Charité – Universitätsmedizin Berlin,
Campus Benjamin Franklin,
Klinik und Hochschulambulanz
für Psychiatrie und Psychotherapie
Eschenallee 3, 14050 Berlin
XVII

Die Herausgeber
Mirjam Gaßmann
Jahrgang 1963; Krankenpflegeexamen 1983; Fachweiterbildung Psychiatrie 1996; 10 Jahre in der Abteilung für
Sozialpsychiatrie der Freien Universität Berlin tätig; seit 2002 Leiterin der Fachweiterbildung Gesundheits- und
Krankenpflege in der Psychiatrie an der Charité Universitätsmedizin Berlin; Gesundheitswissenschaftlerin B.Sc.;
Forschungsprojekt zur psychiatrischen Pflege im ambulant- komplementären Bereich 1997–1998, gefördert durch
die Robert Bosch Stiftung; im Anschluss Curriculumsentwicklung und Umsetzung in die Praxis von Fort- und
Weiterbildung in der Psychiatrie; zurzeit berufsbegleitendes Fernstudium »Master of Arts« Erwachsenenbildung

Werner Marschall
Jahrgang 1953; Krankenpflegeexamen 1977; Fachweiterbildung Psychiatrie 1996; 10 Jahre in der Abteilung für
Sozialpsychiatrie der Freien Universität Berlin tätig; seit 2003 Abteilungsleiter der psychiatrischen Klinik am Campus
Benjamin Franklin; Gesundheitswissenschaftler B.Sc.; Forschungsprojekt zur psychiatrischen Pflege im ambulant-
komplementären Bereich 1997–1998, gefördert durch die Robert Bosch Stiftung; im Anschluss Curriculumsent-
wicklung und Umsetzung in die Praxis von Fort- und Weiterbildung in der Psychiatrie

Jörg Utschakowski
Jahrgang 1962; Diplom als Sozialarbeiter/-pädagoge 1987; Weiterbildung systemische Beratung 2001; 15 Jahre als
Sozialarbeiter im Betreuten Wohnen tätig; seit 12 Jahren Lehrbeauftragter an der Hochschule Bremen; seit 2001 in
der Curriculumsentwicklung und Aus-, Fort- und Weiterbildung von psychiatrischen Fachkräften tätig; 2001–2004
Koordination des trinationalen Pilotprojektes WAP (Weiterbildung ambulante psychiatrische Fachkrankenpflege),
gefördert durch die Europäische Union; seit 2005 Koordination des EU- Pilotprojektes EX-IN (Experienced-Involve-
ment) zu Qualifizierung von Psychiatrie-Erfahrenen als Dozenten und »Genesungsbegleiter«
I

Grundlagen der
psychiatrischen Pflege
1 Zur Geschichte der Psychiatrie
und der psychiatrischen Krankenpflege
im deutschsprachigen Raum – 3
Thomas Müller

2 Pflege in der Psychiatrie:


Konzepte und Modelle – 17
Martina Roes (Kap. 2.1 u. Kap. 2.2), Gertrud Schmälzle (Kap. 2.2)

3 Gesundheitsförderung in der Psychiatrie:


Konzepte und Modelle – 39
Gerhard Huck

4 Die Rolle der Pflegenden in der Psychiatrie – 65


Martin Meyer
1

1 Zur Geschichte der Psychiatrie und


der psychiatrischen Krankenpflege
im deutschsprachigen Raum
Thomas Müller

1.1 Die frühe institutionalisierte Psychiatrie – 4

1.2 Entkriminalisierung, Entmystifizierung, Medikalisierung –4

1.3 Frühe Formen der institutionalisierten Krankenpflege – 6

1.4 Der gesellschaftliche und medizinische Kontext


des 19. Jahrhunderts – 6

1.5 Die neurologische Wende –8

1.6 Psychotherapeutische Einflüsse –8

1.7 Der Darwinismus und die Degenerations-Hypothese – 9

1.8 Trauma und Krieg – 10

1.9 Pflege und Psychiatrie im Nationalsozialismus – 10

1.10 Die Nachkriegszeit in den beiden deutschen Staaten – 11

1.11 Die Reformen der 1970er Jahre – 12

1.12 Ausblick – 13

Literatur – 15
4 Kapitel 1 · Zur Geschichte der Psychiatrie und der psychiatrischen Krankenpflege

) ) In Kürze Diese Zusammenhänge entstehen eher aus den Bei-


1 trägen personeller Netzwerke als allein aus denjeni-
Dieser historische Beitrag versteht sich als einführen- gen von Einzelpersonen, und dies oft in ähnlichen
der Teil eines Lehrbuchs der Psychiatrischen Kranken- Zeiträumen an mehreren verschiedenen Orten. Die
pflege. Im Rahmen eines Kurzbeitrags zur Geschichte medizinische Disziplin der Psychiatrie stellt hier
der Psychiatrie und der psychiatrischen Krankenpfle- keine Ausnahme dar. Dennoch bieten sich einige
ge sind inhaltliche Beschränkungen notwendig. So Daten an. Symbolische Kraft hat im deutschsprachi-
behandelt dieser Beitrag die Psychiatrie und psychi- gen Raum das Jahr 1803. Es ist dies das Publikations-
atrische Krankenpflege im deutschsprachigen Raum jahr der »Psychiatrischen Rhapsodien« von Johann
seit dem frühen 19. Jahrhundert. Christian Reil (1759–1813). Der dem sog. Vitalismus
Auf empfehlenswerte Literatur zur Geschichte anhängende Reil war ein früher Fürredner der psy-
der Pflege und Behandlung psychisch Kranker, von chiatrischen Eigenständigkeit im Sinne eines eigen-
den frühen Hochkulturen und der Antike über das ständigen medizinischen Fachs. Reil prägte den Be-
Mittelalter bis in die Zeit der Aufklärung hinein, griff »Psychiatrie« selbst. Der Vitalismus war eine
wird in der beigefügten Literaturauswahl verwie- Gesundheits- und Krankheitslehre, die ein überge-
sen. Im Rahmen der reichhaltigen internationalen ordnetes Lebensprinzip annahm, bestehend aus fun-
Literatur zum Thema wurde hinsichtlich des we- damentalen und handelnsbegründenden Kräften,
sentlichen Verwendungszwecks dieses Werkes bei deren Ungleichgewicht diesem Prinzip zufolge
als Lehrbuch für die Krankenpflegeausbildung in Krankheit auftreten würden. Reil galt den Zeitge-
Deutschland hier den deutschsprachigen Werken nossen als eine Art Gegenkandidat zu dem einfluss-
beziehungsweise den deutschen Übersetzungen reichen französischen Arzt Philippe Pinel (1745–
fremdsprachiger Originalpublikationen der Vor- 1826).
zug gegeben. Neben den Monographien werden
solche Sammelbände vorgeschlagen, in denen
mehrere Kapitel zur vertiefenden Lektüre dienen 1.2 Entkriminalisierung,
können. Entmystifizierung,
Medikalisierung
Wissensinhalte
Nach der Lektüre dieses Kapitels kennen Sie: ! Allgemein formuliert ist der Übergang zum
7 die Grundzüge der Geschichte der Psychiatrie 19. Jahrhundert in Westeuropa gekennzeich-
seit dem 19. Jahrhundert net durch den Versuch einer schrittweisen
7 die Grundzüge der Geschichte der psychiatri- Entkriminalisierung der psychisch Kranken,
schen Krankenpflege die zuvor häufig mit Gewalttätern zusammen-
7 die Beziehungen zwischen ärztlichem Beruf und gesperrt und durch die permanente Anwen-
Pflegeberuf aus historischer Sicht dung körperlicher Gewalt festgehalten wor-
den waren.

1.1 Die frühe institutionalisierte Mit einem wachsenden Verständnis für die Symp-
Psychiatrie tome psychisch Kranker als Zeichen einer Krankheit
ging auch eine gewisse Entmystifizierung psychisch
Fragt man in der Wissenschaftsgeschichte nach der Kranker einher, die in vormodernen Konzepten als
Geburtsstunde einer Disziplin, einer Theorie oder vom Teufel Besessene betrachtet worden waren.
einer Therapie, so muss jeder Antwort etwas Unvoll- Diese Entwicklung wurde in der älteren psychiatrie-
ständiges und Künstliches anhaften. historischen Literatur häufig mit dem Namen eben
jenes bedeutenden Pariser Klinikers Pinel in Verbin-
! Entwicklungen in der Wissenschaft sind in dung gebracht. Der jüngeren Forschung zufolge wird
aller Regel das Produkt komplexerer Zusam- diese Zuschreibung als Gründungsmythos moder-
menhänge. ner französischer Psychiatrie bezeichnet, und da-
1.2 · Entkriminalisierung, Entmystifizierung, Medikalisierung
5 1

rüber hinaus kommt den Pflegekräften in den von In der Schulpsychiatrie vertrat man darüber
Pinel betreuten Einrichtungen, wie dem Aufseher hinaus die Auffassung, dass der organisatorische und
Pussin, in der Umsetzung dieser Humanisierungs- architektonische Aufbau von Irrenanstalten in engem
bestrebungen offenbar genauso hohe Bedeutung inhaltlichen Zusammenhang zu Erfolg versprechen-
wie den ärztlichen Akteuren zu. Dennoch steht der der Therapie oder Verwahrung von psychisch Kran-
Name Pinel bis heute mehr als jeder andere seiner ken stehe. Pinel fand hinsichtlich dieser Auffassung
psychiatrischen Kollegen dieser Generation in und im Verlauf vor allem der zweiten Hälfte des 19.
Frankreich für vielgestaltige Veränderungen in der Jahrhunderts eine nicht gezählte Zahl an Fürspre-
Medizin der Zeit, unter anderem im Umgang mit chern.
psychiatrischen Patienten. Recht unzweifelhafter ist In der Geschichtsschreibung der Psychiatrie
sein Beitrag zum Aufstieg des damaligen Pariser Ir- wurde in der Vergangenheit auch deswegen die Ge-
renhauses »Salpêtrière« – für wenigstens hundert schichte der Institutionen betont, in denen Pflege-
Jahre – zu einem neuropsychiatrischen Zentrum kräfte, Aufseher und Ärzte tätig waren. Diese Art
von Weltrang. Einzufügen ist hier, dass das Verhält- von Psychiatriegeschichtsschreibung führt uns von
nis zwischen pflegerischer und ärztlicher Tätigkeit der christlichen Klostermedizin über die Gründung
durch eine Geschichte der Interessenskonflikte ge- der Hospitäler und der Entwicklung der Armenfür-
kennzeichnet ist. Finden die in beiden Berufsgrup- sorge bis hin zur Gründung von psychiatrischen Pri-
pen Tätigen auch spätestens am Krankenbett zusam- vat-Sanatorien, von städtischen Krankenhäusern
men, so stellten doch Hierarchisierungen im Rah- mit Fachabteilungen und Gründung der Universi-
men der institutionellen Arbeit zu jeder Zeit einen täten mit ihren medizinischen Lern- und Lehrbe-
Konfliktherd dar. Selbstverständlich unterlagen auch reichen.
diese Hierarchisierungen einem steten Wandel über
! Die Konzepte von psychischer Krankheit und
die Zeit. Das Verständnis davon oder die Erkenntnis,
ihrer Heilung oder zumindest ihrer Behand-
dass es sich dabei um zwei eigenständige, selbstver-
lung bilden sich dabei in Architektur wie auch
antwortliche Berufe und Tätigkeitsbereiche handelt,
in der Platzierung dieser Orte in der jeweiligen
deren gute Kooperation in kausalem Zusammen-
Kulturlandschaft ab.
hang zur Qualität der Behandlung von Kranken
steht, ist dabei erstaunlich jung. Die klostereigenen agrikulturellen Betriebe des Mit-
In der Konzeptionierung der Psychiatrie am Be- telalters wie auch die Landgüter im Besitz psychiatri-
ginn des 19. Jahrhunderts traten hinsichtlich scher Heil- und Pflegeanstalten im 19. Jahrhundert
Ursache und Therapie von psychischen Erkrankun- geben, wie viele andere Beispiele mehr, Hinweise auf
gen neben der Vererbung und der individuellen ökonomische, politische und andere Aspekte einer
psychischen Erfahrung stärker als zuvor auch Fra- mit allgemein-gesellschaftlichen Einflussgrößen
gen der Erziehung hinzu. Der Kranke sollte »zur hochgradig verflochtenen Geschichte der Pflege und
Vernunft« gebracht werden. Firmierte dies im Behandlung psychisch Kranker. Das Verständnis
deutschsprachigen Raum unter psychischer Kur, so einer Geschichte der Psychiatrie als die Geschichte
erlangten das französische »traitement morale« der sie praktizierenden Institutionen stellt auch wei-
oder das englische »moral treatment/management« terhin eine legitime Form der Annäherung an den
als Begrifflichkeiten, die eine ganze Epoche psychi- Gegenstand dar, wurde jedoch durch andere Perspek-
atrischer Therapie kennzeichneten, noch größere tiven erweitert. Auch anhand einer Geschichte der
Bekanntheit. Methoden der Therapie, der Sicht von Patientinnen
und Patienten, oder einer Geschichte der Psychiatrie
! Die Isolierung des Kranken von seiner Ur-
aus der Sicht des Pflegepersonals lässt sich Wesent-
sprungsfamilie zum Ziele der Besserung
liches zeigen.
seines Zustands wurde zum Standard der Be-
Für die Psychiatrie ab dem frühen 19. Jahrhun-
handlung erhoben.
dert wurde eine entmystifizierende Medikalisierung
Für ein Verständnis des Begriffs »Aufseher« oder der Geisteskrankheit und eine zunehmende Kritik
»Krankenwärter« ist dies erhellend. an der Gewaltanwendung gegen Patienten als charak-
6 Kapitel 1 · Zur Geschichte der Psychiatrie und der psychiatrischen Krankenpflege

teristisch beschrieben. Dennoch muss festgehalten Zusammenhang. 1859 entstand in Lausanne in der
1 werden, dass trotz nachweislich vorhandener Hu- Schweiz eine frühe und private Krankenpflegeschu-
manisierungstendenzen die Prügelstrafe oder die le. Der Arzt und Pathologe Rudolf Virchow stellte in
Kaltwasserdusche dennoch weiterhin durchgeführt einem Berliner Vortrag 1869 die hohe Bedeutung
wurden. Gerade hier wurde auf die Funktion des der Krankenpflege dar und betonte die Schaffung
sog. Wartepersonals oder Wärterpersonals zurück- einer »berufsmäßigen Ausbildung«. Unter seinem
gegriffen. Verfolgt wurde zweifellos auch die völlige Einfluss und in Zusammenarbeit mit dem Kranken-
Unterordnung des Kranken unter das Regime der haus am Friedrichshain wurde in Berlin 1881/82 das
Psychiatrie und der sie Praktizierenden: So gehörte Viktoria-Haus als Schule zur Ausbildung von Kran-
beispielsweise auch die Einführung der erzwunge- kenpflegerinnen gegründet. Gegen Ende des Jahrhun-
nen Sondenernährung ins Repertoire nicht nur der derts nahm der Anteil der Frauen, die in weltlichen,
Pariser Irrenhäuser. Moralische Mittel und Arbeits- teils auch privaten Formen Krankenpflege ausübten,
therapie standen nun ebenfalls hoch im Kurs. deutlich zu.
Die psychiatrische Familienpflege ist für die
Geschichte der Krankenpflege psychisch kranker
1.3 Frühe Formen der institutio- Menschen ebenfalls von gewisser Bedeutung. Der
nalisierten Krankenpflege seit den 1890er Jahren die Heil- und Pflegeanstalt
Uchtspringe bei Stendal in der Altmark leitende Psy-
Eine wesentliche Entwicklung, die das 19. Jahrhun- chiater Konrad Alt erkannte die hohe Bedeutung gut
dert im Bereich der Pflege der Kranken jedoch ins- ausgebildeter Krankenpflegekräfte. Er sprach sich
gesamt mit sich brachte, hängt mit dem sozialen für eine bessere Bezahlung, die Erlaubnis der Heirat
Umbruch der Aufklärung und den Entwicklungen und andere Leistungen und Zugeständnisse an das
in der klinischen Medizin untrennbar zusammen: Pflegepersonal aus. Alt hatte erkannt, dass die bis da-
Hier beginnt, was den deutschsprachigen Raum be- hin von den Ärzten beklagte hohe Fluktuation der in
trifft, die Umgestaltung des bis dato gänzlich unter der psychiatrischen Krankenpflege Tätigen durch
dem umfassenden Einfluss der christlichen Tradi- solche Verbesserungen des Arbeitsklimas und der
tion stehenden Pflege kranker Menschen. Entwickelt Lebensqualität der Pflegekräfte zu mindern war.
wurden vier Formen, die katholische Ordenspflege,
! Als Zeichen einer zunehmenden Autonomie
die evangelische Diakonie, die weltlichen Mutter-
wurde 1903 die »Berufsorganisation der Kran-
hausverbände und die freiberufliche Krankenpflege.
kenpflegerinnen Deutschlands« gegründet,
Für die Geschichte der weltlich organisierten Kran-
der Vorläufer des »Deutschen Berufsverban-
kenpflege sind die Kriegseinsätze in den Befreiungs-
des für Pflegeberufe«.
kriegen von der napoleonischen Besatzung nach
1813 nicht unwesentlich, in denen nun auch Frauen
aufgerufen waren, verwundete und erkrankte Sol-
daten zu pflegen, und dem aus »vaterländischer Ver- 1.4 Der gesellschaftliche
pflichtung« heraus auch nachgekommen waren. und medizinische Kontext
des 19. Jahrhunderts
! Dies stellt eine Vorform der konfessionell
nicht gebundenen und freiberuflichen Kran-
Galt lange das 19. Jahrhundert gemeinhin als das
kenpflege dar, die im späten 19. Jahrhundert
Zeitalter der Entstehung der europäischen National-
in eine Reform der Krankenpflege hin zu ei-
staaten, so erfuhr dieses Bild aufgrund jüngerer
nem interkonfessionellen, in der Gesellschaft
allgemeinhistorischer Forschungen eine gewichtige
geachteten und finanziell gesicherten Beruf,
Erweiterung: Die Industrialisierung und zunehmen-
vordringlich für Frauen mündete.
de Mobilität im Zuge technischer Entwicklung, die
Mit der erwähnten Verwundetenpflege im Kriegsfall Intensivierung interregionaler und interkontinen-
steht übrigens auch die Gründung des Roten Kreuzes taler wirtschaftlicher Verflechtung forcierten im
und seiner späteren Schwesternschaften in engstem 19. Jahrhundert zunehmend auch den Austausch
1.4 · Der gesellschaftliche und medizinische Kontext des 19. Jahrhunderts
7 1

von Gütern, Personen und Wissen über jegliche Das genaue Studium des klinisch-pathologischen
Grenzen hinweg. Die Weltausstellungen der zweiten Erscheinungsbildes einer Erkrankung wie auch die
Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen dies deutlich. Viele Untersuchung des psychologischen Status wurde
medizinische Subdisziplinen verfügten mit eigenen nun zum Standard psychiatrischer Praxis erklärt.
Sektionen auf diesen Weltausstellungen über den Das historiographische Konzept einer Psychiatrie
Raum, sich selbst beziehungsweise das gewünschte des 19. Jahrhunderts, in der in bipolarer Weise eine
Bild von sich selbst öffentlich darzustellen. Auf der Gruppe von als »Psychiker« bezeichneten psychi-
Pariser Weltausstellung von 1867 wurde zum Bei- atrisch tätigen Ärzten »Somatiker« gegenüber stan-
spiel nach Vorbild der sog. Irrenkolonie im flämi- den, wird jedoch inzwischen hinterfragt und in
schen Gheel ein Haus ausgestellt, das nach Meinung Zweifel gezogen. Deutlicher weist man nun auf Ge-
der ausstellenden Ärzte zur Benutzung im Rahmen meinsamkeiten hin, die, neben den Unterschieden
der psychiatrischen Familienpflege besonders geeig- zwischen den Konzepten dieser Ausrichtungen,
net sei. ebenfalls bestanden.
Für die Wissenschaften tritt, vor allem durch Griesingers Position war im Rahmen einer wei-
eine hinsichtlich ihres Umfangs geradezu explodie- teren, hiervon kaum trennbaren und zentralen De-
rende Publikationskultur, eine diesen Aspekt inter- batte der Psychiatrie um die Mitte des 19. Jahrhun-
nationaler Verflechtung von medizinischer Theorie derts wesentlich. Zusammenfassend kann man in
und Praxis noch verstärkender Faktor hinzu: ganz Westeuropa, und damit auch in deutschen Lan-
den spätestens ab den 1850er Jahren von einer psy-
! Diese Entwicklung führte zur Beteiligung
chiatrischen Debatte sprechen, in der es um die
einer viel größeren Zahl an Experten, Laien
Frage der sog. Asylierung, also der Art und Weise
und auch Betroffenen am kommunikativen
der Unterbringung psychisch Kranker geht: Die
Austausch über die Entwicklung der verschie-
Frage war, wie Patienten auf medizinisch adäquate
densten Bereiche der Wissenschaften.
und moralisch akzeptable Art und Weise zu versor-
Für die Psychiatrie bringt dies eine vom internatio- gen seien. Wichtig ist hier der Hinweis, dass die vie-
nalen Kontext nicht trennbare und in ihrer charak- len Ziegelstein-Komplexe, die als charakteristische
teristischen Ausprägung dennoch auch mit Eigen- psychiatrische Anstalten der Gründerzeit noch heute
heiten versehenen Phase der graduellen Humanisie- zum Bild fast jeder deutschen Stadt gehören, und in
rung, aber auch der Verwissenschaftlichung mit dem Maß, wie wir es für das beginnende 20. Jahr-
sich. Wird diese Phase in England (No-restraint-Be- hundert kennen, um 1860 herum noch kaum exis-
wegung) mit John Connolly (1794–1866) in Verbin- tierten. Vielmehr diskutierte man, ob man diese kos-
dung gebracht, so gilt der schwäbische Psychiater tenintensiven Einrichtungen überhaupt benötige.
Wilhelm Griesinger (1817–1868) als deutscher Weg- Manche Diskussionsteilnehmer zogen schlichtweg
bereiter. Von Griesinger wurde unter dem die ge- in Zweifel, dass die Zunahme der Zahl dieser Groß-
samte Medizin dieser Zeit prägenden Einfluss des anstalten notwendig sei. Fest steht heute, dass sich in
sog. Lokalismus der Aspekt der Lokalisierbarkeit Deutschland, vor allem nach der Reichsgründung
psychischer Krankheiten als Gehirnkrankheiten 1870/71, die Befürworter großer und zentraler An-
hervorgehoben. Dieser Schritt wäre jedoch ohne die stalten für psychisch Kranke durchgesetzt hatten.
Entwicklung der Pathologie und der pathologischen Doch auch die neuen und zusätzlich errichteten
Anatomie, auch der ausländischen, in dieser Form Krankenhausbauten erwiesen sich in ihrer Gesamt-
nicht denkbar gewesen. heit als nicht ausreichend, eine aus verschiedenen
Gründen immer größer werdende Zahl an Patienten
! Griesingers Beitrag wurde häufig als wesent- aufzunehmen. Erst als alle kommunalen und ande-
licher Baustein in der Begründung einer ren zuständigen Einrichtungen ihre zur Versorgung
wissenschaftlichen Somatopsychiatrie, einer psychisch Kranker vorgesehenen Budgets vollends
in der Erklärung von Krankheiten auf körperli- erschöpft hatten, entsann man sich der in den 1860er
che Korrelate konzentrierten Konzeptualisie- Jahren diskutierten alternativen Modelle der Versor-
rung der Psychiatrie, bezeichnet. gung, wie beispielsweise der agrikolen Kolonie oder
8 Kapitel 1 · Zur Geschichte der Psychiatrie und der psychiatrischen Krankenpflege

der psychiatrischen Familienpflege. Seit den frühen des 19. Jahrhunderts jedoch erneut auftretenden
1 1890er Jahren, interessanterweise ohne umfassende Welle der Skepsis, Kritik gegenüber einer stark auf
Diskussion, erhielten nun viele deutsche Anstalten den Körper fixierten Psychiatrie breit. Mit dieser
zusätzliche Einrichtungen dieser Art. In engem Zu- Kritik ging auch ein gewisser therapeutischer Pes-
sammenhang mit einer schnell zunehmenden Zahl simismus einher. Denn die therapeutischen Mög-
an Patientinnen und Patienten steht eine auch hin- lichkeiten und Ergebnisse der Behandlung hielten
sichtlich ihrer quantitativen Entwicklung fast als in- keinesfalls Schritt mit den noch in den Jahren zuvor
flationär zu bezeichnende Gründungswelle sog. an die Entwicklung der Psychiatrie geknüpften
Privat-Sanatorien. Dies waren medizinische Ein- Hoffnungen.
richtungen, die in charakteristischer Weise seitens
der sozialen Schicht des Bürgertums bzw. der dieser
Schicht Zugehörigen genutzt wurden. 1.6 Psychotherapeutische
Einflüsse

1.5 Die neurologische Wende Möglicherweise ist mit diesen enttäuschten Hoff-
nungen auch zum Teil zu erklären, dass sich alter-
Innermedizinische Beiträge gehören ebenfalls zum nativ zu somatischen Erklärungszugängen und Be-
Verständnis dieser Phase der Entwicklung der handlungsweisen nun andere Therapiemethoden
deutschsprachigen Psychiatrie. Der Wiener Psychia- zunehmend etablieren konnten. Hierbei handelte es
ter Theodor Meynert (1833–1892) und der Berliner sich aus heutiger Sicht unter anderem um hypno-
Carl Wernicke (1848–1905) zum Beispiel trugen im tische und suggestive Verfahren, die teilweise auf
letzten Viertel des 19. Jahrhunderts anatomisch- den sog. Magnetismus Franz Anton Mesmers (1734–
physiologische Entdeckungen bei, während der zu- 1815) zurückgingen. Für die deutsche Entwicklung
letzt in München tätige Emil Kraepelin (1856–1927) ist erneut eine starke Rezeption der sog. hypno-
für die Etablierung einer Klassifikation von Geistes- tischen Psychiatrie Frankreichs und ihrer beiden
krankheiten eintrat. Kraepelins Spuren lassen sich Schulen in Paris und Nancy auf vielfältige Art und
noch in den psychiatrischen Klassifikationsmanua- Weise nachweisbar. Symbolisch ist hier der Um-
len nordamerikanischer Provenienz zu Beginn des stand, dass der Wiener Sigmund Freud (1856–1939)
21. Jahrhunderts finden, wie beispielsweise der In- in den Jahren seiner schulmedizinischen Ausbildung
ternational Classification of Diseases (ICD). Auch der an beiden Schulen hospitiert hatte. Freud gilt als
als Griesinger-Schüler bezeichnete Richard von Wegbereiter und Begründer der Psychoanalyse,
Krafft-Ebing (1840–1902) trug, neben seinem fun- deren weitere Entwicklung maßgeblich die Ausdiffe-
damentalen Beitrag zur Begründung der Sexualpsy- renzierung der sog. konfliktaufdeckenden Psycho-
chiatrie, zu der Frage der Klassifikation von psychi- therapieformen beeinflusste. Die hohe Bedeutung,
schen Krankheiten bei. Die Erforschung der sog. die der Erinnerungsfähigkeit zuvor bereits im Rah-
Psychosen stellte der Schweizer Psychiater Paul men der Hypnose zukam, galt auch den frühen Psy-
Eugen Bleuler (1857–1939) in den Mittelpunkt sei- chotherapeuten, wie Freud und seinem Kollegen
ner Forschungen. Joseph Breuer (1842–1925), als Indiz für die zum
Verständnis der Erkrankung notwendige Akzeptanz
! Außermedizinische Entwicklungen, wie bei-
der Bedeutung frühkindlicher, oder allgemeiner:
spielsweise die zunehmende und breite
biographischer Erfahrungen in der Ausgestaltung
Anwendung geeigneter Mikroskope in der
der individuellen Erkrankung. Schon in Pinels Ge-
Pathologie und Anatomie, brachten auch
neration hatte man allerdings Vermutungen darüber
für die Psychiatrie vielversprechende Entde-
angestellt, dass das Gefühlsleben oft schon vor den
ckungen mit sich.
eigentlichen »Attacken« einer Geisteskrankheit ge-
Dennoch machte sich, in einer im Vergleich zur stört zu sein schien. Solcherlei Anregungen und Er-
Psychiatriekritik um die Mitte des 19. Jahrhunderts klärungsansätze hinsichtlich der Ursachen in der
zwar inhaltlich unterschiedlichen, nun gegen Ende Entstehung von Geisteskrankheiten wurden seiner-
1.7 · Der Darwinismus und die Degenerations-Hypothese
9 1

zeit, mehr als dies heute gemeinhin bekannt ist, von these, unter anderem als Erklärung der Entstehung
Nachbarwissenschaften, wie der Philosophie, beige- von psychischen Erkrankungen, erlangte in einem
tragen. Nicht wenige Autoren bezweifeln heute, dass ähnlichen Zeitraum Bedeutung wie die Ideen des
dieses Wissen innerhalb der Humanmedizin dieser Darwinismus, mit denen sie sich zu ergänzen schien,
Zeit entstand. Sie sprechen von einer »Umbuchung« und die ihrem Erfolg so auch Vorschub leistete. Die
solcher Erkenntnisse vom Wissensbestand der Idee der Degenerations-Hypothese wurde wesent-
Nachbarwissenschaften Psychologie, Philosophie lich in der französischen Psychiatrie erarbeitet und
und anderer weiterer in den Wissensbestand der nahm alte Vorstellungen von der »Erblichkeit der
Medizin. So führte beispielsweise der Philosoph Geisteskrankheiten« in sich auf. Therapeutisch ging
Arthur Schopenhauer (1788–1860) im Rahmen der auch sie mit einem deutlichen Pessimismus einher.
Entstehung seiner einschlägigen Studien zum Wahn- Zu ergänzen ist hier, dass die Erblichkeitsforschung
sinn eine Reihe von Patientenbesuchen in der Ber- an und für sich durch mehrere französische Arbeiten
liner Charité durch. Der Wissenstransfer zwischen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts einen deutlichen
diesen Feldern kann vom heutigen Kenntnisstand Aufschwung erhielt, wie zum Beispiel durch diejeni-
aus nicht anders als rege bezeichnet werden. gen Jacques Joseph Moreau de Tours’ (1804–1884).
Die skeptische Einschätzung der Möglichkeiten Als eigentlicher Schöpfer der Degenerations-Hypo-
einer somatisch ausgerichteten Psychiatrie führten these gilt jedoch der in Wien von französischen
neben dem Interesse an psychodynamischen An- Eltern geborene Benedict Augustin Morel (1809–
sätzen des Verständnisses psychischer Erkrankung 1873). Er wird einem Kreis von jungen Medizinern
jedoch zu einem unerwartet starken gesellschaft- zugerechnet, die politischen Radikalismus mit gläu-
lichen Interesse an Spiritismus und Okkultismus, bigstem Katholizismus verbunden haben sollen,
im Verhältnis zu denen sich die wissenschaftliche und gilt in gewisser Weise als Vorkämpfer einer
Medizin der Jahrhundertwende zu permanenten Ab- soziologischen Orientierung der Medizin, was sich
grenzungsbestrebungen herausgefordert sah. Auch auch in der Degenerations-Hypothese widerspie-
Aberglauben und andere vormoderne Formen und gelt.
Versuche des Weltverständnisses erhielten im Zuge
! Von Morel stammt die Auffassung, die
dieser Entwicklung unter medizinischen Laien Auf-
Degenerationen, für die er eine Reihe von Ur-
wind. Fokussierte die Schulpsychiatrie ihre Auf-
sachen auflistete, seien krankhafte Abwei-
merksamkeit weiterhin auf das »Gehirn«, suchten
chungen vom normalen menschlichen Typ, sie
medizinische Laien und also auch Patienten ihr Heil
seien erblich übertragbar und entwickelten
in Strategien und Behandlungsmöglichkeiten, die
sich progressiv bis zum Untergang.
sich der »Seele« widmeten. Innerhalb geordneter
therapeutischer Ansätze waren dies die Psychothe- Er stellte eine Reihe von seiner Meinung nach »un-
rapien, jenseits dessen eher die eben beschriebenen fehlbaren Stigmata« der Degeneration auf, anhand
vormodernen Phänomene. derer man sie erkennen könne. In Deutschland be-
einflusste Morel nicht nur Wilhelm Griesinger, son-
dern auch Richard von Krafft-Ebing (1849–1902).
1.7 Der Darwinismus und die Auch in Frankreich wurde Morels Konzept der
Degenerations-Hypothese Degeneration, unter anderem von Valentin Magnan
(1835–1916), weiterentwickelt. Er verwarf allerdings
Ein im Rahmen der Schulpsychiatrie die franzö- das Religiöse am Degenerationsbegriff Morels und
sische und die deutsche Entwicklung des späten 19. interpretierte sie als Regression oder Rückentwick-
Jahrhunderts tendenziell trennender Aspekt stellte lung im Sinne des Darwinismus. Magnan unter-
die Erklärung der Entstehung psychischer Erkran- suchte Alkoholkranke in Bezug auf seine Hypothe-
kungen und Symptome, wie der mit hoher Aufmerk- sen, wie später auch Kraepelin und Bleuler, und
samkeit bedachten Hysterie, dar. Auch die Hysterie führte Tierexperimente mit Alkohol durch. Die De-
wurde mit der sog. Degenerations-Hypothese in Zu- generations-Hypothese wurde in der Wahrnehmung
sammenhang gebracht. Die Degenerations-Hypo- der Zeitgenossen dabei auch durch die gesellschaft-
10 Kapitel 1 · Zur Geschichte der Psychiatrie und der psychiatrischen Krankenpflege

liche Diskussion über den Zusammenhang von Ge- tung von ihr bis in die späte Weimarer Republik
1 nie, Wahnsinn und Verbrechen gestützt. Der italie- hinein etablierten, kann als äußerst fruchtbar be-
nische Psychiater und Kriminalanthropologe Cesare zeichnet werden. Auch für diese Entwicklung be-
Lombroso (1836–1909) veröffentlichte 1864 das be- deutete der Nationalsozialismus ein scharfer Ein-
kannteste Werk zu diesem Thema. schnitt, in mancherlei Hinsicht gar das Ende. Für
Für viele Degenerations-Hypothetiker war klar, die Krankenpflege waren psychotherapeutische
dass bei Kriminellen und Irrsinnigen dieselbe erb- Kenntnisse zuvorderst dort von Bedeutung, wo sie,
liche Anlage vorhanden war. wie beispielsweise die aus den konfliktaufdeckenden
Therapieverfahren hervorgehende Gesprächspsy-
! Lombroso interpretierte die Degeneration
chotherapie, Handlungsanweisungen für das kom-
darwinistisch; Kriminelle waren somit eine Art
munikative Miteinander zwischen Pflegekräften
überlebende Urrasse.
und Patienten bereitstellten.
Damit entstand in der Perspektive der Fachöffent-
! In Bezug auf die erwähnte Entwicklungsten-
lichkeit erneut eine vermeintliche Nähe zwischen
denz der Humanisierung im Umgang von Me-
»kriminell« und psychisch krank, die manche bereits
dizin und Gesellschaft mit psychisch Kranken
als überwunden geglaubt hatten.
im Verlauf des 19. Jahrhunderts ist bereits an
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schwand der
dieser Stelle festzuhalten, dass diese das 19.
Einfluss der Degenerations-Hypothese in der Psych-
Jahrhundert zwar durchaus prägten – in ihrer
iatrie. Theodor Ziehen (1862–1950) und Emil Krae-
Gesamtheit jedoch keinesfalls mit der Ab-
pelin waren unter den deutschen Psychiatern noch
schaffung von Gewaltanwendung gegenüber
stark von ihr beeinflusst, machten jedoch bereits
den Patientinnen und Patienten einhergingen.
Einschränkungen. Konrad Rieger (1855–1939) lehn-
te sie gegen Ende des Jahrhunderts bereits vollends Gewaltanwendungen in verschiedenster Ausprägung
ab. Solcherlei Vererbungsideen wurden auch durch finden sich im Repertoire der in psychiatrischen Ab-
genetische Erkenntnisse Anfang des 20. Jahrhun- teilungen und Krankenhäusern etablierten Ordnun-
derts als unzutreffend erkannt. gen und Therapien bis weit ins 20. Jahrhundert
hinein. Sie mündeten in den vierziger Jahren des
20. Jahrhunderts in Deutschland mit dem Mord von
1.8 Trauma und Krieg Patientinnen und Patienten gar in einem Exzess nie
gekannten Ausmaßes.
Neigte Jean Martin Charcot (1825–1893) in Paris
noch zu der Erklärung, dass eine angeborene Dege-
neration zur Ausprägung der Hysterie führe, so in- 1.9 Pflege und Psychiatrie
terpretierte Sigmund Freud die Erkrankung in ihrer im Nationalsozialismus
individuellen Ausgestaltung eher als Ausdruck einer
vorausgegangen seelischen Traumatisierung. Den Genau genommen stellt die Psychiatrie im national-
Aspekt der Traumatisierung ins Zentrum der Auf- sozialistischen Deutschland eine bisher nie da ge-
merksamkeit zu stellen, gelang der Bewegung der wesene Zäsur und einen Zivilisationsbruch dar.
Psychoanalytiker auch während des Ersten Welt- Eine auf eugenischen und rassenhygienischen Kon-
kriegs: In der Behandlung der sog. Kriegsneuro- zepten basierende Medizin konnte mit der Unter-
tiker erzielten Psychoanalytiker deutlich bessere stützung der Mehrheit deutscher Ärztinnen und
Heilungserfolge als mit bisherigen Therapien er- Ärzte, Krankenpflegenden, Hebammen und anderer
reicht worden waren. Diese Erfolge verhalfen der Berufsgruppen des Gesundheitswesens unter den
Psychoanalyse zu breiterer Anerkennung auch in veränderten politischen Bedingungen des sog. Drit-
der Medizin. Die Entwicklung dieser Therapie und ten Reiches in die Praxis umgesetzt werden. Ins-
anderer Schulen, wie diejenigen von Jung, Adler, gesamt gesehen wurden auf Integration, auf die Ein-
Reich, wie die humanistischen oder behavioristi- gliederung psychisch Kranker in die Gesellschaft
schen Schulen, die sich neben ihr oder in Abspal- ausgerichtete Konzepte, Therapien und Versorgungs-
1.10 · Die Nachkriegszeit in den beiden deutschen Staaten
11 1

formen stark zurückgedrängt oder ausgesetzt, und ! Die Zementierung des Stereotyps vom Mann
nachfolgend wurde eine auf Separation, auf die Ab- als Arzt und der Frau als Krankenschwester er-
sonderung von als krank Bezeichneten zielende langte einen Höhepunkt.
Gesundheitspolitik der Psychiatrie umgesetzt. Diese
Vorgaben bedeuteten eine existenzielle Bedrohung Interessanterweise wurde jedoch auch bereits wäh-
für mehr oder weniger alle sich im Rahmen von psy- rend dem Nationalsozialismus im Rahmen einer
chiatrischen Einrichtungen in Behandlung befind- »Reichsfachschaft Krankenpfleger« verstärkt Män-
lichen Patienten. Wurden diese zunächst von der ner für die Krankenpflege angeworben.
sog. Normalbevölkerung getrennt und in zentrale Einige psychiatrische Therapien, die in ihrer
Anstalten verlegt, folgten im Verlauf der national- Konzeption aus anderen medizinischen Disziplinen
sozialistischen Herrschaft die Sterilisierung und zu- entlehnt waren, erlangten traurige Berühmtheit.
letzt die Ermordung psychisch Kranker, deren Leben Hier zu nennen sind beispielsweise die aus der Inne-
vor dem Hintergrund einer Ideologie, die einem ren Medizin heraus entwickelte Insulinschock- oder
imaginierten »Volkskörper« vieles unterordnete, als Insulinkomatherapie seit den 1930er Jahren, oder,
»lebensunwert« bezeichnet wurde. Hinzu kam, als neben weiteren Beispielen, die in der Neurochirur-
eine dramatische Wiederholung der Ereignisse des gie entwickelte Lobotomie, die in den 1950er Jahren
Ersten Weltkriegs, der wissentlich herbeigeführte mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wur-
Hungertod Tausender psychiatrischer Patientinnen de. Beide Therapieformen stellen massiv einwirken-
und Patienten auch im Verlauf des Zweiten Welt- de Therapien mit hohen Risiken dar, und blieben
kriegs, die zum Opfer einer verordneten und quasi den Beleg für ihre Wirksamkeit von jeher schuldig.
fast widerstandslos umgesetzten Kürzung der lebens-
notwendigen Nahrungsmittel im Rahmen der Kriegs-
entwicklung wurden. 1.10 Die Nachkriegszeit in den
beiden deutschen Staaten
! Auch die Krankenpflege wurde in Deutsch-
land nach 1933 entsprechend der national-
! Die Auswirkungen der nationalsozialistischen
sozialistischen Ideologie umstrukturiert.
Psychiatrie lassen sich nach Ende des Zwei-
Damit ging auch der Verlust einer gewissen Auto- ten Weltkriegs in beiden deutschen Staaten
nomie einher, den Pflegekräfte in einigen Bereichen feststellen. Personelle und institutionelle Kon-
des Gesundheitswesens in der Weimarer Republik tinuitäten lassen den Mythos einer »Stunde
bereits gewonnen hatten. In nachgehender Pflege, Null« heute als nicht gerechtfertigt erschei-
Tuberkulose-Therapie oder, was den eher psychi- nen.
atrischen Bereich angeht: der ambulanten Versor-
gung alkoholkranker Patienten, hatten sich eigene Dies lässt sich auf mehreren Ebenen zeigen. Wichti-
Arbeitsfelder gebildet, die im Rahmen der Umstruk- ge Funktionsträger auch im Bereich der Psychiatrie
turierung des Gesundheitswesens im National- konnten ihre Tätigkeit, in vielen Fällen ohne wesent-
sozialismus hinsichtlich der Handlungsspielräume liche Einschränkung ihres Einflusses, auch nach
für die eingesetzten Pflegekräfte wieder einge- dem Ende des Kriegs fortsetzen. Für die Deutsche
schränkt wurden. Die geschlechtsstereotypen Rol- Demokratische Republik zeigen jüngere Forschun-
lenzuweisungen, die in dieser Zeit noch einmal un- gen, dass die Psychiatrie auch zur unrechtmäßigen
termauert wurden, taten ihr Übriges. Die NS-Schwes- Behandlung politisch oppositioneller Personen
ternschaft als Parteiorganisation der NSDAP bot eine zweckentfremdet wurde. Einzelne Versorgungsfor-
dreijährige Ausbildung in Internatsform an. Bereits men beispielsweise, wie die Psychiatrische Familien-
1938 wurden Vereinheitlichungen und Gleichschal- pflege, die noch in der Weimarer Republik nicht
tungen in der Pflegeausbildung vorgenommen. In allein aus medizinischen, sondern auch aus ökono-
der später gleichgeschalteten Organisation aller mischen Gründen weite Verbreitung und Anwen-
Krankenpflegeverbände waren um 1942 ca. 180.000 dung gefunden hatte, kamen in ihrer herkömmlichen
Frauen tätig. Form kaum mehr zur Anwendung und erlebten erst
12 Kapitel 1 · Zur Geschichte der Psychiatrie und der psychiatrischen Krankenpflege

mit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine, menten, nicht zuletzt die Rechte psychisch Kranker
1 allerdings beeindruckende Renaissance. und weitere Aspekte mehr. Diese Veränderungen
Der Eintritt der Nachkriegsgeneration an Psy- brachten in Westdeutschland unter anderem einen
chiaterinnen und Psychiatern in maßgebliche Funk- Bedeutungszuwachs des ambulanten Bereichs der
tionen dieses Teilbereichs der Medizin in beiden Versorgung mit sich. Gemeindenahe Psychiatrie
deutschen Staaten mit dem Beginn der siebziger sollte nun gefördert werden und die an der psychi-
Jahre hatte eine Reihe von Konsequenzen auf unter- atrischen Versorgung Beteiligten sollten geschult
schiedlichsten Ebenen: Einerseits wurden vorherige werden, komplementäre Einrichtungen der Versor-
und unheilvolle Kapitel der Psychiatriegeschichte, gung sinnvoll zu integrieren. Eine Folge dieser Be-
wie das der Psychiatrie während des Nationalsozia- strebungen war, dass zum ersten Mal eine Weiterbil-
lismus, erstmals von dieser Generation aufgearbeitet dung zur Pflege in der Psychiatrie angeboten wurde.
und diskutiert. Die personelle und inhaltliche Dis- Als Teil der Ergebnisse durchgeführter Untersuchun-
tanzierung, die man zu den Akteuren der national- gen im Rahmen der Enquête-Arbeit wurde deutlich,
sozialistischen Psychiatrie und ihren Taten vor- dass trotz der bereits hundert Jahre zuvor erhobenen
nahm, forcierte letztlich auch die Erkenntnis, dass Forderung nach der Akzeptanz von psychischen Er-
die deutsche Psychiatrie insgesamt einer umfassen- krankungen eine Gleichstellung von psychisch
den Reform bedurfte. Ein zentraler Punkt der Kritik Kranken und körperlich Kranken offenbar noch
in der Bundesrepublik war dabei die beklagenswerte ausstand. Die verschiedenen Berufsgruppen im Ge-
generelle Situation der knapp 70 Landeskranken- sundheitswesen wurden mit dem Ziel einer quali-
häuser. Betroffenenverbände gründeten sich, und tativen Steigerung der Versorgung aufgefordert,
die psychiatrische Versorgung wurde zunehmend stärker zu kooperieren und sich zu vernetzen. Inwie-
ein Thema der Sozialpolitik. Ab Mitte der Siebziger- weit diese Forderungen gänzlich erreicht wurden
jahre mündeten umfangreiche Forschungen, Unter- und wie nachhaltig die erreichten Ziele erhalten blei-
suchungen und Kommissionstätigkeiten in West- ben, kann aus heutiger Sicht nicht abschließend be-
deutschland in die Publikation der sog. Psychiatrie- urteilt werden. Die Bewegung der Sozialpsychiatrie
Enquête, einer Sachverständigenkommission des jedenfalls hat in der Fachdiskussion aus aktueller
Deutschen Bundestages, sowie in Ostdeutschland in Sicht enorm an Bedeutung verloren.
die der sog. Rodewiescher Thesen. Sind beide Zu-
! Dennoch ist ein Bedeutungszuwachs an
sammenhänge auch sicherlich nicht gleichbedeu-
Versorgungsformen, die die Integration psy-
tend, weder in ihrem detaillierten Inhalt noch in ih-
chisch Kranker und ihre Teilnahme am gesell-
ren (fach-)gesellschaftlichen Zusammenhängen, so
schaftlichen Leben zum Ziel haben, zu Beginn
lässt sich die Bemühung um eine Reformierung der
des 21. Jahrhunderts in unserem Sprach- und
jeweiligen psychiatrischen Konzepte und Therapien
Kulturraum nicht zu übersehen.
in beiden Staaten jedoch zumindest als Gemeinsam-
keit beschreiben. Dies trifft besonders auf Einrichtungen des komple-
mentären Sektors zu.
Bei ungleichen Voraussetzungen und Bedingun-
1.11 Die Reformen der gen in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaf-
1970er Jahre ten und auf unterschiedliche Art und Weise thema-
tisierten dies psychiatriekritische Stimmen in beiden
Inhaltlich standen, nach ungefähr hundert Jahren deutschen Staaten. In kritischen Stellungnahmen der
ein weiteres Mal (und zuweilen mit frappierend ähn- Öffentlichkeit wurden die Positionen der Psychiatrie
lichem Vokabular) Humanisierungsbestrebungen in mehr oder minder freier Form hinterfragt, und
zugunsten psychisch Kranker im Zentrum der Auf- beispielsweise die Berechtigung der Deutungsmacht
merksamkeit. Dies umfasste die Struktur psychiatri- der Akteure und ihre Expertenrolle diskutiert. In
scher Krankenhäuser und Abteilungen, die Anwen- wieder anderen Beiträgen wurde auch ihre tägliche
dung von Gewalt gegenüber Patienten in jedweder Praxis angezweifelt, in ihrer allgemeinen und hohen
Form, die Kautelen der Verabreichung von Medika- Bedeutung für den Blick der Gesellschaft auf die
1.12 · Ausblick
13 1

Psychiatrie und die in der Psychiatrie Tätigen nicht Das in dieser Zeit sich allmählich entwickelnde
unähnlich den Debatten des späten 19. Jahrhunderts. Interesse an der Medizin vor dem Zweiten Weltkrieg
In vielen Gesellschaften der westlichen Welt führte brachte auch einen deutlicheren Bedeutungszu-
dies, wie in Westdeutschland, zur Ausbildung einer wachs für die verschiedensten Schulen der Psycho-
geradezu »anti-psychiatrischen« Bewegung, deren therapie mit sich. An deren Entwicklung, die häufig
institutionskritische Haltung und Zielformulierun- mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten
gen in den verschiedenen nationalen Kontexten geendet hatte, versuchte man nun anzuknüpfen. Im
unterschiedlich einflussreich war, und deren Umset- Bereich der psychotherapeutischen Medizin traten
zung durchaus, wenn auch jeweils in deutlich diffe- der Psychoanalyse zuzurechnende Ärztinnen und
rierender Nachhaltigkeit, erreicht wurde. Ärzte Ende der sechziger Jahre mit Studien an die
Fachöffentlichkeit, deren Ergebnisse nach einer um-
Exkurs: Der Blick auf die Geschichte fassenden Diskussion zur Vergütung der durchaus
der Pflege kostenintensiven Psychoanalyse oder psychoana-
Die Geschichte der Krankenpflege der ersten Hälfte lytisch orientierten Gesprächspsychotherapie, ne-
des 20. Jahrhunderts gab in der Vergangenheit Anlass ben anderen Formen der Psychotherapie, seitens der
für eine Reihe verschiedener Interpretationen hin- Ortskrankenkassen und anderer gesetzlicher und
sichtlich der Bedeutung des Geschlechts der sie privater Krankenkassen führte – eine bis heute welt-
Ausübenden, wie auch hinsichtlich Fragen der weit einzigartige Situation. Dass die bundesdeutsche
Hierarchisierung der verschiedenen, im Rahmen des Psychotherapie zu diesem Zeitpunkt auch von den
Gesundheitssystems tätigen Berufsgruppen. Die Ein- Professionalisierungsbestrebungen dieses Sektors in
führung verbindlicher Ausbildungsbestimmungen den Jahren des Nationalsozialismus profitierte, ist
für die in der (psychiatrischen) Pflege Tätigen fällt in ein häufig erwähntes, und ein wenig gegenläufiges,
die 1920er Jahre. Und auch die Geschichte der Kran- und hinsichtlich der Geschichte der Psychoanalyse
kenpflege während, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, in mancher Hinsicht gar widersinniges Faktum.
kennt Zäsuren, wie sie zuvor für die medizinische Im Bereich der Krankenpflege erweiterte eine
Disziplin der Psychiatrie beschrieben worden sind. Gesetzesnovelle von 1965 die Ausbildung auf drei
Die Entwicklung während des Nationalsozialismus Jahre und die Zahl der theoretischen Stunden auf
war vor allem durch die Unterordnung auch der 1.200. Für den praktischen Einsatz wurden nun ein-
Krankenpflegeausbildung an die Ideale und Prinzi- zelne fachgebundene Bereiche bzw. medizinische
pien nationalsozialistischer Ideologie sowie an die Disziplinen als verbindlich festgelegt. Stark umstrit-
deutliche Zurückweisung der Bedeutung konfessio- ten war das 1985 in Kraft tretende Krankenpflege-
nell gebundener Krankenpflege geknüpft. gesetz, das letztendlich 18 Jahre lang gültig blieb.
Eine grundlegende Reform des Krankenpflegegeset-
! Die Säkularisierung dieses Berufes, vor allem
zes wurde 2003 vom Bundesrat verabschiedet und
auch jenseits der nationalsozialistischen Herr-
trat 2004 in Kraft.
schaft, wird im Rückblick heute von einigen
Historikerinnen und Historikern der Kranken- ! Dieses Gesetz spiegelt die seit 1988 zuneh-
pflege als geradezu notwendige Vorausset- menden Bestrebungen wider, eine eigenstän-
zung der Professionalisierung der Kranken- dige Theorie der Krankenpflege zu entwerfen,
pflege begriffen. um eine von der Medizin unabhängige Profes-
sionalisierung zu erreichen.
Nach Ende des Krieges wurde im Krankenpflegege-
setz von 1957 die Ausbildung dieses Berufes in der
Bundesrepublik neu geordnet. Dieses Gesetz erhöhte
unter Beibehaltung der zweijährigen Ausbildung die 1.12 Ausblick
Zahl der theoretischen Unterrichtsstunden auf 400
Stunden, beließ die Prüfung am Ende des zweiten Die gesellschaftliche und gesundheitspolitische Si-
Jahres und fügte ein drittes Jahr als Berufspraktikum tuation im vereinigten Deutschland nach 1989 ist
mit 50 Unterrichtsstunden hinzu. im Vergleich zu den vorherigen Dezennien durch
14 Kapitel 1 · Zur Geschichte der Psychiatrie und der psychiatrischen Krankenpflege

deutliche Veränderungen geprägt. Das Gesund- oder der Forensik, folgte je eigenen Linien, die im
1 heitswesen der ehemaligen Deutschen Demokrati- Rahmen dieses Kurzbeitrags nicht detaillierter dar-
schen Republik war im Verlauf der neunziger Jahre gestellt werden können.
in allen maßgeblichen Punkten an das Gesundheits- Die Frage der Professionalisierung betrifft auch
wesen der Bundesrepublik Deutschland angepasst die Arbeitswelt der in der Krankenpflege Tätigen.
worden. Hinsichtlich der Weiterbildungen zur psychiatri-
schen Pflege existierten bisher im Wesentlichen
! Eine bis in die Gegenwart nicht erreichte An-
zwei unterschiedliche Modelle: Zum einen die
passung der medizinischen Infrastrukturen
Fachpflegeweiterbildung in Verbindung mit psych-
in den verschiedenen Bundesländern, die He-
iatrischen Krankenhäusern oder Fachabteilungen
rausforderung der Integration einer gesamten
an Universitätskliniken, die mit einer staatlichen
Staatswirtschaft in eine nun vereinigte Bun-
Prüfung abschließen, und zum anderen die berufs-
desrepublik Deutschland führte zu nachhalti-
übergreifende Weiterbildung mit abschließender
gen ökonomischen Einschnitten auch im
Zertifizierung, die von unterschiedlichen Instituti-
Gesundheitswesen.
onen der Fort- und Weiterbildung zur Verfügung
Eine zunehmende Zahl nicht erwerbstätiger Men- gestellt wird. Grundlage des erstgenannten Modells
schen beispielsweise stellt auch hinsichtlich deren sind länderrechtliche Regelungen und die Empfeh-
gesundheitlicher Versorgung ein bisher nicht bewäl- lungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft
tigtes Problem dar. von 1978, die 1991 ergänzt wurde. Qualitätsstan-
Übergeordnete Einflussgrößen, wie die demo- dards für die Weiterbildung in diesem Bereich wur-
graphische Entwicklung einer immer stärker »altern- den in den 1990er Jahren entwickelt. Von den im
den« Gesellschaft in Deutschland oder die inter- Jahr 2001 gut 45.000 in psychiatrischen Kranken-
nationale wissenschaftliche Entwicklung in Psychi- häusern tätigen Pflegekräften hatten zu dieser Zeit
atrie und Psychotherapie interagieren mit den gut 5.000 eine psychiatrische Weiterbildung durch-
vorgenannten Rahmen- und Standortbedingungen laufen.
und forcierten auch in diesen Bereichen der Medi- Aus den neuen Anforderungen an die im sich
zin eine Entwicklung, die mit einem deutlichen rasant wandelnden und sich in den komplementären
Trend weg von der stationären Versorgung und Bereich hinein ausdehnenden Arbeitsfelds der in der
hin zu ambulanten Angeboten der Versorgung ein- Krankenpflege Tätigen, dem Zuwachs des Pflegewis-
hergeht. Wie in der Medizin insgesamt, führte die sens hinsichtlich neuer Pflegetheorien und Pflege-
Kritik an kostenintensiven Therapien auch in der konzepte und einer Erkenntnis der Notwendigkeit
Psychiatrie und Psychotherapie zu einer verschärf- der Reformierung auch dieser medizinischen Aus-
ten Diskussion, in der die Wertigkeit einer Therapie bildung, erwuchsen in jüngster Vergangenheit Mo-
auch vor dem Hintergrund ethischer Aspekte im- dell- und Pilotprojekte an verschiedenen Orten in
mer deutlicher auch an ihren Kosten gemessen Deutschland. Inhaltlich treten hier Bereiche, wie die
wird. interkulturelle Pflege oder die Empathie-Forschung,
Insgesamt erbrachte andererseits die Entwick- stärker in den Vordergrund. Tendenziell zeichnet
lung im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine zu- sich ganz allgemein ein Trend ab, demzufolge Be-
nehmende Professionalisierung anderer zentraler, ziehungsarbeit zwischen Pflegepersonal und Patien-
nicht-ärztlicher Berufsgruppen in der psychiatri- tinnen und Patienten, oder auch Aspekte der Aufklä-
schen Versorgung in Deutschland. Eine Vielzahl von rungsarbeit zu Gesundheit und Krankheit deutlich
Therapieformen gehört heute zum Angebot einer je- stärker betont werden. Das vorliegende Lehrbuch
den durchschnittlichen Fachabteilung oder eines der Gesundheits- und Krankenpflege entstand im
Fachkrankenhauses. Beispielhaft zu nennen wären Rahmen der Etablierung eines solchen Modellpro-
hier Ergotherapie, Gestaltungstherapie, Tanzthera- jekts der reformierten Ausbildung in psychiatrischer
pie und Kunsttherapie sowie andere mehr. Die um- Krankenpflege.
fassende Entwicklung in speziellen Bereichen der
Psychiatrie, wie der Kinder- und Jugendpsychiatrie
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2

2 Pflege in der Psychiatrie:


Konzepte und Modelle
Martina Roes (Kap. 2.1 u. Kap. 2.2), Gertrud Schmälzle (Kap. 2.2)

2.1 Pflegeforschung – 18
2.1.1 Grundlagen der quantitativen und qualitativen Pflegeforschung – 18
2.1.2 Qualitative Pflegeforschung – 20
2.1.3 Evaluationsforschung – 22
2.1.4 Forschungsbeispiele aus der Psychiatrie – 23

2.2 Pflegetheorien und Pflegeverständnis – 23


2.2.1 Pflegemodelle von Dorothea Orem und Imogene King – 26
2.2.2 Praxisbeispiel: Der Pflegeprozess in der Psychiatrie – eine Kombination
aus Orem und King – 30
2.2.3 Krankheitsverlaufskurven – das Corbin-Strauss-(Pflege-)Modell – 32

Literatur – 36
18 Kapitel 2 · Pflege in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

) ) In Kürze selm Strauss in einem Interview mit Heiner Le-


gewie und Barbara Schervier-Legewie; durch-
Pflegeforschung »die ihren Ort in der Pflege hat und geführt 1994, publiziert 2004).
2 maßgeblich von Pflegenden initiiert und durchge-
führt wurde« (Robert-Bosch-Stiftung, 1996, S. 17), Gerade die qualitative Forschung – wie die Groun-
entwickelte sich im Rahmen der Akademisierung zu- ded Theory von Strauss – erfuhr durch die Etablie-
nehmend weiter. Allerdings kann – auch derzeit rung der Pflegewissenschaften eine Renaissance
noch bedingt durch nur unzureichend vorhandene und spielte von Beginn eine bedeutende Rolle, vor
Forschungsstrukturen und Finanzierungsengpässe allem um die Theoriebildung voranzutreiben. Wird
noch nicht von einer umfänglichen Etablierung versucht, die derzeitige Forschungslandschaft the-
gesprochen werden. Auffällig ist, dass viele (auch matisch zu fassen, so lassen sich folgende Schwer-
studentische) Pflegeforschungsarbeiten sich an ei- punkte identifizieren: Patientenproblematiken, chro-
nem qualitativen Design orientieren. Gerade qualita- nische Krankheit, Kommunikation und Interaktion
tive Methoden und Instrumente sind insbesondere sowie soziale Organisation der Pflege (Schaeffer
in der psychiatrischen Pflegeforschung vorzufinden. 2002). Gleichzeitig kritisiert Schaeffer (2002), dass
Die Theoriebildung in der Pflege hat ihre Anfän- die Ausbildung von Methodenkompetenz kaum the-
ge in den fünfziger Jahren in den USA genommen, matisiert wird und sich Forscher die entsprechenden
insbesondere verbunden mit dem Ziel, sich von der Kompetenzen vorwiegend selbstständig aneignen
Bestimmung durch fachfremde Bezugsdisziplinen müssen.
zu lösen und eine theoretische Eigenständigkeit Eine ausgeprägte institutionalisierte psychiat-
unter Beweis zu stellen. Während die Anfänge der rische Pflegeforschung existiert in Deutschland
Theoriebildung sich mit der Entwicklung von Theo- derzeit so gut wie gar nicht. Erst durch den For-
rien großer Reichweite und mit einer grundsätzli- schungsfokus »Demenz« steigt das Interesse an (ge-
chen Klärung »was ist Pflege?« befassten, geht die ronto-) psychiatrischen Themen. Insgesamt ist fest-
heutige Entwicklung von einer theoriepluralisti- zustellen, dass die qualitative Pflegeforschung auch
schen Vorstellung aus (Schaeffer, 1999). Drei Theo- hier stark auf die Lösung von Praxisproblemen aus-
riemodelle (Selbstpflegedefizit-Theorie, Zielerrei- gerichtet und im Kern anwendungsbezogen ist.
chungstheorie und das Corbin-Strauss-Modell) – die
mehrfach auch im psychiatrischen Setting anzu-
treffen sind – werden vorgestellt. 2.1.1 Grundlagen der quantitativen
und qualitativen Pflegeforschung

Wissensinhalte Grundsätzlich kann in der Sozialforschung zwischen


Nach der Lektüre dieses Kapitels kennen Sie: quantitativen und qualitativen Paradigmen und For-
7 Grundlagen quantitativer Pflegeforschung schungsmethoden unterschieden werden. Grob ge-
7 Grundlagen und ausgewählte Methoden qualita- fasst lassen sich diese beiden Paradigmen anhand
tiver Pflegeforschung ihrer Forschungsschritte unterscheiden.
7 Grundlagen der Evaluationsforschung
7 Grundlagen pflegerischer Theorieansätze von D. Schritte in der quantitativen Forschung (es gilt das
Orem und I. King sowie Corbin und Strauss Prinzip der Konkretion):
von der Theorie – Hypothese – theoretischer Begriff
– Operationalisierung – zur sozialen Realität.
2.1 Pflegeforschung
Schritte in der qualitativen Forschung (es gilt das
! »Forschung ist harte Arbeit, es ist immer ein Prinzip der Abstraktion):
Stück Leiden damit verbunden. Deshalb muss von der sozialen Realität – Alltagsbegriff – Theorie-
es auf der anderen Seite Spaß machen« (An- entwicklung und -prüfung – zum theoretischen
6 Begriff.
2.1 · Pflegeforschung
19 2

Quantitative Pflegeforschung verläuft grob darge- ablen) sowie die Definition und Auswahl der
stellt in 4 Phasen: Stichprobe (u. a. welche Personengruppe/n, wie
4 In Phase 1 (vorbereitende Phase) steht die Iden- viele Personen) sowie die Entwicklung und Tes-
tifizierung des Gegenstands, des Problembe- tung der Erhebungsinstrumente.
reichs sowie die Entwicklung der Fragestellung 4 In Phase 3 (Datenerhebung) werden die Daten
im Vordergrund. Die Formulierung einer Frage- erhoben.
stellung kann dabei aus Sicht des Praxisfeldes 4 In Phase 4 (Auswertung) werden die Daten sta-
erfolgen oder aus Sicht offener Forschungsfra- tistisch ausgewertet und es wird ein Ergebnisbe-
gen – die sich aus früheren Studien ergaben – richt erstellt.
entstehen. Des Weiteren werden in der 1. Phase
eine auf den Gegenstand bzw, das Problem be- Des Weiteren sind mit dem quantitativen und quali-
zogene Literaturrecherche durchgeführt sowie tativen Forschungsparadigma verschiedene metho-
die Fragestellung auf Relevanz und Durchführ- dische Implikationen verbunden, die in . Tabelle 2.1
barkeit hin geprüft. kurz skizziert werden.
4 In Phase 2 (Design) werden die Fragen operatio- Ausgehend von den methodischen Implikatio-
nalisiert sowie – falls gewünscht – Hypothesen nen wird – insbesondere aus der Perspektive der
formuliert. Daran schließt sich die Identifizie- qualitativen Sozialforschung – Kritik an der quanti-
rung erforderlicher Variablen (u. a. relevant, tativen Sozialforschung geübt. Sie bezieht sich im
messbar, Zusammenhänge zwischen den Vari- Wesentlichen auf die in . Tabelle 2.1 formulierten

. Tabelle 2.1. Methodische Implikationen quantitativer und qualitativer Sozialforschung (in Anlehnung an Lamnek Bd. 1,
1995)
Quantitativ Qualitativ
Erklären: objektorientiert. Ziel ist es, kausale Beziehungen Verstehen: subjektorientiert. Ausgehend davon, dass die
zwischen Erscheinungen zu entdecken und in allgemein- soziale Wirklichkeit von Menschen konstituiert und interpre-
gültige Aussagen zu bringen, mit deren Hilfe neue beo- tiert wird, kann die Realität nicht durch Ausblendung dieser
bachtbare Erscheinungen erklärt werden können subjektiven Sinnkomponente erfasst werden
Theorieprüfend: Theorien und Hypothesen werden vorab Theorieentwickelnd: Hypothesen und Theorien werden aus
aufgestellt und die soziale Realität darauf hin untersucht. den im Feld gewonnenen Daten generiert. Durch diese Vor-
Die Prüfung erfolgt mit der Fragestellung, ob die Hypothe- gehensweise ist es auch möglich, den theoretischen Be-
sen/Theorien zutreffen oder nicht zugsrahmen während des Forschungsablaufs zu novellieren
Deduktiv: Überprüfung der Hypothesen, d. h. von der Theo- Induktiv: Hypothesenentwicklung, d. h. von der Realität zur
rie zur Realität. Vom Allgemeinen zum Besonderen Theorie mit einem hohen Realitätsgehalt. Vom Besonderem
zum Allgemeinen
Objektiv: verstehend als Grundhaltung, dass der Forschende Subjektiv: Im Vordergrund steht die Erfassung eines Sub-
über den Dingen steht und somit davon ausgeht, dass sozia- jekts, verstanden als subjektive Wahrnehmung eines Indivi-
les Handeln objektiv (also nicht subjektiv verzerrt) erfasst duums. Insbesondere bedeutet dies, dass die subjektive
werden kann. Bei standardisierten Interviews werden die In- Betrachtung berücksichtigt wird, d. h. von der subjektiven
terviewer aufgefordert, die eigene Subjektivität zurückzuhal- Betrachtung hin zur Objektivität
ten und die Interviewsituationen immer gleich zu gestalten
Ätiologisch: im Vordergrund steht die Frage nach dem Interpretativ: im Vordergrund stehen Fragen nach dem Wie
Warum, die Ursachenanalyse. Grundannahme ist, dass die und Wozu. Gesucht wird nach Strukturen im Hier und Jetzt.
soziale Realität objektiv vorgegeben ist Grundannahme ist, dass die soziale Realität gesellschaftlich
konstruiert und interpretativ ist
Ahistorisch: raum-zeitlich unabhängige Aussagen treffen Historisierend: raum-zeitlich abhängige Aussagen formu-
können lieren

Geschlossen: eine Offenheit existiert nur in der explorativen Offen: der gesamte Forschungsprozess ist durch seine
Phase Offenheit gekennzeichnet
20 Kapitel 2 · Pflege in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

Kennzeichen der quantitativen Sozialforschung. Phänomene nachzudenken« (Legewie et al., 2004,


Qualitative Sozialforschung geht dabei grundsätz- S. 73f).
lich von der Annahme aus, dass soziales Handeln Der Begriff »Grounded« steht für in der Empirie
2 schon Interpretation ist und dies auch für den For- verankert. In der pflegewissenschaftlichen For-
schenden gilt (d. h. ein Interpret zu sein). Als zentra- schung wird er oft verwendet, wenn es »um ein Phä-
le Prinzipien der qualitativen Sozialforschung sind nomen unbekannten Ursprungs geht, über das keine
folgende zu nennen: Offenheit, Forschung als Kom- oder nur wenig Kenntnis besteht, und eine Beschrei-
munikation, Prozesscharakter der Forschung, Refle- bung der Merkmale dieses Phänomens auf der Basis
xivität hinsichtlich Gegenstand und Analyse, Expli- von konkreten Daten bisher noch nicht möglich
kation aller Forschungsschritte und Flexibilität im war« (van Maanen, 1998, S. 69). Demnach stellt die
Forschungsprozess (Lamnek, Bd. 1, 1995). Objekti- Grounded Theory manchmal den einzigen Weg dar,
vität, Reliabilität und Validität sind die zentralen Daten zu einem Gegenstandsbereich zu erhalten.
Gütekriterien qualitativer Datenerhebung in der
! Zentrale Aspekte der Grounded Theory sind
Sozial- und damit auch der Pflegeforschung.
(Strauss, 1994):
Immer weiter verbreitet ist mittlerweile die Trian-
5 die Art des Kodierens (Bildung theoreti-
gulation, d. h. die Verquickung der zugrunde lie-
scher Konzepte; unterschieden werden
genden Paradigmen also die Verquickung quantita-
drei Kodierverfahren: offenes, axiales und
tiver und qualitativer Designs bzw. Datenmaterials.
selektives Kodieren)
Kritisch betrachtet wird davon ausgegangen, dass die
5 das theoretische Sampling (Auswertung,
Triangulation als multimethodologisches und multi-
Memos und Hypothesen mit Beginn der
methodisches Vorgehen zu favorisieren ist, »weil sie
Auswertung des ersten Interviews)
zu weitergehenden Erkenntnissen in Breite und/oder
5 die Vergleiche (zwischen Kontext und Phä-
Tiefe führt« (Lamnek, Bd. 1, 1995, S. 256).
nomen)

Es handelt sich um einen kontinuierlichen Feedback-


2.1.2 Qualitative Pflegeforschung Schleifenprozess. Die Forschungsschritte lauten: For-
schungsfrage, Datensammlung (Beobachtungen,
Im Folgenden werden 3 qualitative Methodenan- Interviews und Dokumentenanalysen sowie eige-
sätze kurz skizziert, die sich für das psychiatrische ne Feldnotizen), Transkription. Die transkribierten
Setting sehr gut anbieten. Es handelt sich um die Daten werden kodiert und kategorisiert (ergänzend
Grounded Theory, das Narrative Interview und die werden als assoziative Erinnerungsstütze Memos an-
teilnehmende Beobachtung. gelegt), anschließend werden Zusammenhänge in
Diagrammen dargestellt, Hypothesen formuliert so-
Grounded Theory wie Ergebnisse systematisiert und eine Theorie gene-
Bei der Grounded Theory handelt es sich um ein – in riert – diese Schritte werden mehrfach wiederholt.
der Tradition des amerikanischen Pragmatismus Kennzeichen dieser Schritte sind u. a., dass die Da-
und symbolischen Interaktionismus stehendes Ver- tensammlung und die Datenanalyse gleichzeitig erfol-
fahren, welches in den 60er Jahren von Glaser und gen und das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des
Strauss entwickelt wurde (Glaser/Strauss, 1965 und eigenen Wissens, da der Forschende am sozialen
1967; Glaser, 1978). Ausgangspunkt war die erlebte Leben der Untersuchungssubjekte teilnimmt und
Kluft zwischen Theorie und empirischer Forschung, sich hierdurch vielfältige Überprüfungsmöglichkei-
die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht überbrückt ten der formulierten Annahmen bieten. Glaser und
wurde. Im Kern geht es um eine gegenstandsbezoge- Strauss (1979) streben dabei das Aufdecken allge-
ne Theoriegenerierung (das Prinzip des theoreti- meiner Zusammenhänge an und nicht eine umfas-
schen Samplings), d. h. Entwicklung einer Theorie sende Deskription von Gegenstandsbereichen. Die
auf der Basis empirischer Daten. Die Grounded mit Hilfe der Empirie generierte gegenstandsbezo-
Theory wird von Strauss als eine »Methodologie gene Theorie (u. a. geringe Reichweite und geringer
und ein Stil [beschrieben], analytisch über soziale Allgemeinheitsgrad) kann dann als Grundlage für
2.1 · Pflegeforschung
21 2

die Entwicklung einer formalen Theorie (u. a. große verdichten und auf das Wesentliche beschrän-
Reichweite und hoher Allgemeinheitsgrad) genutzt ken,
werden. 4 Detaillierungszwang, d. h. werden bestimmte
biographische Aspekte angesprochen, ergibt sich
Narratives Interview bisweilen der Zwang, detailliierter auf den Kon-
Das narrative Interview (Schütze, 1983 und 1987) text der biographischen Ereignisse einzugehen;
befasst sich mit der Erfassung der Erfahrungsbil- dadurch werden unter Umständen Handlungs-
dung im Alltag, geprägt durch den Einfluss der Phä- und Verlaufsmuster sichtbar, über die der Er-
nomenologischen Soziologie (Schütze) sowie den zähler bzw. die Erzählerin sonst nicht berichtet
Symbolischen Interaktionismus (Mead, 1968; Blu- hätte.
mer, 1973).
In der Phase der Datenauswertung stellt die Identifi-
! »Erzählungen (Geschichten) sind im Alltag ein
zierung der (nicht-)narrativen Sequenzen den ersten
allgemeines vertrautes und gängiges Mittel,
Schritt (formale Textanalyse) der Analyse dar. Im
um jemandem etwas, das uns selbst betrifft
zweiten Analyseschritt geht es um die strukturelle
oder das wir erlebt haben, mitzuteilen. Erzäh-
inhaltliche Beschreibung der Erzählung, d. h. der
lungen sind Ausdruck selbst erlebter Erfah-
Analyse der zeitlich begrenzten Prozessstrukturen
rungen, d. h. wir greifen immer dann auf sie
des Lebenslaufs. Dieses Ergebnis wird im dritten
als Mitteilungsmedium zurück, wenn es da-
Analyseschritt (analytische Abstraktion) ausgewer-
rum geht, Eigenerlebtes einem anderen nahe
tet. Die einzelnen Lebensabschnitte werden syste-
zu bringen. Insofern kann also von Erzählen
matisch in Beziehung gesetzt und die »erfahrungs-
als ‚elementarer Institution menschlicher
dominanten Prozessstrukturen in den einzelnen Le-
Kommunikation’, als alltäglich eingespielter
bensabschnitten bis hin zur gegenwärtig dominanten
Kommunikationsform gesprochen werden«
Prozessstruktur herausgearbeitet« (Bohnsack, 2003,
(Schütze, 1987, S. 77).
S. 94f).
Schütze entwickelte sowohl eine Theorie des Er-
zählens als auch eine Theorie dessen, was inhaltlich Teilnehmende Beobachtung
mitgeteilt wird. Das narrative Interview wird vor al- Bei der teilnehmenden Beobachtung handelt es sich
lem im Kontext der Biographieforschung angewen- um eine Methode, die insbesondere in der Ethnolo-
det. Die Kunst des Interviewers liegt darin, »dass der gie, später in der Kulturanthropologie und Soziolo-
Erzähler seine Geschichte so reproduziert, wie […] gie angewandt wurde.
sie für seine Identität konstitutiv und somit auch
! »Die teilnehmende Beobachtung wird […]
handlungsrelevant« (Bohnsack, 2003, S. 92) ist. Der
bevorzugt dort eingesetzt, wo es unter spezi-
Erzähler bzw. die Erzählerin wird aufgrund der An-
fischen theoretischen Perspektiven um die
lage der spontanen Stegreiferzählung und des nicht
Erfassung der sozialen Konstituierung von
reflektierten Aufbaus der Erzählung in die Zugzwän-
Wirklichkeit und um Prozesse des Aushan-
ge der eigenen Erzählung verwickelt aus der sich
delns von Situationsdefinitionen« geht
eine besondere Eigendynamik ergibt (Schütze,
(Lamnek, 1995, Bd. 2, S. 240).
1987). In der Phase der Datenerhebung (also der
Durchführung des narrativen Interviews) geht es vor Kennzeichen der teilnehmenden Beobachtung ist
allem darum, das Erzählschema freizusetzen (Schüt- der Einsatz in der Lebenswelt der zu untersuchenden
ze, 1987). Unter anderem wird von folgenden Zug- Personen und der Teilnahme der Beobachterin bzw.
zwängen ausgegangen (Bohnsack, 2003): des Beobachters an dieser Alltagswelt. Die Beobach-
4 Gestalterschließungszwang, d. h. intuitiv darüber tung richtet sich auf das Verhalten, dem sowohl sub-
entscheiden können, ob eine (Teil-)Erzählung jektiver Sinn als auch objektive soziale Bedeutung
abgeschlossen ist oder nicht, beikommt. Das Fremdverstehen ist Voraussetzung
4 Relevanzfestlegungszwang, d. h. Erzählung auf- und Methode der Beobachtung. Gegenstand der Beo-
grund der begrenzten Erzählzeit entsprechend bachtung ist in der Regel das soziale Verhalten und
22 Kapitel 2 · Pflege in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

Handeln von Subjekten und Gruppen. Da eine teil- 2.1.3 Evaluationsforschung


nehmende Beobachtung zeitlich begrenzt ist, kön-
nen auch nur Ausschnitte der Lebenswelt erfasst Eine immer größere Bedeutung erhält mittlerweile
2 werden. Oft wird die Beobachtung ergänzt durch die Evaluationsforschung. Allgemeinsprachlich meint
eine Befragung (schriftlich oder als Interview), um Evaluation nichts weiter als Bewertung von irgend-
Aussagen zur Einstellung oder auch Verhaltenser- was, durch irgendjemand, nach irgendwelchen Kri-
wartungen zu erfassen. terien auf irgendeine Art und Weise. Im fachsprach-
Die teilnehmende Beobachtung unterscheidet lichen Kontext der Evaluationsforschung bedeutet
sich von der Alltagsbeobachtung in erster Linie dies, dass
durch die Anforderung wissenschaftlicher Kriterien, 4 der Gegenstand definiert werden muss (was?),
wie z. B. wiederholte Prüfung hinsichtlich Gültig- 4 vorab Bewertungskriterien zu definieren sind
keit, Zuverlässigkeit und Genauigkeit; einer syste- (was bewerten?),
matischen Planung und Aufzeichnung sowie einer 4 Experten (Experten/Laien des Gegenstands bzw.
Zweckbestimmung (die Forschungsfrage). Eine teil- empirischen Forschung) bewerten (wer?) und
nehmende Beobachtung kann sowohl strukturiert 4 ein Evaluationsdesign zu entwickeln ist (wie be-
(vorab festgelegtes Beobachtungsschema) als auch werten?).
unstrukturiert (relativ offen) und offen (Beobachter
tritt als Forscher auf) bzw. verdeckt (Beobachter Im Kern befasst sich die Evaluationsforschung mit
gibt sich nicht als Forscher zu erkennen) erfolgen. der Bewertung von Maßnahmen und Interventio-
Der zeitliche Abstand zwischen Beobachtungsse- nen. Wottawa und Thierau (1998) formulieren ver-
quenz und Protokoll sollte so gering wie möglich schiedene Evaluationsobjekte, wie Personen (z. B.
sein. Protokolle sollten ausführlich gestaltet werden, Therapieerfolgskontrolle), Umweltfaktoren (z. B. Aus-
es empfiehlt sich, eine Vorstruktur zu entwickeln, in wirkungen von … auf …), Produkte (z. B. verglei-
die Freitext, aber auch Symbole für immer wieder- chende Analyse der Wirkung verschiedener Psycho-
kehrende Aktivitäten eingetragen werden können. pharmaka), Zielvorgaben (z. B. Strukturierung des
Jahoda et al. empfehlen folgende Kriterien für die Alltags) oder auch Programme (z. B. Kampagne
schriftliche Ausarbeitung der Beobachtungssequen- zur Aufklärung häuslicher Gewalt). Evaluationsfor-
zen (nach Lamnek, 1995, Bd. 2, S. 299f): schung folgt den gleichen zentralen Prinzipien der
4 die Teilnehmer, Wissenschaftlichkeit wie die empirische Forschung,
4 die Folgen der Interaktionen zwischen den Teil- sieht sich jedoch gleichzeitig anderen pragmatischen
nehmern, Herausforderungen gegenüber (d. h. im Vordergrund
4 die Mittel die verwendet werden, steht der Erfolg bzw. Misserfolg des Erkenntnisinte-
4 das auslösende Ereignis oder der Stimulus, resses, außerdem handelt es sich bei der Evaluations-
4 der Anreiz oder andere Faktoren, welche die Si- forschung in der Regel um Auftragsforschung). Im
tuation/Tätigkeit in Gang halten, Mittelpunkt stehen die Kontrolle der unabhängigen
4 die den Teilnehmern auferlegten Schranken, Variablen (das Interventionsprogramm) und die
4 der Zusammenhang der Situation, Identifizierung der Effekte auf zuvor definierte ab-
4 Regelmäßigkeiten und Wiederholungen, hängige Variablen (Kriterien der Zielerreichung).
4 die Zeitdauer der sozialen Situation, Die Verfahren der Evaluierung können in ihrem
4 bedeutsame Unterlassungen, Design quantitativ und/oder qualitativ oder (nicht)
4 Abweichungen und Widersprüchlichkeiten. experimentell angelegt sein. Die verschiedenen Zeit-
punkte der Evaluation können im Vorfeld, während
Die Auswertung der teilnehmenden Beobachtung- oder im Anschluss an das Interventionsprogramm
(sprotokolle) erfolgt mit Hilfe der Auswertungsan- liegen. Gleichzeitig kann der Zeitpunkt danach ge-
forderungen, wie sie an die Inhaltsanalyse oder das wählt werden, ob die Ergebnisse einen unmittelba-
Interview gestellt werden. ren (formativ) oder gar keinen (summativ) Einfluss
auf das laufende Programm haben sollen. Grund-
sätzlich kann zwischen Implementations- und Wir-
2.2 · Pflegetheorien und Pflegeverständnis
23 2

kungsforschung (was), summativer und formativer 2.2 Pflegetheorien und


(wie) sowie interner und externer Evaluation (wer) Pflegeverständnis
unterschieden werden.
Die Entwicklung von Pflegetheorien geht einher
mit der Akademisierung der Pflege, besonders in
2.1.4 Forschungsbeispiele der Lehre in den USA. Zwei Ziele wurden mit der
aus der Psychiatrie Theorieentwicklung verfolgt: erstens die Etablie-
rung der Profession auf der Grundlage originären
Eine umfassende Internet- und Datenbankrecher- Pflegewissens und zweitens die Bereicherung der
che zu psychiatrischen Pflegeforschungsprojekten professionellen Praxis durch die Theorie. Stevens-
führte zu einem ernüchternden Ergebnis. »Studien, Barnum (1994) weist daraufhin, dass der Pflege-
die gleichzeitig psychische Störungen und deren prozess integraler Bestandteil einer Pflegetheorie
pflegerische und medizinische Versorgung erheben, ist bzw. eine Pflegetheorie auch die Prozesshaftig-
fehlen bisher gänzlich. Ausnahmen bilden einzelne keit des Regelkreises zu berücksichtigen hat. Mitte
Untersuchungen, die sich etwa mit der medikamen- des 20. Jahrhunderts entwickelten nordamerikani-
tösen Behandlung ausgewählter Erkrankungen be- sche Pflegewissenschaftlerinnen ausgehend von der
schäftigen« (Hartwig et al., 2005). In . Tabelle 2.2 Idee, menschliches Handeln sei steuerbar, einen Re-
werden einige Forschungsprojekte in der Psychia- gelkreis: den sog. Pflegeprozess (LaMonica, 1979;
trie skizziert. McHugh, 1986; Stevens-Barnum, 1994; Yura und

. Tabelle 2.2. Ausgewählte Pflegeforschungsprojekte im deutschsprachigen Raum


Titel Forschungsprojekt
Zur Methode der schriftlichen Befragung – Ziel: Motive für den Suizid, Beurteilung einer suizidalen Handlung, pflegeri-
dargestellt am Beispiel der Einstellung sche Interventionen
von Krankenschwestern und Krankenpfle- Fragestellung: systematische Unterschiede zwischen der Experimental- und
gern zu Suizidpatienten und eigenen Suizi- der Kontrollgruppe sowie innerhalb der Experimentalgruppe
dalität Form der Befragung: Einzel- und Gruppenbefragung
In: K. Wittneben (1998) Forschungsansätze
für das Berufsfeld Pflege. Thieme, Stuttgart
Der schwierige Patient – Phänomen oder Ziel: erforschen, wo psychiatrisches Pflegepersonal die Schwierigkeit in der
Konstrukt? Eine Untersuchung mit der Er- pflegerischen Arbeit mit dem Patienten hauptsächlich ansiedelt: beim Pati-
kenntnistheorie des Radikalen Konstrukti- enten und/oder im System und/oder bei sich selbst. Die erhaltenen Aussa-
vismus gen werden dazu verwendet, aus der Sicht psychiatrischer Pflegepersonen
(Guntram Fehr, Diplomarbeit – HöFa II, SBK, den Begriff selbst, dessen Verwendung im Pflegealltag wie auch das Erleben
August 1998 [download: http://pflegefor- vom »schwierigen Patienten« zu erforschen.
schung-psy.ch/abstracts.html]) Forschungsfragen
1. Wie definiert psychiatrisches Pflegepersonal den Begriff »schwieriger
Patient«?
2. Welche Bedeutung hat der Begriff für psychiatrisches Pflegepersonal?
3. Wie erlebt psychiatrisches Pflegepersonal den »schwierigen Patienten«?
Das Verständnis von Bezugspflege in der Ziel: Bislang gibt es keine systematisch gewonnenen Erkenntnisse über die
stationären psychiatrischen Pflege der konzeptuelle und operationale Definition der Bezugspflege im untersuch-
deutschsprachigen Schweiz – Ergebnisse ten Gebiet. Eine klare Definition von Bezugspflege wäre eine Voraussetzung
einer Delphi-Studie (Ian Needham, Ab- für Untersuchungen bezüglich Qualität und Wirksamkeit des Systems.
schlussarbeit zur Erlangung des Master’s De- Fragestellung: »Inwieweit gibt es in der psychiatrischen Pflege der deutsch-
gree in Health Sciences an der Fakultät der sprachigen Schweiz einen Konsens über die generische, konzeptuelle und
Gesundheitswissenschaften, Fachrichtung operationale Definition von Primary Nursing im Bereich der stationären psy-
Pflegewissenschaft, Universität Maastricht, chiatrischen Versorgung?«
Niederlande 1999 [download: http://pflege-
forschung-psy.ch/abstracts.html])
24 Kapitel 2 · Pflege in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

. Tabelle 2.2 (Fortsetzung)


Titel Forschungsprojekt

2 Interdisziplinäre Prozessqualität für den Ein-


tritt in der akutpsychiatrischen Versorgung
Ziel: Entwicklung eines zentralen Messinstrumentes für den Eintrittsprozess
auf der Grundlage eines institutionsspezifischen Anforderungsprofils und
(Wolfgang Leinen, Abschlussarbeit zur Er- Durchführung einer Qualitätserhebung.
langung des Master’s Degree in Health Sci- Fragestellung: Ist es möglich, zur Förderung und Überprüfung der interdiszi-
ences [Universität Maastricht, NL u. SRK: plinären Prozessqualität, fokussiert auf den Eintritt eines Patienten auf eine
WE’G Aarau, CH], November 2000 [down- Akutstation, ein zentrales Messinstrument für die stationäre psychiatrische
load: http://pflegeforschung-psy.ch/abs- Akutversorgung zu entwickeln und damit eine Qualitätserhebung durchzu-
tracts.html] führen, sowie Veränderungsmaßnahmen abzuleiten?
Phase I: Die Entwicklung eines institutionsspezifischen
Anforderungsprofils
Phase II: Instrumententwicklung
Phase III: Qualitätserhebung
Begleitforschung zur Entwicklung der psy- Folgende Themen wurden u. a. bearbeitet:
chiatrischen Abteilung des KKH »Rudolf 5 Patientenzufriedenheit und Beurteilung der Einrichtung durch die Pati-
Virchow« Glauchau enten
Im Rahmen von Einzeluntersuchungen, 5 Mitarbeitermotivation
Praktika, Projektseminaren und Diplomar- 5 Einstellung von Pflegekräften zur Pflegedokumentation in der Psychia-
beiten, FH Zwickau trie
Mitzscherlich, Beate »Wer ist hier eigentlich 5 Untersuchung der interdisziplinären Zusammenarbeit im stationären
verrückt?« Über den Aufbau einer psychia- und teilstationären Setting
trischen Abteilung an einem sächsischen 5 Konzepte psychiatrischer Pflege
Kreiskrankenhaus. In: Zech, R. u. Ehses, C.
(Hrsg.) Organisation und Innovation. Expres-
sum, Hannover 2000, S. 161–184
Aggression in psychiatrischen Kliniken Thema: standardisierte Erfassung aggressiven Patientenverhaltens mit
(Cornelia Heinze, Diplomarbeit im Studien- SOAS-R
gang Medizin-/Pflegepädagogik an der HU Gegenstand: Auslöser, Ziel, Häufigkeit und Folgen von Patientenübergriffen
Berlin 2003/2004) gegenüber Personal und anderen Patienten sowie die erfolgten Interventio-
nen
Instrument: Staff Observation Aggression Scale-Revised (SOAS-R)
People with bipolar disorders quest for Thema: Soziale Alltagsprobleme auf Grund der Erkrankung sowie die Fähig-
equanimity: doing Grounded Theory keit, Probleme des Alltags zu lösen
S. A. Hutchinson, in: P. Munhall, C. Oiler Boyd Fragestellung: What is it like to live with a bipolar disorder?
(Eds.) (1993): Nursing Research – a qualitati- Instrument: Tiefeninterviews, teilnehmende Beobachtung und Dokumen-
ve perspective. NLN, New York, S. 213–236. tenanalyse
Evaluation der Nachhaltigkeit von gemein- Thema: gemeindepsychiatrische Projekte in Leipzig und Dresden und ein
depsychiatrischen Projekten (Teilprojekt von Förderprogramm für die sächsischen Integrationsbetriebe in Bezug auf ihre
Pflegeevaluation) Nachhaltigkeit evaluieren.
FH Zwickau Gegenstand: Neben der Analyse der gegenwärtigen Organisationsform der
Projekte und dem Beitrag zur psychiatrischen Versorgung, den sie gegen-
wärtig bzw. seit Beginn der Förderung leisten, werden Fragen, wie Reich-
weite, Modellcharakter, Öffentlichkeitswirkung, Qualifikation der Mitarbei-
ter usw. untersucht
Qualitätssicherung und -entwicklung im Be- Thema: Umsetzung gesetzlich verankerter Qualitätssicherungsmaßnahmen,
reich der Kinder-/Jugendpsychiatrie und der d. h. Evaluation externer psychoanalytischer Supervision (Einzel- und Grup-
Psychotherapie pensupervision)
Gunter Klosinski, in: M. Heiner (Hrsg.) (1996): Fragen (u. a.):
Qualitätsentwicklung durch Evaluation. Wie verändert Supervision die Sicht- und Darstellungsweise von Behand-
Lambertus Verlag, Freiburg/Brsg., S. 279–290 lungsprozessen durch die Mitarbeiter?
Welche typischen verallgemeinerbaren Beziehungsprobleme kommen in
der Supervision zur Sprache?
Instrument: Fragebogen
2.2 · Pflegetheorien und Pflegeverständnis
25 2

Walsh, 1978). Mit dem zirkulären Steuerungsmodell gebedarfs genutzt) noch wirklich systematisch ge-
sollte in erster Linie ein Prozess der Organisation plant und begründet. Eine Ursache ist in der un-
von Pflege beschrieben werden. Dabei ist die Umset- reflektierten Übernahme eines aus einem gänzlich
zung des jeweils nächsten Schritts von der Realisie- anderen professionstheoretischen Kontext (dem US-
rung des vorherigen Schrittes abhängig. Inhalt und amerikanischen) kommenden Konzeptes zu sehen.
Anzahl der Schritte variierten schon zu Beginn der Eine weitere Ursache kann in der verspätet gestarte-
Entwicklung des Pflegeprozesses. Mit dem Pflege- ten Akademisierung der Pflege vermutet werden.
prozess sollte auch verdeutlicht werden, dass Pflege Marriner-Tomey (1989) ordnet die pflegetheo-
mehr ist als die Ansammlung einzelner Handlungen. retischen Strömungen in vier Kategorien ein (. Ta-
Der Fokus lag auf der Beschreibung des »Wie« pro- belle 2.3). Meleis (1991) legt ein anderes Ordnungs-
fessionellen Handelns. Grundlage des Konzeptes schema zugrunde und kommt zu drei Kategorien.
war die Idee, dass ein professionelles Ziel erreicht Der Fokus eines pflegetheoretischen Ansatzes liegt
werden kann, wenn Pflegende einen Prozess initiie- entweder auf dem Klienten der Pflege (Johnson, Roy,
ren, ihn sicherstellen und dadurch den Erwartungen Neumann) oder der Interaktion (King, Orlando,
der Patienten gerecht werden (Orlando, 1961). Travelbee) oder dem therapeutischen Anteil der
Benner (1984) war eine der ersten Pflegewissen- Pflege (Levine, Orem). Fawcett (1989, 1993) wieder-
schaftlerinnen, die darauf hinwies, dass die aktive um orientiert sich in der Zuordnung der verschie-
Nutzung und Akzeptanz des Pflegeprozesses um denen Pflegetheorien an dem Metaparadigma der
so höher ist, je weniger Erfahrung eine Pflegende Pflege, deren konzeptionelle Grundannahmen erst-
vorweisen kann. Sie kam zu dem Ergebnis, dass der mals von Kim (1987) formuliert wurden. Kim (1987)
Pflegeprozess am ehesten als Orientierungshilfe für identifizierte vier für die Pflege relevante Wissensge-
Neulinge bzw. fortgeschrittene Anfänger geeignet biete: das Wissen um den Klienten/Patienten, die
ist, wohingegen er von Experten eher als Kontroll- Pflege, die klinische Pflegepraxis und die Umge-
system erlebt wird. Drei Zielrichtungen wurden, so
Höhmann (1996), mit dem Pflegeprozess verknüpft:
Der Pflegeprozess als Professionalisierungsstrategie, . Tabelle 2.3. Zuordnung pflegetheoretischer Ansätze
nach Marriner-Tomey (1989)
als Nachweisinstrument pflegerisch professioneller
Leistungen sowie als Lehr- und Lerninstrument. Die Kategorie Pflegetheoretikerin Jahr
(Bspl.)
Forderung, den Pflegeprozess umzusetzen, wurde
1974 in das mittelfristige Programm der WHO Kunst und Wissen- Nightingale 1859
schaft der Humanisti-
aufgenommen. Berufsverbände, Fachzeitschriften, Henderson 1966
schen Krankenpflege
Weiterbildungsinstitute und Hersteller von Doku- Abdellah 1960
mentationssystemen priesen damals die Pflegepro- Orem 1971
zessmethode als Chance und Notwendigkeit, die
Leininger 1978
Professionalisierung in der Pflege in Europa voran-
Parse 1981
zutreiben. Spätestens seit der Einführung des Kran-
kenpflegegesetzes im Jahr 1984 in der Bundesrepub- Zwischenmenschliche Peplau 1952
lik Deutschland bemühen sich Pflegende, den Pfle- Beziehungen
Orlando 1961
geprozess in der Pflegepraxis umzusetzen. Kaum ein Travelbee 1966
anderes Konzept hat soviel Auseinandersetzungen, Systeme Johnson 1980
Bemühungen, Umorientierungen usw. mit sich ge-
Roy 1976
bracht. Dennoch ist es bisher nicht hinreichend ge-
lungen, geplante Pflege im Sinne des Pflegeprozesses King 1981

in die Pflegepraxis umzusetzen. Einzelne Schritte Neumann 1982


des Pflegeprozesses, wie z. B. die Pflegeanamnese, Energiefelder Levine 1969
sind im Alltag präsent, aber weder zielorientiert Rogers M. 1970
(d. h. die Anamnese wird lediglich zur Informati-
Newman 1986
onssammlung, nicht aber zur Bestimmung des Pfle-
26 Kapitel 2 · Pflege in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

bung. Vielfach kritisiert wurde damals, dass hierbei 6. ein ausgewogenes Verhältnis von Alleinsein und
das Konzept der Gesundheit nicht berücksichtigt Geselligkeit,
wurde sowie die Trennschärfe zwischen Pflege und 7. Vorbeugung bei Gefahren für Leben, Funktiona-
2 klinischer Pflegepraxis nicht immer nachvollziehbar lität und Wohlbefinden,
war. Auf der Basis dieser vier Wissensgebiete sowie 8. Unterstützung von Funktionalität und Entwick-
der kritischen Reflexion dieses von Kim vorgestell- lung innerhalb sozialer Gruppen in Überein-
ten Konzeptes wurden vier Elemente konkretisiert, stimmung mit dem menschlichen Potenzial, den
die zusammen für das Metaparadigma der Pflege bekannten Beschränkungen und dem Streben
stehen: Person, Umgebung, Gesundheit und Pflege nach Normalität.
(Fawcett, 1989 und 1993).
Der Mensch kann, so Orem (1991) die Selbstpflege-
erfordernisse zur Erhaltung seiner körperlichen,
2.2.1 Pflegemodelle von Dorothea seelischen, sozialen und geistigen Integrität/Ge-
Orem und Imogene King sundheit nur ausüben, wenn nachfolgende Selbst-
pflegefähigkeiten nicht beeinträchtigt sind. In der
Zwei Pflegetheorien und ihre Vorstellung der Pfle- Regel entspricht die Selbstpflege eines Menschen
geprozessgestaltung werden an dieser Stelle näher seinen Selbstpflegefähigkeiten:
erläutert, da sie für die psychiatrische Pflege von 1. Fähigkeit, aufmerksam zu bleiben,
besonderer Relevanz sind. Orems Pflegemodell 2. Fähigkeit, die Lage und Haltung des eigenen
beinhaltet im Prinzip 3 theoretische Ansätze: Körpers wahrnehmen und zu steuern,
1. die Theorie der Selbstpflege, 3. Fähigkeit, die eigene Motivation und den An-
2. die Theorie des Selbstpflege-Defizits und trieb aufrechtzuerhalten,
3. das Pflegesystem. 4. Fähigkeit, vernünftig zu sein und erwachsen zu
reagieren,
Kings Pflegemodell gliedert sich in 2 theoretische 5. Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen,
Schwerpunkte: 6. Fähigkeit, Wissen zu erwerben und anzuwen-
1. die systemtheoretischen Grundlagen und den,
2. die Theorie der Zielerreichung. 7. Fähigkeit, die eigenen Selbstpflegehandlungen
zur Erreichung eines Zieles auszuwählen,
Selbstpflege- und Selbstpflegedefizit- 8. Fähigkeit, Selbstpflegehandlungen durchzufüh-
Theorie von Dorothea Orem ren und in das tägliche Leben zu integrieren,
Orem (1991) sieht den Menschen als ein vollstän- 9. Fähigkeit, die eigenen Reserven für erforderliche
diges, funktionstüchtiges Ganzes mit einer starken Selbstpflegehandlungen einzuteilen,
Eigenmotivation, für sich zu sorgen. Selbstpflege ist 10. Fähigkeit, die Selbstpflegehandlungen geschickt
ein innerhalb einer Kultur und Gesellschaft erlerntes durchzuführen.
Verhalten, deren Selbsthilfe unter Ausnutzung fa-
miliärer, nachbarschaftlicher und auch sozialer Eine Beurteilung der Selbstpflegefähigkeiten im
Beziehungen. Für einen gesunden Menschen be- Hinblick auf die allgemeinen Selbstpflegeerforder-
schreibt Orem acht lebensnotwendige Anforde- nisse hat nach folgenden drei Kriterien zu erfolgen:
rungen (Selbstpflegeerfordernisse) die durch die 1. Entwicklungsstand der Person (dieser ist vom
Selbstfürsorge befriedigt werden müssen: jeweiligen Lebensabschnitt und der Biographie
1. ausreichende Zufuhr von Luft, abhängig),
2. ausreichende Zufuhr von Wasser, 2. Funktionstüchtigkeit der Selbstpflegefähigkeit,
3. ausreichende Zufuhr von Nahrung, 3. Angemessenheit der Selbstpflegetätigkeit.
4. Vorkehrungen im Zusammenhang von Aus-
scheidungsprozessen, Aufgrund des Entwicklungsstandes (abhängig von
5. ein ausgewogenes Verhältnis von Aktivität und den Lebensphasen) und/oder Veränderungen im
Ruhe, Gesundheitszustand können verschiedene allgemei-
2.2 · Pflegetheorien und Pflegeverständnis
27 2

ne Selbstpflegeerfordernisse erhöht sein. In diesem nelle Pflege führt den Selbstpflegebedarf für den
Fall tritt ein therapeutischer Selbstpflegebedarf ein. Patienten aus bzw. gleicht die Unfähigkeit des
Es muss entsprechend mehr Selbstpflege vom Pa- Patienten aus, »sich selbst zu pflegen«.
tienten bzw. seinen Angehörigen geleistet werden. 4 Das teilweise kompensatorische Pflegesystem
Sind die Selbstpflegefähigkeiten eingeschränkt, wird erforderlich, wenn die Person einige, je-
kommt es zu einem Selbstpflegedefizit und es ent- doch nicht alle pflegerischen Handlungen selbst
steht ein Interventions- und Handlungsbedarf durch ausführen kann. Professionelle Pflege führt eini-
professionell Pflegende. Professionelle Pflege wird ge Selbstpflegeerfordernisse für den Patienten
nach Orem erst dann erforderlich, wenn der Betrof- aus bzw. hilft dem Patienten dort, wo es erforder-
fene und/oder das unmittelbare soziale Netz die lich ist.
Selbstpflegeerfordernisse nicht mehr selbst erken- 4 Das unterstützend begleitende erzieherische
nen und durchführen können, d. h. wenn die Erfor- System wird empfohlen, wenn die Person alle
dernisse die Fähigkeiten des Individuums überstei- pflegerischen Handlungen ausführen kann und
gen. Es entsteht ein Selbstpflegedefizit und es muss lediglich der Anleitung, Unterstützung oder Un-
festgelegt werden, in welchem Ausmaß professionel- terrichtung bedarf.
le Pflege notwendig wird.
Orem (1991) benennt drei Arten innerhalb eines Eng damit korrespondieren die von Orem (1991) de-
regulativen Pflegesystems (. Abb. 2.1), in dem pro- finierten helfenden Methoden, mit deren Hilfe geklärt
fessionell Pflegende aktiv werden: wird, in welcher Form Pflege tätig werden kann:
4 Das vollständig kompensatorische Pflegesystem 4 handeln für den Patienten (für jemanden etwas
ist immer dann angezeigt, wenn die Person nicht tun),
zu bewussten Handlungen fähig ist. Professio- 4 anleiten des Patienten (jemanden führen/leiten),

. Abb. 2.1. Orems Handlungs- vollkompensatorisch


system für Patient und Pflegende
führt den therapeutischen Selbst-
(Orem, 1991, S. 288) pflegebedarf für den Patienten aus

Pflegende gleicht die Unfähigkeit des Patienten


»sich selbst zu pflegen« aus
unterstützt den Patienten

teilkompensatorisch
führt einige selbstpflegerische
Erfordernisse für den Patienten aus

Pflegende gleicht die eingeschränkte Fähigkeit


des Patienten »sich selbst zu pflegen« aus
hilft dem Patienten dort, wo es
erforderlich ist

führt einige selbstpflegerische


Erfordernisse selbst aus

schätzt mit der Pflegenden zusammen Patient


die Fähigkeit zur Selbstpflege ein

nimmt professionelle Hilfe an

unterstützend-erzieherisch
Selbstpflege
Pflegende Patient
übt und entwickelt
mit der Pflegenden/dem Patienten
28 Kapitel 2 · Pflege in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

4 körperliche oder seelische Unterstützung des Pa- Die Zielerreichungstheorie


tienten (jemanden unterstützen), von Imogene King
4 eine Umgebung schaffen, die persönliche Ent- Nach King (1981) basiert sowohl das allgemeine
2 wicklung und die Fähigkeit fördert, erforderliche offene Systemmodell als auch die Zielerreichungs-
Handlungen zu vollbringen, theorie auf der Annahme, im Mittelpunkt der Pflege
4 unterrichten des Patienten (jemanden leiten/be- stehe der Menschen, der mit der Umwelt interagiert.
lehren). Das Pflegesystem besteht laut King aus einem per-
sonalen, interpersonalen und sozialen System. Die
Der Pflegeprozess besteht laut Orem (1991) aus Pflege soll zu einem Zustand der Gesundheit führen,
3 Phasen (. Abb. 2.2): einem Zustand, der das funktionale Agieren in so-
4 Die 1. Phase befasst sich mit der Frage danach, zialen Rollen möglich macht. Eine zentrale Über-
warum eine Person (professionelle) Pflege benö- zeugung, die dem Systemmodell sowie der Zieler-
tigt, d. h. die Selbstpflegedefizite und der thera- reichungstheorie zugrunde liegt, lautet, dass die
peutische Selbstpflegebedarf werden identifiziert Pflege mit Menschen und menschlichen Handlun-
(Schritt 1) und analysiert (Schritt 2) sowie die gen befasst ist (King, 1981). Sie erklärt, die konzep-
Selbstpflegefürsorge priorisiert (Schritt 3). tionelle systemtheoretische Anlage ihres Models
4 Die 2. Phase bezieht sich auf die Pflegeplanung (personales, interpersonales und soziales System)
(Schritt 4) und auf die Bestimmung, welches sowie die Konzepte (insgesamt sind es 12) der drei
Handlungssystem angewendet werden sollte Systeme als Reaktion auf Veränderungen entwickelt
(Schritt 5). zu haben, die damals auf die Krankenpflege einwirk-
4 Die 3. Phase umfasst die Durchführung der pro- ten. Auch habe sich das theoretische und praktische
fessionellen Pflegeleistungen (Schritt 6) sowie Wissen explosionsartig vermehrt. Darüber hinaus
der Kontrolle der Handlungen bzw. seiner Er- begreift King (1981) Pflege als einen aus Aktion, Re-
gebnisse (Schritt 7). aktion und Interaktion bestehenden Prozess, in dem
sich eine Pflegende und ein Patient über ihre je-
Für den Zeitraum des Auftretens krankheitsbeding- weiligen Wahrnehmungen in der pflegerischen Si-
ter Selbstpflegeerfordernisse wird der (therapeu- tuation austauschen. Eine pflegerische Situation ist
tische) Selbstpflegebedarf kontinuierlich an die gleichbedeutend mit der unmittelbaren Umgebung,
aktuelle Situation des Selbstpflegedefizits ange- also die räumliche und zeitliche Realität, in der eine
passt. Pflegende und ein Patient eine Beziehung aufneh-

. Abb. 2.2. Der Pflegeprozess nach Orem


(in George, 1990, S. 101)
Informationssammlung

(professionelle)
Pflege auswerten Analyse der
Selbstpflegeerfordernisse

(professionelle) 3. Phase 1. Phase Prioritätensetzung der


Pflege durchführen Selbstfürsorgedefizite

2. Phase

Handlungssystem
Pflegeplan erstellen
auswählen
2.2 · Pflegetheorien und Pflegeverständnis
29 2

men, um gesundheitliche Probleme zu bewältigen der Regel das Streben nach Gesundheit des Patienten
und die erforderlichen Anpassungen an die ver- ist. Das Ergebnis besteht in einem Zustand der Ge-
änderten Bedingungen des täglichen Lebens einzu- sundheit (. Abb. 2.3).
leiten. Durch eine zielgerichtete Kommunikation Laut King (1981) haben Pflegekräfte im Gesund-
identifiziert die Pflegeperson Ziele, Probleme oder heitswesen eine Schlüsselposition inne. Sie arbeiten
Besorgnisse. Sie sucht gemeinsam mit dem Patienten mit Ärzten, Sozialarbeitern und mit anderen Fach-
nach Mitteln, mit deren Hilfe sich die gewünschten kräften zusammen, um die Gesundheit zu fördern.
Ziele erreichen lassen, und einigen sich auf eine ge- Strukturiert werden die pflegerischen Maßnahmen
meinsame Vorgehensweise. Aus dieser Interaktion durch den Pflegeprozess. Sie unterscheidet drei Pha-
zwischen Pflegender und Patient folgen dann die sen: Erkenntnis der gegebenen Umstände, Aktion
ersten Schritte zur Zielerreichung. Die Ziele können aufgrund der gegebenen Umstände und die Moti-
aus Sicht des Patienten andere sein als aus der Pers- vation, die Ereignisse zu kontrollieren und Ziele zu
pektive der Pflegenden. Das heißt, Prozesse der Kon- erreichen (es fällt auf, dass eine konkrete Planungs-
sensfindung zwischen Patient und Pflegenden wer- phase fehlt). King verknüpft dabei den Pflegeprozess
den erforderlich. Diesen Prozess hat King (1981) in mit dem Prozess der Interaktion, der zu einer Trans-
ihrer Zielerreichungstheorie beschrieben, bei dem aktion und schließlich zu einer Zielerreichung führt.
der Begriff der Transaktion eine besondere Rolle Aus diesem Grund wird der Pflegeprozess auch
einnimmt. Unter Transaktion versteht sie wahr- als »Interaktions-Transaktions-Prozessmodell« be-
nehmbares Verhalten in Interaktion mit der Umwelt, zeichnet (King, 1989, in Riehl-Sisca, S. 153ff). Die
sie steht auch dafür, dass zuvor gesetzte Ziele erreicht 1. Phase ist gekennzeichnet durch die wechselseitige
werden (King, 1981, S. 147). Die Zielerreichungs- Wahrnehmung sowie einer Beschäftigung mit den
theorie geht davon aus, dass das gemeinsame Ziel in mentalen Modellen der an der Interaktion beteilig-

Feedback

Wahrnehmung

Beurteilung

Pflegende
Aktion

Reaktion Interaktion Transaktion


Aktion
Patient

Beurteilung

Wahrnehmung

Feedback

. Abb. 2.3. Kings Interaktions-Transaktions-Prozessmodell (King, 1981, S. 145)


30 Kapitel 2 · Pflege in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

ten Personen. In der 2. Phase werden die Ziele iden- tienten individuell im Rahmen einer stationären Be-
tifiziert und formuliert, während in der 3. Phase die handlung angeboten wird bzw. gemeinsam zu gestal-
Ziele überprüft werden. Sie gilt auch als Bewertung ten ist. Dem Assessment kommt eine herausragende
2 der Interaktion. Alle subjektiven Einschätzungen Stellung in der Umsetzung des theoriegeleiteten
müssen vom jeweiligen Interaktionspartner veri- Pflegeprozesses in der Psychiatrie zu. Der Prozess ist
fiziert werden, um falsche Schlussfolgerungen zu deshalb so aufgebaut, dass ein Assessment kontinu-
vermeiden. ierlich durchgeführt und schriftlich dargelegt wer-
den muss. Damit soll bewirkt werden, dass sowohl
die geplanten Maßnahmen systematisch überprüft
2.2.2 Praxisbeispiel: werden als auch die Zielerreichung bzw. Modifika-
Der Pflegeprozess in der tionen für alle Beteiligten nachvollziehbar werden.
Psychiatrie – eine Kombination Die Verknüpfung der beiden pflegetheoretischen
aus Orem und King Ansätze von Orem und King mit dem psychiatri-
schen Pflegeprozess sieht wie in . Abb. 2.4 darge-
Im Rahmen eines Projektes (Umsetzung des Pfle- stellt aus.
geprozesses auf der Basis von zwei pflegetheoreti-
schen Ansätzen am Beispiel der psychiatrischen Erläuterungen zur Umsetzung des Pflege-
Pflege von 1995 bis 2002) am Universitätsklinikum prozesses in der Psychiatrie des CCBF
Charité Campus Benjamin Franklin (CCBF) wurde
ein Konzept zur Gestaltung des theoriegeleiteten 1. Schritt
Pflegeprozesses entwickelt. Nach intensiven Ausei- Die erste Begegnung zwischen Patient und Pflege-
nandersetzungen über verschiedene pflegetheoreti- personal ist gekennzeichnet durch eine erste Kon-
sche Ansätze, deren Anwendungspotenziale in der taktaufnahme (1. Schritt). In der Psychiatrie stellt
Psychiatrie und der Gestaltung bzw. Umsetzung des dies aufgrund der Krisensituation, in der sich ein
Pflegeprozessgedankens in der Pflegepraxis, wurde Patient befindet, eine besondere kommunikative
folgende Definition von Pflege in der Psychiatrie Herausforderung dar. Im Vordergrund steht die
verabschiedet: Wahrnehmung und anschließende Beschreibung
der aktuellen Krisensituation. Weitere persönliche
! Wenn ein Mensch die Fürsorge eines profes-
Daten sowie Informationen über mögliche Auslöser
sionell Pflegenden beansprucht, wird dadurch
der Krise sollen erfasst werden. Die Pflegende ist
ein Prozess initiiert der mit der stationären
aufgefordert, ihren subjektiven Eindruck zu ver-
Aufnahme des Patienten beginnt und mit sei-
schriftlichen und entsprechend zu kennzeichnen.
ner Entlassung endet. Für Patient und Pfle-
Zusätzlich wird der Patient über die räumlichen und
gende bedeutet dies, dass innerhalb einer
organisatorischen Gegebenheiten der Station infor-
gemeinsamen Wegstrecke (stationärer Aufent-
miert. Außerdem erhält der Patient Informationen
halt) viele Prozesse parallel verlaufen, die mit
darüber, welche Personen des multiprofessionellen
dem Patienten gemeinsam abgestimmt, ange-
Betreuungsteams für ihn zuständig sind.
passt und koordiniert werden (Roes et al.,
2003, S. 23).
2. Schritt
Demnach wird der Pflegeprozess als dynamisches Einschätzung (erstes Assessment) bedeutet, die ak-
Geschehen verstanden, an dem Pflegende und Pati- tuelle Situation des Patienten, unter Einbindung der
ent gemeinsam beteiligt sind. Die professionelle Biographie, zu erfassen und zu beurteilen (2. Schritt).
Pflegeleistung wird zum einen sichtbar, systema- Dies soll sowohl aus der Perspektive des Patienten
tisch, begründbar und überprüfbar. Zum anderen als auch des Pflegepersonals erfolgen und im sog.
wird der prozesshafte Verlauf pflegerischen Handels Assessmentbogen verschriftlicht und entsprechend
für alle Beteiligten transparent. Pflege in der Psychi- gekennzeichnet werden. Es besteht die Möglichkeit,
atrie wird im Wesentlichen als eine interaktive aus vorgegebenen Themen diejenigen auszuwählen,
Dienstleistung verstanden, die für und mit dem Pa- die für die individuelle Patientensituation relevant
2.2 · Pflegetheorien und Pflegeverständnis
31 2

Interaktionsprozess
King

Zielerreichungstheorie
King
6. Schritt: 1. Schritt:
Ergebnis Kontakt-
Handlungssystem überprüfen aufnahme
Orem
Selbstpflegebedarf
Orem

5. Schritt: 2. Schritt:
Maßnahmen Erste/Folge-
durchführen einschätzungen

Handlungssystem 4. Schritt: 3. Schritt: Zielerreichungstheorie


Orem Ziele definieren/ King
Maßnahmen
planen/modifizieren modifizieren

. Abb. 2.4. Verknüpfung zweier pflegetheoretischer Ansätze (Orem und King) mit dem Pflegeprozess in der Psychiatrie des CCBF

sind und anschließend Prioritäten hinsichtlich der erreichungstheorie nach King, 1981). Die Ziele kor-
Wichtigkeit zu setzen. Durch diese offene Vorge- respondieren mit den Aussagen der Erst-, und Fol-
hensweise wird eine Standardisierung von Problem- geeinschätzungen. Ziele sind so zu formulieren, dass
formulierungen vermieden. Alle schriftlichen Aus- sie realistisch, erreichbar, konkret, positiv formuliert
sagen sind so gekennzeichnet, dass die subjektiven und überprüfbar sind. Jede Zielüberprüfung ist
Wahrnehmungen aus Sicht des Patienten bzw. der gleichbedeutend mit der Durchführung einer Folge-
Pflegenden eindeutig erkennbar sind. Wertungen einschätzung, d. h. Termine zur Überprüfung wer-
und Interpretationen sind zu vermeiden bzw. als den vorab festgelegt. Die Zielformulierung erfordert
solche entsprechend zu kennzeichnen. Die erste Ein- vor allem die Gestaltung eines Interaktions- bzw.
schätzung zur Situation des Patienten erfolgt inner- Aushandlungsprozesses bei dem der Patient die
halb von fünf Tagen nach stationärer Aufnahme. Möglichkeit erhält, seine Ziele zu formulieren und
Sie berücksichtigt die in der ersten Informations- diese mit der Pflegenden zu besprechen. Jede Ziel-
sammlung aufgenommen Daten zur aktuellen Kri- überprüfung beinhaltet indirekt auch eine subjek-
sensituation. tive Einschätzung der Situation des Patienten aus
Sicht der Pflegenden. Im Aushandlungsprozess ist
3. Schritt es anschließend erforderlich, die beiden Perspekti-
Ziele stellen den Maßstab für die Wirksamkeit der ven in der Zielformulierung zusammenzubringen.
Maßnahmen dar und beschreiben, welche Erfolge Das heißt auch, dass Ziele nicht ausschließlich aus
mit den jeweiligen Maßnahmen angestrebt werden der Sicht des Patienten formuliert werden sollten,
sollen (3. Schritt). Ziele sollen mit dem Patienten es sei denn, der Zustand des Patienten lässt dies
gemeinsam besprochen und festgelegt werden (Ziel- nicht zu.
32 Kapitel 2 · Pflege in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

4. Schritt von der Planung wird begründet eingegangen, so-


Die Gestaltung des Aushandlungsprozesses hin- dass für alle am therapeutischen Prozess Beteilig-
sichtlich zu erreichender Ziele kombiniert mit dem ten jederzeit nachvollziehbar wird, warum eine
2 Handlungskonzept von Orem (1991) fordert die Maßnahme anders als geplant realisiert wurde. Da-
Pflegenden auf, den Grad der Handlungsübernahme durch wird auch ableitbar, welche Konsequenzen
festzulegen (4. Schritt). Dies hat Auswirkungen auf hieraus für den weiteren Betreuungsprozess zu zie-
die Maßnahmenplanung, insbesondere hinsicht- hen sind.
lich der Festlegung, wer (Patient/Pflegende) welche
Maßnahmen in welchem Unterstützungsgrad (un- 7. Schritt
terstützend-erzieherisch, teilkompensatorisch oder Die Termine der Folgeeinschätzungen (Assessments)
vollkompensatorisch) übernimmt. Das heißt mit werden zum Zeitpunkt des aktuellen Assessments
der Maßnahmenplanung werden die Selbstpflegefä- geplant und sind spätestens sieben Tage nach der
higkeiten des Patienten mit berücksichtigt. Durch letzten Einschätzung vorzunehmen (7. Schritt).
diese Vorgehensweise soll auch erreicht werden, dass Akute Veränderungen sind sofort zu erfassen und zu
der Unterstützungsgrad von allen an der Betreuung dokumentieren. Jede weitere Einschätzung wird da-
beteiligten Pflegenden eingehalten wird. Der Maß- mit gleichzeitig zur Zielüberprüfung sowie einer
nahmenplan bildet die gemeinsame Grundlage so- Überprüfung der Wirkung der geplanten Maßnah-
wohl für den Patienten als auch für die Pflegenden. men. Die Schritte 2–6 verlaufen dann wie eben be-
Er enthält konkrete Handlungs- und Verhaltenswei- schrieben.
sen, die zur Erreichung der zuvor formulierten Ziele Grundsätzlich wird in der pflegewissenschaft-
beitragen sollen. Der Plan beschreibt: lichen Diskussion davon ausgegangen, dass die
4 was getan werden soll, »Theorien die Praxis voranbringen«, und dass die
4 wer es tun soll, Entwicklung von Pflegetheorien nur existiert, »um
4 wie es getan werden soll, die Pflegepraxis zu verbessern, indem sie eine ratio-
4 wann es getan werden soll, nale Basis für pflegerisches Handeln stellt« (Schröck,
4 wie lange es getan werden soll und wie oft, 1998, S. 23). Allerdings bleibt heute der Nachweis
4 wo es getan werden soll. aus, dass Pflegetheorien tatsächlich dazu beitragen,
die Pflegepraxis zu verändern. Pflegetheorien haben
5. Schritt vielmehr dazu beigetragen über Pflege nachzuden-
Die Durchführung der Maßnahmen erfolgt immer ken bzw. die Pflege zu denken (Perry, in Schröck,
unter Berücksichtigung der aktuellen Situation und 1998).
der Selbstpflegefähigkeiten des Patienten, dem imp-
! In diesem Sinne kann dieses Projekt als Ver-
lizit ist Beurteilung der Wirkung der durchgeführten
such gewertet werden, der Pflegetheorie
Maßnahmen (5. Schritt). Erreicht werden soll, dass
einen anderen Stellenwert für/in der Pflege-
mit der Durchführung einer Maßnahme gleichzeitig
praxis zukommen zu lassen.
systematisch und kontinuierlich der Erfolg der ge-
planten Maßnahmen erfasst wird.

6. Schritt 2.2.3 Krankheitsverlaufskurven –


Im Pflegebericht wird das Ergebnis der überprüften das Corbin-Strauss-(Pflege)
Maßnahmen dokumentiert (6. Schritt). Subjektive Modell
Wahrnehmungen sind als solche gekennzeichnet
und ermöglichen sowohl die Reflexion der professi- »In der sozialen Wirklichkeit sind wir konfrontiert
onellen Sichtweise als auch die Darlegung der aktu- mit einem Universum, das durch beständigen Fluss
ellen Situation aus Sicht des Patienten. Der Pflege- charakterisiert ist; es kann und will nicht verharren.
bericht ist ein Bericht über den Verlauf und die Es handelt sich um ein Universum, in dem Prozesse
Wirkung der Maßnahmen sowie über das Befinden von Verschwinden, Zerfall und Aufteilung Spiegel-
des Patienten in jeder Schicht. Auf Abweichungen bilder des Auftauchens, Neuentstehens und Zusam-
2.2 · Pflegetheorien und Pflegeverständnis
33 2

menschlusses sind. Es ist ein Universum, in dem 4 Verlaufskurve (trajectory): ein Konzept, bei dem
nichts streng determiniert ist. Doch seine Phänome- alle mit einem sozialen Geschehen verbundenen
ne können teilweise durch die Analyse bestimmt Aktionen zusammengefasst werden.
werden – einschließlich des Phänomens, dass die 4 Abstimmungs-, Gefühls- und Identitätsarbeit:
Menschen selber daran mitwirken, diejenigen Struk- psychische Prozesse werden als Arbeit konzep-
turen zu schaffen, die ihr Leben formen« (Strauss, tualisiert, im Fokus steht der chronisch kranke
1993, übersetzt von Legewie et al., 2004). Mensch.
Glaser und Strauss veröffentlichten 1967 erstma- 4 Soziale Welt-Subwelt und Arena: Soziale Welten
lig ihre Monographie »The Discovery of Grounded sind Sinnwelten. Sie zeichnen sich in erster Linie
Theory« (197910), die im Kern das Ergebnis von Feld- durch Gemeinsamkeiten ihrer Mitglieder aus.
studien über das Sterben im Krankenhaus bzw. die Durch das Aushandeln von Konflikten werden
Interaktion Sterbender mit seinem Umfeld darstellt. sie zu Arenen.
Im Rahmen dieser Studien wurde u. a. festgestellt,
dass Sterben Zeit braucht und, dass Pflegeexperten, Die oben genannten Feldsstudien zur Interaktion
Familien und Sterbende zahlreiche Strategien ein- Sterbender wurden auch durch Erkenntnisse der
setzen, um diesen Prozess zu bewältigen und zu interaktionistischen Theorietradition (um Mead,
gestalten. Im Ergebnis der Feldstudien wurde dieses 1968 und Blumer, 1973) beeinflusst. Insbesondere
Phänomen der Bewältigung als Krankheitsverlauf- die Kategorie des Bewusstseinskontextes geht auf die-
kurve (Krankheitstrajekt) bezeichnet (7 hierzu auch se theoretischen Vorannahmen zurück. Die Darle-
Kap. 2.1 Pflegeforschung). gung der Grundannahme, wie Bewusstseinskontex-
Eine weitere Intention dieser Monographie war, te funktionieren, ist von Bedeutung für die Konkre-
eine andere Form der empirischen Theoriegenerie- tisierung der Verlaufskurve (Krankheitstrajekt)
rung darzulegen, die sich insbesondere gegen die chronisch kranker Menschen sowie für das Verstehen
damals in der Soziologie dominierenden Über- der Handlungszusammenhänge bzw. das Handeln
betonung der Verifikation von Theorien sowie dem der betroffenen Subjekte. Konkret bedeutet dies u. a.
hypothetisch-deduktiven Ansatz richtete. Zwei Vor- folgendes:
stellungen von Theorieentwicklung wurden in die- »Ausgehend von der Annahme, dass die betei-
ser Monographie vorgestellt: Einerseits emergieren ligten Interaktionspartner (Patient und Kranken-
Theoriekonzepte aus dem Datenmaterial. Dies setzt hauspersonal) ein bestimmtes Merkmal des einen
voraus, dass sich der Forscher von theoretischen Vo- Partners (seinen bevorstehenden Tod) entweder
rannahmen frei machen muss. Andererseits werden wissen oder nicht wissen und dieses Wissen ent-
im Feld – aufgrund vorliegender Theoriekenntnisse weder verschweigen können oder darüber kommu-
– Phänomene entdeckt. nizieren, kann jeder mögliche Bewusstseinskontext
Insgesamt betrachtet, gehen Strauss/Corbin/ durch eine Kombination dreier Sachverhalte be-
Glaser (Strauss u. Glaser, 1975; Corbin u. Strauss, schrieben werden: 1. die Information, die der Patient
1988 u. 1993; Corbin, 1994) von verschiedenen über die Möglichkeit seines bevorstehenden Todes
Grundannahmen aus, die aus seinen umfangreichen vom Personal erhält, 2. das Bewusstsein des Patien-
Feld- und Interviewstudien entstanden und seine ten darüber, dass er möglicherweise bald sterben
Arbeiten mit beeinflussen (Legewie et al., 2004): wird, 3. die Tatsache, dass der Patient sein Wissen
4 Aushandeln und ausgehandelte Ordnung (negoti- gegenüber dem Personal offenbart. […] Übrig blei-
ated orders): Untersucht wurden Aushandlungs- ben vier logische, mögliche und inhaltlich sinnvolle
prozesse von der psychiatrischen Krankenstati- Bewusstseinskontexte:
on bis hin zu den Nürnberger Prozessen sowie 4 der Patient weiß über die Möglichkeit seines be-
amerikanisch-russischen Verhandlungen. vorstehenden Todes, weil es darüber vom Kran-
4 Bewusstheitskontext (context of awareness): be- kenhauspersonal in Kenntnis gesetzt wurde – der
zieht sich darauf, inwieweit Interaktionsteilneh- offene Bewusstseinskontext –
mer ihr Wissen über einen Sachverhalt offen 4 der Patient wurde vom Personal nicht über die
darlegen. Möglichkeit seines bevorstehenden Todes infor-
34 Kapitel 2 · Pflege in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

miert, ihm ist diese Möglichkeit (auch aus ande- . Tabelle 2.4. Acht Phasen der Krankheitsverlaufskurve
ren Quellen) nicht bewusst – der geschlossene (Woog, 1998, S. 13)
Bewusstseinskontext – Krankheitsphase Kennzeichen
2 4 der Patient wurde nicht über die Möglichkeit sei-
1: Vorphase der Krank- keine Anzeichen oder Sympto-
nes bevorstehenden Todes informiert, er weiß heitsverlaufskurve me einer Krankheit erkennbar
jedoch um diese Möglichkeit und macht dies
2: Beginn der Krank- erste Symptome und Anzei-
dem Personal gegenüber deutlich – der argwöh- heitsphase (Diagnose) chen einer Krankheit
nische Bewusstseinskontext –
3: Krise lebensbedrohlich
4 der Patient wurde nicht über die Möglichkeit sei-
nes bevorstehenden Todes informiert, er ist sich 4: akut Krankenhausaufenthalt wegen
akutem Krankheitszustand
dessen jedoch bewusst und verbirgt dieses Wis-
oder Komplikationen
sen gegenüber dem Personal – der Bewusstseins-
5: stabil Kontrolle durch therapeuti-
kontext der wechselseitigen Täuschung –« (Kel-
sches Programm
le, 2003, S. 8f).
6: instabil Kontrolle durch therapeuti-
sches Programm zunehmend
Die systematische Erfassung der Verlaufskurven schwieriger
chronisch Kranker wurde sowohl vor dem Hinter-
7: Verfall fortschreitende Verschlechte-
grund der Analyse der individuellen Leidenswege rung des Zustandes
und Betreuungsanforderungen der Betroffenen (Pa-
8: Sterben unmittelbar vor dem Tod
tienten und soziales Umfeld) realisiert als auch ihre
Aktivitäten, das eigene Krankheitsgeschehen zu be-
wältigen und zu kontrollieren. Die Analyse der
Krankheitsverlaufskurven – kombiniert mit den beteiligten Professionen ableiten. Das Krankheits-
professionellen Interaktionserfahrungen (und da- verlaufsmodell wird insbesondere als Referenzrah-
mit auch den Bewusstseinskontexten) – ermöglicht men für das Schnittstellenmanagement zwischen
es, die individuellen Problemkonstellationen und den beteiligten Professionen und Sektoren (Akut-
Handlungsmuster der Erkrankten zu erfassen und pflege sowie ambulante und stationäre Langzeitpfle-
dies in das professionelle Handeln mit einzube- ge) gesehen. Das Management der verschiedenen
ziehen. Das heißt auch, dass eine Betrachtung der Phasen umfasst u. a. die Aspekte der Kontrolle von
Interaktionen aus Sicht des Erkrankten und seines Symptomen und Nebenwirkungen sowie deren Ver-
sozialen Umfeldes zu anderen Perspektiven und meidung, das Zurechtkommen mit Krisen sowie
Interpretationen sozialer Prozesse führt, als eine den Umgang mit krankheitsbedingten Behinderun-
einseitige Analyse und Bewertung aus Sicht der Pro- gen. Dazu sind verschiedene Aktivitäten erforder-
fession. Der Patient wird als Experte seines Krank- lich, u. a. das Assessment inklusive dem Festlegen
heitsverlaufs gesehen. erreichbarer realistischer Ziele, der Identifizierung
Corbin und Strauss (1994) unterteilten die und Beurteilung der Faktoren die den Krankheits-
Krankheitsverlaufskurven in acht Phasen, wobei verlauf beeinflussen, der Festlegung und Durch-
jede Phase prinzipiell die Möglichkeit einer drama- führung erforderlicher Interventionen sowie der
tischen Verbesserung oder Verschlechterung in sich kontinuierlichen Evaluation der realisierten Maß-
birgt (. Tabelle 2.4). Allerdings muss der Verlauf nahmen.
einer Krankheit nicht zwangsläufig im Abwärts- Die Beschreibung der acht Phasen eines Krank-
trend erfolgen, dennoch beinhaltet eine chronische heitsverlaufs wurde Anfang der 80er/90er Jahre von
Erkrankung in den meisten Fällen den Verfall eines Schütze (1981) und Riemann, Schütze (1991) im
Menschen. Rahmen ihrer Biographieforschung aufgegriffen und
Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass weiter konkretisiert, insbesondere, »um gezielter auch
der Krankheitsverlauf bewusst gesteuert und beein- subjektive Einflussfaktoren« (Höhmann et al., 1999,
flusst werden kann. Analog der Krankheitsphasen S. 63) zu integrieren. Eine grafische Darstellung der
lassen sich auch Anforderungen an das Handeln der Verlaufskurve symbolisiert auch das Zusammenspiel
2.2 · Pflegetheorien und Pflegeverständnis
35 2

. Abb. 2.5. Vereinfachte grafische


Phase 1 Phase 8
Darstellung eines möglichen Krankheits-
verlaufs Unabhängigkeit

Abhängigkeit

Zeitdimension

zwischen Unabhängigkeit und Abhängigkeit auch im 4 Definieren Sie »Zugzwang im Interview« 7 Kap.
Kontext professioneller Unterstützung (. Abb. 2.5). 2.1.1
Die Analyse der Krankheitsverlaufskurve lie- 4 Erklären Sie folgende Aussage: »Das Fremdver-
fert somit neue Anhaltspunkte »für angemessene stehen ist Voraussetzung und Methode der Beo-
und zielgerichtete therapeutische Interventionen bachtung«! 7 Kap. 2.1.1
professioneller Helfer« (Höhmann et al., 1999, S. 62). 4 Definieren Sie, was im fachsprachlichen Kontext
Im Rahmen der Forschungsarbeit »Qualität durch unter Evaluationsforschung verstanden wird!
Kooperation – Gesundheitsdienste in der Vernet- 7 Kap. 2.1.3
zung« (Höhmann et al., 1999) wurde der Ansatz von 4 Nennen Sie mindestens 3 Kategorien aus dem
Corbin/Strauss (1994) und Riemann/Schütze (1991) Ordnungsschema von Marriner-Tomey (1989)
mit dem Ziel kombiniert, ein kooperatives Leistungs- und mindestens 1 Pflegetheoretikerin pro Kate-
und Betreuungsangebot zu realisieren. Grundannah- gorie! . Tabelle 2.3
me war, dass ein effektiver Umgang mit Chronizität 4 Nennen Sie die 3 theoretischen Ansätze in Orems
und Multimorbidität eine Zusammenarbeit aller Pflegemodell und skizzieren Sie einen Ansatz
Professionen und der Betroffenen erforderlich macht ausführlich! 7 Kap. 2.2.1
und dass darauf zu achten ist, »welche Umstände und 4 Skizzieren Sie die Phasen des Pflegeprozesses
Bewältigungsvoraussetzungen im eigentlichen Le- nach Orem anhand eines Praxisbeispiels! 7 Kap.
bensmittelpunkt der Betroffenen, dem häuslichen 2.2.1
Bereich oder Heim vorliegen« (Höhmann et al., 1999, 4 Nennen Sie die 2 theoretischen Schwerpunkte in
S. 70). Die aktive Einbindung dieser Kenntnisse kann Kings Pflegemodell! 7 Kap. 2.2.1.
somit Grundlage gelingender Copingprozesse sein 4 Skizzieren Sie die Zielerreichungstheorie anhand
und den Adaptionsprozess fördern. eines Praxisbeispiels! 7 Kap. 2.2.1
4 Skizzieren Sie die von Corbin/Strauss definier-
ten Bewusstseinskontexte, die sich aus der An-
Überprüfen Sie Ihr Wissen! nahme ergeben, dass die beteiligten Interakti-
4 Benennen Sie die unterschiedlichen Schritte der onspartner ein bestimmtes Merkmal des einen
quantitativen und der qualitativen Forschung! Partners (seinen bevorstehenden Tod) entweder
7 Kap. 2.1.1 wissen oder nicht wissen und dieses Wissen
4 Geben Sie mindestens 3 Begriffspaare methodi- entweder verschweigen können oder darüber
scher Implikationen quantitativer und qualitati- kommunizieren! 7 Kap. 2.2.3
ver Sozialforschung und deren Erläuterung an! 4 Nennen Sie mindestens 3 der 8 Krankheitsver-
. Tabelle 2.1 laufphasen und je ein Kennzeichen! . Tabel-
4 Skizzieren Sie die zentralen Aspekte der Groun- le 2.4
ded Theory! 7 Kap. 2.1.1
36 Kapitel 2 · Pflege in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

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3

3 Gesundheitsförderung in der
Psychiatrie: Konzepte und Modelle
Gerhard Huck

3.1 Gesundheit und Krankheit – 40

3.2 Grenzen der Gesundheit: einige Thesen – 44

3.3 Salutogenese: ein Modell der Gesundheitsförderung – 45


3.3.1 Gesundheits-Krankheits-Kontinuum – 45
3.3.2 Stressoren als Herausforderung – 46
3.3.3 Das Konzept der Bewältigung – 48
3.3.4 Generalisierte Widerstandsressourcen – 50
3.3.5 Kohärenzgefühl – 51
3.3.6 Das Modell im Überblick – 52

3.4 Pflegerische Möglichkeiten der Gesundheitsförderung – 54


3.4.1 Eigene Auseinandersetzung mit der Zielsetzung und den Grundgedanken
der Salutogenese – 55
3.4.2 Offene Kontaktaufnahme, Pflegeanamnese als Gesundheitsanalyse – 56
3.4.3 Förderung des Gesundheitsbewusstseins – 57
3.4.4 Ressourcenaktivierung und Bewältigungstraining – 58
3.4.5 Förderung durch Beziehungsarbeit – 60
3.4.6 Motivation zu eigenem Gesundheitshandeln – 61

Literatur – 62
40 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

) ) In Kürze 3.1 Gesundheit und Krankheit

Nicht erst seit Einführung der geänderten Berufsbe- Gesundheit ist fraglos ein hohes menschliches Gut.
zeichnung »Gesundheits- und Krankenpfleger/-in« Vermutlich kein anderer Wunsch verbindet Men-
ist die Förderung der Gesundheit für die Pflege schen gleich welcher Abstammung, welchen Alters
3 zum Thema geworden – schon bei der ersten euro- und Geschlechts mehr als der nach Gesundheit,
päischen Pflegekonferenz 1988 wurde die WHO- weil Gesundheit generell als Basis gesehen wird für
Strategie »Gesundheit für alle« aufgegriffen und Leben schlechthin, Lebenserhaltung, Lebensquali-
Gesundheitsförderung als wesentlicher Bestandteil tät, und dies auf dem Hintergrund der Erfahrung,
eines Pflegeleitbilds für die Zukunft beschrieben. dass Krankheit nicht nur ausnahmsweise, sondern
Die Berufsgruppe der Pflegenden wurde in beson- eher fortwährend unser Leben überschatten und
derem Maße als geeignet und befähigt erkannt, bedrohen kann. Solange keine krankheitsbedingten
präventiv und gesundheitsfördernd wirksam zu Einschränkungen des Lebensvollzugs auftreten,
werden. Deshalb ist auf dem Hintergrund einer bis- wird Gesundheit meist nicht direkt wahrgenom-
lang traditionell krankheitszentrierten Annäherung men. Erst wenn die Selbstverständlichkeit zu leben
an den Patienten nun verstärkt eine Auseinander- durch eine akute Erkrankung, eine plötzliche Be-
setzung mit dem Begriff der Gesundheit und dem hinderung verloren geht, wird Gesundheit bewusst
pflegerelevanten Aufgabenfeld der Gesundheits- und zum erstrebenswerten Zustand erhoben, den es
förderung vonnöten, die in diesem Kapitel angesto- möglichst rasch wieder zu erreichen gilt. »Wer ge-
ßen werden soll. Besondere Betonung finden dabei sund ist, hat tausend Wünsche, wer krank ist, nur
die subjektiv erlebbare Dimension von Gesundheit, einen, wieder gesund zu werden.« (Schmid, 2000,
ein individuell flexibles Verständnis eigener Ge- S. 142)
sundheit und persönliche Mitverantwortung für Was aber verbirgt sich hinter den Begriffen
deren Erhalt. Als inspirierendes Leitmodell wird Gesundheit und Krankheit? Menschen im Alltag
Aaron Antonovskys Salutogenese vorgestellt, in- stellen sich darunter etwas anderes vor als medi-
nerhalb dessen spezifische Gesundheitspotenziale zinische Fachleute oder Wissenschaftler – und
ermittelt und in einen systematischen Zusammen- insbesondere für mit psychischer Krankheit kon-
hang gebracht wurden. frontierte Menschen haben diese Begriffe einen
besonderen existenziellen Stellenwert: gibt es den-
noch die Chance, gesund und normal zu leben oder
Wissensinhalte bleibt nur noch chronische Krankheit als Perspek-
Nach der Lektüre dieses Kapitels kennen Sie: tive?
7 verschiedene Modellvorstellungen und Denk- Ist Gesundheit lediglich das Nichtvorhandensein
ansätze zur Relation und Konkurrenz von Ge- von Krankheit, ein objektiv fassbarer, wissenschaft-
sundheit und Krankheit lich definierter Zustand, ein »normal« funktionie-
7 Salutogenese mit ihren Teilelementen Gesund- render Organismus mit biologischen Parametern,
heits-Krankheits-Kontinuum, Stressoren- und die nicht von statistisch erstellten Normbereichen
Bewältigungstheorie, Kohärenzgefühl (SOC) abweichen? Das dahinter stehende biomedizinische
und Generalisierten Widerstandsressourcen Krankheitsmodell der wissenschaftlich-medizini-
(GRR) als bedeutsames Modell der Gesundheits- schen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts
förderung geht von einer sog. Dichotomie, Zweiteilung aus:
7 konzeptionelle Möglichkeiten einer Umsetzung entweder gesund oder krank, nicht behandlungsbe-
des Salutogeneseansatzes in der psychiatri- dürftig oder behandlungsbedürftig, wobei die Medi-
schen Pflegepraxis zin anhand vordefinierter Normen eine scheinbar
7 pflegerische Gesundheitsunterstützung als eindeutige Zuordnung trifft und den Betroffenen
gezielte Förderung von Gesundheitsbewusst- entsprechend als gesund oder krank definiert, ge-
sein und Gesundheitshandeln, Ressourcen sund- oder krankschreibt. In jüngster Zeit hat sich
und Bewältigungskompetenz jedoch gezeigt, dass sich durch gezielte Veränderung
3.1 · Gesundheit und Krankheit
41 3

von Definitionen, was (noch) normal bzw. gesund Weiterführende Denkansätze versuchen Ge-
ist, die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit sundheit und Krankheit als unabhängige Faktoren,
auf dem Hintergrund wirtschaftlicher Interessen als zwei Achsen eines Koordinatensystems, die den
willkürlich verschieben lässt, wie ein Spiegel-Artikel Menschen in einer verschiebbaren Balance zwischen
zum Thema »Die Abschaffung der Gesundheit« ein- gesunderhaltenden und krankmachenden Bedin-
drücklich aufgezeigt hat (Der Spiegel, 33/2003). gungen sehen, zu fassen (z. B. das Zwei-Faktoren-
Demzufolge ließe sich ironisch zugespitzt formulie- bzw. Balancemodell von Mark u. Lutz): »Man ist
ren: »Wer gesund ist, wurde nur noch nicht gründ- subjektiv krank oder behandlungsbedürftig, wenn
lich genug untersucht!« Das biomedizinische ist ein die Balance zwischen gesunderhaltenden und krank-
pathogenetisches Modell, das in reduktionistischer machenden Bedingungen zuungunsten von Ge-
Weise die Pathologie einer Krankheit fokussiert, u.a. sundheit verschoben ist. Man fühlt sich dann ge-
Risikofaktoren und Stressoren als Krankheitsverur- sund, wenn gesunderhaltende Bedingungen über-
sacher brandmarkt und dabei allzu oft monokausale wiegen.« (Lutz, 1995, S. 80)
Denkmuster aufweist – die Bekämpfung der einen So schwierig und unterschiedlich wissenschaft-
schädigenden Krankheitsursache durch wirksame liche Abgrenzungen zwischen Gesundheit und
Heilmittel stellt die Gesundheit, das Gleichgewicht Krankheit auch sein mögen, für Menschen im All-
(Homöostase) wieder her. tag ist meist das subjektive Empfinden entschei-
Im Laufe der Zeit wurde jedoch erkannt, dass dend: es kommt ihnen darauf an, sich gesund zu
eindimensionale Verursachungstheorien empirisch fühlen! Gesund zu sein bedeutet für sie mehr als
nicht haltbar sind. Daraus folgte das differenziertere nur keine Krankheiten zu haben. Wissenschaftliche
biopsychosoziale Modell des Psychiaters Engel (En- Interviewstudien bezüglich der Frage, welche Vor-
gel, 1979, S. 63ff), das neben biologischen auch psy- stellungen von Gesundheit in der Bevölkerung
chologische und soziale Krankheitsfaktoren berück- verschiedener Länder vorherrschen, ergaben über-
sichtigt, aber dennoch mit dem verengten Blick auf
Störungen und Risiken der pathogenetischen Sicht-
a
weise verhaftet blieb. Menschen lassen sich jedoch
nicht allein auf ihre Krankheitsfaktoren reduzieren, Gesundheit Krankheit
sondern können sich, wie unzählige Lebensläufe be-
weisen, trotz krankheitsbedingter Einschränkungen
gesund und leistungsfähig fühlen. Ein erkrankter
b
Funktionsbereich bedeutet noch nicht, dass der gan-
ze Mensch krank sein muss. Gesundheit Krankheit
Neuere Modellvorstellungen (. Abb. 3.1) versu-
chen die unangemessene Dichotomie zu überwin-
den, indem sie davon ausgehen, dass Gesundheit viele
Gesundheit
und Krankheit sich nicht gegenseitig ausschließen, gesund-
sondern als Pole eines Kontinuums gedacht werden erhaltende
können, zwischen denen sich der Mensch ständig in Faktoren
Bewegung befindet: er ist nicht entweder gesund
oder krank, sondern jeweils mehr oder weniger
gesund oder krank (z. B. das Salutogenesemodell
Krankheit
Antonovskys). Gesundheit und Krankheit lassen wenige
sich demnach nur mit fließenden Übergängen bzw.
wenige viele
einem gleichzeitigen Nebeneinander gesunder und
krankmachende
kranker Anteile denken. Begriffe wie Genesung, c Faktoren
Gesunderhaltung, Gesundheitsförderung und Ge-
sundheitspflege bekommen so eine realistischere . Abb. 3.1a–c. a Dichotomes, b Kontinuums- und c Unab-
Dimension. hängigkeitsmodell von Gesundheit und Krankheit
42 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

einstimmend 4 zentrale Dimensionen (Faltermaier, Definition


1998, S. 39):
Subjektives Kranksein bedeutet, leiden zu müs-
1. Gesundheit als Vakuum, als Abwesenheit von
sen unter Beschwerden und Schmerzen, die
Krankheit: »die Organe schweigen«, ein positi-
Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit des
ver Inhalt fehlt;
Seins verloren zu haben, zu Rückzug und Inakti-
3 2. Gesundheit als Handlungs- und Leistungsfähig-
vität gezwungen zu sein, sich vom normalen Le-
keit: die zentralen Aufgaben (z. B. Arbeit) und
ben und Lebensvollzug mehr oder weniger ab-
Rollen des Alltagslebens können erfüllt wer-
geschnitten zu fühlen.
den;
3. Gesundheit als Stärke und Energiereservoir: das
»Kapital« an körperlicher und psychischer Ener- Bestätigend wirkt in diesem Zusammenhang die
gie, Robustheit und Widerstandsfähigkeit; Etymologie der Krankheitsbegriffe verschiedener
4. Gesundheit als Wohlbefinden und harmoni- europäischer Sprachen, in denen vorwiegend ein
sches Gleichgewicht: körperliche und psychi- subjektives Erleben zum Ausdruck kommt. Das eng-
sche Stabilität, Lebensfreude und Zufriedenheit, lische »disease« bedeutet Fehlen der Leichtigkeit,
idealer Zustand des Ausgleichs zwischen per- Unbeschwertheit, das griechische »pathos« Leiden,
sönlichen Möglichkeiten und sozialen Anforde- das französische »maladie« rührt von »male habitus:
rungen. in einem schlechten Zustand befindlich« her, das
russische »boljezn« leitet sich von »bol: Schmerz« ab
Als Bestätigung dieses mehrdimensionalen Gesund- und das dänische »syg« meint ursprünglich so viel
heitsverständnisses seien hier noch die spontanen wie besorgt, beunruhigt (Zitterbarth, 1995, S. 31).
Äußerungen einer Gruppe psychiatrischer Patienten Dass medizinisch-objektiver Befund und sub-
angefügt zu der Frage, welche Merkmale von Ge- jektives Empfinden oft nicht miteinander überein-
sundheit ihnen wichtig seien: positive Einstellung stimmen, verdeutlicht jenes Beispiel, in dem ein sich
gegenüber dem Leben, Probleme meistern können, bis dahin gesund fühlender Arztbesucher die Diag-
Zufriedenheit, Wohlbefinden, sein Leben bejahen nose »Hypertonie« erhält und daraufhin medi-
können, organische Gesundheit. kamentös behandelt wird; trotz einer objektiv fest-
stellbaren Stabilisierung des körperlichen Zustands
Definition
auf medizinischer Ebene wird bei ihm plötzlich
Gesundheit als subjektive Dimension ist mehr »disease« im wörtlichen Sinne ausgelöst: er ist auf
als nur die Abwesenheit von Krankheit, bedeu- einmal Patient, fühlt sich auf Grund seiner Diagnose
tet einen positiv erlebten Zustand, persönliches besorgt und krank und verliert somit die bisherige
Wohlbefinden, Verwirklichung eigener Fähigkei- gesunde Unbeschwertheit.
ten und Potenziale, gelingende Anpassung, Teil- Gerade weil Krankheit subjektiv so negativ und
nahme am Lebensvollzug. lebensfeindlich erlebt wird, ist das aktive Bemühen
um Gesundheit heute für viele Menschen lebens-
wichtig geworden. Doch dies ist nicht erst eine neu-
Was aber bedeutet im Gegensatz dazu Krankheit? zeitliche Entwicklung. Schon in der Antike galt
Analog den Ausführungen zur Gesundheit muss Gesundheit nicht als Normalzustand, sondern als
auch hier eine Unterscheidung zwischen evtl. medi- Ergebnis rechter Lebensführung, eigener Leistung
zinisch objektivierbarer Krankheit und subjektiv er- und persönlicher Verantwortung, während krank zu
lebtem Kranksein getroffen werden. Ein Mensch sein bedeutete, durch Fehler in der Lebensführung
kann sich trotz diverser pathologischer Einzelbefun- aus dem Gleichgewicht der kosmischen Ordnung
de, die ihn medizinisch längst als krank definieren geraten zu sein. Auch bei Paracelsus im ausgehenden
würden, gesund fühlen. Entscheidend ist auch hier Mittelalter wurde Gesundheit nicht als naturhafte
die subjektiv erlebte Perspektive. Verfassung, sondern vielmehr als menschliche Mög-
lichkeit und Aufgabe betrachtet. Trotz der verblei-
benden schicksalhaften Komponente von Krankheit
3.1 · Gesundheit und Krankheit
43 3

und Gesundheit hat doch allgemein der Anteil per- eigene Leben und erfordert dazu die gezielte Aktivie-
sönlicher Mitverantwortung an der Gesundheit und rung und Entfaltung aller verfügbaren Ressourcen,
Gesunderhaltung eine lange Tradition innerhalb der um soweit möglich am normalen Leben teilnehmen
medizinischen Heilkunde. zu können.
Nichtsdestotrotz sind Gesundheit und Krank- In Anbetracht dessen, dass Gesundheit als ein
heit zwei Realitäten, die, wie es der Philosoph Wil- wesentliches Element von Lebensqualität empfun-
helm Schmid ausdrückt, der »Widerspruchsstruktur den wird, wie es selbst eine Umfrage unter schi-
des Lebens« entsprechen und ein Stück weit so na- zophrenen Heimbewohnern noch bestätigt hat
türlich sind wie menschliches Werden und Verge- (Hantikainen et al., 2001, S. 106ff), lässt sich jedoch
hen, Wachsen und Welken, Leben und Tod. Es gibt interessanterweise beobachten, dass objektive Lebens-
gar extrem weit gefasste Vorstellungen von Gesund- bedingungen allein kein verlässlicher Gradmesser
heit, die selbst die Perspektive der Vergänglichkeit für Lebensqualität und Wohlbefinden sind. Entschei-
des Lebens noch unter dem Begriff Gesundheit zu dend ist vielmehr die individuell-subjektive Ein-
fassen versuchen: »Gesundheit heißt, Tod und Le- schätzung der Lebenssituation. Da findet sich zum
ben zu kennen und als Einheit zu begreifen…« (Sar- einen das Zufriedenheitsparadox, das durch subjek-
now-Wlassack, 2002). So betrachtet ist es nicht eine tiv zufriedene Individuen trotz objektiv schlechter
Folge zunehmender Krankheit, letztendlich sterben Lebensbedingungen gekennzeichnet ist, zum an-
zu müssen, sondern natürlich. Ähnlich weit hat An- deren das Unzufriedenheitsdilemma, geprägt von
tonovsky formuliert (Antonovsky, 1997, S. 23): »Wir guten objektiven Lebensbedingungen, aber schlech-
alle sind sterblich. Ebenso sind wir alle, solange noch tem subjektivem Wohlbefinden (. Abb. 3.2). Mit an-
ein Hauch von Leben in uns ist, in einem gewissen deren Worten: Es kann Menschen auch in schwierigen
Ausmaß gesund.« Lagen gelingen, Wohlbefinden aufrecht zu erhalten,
Gesundheit und Krankheit bedingen sich aber während andere trotz objektiv guter Lebensbedin-
auch in ergänzender Weise gegenseitig: wie Wechsel gungen unzufrieden sind (Glatzer, 1992).
ein grundlegendes psychologisches Prinzip ist, Ge- Zu fragen ist, wo diese Zufriedenheit ihren
nuss und Askese notwendig zusammen gehören, Quellen hat und durch welche Umstände und per-
»variatio delectat« (die römische Maxime, dass Ab- sönlichen Voraussetzungen sie ermöglicht wird. Es
wechslung erfreut), so erhält Gesundheit ihren le- scheint nahe liegend, dass dabei u. a. eine lebens-
bensgeschichtlichen Wert erst auf dem Hintergrund
von fremden oder eigenen Krankheitserfahrungen. Lebensbedingungen
Krankheit kann positiv verstanden werden als Sig- (+)
nal, als notwendige Krise, als schützende Funktion,
um durch kreative Leistung des Organismus Selbst-
heilungskräfte zu aktivieren. Die Interpretation der Dissonanz Well-Being
Krankheit als Chance, sich weiter zu entwickeln, (Unzufriedenheits-
dilemma)
muss jedoch vorrangig dem Betroffenen vorbehal-
ten bleiben – von Außenstehenden angeboten, mag
sie eher zynisch wirken. Und nicht zuletzt kann auch (–) (+)
der Umgang mit Krankheiten auf kranke oder ge- Wohlbefinden
sunde Weise, destruktiv oder trotz allem lebensbe-
jahend, geschehen.
Deprivation Adaption
Zumindest für den, der sich in irgendeiner Wei- (Zufriedenheitsparadox)
se mit Krankheit konfrontiert sieht, insbesondere
für den psychisch belasteten Menschen, ist Gesund-
heit in subjektiver Perspektive keine Selbstverständ- (–)
lichkeit mehr, sondern ein persönliches Ringen um
Widerstandsfähigkeit und Selbstverwirklichung, ein . Abb. 3.2. Zufriedenheitsparadox und Unzufriedenheits-
aktiver Prozess der Sorge um sich selbst und das dilemma
44 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

bejahende Grundeinstellung sowie persönliche An- Not, Schmerz, Krankheit, Scheitern geben dem
passungsleistungen und individuelles Bewältigungs- menschlichen Leben Tiefgang, Einsicht, Reife
verhalten, wie sie Antonovsky in seinem Salutoge- und Weisheit. Ja selbst der lustvollste Aspekt des
nesekonzept herausgearbeitet hat, eine wesentliche Lebens, die Liebe, wird schon im Mittelalter
Rolle spielen. wesentlich mit Leid verwoben geschildert, so
3 Gesundheitsförderung im Umgang mit psy- beispielsweise in »Tristan und Isolde«: »… Leid
chisch kranken Menschen muss all diese grundle- kommt wohl ohne Lieb’ allein, Lieb’ kann nicht
genden Aspekte mit bedenken. Auf dem Hinter- ohne Leiden sein.« Leiden gehört unabänderlich
grund des oftmals chronischen Verlaufs psychischer mit zum Menschsein, auch wenn in Folge einer
Erkrankungen erscheint es wichtig, gerade die sub- falschen Gesundheitsideologie der Wahn von
jektiven Anteile der Gesundheit, persönliches Ge- einem schmerz- und leidensfreien Leben vor al-
sundheitsbewusstsein und Gesundheitshandeln, lem unter der jüngeren Generation weit verbrei-
gezielt ins Auge zu fassen und zu bearbeiten, um die tet ist, eine »Kultur der Analgetika«, wie sie be-
Betroffenen nicht dem negativen Sog stigmatisieren- reits vor 25 Jahren der polnische Philosoph Les-
der psychiatrischer Diagnosen zu überlassen, son- lek Kolakowski beschrieben hat (Kolakowski,
dern ihnen trotz ihrer Erkrankung mehr Lebensqua- 1980, S. 106ff). Ein modernes Gesundheitsver-
lität und Wohlbefinden zu ermöglichen. ständnis wird nicht durch Erfahrungen von
Schmerz und Leid aus den Angeln gehoben, son-
! Individuelles Gesundheitsbewusstsein und
dern erweist sich gerade darin als sich bewäh-
aktives Gesundheitshandeln psychisch kran-
rende Gesundheit.
ker Menschen sind zwei wichtige Aspekte der
3. Gesundheit braucht Selbstfürsorge:
Gesundheitsförderung in der Psychiatrie.
Der Philosoph Schmid bezeichnet als Gegenteil
der Gesundheit nicht die Krankheit, sondern die
Sorglosigkeit im Hinblick auf sich selbst und das
3.2 Grenzen der Gesundheit: eigene Leben, womit Nachlässigkeit und Gleich-
einige Thesen gültigkeit gegenüber der eigenen Gesundheit
gemeint sind. Umgekehrt nennt er die Sorge des
1. Gesundheit ist relativ: Selbst um sich als bedeutenden Gesundheitsfak-
Gesundheit ist kein absoluter, losgelöster Wert tor, und zwar als Sorge um den Körper und Sor-
an sich, kein Selbstzweck, sondern lediglich eine ge um die Seele, die aber nicht nur direkt, son-
günstige Grundkonstellation, um sich ungehin- dern auch auf dem Umweg über den Körper –
dert entfalten und verwirklichen zu können; wer psychosomatisch – zu pflegen ist, weil seelische
für die Gesundheit selber lebt und sich auf sie und körperliche Verfassung eng miteinander
konzentriert, steht paradoxerweise in der Ge- verbunden sind. Psychotherapie und Physiothe-
fahr, sie eben dadurch zu verlieren, indem er rapie nennt Schmid als Eigenstrategien eines im
nicht frei ist für das Leben selbst, sondern sich in ursprünglichen Sinn von therapeia gemeinten
Sorge um die eigene Gesundheit erschöpft und sorgsamen und pfleglichen Umgangs mit sich
verzehrt. Gesundheit ist nur bedeutsam in Rela- selbst (Schmid, 2000, S. 142ff).
tion, d. h. in Beziehung zu anderen Werten, für 4. Gesundheit will Beanspruchung (Dörner, 2003)
die es sich zu leben lohnt: für eine Aufgabe, eine Wenn auch herkömmlich gilt, den Kranken zu
Sinnsetzung, einen eingeschlagenen Weg, den es entlasten, um ihn schneller gesunden zu lassen,
fortzusetzen gilt. so ist die permanente Befreiung von Last und
2. Gesundheit ist ohne Leiden nicht zu haben Beschwernis nicht gesundheitsförderlich, son-
(Dörner, 2003): dern führt eher zu einem entleerten Leben. Wie
Der Wunsch nach einem Leben ohne Störun- die Muskeln des menschlichen Körpers, wenn
gen, Belastungen, Erschwernisse und Verluste sie über längere Zeit nicht gebraucht und trai-
ist ein unrealistischer, wenn nicht gar süchtiger niert werden, atrophieren, an Substanz und Kraft
Wunsch. Erst schicksalhafte Grenzerfahrungen, verlieren, so braucht auch gesundes Leben Belas-
3.3 · Salutogenese: Ein Modell der Gesundheitsförderung
45 3

tung, tragbare Last, die ihm Schwere, Gewicht ten und Krankheitsursachen hin zu Gesundheit, Ge-
und Bedeutung verleiht. Es kann also, mit der sunderhaltung und Gesundheitsförderung. Statt
bekannten Metapher Antonovskys ausgedrückt, dem abwärtsgerichteten Sog einer medizinischen
nicht darum gehen, trockenen Fußes durchs Le- Fixierung auf Krankheit, Krankheitsursachen und
ben zu gehen, sondern ein guter Schwimmer im -risiken, erzeugt das Salutogenesemodell einen kräf-
Strom des Lebens zu werden. tigen Aufwärtssog in Richtung Alltagsgesundheit.
5. Gesundheit heißt mit der Krankheit leben Statt des einseitigen Starrens auf psychopathologi-
(Dörner, 2003): sche Phänomene und der Armut fast ausschließlich
Der Heilungsglaube und -anspruch der moder- medikamentöser Therapie eröffnet sich ein erwei-
nen Medizin findet an der Realität chronischer terter Aufgabenbereich therapeutischer Bemühun-
Erkrankungen seine Grenze. Lange Zeit galten gen. Endlich eine hoffnungsvolle Perspektive auch
chronisch Kranke als eher hoffnungslose Fälle für von chronischer Krankheit Betroffene und
der Medizin, sie wurden als »unheilbar krank« gleichzeitig eine ermutigender Lichtblick für Be-
betrachtet und an den Rand der Gesellschaft handler, Mediziner, Therapeuten und Pflegende.
gedrängt. Erschreckende Konsequenz solchen Mutmachend vor allem deshalb, weil Gesundheit bei
Denkens waren die Euthanasieargumente und Antonovsky nicht als Idealzustand gesehen wird, frei
-aktivitäten der NS-Medizin. Gerade auf diesem von körperlichen, psychischen und sozialen Beein-
Hintergrund ist der Gesundheitsaspekt bei chro- trächtigungen, sondern als sich bewährende Lebens-
nisch psychisch kranken Menschen heute so qualität inmitten alltäglicher Belastungen, Risiken
wichtig und bedeutsam: auch unter den Bedin- und Herausforderungen. So wird nicht vorrangig ge-
gungen von Krankheit ein sich selbst verwirkli- fragt, wie möglichst effektiv Störfaktoren der Ge-
chendes Leben führen zu können. Deshalb kann sundheit beseitigt werden könnten, sondern, wie es
Gesundheit als flexible Anpassungsleistung be- zu erklären ist, dass Menschen trotz vielfältiger ge-
deuten, mit der Krankheit zu leben bzw. leben zu sundheitsgefährdender Einflüsse und extremer Be-
können. Ganz in diesem Sinne formuliert Nietz- lastungen sich gesund und leistungsfähig fühlen
sche »Gesundheit ist dasjenige Maß an Krank- können.
heit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentli- Antonovskys Ideen entstammen der Stress- und
chen Beschäftigungen nachzugehen.« Bewältigungsforschung. So führte ihn eine Untersu-
chung an Frauen über die Auswirkungen der Wech-
seljahre, bei der er feststellte, dass eine Gruppe
3.3 Salutogenese: Ein Modell ehemals in einem Konzentrationslager inhaftierter
der Gesundheitsförderung Frauen trotz dieser traumatischen Erlebnisse eine
relativ gute psychische Gesundheit aufwies, zu den
Seit geraumer Zeit schon geistert der Begriff der salutogenetischen Grundfragen:
»Salutogenese« durch die medizinisch-therapeuti- 4 Wie kommt es, dass eine Person trotz zahlreicher
sche Szene. Obwohl das Aufsehen erregende Kon- krankheitserzeugender Bedingungen ihre Ge-
zept des amerikanisch-israelischen Medizinsoziolo- sundheit bewahrt?
gen Aaron Antonovsky bereits seit 1979 existiert und 4 Wie entsteht oder erhält sich Gesundheit?
in zwei einflussreichen Büchern: »Health, stress and 4 Welche Einflussfaktoren fördern Gesundheit?
coping« (1979) und »Unraveling the mystery of
health« (1987) publiziert wurde, erschienen erst
1997 dessen Veröffentlichungen in deutscher Spra- 3.3.1 Gesundheits-Krankheits-
che. Seitdem jedoch ist eine zunehmende Rezeption Kontinuum
der wesentlichen Gedanken und Inhalte dieses Kon-
zepts auch im psychiatrischen Umfeld zu beobach- Gesund oder krank? Die wissenschaftliche Medizin,
ten, nicht zuletzt im Bereich der Pflege. das medizinische Versorgungssystem und insbeson-
Das überraschend Neue an Antonovskys Ansatz dere die Krankenkassen brauchen möglichst klare
ist die veränderte Blickrichtung weg von Krankhei- Unterscheidungen. Gestörte Organfunktionen und
46 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

Abweichungen messbarer somatischer Parameter schaftlichen Normen unterliegt und eine starre
von der gesetzten Norm liefern die Kriterien, nach Festlegung willkürlich wäre. Er empfiehlt vielmehr
denen Menschen medizinisch als gesund oder krank, mit seiner Kontinuumsvorstellung, sich bei der Ein-
behandlungsbedürftig oder nicht behandlungsbe- schätzung des Gesundheitszustands einer Person
dürftig einzustufen sind. Diese Auftrennung in zwei nicht in verengter Sicht nur auf krankheitsauslösen-
3 scheinbar klar unterscheidbare Gruppen von Ge- de Faktoren zu beschränken, sondern in ganzheit-
sunden und Kranken entspringt der herkömmlichen licher Weise deren Lebensgeschichte in Erfahrung
dichotomen Denkweise, die Antonovsky mit seinem zu bringen und zu betrachten, unter Berücksichti-
Konzept eines multidimensionalen Gesundheits- gung auch der gesunderhaltenden Ressourcen und
Krankheits-Kontinuums überwinden will, weil sie Widerstandskräfte, was eine wesentlich differenzier-
nicht der komplexen Lebenswirklichkeit der betrof- tere Einschätzung ermöglicht. Welche Kräfte haben
fenen Menschen entspricht. Menschen sind nicht Menschen den Stressoren, Risiken und Gefährdun-
nur krank, sondern immer auch, zumindest in Teil- gen entgegenzusetzen? Was könnte ihnen förderlich
bereichen ihres Lebens, gesund. Sie können sich sein, sich auf dem Kontinuum in Richtung Gesund-
mehr oder weniger gesund oder krank fühlen, trotz heitspol zu bewegen?
chronischer krankheitsbedingter Einschränkungen Wer meint, ein solches Kontinuumsmodell ent-
ein aktives bejahenswertes Leben führen und kranke springe eher akademischem Denken und sei z. B. für
Anteile durch gesunde Stärken kompensieren. die psychiatrische Arbeit nicht von Belang, der irrt.
Antonovsky geht von zwei Polen aus, optimaler In der Praxis hat sich gezeigt, dass Patienten ihre Er-
Gesundheit (»health-ease«) auf der einen und mini- krankung in ganz anderem Lichte sehen und bewer-
maler Gesundheit bzw. Krankheit (»dis-ease«) auf ten können, wenn Gesundheit auch bei chronischer
der anderen Seite, zwischen denen sich die Men- Erkrankung als nicht grundsätzlich verloren gilt,
schen auf einer gedachten Kontinuumslinie dyna- sondern eine kontinuierliche Annäherung möglich
misch hin und her bewegen. Gesundheit und Krank- ist. Die Krankheit einerseits akzeptieren zu lernen,
heit werden als kontinuierlicher Übergang gedacht, soweit möglich zurückzudrängen versuchen, ande-
unter Berücksichtigung der verschiedenen Dimen- rerseits aber doch auch gesund zu leben, d. h. mög-
sionen von körperlicher, psychischer und sozialer lichst selbstständig mit sich zurechtzukommen und
Gesundheit, körperlichem und psychischem Wohl- handlungsfähig zu bleiben, ist eine ermutigende,
befinden, Handlungs- und Leistungsfähigkeit, aber selbstwertfördernde Perspektive.
auch Beschwerden und medizinisch fassbaren Er-
krankungen.
Beide Pole sind als Extrempositionen nicht er- 3.3.2 Stressoren als Herausforderung
reichbar. Gesundheit als ein »Zustand vollständigen
körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefin- Antonovskys Modell entstammt, wie schon erwähnt,
dens«, wie die WHO 1946 formuliert, ist illusorisch, der Tradition der Stressforschung. Deren zentrale
wenn auch die Erwähnung der verschiedenen Ebe- Fragestellung ist die Bedeutung und Bewertung von
nen bedeutsam ist. Gesundheit dagegen als »ein Zu- Reizen, sog. Stimuli, als Stressoren, d. h. potenzielle
stand, gekennzeichnet durch relativ gute Anpas- Stressverursacher. Stressoren sind Reize, für die wir
sung, Gefühle des Wohlbefindens und die Verwirk- keine automatische Reaktion parat haben, die folg-
lichung der eigenen Potenziale und Fähigkeiten«, lich einen Spannungszustand in uns auslösen, weil
eine Definition Wolmans aus dem Jahr 1973, kommt wir nicht selbstverständlich wissen, wie wir reagie-
sowohl der individuell empfundenen Wirklich- ren sollen. Ein Stressor wird definiert als »eine von
keit als auch den aktuellen wissenschaftlichen Er- innen oder außen kommende Anforderung an den
kenntnissen der Gesundheitsforschung wesentlich Organismus, die sein Gleichgewicht stört und die
näher. zur Wiederherstellung des Gleichgewichts eine
Antonovsky selbst hat Gesundheit bewusst be- nicht-automatische und nicht unmittelbar verfügba-
grifflich nicht definiert, wohl wissend, dass Gesund- re, Energie verbrauchende Handlung erfordert«
heit stets veränderlichen kulturellen und gesell- (Antonovsky, 1979, S. 72).
3.3 · Salutogenese: Ein Modell der Gesundheitsförderung
47 3

»Stress« ist geradezu der Schlüsselbegriff für die Schicksalsschläge und Krankheit als generell schäd-
vielfältigen Belastungen des heutigen Menschen. lich an, versucht bildlich gesprochen, den Menschen
Stresserfahrungen reichen von Zeitdruck, kurzfris- aus den bedrohlichen Fluten des Flusses zu retten
tiger Überforderung, Arbeitsüberlastung, Bezie- und ihm schnell wieder festen Boden unter den Fü-
hungsproblemen bis hin zu chronischer Anspan- ßen zu verschaffen, was jedoch in den wenigsten
nung, existenziellen Krisen und traumatisch erlebten Fällen gelingt. Die Salutogenese dagegen sieht den
schicksalhaften Lebensereignissen bzw. -übergän- Menschen nicht trockenen Fußes am Ufer spazieren,
gen. Stress macht krank, sagen die einen – ohne sondern ständig mitten im wechselvollen Strom des
Stress geht es nicht, die anderen. Denn Stress ist im Lebens befindlich, aus dem es keine Rettung gibt, es
Grunde eine natürliche Reaktion des Organismus sei denn, darin ein guter Schwimmer zu werden. Sie
auf eine als Belastung oder Bedrohung empfundene will ihn trainieren und ermutigen, mit Widrigkeiten
Situation, die bei allen Lebewesen beobachtet wer- im Leben zu rechnen, sich möglichst gut dagegen zu
den kann. Der Organismus wird durch Hormon- wappnen und Widerstandskräfte zu mobilisieren.
ausschüttung in Alarmbereitschaft und in die Lage Sie will ihn dahin führen, auch mitten in der Strö-
versetzt, kurzfristig Hochleistung zu vollbringen – mung den Kopf über Wasser zu halten, d. h. ein rou-
zu kämpfen oder zu fliehen (»fight-flight-re- tinierter Schwimmer zu sein, der trotz aller Risiken
sponse«). auf das Tragende des Lebensstroms vertraut und an
Im Unterschied zur klassischen Stressforschung den gemeisterten Herausforderungen über sich hin-
sind nach dem salutogenetischen Konzept Anto- auswächst.
novskys Stress auslösende Faktoren: Fachsprachlich wird dieser gegensätzliche Denk-
1. nicht grundsätzlich gefährdend und schädlich ansatz in den Begriffen Homöostase und Heterostase
für die Gesundheit und gefasst. »Menschen bleiben nicht von selbst in einem
2. normale Herausforderungen, die im modernen (Gesundheits-)Gleichgewicht (Homöostase), das
Alltagsleben nicht die Ausnahme, sondern eher nur von gelegentlichen Störungen (Erkrankungen)
die Regel sind. Je besser Menschen damit zu- unterbrochen wird, sondern sie sind einer Flut von
rechtkommen, desto widerstandsfähiger und Stimuli ausgesetzt, die fortdauernd Anpassungs-
gesünder können sie werden. leistungen und aktive Bewältigung erfordern (Hete-
rostase). Damit sind Stressoren gleichzeitig Motor
Antonovsky unterscheidet zwischen physikalischen, für Wachstum und Weiterentwicklung.« (Franke,
biochemischen und psychosozialen Stressoren, wo- 2001)
bei letztere noch in chronische Belastungen, Stress- In den bisherigen Ausführungen ist eine sachli-
Lebensereignisse (z. B. Ablösung vom Elternhaus, che Nähe zu dem bekannten Stress-Vulnerabilitäts-
Todesfall, Scheidung, Kündigung, Karrieresprung) Bewältigungsmodell der Psychosen deutlich erkenn-
und tägliche Widrigkeiten untergliedert werden. bar: »Vor allem chronische Überforderungssituatio-
Während sich bei den ersten beiden Gruppen (schäd- nen, aber auch kritische Lebensereignisse können
liche Einflüsse durch Unfälle, Katastrophen, Waffen- bei entsprechender Vulnerabilität und eingeschränk-
gewalt, Hungersnot, Umweltnoxen, Bakterien und ten Bewältigungsmöglichkeiten eine Psychose be-
Viren) in gewissem Umfang noch eine pathogeneti- günstigen«, so der Textlaut einer neueren Informa-
sche Betrachtungsweise und Bekämpfung lohnt, ist tionsbroschüre, die dann aber in salutogenetischem
dies bei psychosozialen Stressoren, die mehr und Sinne weiter ausführt: »je besser wir mit Belastungen
mehr unseren Lebensvollzug bestimmen, allein umgehen können, umso eher bleiben wir gesund
nicht mehr möglich, denn es gibt keinen Weg, sie […] Menschen mit guten Bewältigungsmöglichkei-
gänzlich zu umgehen und zu vermeiden, sie müssen ten sind besser vor der Entwicklung einer Psychose
alltäglich bewältigt werden. Diese Sichtweise hat geschützt, die Bewältigungskompetenzen setzen die
Antonovsky anhand einer Flussmetapher anschau- Schwelle, an einer Psychose zu erkranken, herauf.«
lich verdeutlicht: (Broschüre der Früherkennungs- und Frühinterven-
Die traditionelle Medizin und Therapie sieht tionszentren der Universitätskliniken Köln und
Lebenseinflüsse wie Stresserfahrungen, Krisen, Bonn und der Arbeitsgruppe Schizophreniefor-
48 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

schung am Zentralinstitut für seelische Gesundheit jektive Wahrnehmung, welche Ressourcen bzw.
in Mannheim in Kooperation mit dem Kompetenz- Kompetenzen für die Bewältigung zur Verfügung
netz Schizophrenie: Früh erkennen Früh behan- stehen und ausgewählt werden können, woraus dann
deln.) die eigentliche spannungslösende Bewältigungs-
handlung, die praktische Umsetzung resultiert, die
3 3.3.3 Das Konzept der Bewältigung
in der Regel sowohl instrumentelle als auch emo-
tionsregulierende Elemente enthält.
Schließlich wird als tertiäre Bewertung das Er-
In Übernahme und Weiterentwicklung der bisheri- gebnis des Handlungsablaufs bewertet: War der Be-
gen Bewältigungsliteratur, insbesondere des Kon- wältigungsversuch erfolgreich, konnte die Heraus-
zepts von Lazarus, einem der einflussreichsten Stress- forderung gemeistert werden oder ist der Versuch
forscher, hat Antonovsky einen mehrgliedrigen Be- gescheitert, die Last geblieben? Aus einer positiven
wertungsprozess beschrieben, der zu skizzieren Bewertung ergibt sich ein selbstbestätigender, ge-
versucht, wie Menschen subjektiv mit Belastungen sundheitsfördernder Effekt, aus einer negativen Be-
bzw. Stressoren umgehen und diese zu bewältigen wertung dagegen ein Dis-Stress förderndes Feed-
versuchen (. Abb. 3.3). Ausgehend von einem aus- back, das, sofern es sich häufiger wiederholt, krank-
lösenden Stimulus wird eine erste grobe kognitive machend sein kann.
Unterscheidung getroffen: handelt es sich um einen Ein Bewältigungsprozess ist durch zwei Variab-
Stressor oder nicht? (primäre Bewertung I) Im Falle len geprägt: die konkrete Situation der Anforderung
einer Beurteilung als Nichtstressor erfolgt eine und die individuellen Voraussetzungen der Person.
routinemäßige Bearbeitung mit Hilfe verfügbarer Bezüglich der zweiten Variable vertritt nun Anto-
Ressourcen. Wird der Stimulus jedoch als Stressor novsky als Kernergebnis seiner Forschungen die
eingeschätzt, entsteht ein Spannungszustand mit These, dass es zwei wesentliche Faktoren gibt, die es
erhöhter psychophysiologischer Aktivität und emo- Menschen ermöglichen, erfolgreicher zu sein im
tionaler Erregung. Daran schließt sich eine eher Umgang mit Stressoren:
emotionale Bewertung an: Ist der Stressor für das 1. ein breites Repertoire an generalisierten Wider-
eigene Wohlbefinden bedrohlich, günstig oder irre- standsressourcen und
levant? (primäre Bewertung II) Wenn die Antwort 2. ein starkes Kohärenzgefühl.
günstig oder irrelevant lautet, (wobei zu bedenken
ist, dass ja auch positive Ereignisse ein starker span- Wenn sich auch Stressoren generell nicht umgehen
nungsverursachender Stimulus sein können), dann lassen, so kann die durch sie ausgelöste Spannung
geschieht schnell eine Umwertung von Stressor zu jedoch durch angemessene Bewältigung aufgeho-
Nichtstressor. Erscheint das eigene Wohlbefinden ben werden, sodass sie nicht in krankmachenden
jedoch als gefährdet, so wird im Rahmen einer pri- negativen Stress transformiert wird. Spannungsaus-
mären Bewertung III eingeschätzt, inwieweit einer- lösende Situationen werden auf Grund oben ge-
seits die Lösung instrumenteller Probleme, ande- nannter salutogenetischer Wirkfaktoren eher als
rerseits die Regulierung von Emotionen möglich ist. Herausforderung denn als Bedrohung bewertet,
Je nach Ausgangslage der betroffenen Personen wer- Probleme werden realistischer wahrgenommen und
den bei den einen zielgerichtete Emotionen, z. B. identifiziert, geeignete Ressourcen zur Problembe-
Hoffnung und Aufregung ausgelöst, die in eine wältigung mobilisiert. Wiederholt gelingende Be-
motivierte Handlungsbereitschaft münden, bei den wältigungsprozesse vergrößern das Reservoir posi-
anderen dagegen diffuse Emotionen, wie z. B. Hoff- tiver Lebenserfahrungen, haben eine bestätigende,
nungslosigkeit, Wut oder Apathie, die eine eher stärkende Wirkung und sind damit nach der Ein-
lähmende Wirkung haben und zu Abwehr oder Auf- schätzung Antonovskys bedeutsam für den Erhalt
gabe führen. und die Förderung der Gesundheit.
Im Falle eines aktiven Bewältigungsprozesses, Eine anstehende Prüfung beispielsweise könn-
der sich mit dem Stressor auseinanderzusetzen be- te ein bedeutsamer Stressor sein und für den Fall,
reit ist, erfolgt nun als sekundäre Bewertung die sub- dass geeignete Bewältigungskompetenzen fehlen,
3.3 · Salutogenese: Ein Modell der Gesundheitsförderung
49 3

Stimulus

Wahrnehmung als …
Primäre
Bewertung I: Stressor? Nichtstressor ?
(kognitiv)

Umwertung als
Nichtstressor

Primäre für das Wohlbefinden …


Bewertung II:
(emotional) bedrohlich? günstig? irrelevant?

Primäre Wahrnehmung der …


Bewertung III:
Instrumentellen Emotions-
Probleme Regulierung

Hoffnung und Hoffnungslosigkeit


Aufregung Apathie
(zielgerichtete (diffuse
Emotionen) Emotionen)

motivationale paralysierende
Handlungsbasis Wirkung

Sekundäre Wahrnehmung …
Bewertung:
Welche Ressourcen bzw. Kompetenzen sind für die
Bewältigung verfügbar?

Umsetzung:
problemlösend und
emotionsregulierend

Tertiäre Ergebnis des Handlungsablaufs …


Bewertung:
erfolgreich? nicht erfolgreich?

gesundheitsfördernd: stressfördernd:
health-ease dis-ease
Gesundheits-Krankheits-Kontinuum

. Abb. 3.3. Der Bewertungsprozess der Bewältigung

eine ernsthafte Bedrohung darstellen. Ist der Prü- fungstermins, wenn der Lernumfang nicht frist-
fungsanwärter jedoch in der Lage, sich eine sinn- gerecht zu bewältigen ist), kann die Prüfung zu
volle und praktikable Lösungsstrategie zu erarbei- einer Herausforderung werden, die gut zu meis-
ten (z. B. durch eine angemessene Vorbereitungs- tern ist. Ist die Hürde schließlich genommen, lässt
zeit, einen gut strukturierten Lernplan, gemeinsames der Erfolg ein gutes Gefühl, gewachsenes Selbst-
Lernen und Abfragen des Stoffes oder – als Kom- vertrauen und Mut zu neuen Herausforderungen
promiss – eine einstweilige Verschiebung des Prü- zurück.
50 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

3.3.4 Generalisierte Widerstands- 4 interpersonale Ressourcen (Verfügbarkeit über


ressourcen soziale Bindungen und soziale Unterstützung
durch Bezugspersonen, Eingebundenheit in sta-
Anstatt den Versuch zu unternehmen, die mannig- bile soziale Netzwerke) und
fachen Risikofaktoren genauer zu identifizieren und 4 soziokulturelle Ressourcen (kulturelle Eingebun-
3 zu systematisieren, wie es die Pathogenese tut, kon- denheit, Orientierung an religiösen Glaubens-
zentriert sich Antonovsky mehr auf die möglichen systemen oder philosophischen Überzeugun-
Potenziale, ihnen zu begegnen. Dabei legt er den gen).
Schwerpunkt auch nicht auf die Zuordnung speziel-
ler Ressourcen für spezifische Probleme, sondern Die durch das Verfügenkönnen über möglichst breit
betont deren allgemeine Bedeutung als ein möglichst gefächerte Ressourcen sich herausbildende Lebens-
breites Repertoire an Strategien, um auf die unter- erfahrung ist, dass Probleme bewältigbar sind und
schiedlichsten Herausforderungen durch Stressoren gemeistert werden können, wobei Antonovsky das
welcher Art auch immer möglichst flexibel reagieren Positive an dieser Erfahrung durch drei Aspekte cha-
zu können, wofür er die Bezeichnung »generalized rakterisiert: Konsistenz, Partizipation und Balance.
resistance resource« (GRR) verwendet. Diese Res- Konsistenz meint, zu erleben, dass bei allem situ-
sourcen haben eine gesunderhaltende Wirkung, ativen Wechsel sich gewisse Dinge und Abläufe doch
weil sie erfolgreiche Bewältigungsprozesse im All- wiederholen, miteinander vergleichbar sind und
tag und damit eine Bewegung in Richtung des Ge- sich etwas Beständiges und Vertrautes darin erken-
sundheitspols ermöglichen. Sie sind jedoch nicht nen lässt.
mit einzelnen konkreten Copingstrategien gleich- Partizipation bedeutet, selber Einfluss nehmen
zusetzen, sondern ermöglichen auf einer höheren und teilzuhaben zu können an der Gestaltung von
Ebene, das persönlich verfügbare Reservoir an Stra- Ergebnissen.
tegien bewusst wahrzunehmen, zu aktivieren je Balance schließlich bezeichnet das Erleben einer
nach Anforderung zielgerichtet einzusetzen. Vor- Ausgeglichenheit zwischen Überlastung und Unter-
handene Widerstandsressourcen wirken stärkend forderung.
und stabilisierend, schaffen positive und heilsame Der Ressourcenansatz nimmt eine Schlüsselstel-
Lebenserfahrungen, fehlende Ressourcen dagegen, lung innerhalb des Salutogenesekonzepts ein. Er
also Defizite (»generalized resistance deficit«, GRD), müsste einem ressourcenorientierten pflegerischen
werden als Stressor wahrgenommen und wirken Denken eigentlich recht vertraut vorkommen, liegt
schwächend. hierin doch ein schon lange thematisiertes, aber
Zu unterscheiden sind nach einer von Falter- auch allzu lange vernachlässigtes Potenzial der För-
maier erweiterten Systematik (Faltermaier, 1998, derung psychiatrischer Patienten im Allgemeinen
S. 25f): wie auch der Förderung ihrer Gesundheit im Beson-
4 körperliche und konstitutionelle Ressourcen (z. B. deren verborgen. Wohl auch aus diesem Grund
stabile Konstitution und Organsysteme, ein in- schreibt Antonovsky im Vorwort seines Buchs »Zur
taktes Immunsystem), Entmystifizierung der Gesundheit«: »Noch eine an-
4 materielle Ressourcen (Geld, Güter, Dienstleis- dere Gruppe hatte ich beim Schreiben dieses Buches
tungen), im Blick: Krankenschwestern, die gerade die faszi-
4 personale und psychische Ressourcen (kognitive nierenden Wirren bei der Ausformulierung einer
und emotionale Ressourcen, wie Wissen, prä- neuen beruflichen Identität durchleben, sind viel-
ventive Gesundheitseinstellungen, emotionale leicht für meine Ideen und meinen Denkansatz offe-
Stabilität oder Sensibilität, persönlichkeitsbe- ner als irgendjemand sonst …« (Antonovsky, 1997,
zogene Ressourcen, wie Intelligenz, Ich-Identi- S. 17).
tät, Kontrollüberzeugungen, Selbstvertrauen und Obwohl so manche Ressourcen obiger Aufzäh-
Selbstwertgefühl, Handlungskompetenzen, wie lung nicht jedem Menschen und schon gar nicht
das Repertoire und der flexible Einsatz von Be- dem psychisch Kranken frei verfügbar sind, sondern
wältigungsstilen, sowie soziale Kompetenzen), z. T. auch gesellschaftlich und sozial verwehrt bzw.
3.3 · Salutogenese: Ein Modell der Gesundheitsförderung
51 3

beschränkt sind, ist gleichwohl diesbezüglich das »Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Ori-
Maß des Möglichen noch lange nicht erreicht und entierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man
ausgeschöpft. Gerade im stationären Bereich werden ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dy-
leichtfertig vorhandene Fähigkeiten der Patienten namisches Gefühl des Vertrauens hat, dass
unterschätzt und bleiben ungenutzt, sodass sie bei 1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus
längerem Aufenthalt eher verkümmern als gefördert der inneren und äußeren Umgebung ergeben,
werden. Und es macht zudem einen großen Unter- strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
schied, pflegerisch lediglich isoliert einzelne Fertig- 2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um
keiten zu trainieren oder einem psychisch belasteten den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu
Menschen dabei zu unterstützen, ein grundlegend begegnen;
neues Zutrauen zu sich und seinen Möglichkeiten zu 3. diese Anforderungen Herausforderungen sind,
gewinnen, ihm die Erfahrung zu ermöglichen, dass die Anstrengung und Engagement lohnen.«
der Alltag wieder gelingt und damit sein Kohärenz- (Antonovsky, 1997, S. 36)
gefühl, wie Antonovsky es nennt, zu stabilisieren
und aufzubauen. Mit Verstehbarkeit wird die Fähigkeit bzw. Erwar-
tung eines Menschen beschrieben, trotz aller Un-
wägbarkeiten die Welt generell nicht als chaotisch,
3.3.5 Kohärenzgefühl willkürlich und zufällig, sondern als strukturiert,
vorhersehbar und erklärbar zu erleben und die unter-
! »Je häufiger eine Person die Erfahrung macht, schiedlichsten Reize in einen persönlich geprägten
dass sie Stress nicht wehrlos ausgeliefert ist – geordneten Zusammenhang einfügen zu können.
und dies wird umso wahrscheinlicher sein, je Unter Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit ver-
mehr generalisierte Widerstandsressourcen steht Antonovsky die Überzeugung eines Menschen,
ihr zur Verfügung stehen –, umso mehr bildet das nötige Rüstzeug zu besitzen, um mit Schwierig-
sich eine Überzeugung heraus, dass das Le- keiten, Problemen und Herausforderungen im Le-
ben in den individuell relevanten Bereichen ben zurechtzukommen, also die geeigneten Ressour-
sinnvoll, überschaubar und handhabbar ist. cen zur Verfügung zu haben, um sie zu bewältigen
Das Ausmaß dieser Überzeugung ist nach An- und meistern zu können.
tonovsky der entscheidende Parameter für Und Bedeutsamkeit bzw. Sinnhaftigkeit als drit-
die Platzierung auf dem Gesundheits-Krank- te Komponente des SOC beschreibt das »Ausmaß, in
heits-Kontinuum, also für ein Mehr oder Weni- dem man das Leben als emotional sinnvoll empfin-
ger an Gesundheit.« (Franke, 2001) det: dass wenigstens einige der vom Leben gestellten
Probleme und Anforderungen es wert sind, dass
Diese prägende Grundüberzeugung nennt Anto- man Energie in sie investiert, dass man sich für sie
novsky »Kohärenzgefühl« (sense of coherence SOC/ einsetzt und sich ihnen verpflichtet, dass sie eher
Kohärenz: von lat. cohaerentia: Zusammenhang). willkommene Herausforderungen sind als Lasten,
Sie ist das eigentliche Kernergebnis seiner Untersu- die man gerne los wäre.« (Antonovsky, 1997, S. 35f)
chungen, die Basisantwort zu der Fragestellung, was Ein psychoseerfahrener Mensch mit einem rela-
Menschen gesund erhält. tiv stabilen Kohärenzgefühl wird beispielsweise ei-
Kohärenz als »Gefühl« ist mehr als nur eine nen Rückfall und evtl. wieder notwendigen Kran-
emotionale Regung: es ist eine Grundhaltung, ein kenhausaufenthalt eher bewältigen und damit auch
Wahrnehmungsmuster, eine tief verankerte Über- seine Gesundheit leichter aufrechterhalten können:
zeugung, dass Schwierigkeiten im Leben zu meistern aus dem Grundvertrauen heraus, dass sich die Dinge
sind, dass die Welt zusammenhängend und sinnvoll schon wieder zum Guten wenden werden wie bei
erlebt werden kann. Innerhalb dieses Kohärenzge- früheren Erfahrungen auch, sind für ihn momenta-
fühls hat Antonovsky 3 Teilelemente zu isolieren ne Belastungen, sei es innerhalb der familiären Be-
versucht: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Be- ziehung oder durch klinikbedingte Einschränkun-
deutsamkeit. In einer Art Definition beschreibt er: gen der persönlichen Sphäre, wesentlich weniger
52 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

konfliktreich und bedrohlich. Aufgestaute Proble- »Fragebogen zur Lebensorientierung«, die sog. »SOC-
me, die zum Rückfall führten, werden mit größerer Skala«, um sein Konstrukt des Kohärenzgefühls em-
Klarheit erkannt, differenzierter bewertet und auch pirisch zu überprüfen. Er ermittelt neben der Be-
die während der Krisenzeit entstehenden Emotio- stimmung eines Kohärenzgefühlwertes als Gesamt-
nen sind eher zielgerichtet denn diffus, wirken des- punktzahl Unterwerte für die 3 Teilkomponenten
3 halb nicht lähmend, sondern motivierend für das Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsam-
erhoffte künftige Gesundheitsniveau, das es wieder keit. Dieser Fragebogen, mittlerweile in vielen Stu-
zu erreichen gilt. dien erprobt, erfüllt weitgehend die heute gültigen
Wenn nun also das Kohärenzgefühl neben den Gütekriterien der Validität und Reliabilität.
generalisierten Widerstandsressourcen als zweiter Einige generelle Detailergebnisse bezüglich die-
wesentlicher Einflussfaktor für Stressorbewältigung ser SOC-Skala seien erwähnt:
und Gesunderhaltung ausgemacht wurde, was An- 4 der Fragebogen hat sich als interkulturell ein-
tonovskys eigene Forschungen und die anderer in- setzbar gezeigt, zumindest in den Industrielän-
ternationaler Forschungsgruppen bestätigt haben, dern Westeuropas und Nordamerikas,
dann folgt daraus die entscheidende Frage, ob und 4 das ermittelte Maß des Kohärenzgefühls ist
wie stark es sich positiv beeinflussen bzw. therapeu- unabhängig vom Bildungsstand,
tisch stärken lässt. Eine besondere Relevanz des 4 die 3 Teilkonstrukte Verstehbarkeit, Handhab-
Salutogenesemodells gerade für die Gesundheitsför- barkeit und Bedeutsamkeit ließen sich faktoren-
derung innerhalb der psychiatrischen Pflege ergibt analytisch nicht sauber trennen, am ehesten ist
sich aus der Tatsache, dass zwar eine enge Beziehung von einem Generalfaktor auszugehen,
zwischen SOC und körperlicher Gesundheit ent- 4 wie schon erwähnt, zeigt sich eine hohe Korrela-
gegen der Annahme Antonovskys nicht bestätigt tion zwischen hohem SOC und psychischer Ge-
werden konnte, dafür aber der Nachweis eines signi- sundheit sowie niedrigem SOC und Angst bzw.
fikanten Zusammenhangs zwischen hohem SOC Depressivität, dagegen nicht zwischen SOC und
und psychischer Gesundheit erbracht wurde. physischer Gesundheit,
Antonovsky selber vertrat zwar die Ansicht, dass 4 bestätigt wurde ein Zusammenhang zwischen
das Kohärenzgefühl sich bis etwa zum 30. Lebens- SOC und Stresswahrnehmung bzw. der Bewer-
jahr ausbildet und danach eine überdauernde und tung von potenziellen Stressoren,
relativ stabile Lebenseinstellung bleibt; neuere Un- 4 das Kohärenzgefühl von Frauen ist allgemein
tersuchungen haben aber ergeben, dass es bis ins niedriger als das von Männern,
hohe Alter zumindest beeinflussbar bleibt – für the- 4 das Kohärenzgefühl steigt mit zunehmendem
rapeutische und auch pflegerische Interventionen Alter leicht an,
eine wichtige Voraussetzung. Es konnte beobachtet 4 das Kohärenzgefühl ist bei klinischen Gruppen
werden, dass bei Menschen mit einem schwach aus- niedriger als bei Zufallsstichproben.
geprägten Kohärenzgefühl, wozu insbesondere psy-
chisch Erkrankte zählen, sich dieses vor allem in Kri-
senzeiten weiter destabilisiert, vergleichbar einer 3.3.6 Das Modell im Überblick
Abwärtsspirale, während solche mit einem starken
Kohärenzgefühl eher gestärkt daraus hervorgehen Im Anschluss an die Skizzierung der einzelnen
und sich auf einer Spiralbewegung aufwärts befin- Faktoren des Salutogenesemodells soll deren Be-
den. Somit bestünde, selbst wenn im Erwachsenen- deutung und Zusammenspiel nochmals im Über-
alter keine wesentliche Erhöhung mehr möglich blick in Form eines Regelkreises dargestellt werden
wäre, immer noch ein wichtiger therapeutischer (. Abb. 3.4).
Auftrag darin, ein durch Krisen- und Krankheitser- Ausgehend von Antonovskys Grundannahme,
fahrungen geschwächtes und erschüttertes Kohären- dass Heterostase generell unser Leben bestimmt,
zgefühl wieder zu stabilisieren. kommt es im Interesse der Erhaltung und Verbesse-
Antonovsky hat im Verlauf seiner Forschungsar- rung der Gesundheit auf die Art und Weise des all-
beit ein eigenes Messinstrument entwickelt, den täglichen Umgangs mit Stressoren an. Diese wurden
3.3 · Salutogenese: Ein Modell der Gesundheitsförderung
53 3

. Abb. 3.4. Vereinfachte Darstellung F


des Modells der Salutogenese nach Stressoren
Antonovsky (Huck, 2004, S. 5, Bengel E
et al., 2001, S. 35ff ) Quellen von
C generalisierte G
generalisierten Spannungs-
Widerstands-
Widerstands- zustand
ressourcen
ressourcen
D
B

Lebenser- A Kohärenz-
K fahrungen gefühl (SOC)

Spannungs-
H bewältigung

I
erfolgreich erfolglos

gesund krank Stresszustand


Gesundheits-Krankheits-Kontinuum

definiert als »Herausforderungen, für die es keine entgegenzutreten, ob also eine Bedrohung besteht
unmittelbar verfügbaren oder automatisch adap- oder lediglich eine Herausforderung. Gelingt schließ-
tiven Reaktionen gibt«. Ob Reize überhaupt als lich die Problembewältigung, hat sie stärkende Wir-
Stressor wahrgenommen werden, hängt von der kung auf das Kohärenzgefühl (Pfeil H): »Indem wir
subjektiven Einschätzung, der sog. primären Bewer- einen Stressor bewältigen, lernen wir, dass das Leben
tung, des Betroffenen ab: ist der Reiz irrelevant, po- weder zerstörerisch noch sinnlos ist.« Erfolgreiche
sitiv oder stressreich? Spannungsbewältigung wirkt sich gesundheitsför-
Wie schon erwähnt unterscheidet Antonovsky dernd aus (Pfeil I), erfolglose Bewältigungsversuche
3 Typen von Stressoren: chronische Stressoren (z. B. dagegen erzeugen negativen Stress (Dis-Stress, Pfeil
andauernder Ressourcenmangel, anhaltender Ver- J), der den Gesundheitszustand in Richtung »krank«
lust, dauerhafte Depression, dauerhafte Rollenüber- verschlechtert. Eine grundsätzlich gesundheitsschä-
forderung), wichtige Lebensereignisse (z. B. Tod digende Wirkung von Stressoren lehnt Antonovsky
einer Bezugsperson, Scheidung, Kündigung, Fami- folgerichtig ab (analog dem bekannten Motto: »Was
lienerweiterung, Karrieresprung, Pensionierung) uns nicht umbringt, macht uns stark!«).
und akute tägliche Widrigkeiten (z. B. Durchfallen Eine günstige Bewegungsrichtung auf dem Ge-
bei der Führerscheinprüfung, Beleidigung durch sundheits-Krankheits-Kontinuum ermöglicht und
einen Vorgesetzten, kleinerer Unfall eines Kindes). fördert den Erwerb neuer Widerstandsressourcen
Da Stressoren also nicht mehr nur als ›reine bzw. die Stärkung der vorhandenen (Pfeil K). Die
Routine‹ empfunden werden, erzeugen sie folglich Entstehung bzw. das Vorhandensein von GRRs
einen Spannungszustand (Pfeil E). Hier zeigt sich der hängt vom jeweiligen soziokulturellen Kontext, von
Einfluss der generalisierten Widerstandsressourcen Erziehungsmustern und sozialen Rollen ab, aber
(Pfeile F und G), nämlich zu einer möglichst er- auch von persönlichen Einstellungen und vielleicht
folgreichen Spannungsbewältigung beizutragen. Im sogar zufälligen Ereignissen (Pfeil C). Diese Wider-
Rahmen einer sog. sekundären Bewertung schätzt das standsressourcen bewirken positive Lebenserfah-
Individuum ab, ob genügend Kraftreserven und Stra- rungen (Pfeil B), positiv vor allem dann, wenn sie als
tegien verfügbar sind, um dem Problem angemessen möglichst konsistent erlebt werden, eine wirksame
54 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

Einflussnahme erlauben und weder über- noch un- heitsfördernd wirken: beispielsweise die Fähigkeit,
terfordern. Solche Lebenserfahrungen prägen und ein positives Lebensgefühl und Wohlbefinden her-
formen das Kohärenzgefühl (Pfeil A). Die Stärke des zustellen, Zielgerichtetheit, Selbstaktualisierungs-
Kohärenzgefühls bestimmt, inwieweit vorhandene tendenz, Motivation zum Lernen und zur Weiterent-
Widerstandsressourcen aktiviert werden können wicklung, euthymes Erleben und Verhalten (Franke,
3 (Pfeil D), ein schwach ausgebildetes Kohärenzgefühl 2001).
dagegen verhindert den optimalen Einsatz vorhan- Antonovskys Salutogenesemodell steht mit sei-
dener Ressourcen zur Bewältigung der durch Stres- nen Inhalten nicht allein auf weiter Flur, sondern es
soren fortwährend ausgelösten Spannungszustände. gibt gedanklich verwandte wissenschaftliche Kon-
Hiermit schließt sich der Regelkreis. zepte, die in ähnliche Richtung weisen und eine
Übt ein ausgeprägtes Kohärenzgefühl positiven vergleichende Betrachtung lohnen:
Einfluss auch auf die körperliche Gesundheit aus? 4 »Gesundheitliche Kontrollüberzeugungen«
Antonovsky geht zwar insoweit mit der Stressfor- (Wallston u. Wallston, 1978),
schung konform, dass ein Übermaß an Stress eine 4 »Selbstwirksamkeitserwartung« (Bandura, 1977,
Gefährdung der Gesundheit bedeutet, jedoch ver- 1982),
ringert nach seiner Überzeugung das Kohärenz- 4 »Widerstandsfähigkeit« mit den Teilkomponen-
gefühl die Wahrscheinlichkeit, dass Spannung in be- ten »Engagement«, »Kontrolle« und »Herausfor-
lastenden Stress umgewandelt wird. Menschen mit derung« (Kobasa, 1979, 1982),
einem starken SOC profitieren von dessen Filterwir- 4 »Dispositioneller Optimismus« (Scheier u. Car-
kung und stärken dadurch, dass sie Spannungen gut ver, 1985, 1987),
verarbeiten können, auch auf physiologischer Ebene 4 »Seelische Gesundheit als Eigenschaft« (Becker,
ihren Gesundheitsstatus und ihr Immunsystem. Zu- 1992).
dem verhalten sie sich gesundheitlich angepasster,
adaptiver, versuchen frühzeitig und eigenständig,
regulative spannungsausgleichende Prozesse in 3.4 Pflegerische Möglichkeiten
Gang zu bringen (z. B. Erholung, Entspannung, kör- der Gesundheitsförderung
perliche Aktivitäten) und entscheiden sich eher für
gesundheitsförderliche Verhaltensweisen (gesunde Wie können nun all diese theoretischen Aspekte für
Ernährung, vorsorgliches Aufsuchen eines Arztes, die psychiatrische Pflege nutzbar gemacht werden?
präventive Maßnahmen, bewusste Vermeidung ge- Jedem Pflegekundigen wird sich beim Kennenler-
sundheitlicher Risiken). nen und Durcharbeiten der Salutogenesekonzeption
In dieser Hinsicht versucht z. B. Faltermaier das und seiner Hauptelemente gleich ein ganzes Bündel
Salutogenesemodell noch weiter zu akzentuieren, möglicher Handlungsansätze aufdrängen: der Auf-
indem er aufzeigt, dass »der salutogenetische Pro- bau eines dynamischen Gesundheitsbewusstseins,
zess auch unabhängig von der Bewältigung von be- das Entdecken und Betonen der gesunden Anteile
lastungsbedingten Spannungszuständen erfolgen des Patienten, die Suche nach Ressourcen und de-
kann« und es einen aktiven und bewussten Prozess ren Förderung und Entfaltung, die Stärkung eines
der Gesunderhaltung gibt, der sich aus den Kon- gesundheitsförderlichen Grundvertrauens (Kohä-
strukten Gesundheitsbewusstsein und Gesundheits- renzgefühls), die Erweiterung der Bewältigungs-
handeln zusammensetzt (Faltermaier, 1994, S. 158). kompetenzen des Patienten und der Aufbau positi-
Menschen haben auch unabhängig von Krisenbe- ven Erlebens und gesunder Verhaltensweisen (vgl.
wältigung ein persönliches Empfinden für ihre Ge- Brieskorn-Zinke, 2000, S. 373ff).
sundheit, gehen reflektiert damit um und zeigen ein Andererseits steht all dem die normative Kraft
aktives Interesse, diese zu erhalten und zu fördern. des Faktischen entgegen, wie sie im psychiatrischen
Franke hat ergänzend darauf hingewiesen, dass Alltag begegnet: Reduzierung der betroffenen psy-
nicht nur durch erfolgreiche Bewältigung das Kohä- chisch erkrankten Menschen zu bloßen »Fällen«,
renzgefühl gestärkt bzw. Gesundheit gefördert wird, eine defizitorientierte und an grobpauschalen Diag-
sondern auch gewisse Ressourcen per se gesund- nosen orientierte Sichtweise, eine frustrierte pers-
3.4 · Pflegerische Möglichkeiten der Gesundheitsförderung
55 3

Eigene Auseinandersetzung mit der


Zielsetzung und den Grundgedanken
der Salutogenese

Beziehungsarbeit, Stärkung Information,


Stressoren
und Stabilisierung eines SOC Aufklärung,
Spannung
geschwächten SOC Beratung

Trainingsmaßnahmen zur
Perspektivenerweiterung
GRRs Coping Förderung erfolgreicher
und Ressourcenaktivierung
Bewältigung

Gesundheits-Krankheits-Kontinuum

offen gestaltete Kontaktaufnahme, Förderung eines dynamischen


pflegerische Einschätzung Gesundheitsbewusstseins und
und Gesundheitsanalyse Gesundheitshandelns

. Abb. 3.5. Handlungsfelder psychiatrischer Pflege im Kontext des Salutogenesemodells (Huck, 2004, S. 7)

pektivelose Grundhaltung gegenüber »chronisch« genden Perspektivenwechsels: Werden Patienten


wiederkehrenden Patienten und deren Erkrankun- nicht mehr einseitig als »Kranke«, »Schizophrene«,
gen, ein klinisch-unnatürlicher und krankheits- »Depressive«, »Maniker«, »Zwängler« oder »Süchti-
verfestigender Umgang mit den schon genug Ge- ge« gesehen, sondern als Menschen, die sich in einer
schädigten. Zunehmender Personalmangel gilt als dynamischen Bewegung zwischen den Polen »Ge-
Killerargument gegen Vorschläge alternativen Den- sundheit« und »Krankheit« befinden, so werden sie
kens und Handelns, wo doch gerade deshalb umso damit ganzheitlicher wahrgenommen und nicht
wichtiger sein sollte, sich mit den verbliebenen mehr nur auf ihre Störungen reduziert; es interessie-
Kräften auf das Wesentliche und Notwendige zu ren dann nicht nur nebenbei, sondern zentral ihre
konzentrieren. gesundheitlichen Potenziale und Stärken sowie die
Wenn sich aus den Erkenntnissen der Salutoge- Möglichkeiten, wie diese erhalten und gefördert
nese eine wirkliche Veränderung ergeben soll, ist werden können. Egal wie groß krankheitsbedingte
folglich ein tiefgreifendes Umdenken, ein einschnei- Einschränkungen auch sein mögen, immer wird die
dender Perspektivenwechsel nötig, der in den Köp- Frage im Mittelpunkt stehen, wie und durch welche
fen der Pflegenden zu beginnen hat, sofern er sich in Unterstützungshilfen ein größtmögliches Maß an
denen der Patienten fortpflanzen soll. Gesundheit erhalten bleiben oder wiedergewonnen
In einer grafischen Übersicht soll versucht wer- werden kann.
den, wesentliche pflegerische Aufgabenfelder mit Vor der individuellen Bemühung um den einzel-
den Hauptschnittstellen des Salutogenesekonzepts nen Menschen geht es darum, für möglichst gesunde
zu verknüpfen (. Abb. 3.5). Verhältnisse im stationären Bereich zu sorgen, die
für den Gesundungsprozess der zu behandelnden
Patienten allgemein förderlich sind, der sog. Setting-
3.4.1 Eigene Auseinandersetzung mit ansatz. Ausgehend von der Grunderkenntnis, dass
der Zielsetzung und den Grund- auch psychisch Erkrankte in wesentlichen Teilen ih-
gedanken der Salutogenese rer Persönlichkeit gesund sind, wird für sie im Sinne
Antonovskys nicht vorrangig ein künstlicher stres-
Die eigene fachlich-reflektierte Auseinandersetzung sorarmer Schutzraum zu schaffen sein, sondern ein
mit der Salutogenesekonzeption ermöglicht den Umfeld mit natürlichen tagtäglichen, bewältigbaren
psychiatrisch Pflegenden die Chance eines grundle- Herausforderungen.
56 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

Der stationäre Alltag sollte unter den Aspek- 3.4.2 Offene Kontaktaufnahme,
ten »Arbeiten«, »Wohnen und Haushalten« sowie Pflegeanamnese
»Freizeit gestalten« so normal und natürlich wie als Gesundheitsanalyse
möglich gemeinsam geplant und verantwortet wer-
den und das Milieu gerade durch seine Natürlich- Bereits die Art des Erstkontakts bedeutet eine Art
3 keit therapeutisch wirksam sein. Schmid-Rüther Weichenstellung für den Patienten, ob im Verlauf
nennt einige allgemeine Grundaspekte für eine »ge- der nachfolgenden Behandlung eine Verfestigung
sunde Umwelt im Kleinen« (Schmid-Rüther, 1990, der Krankheit oder Gesundheitsförderung gesche-
S. 126ff): hen wird. »Die Art, wie ich Kontakt aufnehme, be-
4 Klarheit – Überschaubarkeit – Information, einflusst nicht nur die Qualität der therapeutischen
4 Angenehme Umgebung: Licht – Luft – Wärme Beziehung zu mir, sondern auch die Chance einer
– Farben, therapeutischen Beziehung überhaupt« (Bock, 2003,
4 Eigentum, S. 76). Wichtig ist, dem psychisch Erkrankten mög-
4 Rückzugsmöglichkeiten, lichst wenig professionell, umso mehr aber mensch-
4 Mitspracherecht, lich zu begegnen, sich nicht nur für seine Defizite
4 Anregungen, und Krankheitssymptome, sondern in ganzheitlicher
4 Berücksichtigung von Eigenheiten und Gewohn- Weise für seine Lebensgeschichte zu interessieren.
heiten, Fragen nach Beruf, Wohnsituation, Bezugspersonen,
4 geringe Fluktuation der Mitarbeiter, Hobbys, Interessen und persönlichen Stärken er-
4 strukturierter Tagesablauf – Sicherheit. möglichen dabei einen offenen und unvoreinge-
nommenen Zugang.
Wenn es Pflegenden gelingt, eine gesundheits- Eine Pflegeanamnese mit salutogenetischer Ziel-
orientierte Sichtweise in ihrem Denken zu verankern, richtung wird als Versuch charakterisiert sein, eine
als pflegerische Grundhaltung bzw. Philosophie, »Ortsbestimmung« des Patienten innerhalb des
dann wird sich daraus ein verändertes Handeln, ein Gesundheits-Krankheits-Kontinuums vorzuneh-
veränderter Umgangsstil gegenüber den ihnen an- men, in der zwar auch krankheitsbedingte Beschwer-
vertrauten Patienten ergeben, dessen positive Aus- den, Einschränkungen und Defizite beachtet und
wirkungen langfristig nicht ausbleiben werden. Wer- dokumentiert werden, aber ebenso der Gegenpol
den Patienten durch unüberlegte Routinepflege zu mit den Qualitäten »subjektives Wohlbefinden«,
ausschließlich Kranken degradiert und entspre- »Handlungs- und Leistungsfähigkeit« sowie »vor-
chend behandelt, so werden sich diese länger krank handene Ressourcen in den unterschiedlichen Le-
und minderwertig fühlen; wird ihnen dagegen in bensbereichen« eine angemessene Gewichtung fin-
gesunder, aufbauender Weise begegnet, wird dies ihr det. Leider sind bis heute viele Pflegeplanungshilfen
Selbstbewusstsein stärken und ihren Gesundungs- einseitig problemorientiert konzipiert, sodass für die
prozess beschleunigen. Erfassung von Ressourcen im wörtlichen und über-
Nicht nur die einzelne Pflegekraft, sondern mög- tragenen Sinn »wenig Platz« bleibt.
lichst das ganze Behandlungsteam sollte sich deshalb
einer salutogenen Basisphilosophie verschreiben, Praxisbox
um dadurch ein stimmiges Stationsklima und ermu- Als Arbeitsinstrument für das Anamnesege-
tigendes Arbeitsmilieu zu schaffen. Entsprechend spräch eignen sich keine umfangreichen Check-
sollte bei der personellen Teamentwicklung gezielt listen, sondern allenfalls offene Schlüsselfragen,
nach geeigneten Mitarbeitern Ausschau gehalten die den Patienten dazu motivieren, von sich und
werden, die diese Grundhaltung überzeugend ver- seinem Leben zu erzählen (sog. »narratives In-
körpern können. terview«). Unter Umständen kann auch schon in
der Anfangsphase der Einsatz des von Anto-
novsky entwickelten Fragebogens zur Lebens-
6
3.4 · Pflegerische Möglichkeiten der Gesundheitsförderung
57 3
3.4.3 Förderung des Gesundheits-
orientierung eine Hilfestellung sein, um einen bewusstseins
ersten Eindruck zu gewinnen, wie stark bzw.
schwach der Kohärenzsinn des Patienten ausge- Wenn psychiatrische Pflege mehr sein will als nur
prägt ist. Es hat sich erwiesen, dass die Beant- Krankenpflege, dann muss sie bewusst und gezielt
wortung des Fragebogens keine große Hürde Gesundheit zum Thema machen, und zwar in einer
darstellt, sondern meist als interessant und zum sehr differenzierten Weise, die den Patienten helfen
Nachdenken über sich selbst anregend empfun- kann, eine neue hoffnungsvolle Perspektive zu fin-
den wird. Gegen Ende der Behandlungsfrist den, mit ihrer Krankheit besser umgehen zu lernen
könnte dann die Befragung wiederholt werden, und dabei möglichst viel Lebensqualität zu er-
um den möglichen Effekt einer Stabilisierung halten.
bzw. Stärkung des Kohärenzgefühls zu über- Psychisch Erkrankte schwanken während einer
prüfen. akuten Krankheitsphase häufig zwischen den Extre-
men, Gesundheit entweder nur als schmerzlichen
Verlust zu empfinden oder aber sich völlig gesund zu
Ein wichtiger Aspekt, der entscheidend sein kann wähnen und dabei in gefährlicher Weise die Krank-
für die Selbsteinschätzung bezüglich Krankheit und heit zu ignorieren. Deshalb ist es eine wichtige salu-
Gesundheit eines in einer Krise befindlichen Patien- togenetische Aufgabe, Gesundheit im Einzel- und
ten, ist die »Fachsprache« der Diagnostik und Be- Gruppengespräch existenziell zu reflektieren, um
handlung, mit der ihm begegnet wird. Stigmati- anstelle eines starren ein dynamisches Gesundheits-
sierende Sprache ist unbedingt zu vermeiden! Ein bewusstsein zu entwickeln, das Anpassungsleistun-
Begriff wie beispielsweise der der »Schizophrenie«, gen (Adaption) begünstigt.
auch wenn er nur in diagnostischem Sinn gebraucht Ausgehend von der maximal defizitären Auf-
wird, ist durch seine umgangssprachliche Verwen- fassung, dass die Gesundheit gänzlich verloren sei,
dung negativ vorbelastet und wirkt deshalb erschre- ist an der sukzessiven Entwicklung eines breite-
ckend, abstempelnd und ausgrenzend, sowohl für ren Gesundheitsverständnisses zu arbeiten, das
die Betroffenen als auch deren Angehörige. Wer flexibel, dynamisch und durch positive Aspekte
kann sich noch als vollwertiger Mensch mit ge- geprägt ist. Aus eigener Erfahrung kann gesagt
sunden Fähigkeiten und Kräften fühlen, wenn er werden, dass das Modell der Salutogenese nicht
pauschal als »Schizophrener«, »Maniker« oder »Psy- nur für Fachleute, sondern gleichermaßen für Pati-
chotiker« bezeichnet wird? Hier ist in der Begeg- enten einen starken Reiz ausübt. Es eignet sich folg-
nung von Anfang an viel Sensibilität und ein verant- lich nicht allein als Metatheorie, sondern kann
wortlicher Umgang mit Begriffen nötig bei dem explizit z. B. innerhalb von Gruppenarbeit bespro-
Versuch, Krankheitsphänomene zu deuten und zu chen werden. Zur Veranschaulichung lässt sich
erklären. Antonovskys Flussmetapher heranziehen, verschie-
Darüber hinaus kommt es genauso auf die pfle- dene Gesundheitsdefinitionen und Krankheits-
gerischen Umgangsformen im stationären Alltag an, modelle können miteinander verglichen und be-
die das Selbstbild des Patienten gesundheitsfördernd wertet werden. Allein schon die mögliche Perspek-
oder krankheitsverstärkend beeinflussen können. tive, sich nicht statisch als krank, sondern als auf
Du-Anrede und Distanzlosigkeit, die Betrachtung einem Kontinuum zwischen Krankheit und Ge-
der Patienten als Fälle, deren Missbrauch zu eigenen sundheit beweglich zu empfinden, zeigt bei Patien-
Zwecken, ein von oben herab maßregelndes Verhal- ten eine erstaunlich entlastende und ermutigende
ten wie auch allzu starke Abgrenzung schaffen ein Wirkung.
krankes Milieu – offener, natürlich warmer, mensch- Faltermaier hat auf der Grundlage eigener In-
licher Umgang ohne Berührungsängste dagegen ein terviewstudien 4 idealtypische Modelle von Gesund-
ermutigendes und aufwertendes Klima. heitsvorstellungen entwickelt, wie sie bei Men-
schen im Alltag anzutreffen sind. Sie umschreiben
gleichzeitig 4 Stufen eines zunehmend dynamischen
58 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

Verständnisses von Gesundheit (Faltermaier, 1998, wicklung des persönlichen Gesundheitskonzeptes


S. 83ff): hingewirkt werden. Wichtige Erkenntnisschritte
1. Das »On-off«-Schaltermodell von Gesundheit: dabei sind, krankheitsbedingte Belastungen und
Gesundheit ist entweder vorhanden oder nicht Einschränkungen durch entlastende Prozesse (Ent-
vorhanden, sie wird schlichtweg als Abwesenheit spannung, Genuss, Hobbys, körperliche und soziale
3 von Krankheit empfunden und verschwindet au- Aktivitäten) ausgleichen zu können, sich positive
tomatisch – wie beim Umlegen eines Schalters –, Gesundheitsziele (z. B. Selbstfürsorglichkeit) zu
wenn eine Krankheit eintritt, wobei dies eher setzen, eigene Kontroll- und Beeinflussungsmög-
schicksalhaft, ohne wesentliche eigene Einfluss- lichkeiten (Rückzug, Stressbegrenzung, Kriseninter-
möglichkeiten erlebt wird. Hilfe und Heilung vention, Beistand suchen) zu nutzen sowie vorhan-
werden weitgehend von außerhalb, in der Regel dene Kraftquellen als Schutzfaktor zu erkennen und
von medizinischen Experten, erwartet. zu erweitern. Ziel all dieser Bemühungen sollte
2. Das Batteriemodell von Gesundheit: sein, dass Patienten aufgrund eines dynamischen
Gesundheit wird als begrenztes Reservoir ver- Gesundheitsbewusstseins ein positives Lebensgefühl
standen, das sich im Lauf des Lebens allmählich entwickeln und sich als Experten für die eigene
verbraucht – wie bei einer Batterie, die sich Gesundheit verstehen lernen.
durch Verbrauch der gespeicherten Energie
! Ein flexibles Gesundheitsbewusstsein schafft
entleert. Eigenes Bemühen richtet sich folglich
für durch psychische Erkrankungen belastete
darauf, in defensiver Weise schonlich mit Ge-
Menschen eine dynamische Perspektive, die
sundheit und Ressourcen umzugehen, unnötige
eigenen gesunden Anteile bewusster wahrzu-
Belastungen und Risiken zu meiden, um das vor-
nehmen, sich zumindest bedingt gesund zu
handene Gesundheitspotenzial möglichst lange
fühlen und die Notwendigkeit eigener Bemü-
zu erhalten.
hungen um Gesunderhaltung anzuerkennen.
3. Das Akkumulatormodell von Gesundheit:
Gesundheit wird nicht nur verbraucht, sondern
kann sich auch wieder regenerieren – wie bei
einem Akkumulator, der verbrauchte Energie 3.4.4 Ressourcenaktivierung
erneut aufladen kann, was durch Ausgleichspro- und Bewältigungstraining
zesse und eigene Einflussmöglichkeiten erreicht
werden kann. Durch aktive Kontrolle und eige- Ressourcenorientiertes Arbeiten wird schon lange
nes Handeln wird versucht, Gesundheit und Zeit innerhalb der psychiatrischen Pflege propagiert.
Wohlbefinden auf körperlicher, seelischer und Nichtsdestotrotz ist die Praxis laut einer Analyse von
sozialer Ebene wieder herzustellen. Wolff (Wolff, 2002, S. 300ff) überwiegend auf die
4. Das Generatormodell von Gesundheit: Defizite der Erkrankten ausgerichtet, zu wenig kom-
Gesundheit nach dieser Vorstellung kann sogar petenzorientiert und damit auch nicht präventiv
vergrößert und ausgeweitet werden – wie bei wirksam.
einem Generator, der selber Energie erzeugen Damit Ressourcen beim Patienten aktiviert wer-
kann. Ressourcen und Potenziale können durch den können, muss sich vorab der Blickwinkel der
günstige Einflüsse und aktive Bemühungen Pflegenden erweitern. Die größte Chance dazu be-
gestärkt und erweitert werden. Dieses Gesund- steht in »gemeinsamem Tun« innerhalb oder noch
heitsverständnis, so positiv dynamisch und besser außerhalb des stationären Rahmens. Es ist
selbstbestimmt es auch ist, birgt letztendlich die erstaunlich, wie natürlich, kreativ, kompetent und
Gefahr einer Überhöhung und Überschätzung stilsicher Patienten sein können: als Köche, Schau-
des Gesundheitsfaktors. spieler, Organisatoren, Künstler oder Fachkundige.
Eine pflegerische Scheuklappenperspektive lässt sich
In Anwendung dieser Modellvorstellungen, die durch solche Erfahrungen am Ehesten korrigieren.
sich in irgendeiner Form auch im Selbstkonzept der Wer bereit ist, auf Spurensuche zu gehen nach den
Patienten wiederfinden, kann auf eine Weiterent- vielleicht verschütteten, aber dennoch vorhandenen
3.4 · Pflegerische Möglichkeiten der Gesundheitsförderung
59 3

Reichtümern eines Patienten, wird ihm damit hel- 4 Körperliche Fitness und Konstitution (Robustheit,
fen, diese selber wieder eher zu akzeptieren und zu Zähigkeit) unterstützen (z. B. durch viel Luft,
reaktivieren. Licht, Bewegung, Freizeitsport, Achten auf ge-
»Ressourcen sind Merkmale einer Person oder sunde Ernährung, aber auch durch Spezialan-
ihrer Umwelt, die zu einer Aufrechterhaltung oder gebote wie therapeutische Laufgruppen (Bart-
Förderung ihres Wohlbefindens beitragen« (Roder, mann, 2003) oder Gewichtsmanagement, eine
Zorn, Pfammatter et al., 2002) und somit auch die neue dringend notwendige Trainingsform bei
Bewältigung von Stress entscheidend erleichtern. Behandlung mit Atypika!),
Deren Verfügbarkeit ist jedoch nicht nur von objek- 4 Selbstwertgefühl durch Entgegenbringen von
tiven Bedingungen abhängig, sondern auch von der echtem Interesse, Respekt, Lob und Anerken-
eigenen Einschätzung und Erwartungshaltung, sog. nung stärken, individuelle Eigenheiten und Le-
positiv bzw. negativ geprägten Kognitionen (z. B. bensgewohnheiten respektieren und auch im
»was ich mir vornehme, das gelingt mir auch« bzw. stationären Umfeld ermöglichen,
»bei mir geht immer alles schief«) und einem ent- 4 Selbstsicherheit durch spezielle Trainingsmaß-
sprechenden Selbstkonzept. nahmen (verhaltenstherapeutisches Selbstsi-
Freilich sind während einer begrenzten klini- cherheitstraining SST, Konfliktbewältigungstrai-
schen Behandlungsphase diese Ressourcen bzw. ning) und Gemeinschaftsaufgaben (Organisie-
Kraftquellen nicht beliebig veränder- oder erweiter- ren, Leiten, Vermitteln, z. B. als Patientensprecher)
bar. Aber sie lassen sich mit fachkundigem Blick und stärken,
fachkundigem Handeln zumindest besser erkennen, 4 positive Selbsterfahrung und Lebensfreude durch
aufdecken, offenlegen und vielleicht ja doch positiv euthymes Erleben, wie Entspannung, Genuss,
beeinflussen. Spaß, Hobbys, Sport und Spiel (Konzentrations-
Wie lassen sich die Ressourcen der Patienten im und Entspannungstraining, Genussgruppe, Aro-
stationären Rahmen entfalten? Auf keinen Fall da- mapflege, Schwimmen, Laufgruppe, Kegeln,
durch, dass durch überfürsorgliche Pflege unnötig Kino, Feste und Feiern), ermöglichen, auch über
Verantwortung und Mitbestimmung abgenommen gewisse »Zu-Mutungen« wie gewagte Ausflüge,
wird! Vielmehr ist größtmögliche Selbstständigkeit ausgedehnte Wanderungen oder ungewohnte
zu gewähren, Partizipation an der Behandlung, die Herausforderungen,
fordert aber nicht überfordert. Empowerment ist 4 lebenspraktische Fertigkeiten in den Bereichen
in diesem Zusammenhang das therapeutische Ziel. Selbstpflege, Wohnen, Arbeit und Freizeit mobi-
Patienten müssen bezüglich Angst, Zutrauen und lisieren und trainieren (Hausdienste auf Station,
Mut bewusst an ihre allzu eng gesteckten Grenzen Haushaltstraining, gemeinsames Kochen und
geführt werden, um für den künftigen Alltag mehr Essen, selbstständige Wäsche-, Bett- und Zim-
Spielraum zu gewinnen, z. B. zu Hause wieder die merpflege),
Rollläden zu öffnen, sich aus den eigenen vier Wän- 4 soziale Fähigkeiten, wo immer möglich, also in-
den hinaus und unters Volk zu wagen, Kontakt nerhalb Bezugspflege, Pflegegruppen (Rollen-
aufzunehmen, zu tasten, zu hören, zu sehen, sich spiel, Kommunikationstraining, Integriertes
mitzuteilen durch Sprechen oder Schreiben, zu rie- Psychologisches Therapieprogramm IPT) und
chen, zu schmecken, zu genießen. Gemeinschaftsaktivitäten herausfordern und
fördern,
! Eine zentrale Aufgabe gesundheits- bzw. res-
4 Hilfspotenziale und Unterstützungsnetzwerke,
sourcenorientierter Pflege besteht darin, den
wie z. B. Familie, Wohngruppen, Tagesstätten,
Patienten Schutzfaktoren statt Risikofaktoren
ambulante Dienste, Selbsthilfegruppen, Bera-
und Bewältigungsstrategien statt Vermeidungs-
tungsstellen, Vereine etc., ausfindig machen und
strategien aufzuzeigen und gemeinsam zu er-
vermitteln,
proben.
4 soweit möglich, den Zugang zu ökonomischen Res-
Das Spektrum möglicher pflegerischer Aufgabenfel- sourcen, wie finanziellen Beihilfen, Wohnmög-
der hierzu ist groß: lichkeiten, Arbeitsangeboten etc., erleichtern.
60 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

Praxisbox elle Lebenskrise oder längerfristige psychosoziale


Am Beispiel der Organisation und Durchfüh- Überforderung, solch kritische Lebenssituationen
rung eines Umzugs in eine neue Wohnung lässt bedeuten auch eine Bedrohung oder Schwächung
sich zum einen selbstkritisch überprüfen, ob ge- des Kohärenzgefühls. Selbst unter der Annahme
nügend eigene Fähigkeiten und Hilfspotenziale einer relativen Stabilität des Kohärenzgefühls im Er-
3 im unmittelbaren Lebensumfeld dafür vorhan- wachsenenalter hat sich in eigenen Untersuchungen
den wären, zum andern eignet es sich gut als mittels des SOC-Fragebogens erwiesen, dass akute
gedankliche Übung, um aufzuschlüsseln, wie- psychische Probleme, die einen Krankenhausauf-
viele verschiedene Bewältigungskompetenzen enthalt notwendig machen, zumindest zu einer
und Ressourcen dazu vonnöten sind: Organisa- vorübergehenden deutlichen Schwächung des Ko-
tionstalent, handwerkliches Geschick, Mut, ge- härenzgefühls führen. Dieses wieder zu stärken und
eignete Helfer zu rekrutieren, die Auswahl einer zu stabilisieren, was für den Betroffenen bedeutet,
dem finanziellen Spielraum angemessenen sein Grundvertrauen in die eigene Lebenskompetenz
Transportmöglichkeit, günstige Anschaffung wiederzugewinnen, Zutrauen zu eigenen Fähigkei-
fehlender Gegenstände über Flohmarkt, Se- ten und Ressourcen sowie Zuversicht, die aktuellen
condhand-Läden oder Suche per Zeitungsan- Schwierigkeiten meistern zu können, ist pflegethera-
nonce etc. peutisch nötig und, wie sich gezeigt hat, auch mög-
lich: bei Entlassung weisen viele Patienten einen
signifikant höheren SOC-Wert auf als zu Behand-
Gelingt es, das Repertoire persönlich verfügbarer lungsbeginn.
Ressourcen zu aktualisieren bzw. zu erweitern, so Vorzugsweise im Rahmen einer vertrauens-
steigt damit die Erfolgserwartung und Zuversicht, vollen Beziehungsgestaltung können die 3 Einzel-
mit künftigen Herausforderungen besser zurechtzu- aspekte des Kohärenzgefühls, Verstehbarkeit, Hand-
kommen und stärkt damit auch den Kohärenzsinn, habbarkeit und Bedeutsamkeit, gezielt zu stärken
insbesondere unter den Aspekten Handhabbarkeit versucht werden.
und Bewältigbarkeit. Verstehbarkeit muss gefördert werden, wenn
Patienten mit ihrem Krankheitsschicksal hadern,
z. B. beim Scheitern eines angestrebten Lebensziels,
3.4.5 Förderung durch Beziehungs- wie etwa Studium, Beruf, Karriere, wenn demzufol-
arbeit ge bezüglich Wohnung, Arbeit und Selbstständig-
keit Änderungen notwendig werden. Dennoch die
Stabile und tragende Beziehungen stellen unbestrit- Perspektive eines befriedigenden und lebenswerten
ten die bedeutsamste soziale Ressource dar. Dem- Alltags zu bewahren, ist ein mühsamer Prozess, der
entsprechend wird in der psychiatrischen Pflege Begleitung braucht. Über befürchtete Verluste und
Beziehungsgestaltung als therapeutische Grund- Ängste sprechen zu dürfen und dabei Gehör zu
aufgabe betrachtet. Als Bestätigung dienen verschie- finden kann helfen, sich allmählich doch auf die
dene Untersuchungen, in denen Pflegebedürftige veränderte Situation einzustellen.
danach gefragt wurden, was ihnen besonders wich- Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit ist an vie-
tig an der erlebten Pflege ist bzw. was sie besonders len Stellen im Alltag gefragt, z. B. um Konflikte mit
erwarten. Als das Wichtigste wurden die Art der Be- Mitbewohnern im Heim oder in der Pflegefamilie zu
ziehungsgestaltung und die Haltung, mit der die klären, um sich mit Behörden auseinanderzusetzen
Pflegenden auftreten, angesehen (Bartholomeyczik, oder um sich selbstständig im Haushalt zu versorgen.
2001, S. 284ff). Folglich muss im Kontext einer Beziehungspflege wird sich bemühen, dem Patien-
gesundheitsfördernden Pflege auch der Beziehungs- ten einerseits Zutrauen zu seinen eigenen Fähigkei-
aspekt als wirksamer Faktor mit beachtet werden. ten und Ressourcen zu vermitteln, bereits erzielte
Egal ob Konfrontation mit akutem Krankheits- Fortschritte würdigen, jedoch auch notwendige
geschehen oder eine sich chronisch entwickelnde Grenzen aufzeigen bezüglich Arbeitsfähigkeit, Be-
und verfestigende psychische Erkrankung, ob aktu- lastungen und Stress, um sich nicht zu überfordern
3.4 · Pflegerische Möglichkeiten der Gesundheitsförderung
61 3

und damit eine mögliche gesundheitliche Stabilisie- Befindens sowie Möglichkeiten einer effektiven
rung zu gefährden. Negative Kognitionen, die das Krisenintervention. Mit diesem Wissen ausgestattet,
eigene Können und Vermögen untergraben (z. B. können die Betroffenen kompetenter und selbst-
»ich bin ein Versager«), sollten zu relativieren ver- ständiger mit dem eigenen Krankheitsanteil um-
sucht werden, der Glaube an eigene Kontrollmög- gehen: frühzeitig auf Veränderungen im Alltagsbe-
lichkeiten und Selbstwirksamkeit gestärkt werden. finden achten, sich schonen, zeitweise zurückziehen,
Der Aspekt Bedeutsamkeit bzw. Sinnhaftigkeit ist bei Angehörigen und im Freundeskreis Unterstüt-
sicher am Schwersten zu beeinflussen. Wenn über- zung suchen, rechtzeitig nichtstationäre, ambulante
haupt, bietet doch eine Beziehung, in der die Pflege- Hilfen in Anspruch nehmen oder aber leichter in
kraft überzeugend und glaubwürdig als personales einen nötigen stationären Aufenthalt einwilligen.
Gegenüber erscheint, noch am ehesten die Chance Aus den Grundgedanken der Salutogenese dürf-
dazu. Pflegende müssen und können nicht auf alle te klar geworden sein, dass ein gänzliches Umge-
Schicksalserfahrungen eines Patienten passende hen von Risiken, Herausforderungen und Belastun-
Antworten parat haben, nach einem Suizidversuch gen nicht der gesundheitsförderlichste Weg ist,
etwa, dem Verlust wichtiger Menschen oder – was sondern eher ein defizitäres Gesundheitsempfinden
immer häufiger im Zuge psychiatrischer Explorati- infolge fehlender gelungener Bewältigungserfah-
on aufgedeckt wird – traumatisch erlebtem sexuellen rungen verstärkt und somit in Richtung Krank-
Missbrauch während Kindheit und Heranwachsen. heitspol führt. Antonovsky hat vielmehr nachge-
Sinn und Mut können auch nonverbal durch re- wiesen, dass das Verfügen über ausreichende Res-
spektvolle Haltung, Ehrfurcht vor den Beweggrün- sourcen, die aktive Teilhabe an der Gestaltung von
den des Patienten auch in dessen verzweifelten Ergebnissen und eine erlebte Balance zwischen Un-
Handlungen und liebevolle Zuwendung vermittelt ter- und Überforderung zu positiven Erfahrungen
werden. Leere Worthülsen dagegen können nicht führen und damit gesundheitsfördernd sind. Die
überzeugen. Damit Mut und Hoffnung übersprin- Frage lautet also nicht, wie Krankheitsrisiken ge-
gen können, ist ein hohes Kohärenzgefühl der Pfle- nerell vermieden, sondern wie psychisch kranke
genden eine notwendige Voraussetzung. Menschen trotz Risiken »sich relativer Gesundheit
erfreuen« können. Die Formulierung »relative Ge-
sundheit« intendiert, Gesundheit nicht zum obers-
3.4.6 Motivation zu eigenem ten Lebensmaßstab zu machen und nicht losgelöst
Gesundheitshandeln nur für die Gesundheit leben zu wollen. »Leben be-
deutet notwendigerweise, auch Belastungen und
Wenn Menschen mit psychischer Belastung sich Risiken einzugehen; es ist weder sinnvoll noch mög-
nicht um ihre Gesundheit kümmern, was bei Gesun- lich, alle Gefährdungen im Leben zu vermeiden.«
den noch geraume Zeit ohne negative Auswirkung (Faltermaier, 1998, S. 196)
bleiben mag, so werden sie dadurch leichtfertig Anstelle von Vermeidung kommt es also eher auf
einen Rückfall in akutes Krankheitsgeschehen ris- entsprechende entlastende und kompensierende
kieren. Dies sollte psychiatrische Pflege in ihrer Ausgleichsprozesse und die Stärkung von Ressourcen
präventiven Arbeit generell beachten und Patien- an. Ausgleichend wirken Entspannung und Aus-
ten dementsprechend vorbereiten und schulen. Auf zeiten, ausgiebiger Schlaf, gegönnter Genuss, Natur-
der Grundlage eines durch pflegerische Interven- erfahrungen, das Besuchen kultureller Veranstaltun-
tionen gewachsenen Gesundheitsbewusstseins ist gen, positive soziale Kontakte, Sexualität und soziale
begleitend Information, Aufklärung und Beratung Harmonie, kreatives Sichverwirklichen, erfüllende
über Aspekte des Krankheitsbildes und der Krank- Hobbys wie auch körperliches Ausagieren durch
heitsbewältigung, bekannt unter dem Fachbegriff Sport oder schwere körperliche Tätigkeiten.
Psychoedukation, notwendig. Zu vermitteln sind Wird in der Beratung von Patienten einseitig
krankheitsbedingte Einschränkungen, Risikofakto- die notwendige Vermeidung von Risiken betont, so
ren, Umgang mit Belastungen und Stress, Früh- wird dies von den Betroffenen wahrscheinlich ten-
warnzeichen einer Veränderung des allgemeinen denziell negativ, als ein Verlust an Lebensqualität,
62 Kapitel 3 · Gesundheitsförderung in der Psychiatrie: Konzepte und Modelle

erlebt werden und somit wenig Aussicht auf Erfolg 4 Welche zwei Einflussfaktoren sind nach Anto-
haben. Faltermaier hat in Interviews mit Alltags- novsky wesentlich für einen erfolgreichen Um-
bevölkerung herausgefunden, dass mit der Aufgabe gang mit Stressoren? 7 Kap. 3.3.3
eines Risikoverhaltens für viele gleichzeitig Momen- 4 Welche drei Teilaspekte werden innerhalb der
te des Genießens und der Lebenslust verschwinden. Definition des Kohärenzgefühls beschrieben?
3 Verzicht und Selbstbeherrschung allein schaffen 7 Kap. 3.3.5
kein positives Lebensgefühl und sind nicht per se ge- 4 Welche Bedeutung haben subjektives Gesund-
sundheitsförderlich. Im Gegenteil: sich Ausnahmen heitsbewusstsein und Gesundheitshandeln für
zu gestatten durch Spaß, Genuss, Freuen, Feiern, Menschen mit psychischen Erkrankungen?
Schwelgen und ein Stück Ekstase haben eine wesent- 7 Kap. 3.4.3 u. Kap. 3.4.6
liche gesundheitliche Funktion. Ab und zu einmal 4 In welchen Bereichen können Pflegende konkret
Alkohol zu trinken, ausgelassen einen langen Abend Gesundheit fördern? 7 Kap. 3.4.4
mit Freunden zu verbringen, ohne vorher ermüden-
de Medikamente geschluckt zu haben, eine Reise zu Literatur
wagen, sich etwas Verrücktes zu erlauben oder Antonovsky A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der
etwas Luxuriöses zu gönnen, wird für nicht wenige Gesundheit. Deutsche Herausgabe von Alexa Franke.
Betroffene äußerst reizvoll sein, auch wenn evtl. aus dgvt-Verlag, Tübingen
gesundheitlichen Gründen davon abgeraten wird. Antonovsky A (1979) Health, stress and coping. Jossey-Bass,
London
Diese Überlegungen beruhen auf dem Modell eines Bartholomeyczik S (2001) Professionelle Kompetenz in der
Gesundheitshandelns als Bemühen um ein gelunge- Pflege. Teil I. In: Pflege Aktuell 5
nes individuelles Gleichgewicht, eine anzustrebende Bartmann U (2003) Laufen und Joggen für die Psyche. Ein
Balance zwischen Kontrolle und Loslassen, Belas- Weg zur seelischen Ausgeglichenheit. dgvt-Verlag, Tübin-
tung und Entlastung, Verzicht und Genuss, Anspan- gen
Bengel J, Strittmacher R, Willmann H (2001) Was erhält Men-
nung und Entspannung.
schen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese.
! Gesundheitshandeln gestaltet sich als aktiver Diskussionsstand und Stellenwert. Bundeszentrale für ge-
sundheitliche Aufklärung, Köln
Prozess eines fürsorglichen Umgangs mit
Bock Th (2003) Basiswissen Umgang mit psychotischen Patien-
sich selbst und der eigenen Gesundheit. Auf ten. Psychiatrie Verlag, Bonn
Grund eines möglichst umfangreichen Wis- Brieskorn-Zinke M (2000) Die pflegerische Relevanz der Grund-
sens und im Vertrauen auf die Wirksamkeit gedanken des Salutogenese-Konzepts. In: Pflege 13
eigenen Handelns werden im Interesse kör- Dörner K (2003) Die Gesundheitsfalle. Econ, München
Engel GL (1979) Die Notwendigkeit eines neuen medizinischen
perlichen und psychischen Wohlbefindens
Modells: eine Herausforderung der Biomedizin. In: Keupp
krankheitspräventive Maßnahmen ergriffen, H (Hrsg) Normalität und Abweichung. Urban & Schwarzen-
Selbsthilfepotenziale genutzt, Ausgleich und berg, München
Kompensation für unvermeidliche Belastun- Faltermaier T (1994) Gesundheitsbewusstsein und Gesund-
gen geschaffen und frühzeitig Hilfe von heitshandeln. Über den Umgang mit Gesundheit im All-
außen in Anspruch genommen. tag. Beltz, Weinheim
Faltermaier T, Kühnlein I, Burda-Viering M (1998) Gesundheit im
Alltag. Juventa, Weinheim
Überprüfen Sie Ihr Wissen! Franke A (2001) Ressourcen im Ansatz der Salutogenese. Vor-
trag beim Workshop »Grundfragen ressourcenorientierter
4 Was verstehen Menschen im Alltag unter Ge-
Rehabilitation. Ressourcenmanagement und Lebensquali-
sundheit, welches sind die zentralen Vorstellun- tät«, Universität Dortmund, 29.–31.10.2001, Internetpubli-
gen? 7 Kap. 3.1 kation
4 Was versteht man unter dem sog. Zufrieden- Früherkennungs- und Frühinterventionszentren der Universi-
heitsparadox bzw. Unzufriedenheitsdilemma? tätskliniken Köln und Bonn und der Arbeitsgruppe Schizo-
phrenieforschung am Zentralinstitut für seelische Ge-
7 Kap. 3.1
sundheit in Mannheim in Kooperation mit dem Kompe-
4 Worin unterscheidet sich Antonovsky in der Be- tenznetz Schizophrenie (Hrsg): Früh erkennen Früh
wertung von Stressoren zur klassischen Stress- behandeln. Neue Chancen für Menschen mit erhöhtem
forschung? 7 Kap. 3.3.2 Psychoserisiko
Literatur
63 3

Glatzer W (1992) Lebensqualität und subjektives Wohlbefinden


– Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. In:
Bellebaum A (Hrsg) Glück und Zufriedenheit. Opladen
Hantikainen V, Koller K, Grywa D, Niemi J, Välimäki M (2001) Die
Lebensqualität von schizophreniekranken Menschen in
Wohnheimen: Einschätzen von Individuen. In: Pflege 14
Huck G (2004) Krankheit bekämpfen oder Gesundheit aktivie-
ren? Die Bedeutung der Salutogenese für die psychiatri-
sche Pflege. In: Psych Pflege Heute 10
Kolakowski L (1980) Der Mythos in der Kultur der Analgetika. In:
Kolakowski L: Leben trotz Geschichte. Deutscher Taschen-
buch Verlag, München
Lutz R (1995) Gesundheit und Krankheit. Antworten der Allge-
meinen Psychologie. In: Lutz R, Mark N (Hrsg) Wie gesund
sind Kranke? Verlag für Angewandte Psychologie, Göttin-
gen
Roder V, Zorn P, Pfammatter M et al (2002) Praxishandbuch
zur verhaltenstherapeutischen Behandlung schizophren
Erkrankter. Hans Huber, Bern
Sarnow-Wlassack G (2002) Salutogenese und Kohärenzgefühl.
Vortrag für die Therapietage am 03.05.2002 in Eckernförde,
Internetpublikation
Schmid W (2000) Schönes Leben? Einführung in die Lebens-
kunst. Suhrkamp, Frankfurt aM
Schmid-Rüther I (1990) Gesunde Beziehungen – gesundes
Milieu: der Beitrag psychiatrischer Pflege zu diesen Zielen.
In: Schädle-Deininger H (Hrsg) Pflege, Pflege-Not, Pflege-
Not-Stand
Wolff S (2002) Wie nehmen Pflegende in der Psychiatrie ihre
Patienten wahr? Kompetenzorientierte psychiatrische
Pflege. In: Psych Pflege Heute 8
Zitterbarth W (1995) Gesundheit als gesellschaftliche Konstruk-
tion. In: Lutz R, Mark N (Hrsg) Wie gesund sind Kranke?
Verlag für Angewandte Psychologie, Göttingen
4

4 Die Rolle der Pflegenden


in der Psychiatrie
Martin Meyer

4.1 Berufsrolle und persönliche Entwicklung – 66


4.1.1 Rollendefinition und Erwartung – 67
4.1.2 Rollenidentifikation und Distanz – 70
4.1.3 Rollenkonflikte – 73
4.1.4 Selbstbild und Fremdbild – 75
4.1.5 Identität und Selbstbild – 76
4.1.6 Fremdbild – 76
4.1.7 Selbstbild und Fremdbild: Übereinstimmung und Differenz – 77

4.2 Helfersyndrom und Helferproblematik – 77


4.2.1 Burn-out-Syndrom (Ursachen, Folgen und Bewältigung) – 78

4.3 Interdisziplinär und multiprofessionell: Pflege im Team – 80


4.3.1 Rollen im Pflegeteam – 80
4.3.2 Arbeit im Team – 80
4.3.3 Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen – 81
4.3.4 Therapeutische Gruppen – 83

Literatur – 84
66 Kapitel 4 · Die Rolle der Pflegenden in der Psychiatrie

) ) In Kürze 4.1 Berufsrolle und persönliche


Entwicklung
Was für eine Rolle spielen Pflegende in der Psychia-
trie eigentlich? Was erwartet man von Pflege in Um der Berufsrolle des in der Psychiatrie pflegenden
einem Arbeitsfeld, in dem die Grenzen zwischen Menschen auf die Spur zu kommen, muss zunächst
den verschiedenen Berufsgruppen häufig unklar einmal der Begriff »Rolle« geklärt werden. Im sozio-
scheinen? Die Zeit der ausschließlich Dienenden, logischen Sinne bedeutet »Rolle«, dass an das Ver-
auf ärztliche Zuarbeit begrenzte Rolle scheint all- halten und das äußere Erscheinungsbild eines In-
4 mählich vorüberzugehen. Dies bringt neben Hoff- habers einer bestimmten Position eine Reihe von
nung auch sehr viel Verwirrung mit sich. Eine Reihe Erwartungen und Ansprüchen durch eine Gruppe
von Faktoren, nicht zuletzt knapper werdende oder die gesamte Gesellschaft bestehen. Eine Rolle
finanzielle Ressourcen, behindern den Entwick- wird überwiegend von außen bestimmt. Eine Inter-
lungsprozess. Und dennoch, der Berufsstand der pretation durch den Rolleninhaber kann nur sehr
Krankenpflege befindet sich im Umbruch. Es bildet begrenzt erfolgen.
sich eine Identität heraus, die den Umwälzungen Verschiedene Merkmale zeichnen Rollen aus:
des Gesundheitswesens Rechnung trägt, selber 4 Die Bindung erfolgt nicht an die Person, sondern
aber auch vollkommen neue Strukturen schaffen an die sozialen Positionen. Das bedeutet, dass
wird. der Inhaber einer bestimmten Position grund-
Die Auseinandersetzung mit menschlichem sätzlich auswechselbar ist, die Erwartungen an
Leid, aber auch den speziellen Problemen der Be- den Träger der Rolle jedoch bestehen bleiben.
ziehungsgestaltung mit psychisch Kranken ist für 4 Besonders in Institutionen sind Rollen immer an
Pflegende in besonderer Weise bedeutungsvoll. Die Ziele und Aufgaben gebunden.
durch die Rolle bedingte einzigartige Nähe zum Pa- 4 Rollen sind immer im Kontext des gesamten Sys-
tienten lässt Pflegende oft schmerzhaft die eigenen tems zu sehen.
Grenzen erfahren. Der Umgang damit – der eigene, 4 Rollen beziehen sich aufeinander (z. B. Pflege-
aber auch der des jeweiligen Systems, in dem sich dienstleiter – Stationsleiter).
psychiatrisch Pflegende bewegen – hat unmittelba-
ren Einfluss auf die persönliche Entwicklung. Dies In Roys Adaptionsmodell werden Rollen als primär,
wiederum hat Auswirkungen auf das Gesamte. sekundär oder tertiär klassifiziert (Fawcett, 1998):
Denn die Entwicklung des Individuums hat immer 4 Die primäre Rolle bestimmt das menschliche
auch Einfluss auf die Entwicklung des gesamten Verhalten im jeweiligen Lebensabschnitt und
Systems. richtet sich nach Alter, Geschlecht und Reife.
4 Sekundäre Rollen werden von der Person über-
nommen, um die durch die primäre Rolle vor-
Wissensinhalte gegebenen Aufgaben zu erfüllen. Sekundäre
Nach der Lektüre dieses Kapitels kennen Sie: Rollen hängen – im Gegensatz zur primären
7 eine Definition der psychiatrischen Pflege Rolle – in der Regel mit erworbenen Positionen
7 Rollen, die Pflegende gegenüber Patienten ein- zusammen und erfordern eine spezifische Aus-
nehmen gestaltung.
7 verschiedene Aspekte der Identifikation mit der 4 Tertiäre Rollen leiten sich vor allem von den se-
Berufsrolle von Pflegenden kundären Rollen ab. Sie spezifizieren, wie das
7 die Probleme des Helfersyndroms sowie die Ursa- jeweilige Individuum seinen Rollenverpflich-
chen, Folgen und Möglichkeiten der Bewältigung tungen nachkommt. Sie sind normalerweise
des Burn-out-Syndroms zeitlich begrenzt und frei gewählt, betreffen z. B.
7 die Wirkkräfte, die in multiprofessionellen psy- Mitgliedschaften in Parteien und Vereinen.
chiatrischen Teams auftreten
7 die Rolle, die Pflegende in der interdisziplinären Roy ordnet Rollen zwei verschiedene Komponenten
Zusammenarbeit spielen zu. Die Instrumentelle und die Expressive. Erstere
4.1 · Berufsrolle und persönliche Entwicklung
67 4

wird auch als zielgerichtete Komponente beschrie- 4 die Planung, Gewährleistung, Dokumentation
ben. Sie bezieht sich darauf, ein Rollenverhalten zu und Auswertung einer individuellen und umfas-
demonstrieren, das den gesellschaftlichen Erwar- senden Pflege,
tungen entspricht. 4 die Zusammenarbeit mit dem Pflegebedürfti-
Die expressive Komponente betrifft die Gefühle, gen, seinen Angehörigen und anderen Berufs-
Meinungen, Neigungen oder Aversionen, die das je- gruppen,
weilige Individuum einer bestimmten Rolle bzw. der 4 Sterbenden am Lebensende beizustehen und ein
Ausgestaltung dieser Rolle entgegenbringt (Fawcett, würdiges Sterben zu ermöglichen,
1998). 4 Mitwirkung an der Aus-, Fort- und Weiterbil-
dung des eigenen Nachwuchses,
4 Entwicklung und Verbesserung von Pflegeme-
4.1.1 Rollendefinition und Erwartung thoden.

! Werden alle Aspekte der unterschiedlichen Psychiatrischer Pflege liegt ein mehrdimensionales
Verständnisweisen psychischer Krankheit Krankheitskonzept zu Grunde. Der Mensch wird als
miteinbezogen, stellt die psychiatrische Pfle- eine Einheit von Körper, Seele und sozialem Umfeld
ge ein faszinierendes, aber auch weites Feld verstanden. Die psychiatrische Pflege integriert As-
vielfältiger menschlicher Bezüge dar, in de- pekte der somatischen Medizin mit dem Selbst-
nen individuell Körperliches und Seelisches verständnis der körperbezogenen Allgemeinpflege
sowie Soziales für das Verständnis des Men- sowie Aspekte der Sozialwissenschaften, der Sozial-
schen integriert werden kann (vgl. von arbeit und der Pädagogik (. Abb. 4.1). Zugleich wer-
Klitzing, 1995). den aber auch psychotherapeutische oder tiefen-
psychologische Ansätze in das pflegerische Handeln
In der Definition des Deutsche Berufsverbandes integriert. Psychiatrische Pflege orientiert sich an
für Krankenpflege (DBfK) hat Pflege die Aufgaben: den Bedürfnissen von Patienten. Dabei nimmt die
4 die körperlichen, geistigen, seelischen und so- Herstellung einer tragfähigen Beziehung einen zen-
zialen Bedürfnisse des Patienten zu erkennen tralen Stellenwert ein.
und zu beurteilen, Die meisten psychischen Erkrankungen werden
4 die Betreuung, Beratung, Versorgung und Be- durch ihre sozialen oder medizinischen Folgeer-
gleitung des pflegebedürftigen Menschen zu scheinungen deutlich. Hilfe wird in der Regel dann
übernehmen, in Anspruch genommen bzw. veranlasst, wenn die

. Abb. 4.1. Ansätze psychiatrischer Pflege

• psychotherapeutische Caritas
Verfahrensansätze
• Tiefenpsychologie
• systemische Ansätze

psychiatrische
Pflege

• Sozialwissen-
Schulmedizin schaften
• Sozialarbeit
• Pädagogik
68 Kapitel 4 · Die Rolle der Pflegenden in der Psychiatrie

Krankheitsfolgen dazu geführt haben, dass der Aufgaben der Pflege


psychisch Kranke wesentliche Einschränkungen 4 Gestaltung des Milieus,
bei der Bewältigung der alltäglichen Anforderun- 4 Beziehungsgestaltung,
gen an das Leben erfährt und die Fähigkeiten, sein 4 Installierung, Begleitung und Leitung von Grup-
Leben mit einer größtmöglichen Unabhängigkeit zu pen,
gestalten, verloren hat. Den Pflegenden kommt da- 4 Krisenbegleitung und -bewältigung,
bei eine Schlüsselposition zu. Der Zugang des Arz- 4 Entlassungsplanung,
tes und der anderer Berufsgruppen zum Patienten 4 Tages- und Wochenstrukturierung,
4 vollzieht sich in erster Linie über die Krankheits- 4 Patientenbeobachtung,
symptomatik. Die Beziehungsgestaltung zwischen 4 Sicherstellung der Medikamenteneinnahme und
Pflegenden und Patienten findet auf allen Ebenen anderer therapeutischer Maßnahmen,
der Lebensbewältigung statt (Schädle-Deininger, 4 Begleitung des Patienten über die Gesamtheit
1997). des Krankheitsprozesses,
Pflege befasst sich weniger mit der Krankheits- 4 Angehörigenarbeit; Einbeziehung des sozialen
symptomatik. Dafür jedoch umso mehr mit den Umfelds des Patienten,
Auswirkungen der Erkrankungen auf die Fähigkei- 4 Anwendung des Pflegeprozesses,
ten des Patienten, sein Leben zu gestalten. Die 4 Gestaltung der Strukturen einer Pflege- und Be-
Wahrnehmung des Menschen berücksichtigt seine handlungseinheit sowie Gewährleistung eines
individuellen, physischen, psychischen, sozialen, kontinuierlichen Informationsflusses zwischen
kulturellen und geistigen Bedürfnisse. Die Haupt- allen am Prozess beteiligten Berufsgruppen,
aufgaben der Pflege sind es, den ihr anvertrauten 4 Dokumentation und Steuerung der Dokumenta-
Menschen in seinem Anpassungsprozess zu be- tionsqualität im interprofessionellen Sinn.
gleiten und zu unterstützen, in einem psychischen,
physischen und sozialen Gleichgewicht zu bleiben Ambulante psychiatrische Pflege
bzw. die Fähigkeiten zu fördern, bleibende Ein- Davon abweichend definiert sich die ambulante psy-
schränkungen zu kompensieren. chiatrische Pflege über die oben aufgeführten pflege-
rischen Aufgaben hinaus als eine aufsuchende Tätig-
! »Ohne Pflege der Beziehung, der Umwelt, der
keit. Sie sieht sich vornehmlich als Verbindungsglied
Wohnung, der Wäsche, des Körpers, der Zäh-
zwischen Beratungsstellen, Kliniken, Rehabilitati-
ne, der Seele kommt ein Mensch nicht aus. Da
onseinrichtungen, Ärzten, Therapeuten und dem
man vor allem die Pflege der Seele nicht gut
Sozialpsychiatrischen Dienst etc. Ihre Aufgabe ist
lernt, und immer eines auch Ausdruck des an-
die Vermeidung bzw. Verringerung der Klinikauf-
deren ist, ist die Wahrnehmung der Pflege
enthalte und damit eine Verhinderung der Hospita-
überall unerlässlich. Das können und das tun
lisierung. Die Unterstützung bei der praktischen
Angehörige anderer Berufsgruppen nicht.«
Bewältigung des Alltags erfolgt im gewohnten Le-
(Dörner u. Plog, 1989)
bensumfeld des Patienten. Grundlegendes Ziel der
Das Hauptmerkmal psychischer Erkrankungen ist ambulanten psychiatrischen Pflege ist die Förderung
eine Störung der Fähigkeit, Beziehung zu gestalten. von Integration in die Umgebung und die Verhinde-
Dies hat zur Folge, dass viele psychisch erkrankte rung von Chronifizierung (vgl. BAPP, 2003).
Menschen in großer Isolation leben. Menschliche
Nähe gehört jedoch zu den lebensnotwendigen Psychodynamische Pflege
Grundbedürfnissen. Eine Veränderung der psychi- Nach Hildegard Peplau ist Pflege ein bedeutsamer,
schen Problematik und eine Reifung der Persönlich- therapeutisch wirkender und wirksamer zwischen-
keit gelingen nur im Austausch und der Auseinan- menschlicher Prozess. Dieser geht mit anderen
dersetzung mit anderen Menschen. Der Pflege des menschlichen Entwicklungen einher, die dem Ein-
Beziehungsprozesses kommt daher eine zentrale zelnen ein normales Leben in der Gemeinschaft
Bedeutung zu. Sie stellt die Basis der psychiatrischen ermöglichen (. Abb. 4.2). Die Pflege ist eine reifeför-
Pflege dar. dernde Kraft, die darauf ausgerichtet ist, die Ent-
4.1 · Berufsrolle und persönliche Entwicklung
69 4

. Abb. 4.2. Rollen in der pflegerischen


Beziehung (nach Peplau) Fremde bedingungsloser Beraterin Erwachsene
Mutterersatz Person als
Pflege- Ressource
kraft Führungsperson
Ersatzperson

Patient Fremder Kleinkind Kind Jugendlicher Erwachsener

Phasen Orientierung Identifikation


in der Nutzung
Beziehung Ablösung

Phasen und Rollen in der pflegerischen Beziehung nach Peplau

wicklung der Persönlichkeit auf ein kreatives, pro- Mitunter dient jedoch auch das gesamte Team
duktives Leben als Individuum und in der Gemein- der Pflegenden gleichermaßen als Projektionsflä-
schaft zu fördern. In diesem Prozess können der che. Zum Beispiel in der Funktion der Eltern. Mit
Pflege entsprechende Rolle zugeordnet werden der Übernahme dieser Rolle werden auch die ent-
(Schädle-Deininger u. Villinger 1996). sprechenden Konflikte übernommen. Der Patient
In der Rolle des Fremden wird dem Patient die initiiert Auseinandersetzungen, die er mit seinen
Gelegenheit gegeben, seinen Möglichkeiten entspre- Eltern zu führen hätte. Dies zeigt sich im stationä-
chend Kontakt aufzunehmen. ren Alltag oft an verschiedenen Dingen. So könnte
In der Rolle des Ansprechpartners wird der Pa- einem rebellischen Verhalten – Auflehnung gegen
tient durch die Phase der Unsicherheit und Neuorien- die Stationsregeln, Verweigerung der Medikamen-
tierung geleitet. Der Patient erhält Informationen, die teneinnahme, latent aggressive Haltung – ein solcher
für den Aufenthalt in der Einrichtung oder für sein Konflikt zugrunde liegen. Für die Pflegeperson ist es
Leben in häuslicher Umgebung notwendig sind. wichtig, frühzeitig zu erkennen, welche Rolle ihr zu-
Dazu ergänzt sich die Rolle des Beraters, der über geschoben wurde, um daraus entsprechende Inter-
gesundheitsförderndes bzw. Krankheitssymptome ventionsmöglichkeiten zu entwickeln.
verstärkendes Verhalten aufklärt. Die Beratung be- Aus der Verantwortung der Pflege für die Auf-
inhaltet sowohl eine verbale Dimension als auch eine rechterhaltung von notwendigen Strukturen, er-
emotionale. Sie bezieht sich sowohl auf die Sach- wächst noch eine weitere Folge von Rollen.
information als auch auf die Gefühlsebene des Pa- In der Rolle des Wärters befinden sich Pflegende,
tienten. wenn es notwendig ist, die sichere Verwahrung von
Die Rolle des Gegners entsteht immer dann, wenn Patienten, die gegen ihren eigenen Willen unterge-
sich die Interessen und Ziele des Patienten nicht mit bracht sind, zu garantieren. Hierzu gehört in der Re-
denen der Pflege decken. Dies geschieht fast immer gel auch die Rolle des Aufpassers und Gewährleisters.
bei einer Behandlung gegen den Willen des Patien- Eine Rolle, die Pflegende bekleiden, wenn z. B. die
ten. Entsteht jedoch auch aus den Störungsbildern Einnahme von Medikamenten sicher gestellt sein
heraus. Insbesondere dann, wenn unbewusste Kon- muss oder wenn selbst- oder fremdschädigendes
flikte auf Pflegende übertragen werden. Verhalten verhindert werden soll.
In der Rolle des Stellvertreters übernimmt eine Die Rolle des Vollstreckers wird bei der Durch-
Pflegeperson die Rolle einer Bezugsperson aus der führung von Zwangsmaßnahmen eingenommen.
Biographie des Patienten. Dieses Rollenbild ist geprägt
durch Übertragung und Gegenübertragung. Wichtig Erwartungen
ist es, sich bewusst zu machen, dass es sich um eine An jede Rolle sind Erwartungen geknüpft, wie die
»Stellvertretung« und nicht um eine »Übernahme« Rolle gelebt werden soll. Sowohl der Rolleninhaber,
handelt (vgl. Schädle-Deininger u. Villinger, 1996). als auch die mit der Rolle verbundenen Beteiligten
70 Kapitel 4 · Die Rolle der Pflegenden in der Psychiatrie

haben Erwartungen. Die Rollenerwartungen be- andere Vorstellungen haben als eine Pflegekraft, die
stimmen, was ein Rollenträger wann und mit wem soeben ihre Fachpflegeausbildung und damit eine
zu tun hat. Die gebündelten Erwartungen beein- Spezialisierung in ihrem Berufsfeld absolvierte. Die
flussen also in ihrer Gesamtheit die Rollendefiniti- Erwartungen an die Auskleidung der Rolle differiert
on. Nicht alle Erwartungen haben das gleiche Ge- insbesondere bei unterschiedlichen Auffassungen
wicht: von psychiatrischer Versorgung.
4 Muss-Erwartungen: werden diese nicht erfüllt,
ergeben sich daraus meist klare Sanktionen,
4 4 Soll-Erwartungen: hier ist ein großes Konflikt- 4.1.2 Rollenidentifikation und Distanz
potenzial, wenn die Erwartungen nicht überein-
stimmen, Rollenidentifikation bedeutet, die Bindung an eine
4 Kann-Erwartungen erlauben einen gewissen Rolle durch Verinnerlichung der Rollenerwartun-
Spielraum. gen. Dabei entsprechen sich die vorgeschriebenen
Verhaltensnormen und die eigene Bedürfnislage.
Klaffen Rollenerwartungen und die Rollengestal- Ein Schaubild soll dies verdeutlichen (. Abb. 4.3).
tung auseinander, ergeben sich ein Rollenkonflikt Der Identifikation mit der Berufsrolle liegen
und vom Rollenverhalten enttäuschte Bezugsperso- 4 Hauptelemente zugrunde (vgl. Veenstra, 2002):
nen (vgl. Wiesendanger, 2004). 1. Die Berufsbezeichnung und die damit verbun-
Die Erwartungshaltung von Ärzten wird deut- dene Ideologie: Es besteht die Möglichkeit, die
lich, wenn man sich die Reaktionen auf die Neuori- Berufsbezeichnung anzunehmen oder abzuleh-
entierung und die Bedürfnisse nach Kompetenz- nen. So steht z. B. die Bezeichnung Kranken-
erweiterung der Pflege vergegenwärtigt. An erster schwester noch für ein Berufsbild, das dem
Stelle steht die Sorge, dass der Pflegekraft Ressour- 19. Jahrhundert entstammt. Krankenpflege wur-
cen fehlen, um ärztlichen Anordnungen noch im de nicht als Beruf gesehen. Sie galt, wie die Haus-
ausreichenden Maß nachzukommen. Dahinter steht arbeit, deren Verrichtung neben der Mutter auch
eine sehr reduzierte Vorstellung von Pflege, die sich der Schwester als Mitglied eines Familienverban-
auf eine Grundversorgung des Patienten beschränkt des obliegt, als Liebestätigkeit. Mit der Entwick-
und ansonsten ihre Aufgabe in der Umsetzung lung und Neuorientierung des beruflichen
ärztlich angeordneter Maßnahmen sieht; also ihrer Selbstverständnisses von Pflege veränderte sich
ursprünglichen Bezeichnung des »Heilhilfsberufes«, auch die Annahme der alten Berufsbezeichnung
ärztlicher orientiert, Rechnung trägt. Eine umfas- (vgl. Bögemann-Großheim, 2004).
sende Pflegeplanung wird als Zeitaufwand empfun- 2. Die Bindung an die Aufgabe: Die Aufgabe kann
den, der sinnvollerweise für ärztliche Wünsche oder als ein enges, sehr spezielles Feld gesehen wer-
spezielle Pflege genutzt werden kann (vgl. Veenstra, den oder auch sehr weit gefächert. So herrschen
2002). in der psychiatrischen Pflege, je nach berufli-
Die Erwartungen anderer Berufsgruppen, Ange- cher und privater Sozialisation, sehr unter-
höriger aber auch Pflegender selber sind, dass Pflege
über sämtliche Informationen verfügt und diese
jederzeit abrufbar bereitstellt. Das Aufrechterhalten Person System
Rolle
der Organisationsstrukturen wird unbedingt erwar-
tet. Hierfür scheint keine andere Berufsgruppe bereit Visionen Visionen
zu stehen. Interessen Interessen
Ziele Ziele
Innerhalb der psychiatrischen Pflege herrschen,
Fähigkeiten Aufgaben
je nach beruflicher und privater Sozialisation, sehr Ressourcen Rollen
unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen an persönliche Absprachen
die Aufgaben. Eine langjährige Pflegekraft, die den Potenziale Ressourcen
überwiegenden Teil ihres Berufslebens in somati-
schen Einrichtungen verbrachte, wird vollkommen . Abb. 4.3. Rollenerwartung – Rolleneinnahme
4.1 · Berufsrolle und persönliche Entwicklung
71 4

schiedliche Vorstellungen und Erwartungen an Persönlichkeitsmerkmale, Bewältigungsstile und die


die Aufgabe. damit verbundenen Ressourcen.
3. Das Interesse an bestimmten Organisationen Externe Aspekte haben ebenfalls einen wesentli-
oder Positionen innerhalb der Organisation: Für chen Einfluss. So ist das gesellschaftliche Bild vom
manche Berufe existiert nur eine geringe Anzahl Beruf der Krankenpflege momentan in einer enor-
von Organisationen oder beruflichen Positio- men Veränderung begriffen.
nen, in denen die Angehörigen des Berufes ar- Bisher gelten in der Konsumgesellschaft Alter,
beiten können. Andere Berufe bieten dagegen chronische Krankheit oder Behinderung als unbe-
eine Vielzahl von Möglichkeiten. liebte Themen. Die Medien berichten eher über
4. Die Bedeutung der eigenen Position in der Ge- Fortschritte in der Medizin als über Rückschritte der
sellschaft: Dies kann sozialen Aufstieg, Abstieg Pflege, selbst wenn die letzteren mehr Lebensquali-
oder Beibehaltung des sozialen Status bedeuten tät bedrohen als die ersteren sie jemals fördern kön-
(vgl. Veenstra, 2002). nen. Für neuere und modernere Tumorforschungs-
zentren, die Herzchirurgie usw. ist es immer noch
Jedes Tätigsein besitzt unterschiedliche psychosozi- leichter, öffentliche Gelder zu bekommen, als für
ale Funktionen. Diese werden beschrieben als: eine intensivere Pflegeforschung und einer damit
4 Aktivität und Kompetenz: Die Erfahrung im Um- verbundenen besseren Qualifizierung von Pflege-
gang mit einer Arbeit führt zum Gefühl der kräften (Schmidbauer, 1999).
Handlungskompetenz, die eine wichtige Kom- In der westlichen Hemisphäre findet momen-
ponente für unsere Handlungsmotivation ist. tan ein enormer demographischer Wandel statt. Die
4 Zeitstrukturierung: Die Arbeit strukturiert unse- Gesellschaft beginnt zu »überaltern«. Im Gesund-
ren Tages-, Wochen- und Jahresablauf. Auch heitswesen hat dies einen Prozess in Gang gesetzt,
Konzepte, wie z. B. Freizeit und Urlaub sind de- der am Ende eine völlige Neustrukturierung zur
finierbar in ihrem Bezug zur Arbeit. Folge haben wird. Sichtbar wird, dass die Möglich-
4 Kooperation und Kontakt: Die meisten berufli- keiten der Medizin, die Fähigkeiten Krankheiten zu
chen Aufgaben können nur in Zusammenarbeit heilen, mehr und mehr an ihre Grenzen stoßen. Es
mit anderen Menschen ausgeführt werden. Die- wird auf absehbare Zeit keine überzeugenden thera-
se ist eine wichtige Grundlage kooperativer peutischen Konzepte für Menschen mit Demenzer-
Fähigkeiten und ermöglicht den Beschäftigten in krankungen, chronischen oder degenerativen Lei-
einem sozialen Umfeld zu leben. den geben. Demgegenüber gewinnt die Aufgabe
4 Soziale Anerkennung: Durch die eigene Leistung und Rolle der Pflege an Bedeutung. Die Anforde-
sowie durch die Kooperation mit anderen er- rungen der Pflege sind schon lange nicht mehr auf
fährt der Tätige soziale Anerkennung, die das eine dienende Zuarbeit für die Medizin begrenzt.
Gefühl vermittelt, einen nützlichen Beitrag für Die Zunahme von chronischen, multimorbiden
die Gesellschaft zu leisten. Krankheitszuständen und von Pflegebedürftigkeit
4 Persönliche Identität: Die Berufsrolle, die Arbeits- sowie die Abnahme familiärer Pflegekapazitäten,
aufgabe sowie die Erfahrung, die notwendigen haben einen wachsenden Bedarf an pflegefachli-
Kenntnisse und Fähigkeiten zur Beherrschung chen Leistungen zur Folge. Dem Pflegebereich er-
der Arbeit zu besitzen, bilden eine wesentliche wächst ein eigenständiges Arbeitsfeld. So gilt es z. B.
Grundlage für die Entwicklung von Identität und Pflegekonzepte zu entwickeln, die ein menschen-
Selbstwertgefühl. Wir sind »jemand« durch Ar- würdiges Leben in bedingter Gesundheit ermögli-
beit. chen, die Fähigkeiten der Kompensierung von Ein-
schränkungen zu fördern etc. Die Ansprüche an
Persönliche Variablen bilden einen entscheidenden die pflegerische Versorgung und der sektorale Be-
Einfluss auf die Auseinandersetzung mit der jewei- deutungswandel im Gesundheitssystem zusammen
ligen Funktion. Diese sind Alter, Geschlecht, Sozial- mit pflegewissenschaftlichen Innovationen führen
status, Familienstand und Familiengröße, subjektive zu neuen Anforderungen in diesem Berufsfeld. Mit
Bedeutung der Tätigkeit, individuelle Einstellungen, der neuen Berufsbezeichnung »Gesundheits- und
72 Kapitel 4 · Die Rolle der Pflegenden in der Psychiatrie

Krankenpfleger/-in« wird diesem Wandel Rech- psychiatrisch Pflegende einnehmen, werden selten
nung getragen. wahrgenommen, die Beziehungsgestaltung findet
Mit den sich verändernden Anforderungen an zumeist unreflektiert statt. Hinzu kommt, dass viele
die Berufsrolle »Gesundheits- und Krankenpfleger/- Pflegenden sich nach wie vor in der Rolle des ärztli-
in« wachsen zugleich auch die Anforderung an die chen Erfüllungsgehilfen sehen. Auch wenn dies sel-
Person, die sich dazu entschlossen hat, diese Rolle ten offen zur Sprache kommt und häufig abgewehrt
anzunehmen und auszufüllen. Im Sinne einer zu- wird, so sind die alten Muster im Bewusstsein den-
nehmenden Konturierung des Rollenbildes muss noch tief verankert und stehen einer Identifikation
4 sich jeder Einzelne diesen Anforderungen stellen. mit der Berufsrolle im Wege.
Gefordert wird eine Entwicklung bzw. Ausdifferen- Die berufliche Identität ist aber eine wesentliche
zierung der beruflichen Identität, die sich bisher Grundlage für die Entwicklung von Selbstwertgefühl
hinter der Identität und Macht der Mediziner verste- und persönlicher Identität. Die soziale Anerkennung
cken musste. Dies wird umso deutlicher, wenn man erwächst über das Tun. Je mehr Identifikation mit
bisher medizinische Institutionen genau beobach- dem beruflichen Handeln besteht und je mehr erfah-
tete. W. Schmidbauer fühlt sich in seinem Buch ren wird, dass die Arbeit eine positive Auswirkung
»Helfen als Beruf« daran erinnert, dass die ersten auf den sozialen Status und das Selbstwertgefühl hat,
Einrichtungen, in denen Kranke in öffentlichem desto mehr wächst die Bereitschaft, die für dieses
Auftrag gepflegt wurden, militärische Lazarette wa- Tun notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln und zu
ren; auch die Pflegeorden standen im Mittelalter den erweitern.
militärischen Ritterorden nahe. Im Sinne einer mili-
tärischen Doktrin, in der es notwendig erscheint, Rollendistanz
persönliche Gefühle und Wünsche zu verdrängen Mit Rollendistanz wird die Fähigkeit bezeichnet,
und zu verleugnen, wurde bisher auch vom Pflege- Normen oder Rollenerwartungen wahrzunehmen,
personal in aller Regel erwartet, zu funktionieren, sie zu interpretieren und mit ihnen reflektierend
ohne Ansprüche zu stellen. Es erschien nicht not- so umzugehen, dass die eigenen Bedürfnisse in die
wendig, Befehle zu verstehen oder gar in einem Di- Interaktion eingebracht werden können. Das heißt,
alog ein solches Verständnis zu erarbeiten. Durch dass in bestimmten Situationen die Notwendigkeit
die Konstitution einer dem Pflegepersonal prinzipi- besteht, Abstand zu seinem Handeln einzunehmen.
ell überlegenen und im einzelnen nicht erklärungs- Der Handelnde weiß, dass er innerhalb eines Sozial-
bedürftig erscheinenden medizinischen Autorität gefüges eine Rolle einnimmt; er denkt über seine
fühlte sich die Schwester oft gerade aus dem Kern, Rolle nach.
dem eigentlich Wesentlichen der Interaktion mit der In der Pflegeinteraktion sind viele strukturellen
sie befasst war, ausgeschlossen (Schmidbauer, 1999). Barrieren vorhanden, die es für Pflegende notwen-
Mit dem Bestreben einer zunehmenden Konturie- dig machen, ausreichend Rollendistanz zu wahren,
rung des Rollenbildes der Gesundheits- und Kran- um die professionelle Handlungsautonomie zu
kenpflege jedoch verändert sich die Position der die- erhalten aber auch um der Bedrohung des individu-
se Rolle auskleidenden Person. Die Veränderung ellen Gleichgewichts und damit einer Gefährdung
findet allerdings sehr schleichend statt, sodass – zu- des gesamten Individuums zu begegnen.
mindest an der Basis – die Identifikation mit der In der modernen Psychiatrie sind die Ansprü-
Profession Pflege unverändert schwierig erscheint. che, die Pflegende an sich selber stellen, zum Teil
Berufliche Identifikation ist an die Versprachlichung sehr gestiegen. Es werden viele therapeutische Idea-
des eigenen Tätigkeitsfeldes geknüpft (vgl. Wettreck, le mit der Zielsetzung übernommen, eine intensive
2001). Den meisten Pflegenden fällt es jedoch sehr und vertrauensvolle Beziehung zum Patienten auf-
schwer, den eigentlichen Arbeitsauftrag zu formulie- zubauen. Gefordert ist, sich in der alltäglichen Ar-
ren, also zu beschreiben, was Pflege denn nun eigent- beit auf die Patienten einzulassen und sie besser zu
lich ist. Pflegen oder helfen kann doch eigentlich je- verstehen. Eine Folge ist, vieles von dem Leid und
der. Pflege geschieht aus dem Bauch heraus. Das ei- den bedrohlichen Erlebnissen des Patienten auf sich
gene Handeln wird kaum hinterfragt. Die Rollen, die zu nehmen. Pflegende müssen diesen Anspruch er-
4.1 · Berufsrolle und persönliche Entwicklung
73 4

füllen, ohne dass sie ähnliche Schutzmöglichkeiten ist eine Distanz von der Rolle notwendig, um die ei-
wie andere Berufsgruppen haben (von Klitzing, genen psychischen Funktionen aufrechtzuerhalten
1995). Durch die kontinuierliche Betreuung im All- und damit die Psychose als psychischer Zerfall nicht
tag und das permanente Zusammensein bestehen in einem selbst Raum ergreift (von Klitzing, 1995).
wenige Möglichkeiten des Rückzugs. Dies macht die
Einnahme einer Distanz zwingend notwendig. Zu-
gleich wird hier aber auch die Schwierigkeit deut- 4.1.3 Rollenkonflikte
lich, sich bewusst von der zugeschriebenen Rolle zu
distanzieren. Die bewusste Einnahme von Distanz Ein Rollenkonflikt liegt dann vor, wenn sich die Er-
ist notwendig, um z. B. Übertragungsphänomene wartungen an den Rolleninhaber widersprechen
wahrzunehmen. Pflegende sind gerade durch ihre oder nicht miteinander vereinbar scheinen. Man
andauernde Präsenz sehr viel häufiger Situationen kann zwischen verschiedenen Rollenkonflikten un-
ausgesetzt, in denen Patienten ihre innerpsychischen terscheiden.
Themen abarbeiten. Pflegende bieten sich als Pro-
jektionsfläche im besonderen Maße an. Psychia- Interrollenkonflikt
trisch Pflegende dienen als Übertragungsobjekt für Personen bekleiden in einer Gesellschaft immer
Neuinszenierungen unbewusster Wünsche mehr als gleichzeitig mehrere Rollen oder soziale Positionen.
andere Berufsgruppen. Dies erklärt sich aus der Manchmal stehen die Erwartungen an die unter-
ständigen Präsenz mit der Begleitung nahezu aller schiedlichen Rollen im Widerspruch zueinander.
Alltagsbereiche des Patienten. Mehr jedoch aus der Aufgrund von Unvereinbarkeiten zwischen den ver-
Rolle, Beziehungen zu gestalten, einen möglichst schiedenen Rollen kommt es zu Konfliktsituationen.
menschlichen Umgang zu gewährleisten, gleichzei- Häufig entstehen diese Konflikte durch die Kollision
tig aber Kontroll- und Überwachungsfunktionen zwischen der Berufsrolle und der Rolle als Familien-
wahrzunehmen und für die Aufrechterhaltung der mitglied oder Ehepartner.
Strukturen verantwortlich zu sein.
Die besonderen Belastungen im Umgang mit
bestimmten Patienten machen eine Rollendistanz Kasuistik
zwingend erforderlich. Die Konfrontation mit psy- Eine Pflegende hat einen Ausflug mit ihrem
chischer Krankheit und Leid sowie der Umgang mit Ehemann geplant, wird aber aufgrund eines
psychiatrischen Patienten ist an sich schon eine see- Personalausfalls kurzfristig aus ihrem Frei geru-
lisch sehr belastende Tätigkeit. So stellt die Aufgabe, fen. Die Erwartung der Station steht im Wider-
eine Beziehung zu Menschen mit schweren Bezie- spruch zu den Erwartungen des Ehemannes.
hungsstörungen herzustellen, eine grenzwertige He-
rausforderung dar. Das beständige Austarieren von
Nähe und Distanz über einen Zeitraum von 24 Stun- Interrollenkonflikte können auch durch widerspre-
den ohne ausreichende Möglichkeiten des Rückzugs chende Erwartungen an die eigene Geschlechtlich-
und der inneren Einkehr erfordert sehr viel Disziplin. keit entstehen. So erleben männliche Pflegende
Besonders deutlich wird dies im Umgang mit Psy- einen Konflikt zwischen den sich widerstreitenden
chotikern. In dem außerordentlich dichten pflegeri- Erwartungen einerseits an ihre Rolle als Mann in der
schen Umgang gibt es wenige Schutzmöglichkeiten. Gesellschaft, teilen aber zugleich mit den Kolle-
Pflegende müssen sich in diesem Falle auf die eigene ginnen die Erwartungen an den Frauenberuf Kran-
psychische Stabilität berufen, um sich vom psychoti- kenpflege.
schen Erleben der Patienten abzugrenzen. Die Gren-
ze zwischen »normal« und »psychisch krank« ist oft Intrarollenkonflikte
fließend. Die enge Konfrontation mit psychotischen Damit sind Konflikte gemeint, die durch wider-
Patienten und deren Erleben rührt an die eigenen sprüchliche Erwartungen an eine bestimmte Rolle
psychotischen Kerne, die jeder Mensch teilweise auch entstehen. Sie können auf unterschiedliche Art zu
in sich trägt. Dies löst Angst aus. Zum eigenen Schutz Konflikten führen.
74 Kapitel 4 · Die Rolle der Pflegenden in der Psychiatrie

Der Konflikt besteht in diesem Falle darin, auf der


Kasuistik einen Seite berechtigten Ansprüchen der Patienten
Ein akut erkrankter Psychotiker stellt durch nicht gerecht zu werden und das eigene Bedürfnis
seinen Wahn eine unmittelbare Gefahr für sich nach qualitativer, hoch wertzuschätzender Arbeit
selber und andere dar. Die Pflegenden erleben nicht befriedigen zu können, auf der anderen Seite
ihn mitsamt seinen sich widersprechenden, zer- aber den Erwartung des Systems zu entsprechen
fahrenen und unglücklichen Gefühlen, aber und die Grundversorgungsstrukturen aufrechtzuer-
auch mit seinem Bedürfnis nach Geborgenheit halten.
4 und Schutz. Zugleich stehen sie aber einem Feh-
len jeglicher Krankheitseinsicht gegenüber. Der Rollenambiguität
Patient lehnt jegliche Medikamenteneinnahme Rollenambiguität (Ambiguität: Zweideutigkeit, Dop-
ab. Das Bedrohungspotenzial ist aber inzwi- pelsinn) liegt vor, wenn die Ausfüllung der Arbeits-
schen so hoch, dass mithilfe einer Zwangsmaß- rolle nicht erfolgen kann, weil die notwendigen In-
nahme interveniert werden muss. Der Patient formationen zur Durchführung der Tätigkeit nicht
wird fixiert und zwangsmediziert. vorhanden sind oder unklar definiert wurden. Dif-
fuse oder unausgesprochene Erwartungen bieten
Freiraum zur Interpretation. Zum Konflikt kommt
Für die Handelnden besteht auf der einen Seite die es, wenn die durch Interpretation entstandene Rol-
Verpflichtung, einem sehr schwer erkrankten Men- lenübernahme mit den – unausgesprochenen – Er-
schen in all seiner Hilflosigkeit und Verlorenheit bei- wartungen nicht übereinstimmt. Man spricht von
zustehen, auf der anderen Seite aber die unbedingte einer Normen- und Interpretationsdiskrepanz. Die
Pflicht, Gefahr von ihm und anderen abzuwenden. Folge sind für das jeweilige System typische Sank-
Der Konflikt entsteht durch die sich widersprechen- tionen (z. B. Mobbing, Widerstände etc.).
de Erwartung zu helfen und der, einem Menschen
Gewalt anzutun.
Kasuistik
Personen-Rollen-Konflikt Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit auf einer allge-
Diese Art von Konflikt liegt dann vor, wenn die Auf- meinpsychiatrischen Station mit fehlender Kon-
gabe mit den Werten, Motiven und Einstellungen des zeption. Keine der dort tätigen Berufsgruppen
Rollenträgers unvereinbar zu sein scheint. Das heißt, verfügt über eine Arbeitsplatzbeschreibung. Die
dass die Rollenerwartungen des Systems nicht mit Versuche von Rollenklärungen und Definitionen
den eigenen Werten in Einklang zu bringen sind. beschränken sich auf unverbindliche Diskussio-
nen mit eher informellem Charakter, z.B. im Rah-
men von Mittagsübergaben (»Aufgabe der Pfle-
Kasuistik ge könnte es in dem Fall ja eigentlich sein … Die
Ein Pflegender hat einige Bezugspatienten, die, Psychologin müsste mal …!«). Jedes einzelne
im Sinne des Pflegeprozesses, einen großen Auf- Teammitglied füllt seine Rolle entsprechend der
wand an Betreuung benötigen. Die Erwartungen jeweiligen Vermutung, Interpretation und dem
des Pflegenden an seine Rolle ist es, diesen be- Erlernten aus. So haben die Pflegenden eine
rechtigten Ansprüchen gerecht zu werden. Auf- weit auseinanderklaffende und vielfach diffuse
grund des personellen Mangels ist dies jedoch Vorstellung von dem, was die Tätigkeit einer
nicht möglich. Da auch noch eine Stationshilfe Psychologin auf der Station sein soll. Die ärztli-
fehlt, die für den hauswirtschaftlichen Teil zu- che Verrichtung soll sich – möglicherweise – auf
ständig wäre, beschränkt sich die Arbeit darauf, die Medikation der Patienten beschränken. Die
den formellen Ablauf des Stationsalltags auf- Auffassung von Arzt und Psychologin bezüglich
rechtzuerhalten und den Patienten die notwen- pflegerischer Arbeit ist es, sich aus allem Thera-
digste Grundversorgung zukommen zu lassen. 6
4.1 · Berufsrolle und persönliche Entwicklung
75 4

Auf der anderen Seite jedoch muss auch deut-


peutischen herauszuhalten und sich auf Ord- lich betont werden, dass die Geringschätzung und
nung und Sauberkeit zu beschränken. Die Vor- Unklarheit des Berufsbildes von Pflegenden derart
stellung hinsichtlich der eigenen Rolle innerhalb verinnerlicht wurde, dass die eigene Rolle als wenig
der Pflege ist je nach Kompetenzgrad und wertvoll erlebt wird. Der aus Abwertung und Un-
Fähigkeiten ebenfalls sehr unterschiedlich. Das klarheit des Berufsbildes heraus entstehende Kon-
Team ist hoffnungslos zerstritten, eine interdis- flikt zieht sich auch quer durch die Berufsgruppe
ziplinäre Zusammenarbeit findet lediglich an der Pflegenden. Wer sich hauptsächlich als wei-
der Oberfläche statt. Die Folge ist eine Vielzahl sungsgebundene ärztliche Hilfskraft versteht, hat
von Konflikten, die ihre Ursachen in permanen- eine andere Beziehung zu Patienten und Kollegen
ten Kompetenzüberschreitungen, unklaren als Pflegende, die ihre Arbeit als eigenständigen
Befugnissen und Zuständigkeiten haben. Auftrag verstehen. Sehr häufig läuft dieser Konflikt
eher unterschwellig ab. In seiner Außenwirkung
wird er zumeist als Problem des einzelnen Individu-
Rollenüberforderung ums wahrgenommen. Auf alle Fälle führt er dazu,
Von einer Rollenüberforderung spricht man, wenn dass Pflege weiterhin wenig entscheiden und mitge-
die Anforderungen an die Person zu hoch sind. Eine stalten kann.
Person sieht sich mit Erwartungen konfrontiert,
denen sie aufgrund gegebener Umstände nicht ent- ! Solange ich mich selber abwerte, kann ich
sprechen kann. Bei der Rollenüberforderung müs- kaum erwarten, von anderen mit Wertschät-
sen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden: zung behandelt zu werden.
4 Rollendruck: wird als externer Reiz verstanden,
betrifft die Belastungen durch das Umfeld,
4 Rollenstress: wird als interner Faktor bezeichnet 4.1.4 Selbstbild und Fremdbild
und betrifft die Persönlichkeitsmerkmale der
jeweiligen Person, die dem Rollendruck entspre- Selbstbild ist das Bild, das jemand von sich selbst hat
chend ihrer Struktur begegnet. bzw. macht. Das Selbstbild setzt sich aus folgenden
Aspekten zusammen:
Ein permanenter Rollenkonflikt entsteht für die 4 Identität: damit ist das Ich als in sich geschlosse-
Pflege aus der Tatsache heraus, mit einem hohen nes System gemeint: Name, Alter, Geschlecht,
Faktor an Wissen ausgestattet zu sein, ein hohes Maß Lebensort; die Identität stellt Konstante über das
an Verantwortung übernehmen zu müssen und ganze Leben hinweg dar,
doch letztlich sehr wenig Wertschätzung zu erfah- 4 Körper und äußere Erscheinung,
ren. In der Realität sieht das so aus, dass Pflege unter 4 Herkunft, Familie und Sozialisation,
keinen Umständen Entscheidungen treffen darf, im 4 Anlage und Begabungen,
Bedarfsfall genau dies jedoch tun muss. Wie mit 4 Fähigkeiten und Fertigkeiten,
einem Schalter in seiner Kompetenz an- oder ausge- 4 Bildung, Ausbildung, Arbeit und Beruf,
knipst zu werden, stellt eine Kränkung dar, deren 4 Vitalität und Vitalbedürfnisse: damit sind Be-
Folge – je nach Persönlichkeit – rebellisches, stark dürfnisse gemeint, die für das eigene Leben, die
konkurrierendes oder resignatives Verhalten sein Ausgestaltung und das größtmögliche Wohlge-
kann (vgl. Schmidbauer, 1999). fühl essenziell, unverzichtbar sind,
Die emanzipatorischen Bestrebungen der Pflege 4 Wünsche, Interessen, Ziele, Träume,
und der Wunsch nach Kompetenzerweiterung sto- 4 Charakter und Werte,
ßen auf wenig Verständnis. Die Untermauerung der 4 Lebens- und Wohnformen,
Pflege durch Entwicklung einer spezifischen Wis- 4 Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen,
senschaft wird nicht ernst genommen. Es gibt ein 4 Besitz,
Bestreben, insbesondere von ärztlicher Seite, die Be- 4 Sozialbeziehungen,
rufsgruppe der Pflegenden klein zu halten. 4 Erholung und Freizeit.
76 Kapitel 4 · Die Rolle der Pflegenden in der Psychiatrie

Bewertung des Selbstbildes: hat entwickeln können. Dies gilt bis heute (vgl. Bö-
4 Wertigkeit: positiv, negativ, ambivalent, gemann-Großheim, 2004).
4 Stabilität: konstante Wertigkeit, oder fragil, flüch- Das aus der schwierigen und unvollständigen
tig, wechselhaft, Identitätsbildung erwachsene Selbstbild von Pfle-
4 Kongruenz: Selbst- und Fremdbild sollten in- genden ist nicht sehr homogen und teilweise im Wi-
nerhalb des Lebensmilieus in für wichtig er- derstreit befindlich. So war die klassische Schwester
achteten Dimensionen nicht zu sehr oder zu in der Psychiatrie seit jeher weniger stark vertreten
stark voneinander abweichen, um nicht Dauer- als in somatischen Bereichen der Pflege. Ein Grund
4 konflikte und Beziehungsprobleme hervorzuru- hierfür findet sich darin, dass gerade in der Arbeit
fen. mit psychisch Kranken die Grenze des medizini-
schen Heilanspruchs deutlich wird. In den momen-
Dem Selbstbild gegenüber steht das Fremdbild. Da- tanen Zeiten des Umbruchs wird hier zunehmend
mit sind die Bilder gemeint, die andere von einem das Primat der Pflege deutlich. Wo keine Heilung im
haben. Sie bilden sich durch die subjektive Sichtwei- eigentlichen Sinne erfolgen kann, müssen Pflege-
se des Anderen. Die Fragen, die sich daraus ergeben: konzepte entwickelt werden, die ein menschenwür-
Woher kommt der Unterschied? Woraus besteht diges Leben mit bedingter Gesundheit ermöglichen
oder worin befindet sich der Unterschied? Was ge- und Folgeschäden vermeiden helfen. Dem gegen-
schieht in mir und mit mir, wenn ich den Unter- über steht jedoch das nach wie vor wenig entwickel-
schied in mir wirken lasse? te Selbstwertgefühl Pflegender mit der Neigung zur
Selbstabwertung. Die Unterordnung unter die ärzt-
liche Tätigkeit wird sehr häufig bereitwillig ange-
4.1.5 Identität und Selbstbild nommen. Das Selbstbild entspricht hier dem des
ärztlichen Erfüllungsgehilfen. Auch ist das Bild der
Unter Identität wird die Einheit der Person verstan- psychiatrisch-pflegerischen Rolle bei Pflegenden
den. Sie wird als in sich und in der Zeit beständig häufig weniger deutlich und eher von Indifferenz
erlebt. Ich-Identität bewirkt, dass das Individuum geprägt.
zwischen seiner persönlichen und seiner sozialen
Identität ein Balanceverhältnis herstellen kann. Ich-
Identität ist ebenso auf die verhaltensstabilisierende 4.1.6 Fremdbild
Wirkung der sozialen Rollen angewiesen, wie umge-
kehrt Ich-Identität mit in das persönlichkeitsbe- Ein Problem der psychiatrischen Pflege ist, dass sich
stimmte Rollenverhalten eingeht. Die personale und die in der Gesellschaft noch weit verbreitete Stigma-
soziale Identität stehen miteinander im Widerstreit: tisierung des psychisch Kranken auch auf das Anse-
In der biographischen Dimension wird vom Indivi- hen der in der Psychiatrie Beschäftigten überträgt
duum verlangt, zu sein wie kein anderes, die soziale (von Klitzing, 1995). Das Bild des psychiatrisch Täti-
Dimension dagegen schreibt ihm zu, zu sein wie alle gen ist geprägt von altbekannten, anscheinend un-
anderen. verrückbaren Vorurteilen gegenüber psychischen
Die Identitätsbildung von Pflegenden entwi- Erkrankungen und dem Wunsch, Angstmachendes
ckelte sich über eine medizinische Assistenzfunk- auszugrenzen. Daneben steht der geschichtlich ge-
tion einerseits und einem menschlich-humanitären wachsene Eindruck der Anstaltspsychiatrie, der nach
Betreuungsauftrag andererseits. Letzteren kann man wie vor mit Bildern, wie Irrenwärtern, deren Aufga-
als den eigentlichen pflegerischen Auftrag bezeich- be es ist, gefährliche Irre in Schach zu halten, besetzt
nen. Dieser wurde jedoch nie vollständig profes- ist. Schizophrene (als Synonym für psychisch Kranke
sionalisiert sondern wurde ein dem ärztlichen im Gesamten) gelten allgemein als unberechenbar,
Assistenzdienst untergeordnetes Zusatzamt. Das gewalttätig, gemeingefährlich und unheilbar. Ver-
Problem, das sich aus dieser Mischarbeit ergab, war stärkt wird dieses Bild immer wieder durch die be-
ein unvollständiger Beruf. Eine professionelle Iden- sondere Berichterstattung in den Medien. Selten wird
tität, die sich nie als eine in sich geschlossene Einheit über positive Veränderungen berichtet. Psychiatrie
4.2 · Helfersyndrom und Helferproblematik
77 4

gerät meistens in Verbindung mit Gewaltverbrechen Streben nach einer pflegerischen Professionalität
ins öffentliche Blickfeld. Festgehalten wird dieses steht ein Selbstbild gegenüber, das Pflege als etwas
Bild jedoch auch von Pflegenden selbst, denen es bis- betrachtet, das im Grunde jeder kann und eher aus
her kaum gelungen ist, dieses verzerrte Bild zu revi- dem Bauch heraus stattfindet. Beziehungsgestaltung
dieren. Es geschieht selten, dass eine Pflegedienstlei- ist etwas, was nicht reflektiert werden muss. Die Rol-
tung sich der Öffentlichkeitsarbeit verpflichtet fühlt len, die Pflegende einnehmen, werden selten wahr-
(vgl. Utz, 1993). Darüber hinaus werden Pflegende genommen und nicht hinterfragt. Die Wahrneh-
als Erfüllungsgehilfen und Untergebene des Arztes mung durch andere bezieht sich auf eben diesen
angesehen. Anteil. Die Veränderungen scheinen nicht wahr-
Für die Berufsgruppe der Ärzte stellt Pflege in genommen zu werden. Einzige Ausnahme bildet
erster Linie eine die ärztliche Tätigkeit unterstützen- jedoch die ambulante Krankenpflege. Dies bedingt
de, alltägliche Ansammlung von Verrichtungen dar. sich durch die politisch gewollte und ökonomisch
Pflegende werden als Untergebene wahrgenommen, notwendige Verringerung der stationären Versor-
deren eigentliche Aufgabe die einer dienenden As- gung. Hier scheint sich, gerade in der Öffentlichkeit,
sistenzfunktion darstellt. Die Tätigkeit Pflege wird ein aufwertendes Bild von Pflege zu entwickeln.
als Zusatzfunktion vermerkt, die sich der ersteren
unterzuordnen hat. Eine Diskussion auf gleicher
Ebene wird im besten Falle geduldet. Diese Wahr- 4.2 Helfersyndrom und Helfer-
nehmung wird von anderen Berufsgruppen geteilt. problematik
Auch hier wird Pflege als medizinische Hilfstätigkeit
gesehen. Helfen ist ein Bedürfnis, das den meisten Menschen
Das Fremdbild von psychiatrisch Pflegenden zu Eigen ist. Sie sind sensibel für die Not im Gegen-
wird durch die Selbstwahrnehmung gestaltet. Die über, lassen sich davon berühren und bemühen sich,
Unklarheit, die Pflegende hinsichtlich ihrer eigenen die Not zu lindern. Für das Weiterbestehen der
Profession haben, tätigt ihre Außenwirkung. Es menschlichen Gemeinschaft und der Welt über-
herrscht ein sehr indifferentes, unklares Bild von haupt ist das Bedürfnis des Helfenwollens essenziell.
dem, was Pflege sein soll. Pflegende werden als Ver- Spontane Hilfsbereitschaft gehört zu allen Kulturen
walter der Akten, der Medikamente, Betten und und rollengebundene Hilfsbereitschaft ist ein Kenn-
Mahlzeiten wahrgenommen. Manchmal werden sie zeichen aller arbeitsteiligen Kulturen.
aber auch als Trost spendend und manchmal als Dem gegenüber steht das von Wolfgang Schmid-
streng grenzziehend wahrgenommen, selten jedoch bauer beschriebene Helfersyndrom als ein schädli-
als psychiatrisch kompetente Fachkräfte. Vorherr- ches und unprofessionelles Helfen, ein suchtartiges
schend ist das Bild des »Mädchens für alles«. Verhalten, bei dem das Helfen der Abwehr anderer
Gefühle dient (Schmidbauer, 2002).
Die problematische Helferhaltung ist eine
4.1.7 Selbst- und Fremdbild: Grundeinstellung, die geprägt ist von Aufopferung
Übereinstimmung und Differenz für den Patienten und von Vernachlässigung eige-
ner Bedürfnisse. Die Stärke von Pflegenden liegt in
Wie bereits mehrfach erwähnt, befindet sich das der Fähigkeit, sich in Kranke und Pflegebedürftige
Selbstbild von Pflegenden in einem großen Um- einzufühlen und deren Bedürfnis nach Verstanden-
bruch. Es entwickelt sich ein berufliches Selbstver- und Umsorgtwerden zu befriedigen. Wenn auf-
ständnis. Pflege nimmt sich selber mehr und mehr grund biographischer Faktoren diese Haltung starr
als eine in sich geschlossene Profession wahr. Aus und extrem wird, entsteht das Problem, die eigenen
den unklaren und uneinheitlichen Bildern entsteht Belastungsgrenzen zu überschreiten und sich einer
ein eigenständiger Beruf mit einer hohen Verant- permanenten Überforderung auszusetzen. Die be-
wortungsübernahme. Die Veränderungen entstehen sondere Nähe Pflegender zum Patienten erschwert
jedoch nur sehr schleichend. Hieraus resultiert eine eine notwendige Abgrenzung. Die Folge ist, dass
Ambivalenz, die an der Basis deutlicher wird. Dem Pflegende dem Patienten in seiner Anspruchshal-
78 Kapitel 4 · Die Rolle der Pflegenden in der Psychiatrie

tung ausgeliefert sind und letztlich ausgenutzt wer- 2. Die durch die Struktur des Arbeitsfeldes beding-
den. Die daraus entstehende Aggression dem aus- ten Belastungen führen zu einem allmählichen
nutzenden Patienten gegenüber darf jedoch nicht Anwachsen des Stresses. Dieser verstärkt sich,
zugelassen werden. Wut zu haben auf schwache, wenn zunehmend deutlich wird, dass die eige-
hilfsbedürftige Menschen löst bei Pflegenden Schuld- nen Ideale und der damit verbundene Anspruch
gefühle aus, die mit noch mehr Aufopferung und nicht erreicht werden kann. Hieraus wächst an-
Hingabe beschwichtigt werden sollen (vgl. von Klit- haltende Frustration.
zing, 1995). 3. Es folgt die Phase der aktiven Bewältigungsver-
4 Als typische Merkmale des Helfersyndroms suche. In dieser Phase erfolgen eine Reduktion
beschreibt Schmidbauer: des Engagements und ein sozialer Rückzug, dem
4 starre Werthaltungen, ein Mangel an Einfühlungsvermögen und da-
4 Störungen im Erleben von Aggression, mit verbundenen Beziehungsproblemen folgt.
4 unersättliches Verlangen nach Bestätigung, Es entwickelt sich eine negative Einstellung zur
4 Vermeidung von Gegenseitigkeit, Arbeit. Am derzeitigen Zustand wird das Um-
4 Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen. feld verantwortlich gemacht. Schuldzuweisun-
gen führen zu einer Vertiefung der Beziehungs-
Weiterhin ist beim Helfersyndrom ein verheimlich- probleme. Motivation und Kreativität verringern
ter Größenwahn aktiv, der mit seinen unerfüllbaren sich in allen Lebensbereichen. Am Ende dieser
Idealen leicht in depressive Verstimmungen um- dritten Phase entwickeln sich erste psychosoma-
schlägt. Die sozialen Beziehungen sind vom Wunsch tische Beschwerden (Schlaflosigkeit, Magen-
geprägt, stets der Gebende, Stärkere und Versorgen- und Rückenbeschwerden etc.).
de zu sein. Andere Bindungen werden häufig ver- 4. Es findet ein allmählicher Übergang in die Phase
mieden (Schmidbauer, 2002). der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit
statt. Es folgen Angstzustände und die Sorge, den
Anforderungen des Lebens nicht mehr gewach-
4.2.1 Burn-out-Syndrom (Ursachen, sen zu sein. Am Ende steht eine schwere Depres-
Folgen und Bewältigung) sion im Sinne einer behandlungsbedürftigen
psychiatrischen Erkrankung bis hin zu einer
! Am Anfang stand die Hilflosigkeit – dann das Suizidgefährdung.
permanente Gefühl der Hoffnungslosigkeit.
Am Ende wurde aus dem einstmals glühenden Für die Ursachen eines Burn-out-Syndroms lassen
Idealisten ein deprimierter, reizbarer Zyniker. sich insbesondere für den Beruf der Pflegenden
einige Belastungsaspekte finden. Allem voran steht
Burn-out ist ein Zustand emotionaler, körperlicher das karitativ geprägte Rollenverständnis. Das Selbst-
und geistiger Erschöpfung. Er ist gekennzeichnet bild von Pflegenden ist geformt von dem Bedürf-
durch ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und einer nis, sich mit anderen zu beschäftigen und ihnen
ablehnenden Einstellung zum Beruf, zur Umwelt zu helfen.
und zu sich selbst gegenüber. Dem vergeblichen
Streben nach Idealen folgt ein Zustand der Unzufrie- Belastungen in der psychiatrischen Pflege
denheit. Burn-out ist eine Folge von lang anhalten- 4 Beziehungsgestaltung: Im psychiatrischen Ar-
dem Stress und Frustration, ohne dass Möglichkei- beitsfeld kommt die permanente Überforde-
ten erkannt werden, dazu auf Abstand zu gehen. rungssituation hinzu, Beziehung zu Menschen
Das Burn-out-Syndrom ist ein Prozess, der nach mit schweren Beziehungsstörungen gestalten zu
bestimmten Mustern abläuft: müssen. Die Probleme und Besonderheiten zum
1. Allem voran geht ein starkes Engagement, ver- Umgang mit diesen Menschen über viele Stun-
bunden mit festen Idealen und einem hohen den hinweg erfordert eine enorme Aufmerksam-
Anspruch an das eigene Tun und den Wert der keit und Belastung, die sich paart mit vielerlei
Arbeit. Frustrationsmomenten.
4.2 · Helfersyndrom und Helferproblematik
79 4

4 Mangelnde Erfolgserlebnisse: Der Erfolg der eige- von Angeboten der Organisation und der persönli-
nen Arbeit ist selten messbar. Arbeitsergebnisse chen Aktivität geschehen.
sind wenig konkret. Hinzu kommt das häufig Auf der organisationsbezogenen Ebene kann
auftretende Gefühl des Misserfolgs. Patienten, realistischerweise Folgendes geleistet werden:
die mühsam stabilisiert wurden, kehren oft 4 Rückzugsmöglichkeiten: die organisatorischen
schon bald wieder zurück. Abläufe so gestalten, dass Zeiten des Rückzugs
4 Angst: Die Grenzen zwischen »psychisch nor- möglich werden. Es sollte die Möglichkeit beste-
mal« und »psychisch krank« sind sehr oft flie- hen, sich für einige Zeit aus dem direkten Kontakt
ßend. Gerade der Umgang mit Psychotikern mit dem Patienten zurückziehen zu können.
kann diese Grenzen auch für die Betreuenden 4 Positive Arbeitsplatzgestaltung: Eine positive
selber in Frage stellen. Eigene psychotische An- Arbeitsumgebung hat auch positive Auswirkun-
teile werden wahrgenommen oder zumindest gen auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter.
vermutet. Dies kann Angst auslösen. 4 Fort- und Weiterbildung: Neben der fachlichen
4 Schutzlosigkeit: Pflegende in der Psychiatrie ar- Qualifizierung sollten auch spezielle Trainings
beiten in »vorderster Front«. Sie fühlen sich den angeboten werden, die dem Burn-out entgegen-
Kommunikationsmustern der häufig früh ge- wirken.
störten Klientel schutzlos ausgeliefert. Bedingt 4 Supervisionen und Beratungen.
durch die besondere Position im System bzw. der 4 Kollegiale Austauschgruppen: Mitarbeiter haben
Rolle der Strukturgestalter, dient Pflege als viel- die Möglichkeit, über ihre persönlichen Proble-
fältige Projektionsfläche. Damit verbunden ist me, Arbeitskonflikte, ihre Ängste sowie Schwie-
eine Vielzahl von Konflikten, die ausgetragen rigkeiten mit Kollegen zu reden. Dies hat eine
oder ausgehalten werden müssen. Pflegende große, entlastende Wirkung und den Teilneh-
fühlen sich hier sehr oft allein gelassen. Das Ge- mern wird oft deutlich, dass Kollegen ähnliche
fühl missbraucht zu werden, ist dann sehr stark. Probleme haben.
Wenn im Team wenig Austausch darüber statt-
findet, ist dies ein massiver Stressfaktor. Auf der persönlichen Ebene sollte Folgendes getan
4 Gewalt und Aggression: Es herrscht ein hohes werden:
Maß an direkter oder unterschwelliger Gewalt. 4 Problembewusstsein: Die inneren Signale, die
Durch die Frontposition sind Pflegende dieser im auf ein Burn-out hinweisen, müssen erkannt
besonderen Maße ausgesetzt. Je weniger Mög- werden. Es muss ein Bewusstsein über den eige-
lichkeiten des Rückzugs und der Reflexion be- nen Tages- und Arbeitsablauf vorhanden sein.
steht, desto höher wird die Angst und die damit 4 Eigenverantwortung: Nur wenn die innere Be-
verbundene Stressbelastung. reitschaft vorhanden ist, können Handlungen
4 Fehlende Identität und Rollenkonflikte: Pflege gegen das Burn-out wirken.
verhindert sich selbst als professionelle Berufs- 4 Bewältigungsstrategien: Es ist wichtig, dass der
gruppe. Das Besondere in der Beziehung zum einzelne positive Umweltbedingungen wahr-
Patienten wird oft als persönliche Beigabe ver- nimmt oder mitgestaltet, in denen Lernen, Er-
standen, anstatt diese Kompetenz offensiv als folg und Arbeitszufriedenheit möglich sind.
professionelle Pflege zu vertreten. Verstärkt wird 4 Abgrenzung von Arbeit und Freizeit: Um den
dies insbesondere durch der Patientenzentrie- Arbeitstag hinter sich zu lassen, ist es wichtig,
rung, wonach im beruflichen Selbstverständnis sich bewusst von der Arbeit abzugrenzen. Dabei
nicht die eigene Professionalität, der eigene Be- kann auch eine befriedigende Freizeitbeschäfti-
rufsstand im Vordergrund steht, sondern immer gung helfen.
wieder der Patient (Wettreck, 2001). 4 Erholungsphasen: Damit man sich aus den be-
ruflichen Problemen lösen kann, ist es sinnvoll,
Bewältigung und Prävention eine Phase der Ruhe und Entspannung einzule-
Sowohl die Bewältigung als auch die Prävention des gen, eine Zeit des Abschaltens nach der Arbeit.
Burn-out-Syndroms kann nur in einer Verzahnung Um sich nach der Arbeit der Familie oder Freun-
80 Kapitel 4 · Die Rolle der Pflegenden in der Psychiatrie

den zu widmen, benötigt man kurze Zeiträume 4 Anstoßer: begeistert das Team für neue Ideen
zum Erholen, die neue Kraft geben. und Ansätze,
4 Soziale Kontakte und soziale Unterstützung: 4 Entwickler: prüft neue Ideen und Ansätze auf
Wichtig sind soziale Kontakte im privaten Be- Anwendbarkeit,
reich und bei der Arbeit, die aus wechselseitigem 4 Organisierer: sorgt für den Transfer von der
Geben und Nehmen bestehen. Theorie in die Praxis,
4 Sichtweise ändern: Viele sehen sich oft selbst als 4 Durchführer: erarbeitet Standards,
Ursache für das Burn-out. Es ist aber sinnvoll, 4 Kontrolleur: prüft das Erarbeitete auf Richtig-
4 das Burn-out als Resultat einer Wechselwirkung keit,
zwischen der eigenen Person und ihrer sozialen 4 Stabilisierer: bemüht sich um die Einhaltung von
Umwelt zu erkennen. Regeln,
4 Berater: informiert und berät,
Als Fazit kann festgehalten werden: 4 Entdecker: experimentiert.
! Wer seinen Berufsalltag aktiv mitgestaltet,
Aber auch wenn ein Team nach diesen Kriterien zu-
unnötige Belastungen nicht hinnimmt, An-
sammengestellt wäre, würde effektive Arbeit nur
erkennung erhält, sich weiterbildet und lernt
dann gelingen, wenn die einzelnen Teammitglieder
und sein Selbstgefühl nicht alleine aus dem
ihren Fähigkeiten und ihrer Kompetenzen entspre-
Beruf bezieht, der ist gut vor dem Burn-out
chend eingesetzt werden. In der Realität ist dies je-
geschützt.
doch oft nicht unproblematisch, denn Pflegeteams
üben häufig eine große Sogwirkung nach unten aus.
Die hierarchischen Strukturen werden noch aner-
4.3 Interdisziplinär und multi- kannt. Kollegen aus gleicher Ebene zu entlassen ist
professionell: Pflege im Team problematisch und es erscheint oft schwierig, beson-
dere Kompetenzen anzuerkennen. Die Zuordnung
4.3.1 Rollen im Pflegeteam spezieller Aufgabenbereiche an einzelne Teammit-
glieder mit ihren besonderen Befugnissen und
Innerhalb eines Pflegeteams finden, wie auch in an- Handlungskompetenzen müssen mit dem übrigen
deren Gruppen, unterschiedliche Rollenverteilun- Team besprochen und geklärt werden. So muss z. B.
gen statt. Eine Unterscheidung kann nach verschie- für den Bereich der Vermittlung von spezifischem
denen Kriterien vorgenommen werden, z. B. nach psychiatrisch pflegerischen Wissens durch Pflege-
der hierarchischen Position innerhalb des Teams, kräfte mit einer Fachweiterbildung ein spezieller
also der Rangordnung oder dem sozialen Ansehen, Rahmen geschaffen werden. Die Erfahrung zeigt,
dem Status. Eine weitere Möglichkeit der Unter- dass Konflikte vorprogrammiert sind, wenn es für
scheidung kann nach der Rollenart vorgenommen spezielle Funktionen keine offizielle klare und ein-
werden: formale Rollen, wie Teamleitung oder deren deutige Zuordnung gibt.
Stellvertretung, informelle Rollen, z. B. »graue Emi-
nenzen« oder heimliche Leiter, und biographische
Rollen, wie z. B. Dienstältester. Darüber hinaus gibt 4.3.2 Arbeit im Team
es unterschiedliche Rollenfunktionen. So können
aufgabenbezogene Rollen von sozialbezogenen Rol-
len differenziert werden. Grundsätzlich sind ver- Kasuistik
schiedene Rollen im Team notwendig. Durch die »Die Kooperation und der egoistische Altruis-
Übernahme von unterschiedlichen Rollen können mus ist die lebensrichtige Ethik der Natur und
von einzelnen wichtige Beiträge zur Teamarbeit nicht der Wettkampf und das einseitige Abzie-
geleistet werden (Kriz u. Nöbauer, 2003). hen von Energie mit rein egoistischen Motiven.
Für eine hohe Effektivität der Teamarbeit wäre 6
folgende Rollenverteilung optimal:
4.3 · Interdisziplinär und multiprofessionell: Pflege im Team
81 4

4 Die Bereitschaft der persönlichen Professionali-


Wer als zukunfts- und gesellschaftsverantwort- sierung, d. h. an der Ausweitung seiner Fähigkei-
lich wirtschaften und handeln will, muss zum ten und an seiner Persönlichkeitsentwicklung zu
Wohle aller Beteiligten handeln und nicht nur arbeiten.
seinen Gewinninteressen folgen.« (Glock u. See- 4 Die Bereitschaft zur Teilnahme an Teambespre-
berger, 2001) chungen und Supervisionen.

Ein Teamkonzept, in dem sich nach Möglichkeit je-


Die Definition von Teamarbeit lautet: eine Gruppe der in weiten Teilen wiederfindet, regelmäßige
von Personen arbeitet gemeinsam an einer Aufgabe. Teamsitzungen, Fallbesprechungen und Supervisio-
Eine gut funktionierende Gruppenkommunikation, nen sind Grundvoraussetzung für die Formulierung
Transparenz und die Bereitschaft jedes Einzelnen, gemeinsamer Ziele und der damit verbundenen
sich in der Gruppe zu engagieren, sind die Merkma- Identifikation mit der gemeinsamen Aufgabe. Dies
le eines intakten Teams. Um dies zu ermöglichen, fördert die Entwicklung einer gemeinsamen Spra-
sind bestimmte Anforderungen an das einzelne che und Grundhaltung, was eine Voraussetzung für
Teammitglied notwendig: die Entwicklung und den Ausbau der persönlichen
4 die Bereitschaft, seine Fähigkeiten einzubringen Eigenschaften aller Teammitglieder darstellt.
und Verantwortung für das eigene Handeln zu
übernehmen, die Beweggründe des eigenen
Handelns transparent zu machen. 4.3.3 Zusammenarbeit mit anderen
4 Konfliktfähigkeit: Das heißt, die Fähigkeit, über- Berufsgruppen
flüssige von notwendigen Konflikten zu unter-
scheiden und lösbare von unlösbaren. Aber Interdisziplinarität bedeutet gemeinsames Denken
auch die Befähigung, notwendige Konflikte mit aller am Team beteiligten Berufsgruppen, also das
einem Mindestmaß an sozialem und psychi- Entstehen einer ganzheitlichen Anschauung durch
schem Aufwand bei sich und dem Konfliktpart- die Verschmelzung der verschiedenen Wahrneh-
ner zu lösen. Das setzt vor allem die Fähigkeit mungsaspekte. Bezogen auf die Arbeit eines psychi-
voraus, den rechten Zeitpunkt zu erfassen und atrischen Teams bedeutet dies, dass jedes Teammit-
wahrzunehmen, sowie die Fähigkeit, mit unlös- glied aus seiner Persönlichkeit, Ausbildung, Erfah-
baren Konflikten leben zu lernen, ohne unver- rung und Auffassung von psychiatrischer Versorgung,
hältnismäßige Beschränkungen der eigenen aber auch der speziellen Rolle der jeweiligen Berufs-
Entfaltung psychischer und sozialer Fähigkei- gruppe heraus ganz spezifische Anteile des Patienten
ten. wahrnimmt. Es entsteht eine bunte Vielfalt von Bil-
4 Die Bereitschaft, unabhängig von persönlichen dern, Beurteilungen und Standpunkten. Die vielen
Vorurteilen sowohl mit eigenen Kollegen als unterschiedlichen Facetten eines Menschen werden
auch mit Mitgliedern anderer Berufsgruppen zu sichtbar. Das Zusammentragen dieser Bausteine
kooperieren. lässt ein ganzheitliches Bild entstehen. Ein bloßes
4 Systemdenken: bedeutet, verschiedene Lebens- Nebeneinander der Teilansichten der verschiedenen
welten und Wirkfaktoren in eigene Entschei- Aspekte wäre reine Multidisziplinarität und stünde
dungsprozesse mit einzubeziehen und sich die einer guten therapeutischen Arbeit im Wege.
Wechselwirkungen zwischen dem Individuum Bezogen auf das Handeln am jeweiligen Patien-
und dem sozialen System zu verdeutlichen. ten ist die Voraussetzung für interdisziplinäres Ar-
4 Die Fähigkeit, unterschiedliche Meinungen zu beiten die Klärung eines gemeinsamen Behand-
akzeptieren, andere Beweggründe zu verstehen lungsauftrags, aus dem heraus die jeweiligen Erfor-
und Kompromisse zu finden. dernisse und Aufträge an die einzelnen Berufsgruppen
4 Die Fähigkeit, sowohl das eigene als auch das erarbeitet werden. Die jeweiligen am Fall beteiligten
Handeln anderer offen und konstruktiv zu hin- Berufsgruppen arbeiten selbstständig. In regelmäßig
terfragen, Kritik anzunehmen. stattfindenden gemeinsamen Besprechungen wer-
82 Kapitel 4 · Die Rolle der Pflegenden in der Psychiatrie

den die zuvor formulierten spezifischen Zielsetzun- Nähe zum Patienten stellt die Pflege die Berufsgrup-
gen überprüft und bearbeitet. pe dar, auf die sich alle anderen verlassen. Die Pflege
Ein psychiatrisches Behandlungsteam setzt sich bildet das Fundament. Sie ist die einzige Berufsgrup-
mindestens aus dem Pflegeteam und dem zuständi- pe, die für den Aufbau, die Gestaltung und das
gen Arzt zusammen. Dies gilt zunächst für die An- Halten der Strukturen sorgen kann. Dies erklärt sich
fangsphase. Im weiteren Behandlungsverlauf wer- durch die besondere Position. Patientenbezogen
den dann andere Berufsgruppen hinzugezogen. In bedeutet das eine permanente Verfügbarkeit über
Abhängigkeit von Konzeption und jeweiliger Be- 24 Stunden sowie die Begleitung, Stützung und
4 handlungsstrategie sind das der soziale Dienst, Ergo- Beobachtung aller zum Alltag eines Menschen ge-
oder Arbeitstherapeuten, Mitglieder anderer thera- hörenden Dinge. Sie sichert das Überleben des Pa-
peutischer Dienste (Musik-, Sport-, Physiotherapeut tienten. Bezogen auf das Team ist sie zuständig für
etc.) und der psychologischer Dienst (. Abb. 4.4). die Koordination, Kommunikation und Koopera-
Letzterer wird entweder zur weiteren diagnostischen tion im Team. Hier hat die Pflege die Fähigkeit ent-
Abklärung (Psychotestung etc.) oder als Entwickler wickelt, die unterschiedlichen Aspekte und Sprachen
und Durchführer einer psychotherapeutischen Ar- in eine Gesamtschau umzuformen.
beit hinzugezogen. Im Arbeitsalltag ist es jedoch in der Regel so,
Für die Verordnung der jeweiligen Therapien ist dass Pflegende ihre Kompetenzen selten offen dar-
grundsätzlich der Arzt verantwortlich. Die Abklä- stellen und als eigenständige Profession vertreten.
rung, welche Therapieform sinnvoll ist, erfolgt im Das Fehlen einer beruflichen Identität wird im mul-
Idealfall gemeinsam mit den bereits beteiligten Be- tiprofessionellen Team sehr schnell deutlich. Es ver-
rufsgruppen einschließlich der angedachten weite- führt zum Missbrauch durch andere Berufsgruppen.
ren Berufsgruppe. Dies zeigt sich u. a. darin, dass Pflege weiterhin als
»Mädchen für alles« gilt.
Die Pflege im multiprofessionellen Team:
Identität und Kompetenz Arbeit mit anderen Berufsgruppen

! »Die Pflege bildet das Netz, auf dem die ! Problematisch wird die Arbeit, wenn die ärzt-
Anderen ihre Seiltänze vollführen können!« liche Grundhaltung sich in ihrer reinen Form
(Behrens, 2004) zeigt. Damit gemeint ist, dass Ärzte unter
einem interdisziplinär arbeitenden Team oft-
Ausgestattet mit einem hohen medizinischen Wis-
mals ein Team verstehen, welches sich aus
sen, einem grundlegenden Verständnis für das
Fachärzten verschiedener Disziplinen zusam-
menschliche Funktionieren und der einzigartigen
mensetzt und in dem, nichtakademische
Berufsgruppen auf die Rolle des Zuarbeiters
reduziert werden.
Therapeuten
In der unmittelbaren Patientenbetreuung ist die
Sozialarbeiter
Zusammenarbeit zwischen Pflege und Ärzten die
Arzt intensivste. Beide Berufsgruppen sind stark aufei-
nander angewiesen. Die Zusammenarbeit zwischen
Pflegende
den beiden Berufsgruppen wird jedoch erschwert
Patient durch unterschiedliche Auffassungen. So ist der Be-
Pflegende
rufsweg Pflegender geprägt von Teamarbeit, Solida-
rität und Demokratiebewusstsein. Werte, mit denen
Ärzte in ihrer beruflichen Entwicklung weniger
Psychologe deutlich konfrontiert werden. Im Arbeitsalltag stellt
sich das so dar, dass Ärzte häufig benötigte Hilfe
Therapeuten
einfach nur anordnen und diese als Mittel zum
. Abb. 4.4. Multiprofessionelles psychiatrisches Team Zweck betrachten (Veenstra, 2002). Eine Ursache
4.3 · Interdisziplinär und multiprofessionell: Pflege im Team
83 4

hierfür ist die mangelnde Anerkennung anderer Pro- auch die Dynamik innerhalb der Gruppe für den
fessionen. Insbesondere Pflegenden fällt es schwer, persönlichen Lernprozess genutzt werden können.
dem entgegenzuwirken und die Rolle des ausschließ- Die Zielsetzungen von therapeutischen Grup-
lichen ärztlichen Zuarbeiters zu verlassen. Neben pen sind unterschiedlicher Art (Sauter et al., 2004):
vielen anderen Aspekten zeigt sich dies z. B. in der 4 Einbindung in den therapeutischen Prozess
Informationsübermittlung. So unterstützt das Doku- durch Beratung, Unterstützung, Information,
mentationssystem die Informationsweitergabe eher Beziehungsklärung zu Mitpatienten und Institu-
zwischen Pflegenden als zwischen Pflegenden und tion, Krankheitsbewältigung,
Ärzten. Die pflegerische Anamnese findet selten Be- 4 Kommunikation und Erfahrungsaustausch mit
achtung. anderen,
Formal sind Ärzte für die Diagnose und die 4 Problemerkennung,
Ermittlung der therapeutischen Richtung zuständig. 4 Verringerung von Isolation,
Ihnen ist die Gesamtverantwortung für die Behand- 4 Verbesserung des Selbstwertgefühls durch ge-
lung übertragen. Ein Interdisziplinäres Arbeiten ist genseitige Hilfe,
vom Teamverständnis des jeweiligen Arztes abhän- 4 institutionsbezogene Angst und Stigmatisierung
gig. Problematisch auf Seiten der Pflegenden ist hier- reduzieren,
bei, dass auf der einen Seite die Forderung nach
Gleichberechtigung besteht, auf der anderen Seite Gruppen können z. B. folgende Bereiche abdecken:
aber im Problemfall die Verantwortung beim Arzt 4 Zur Erlangung einer größtmöglichen Selbststän-
belassen wird. digkeit im Bereich der Selbstversorgung kom-
Die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Pflege men z. B. Kochgruppen, Haushaltstraining, Fi-
erstreckt sich in der Regel von der Aufnahme bis zur nanzplanungstraining in Frage.
Entlassung über den gesamten Behandlungsprozess. 4 Zur Erreichung einer angemessenen sozialen
Im Gegensatz dazu ist die Zusammenarbeit mit an- Integration bzw. der Verringerung von Einsam-
deren Berufsgruppen häufig temporär. Das heißt, sie keit ist das Angebot von Freizeitaktivitätsgrup-
werden im Bedarfsfalle und oft auch erst im späteren pen, themenzentrierter Gesprächsgruppen und
Verlauf hinzugezogen. Gruppen zur sozialen Unterstützung sinnvoll.
Die Grenzziehung zwischen den Aufgaben der 4 Zur Verbesserung der Behandlungscompliance
verschiedenen Berufsgruppen ist häufig schwierig. ist das Angebot von psychoedukativen Gruppen
Je nach vorherrschender Konzeption ist der Über- hilfreich.
gang zwischen ärztlich-therapeutischer und pfle- 4 Zur Verbesserung der Integration in den Be-
gerischer Arbeit oft fließend. Ebenso benötigt die handlungsprozess, den Stationsalltag oder zum
Abgrenzung zwischen den Aufgabenbereichen der Abbau von institutionsbezogenen Ängsten sind
nichtärztlichen Berufsgruppen und denen der Pflege Stationsversammlungen und Morgenrunden
eine besondere Beachtung. So erscheint der Über- sehr sinnvoll.
gang zwischen Pflege und Sozialarbeit oft undeut- 4 Zur Einbeziehung des Patientenumfeldes die-
lich. Am Beispiel soziotherapeutischer Maßnahmen nen Angehörigengruppen mit unterschiedli-
wird dies deutlich. Ein guter Austausch ist hier sehr chen Zielsetzungen.
wichtig.
Dies sind nur einige Beispiele. Die Liste ist sicher-
lich um einiges zu erweitern oder zu verändern. So
4.3.4 Therapeutische Gruppen kann z. B. eine Kochgruppe über das gemeinsame
Tun auch der Förderung sozialer Kompetenzen die-
Eines der wichtigen Werkzeuge psychiatrischer Pfle- nen.
ge ist die Organisation und Leitung von therapeu- Zur Leitung einer Gruppe sind neben einer Re-
tischen Gruppen. Der Vorteil gegenüber Einzel- flexionsfähigkeit gute soziale und kommunikative
betreuung ist, dass in der Gruppe die Erfahrungen Kompetenzen unerlässlich. Notwendig sind zudem
und Kompetenzen der anderen Teilnehmer aber Flexibilität und Verlässlichkeit sowie die Fähigkeit,
84 Kapitel 4 · Die Rolle der Pflegenden in der Psychiatrie

sich auf die unterschiedlichen Gefühle und Stim- Sauter D, Abderhalden C, Needham I et al (2004) Lehrbuch
mungen in der Gruppe einstellen zu können. Psychiatrische Pflege. Hans Huber, Bern
Die Teilnahme eines Patienten an der Gruppe Schädle-Deininger H, Villinger U (1996) Praktische Psychiatri-
sche Pflege. Psychiatrie-Verlag, Bonn
gehört immer zum Gesamtbehandlungsprozess. Die Schmidbauer W (1999) Helfen als Beruf. Rowohlt, Reinbek bei
Entscheidung geschieht in Absprache mit anderen Hamburg
Berufsgruppen. Im Idealfall findet eine enge Verzah- Schmidbauer W (2002) Helfersyndrom und Burnoutgefahr.
nung pflegerisch-therapeutischer Gruppenangebote Urban & Fischer, München
mit den therapeutischen Maßnahmen anderer Be- Scheibler P (1997) Arbeitsfeld Krankenhaus: Rollenanalyse und
4 rufsgruppen (Einzel- oder Gruppenpsychotherapie,
Konfliktmanagement. Carl v. Ossietzky Universität, Olden-
burg
Ergotherapie etc.) statt. Dies wäre interdisziplinäres Utz J (1993) Die Angst des Pflegepersonals in der Psychiatrie
Arbeiten in ihrer sinnvollsten Form. und Interventionsmöglichkeiten der Pflegedienstleitung,
Managementseminar, Campus für Alten- und Kranken-
Überprüfen Sie Ihr Wissen! pflege, München
Veenstra A (2002) Die Sozialisation von Pflege, Ärzten und Ver-
4 Was ist, im soziologischen Sinn, unter dem Be-
waltung im Krankenhaus. Hausarbeit, Fachhochschule
griff »Rolle« zu verstehen? 7 Kap. 4.1 Bremen
4 Warum erscheint die Identifikation mit der Be- von Klitzing W, von Klitzing K (1995) Psychische Belastungen in
rufsrolle »Pflege« schwierig? 7 Kap. 4.1 der Krankenpflege. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
4 Benennen Sie die verschiedenen Arten von Rol- Wettreck R (2001) Am Bett ist alles anders. LIT, Münster
Wiesendanger K (2000) Schwule und Lesben in Psychotherapie,
lenkonflikten! 7 Kap. 4.1
Seelsorge und Beratung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göt-
4 Was ist unter einer »problematischen Helfer- tingen
haltung« zu verstehen? 7 Kap. 4.2
4 Nach welchen Mustern verläuft der Prozess des
Burn-out-Syndroms? 7 Kap. 4.2
4 Was versteht man unter Interdisziplinarität?
7 Kap. 4.3

Literatur
Adam F (1998) Erst mal unter uns! In: Eck D et al (Hrsg) Super-
vision in der Psychiatrie. Psychiatrie-Verlag, Bonn 28
BAPP – Bundesinitiative Ambulante Psychiatrische Pflege e.V.
(2004) http://www.bapp.info/texte/psychpfl.pdf
Behrens J (2004) Was heißt schon Evidence? In: Krause P et al
(Hrsg) Interventionen psychiatrischer Pflege. Ibicura, Un-
terrostendorf
Blasius D (1980) Der verwaltete Wahnsinn. Fischer, Frankfurt aM
Bögemann-Großheim E. Abschied von der Schwester. http://
www.verdi.de/oetv_2/intranet/fachbereiche/03_gesund-
heit_soziale_dienste_wohlfahr_und_kirchen/fachgrup-
pen_f_einzelne_berufsgruppen/berufliche_bildung_kran-
kenpflege/abschied_von_der_schwester (12.10.2005)
Dörner K, Plog U (2002) Irren ist menschlich. Psychiatrie-Verlag,
Bonn
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delle der Pflege im Überblick. Hans Huber, Bern 419
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In: Kerres A et al (Hrsg) Lehrbuch Pflegemanagement II.
Springer, Berlin Heidelberg New York
Karsch A (2001) Das therapeutische Team und Rollenkonflikte
zwischen Pflege und ärztlichem Dienst. Hausarbeit, Kath.
FH Mainz
Kriz CW, Nöbauer B (2003) Teamkompetenz. Vandenhoeck &
Ruprecht, Göttingen
II

Organisationsstruktur der
psychiatrischen Pflege
5 Organisation und Mitarbeiterführung – 87
Helmut Schiffer

6 Methoden und Pflegepraxis – 107


Karin Bähr-Heintze, Susanne Stern

7 Kommunikation und Gesprächsführung – 125


Mark Helle

8 Interkulturelle Kompetenz in der psychiatrischen


Pflege – 139
Heike Pfitzner
5

5 Organisation und Mitarbeiter-


führung
Helmut Schiffer

5.1 Wertewandel und veränderte Anforderungen


im Arbeitsprozess – 89
5.1.1 Leitbild und Corporate Identity – 90
5.1.2 Führen mit Zielen (»Management by Objectives«) – 92
5.1.3 Das Mitarbeitergespräch mit Zielvereinbarung – 92

5.2 Motivation und Leistung von Mitarbeitern – 95


5.2.1 Teamentwicklung und Führung – 97
5.2.2 Mitarbeiterbesprechungen – 98
5.2.3 Supervision – 100

5.3 Projektmanagement – 101


5.3.1 Projektmerkmale – 101
5.3.2 Projektorganisation – 101
5.3.3 Projektphasen – 102
5.3.4 Projektauftrag – 104
5.3.5 Projektstart – Kickoff-Meeting – 104

Literatur – 105
88 Kapitel 5 · Organisation und Mitarbeiterführung

) ) In Kürze sations- und Personalentwicklung den Innovations-


geist und die dringend erforderliche Anpassungs-
Das Gesundheitswesen unterliegt einem großen fähigkeit der Unternehmen zu sichern. Im Zeitalter
Veränderungs- und Leistungsdruck. Daraus resul- rasanter Entwicklungen befinden sich Einrichtun-
tiert die Notwendigkeit, dass sich Organisationen gen des Gesundheitswesens in einem tief greifenden
mit Aufgeschlossenheit und Innovationsgeist den Paradigmenwechsel. Der wachsende Kostendruck,
Veränderungsprozessen stellen. Die Menschen in ein verändertes Finanzierungssystem, eine zuneh-
den Organisationen wollen dabei die Sinnhaftigkeit mende Leistungskomplexität und der Kampf um
der Anstrengungen verstehen, bevor sie sich enga- Patienten in einem steigenden Wettbewerb charak-
gieren und diese als positiv besetzte Herausforde- terisieren die Spannungsfelder mit unmittelbaren
5 rung annehmen. Das vorliegende Kapitel konzent- Folgen auf die Organisationsstrukturen und Leis-
riert sich auf die aktive Einbindung der Mitarbeiter tungsprozesse in den Einrichtungen. Gestaltungs-,
in diesem dynamischen Prozess. Lenkungs- und Entwicklungsprozesse werden damit
zu wertvollen Funktionen, um eine Einrichtung als
Wissensinhalte Unternehmen im Rahmen einer dynamischen Um-
Mit der Lektüre dieses Kapitels: welt in seiner Existenz zu sichern. »Eine dynamische
7 erhalten Sie Kenntnis über die Bedeutung der Ganzheit entsteht erst dadurch, dass ihre Teile auf-
aktiven Beteiligung von Mitarbeitern in Verän- einander einwirken« (Ulrich u. Probst, 1988, S. 234).
derungsprozessen Zur zielorientierten Gestaltung von Arbeitsabläufen
7 können Sie die Charakteristika der Corporate ist eine Vielzahl von Steuerungsmaßnahmen erfor-
Identity und deren Relevanz für ein Unterneh- derlich und aufeinander abzustimmen. Die disposi-
men erkennen tiven Aufgaben, wie Planung, Organisation und
7 haben Sie das Führen mit Zielen in seinen Kontrolle aller mit Führungsaufgaben beauftragten
Grundsätzen kennen gelernt Personen, wird als Management bezeichnet. Die
7 können Sie das Mitarbeitergespräch mit Ziel- Leistungserbringer in der unmittelbaren »Wert-
vereinbarung auf der Basis von Partizipation zur schöpfungskette« am Kunden sind die Mitarbeite-
Erreichung der Unternehmensziele in Kontext rinnen und Mitarbeiter. Das Zusammenwirken aller
setzen vorhandenen Kräfte ist nötig, um das Unternehmen
7 können Sie die Impulse zum Freisetzen von in einer marktwirtschaftlichen Ordnung in seiner
Engagement und Motivation beschreiben Effizienz der Leistungserbringung zu sichern. In die-
7 können Sie Teambildungsprozesse und ein sem dynamischen Prozess reicht es oft nicht aus, dass
erfolgreiches Team charakterisieren möglichst viele zur Erreichung der Zielsetzung und
7 haben Sie einen Einblick in die Strukturierung Unternehmensstrategie an einem Strang ziehen, was
von Mitarbeiterbesprechungen alleine schon schwer genug ist. Bei häufigem Kurs-
7 können Sie die Dimensionen zur Kompetenz- wechsel dauert es Zeit, bis der Einzelne seine Aufga-
erweiterung durch Supervision skizzieren ben und Rollen anerkennt. Voraussetzung ist jedoch
7 erhalten Sie einen Überblick über die Bedeu- die Einbeziehung der Mitarbeiterinnen und Mitar-
tung des Projektmanagements zur Lösung von beiter in die Entscheidungsprozesse, denn damit
komplexen Aufgabenstellungen verknüpft ist als entscheidender Erfolgsfaktor die
Förderung von Fähigkeiten und Kompetenzen, der
Vorbemerkung Anerkennung, des Selbstwertgefühls und des guten
In Einrichtungen des Gesundheitswesens mit eher Klimas mit einem direkten Transfer zum Kunden.
noch stark tradierten Rollenverständnissen können Innovationen werden heute in der Regel erfolg-
Defizite sowohl in den Bereichen Personalführung, reich durch Teams erbracht, denen es gelingt, ihre
Organisation und Kommunikation reklamiert wer- Kenntnisse in größere Zusammenhänge einzuord-
den. Es besteht Nachholbedarf in der Entwicklung nen und die das Ziel verfolgen, komplexe Aufgaben
von verwaltenden Strukturen hin zu gestaltenden mit anderen gemeinsam zu lösen. Diese veränderten
Aufgabenstellungen, um über eine gezielte Organi- Anforderungen an Menschen in Unternehmen be-
5.1 · Wertewandel und veränderte Anforderungen im Arbeitsprozess
89 5

dingen, dass fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten Wert der Arbeit unter anderem daran messen, inwie-
durch ein Höchstmaß an geistiger Flexibilität, Pro- weit sie hier verantwortlich mit Kompetenzen ver-
blemlösungskompetenz und sozialer Qualifikation sehen den Arbeitsprozess gestalten können. Klages
erweitert werden müssen. Motivierte und begeister- beschreibt bereits 1988, dass Pflicht- und Akzeptanz-
te Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die aus eigener werte, wie Disziplin, Gehorsam, Fleiß, Selbstlosigkeit,
Verantwortung heraus handeln, bringen Organisa- Enthaltsamkeit u. a., »durchschnittlich gesehen auf
tionen in Zeiten höchster Wettbewerbsintensität mittlere Ausprägungen reduziert werden«, während
Vorteile. Eine Entwicklung zur lernenden Organisa- die Selbstentfaltungswerte, wie Emanzipation, Auto-
tion, »z. B. im Hinblick auf neue Leistungen bzw. nomie (des einzelnen), Kreativität u. a., »in mittlere
Zielgruppen, als auch intern, z. B. in Bezug auf Ausprägungslagen empor gehoben« wurden (Kla-
Schnittstellen- und Prozessoptimierung« (Skowron- ges, 1988, S. 58). Einige Industriebetriebe begegnen
nek u. Molina, 1997, S. 2), ist neben der wirtschaftli- dieser Entwicklung mit veränderter Arbeitsorgani-
chen Situation ein wesentlicher Erfolgsfaktor. sation. Hierarchien werden abgeflacht und der
einzelne Mitarbeiter erhält einen größeren Verant-
! Eine lernende Organisation berücksichtigt
wortungsbereich, den er sich weiterhin in Klein-
gleichermaßen die Entwicklung von Personen
gruppen bzw. Teams mit Kollegen teilt.
und Strukturen, trägt keine fertigen Lösungen
Werteorientierte Personalpolitik als Aufgabe des
in ein System, sondern regt ein System zur
Krankenhausmanagements bedeutet, dass Verände-
Selbstentwicklung an und versucht, eine Ba-
rungen in der Wertvorstellung von Menschen und
lance zwischen Bewahren und Veränderung
unserer Gesellschaft eine stärkere Übereinstimmung
zu finden.
mit den Leitbildern von Gesellschaft, Mitarbeitern
Dieser Prozess hat zum Ziel, Wünsche der Mitarbei- und Unternehmen erfahren müssen. Auf die Ar-
ter nach Wachstum und Entwicklung mit den Zielen beitsorganisation der Pflege bezogen bedeutet dies,
der Organisation abzustimmen, um deren Effizienz dass funktionale Hierarchien und Arbeitsprozesse
zu steigern. Die Änderung des Problemlösungsver- einer prozess- und ablauforientierten Organisation
haltens von Menschen in Organisationen folgt der zu weichen haben.
komplexen Lernstrategie mit dem Ziel, die Annah- Kernkompetenzen des Krankenhauses sind
men, Einstellungen, Werte und Strukturen einer weiterzuentwickeln sowie Führungs- und Organi-
Organisation so zu verändern, dass sie sich besser an sationsstrukturen in kürzeren Intervallen an die
neue Technologien, Märkte und den permanenten veränderten Bedingungen anzupassen (Röhrßen u.
Wechsel anpassen kann. Teuteberg, 1998). Traditionelles Wissen, basierend
auf bekannten Strukturen und Erklärungsansätzen
in Zeiten des Umbruchs veralten immer schneller.
5.1 Wertewandel und Aus der organisatorischen Perspektive ist ein Pro-
veränderte Anforderungen zesskettenmanagement dringend erforderlich. Mit-
im Arbeitsprozess denkende, entscheidungsfähige und kreative Men-
schen rücken damit in den Mittelpunkt des unter-
Einrichtungen im Gesundheitswesen in Deutsch- nehmerischen Geschehens. Für das Management
land gelingt es bisher nur vereinzelt, aufgrund stark des Unternehmens gilt es, sich mit den Zielen der
hierarchischer Strukturen, ihre Kultur und Iden- Mitarbeiter, ihren Bedürfnissen und ihrer Bezie-
tität zu verdeutlichen und zu verändern. Gerade hung zu ihrer Tätigkeit im Unternehmen auseinan-
die Änderungsbereitschaft, vernetztes Denken und derzusetzen.
Innovationsgeist sowie der Motivationsgrad der »Wenn ›top-down‹-Ideen durchgesetzt werden
Mitarbeiter bilden die wesentlichen Merkmale der sollen, so geht das nicht ohne vorherige Überzeu-
zukünftigen Krankenhauskultur auf dem konkurrie- gungsarbeit bei denen, die sie umsetzen sollen. Die
renden Sektor. kritische Auseinandersetzung der ›Macher‹ mit den
Der zunehmende Individualisierungsprozess in Ideen und Vorschlägen der ›Denker‹ wird Entschei-
unserer Gesellschaft führt dazu, dass Menschen den dungs- und Veränderungsprozesse oft mühseliger
90 Kapitel 5 · Organisation und Mitarbeiterführung

und länger werden lassen« (Biehal, 1994, S. 38). Un- grundsätzen« verknüpft (Skowronnek u. Molina,
gleich wahrscheinlicher ist die Realisierung, wenn 1997, S. 16). Mit dem Wunsch, Zielsetzungen des
sie vorher bei den Beteiligten Akzeptanz gefunden Pflege- und Funktionsdienstes in Form eines Pflege-
haben. leitbildes, in der sowohl patienten- als auch mitar-
Damit gewinnt eine Organisationseinheit, wie beiterbezogene Ziele aufgestellt sind, zu definieren,
eine Station oder Ambulanz, innerhalb des Kran- setzt sich in Einrichtungen des Gesundheitswesens
kenhauses einen besonderen Stellenwert im Hin- ein sich bereits seit 1990 zunehmend durchsetzen-
blick auf ein Leistungs- und Verantwortungszent- der Trend in Wirtschaftsunternehmen sowie großen
rum. Sie bildet wegen ihrer Nähe zum Patienten den renommierten Kliniken in den USA fort (Kramer u.
Knotenpunkt im Leistungsprozess und hat eine be- Schmalenberg, 1990).
5 deutsame Stellung im Kommunikationsnetz inner- Ein Pflegeleitbild (vgl. Beispiel der Berliner Cha-
halb der Krankenhausstruktur. rité unten) zeigt auf, nach welchen Grundsätzen sich
Pflegende ausrichten. Es hat einen Aufforderungs-
charakter, sich in eine definierte Richtung weiterzu-
5.1.1 Leitbild und Corporate Identity entwickeln. Leitbilder definieren Verhaltensweisen
und Qualitätsansprüche, um die sich die Mitarbeiter
Definition
verpflichtend bemühen sollen.
»Corporate Identity ist die strategisch geplante Die Leitsätze sollen berufliches Handeln lenken,
und operativ eingesetzte Selbstdarstellung und den Stellenwert der Aufgabenfelder aufzeigen und
Verhaltenweise eines Unternehmens nach innen deren Bedeutung und Qualität beim Leistungserstel-
und außen auf Basis einer festgelegten Unter- lungsprozess nach innen und außen darstellen. Die
nehmensphilosophie, einer langfristigen Un- Integrität eines Pflegeleitbildes in das Unterneh-
ternehmenszielsetzung und eines definierten mensleitbild ist zwingend.
Soll-Images – mit dem Willen, alle Handlungsin- Von der Vision zum Erfolg bedarf die Umset-
strumente des Unternehmens in einheitlichem zung des Leitbildes in den Pflegebereichen eines
Rahmen nach innen und außen zur Darstellung kontinuierlichen Prozesses. Einzelne Leitgedanken
zu bringen« (Birkigt u. Stadler, 1986, S. 23). bzw. Ziele sind herauszugreifen und in konkreten
Aktionsprogrammen umzusetzen. Dieser kontinu-
ierliche Prozess muss von Anregungen, Transparenz
Werden die Wertvorstellungen der Mitarbeiter als und einer aktiven Beteiligung aller Mitarbeiterebe-
fundamentale Grundlagen ihres Handelns betrachtet, nen und dem ständigen Wunsch nach Verbesserun-
setzt die Zusammenarbeit in Unternehmen gewisse gen gekennzeichnet sein (. Abb. 5.1). Werden Lern-
Übereinstimmungen in Werten, Zielen und Denk- und Entwicklungspotenziale mobilisiert, darf eine
modellen voraus. Wertende Leitmaxime innerhalb Unternehmenskultur nie statisch stagnierend sein,
der Unternehmenskultur sollen das »Wir-Gefühl« sondern muss auf unterschiedliche Einflüsse inner-
sowie das berufliche Selbstbewusstsein und Selbst- halb und außerhalb des Unternehmens innovativ
verständnis der Mitarbeiter stärken. Berufliches Han- und anpassungsfähig reagieren können.
deln und persönlicher Einsatz sollen als sinnvoll er- Nach Pümpin et al. werden in der Unterneh-
lebt und in eine betriebliche Leitlinie integriert sein. menskultur »die Gesamtheit der Normen, Wertvor-
Gemeinsame Zielsetzungen sollen die Verständigung stellungen und Denkhaltungen, die das Verhalten
der Mitarbeiter auf allen Ebenen fördern. der Mitarbeiter aller Stufen und somit das Erschei-
nungsbild eines Unternehmens prägen« gesehen
Pflegeleitbild (Pümpin et al., 1985, S. 8). Dabei kristallisieren sich
In einem Leitbild werden die Ziele, Werte und Nor- insbesondere vier Kriterien heraus:
men konkretisiert und diese mit »Aussagen zu Men- 1. Kundenorientierung: Aussagen über ein be-
schenbild, Kooperation, Mitbestimmung und Füh- stimmtes Bild vom Menschen sowie die Defini-
rungsstil ebenso wie Regeln der innerbetrieblichen tion qualitativ hochwertiger Leistungen oder
Kommunikation und Kooperation sowie Führungs- Dienstleistungen werden angestrebt.
5.1 · Wertewandel und veränderte Anforderungen im Arbeitsprozess
91 5

Holleis fasst in fünf Funktionen die Bedeutung


von der Vision zum Erfolg
der Unternehmenskultur zusammen:
4 Die Unternehmenskultur begründet Identität.
4 Die Unternehmenskultur vermittelt Sinn.
4 Die Unternehmenskultur stiftet Konsens.
Vision & Leitbild 4 Die Unternehmenskultur gibt Orientierung.
4 Die Unternehmenskultur eröffnet Lernpotenzi-
ale (Holleis, 1987).

Unternehmensziele/ -strategien Beispiel Pflegeleitbild der Charité


Universitätsmedizin Berlin 2005

operative Ziele für Teilbereiche


Zielsetzung
Das Pflegeleitbild gibt Orientierung für eine ge-
meinsame berufliche Identifikation Pflegender im
Unternehmen. Unsere Zielsetzung ist die Gewähr-
Planung, Umsetzung, Kontrolle, Maßnahmen leistung einer patientenorientierten Pflege basierend
auf dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkennt-
nisse. Pflegeforschung, Aus-, Fort- und Weiterbil-
dung sind integraler Bestandteil unserer Arbeit.
Zielerreichung, Bewertung und Rückkopplung
Pflegeverständnis
Wir behandeln jeden Menschen mit Würde und Re-
. Abb. 5.1. Von der Vision zum Erfolg (nach Ament-Ram-
spekt und beziehen ihn als Partner in alle ihn betref-
bow, 2004) fenden Entscheidungen ein. Wir begleiten, beraten
und unterstützen die Patientinnen und Patienten in
unterschiedlichen Lebenssituationen, von der Ge-
2. Innovationsorientierung: Offenheit und eine po- burt bis zum Sterben. Wir bieten eine Atmosphäre,
sitive Grundhaltung gegenüber neuen Ideen und in der Angehörige/Bezugspersonen sich aufgenom-
dem Interesse an Weiterentwicklung wird geför- men und einbezogen fühlen.
dert.
3. Mitarbeiterorientierung: Es wird Wert auf eine Pflegequalität
vertrauensvolle Zusammenarbeit gelegt; dabei Wir entwickeln unsere berufliche Kompetenz durch
spielt die Vorbildfunktion der Führungspersön- aktiven Wissenserwerb und kontinuierliche Re-
lichkeiten, eingebettet in eine kooperative Füh- flexion der eigenen Tätigkeit. Unsere Pflegequalität
rungskonzeption, aber auch die Delegation von überprüfen wir regelmäßig mit definierten Krite-
Verantwortung und Kompetenzen an die Mitar- rien. Wir unterstützen die Leistungsfähigkeit des
beiter, eine große Rolle. Unternehmens durch wirtschaftliches Handeln. Das
4. Resultats- und Leistungsorientierung: Leistung ist Spannungsfeld von Aufgabenerweiterung und Aus-
bei gleichzeitig anzustrebender hoher Qualität gabenbegrenzung mindern wir durch konstruktives
zu erbringen. lösungsorientiertes Handeln.

Das Vorhandensein dieser Grundsätze und Struk- Zusammenarbeit


turen hat unmittelbaren Einfluss auf die Mitarbei- Das Pflegepersonal ist Partner im multidisziplinä-
terführung und Organisation eines Unternehmens ren Team und kooperiert mit allen Einrichtungen in
bis zur operativen Ausrichtung der einzelnen be- Lehre und Forschung und Krankenversorgung. Ge-
trieblichen Einheit wie einer Station oder Ambu- genseitige Achtung und Toleranz bestimmen unser
lanz. Miteinander, in dem jeder an seinem Platz zum Ge-
92 Kapitel 5 · Organisation und Mitarbeiterführung

lingen des Ganzen beiträgt. Wir gestalten gemeinsam rungskraft im Kontext der Aufgabenstellung im Be-
ein Arbeitsklima, das Mitarbeiterinnen und Mitar- trieb zu fühlen, wird die (5.) Zielmotivation unter-
beiter ermutigt und befähigt, selbstständig Entschei- stützt. Zielvereinbarungen zwischen Mitarbeiter
dungen zu treffen und Verantwortung zu überneh- und Führungskraft bedingen gleichzeitig, den Erfolg
men. Wir sehen die Umsetzung des Leitbildes als zu eruieren (6. Zielevaluation), die gesetzten Ziele
kontinuierlichen Prozess, der von Anregungen und gemeinsam zu besprechen und in einer zweiten Di-
Verbesserungen gekennzeichnet ist. mension, sich aufbauend und orientiert am Lei-
tungspotenzial in weitere konkrete Zielstellungen
für die Zukunft zu münden (Fröhlich, 1990, S. 38f).
5.1.2 Führen mit Zielen (»Management Die Vorteile für die Führungskraft können in der Be-
5 by Objectives«) rufung auf die gemeinsame Zielvereinbarung bei der
Ausübung der Kontrollfunktion einem besseren
Die sog. »Management by …«-Konzeptionen haben Überblick in die Leistungsmotivation und die Ein-
ihren Ursprung in der praxisorientierten amerikani- stellungen des Mitarbeiters sowie einer sachkundi-
schen Managementliteratur der 60er und 70er Jahre. geren Beratung und Förderung gesehen werden.
Management by Objectives (MbO), die Führung mit Nach dem BRAHMS-Modell können Rahmen-
Zielen, gilt als die am weitesten verbreitete Führungs- bedingungen für das Führen mit Zielen postuliert
technik. Einerseits werden die Ziele von Führungs- werden (Praße, 1999). Neben dem Vorliegen einer
kraft und Mitarbeiter gemeinsam erarbeitet und grundsätzlichen Bereitschaft zur Erarbeitung ge-
andererseits ein Führungsmodell mit umfassenden meinsamer Ziele sind auch Rahmenbedingungen
Zielbildungsprozessen im Unternehmen initiiert. (Unternehmenskultur, Leitbild, Budget) erforderlich.
Fröhlich hat sechs Grundsätze des MbO formu- Die mögliche Delegation von Aufgaben an einzelne
liert. Die (1.) Zielprojektion setzt zunächst voraus, oder Teams setzt einen gewissen Handlungsspielraum
dass Zielvorstellungen grundsätzlich vorhanden bei der Suche nach sinnvollen Lösungen voraus, bei
sind. So können z. B. in Einrichtungen des Gesund- der auch gezielt Kreativität freigesetzt werden soll.
heitswesens die Dienstleistungen in einem Leitbild Festgelegte und geplante Maßnahmen unterliegen
mit Qualitätsmerkmalen und Verhaltensweisen, um nach den Gesichtspunkten im Projektmanagement
die sich die Beschäftigten bemühen, definiert sein. in der Bearbeitung einer Verbindlichkeit. Die Füh-
Bei der (2.) Zieldefinition geht es darum, Zielgrößen rungskraft unterstützt die Aktivitäten zur Zielerrei-
aus dem Gesamtziel innerhalb der Geschäftsberei- chung aus Überzeugung und vermittelt so den Betei-
che, Abteilungen oder Organisationseinheit zu ope- ligten die erforderliche Sicherheit, dass das angestreb-
rationalisieren, in Beziehung zu setzen und für die te Resultat auch tatsächlich erreicht werden soll.
Stelleninhaber in einer klaren und unmissverständ-
! Klarheit in der Zielformulierung fördert
lichen Form darzustellen. Führung mit Hilfe von
grundsätzlich den Zielerreichungsprozess.
Zielen betont ein kooperatives und partizipatives
Daher müssen Ziele S.M.A.R.T.T (spezifisch,
Führungssystem innerhalb eines zyklisch verlaufen-
messbar, akzeptabel, realistisch, termin-
den Prozesses. Ausgehend von dieser Aussage ist die
orientiert, transparent) sein.
(3.) Zielpartizipation, also die ständige Abstimmung
und die Beteiligung der Mitarbeiter, unerlässlich.
Zielvorgaben sind dann motivierend, wenn sie an-
spruchsvoll und erreichbar sind und gleichzeitig bei 5.1.3 Das Mitarbeitergespräch
dem Mitarbeiter das Interesse an der Realisierung mit Zielvereinbarung
wecken, seinen Verantwortungsbereich vergrößern
und durch die Zielbejahung zur (4.) Zielidentifikati- Die Forderungen nach Wirtschaftlichkeit eines Un-
on führen. Unter Berücksichtigung der Persönlich- ternehmens einerseits und nach Humanisierung der
keitsentwicklung des einzelnen Mitarbeiters, durch Arbeitswelt andererseits bilden die wesentlichen
das Einräumen der Möglichkeit, seine Fähigkeiten Orientierungspole in jeder modernen Personalfüh-
unter Beweis zu stellen und sich als Partner der Füh- rung. Die Implementierung regelmäßiger Mitarbei-
5.1 · Wertewandel und veränderte Anforderungen im Arbeitsprozess
93 5

tergespräche mit Zielvereinbarungen können die Es schafft am ehesten die Grundlage, eine gemein-
Suche nach bestmöglichen Kompromissen im Sinne sam getragene zukunftsorientierte Vereinbarung zu
des Unternehmens und der Mitarbeiter nachhaltig finden. Der Hauptakzent des Gesprächs beruht auf
unterstützen. Es ist ein Gespräch zwischen dem un- den künftigen Gestaltungsmöglichkeiten. Eine plan-
mittelbaren Vorgesetzten und dem Mitarbeiter. volle Vorbereitung des Gesprächs beider Gesprächs-
Als angewandtes Führungsinstrument kann eine partner, ein zielorientierter Gesprächsverlauf, die
Gesprächskultur entwickelt und gefestigt werden, dialogische Einstellung (möglichst viele Sichtweisen
die zu einer Verbesserung der Kooperation, Motiva- einbeziehen, zum Gespräch »einladen«, den ande-
tion und zu gezielter Personalentwicklung führen ren »besuchen«) und das dialogische Verhalten (den
soll. Es liegt auf der Hand, warum sich Unterneh- Standpunkt des anderen besser verstehen durch auf-
men verstärkt dieser Art von Gesprächen widmen. merksames Zuhören, grundsätzliche Offenheit für
Menschenführung besteht im Wesentlichen aus Ge- alternative Handlungsmöglichkeiten) der Führungs-
sprächen zwischen Mitarbeiter und Führungskraft. kraft und die Integration der gesammelten Erfah-
Sprenger bezeichnet Motivation als das freie Fließen rungen in einen kontinuierlichen Lernprozess, be-
einer eingeborenen Energie (Demotivation ist nach günstigen ergebnisorientierte Mitarbeitergespräche.
Sprenger blockierte, träge Energie), die von Füh- Im »mitarbeiterorientierten Gespräch steuert der
rungskräften gezielt zu fördern ist. Über diese Fak- Vorgesetzte den Dialog wenig bis gar nicht nach sei-
toren erhält die Führungskraft nur Aufschluss im nen eigenen Vorstellungen, sondern nach dem, was
»direkten, regelmäßigen Mitarbeitergespräch (face er den Äußerungen des Mitarbeiters entnehmen
to face)« (Sprenger, 1993, S. 173). Zwischen dieser kann« (Jung, 2003, S. 2).
Erkenntnis und der Tat ist in der Realität in der Un-
ternehmenswelt oft noch ein weiter Weg. Aussagen Praxisbox
der Mitarbeiter, »Jetzt bin ich schon solange hier be- Checkliste für den Mitarbeiter
schäftigt, aber wie meine Arbeit gesehen wird, weiß zur Vorbereitung
ich bis heute noch nicht!«, oder der Führungskraft, Zielüberprüfung:
»Ich kann gar nicht verstehen, warum mir meine 5 Was wurde von mir seit dem letzten Mitar-
Mitarbeiter bei diesem fortschrittlichen Projekt beitergespräch erwartet?
nicht folgen möchten!«, sind durchaus keine Selten- 5 Was waren meine Aufgaben?
heit. Der Wunsch des Menschen, bedeutend zu sein, 5 Sind die Ziele erreicht?
anerkannt und gelobt zu werden, bedingt für den 5 Was war förderlich und was war hinderlich?
Arbeitsprozess ein Wissen darüber, wie Kollegen
und Führungskräfte mit seiner Arbeit zufrieden Einschätzung der Arbeit und Zielsetzung:
sind. Er will wissen, ob seine Fähigkeiten und Fertig- 5 In welchen Bereichen sollte sich meine Ar-
keiten erkannt, richtig eingeschätzt werden und beit verbessern?
möchte selbst nach seinen Leistungen und Interes- 5 Welche Bereiche benötigen besondere
sen eingesetzt und gefördert werden. Anstrengung und erhöhte Aufmerksamkeit?
Eine solche Form des Mitarbeitergesprächs be- 5 Was kann ich dazu beitragen?
dingt eine kooperative Arbeitsbeziehung, in der 5 Wie könnte die Unterstützung durch mei-
Partnerschaftlichkeit und Gleichrangigkeit auf der nen Vorgesetzten aussehen?
Beziehungsebene zum Ausdruck kommen (Schulz
von Thun, 1981). Problemanalyse:
5 Mit welchen Schwierigkeiten und Risiken
! Auf der Basis eines vertrauensvollen Klimas ist rechne ich?
das Mitarbeitergespräch mit Zielvereinbarun- 5 Wodurch können diese überwunden
gen die geeignetste Form, leistungs-, aufga- werden?
ben-, und zielbezogen zu kommunizieren und 5 Was kann ich selbst tun und welche Unter-
die Entwicklungschancen und Entwicklungs- stützung brauche ich?
wünsche des Mitarbeiters offen zu diskutieren.
94 Kapitel 5 · Organisation und Mitarbeiterführung

Ziel des Gesprächs ist die gemeinsame Suche nach auf der Station oder Ambulanz in einem Zielverein-
Möglichkeiten zur Verbesserung der Arbeitsleis- barungsprozess geführt. Dabei stellen qualitative
tung, der Arbeitsbedingungen und der Zufrieden- Ziele aus den Dienstleistungsbereichen im Hinblick
heit. Mit der beiderseitigen Zielsetzung auf Einigung auf objektive Messbarkeit eine besondere Herausfor-
und entsprechenden Änderungskonsequenzen wird derung dar.
der Anspruch nach einer offenen und vertrauensvol- In einer Zeit des raschen wirtschaftlichen und
len Gesprächssituation umso deutlicher. gesellschaftlichen Wandels ist der Erfolg eines Unter-
Der Nutzen von Mitarbeitergesprächen lässt sich nehmens stärker von qualifizierten Führungskräften
anhand der Ebenen – strategische Orientierung, abhängig als in Zeiten gleichmäßigen Wachstums.
Personalführung und Personalenwicklung – charak- Neben technischen und strukturellen Fortschritten
5 terisieren: ist die Führungsarbeit im menschlich-sozialen Be-
4 Strategische Orientierung: reich als persönliche und zwischenmenschliche
5 Globalziele werden in Einzelzielsetzungen Führungskompetenz gefragter denn je. Die Imple-
heruntergebrochen und in den Aufgaben- mentierung von Mitarbeitergesprächen mit Zielver-
schwerpunkten für den einzelnen Stellenin- einbarungen bedarf in der Regel spezieller Schu-
haber deutlich, lungen von Führungskräften. Die erfolgreiche Per-
5 Identifikation mit übergeordneten Zielen sonalführung kann man heute zunehmend daran
und stärkere Einbindung des Mitarbeiters in messen, wie viel Zeit und Energie eine Führungs-
den Unternehmensprozess, kraft erfolgreich in die Entwicklung der Fähigkeiten
4 Personalführung: der Mitarbeiter investiert, um diese weiterzubilden,
5 Förderung eines Klimas des Vertrauens mit und inwieweit das Bedürfnis nach Weiterentwick-
gegenseitiger Achtung und Anerkennung, lung jedes einzelnen Mitarbeiters bewusst angespro-
5 gemeinsame Vereinbarung von Zielen und chen und gefördert wird.
Erarbeitung von Lösungsschritten, Intensität, Art und Umfang zur Institutionalisie-
5 »sanfte Kontrolle« im Rahmen der Personal- rung der Gespräche werden von unterschiedlichen
führung, Determinanten bestimmt. Führungskräften werden
5 Führungskraft lernt die Interessen und Er- an dieser Stelle hohe Anforderungen an ihre Stress-
wartungen ihrer Mitarbeiter besser kennen, toleranz sowie soziale Sensibilität, Konfliktfähigkeit
4 Personalentwicklung: und kommunikatives Geschick abverlangt. In Trai-
5 Mitarbeiter wird zum Nachdenken über sei- ningsmaßnahmen gewinnt die Steigerung der situa-
ne eigene Weiterbildung und Förderung an- tiven Kompetenz z. B. in Form von Rollenspielen
geregt; die Führungskraft hat im Rahmen an Bedeutung.
der Führungsverantwortung Realisierungs- Kommunikationswissenschaftler kritisieren mitt-
möglichkeiten zur Entwicklung der Mitar- lerweile die einseitige Investition in die Führungs-
beiter zu überlegen, ebene, bei der Führungs- und Kommunikations-
5 Leistungs- und Entwicklungspotenziale, Be- verhalten in eher hierarchisch homogenen Gruppen
darf an Bildung und nötige Unterstützung trainiert wird. Eine bewusste Integration der Mit-
des Mitarbeiters sollen erkannt werden; die arbeiter in ein Schulungskonzept verlässt den Pfad
Eigenverantwortung wird gefördert und Kre- einer einseitig in sozial- kommunikativen Kompe-
ativität wird freigesetzt. tenzen hochgerüsteten Führungselite, in der häufig
in einer »Pseudo-Partnerschaft die Mitarbeiter
Ziele können in unterschiedlichen Zeitabschnitten zwangsläufig den besseren Argumenten ihrer Füh-
(kurz-, mittel-, langfristig) eingeteilt werden. Sie rungskräfte unterliegen müssen« (Schettgen, 1993,
müssen überprüfbar und eindeutig sein. Aus der S. 72). Gemeinsame Trainingseinheiten von Füh-
Zielsetzung des Unternehmens (z. B. Kundenzufrie- rungskräften und Mitarbeitern aus einer Organisati-
denheit) werden Unterziele abgeleitet und diese z. B. onseinheit können eine unmittelbare Vorbreitung
von der Ebene der Pflegedirektion zur Pflegedienst- auf die ohnehin durchzuführenden Gespräche leis-
leitung über die Stationsleitung bis zur Pflegenden ten, in denen sich die tatsächlichen Partner (z. B.
5.2 · Motivation und Leistung von Mitarbeitern
95 5

auch in einem Rollenwechsel) in einer geschützten tung des Wandels, die Umsetzung von Reorganisati-
Atmosphäre vorbereiten und üben. Ein Training onsmaßnahmen und die Implementierung neuer
anhand realer Situationen ergibt sich häufig aus Prozesse ist im Wesentlichen vom Engagement der
dem Verlangen der Teilnehmer, Situationen aus dem unmittelbar beteiligten Mitarbeiter im Verände-
eigenen Umfeld zu behandeln. Ein Vorteil besteht in rungsprozess geprägt. Betriebliche wirtschaftliche
der Berücksichtigung von echten und konkreten Realitäten verstärken den Druck auf kurzfristige und
Anliegen der Teilnehmer, die in der Regel ohnehin nachhaltige finanzielle Effekte, bei denen die Anfor-
einen Lösungsansatz benötigen. Die spezifische derungen an ein systematisches Veränderungsma-
Unternehmenskultur, abgestimmte Führungsleitli- nagement in den Hintergrund geraten können.
nien, der Kreis der Einbezogenen sowie deren bishe- Wenn Mitarbeiter auf dieses neue »Denken«
rigen Erfahrungen sind denkbare Determinanten nicht ausreichend vorbereitet sind, können Unsi-
für die Intensität, Art und Umfang von Trainings zur cherheiten und Ängste den Widerstand verstärken.
Institutionalisierung von Mitarbeitergesprächen. Hinsichtlich der Hierarchie der Bedürfnisse (physi-
ologische, sicherheitsorientierte, soziale, psycholo-
Praxisbox gische Bedürfnisse, Wunsch nach Selbsterfüllung)
Ein Mitarbeitergespräch mit Zielvereinbarungen müssen zunächst die ökonomischen Bedürfnisse an-
sollte einmal jährlich stattfinden. Ergebnisse gemessen befriedigt sein, bevor die übrigen Bedürf-
und Zielvereinbarungen werden schriftlich fest- nisse als Elemente der Motivierung an Bedeutung
gehalten und sollten von den Gesprächspart- gewinnen (Scanlan, 1982).
nern unterschrieben werden. Es ist ein vertrau- »Pflegende mit ihrer Ausbildung sind bereits
liches Gespräch, aus dem die Weitergabe von durch Teamarbeit und Demokratiebewusstsein ge-
Informationen an Dritte ohne Einverständnis prägt« (Ament-Rambow, 2005, S. 567). Im unmittel-
beider Beteiligten, für eine vertrauensvolle Zu- baren Arbeitsprozess werden Emotionen offen the-
sammenarbeit kontraproduktiv sind. matisiert und Aufgaben im Team gelöst. Verände-
rungsprozesse werden deswegen oft am meisten von
Pflegenden angestoßen, weil die direktere Konfron-
Auf der Basis von Partizipation führen Mitarbeiter- tation mit den Wünschen der Patienten am ehesten
gespräche mit Zielvereinbarungen zu einer stärkeren geeignet ist, die Notwendigkeiten für Veränderungen
Identifikation mit der Arbeit und dem Unterneh- zu identifizieren. Es sind öfters die fehlende Akzep-
men. Motivationsstand und Leistungsbereitschaft tanz bei anderen Berufsgruppen oder festgefahrene
können sich in einem wechselseitigen Nutzen stei- Strukturen, die eine Umsetzungsstärke reduzieren
gern. Dem »Menschlichen« wird in der Organisation können. Wie aber lässt sich freiwilliges Engagement,
mehr Spielraum gegeben und anstelle bürokratischer Motivation, Neugier und die Freude am Neuen
Regelungen tritt eine kommunikative Verständi- freisetzen und welche Rolle hat hierbei das Pflege-
gung. management wahrzunehmen? Zur Beantwortung
dieser Frage ist es sinnvoll, sich mit möglichen Moti-
vations- und Demotivationsfaktoren auseinanderzu-
5.2 Motivation und Leistung setzen. Eine von der Deutschen Gesellschaft für Per-
von Mitarbeitern sonalführung e. V. in Auftrag gegebene Studie beim
Centrum für Krankenhaus-Management hat in einer
Maßnahmen zur Umstrukturierung, wie Fusionen, Motivationsabfrage in Kleingruppen wertvolle Hin-
Trägerwechsel, Bettenabbau Schließungen von Sta- weise herauskristallisiert. Die herausgearbeiteten
tionen oder Teilbereichen, Zusammenlegungen von Aussagen wurden durch Interviews und Reflexions-
Abteilungen, Personalabbau, kürzere Verweildauer, gespräche auf inhaltliche Validität geprüft:
knappere finanzielle Ressourcen, Ausschöpfung von 4 »Ein Gefühl von Stolz, Freude und Selbstwert
Wirtschaftlichkeitsreserven u. v. m., bestimmen empfinde ich, wenn …
bundesweit die Veränderungen in den Einrichtun- 5 … ich weiß, dass ich gute Arbeit leiste/geleis-
gen im Gesundheitswesen. Die erfolgreiche Gestal- tet habe
96 Kapitel 5 · Organisation und Mitarbeiterführung

5 … Anerkennung meiner/unserer Professio- 4 Strukturmängel [sind vorhanden, wenn …]


nalität von außen erfolgt (Patienten, Ange- 5 … Erfolg an Banalitäten scheitert
hörige, KollegInnen, Vorgesetzte) 5 … veränderbare Rahmenbedingungen mei-
4 Erfolg haben [ist, wenn …] ne Arbeit erschweren
5 … ein Projekt erfolgreich abgeschlossen 4 Unglaubwürdige Führung [liegt vor, wenn …]
werde konnte 5 … Entscheidungen mir aufdiktiert werden
5 … meine Arbeit Erfolg hat (keine Transparenz)
5 … der Erfolg mir Recht gibt 5 … unsachlich Macht ausgeübt wird
5 … Unmögliches möglich wird 5 … ich auf Inkompetenz stoße, die verbunden
5 … ich erlerntes Fachwissen praktisch umset- ist mit Arroganz
5 zen konnte […] 5 … ich Gleichgültigkeit bemerke
5 … ich den Mut hatte, meinen Weg beizube- 5 … ich ungerechtfertigte Kritik erhalte
halten: mit Erfolg 5 … Initiative geblockt wird« (von Eiff, 2000,
5 … ein Patient lächelte S. 103f)
5 … meine Arbeit erfolgreich umgesetzt wird
5 … es mir gelingt, auch andere für eine Sache Von Eiff hat durch eine Umfrage bei 63 Pflegekräften
zu begeistern und 26 Assistenzärzten herausgearbeitet, dass die
5 … ich mich ernst genommen fühle größten Motivationseffekte durch »unfaire«, ver-
5 … gute Organisation auch im Ausnahmefall steckte soziale Spielregeln auftreten. Die Frustration
klappt nimmt durch Intrigen, nicht transparente Absich-
4 Anerkennung erfahren [ist, wenn …] ten, geblockte Initiative, destruktive Kritik, bewuss-
5 … ich Lob, Anerkennung erfahren habe tes Übergehen, Ungerechtigkeit, Entscheidungsun-
5 … meine Arbeit gelobt wird fähigkeit, Angst vor Verantwortung, Desinteresse,
5 … meine Arbeit geschätzt wird, wenn sie ge- Überforderung und fehlende Anerkennung zu.
lingt Führungskräfte können den negativen Motivati-
5 … ich aufrichtiges Lob durch den Vorgesetz- onseffekten mit transparenten Entscheidungsprozes-
ten erhalte sen, Bestrafen von intrigantem Verhalten, Belohnen
4 Ein Gefühl von Verärgerung, Gleichgültigkeit von Engagement, Abbauen von Engagementhinder-
und Lähmung meiner Initiative stellt sich bei mir nissen, Vermeiden von öffentlicher Kritik, einer kon-
ein, wenn … struktiven Fehlerkultur, fachgerechter Einbeziehung
5 … ich persönlich versage von Mitarbeitern, nachvollziehbaren Entscheidun-
5 … ich festgefahrene Verhaltensstrukturen gen, durch Fordern, Entwickeln von Vertrauen und
erlebe »Mitnehmen« der Mitarbeiter entgegenwirken.
5 … ich zwar Erfolg habe, aber den anderen »Motivation kann nur von innen heraus entste-
nicht überzeugt habe hen, geboren aus der Überzeugung, etwas wert zu
4 [Feedback fehlt, wenn …] sein im Rahmen der Krankenhausorganisation, ei-
5 … ich keine positive oder negative Rückmel- nen Beitrag, in welcher Form auch immer für das
dung über meine Arbeit bekomme Funktionieren des Krankenhausbetriebes zu leisten,
5 … Arbeitsergebnisse ignoriert werden der auch als solcher anerkannt wird« (von Eiff, 2000,
4 Sinnlose ABM [(Arbeitsbeschaffungsmaßnah- S. 101). Die Aufgabe der Führungskraft besteht in
men) sind, wenn …] der Schaffung der organisatorischen Rahmenbedin-
5 … ich sinnlose Arbeit ausführen muss gungen, einer Vorbildfunktion, die den Wunsch des
5 … Ziele nicht produktiv sind Menschen nach mehr Autonomie und Selbststän-
4 Professionalität [ist] nicht gefragt, [wenn] digkeit in der Arbeitswelt in den Vordergrund rückt
5 … nach erfolgter Weiterbildung die PDL und damit seine Motivation und Leistungsbereit-
kein Interesse zeigt schaft selbst entwickeln lässt. Rosenstiel und Stengel
5 … Kompetenz nicht gefragt ist interpretierten bereits 1987, dass auf der Basis eines
5 … ich Erlerntes nicht anwenden kann gestiegenen Bildungsniveaus das Wohlbefinden und
5.2 · Motivation und Leistung von Mitarbeitern
97 5

die Identifikationsbereitschaft des Einzelnen auch die Voraussetzung für eine erfolgreiche Teamarbeit.
davon tangiert wird, inwieweit er an die Dienstleis- Dabei unterstützt die Führungskraft im Rahmen der
tungen des Unternehmens glaubt und den Weg be- Teamentwicklung die Mitarbeiter, die Probleme
fürwortet, auf dem diese realisiert werden (Rosen- selbst zu erkennen, zu bewältigen und die richtigen
stiel u. Stengel, 1987). Lösungen zu finden. Sie ist kein Problemlöser des
Wie sich eine innere Haltung bzw. in der Person Teams. Sie schätzt vielmehr die Potenziale der Team-
begründete Motivation durch von außen gelenkten mitglieder richtig ein, kann Verantwortung übertra-
Faktoren verändern kann, zeigt das folgende Bei- gen und klare, erreichbare Ziele vereinbaren. Die
spiel. Die ursprüngliche Anziehungskraft, die Span- Führungskraft ist gleichzeitig Vorbild, selbstkritisch,
nung und die Neugier gehen nach einer Umwand- zur Kritik von beiden Seiten fähig und sorgt für ein
lung in eine andere Belohnung verloren. positives Image des Teams innerhalb des Unterneh-
mens. Bei der Maßnahmenentwicklung berücksich-
tigt sie die Individualität der Teammitglieder und
Kasuistik ist fähig, Persönlichkeiten zu integrieren (Gerlach,
»Ein alter Mann wurde täglich von den Nach- 2003). »Zweck von Teamentwicklung ist es, die fach-
barskindern gehänselt und beschimpft. Eines liche und soziale Zusammenarbeit eines Teams so
Tages griff er zu einer List. Er bot den Kindern weit zu stärken, dass eigenständige und optimale Ar-
eine Mark an, wenn sie am nächsten Tag wieder- beitsergebnisse heute und in Zukunft erzielt werden
kämen und ihre Beschimpfungen wiederholten. können« (Gerlach, 2003, S. 32).
Die Kinder kamen, ärgerten ihn und holten sich
dafür eine Mark ab. Und wieder versprach der Teamentwicklungsphasen
alte Mann: »Wenn ihr morgen wiederkommt, Strukturveränderungen in den Gesundheitseinrich-
dann gebe ich euch 50 Pfennig.« Und wieder ka- tungen führen immer häufiger dazu, dass sich neue
men die Kinder und beschimpften ihn gegen Teamkonstellationen bilden (müssen). Die folgen-
Bezahlung. Als der alte Mann sie aufforderte, den Entwicklungsphasen sind bei der Entwicklung
ihn am nächsten Tag, diesmal allerdings gegen eines Teams nahezu typisch.
20 Pfennig zu ärgern, empörten sich die Kinder:
Für so wenig Geld wollten sie ihn nicht be- Phase des Formings
schimpfen, Von da an hatte der alte Mann seine Es handelt sich um die Kennlernphase. Sie ist ge-
Ruhe.« (Sprenger, 1996, S. 67) prägt durch Unsicherheiten, Orientierungsversuche,
in denen Regeln und Grenzen ausgetestet werden.
Während dieser Phase ist die Leitungsorientierung
besonders stark ausgeprägt.
5.2.1 Teamentwicklung und Führung
Phase des Stormings
Effektive Teams bieten Unternehmen die Chance, Die Diskussionen und der Austausch bzw. die Po-
durch reduzierte Reibungsverluste und erhöhte Pro- sitionierung der Standpunkte gewinnt an Dyna-
duktivität die Qualität der Dienstleistungen zu stei- mik. Meinungsverschiedenheiten werden deutli-
gern und die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen cher kommuniziert. Die Neuzuordnung von Rollen
zu verbessern. Mit der Zunahme von komplexen und Machtverhältnissen führt zu stürmischen Kon-
Lern- und Leistungsprozessen ist eine verstärkte flikten. Die Führungskraft unterstützt den Prozess,
Ausrichtung auf Teamarbeit im Hinblick auf die Ar- indem sie auftretende Konflikte offen und konstruk-
beits- und Ablauforganisation für soziale Organisa- tiv anspricht und mit den Beteiligten gemeinsam
tionen kennzeichnend. Erfolgreiches Zusammen- nach Lösungen sucht.
wirken ist jedoch selten gegeben, sondern bedarf
einer Überzeugung und Investition auf Seiten des Phase des Normings
Managements. Partizipative Führung mit entspre- Die Teammitglieder beginnen Regeln für die Zu-
chender Anleitung, Beratung und Begleitung bildet sammenarbeit aufzustellen. Es entwickelt sich ein
98 Kapitel 5 · Organisation und Mitarbeiterführung

Wir-Gefühl als Basis für die gemeinsame Lösung einbezogen. Das Durchsetzen persönlicher Meinun-
von Sachproblemen in der Arbeits- und Ablauf- gen dominiert in leistungsschwachen Gruppen. Die
struktur. Die Führungskraft unterstützt die Phase Kommunikation verläuft stockend bis feindselig.
mit ihrer fachlich-methodischen Kompetenz. Sie
verknüpft Spezialwissen mit übergeordneten und Konflikte und Kritik
strategischen Denkmustern. Konflikte gehören in leistungsstarken Gruppen zum
Selbstverständnis im Arbeitsprozess. Das Gruppen-
Phase des Performings klima fördert die offene Kommunikation ohne Angst
In dieser Phase steht das lösungs- und ergebnisori- vor persönlichen Verletzungen. In leistungsschwa-
entierte Arbeiten und Denken im Vordergrund. Die chen Gruppen wird offene Kritik unterdrückt und
5 Sachebene dominiert vor der Beziehungsebene. Die durch aggressives Schweigen oder unterschwellige
Teammitglieder sind in der Lage sich teamübergrei- Angriffe ersetzt. Ein Ablenken auf andere Teams
fende Aufgabenstellungen wie Strukturveränderun- oder Berufsgruppen lenkt vom eigenen Handlungs-
gen zuzuwenden. Die Führungskraft zeigt in den bedarf ab (McGregor, 1970; zit. n. Heimann, 2000).
Phasen ein hohes Maß an Flexibilität und Einfüh- Alle Merkmale beinhalten die Sach- und Bezie-
lungsvermögen und führt situativ. hungsebene. Voraussetzungen auf der individuellen
Persönlichkeit, der Ebene der Teamstruktur, der
Teammerkmale Teamentwicklung als auch auf der Ebene der Unter-
Es lassen sich leistungsstarke und leistungsschwache nehmenskultur und Organisationsstruktur müssen
Teams durch die folgenden beobachtbaren Merkma- für ein leitungsfähiges Team gegeben sein.
le ableiten.

Aufgaben und Ziele 5.2.2 Mitarbeiterbesprechungen


Teammitglieder in leistungsstarken Gruppen kennen
ihre Aufgaben und Ziele. Problemlösungen werden Regelmäßige Mitarbeiterbesprechungen sind ein
gemeinsam erarbeitet und kritische Punkte offen wichtiges Instrument der Kommunikation und Ko-
kommuniziert. In leistungsschwachen Gruppen sind operation. Sie bilden den direktesten aber auch
den Teammitgliedern Aufgaben und Ziele unklar. zeitaufwendigsten Weg, alle Mitarbeiter im Team zu
Teilweise werden gemeinsame Ziele boykottiert. erreichen. Sie sind zeitlich sinnvoll in den Arbeitsall-
tag zu integrieren, um durch Informationen und
Entscheidungen Vereinbarungen die Aufgaben besser und effektiver
Starke Teams zeichnen sich dadurch aus, dass sie erbringen zu können. Sie dienen der besseren Ver-
Entscheidungen gemeinsam treffen, diese tragen ständigung im Team und sollten immer ein oder
und in der Umsetzung verfolgen. In leistungsschwa- mehrere Ergebnisse beinhalten.
chen Teams werden Entscheidungen gerne vertagt Mitarbeiterbesprechungen sind für die zeitnahe
oder nach der Entscheidung in der Umsetzung igno- Weitergabe von aktuellen und wichtigen Informati-
riert. onen je nach Terminierung nicht immer geeignet.
Sie können Möglichkeiten zur Förderung der sozia-
Gruppenatmosphäre len und fachlichen Kompetenz, wie die Implemen-
Engagement, Interesse und ein entspanntes Grup- tierung von Arbeitsgruppen, Qualitätszirkeln, Mit-
penklima bestimmen die Arbeitsatmosphäre in arbeitergespräche und -beratung oder Workshops,
leistungsstarken Gruppen. Desinteresse und Gleich- nicht ersetzen.
gültigkeit mit gehäuften Spannungen prägen das Kommunikation und Kooperation werden u. a.
Klima in leistungsschwachen Gruppen. in Mitarbeiterbesprechungen gefördert, wenn in der
Gestaltung folgende Grundannahmen berücksich-
Kommunikation tigt werden:
In einer offenen und spontanen Kommunikation 4 gleichen Informationsstand herstellen,
werden in effektiven Gruppen alle Teammitglieder 4 Transparenz schaffen,
5.2 · Motivation und Leistung von Mitarbeitern
99 5

4 Diskussion zulassen, tung zusammenfassen, vermitteln, schlichten


4 Meinungsbildung und Problemlösung fördern, und Themen zu einem Ergebnis führen) und
4 Akzeptanz für Entscheidungen schaffen, Protokollant (Konzentration auf ein Ergebnis-
4 Interesse und »Wir-Gefühl« erreichen, und Maßnahmenprotokoll, wer macht was bis
4 Mitverantwortung fördern, wann?) fest.
4 Konsens finden. 4 Visualisieren Sie die Agenda und stellen Sie die
Besprechungsthemen vor.
Zu den Merkmalen von leistungsstarken Grup- 4 Formulieren Sie das Besprechungsziel, nehmen
pen gehört eine offene und spontane Kommuni- Sie Zusatzthemen entgegen und setzen Sie Prio-
kation. Alle Teammitglieder sind im Dialog einbe- ritäten.
zogen. 4 Klären Sie die organisatorischen Rahmenbedin-
Für die Gestaltung effektiver Mitarbeiterbespre- gungen (Pausen, Handy etc.) und ernennen Sie
chungen können Tipps für die Vorbereitung und einen Zeitmanager zur Einhaltung der verein-
methodisch-didaktische Hinweise für die Durch- barten Termine.
führung unterstützend sein. 4 Strukturieren Sie die Themen und sind Sie sich
bewusst, dass eine positiv-freundliche Arbeits-
Fragen zur Vorbereitung atmosphäre auch im Verhalten als Vorbild die
4 Stehen die Themen, die unbedingt behandelt Gesamtatmosphäre in der Gruppe beeinflusst.
werden sollen, am Anfang (Priorisierung)? 4 Mit unterstützenden Fragen wird sich die Grup-
4 Wie haben Sie sich auf die einzelnen Themen pe eher füreinander und für das Thema öffnen.
vorbereitet (Unterlagen)? Achten Sie auf die Einbeziehung aller Teilneh-
4 Wissen Sie, was Sie mit den Themen errei- mer, denn diese fördert hinterher die Ergebnisse
chen wollen (Information, Auftrag, Entschei- bzw. deren konsequente Umsetzung.
dung)? 4 Schriftlich visualisierte Fragen können die Klar-
4 Stellen Sie Ihrem Team die Themenliste/Tages- heit der Aufgabe unterstützen.
ordnung rechtzeitig zur Verfügung (mind. 1 Wo-
che vorher)? Praxisbox
4 Geben Sie Ihrem Team die Möglichkeit, eigene Durch »PEGASUS« können Sie der Besprechung
Themenvorschläge einzubringen? Struktur geben (Laborde, 1997):
4 Vergewissern Sie sich, welche vereinbarten Ziele 5 Präsentieren Sie Ihr Ziel
aus der/den vorangegangenen Besprechungen 5 Erklären Sie die Evidence
zu überprüfen sind? 5 Gewinnen Sie die Übereinstimmung mit
4 Bereiten Sie eine professionelle und motivieren- dem Ziel
de Eröffnung vor, die die Teilnehmer fachlich 5 Aktivieren Sie Ihre Aufmerksamkeit
und mental ankommen lässt? 5 Sichern Sie jede wichtige Entscheidung
4 Sind den Teilnehmern gemeinsame Spielregeln durch Zusammenfassung
für die Kommunikation bekannt (Ausreden las- 5 Unterziehen Sie Unwichtiges der Relevanz-
sen, Nebengespräche vermeiden, Wortmeldun- prüfung
gen beachten, Interesse an der Meinung und 5 Sichern Sie den nächsten Schritt (am Ende
Haltung haben, Aufgeschlossenheit und Tole- der Besprechung)
ranz gegenüber neuen Ideen, Probleme ernst
nehmen, ich rede von mir, nicht von »man«
oder »wir«)? Am Ende der Besprechung fassen Sie die wichtigsten
Entscheidungen und Ergebnisse zusammen und
Tipps zum Ablauf der Besprechung nehmen Bezug auf die Maßnahmenliste, was von
4 Legen Sie die Moderation (Einhalten der Kom- wem bis wann durchgeführt wird und kontrollieren
munikationsregeln, Reihenfolge der Wortmel- Sie in den Folgebesprechungen auch den Stand ver-
dungen, Beiträge und Statements ohne Bewer- einbarter Ziele.
100 Kapitel 5 · Organisation und Mitarbeiterführung

Die Bedeutung einer systematischen Vorbe- Supervision hat ihren Ursprung in der amerika-
reitung und Durchführung von Besprechungen nischen Sozialarbeit um 1900 und stand für die ko-
wird für deren Erfolg in der Praxis häufig unter- ordinierende und unterstützende Tätigkeit mehrerer
schätzt. Sozialarbeiter im Bereich der sozialen Einzelhilfe.
Im Verlauf der Jahre wurde Supervision mehr als »…
! Je informativer formelle Besprechungen eine systematische und regelgeleitete Reflexion der
sind, desto häufiger treten Konflikte auf und Berufspraxis von Personen aus helfenden Berufen
desto mehr persönliches Engagement er- verstanden« (Rohlfing, 1991, S. 4). Auch wenn heute
gibt sich. noch die Beratung sozialer Organisationen und ihrer
Je zentralisierter die Entscheidungsbefug- Mitarbeiter ein wichtiges Betätigungsfeld darstellen,
5 nisse und der Informationsfluss sind, desto gehören Dienstleistungsunternehmen, Wirtschafts-
seltener und intensiver sind Konflikte und verbände und Nonprofit-Organisationen zu etab-
desto geringer ist das persönliche Engage- lierten Nutzern dieser Beratungsleistung.
ment.
Was ist Supervision?

5.2.3 Supervision Definition

Supervision ist eine spezielle Beratungsform, die


Bei dem bestehenden Spannungsfeld zwischen ermöglicht, dass berufliches Handeln reflektiert
knapper werdenden finanziellen Ressourcen in den wird und neue Handlungsmöglichkeiten und
Gesundheitseinrichtungen und der für Fort- und Handlungskompetenzen erweitert werden kön-
Weiterbildung eingesetzten Mittel, ist die Frage nach nen.
einer Kosten-Nutzen-Analyse besonders gerechtfer-
tigt. Gleichzeitig legen die Betriebe gerade in den
Bereichen Teamfähigkeit, Problemlösungskompe- Supervision fokussiert stärker einen sich selbst re-
tenz und Kundenorientierung bei den Qualifikati- flektierenden Ansatz. Dabei werden personale, in-
onsanforderungen an neue Mitarbeiterinnen und teraktive und organisatorische Aspekte berücksich-
Mitarbeiter sehr viel Wert auf formale Qualifikatio- tigt. Situationen aus dem beruflichen Alltag werden
nen (Schade, 2002). Neben Formalqualifikationen gemeinsam mit den Teilnehmern analysiert, erörtert
gewinnen »Soft Skills«, wie Kommunikations- und und selbstreflektiv bearbeitet. Kommunikation und
Kooperationsfähigkeiten, an Bedeutung. Damit wird Kooperationsbeziehungen im Kontext zu berufli-
in den personalintensiven Gesundheitsbereichen cher Arbeit stehen im Vordergrund. Die emotiona-
dem besonderen Merkmal des hohen Anteils der le Entlastung und das Auflösen von Spannungen
Arbeit in der unmittelbaren Begegnung und Inter- können dazu beitragen, die Energien wieder auf die
aktion mit den Patienten zumindest in den Anforde- beruflichen Aufgaben zu orientieren. Umstruktu-
rungsprofilen Rechnung getragen. Supervision als rierungsprozesse, Burn-Out-Gefährdung bei be-
Unterstützungs- und spezielle Beratungsmethode sonders belastender Arbeit, Kommunikations- und
der Personalentwicklung kann Prävention und Be- Kooperationsprobleme mit Klienten, Kunden und
wältigung arbeitsbezogener Belastungen dienen, bei Vorgesetzten können weitere Anlässe für die Initi-
der gleichzeitig die berufliche Handlungskompetenz ierung einer Supervision sein.
erweitert und die Arbeitszufriedenheit erhöht wer- Es werden verschiedene Formen der Supervision
den kann. »Im Erleben der Pflegenden haben psy- unterschieden:
chosoziale Belastungen einen höheren Stellenwert 4 Einzelsupervision (die Einzelperson steht im
als die körperliche Beanspruchung durch ihren Be- Mittelpunkt),
ruf«. »Eine konsequente Lösungs- und Umsetzungs- 4 Gruppensupervision (Personen mit gleichen
orientierte Supervision wird dem Bedarf von Pfle- oder ähnlichen Aufgabenprofilen, Kundenbezie-
genden gerecht und erweist sich im Krankenhaus als hungen oder Führungsverantwortung stehen im
effektiv« (Wittich, 2004). Mittelpunkt),
5.3 · Projektmanagement
101 5

4 Teamsupervision (Kommunikations-, Koopera- 5.3.1 Projektmerkmale


tions-, Arbeits- und Kundenbeziehungen stehen
Definition
im Mittelpunkt).
»Ein Projekt ist nach DIN 69901 ein Vorhaben,
Ahrends skizziert die Ziele von Supervision in 4 Di- bei dem innerhalb einer definierten Zeitspan-
mensionen der Kompetenzerweiterung ne ein definiertes Ziel erreicht werden soll,
4 personale Kompetenz: Erweiterung des Wissens und das sich dadurch auszeichnet, dass es im
über sich und die eigene Wirkung auf andere, Wesentlichen ein einmaliges Vorhaben ist
4 Beziehungs- und Arbeitsgestaltung: Kontaktauf- (http://de.wikipedia.org/wiki/Projekt [Stand:
nahme, Begegnung, Umgang mit Konflikten, 20.11.2005]«.
Harmonie,
4 strukturelle Kompetenz: Rollen-, Positionen-,
Funktionenverständnis und -gestaltung, Aufga- Weitere Merkmale können in Projekten mit unter-
benbewältigung des Einzelnen im beruflichen schiedlichen Ausprägungen auftreten:
System, 4 Komplexität (Vielzahl von Lösungsmöglichkei-
4 methodische und instrumentelle Kompetenz: Ver- ten, widersprüchliche Teilziele mit möglichen
besserung von Kenntnissen und Fertigkeiten Zielkonflikten, Komplexität der Aufgaben),
hinsichtlich des beruflichen Feldes, der Diagno- 4 einmaliger, innovativer Charakter (neue Lösun-
se, Bewältigung von Arbeitsproblemen, Krisen- gen sind zu finden, die zu lösenden Probleme
management. sind neuartig und unbekannt),
4 interdisziplinärer Charakter (für den Erfolg ist
In den letzten Jahren wird Supervision immer häu- eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit ei-
figer in psychiatrischen Einrichtungen gefordert ner bereichsübergreifenden Kooperation zwin-
und implementiert. Sie gilt mittlerweile als ein Merk- gend),
mal für Qualität (Ahrends, 2005). 4 Bedeutung (hohe Bedeutung für den Auftrag-
geber bis zur Existenzfrage einzelner Organisa-
tionseinheiten oder Abteilungen),
5.3 Projektmanagement 4 Risiken (Ziel- und Interessenkonflikte, hoher
Abstimmungsbedarf, falsche Projektziele),
Unternehmen müssen sich in einer zunehmend 4 Druck (zeitlich und ergebnisorientierte Vorga-
komplexen und dynamischen Umwelt behaupten. ben, Anforderung der Beteiligten in neuen Auf-
Projektmanagement hat sich zur Planung und Steue- gaben).
rung von betrieblichen Problemlösungsprozessen
mit dem Ziel, einen geplanten organisatorischen
Wandel zu verfolgen, zunehmend durchgesetzt. Pro- 5.3.2 Projektorganisation
jekte zeichnen sich durch einmalig durchzuführende
Vorhaben mit einer zeitlichen Befristung, besonde- Die Projektorganisation lässt sich überwiegend in
rer Komplexität und einer interdisziplinären Aufga- 3 Aufgaben- und Verantwortungsbereiche unter-
benstellung aus. In diesem Vorhaben werden die teilen:
Ressourcen einer Organisation gebündelt, um quasi Der Lenkungskreis (meist Mitglieder der Ent-
in »Laboratorien« zukünftige Strukturen einer Or- scheidungsebenen) trägt die Gesamtverantwortung
ganisation zu entwerfen, zu erproben und schritt- für das Projekt. Ihm obliegt die Grobsteuerung mit
weise zu etablieren. Dabei werden neue Erfahrungen Entscheidungs- und Interventionsrechten.
gemacht, neue Kompetenzen entwickelt und erwor- Die Projektleitung (eine Person oder Projektlei-
ben, um sich schrittweise auf Neues einzulassen, tungsteam) ist für die Feinsteuerung des gesamten
ohne die alte Identität gleich aufzugeben. Projektes verantwortlich. Ihr obliegt das operative
Management, die Koordination der Beteiligten und
die Sicherstellung der Kommunikation.
102 Kapitel 5 · Organisation und Mitarbeiterführung

Das Projektteam übernimmt die eigentliche Pro- sammlungen ohne vorliegenden Projektauftrag
jektarbeit. Neben der fachlichen Expertise ist im prägen diese Phase als Vorstufe für einen Projektan-
Projektteam ein Projektverständnis, wie bereichs- trag.
übergreifende Kooperation, die Fähigkeiten zum
methodischen, systematischen Gestalten von Pro- Phase der Definition
blemlösungsprozessen und das Arbeiten in einem Bei der Vertrautheit mit einer Sache wird der Bedarf
Team erforderlich, da die Gruppe für den gemeinsa- nach Analysen zunächst als zeitraubend und über-
men Erfolg steht. flüssig eingestuft. Hier lauert die Gefahr einer zu
Je nach Fragestellungen sind Teilaufgaben in schnellen Lösungssuche ohne vorher den Ist-Zu-
Teilprojektgruppen zu erweitern. Kompetenzen stand zu analysieren. Die Projektvoranalyse bildet
5 (Kosten-, Personal-, Ergebnisverantwortung) und u. a. die Basis für den Projektantrag als Voraus-
Entscheidungswege können je nach Komplexität setzung für den Projektauftrag. Chancen, Ressour-
und Projektorganisation in den Ausprägungen un- cenbedarf in personeller und finanzieller Art und
terschiedlich geregelt sein. Risiken sind im Vorfeld zu eruieren und anzustre-
Wesentliche Formen der Projektorganisation, bende Ziele zu klären. Ein Projektleiter ist aus-
die ebenfalls variiert oder in Mischformen kombi- zuwählen und der Projektauftrag wird erteilt.
niert sein können, sind:
4 Linienprojektorganisation: Die Entscheidungs- Phase der Planung
kompetenzen verbleiben beim Linienmanage- Das Projektteam ist zu strukturieren. Aufgaben-
ment. Die Integration des Projekts erfolgt in die pakete und Ablaufpläne werden mit einer Zeit-
vorhandene Aufbauorganisation. planung von Start- und Fertigstellungsterminen
4 Reine Projektorganisation: Das Projektteam ist (meilensteinspezifische Arbeitspakete) versehen.
aus den bestehenden Strukturen herausgelöst Verantwortliche je Aufgabenbereich sind abzustim-
und arbeitet selbstständig parallel zu den vor- men. Ein Masterplan (. Abb. 5.2) fasst als »Pla-
handenen Abteilungen. nungs-, Steuerungs- und Informationsinstrument
4 Matrix-Projektorganisation: Charakteristisch ist Projektinhalte, deren zeitliche Koordination und
die Mischform aus der reinen Projektorganisati- verantwortliche Personen« (George, 2003, S. 12) zu-
on und der Linienprojektorganisation. Formal sammen. Die Transparenz für alle Beteiligten im
können die Mitarbeiter in ihren Abteilungen Projekt wird durch die Einordnung in überschau-
verbleiben und fachlich in die Projektstruktur bare Einheiten erreicht. Schnittstellen zu anderen
eingebunden sein. Arbeitsbereichen sind zu identifizieren und in ei-
ner Informations- und Kommunikationsstruktur
zu planen. Die Festlegung standardisierter Proto-
5.3.3 Projektphasen kolle, deren Verteiler und regelmäßiger Bespre-
chungen schafft bereits in der Planungsphase eine
Projekte können unterschiedlich komplex sein und gewisse Verbindlichkeit für die interne Projektkom-
in ihrer Dauer stark variieren. Die Aufgaben und der munikation.
Ablauf sind mit Hilfe einzelner Phasen in nahezu
allen Projekten gut zu strukturieren. Ausgehend von Phase der Durchführung
einer Grobplanung nimmt der Detaillierungsgrad in Die Aufgabenpakete werden realisiert und parallel
den einzelnen Phasen bis zum Projektende stetig dazu wird der Projektfortschritt überprüft. Ent-
zu. wicklungen und Abweichungen werden in Ergeb-
nis erstellungen kontrolliert. Veränderte Rahmen-
Informelle Phase bedingungen (Gesetze, Finanzen, Politik, Neuaus-
Eine Idee, Überzeugungen aus gesammelten Erfah- richtung der Gesundheitseinrichtung) erfordern
rungen, Veränderungsbedarf oder eine Vision sind kontinuierliche Anpassungen und Korrekturen in
häufig die Wegbereiter für ein Projekt. Fachgesprä- der Planung weiterer Arbeitsschritte. Arbeitspro-
che, ein Gedankenaustausch und kreative Ideen- zesse sind zu moderieren und Teamentwicklungen
5.3 · Projektmanagement
103 5

Projekttitel

informelle Phase Definition Planung Durchführung Abschluss

Idee Auftrag Grobplanung Umsetzung Abschluss-


Vision Ziele Feinplanung Auswertung präsentation
Rahmen- Anpassung Projektbericht
bedingungen Auswertung
Risiken Projekt- Empfehlung
Projekt- team 1
organisation
Ist-Analyse Aufgaben

Projekt-
team 2

Aufgaben

Erfolgskontrolle (Kommunikation, Berichtswesen)

Meilen-
steine

Projekt- Kick off Zwischen- Zwischen- Endab- Entscheidung


auftrag bericht 1 bericht 2 stimmung Roll out

Jan. Feb. März April Mai Juni Juli Aug. Sept.

. Abb. 5.2. Masterplan mit Projektphasen

zu unterstützen. Zwischenberichte sorgen dafür, Praxisbox


dass Projekte logisch und nachvollziehbar abgebil- Struktur des Projektberichts:
det werden. 1. Projektauftrag
2. Zielsetzung (Prozessoptimierung, Patienten-
Abschlussphase orientierung)
Die Ergebnisse des Projekts können kommuniziert 3. Ausgangslage, Problembeschreibung, Ist-
und präsentiert werden. Eine Abschlusspräsentation Analyse (Aufbauorganisation, Ablauforgani-
wird durch einen Projektbericht komplettiert. Die sation, Stärken-Schwächen-Profil)
Reflexion der Projektphasen und die gesammelten 4. Anforderungen an die Soll-Konzeption
positiven und negativen Erfahrungen können in (Benchmarking und Best Practices)
einem Workshop zusammengetragen werden. Das 5. Vorgehensweise, Planung, Methoden, Um-
Know How und die Empfehlungen sind für Folge- setzungsschritte
projekte sinnvoll zu nutzen. 6. Ergebnisse
7. Auswertung und Empfehlungen
8. Anlagen
104 Kapitel 5 · Organisation und Mitarbeiterführung

5.3.4 Projektauftrag jekts. Ein sog. Kickoff-Meeting wird in seiner Trag-


weite für die Weichenstellung eines erfolgreichen
Der Projektauftrag bildet die formale Grundlage für Projekts häufig unterschätzt. Ein für alle Beteiligten
die Durchführung eines Projekts. Zunächst sind gemeinsamer Informationsstand minimiert die
zwischen Projektleiter und Auftraggeber die inhalt- Sichtweisen der Einzelnen aus dem jeweiligen Blick-
lichen Ziele möglichst genau zu klären, um die winkel im Arbeitsprozess und eröffnet einen ersten
Ergebnisse, die erreicht werden sollen, zu spezifizie- Zugang zur übergreifenden Projektarbeit.
ren. Schnittstellen zu anderen Arbeitsbereichen und Die Projektbeteiligten können sich kennen lernen
Projekten müssen genauso wie potenzielle Konflikte, (teilweise erster Schritt zur Teambildung) und erfah-
Verantwortlichkeiten, Entscheidungsbefugnisse und ren über die Vorstellung des Projekts mit Zielen, ge-
5 Rollendefinitionen geklärt werden. Ergebnisse aus wünschten Ergebnissen, Aufgabenpaketen, Vorge-
Voranalysen werden eingebunden. Realistische Rah- hensweisen und Zeitplänen, den Gesamtkontext zur
menbedingungen, wie Zeitaufwand in Stunden und strategischen Bedeutung für das Unternehmen. Eine
Personen, und sonstige Kosten sind ebenfalls Be- zusammengestellte Gruppe kann noch kein Team
standteil eines Projektauftrags. Ein erster grober bzw. effektiv arbeitsfähiges Team sein. Erwartungs-
zeitlicher Rahmen verdeutlicht den Start und das haltungen und Projektregeln (Teambesprechungen,
voraussichtliche Ende des Projekts. Eine Checkliste Verbindlichkeiten zu Teilaufgaben und deren Auf-
kann die Effizienz der Vorbereitung für die Auf- tragserledigung) sind zu vereinbaren.
tragsgestaltung unterstützen.
! Die aktive Einbindung aller Prozessbeteiligten
in die vorliegende Konzeption und deren Mög-
Praxisbox
lichkeit zur Ergänzung und Abstimmung er-
Checkliste für einen Projektauftrag:
höht die Identifikation mit den Projektzielen.
5 Projekttitel definieren
5 Projektziele und Messkriterien beschreiben Die Kombination einer Kickoff-Besprechung mit
5 Vorerfahrungen im Unternehmen beachten unmittelbar anschließender Abstimmung der nächs-
5 Ausgangssituation beschreiben ten Schritte im Rahmen einer Feinplanung oder
5 Rahmenbedingungen beschreiben (Zeit Arbeitsplanung, stellen direkt den erforderlichen
und Kosten) Beitrag der Beteiligten zum Gelingen des Projekts
5 Projektstart und voraussichtliches Projekt- in Beziehung. Alle Beteiligten müssen wissen, was
ende definieren wann von wem zu tun ist.
5 Verantwortlichkeiten, Aufgaben und Rollen Wie bei allen dynamischen und erfolgsorientier-
definieren ten Veränderungen, die nur auf Basis einer Mitarbei-
5 Projektorganisation und Kooperationen zu terorientierung gelingen, muss in den Gesundheits-
Nahtstellen klären einrichtungen ein förderliches Umfeld für Projektar-
5 Termin- und Ablaufplan erstellen beit vorhanden und eine entsprechende Anerkennung
5 Chancen und Risiken identifizieren für Projektmanagement möglich sein.
5 Abbruchkriterien für das Projekt festlegen
5 Informations- und Berichtswesen planen Überprüfen Sie Ihr Wissen!
4 Was verstehen Sie unter einer werteorientierten
Personalpolitik? 7 Kap. 5.1
4 Was sollen die Leitsätze in einem Pflegeleitbild
5.3.5 Projektstart – Kickoff-Meeting auslösen? 7 Kap. 5.1.1
4 Was sind die Grundsätze des Management by
Eine Auftaktsitzung mit allen Projektbeteiligten Objectives? 7 Kap. 5.1.2
stellt einen koordinierten Projektstart nach Auf- 4 Welcher Nutzen lässt sich aus Mitarbeiterge-
tragsklärung sicher. Neben dem Projektleiter und sprächen ableiten? 7 Kap. 5.1.3
dem Projektteam unterstreicht vor allem die Anwe- 4 Wie können Führungskräfte negativen Motiva-
senheit des Auftraggebers die Bedeutung des Pro- tionseffekten begegnen? 7 Kap. 5.2
Literatur
105 5

4 Welche Merkmale sind für leistungsstarke Teams Laborde GZ (1997) Mehr sehen, mehr hören, mehr fühlen, Pra-
charakteristisch? 7 Kap. 5.2.1 xiskurs Kommunikation, Erlernen Sie die Techniken profes-
sioneller Kommunikatoren. Junfermann, Paderborn
4 Was sind die Merkmale einer effektiven Bespre-
Praß O (1999) Mit Zielvereinbarungen für Weiterentwicklung
chung? 7 Kap. 5.2.2 sorgen. In: Fischer H, Ulmer U, Gerhardt E, Räpple T, Schnei-
4 In welche Phasen lässt sich Projektarbeit glie- der E, Greulich A, Thiele G, Degener-Hencke U (Hrsg) Ma-
dern? 7 Kap. 5.3.3 nagement Handbuch Krankenhaus. Economica, Heidel-
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schaftliche Zeitschrift für Pflegeberufe 2/89 (Teil I) 122 u. Wikipedia, die freie Enzyklopädie (http://de.wikipedia.org/
1/90 (Teil II) 12 wiki/Projekt [Stand:20.11.2005]«.
6

6 Methoden der Pflegepraxis


Karin Bähr-Heintze, Susanne Stern

6.1 Pflegeformen – 108


6.1.1 Klientenzentrierte Grundhaltung – 108
6.1.2 Bezugspflege oder Beziehungspflege? – 109
6.1.3 Case-Management-Prozesse – 110

6.2 Der Pflegeprozess – 112


6.2.1 Erstgespräch – 112
6.2.2 Pflegeplanung – 113
6.2.3 Pflegedokumentation und ihre Umsetzung – 114

6.3 Patientenaufnahme und Betreuung – 115


6.3.1 Grundlage der psychiatrischen Pflege: wahrnehmen und beobachten – 116
6.3.2 Aufnahmemodus – 116
6.3.3 Pflegeanamnese/Pflegestatus – 116
6.3.4 Sozialanamnese – 117
6.3.5 Aufgaben der Bezugspflege – 117
6.3.6 Dokumentation – 119
6.3.7 Individueller Therapieplan – 119
6.3.8 Berufsspezifische Aufgabenverteilung – 119
6.3.9 Entlassungsmanagement – 121

Literatur – 123
108 Kapitel 6 · Methoden der Pflegepraxis

) ) In Kürze pflege. Hierbei wird einer oder mehreren Pflegeper-


sonen ein bestimmter Bereich oder eine Funktion
In diesem Kapitel möchten wir die Möglichkeiten (z. B. Blutdruckmessen bei allen Patienten) zuge-
der unterschiedlichen Akteure und Handlungs- teilt.
felder darstellen. Es werden verschiedene Pflege- In Bereichen, in denen mit Menschen gearbeitet
modelle und deren mögliche Umsetzung vorge- wird, kann unseres Erachtens nur als Pflegeform eine
stellt. Zuordnung zu Menschen erfolgen. Dies basiert auf
Die professionelle therapeutische Arbeit mit einer dem Menschen zugewandten Grundhaltung,
Menschen in psychischen Krisensituationen (ob in- z. B. im Rahmen von Bezugspflege (7 Kap. 6.1.2).
nerhalb einer Erkrankung oder einer Lebenskrise) Denn alles, was im therapeutischen Team passiert,
bedingt eine therapeutische Grundhaltung. Da- geschieht für und mit dem Klienten/Patienten. Die
durch sind die Akteure in der Lage, eine therapeuti- Grundhaltung innerhalb eines solchen Systems kann
sche Beziehung professionell zu gestalten. allerdings unterschiedlich sein, je nachdem, welchen
6 In Zeiten immer kürzer werdender Behand- psychotherapeutischen Ansatz die Klinik bevor-
lungszeiträume beginnt die Entlassungsplanung zugt.
mit der Aufnahme. So soll in diesem Kapitel eine
mögliche Struktur für einen pflegerisch-therapeuti-
schen Behandlungsverlauf dargestellt werden. 6.1.1 Klientenzentrierte Grundhaltung

Wissensinhalte Die klientenzentrierte Grundhaltung erklärt sich


Nach der Lektüre dieses Kapitels kennen Sie: aus dem gesprächspsychotherapeutischen Ansatz
7 Grundlagen der Bezugspflege, Grundhaltungen von Carl Rogers (1980). Der Klient steht hier mit all
und Aufgaben seinen Möglichkeiten und Problemen im Mittel-
7 Grundlagen und Anwendungsmöglichkeiten punkt. Nach dem Grundsatz »so viel Hilfe wie nötig
des Pflegeprozessmodells und so wenig Hilfe wie möglich« wird der Klient in
7 Aufgaben der Pflegeperson bei der Aufnahme seinen Ressourcen gestärkt. Durch die bewusst er-
und Betreuung von Patienten lebten Erfolgserlebnisse wird er »positiv verstärkt«
7 die Notwendigkeit der Entwicklung und Sicher- und in die Lage versetzt, die Selbstpflege durchzu-
stellung von kontinuierlichen und integrierten führen.
Versorgungsangeboten im Gesundheitssystem In Gesprächen mit dem Klienten sollten die
7 die konzeptionellen und methodischen Grund- folgenden Grundhaltungen beachtet werden.
lagen des Case Managements im Überblick
7 die Definition des Entlassungsmanagements Empathie
7 die Definition von Überleitungspflege und Pfle- Nach Rogers bedeutet Empathie die Fähigkeit, Ge-
geüberleitung und deren mögliche Organisa- fühle und Erlebnisse des Klienten und deren Bedeu-
tionsformen tung für den Klienten genau und sensibel zu erfas-
7 Maßnahmen zur Verhinderung von Versor- sen. Die Pflegeperson ist in der Welt des Klienten so
gungsbrüchen bei der Patientenüberleitung zuhause, als ob es ihre eigene Welt wäre. Sie spricht
nicht nur die Gefühle aus, die der Klient direkt
äußert, sondern benennt auch jene, die vom Klien-
6.1 Pflegeformen ten nur am Rande wahrgenommen werden. Wer
empathisch seinem Gegenüber begegnen möchte,
Bei Pflegeformen oder Systemen unterscheidet man sollte dies niemals ohne den Auftrag dazu tun. Nicht
grundsätzlich zwischen denen, die eine Zuordnung jeder Klient möchte automatisch Empathie haben.
zu Menschen/Klienten bevorzugen und denen, die In Alltagsgesprächen sollte eine dem Menschen zu-
vor allem organisatorischen Aspekten das Haupt- gewandte Grundhaltung zum Tragen kommen. Das
augenmerk geben und so Funktionen zuordnen. bedeutet aber nicht zwingend, dass ich in die Ge-
Dies sind z. B. Bereichs-, Gruppen- und Zimmer- fühlswelt meines Gegenübers einsteige.
6.1 · Pflegeformen
109 6
Kongruenz Bedingungsfreies Akzeptieren
Der Begriff kommt aus dem Lateinischen; »congru- Diese Grundhaltung beinhaltet das Unterlassen von
ere« bedeutet »zusammentreffen, übereinstimmen«. Moralisieren, Kritisieren, Abweisen und Zurecht-
Hier sollen also bestimmte Dinge, Tätigkeiten oder weisen. Es ist eine verstehende und offene Grund-
Äußerungen übereinstimmen. Die Pflegeperson haltung dem Klienten gegenüber, die von einer ho-
wird in ihren Äußerungen nur akzeptiert, wenn hen Wertschätzung geprägt ist. Dem Klienten wird
diese als »echt« bewertet wird. Wenn die Pflegeper- nicht unterstellt, dass er eigentlich jemand ganz
son eine Meinung vertritt, die unecht oder nicht anderes ist. Ihm wird eine sachliche Offenheit zuteil.
glaubwürdig wirkt, wird diese vielleicht hilfreich ge- Die Pflegeperson ist interessiert an der Sache des
meinte Äußerung nicht auf »fruchtbaren Boden« Patienten. Der Klient wird so angenommen, wie er
fallen. ist. Besondere Merkmale dieser Grundhaltung sind
Die Kongruenz beinhaltet nach Finke (1994) Gelassenheit, Geduld und Offenheit.
die folgenden verschiedenen Interventionskatego-
rien.
6.1.2 Bezugspflege oder Beziehungs-
Konfrontation pflege?
Konfrontation meint das Aufgreifen von Widersprü-
chen beim Patienten, z. B. keine Übereinstimmung In der Psychiatrielandschaft in Deutschland finden
zwischen Selbstbild und Fremdbild, Klient wirkt sich die unterschiedlichsten Pflegesysteme wieder.
fröhlich und gelassen beim Erzählen einer traurigen Gerade in der psychiatrischen Arbeit ist die Herstel-
Geschichte. lung von Kontakten mit den Patienten oberstes
Gebot. Hierbei können sich die Beziehungspfle-
Beziehungsklären ge (Bauer, 2004) und die Bezugspflege (Schlettig
Pflegeperson und Klient befinden sich in einer pro- u. von der Heide, 1993) hervorragend ergänzen. Be-
fessionellen Beziehung. Dies sollte beiden bewusst zugspflege wird als eine Chance zur Professionali-
sein, um eine Vermischung von Professionalität und sierung der Berufsgruppe der Pflegepersonen be-
Privatheit zu verhindern. Die Beziehung sollte zwi- wertet. Diese Systeme sollen hier vorgestellt wer-
schen den Akteuren thematisiert werden, um mög- den.
liche Wünsche vom Klienten zu klären. Dabei sollte
die Beziehungsklärung im Gespräch nicht stets im Bezugspflege
Vordergrund stehen. Doch auch hier gilt der alte Bezugspflege hat in ihrer Bedeutung die zwei folgen-
Grundsatz: Störungen haben Vorrang. Ist die Be- den Aspekte (Schlettig u. von der Heide, 1999).
ziehung nicht geklärt, kann auch kein hilfreiches
Gespräch für beide Seiten zustande kommen. Miss- Beziehung
verständnisse sind dann häufig im Vorfeld nicht In diesem Zusammenhang geht es um eine Bezie-
abzuwenden. hung, die die Pflegeperson aufgrund ihres professi-
onellen Auftrags mit dem Patienten aufnimmt.
Selbsteinbringung Hierfür hat sie Wissen, Kompetenz und Fähigkeiten
Hier ist die Echtheit oder Selbstkongruenz der Pfle- erworben, um bewusst diesen pflegerischen Bezie-
geperson gemeint. Hilfreich sind hier die Selbst- hungsprozess zu gestalten. Eine effektive und fach-
wahrnehmung der Pflegepersonen und die Wahr- gerechte Versorgung und Pflege sowie die bewusste
nehmung der Gefühle zum Klienten. Positive und zwischenmenschliche Begegnung entfalten gemein-
negative Gefühle sollten reflektiert und vor der Mit- sam ihre Wirkung im therapeutischen Prozess. Für
teilung an den Klienten bewertet und begründet den Patienten bedeutet dies, dass er die Möglichkeit
sein. Die Selbsteinbringung dient dem Klienten hat, Vertrauen zu fassen, dass körperliche wie seeli-
zur Auseinandersetzung mit sich selbst. Sie darf für sche Bedürfnisse befriedigt werden und dass er sich
die Pflegeperson keinesfalls zum Selbstzweck wer- durch die Kontinuität der Betreuung sicher und auf-
den. gehoben fühlt.
110 Kapitel 6 · Methoden der Pflegepraxis

Verantwortungsübernahme werden (Aufgabenverteilung im Bezugspflegesys-


In diesem Wort steckt das Wort Antwort, was auch tem 7 Kap. 6.3.5).
so gedeutet werden kann, dass Pflegende auch eine
Antwort geben können müssen, sowohl sich selbst
als auch Patienten, Angehörigen oder im interdis- 6.1.3 Case-Management-Prozesse
ziplinären Team. Um verantwortlich handeln zu
können, bedarf es der Fachkompetenz und der Begriffserklärung
Fähigkeit, Situationen zu überdenken und ebenso Case Management oder Unterstützungsmanage-
Abläufe vorausdenken zu können. Hierbei geht es ment, zunächst als Erweiterung der Einzelfallhilfe in
sowohl um die Selbstreflexion als auch um die Re- den USA entwickelt, ist zu einer methodischen Neu-
flexion mit anderen. Die Verantwortungsübernah- orientierung im deutschen Gesundheitswesen ge-
me sollte freiwillig geschehen, denn sonst unter- worden. Es ist mittlerweile, nicht zuletzt aufgrund
scheidet sie sich nicht von der Pflichterfüllung, die der Entwicklungen im Gesundheitswesen, zu einem
6 äußeren Zwängen unterliegt. Die professionelle verbreiteten Managementansatz geworden. Bedingt
Verantwortungsübernahme soll bei dem Patienten durch eine zunehmend komplexe, arbeitsteilige und
Vertrauen schaffen und sowohl der Pflegeperson fragmentierte Versorgung sind die Erfordernisse an
als auch dem Patienten die Möglichkeit bieten, in eine entsprechende Steuerung der Versorgungspro-
einer professionellen Beziehung die Gesundung zesse stetig angewachsen.
des Patienten bestmöglich und erfolgreich auszuge- Innerhalb des Versorgungsprozesses stellen sich
stalten. folgende Aspekte als problematisch dar:
4 das Angebot der Versorgungsleistungen wird
Kongruente Beziehungspflege zunehmend arbeitsteilig und spezialisiert,
Rüdiger Bauer hat sich in dem Buch »Beziehungs- 4 der Arbeitsstil ist auf Sektoren begrenzt,
pflege« (2004) intensiv mit der Thematik der Bezie- 4 die Versorgungskontinuität und -integration ist
hungsarbeit zwischen Patienten und Pflegepersonen nicht gesichert,
auseinandergesetzt. Er beschreibt die kongruente 4 der Verbrauch von Ressourcen ist unkoordi-
Beziehungspflege als einen dynamischen interaktio- niert,
nellen Prozess, der in verschiedenen Phasen verläuft. 4 die Evaluation von Wirksamkeit, Effektivität
Das Ziel dieses Prozesses ist immer die Kongruenz, und Effizienz ist kaum vorhanden.
d. h. die Übereinstimmung.
Die Essenz einer kongruenten Pflegebeziehung Case Management ist als Strategie zu verstehen, die
sollte die persönliche und übereinstimmende Hal- durch eine ganzheitliche Sichtweise auf den Patien-
tung einer Pflegeperson im Kontakt mit dem Patien- ten beabsichtigt, die Kooperation der beteiligten
ten sein, um diesen zu einer ausgeprägten eigenen Berufsgruppen im Sinne des Versorgungsprozesses
Kongruenz zu führen. Dies ermöglicht, dass die Pfle- zusammenzuführen. Durch diese Strategie sollen
geperson und der Patient Wissen über den anderen Fachkräfte im Gesundheitswesen befähig werden,
und sich selbst, sowie Wissen und Verständnis für unter komplexen Bedingungen Hilfemöglichkeiten
die gemeinsame, gegenseitige Beziehung und deren abzustimmen und die vorhandenen institutionellen
immanente Anhängigkeiten erlangen. Erst dadurch Ressourcen im Arbeitsfeld koordinierend heranzu-
entsteht eine optimale Problemlösung. ziehen. Aufgabe ist es, ein zielgerichtetes System der
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass ei- Zusammenarbeit zu organisieren, zu kontrollieren
gentlich beides, die Beziehung sowie der Bezug, und auszuwerten, das am Unterstützungsbedarf der
wichtig ist. Das eine geht ohne das andere nicht. Mit einzelnen Patienten ausgerichtet ist (Ewers, 2000,
einer geübten Gesprächstechnik und der Hinwen- S.12). Für das Erreichen dieser Ziele ist ein methodi-
dung zu den Menschen – ohne sich selbst aufzu- sches Vorgehen, wie es der Case Management Regel-
geben – kann psychiatrische Pflege professionell kreis darstellt, erforderlich.
gestaltet werden. Pflegepersonen dürfen und sollen Beteiligt am Regelkreis sind alle Berufsgruppen
in diesem Prozess als »Co«-Therapeuten verstanden des therapeutischen Teams, wie z. B. Pflegefachkräfte,
6.1 · Pflegeformen
111 6

Sozialarbeiter und Mediziner. Nach Wendt ist Case tung von Case Management im deutschsprachigen
Management ein Prozess der Zusammenarbeit, in Raum gibt.
dem eingeschätzt, geplant, umgesetzt, koordiniert
und überwacht wird und Dienstleistungen evaluiert Ziel des Case Managements
werden, um dem gesundheitlichen Bedarf einer Per- Das Ziel ist die bedarfsorientierte, bedürfnisorien-
son mittels Kommunikation und mit den verfügbaren tierte, wirksame, koordinierte und effiziente Nut-
Ressourcen auf qualitätsvolle und kostenwirksame zung der Ressourcen für den Patienten. In die Pflege
Weise nachzukommen. Demnach ist das Originäre und Betreuung sind sowohl im stationären als auch
am Case Management die anwaltschaftliche Funktion im ambulanten Bereich eine Vielzahl von Professio-
für den einzelnen Patienten durch Überwindung von nen und Organisationen involviert. Somit ergibt sich
Organisation- oder Professionsgrenzen. eine Fülle von interorganisatorischen und interpro-
Case Management wird verstanden als Steue- fessionellen Schnittstellen und damit Problemen.
rung und Strukturierung von Versorgungsprozes- Ziel des Case Managements ist deshalb ein Schnitt-
sen sowohl auf einer personalen als auch auf einer stellenmanagement zur optimierten Koordination
organisatorischen Handlungsebene: dem Fallma- aller Leistungserbringer, um dadurch die Behand-
nagement und dem Systemmanagement (Wendt, lungskontinuität zu sichern.
2001). Grundvoraussetzung für die Einführung ist
nach Wendt eine Systemänderung. Hiernach reicht Formen des Case Managements
es nicht aus, die Methode auf einer einzelnen Ebene Die jeweilige Umsetzung des Case Managements und
oder durch eine einzelne Person durchführen zu damit auch die Aufgaben der Case Manager können
lassen. sehr unterschiedlich sein. Wenn auch der generelle
Eine verbindliche Orientierung über die Versor- Ablauf des Verfahrens in nahezu allen Bereichen
gungsprozesse und deren Abläufe bieten Behand- gleich ist, zeigen sich beträchtliche Unterschiede in
lungspfade. Hier wird die optimale Abfolge und Ter- den verschiedenen Anwendungsfeldern. Die Ausge-
minierung der wichtigen Interventionen festgelegt, staltung ist nicht unwesentlich abhängig von:
die interdisziplinär bei der Versorgung eines Patien- 4 der organisatorischen Zuordnung der Case Ma-
ten mit einer bestimmten Diagnose durchgeführt nager,
werden. Sie stellen ein ideales Instrument dar, die 4 dem Auftrag- bzw. Arbeitgeber der Case Mana-
Koordination aller, die mit der Behandlung dieses ger,
Patienten betraut sind, zu gestalten. Behandlungs- 4 der Zielsetzung des Case Managements,
pfade machen Prozesse transparent und erleichtern 4 der Berufsgruppenzugehörigkeit der Case Ma-
die Ergebnisdokumentation. Sie werden auch als nager,
interdisziplinäre Behandlungspfade, Versorgungs- 4 der Qualifikation und Kompetenzen des Case
pläne bzw. interdisziplinäre Versorgungspläne be- Managers.
zeichnet. Ihr Vorhandensein stellt eine wichtige
strukturelle Voraussetzung zur Einführung eines Schritte des Case-Management-Prozesses
Case Management dar. Der Case-Management-Prozess setzt sich aus fol-
genden Arbeitsschritten zusammen, die der indi-
Exkurs: Entwicklung des Case Managements viduellen Informationssammlung und der daraus
Die Methode des Case Managements wurde bereits hervorgehenden Planung dienen:
in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in den 4 Assessment,
USA entwickelt. Zunächst war es im außerklinischen 4 Planung,
Bereich ein Feld der Sozialarbeit. Mittlerweile hat es 4 Implementation,
sich auch in anderen Professionen etabliert und wird 4 Evaluation,
in den letzten Jahren auch zunehmend in Deutsch- 4 Interaktion.
land mit wachsendem Interesse beachtet. Allerdings
ist die Situation insgesamt noch sehr unübersicht- Mit der Einschätzung des Patienten, dem Assess-
lich, da es keine Untersuchungen über die Verbrei- ment, beginnt der Case-Management-Prozess. Hier
112 Kapitel 6 · Methoden der Pflegepraxis

werden systematisch und strukturiert Daten des ten beschrieben. Auch im neuen Gesetz über die
Patienten erfasst. Dieser Schritt dient der Kontakt- Berufe in der Krankenpflege vom 01.04.2004 Ab-
aufnahme, der Einschätzung der Situation und ist schnitt 2 – Ausbildung – in § 3 wird von der Erhe-
gleichwohl als vertrauensbildende Maßnahme zu bung und Feststellung des Pflegebedarfes, Planung,
sehen. Aufgrund der individuellen Datensammlung Organisation, Durchführung und Dokumentation
wird ein Versorgungsplan erstellt. Anschließend der Pflege bis hin zur Evaluation der Pflege, Sicher-
werden in Absprache mit dem Patienten die Versor- stellung und Entwicklung von Qualität in der Pflege
gungsziele abgestimmt und die nötigen Strategien eine eigenverantwortliche Übernahme durch Pflege-
zur Zielerreichung festgelegt. Die Implementation personen festgelegt.
sorgt für die Umsetzung des definierten Versor- Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, wel-
gungsplans, wobei der Case Manager eine koor- che fach- und sachkundigen Voraussetzungen die
dinierende Funktion übernimmt. Es folgt eine einzelne Pflegeperson mitbringt. Die sachkundige
systematische Betreuung des Patienten bzw. eine Pflege stellt den Praxisbezug her. Die fachkundige
6 Steuerung der Leistungserbringung und eine fortlau- Pflege stellt den Theoriebezug her. Pflege sollte um-
fende Kontrolle der jeweiligen Versorgungsschritte. fassend sein, d. h. sie ist in jeder Situation anwend-
In dieser Phase fungiert der Case Manager als konti- bar. Geplante Pflege ist vor der Durchführung durch-
nuierlicher Ansprechpartner für alle Leistungser- dacht, sie muss begründbar und überprüfbar sein.
bringer und den Patienten. Darüber hinaus muss er
die Dokumentation der Leistungserbringung und
der Ergebnisse überwachen. Auf der Grundlage der 6.2.1 Erstgespräch
gesammelten Daten wird in der Phase der Evaluation
eine Bewertung vorgenommen. Diese Ergebnisse In der Psychiatrie stellt der Erstkontakt mit dem Pa-
werden durch den Case Manager mit den beteiligten tienten in der Regel eine kommunikative Heraus-
Anbietern kommuniziert und bilden den klassischen forderung für die Pflegepersonen dar. Aufgrund der
Abschluss des Case-Management-Prozesses. Krisensituation, in der sich der Patient befindet,
steht bei der Pflegeperson die Wahrnehmung und
Beobachtung des Patienten im Vordergrund. Diese
6.2 Der Pflegeprozess wird subjektiv verschriftlicht.
Im Erstkontakt mit dem Patienten werden neben
Der Pflegeprozess beschreibt das dynamische Ge- dem Austausch von Informationen über den Grund
schehen, an dem Pflegende und Patient gemeinsam der Aufnahme in der Institution auch vertrauens-
beteiligt sind. Nach vorab definierten Bedingungen bildende Maßnahmen durchgeführt. Die Pflegeper-
wird professionelle Pflege geplant und durchgeführt. son stellt sich namentlich vor. Dem Patienten wird
Hierbei wird der prozesshafte Verlauf pflegerischen das Zimmer und die umliegenden Räumlichkeiten
Handelns für alle Beteiligten sichtbar, nachvollzieh- gezeigt, möglicherweise erhält er schon einige Infor-
bar und überprüfbar. Heute wird professionelle Pfle- mationen über den Alltag auf der Station und über
ge als interaktive Dienstleistung verstanden, die für den nachfolgenden Ablauf im Rahmen der Aufnah-
den Patienten im Rahmen einer stationären oder teil- meprozeduren. So ist ein neu aufgenommener Pa-
stationären Behandlung individuell angeboten wird tient in der Lage, sich etwas einzugliedern und sich
und mit dem Patienten gemeinsam zu gestalten ist. in der neuen Situation zurechtzufinden.
Die Dokumentationsstruktur nach dem Pflegepro-
zessmodell dient vor allem der nachvollziehbaren, Praxisbox
strukturierenden und allgemeingültigen Dokumen- Überdenken Sie einmal, welche Informationen
tation des Verlaufes innerhalb des Pflegeprozesses. für Sie in einer Aufnahmesituation wichtig sind,
Die gesetzliche Grundlage hierfür bildet § 4 des wenn Sie mit einem neu aufgenommenen Pati-
Krankenpflegegesetzes vom 04.06.1985. Als Ausbil- enten in Kontakt treten.
dungsschwerpunkt wird hier u. a. die sach- und 6
fachkundige, umfassende geplante Pflege des Patien-
6.2 · Der Pflegeprozess
113 6

zung der pflegerischen Maßnahmen bewertet. Dies


Welche Fragen würden Sie stellen? dient gleichsam als Zielüberprüfung. Dabei ist es
Welche Informationen geben Sie an den Patien- wichtig, dass Erfolge für den Patienten sichtbar ge-
ten in dieser Situation? macht werden. Wenn z. B. ein schwer depressiver
Was beobachten Sie? Patient es nach einiger Zeit wieder schafft, morgens
Wie verhalten Sie sich? aufzustehen und sich zu pflegen, obwohl lediglich
eine Verbesserung des Antriebes aber nicht der
Stimmung für ihn als Veränderung zu spüren ist,
dann wird er möglicherweise dies nicht als Erfolg
6.2.2 Pflegeplanung werten, sondern als Erfüllung einer »Pflicht«. Die
Folgeeinschätzungen sollten 1-mal pro Woche erfol-
Die Pflegeplanung untergliedert sich in verschiede- gen. Bei akuten Veränderungen beim Patienten soll-
ne Schritte: te selbstverständlich die Einschätzung aktualisiert
werden.
Kontaktaufnahme
Im Gespräch mit dem Patienten erfährt die Pflege- Ziele definieren
person von seinen Problemen, aber auch von seinen In der Zieldefinition findet sich immer eine positive
Fähigkeiten und Ressourcen. Sie erfährt etwas über Formulierung (z. B. »… ist in der Lage, dass« »…
seine spezielle Erkrankung und über seinen Umgang selbstständig durchzuführen«). Ziele sind konkret
damit. Vielleicht ist er auch schon im Erstkontakt in formuliert Sie beinhalten immer einen zeitlichen
der Lage, etwas zu seinen Erwartungen zu äußern, Rahmen, in dem das Ziel erreicht sein wird. Das Ziel
und darüber, wie er sich die Behandlung in dem spe- sollte so formuliert sein, dass es überprüfbar ist.
ziellen Setting vorstellt. Manche Patienten haben Ebenso ist der Realitätsbezug für ein Ziel wichtig, es
schon Vorerfahrungen in Kliniken und können recht sollte real erreichbar sein im Rahmen des Behand-
genau sagen, wie sie sich die Behandlung und Be- lungszeitraumes. Hierbei können Nah- und Fernzie-
treuung vorstellen. le unterschieden werden.
In der Kontaktaufnahme vermittelt die Pflege-
person dem Patienten Sicherheit, Professionalität Maßnahmen planen
und Vertrauen. In der Maßnahmenplanung wird konkret dokumen-
Pflegepersonen stellen sich mit Namen und Funk- tiert, welche Maßnahmen an/mit dem Patienten in
tion vor. Ebenso sollte immer eine Grußformel in der welcher Weise durchzuführen sind. In der Doku-
Anrede enthalten sein (»Guten Tag, Herr Berger!«). mentation der Maßnahmenplanung sollten sich die
6 W wiederfinden.
Erste Einschätzung/Assessments
Die erste Einschätzung erfolgt so bald wie möglich Praxisbox
nach der Aufnahme des Patienten. In der Literatur Wer? (Pflegeperson)
finden sich hier Zeitangaben zwischen dem 1. und Mit wem? (Patient)
4. Tag. Die Ersteinschätzung bildet die Grundlage Wie lange/wie oft? (z. B.: täglich 1-mal, 30 min,
für die Pflegeplanung mit dem Patienten. Die Pflege- am Vormittag, für 1 Woche)
planung sollte, wenn möglich, immer gemeinsam Was? (z. B.: Inhalation, Hilfe beim Duschbad,
mit dem Patienten erstellt werden und durch regel- Spaziergang)
mäßige Pflegegespräche in aktuellen Einschätzun- Wann? (z. B.: um 14 Uhr, am Nachmittag)
gen überprüft werden. Wo? (z. B.: im Bad, auf der Station)
Gemeinsam werden Ziele und Maßnahmen fest-
gelegt. Ebenso wird der Patient über die folgenden
Pflegegespräche informiert. In der Maßnahmenplanung sollte sich auch der Un-
Folgeeinschätzungen: In den Folgeeinschätzun- terstützungsgrad der Pflegenden wiederfinden.
gen wird gemeinsam mit dem Patienten die Umset- Hierbei stimmen sich die Pflegeperson und der Pa-
114 Kapitel 6 · Methoden der Pflegepraxis

tient gemeinsam ab, wo und in welcher Form Unter- 6.2.3 Pflegedokumentation


stützung von Nöten ist, ebenso, welche Maßnahmen und ihre Umsetzung
der Patient alleine durchführt. Die Ressourcen-
orientierung wird an dieser Vorgehensweise deut- Die Dokumentation der Pflege ergibt sich aus der
lich. In der Pflegetheorie von Orem (1991) z. B. gesetzlichen Grundlage, die im Krankenpflegege-
wird die Pflegeperson dazu aufgefordert, den Grad setz, Sozialversicherungsgesetzen und dem Pflege-
der Unterstützung festzulegen: als vollkompensato- versicherungsrecht verankert sind. Die Dokumenta-
risch (für den Patienten handeln), teilkompensato- tion ist Teil des Pflegeprozesses. Sie dient in chrono-
risch (den Patienten beim Handeln unterstützen, logischer Folge dem Beurteilen und Sichern von
teilweise für den Patienten handeln) oder therapeu- Pflegequalität. Die Dokumentation von genauen Be-
tisch-unterstützend (den Patienten erinnern, be- obachtungen, den durchgeführten Maßnahmen und
gleiten). deren Wirkung dient nicht zuletzt der Sicherung der
Finanzierung von Pflege.
6 Maßnahmen durchführen Bei der Pflegedokumentation handelt es sich,
Die Durchführung der Maßnahmen obliegt den ein- wie der Name schon sagt, um ein Dokument. Dies
zelnen Pflegepersonen. Es ist wichtig, dass Pflegende bedeutet auch, dass alles, was nicht dokumentiert ist,
alle Tätigkeiten im Rahmen der Pflege selbst durch- vor Gericht bei Regressfällen von Patienten als »nicht
führen, um z. B. den körperlichen und psychischen durchgeführt« gilt. Im Falle eines Rechtsstreits muss
Zustand des Patienten und dessen Grad der Hilfebe- eine Klinik nachweisen, dass sie alles getan hat, um
dürftigkeit auch tatsächlich beurteilen zu können. einen Schaden abzuwenden. Hier sei nur an die Do-
Die Maßnahmendurchführung sollte sich immer an kumentation der Durchführung von Prophylaxen
den aktuellen Selbstpflegefähigkeiten des Patienten erinnert oder an die Dokumentation bei Patienten,
orientieren. In der Dokumentation der Durchfüh- die körperlich fixiert sind.
rung wird gleichzeitig systematisch und kontinuier- Neben dem rechtlichen Aspekt ist auch der in-
lich der Erfolg bzw. die Wirkung der geplanten Maß- formelle Aspekt von einiger Bedeutung. Die Doku-
nahme erfasst. mentation der durchgeführten Maßnahmen und
die Beschreibung der Wirkung dienen auch dem
Ergebnis überprüfen nachfolgenden Dienst als Handlungs- und Entschei-
Die Überprüfung der Ergebnisse erfolgt in Pflegege- dungsgrundlage für Folgeprozesse.
sprächen mit dem Patienten. Hierbei werden die Um die Individualität eines Berichts heraus-
vorher definierten Ziele auf ihr Erreichen hin über- zustellen, ist es sinnvoll, den zu beschreibenden Pa-
prüft. Im Gespräch mit dem Patienten sollte der par- tienten auch mit seinem Namen zu benennen. Der
tizipative Charakter der Pflege, d. h. das teilhabende Bericht sollte stichpunktartig sein mit hohem In-
Miteinander deutlich werden. Hierbei ist nicht nur formationsgehalt, aber dennoch allgemeinver-
der Informationsgehalt für beide Seiten wichtig, ständlich. Das bedeutet z. B., dass keine ungewöhn-
sondern auch immer eine Übereinstimmung sowohl lichen Abkürzungen verwendet werden sollten, es
bei der Zieldefinition als auch bei der Ergebnisüber- sollten keine »blumigen« Umschreibungen enthal-
prüfung. Ergebnisse, die ein Patient nicht als Erfolge ten sein, direkte Zitate von Patienten können in
verbucht, werden diesem auch nicht auf dem Weg aller Kürze dennoch wiedergegeben werden. Der
zur Gesundheit helfen und ihn fördern. Selbstver- Pflegebericht sollte sich immer auf den vorherigen
ständlich gibt es auch Ziele, die objektiv zu beurtei- Focus beziehen, damit auch ein Verlauf erkenn-
len sind. Dazu gehören Aktivitäten, wie essen und bar ist.
trinken, sich waschen, sich kleiden, sich bewegen, Die Umsetzung der geplanten Pflege findet in al-
ausscheiden etc. len Diensten statt. Hierbei kann nach unterschiedli-
chen Pflegesystemen und Pflegemodellen gearbeitet
werden (7 Kap. 6.1).
6.3 · Patientenaufnahme und Betreuung
115 6
6.3 Patientenaufnahme seiner Wirkung auf andere Menschen bewusst zu
und Betreuung werden und sein Verhalten zu steuern. Die Wahrneh-
mung der eigenen Verhaltensweisen und deren Wir-
Bei der Aufnahme und Betreuung von psychisch kungen bedingt die Rücksprache mit anderen über
kranken Menschen obliegen dem Pflegepersonal be- sich selbst (z. B. in Supervision). So sind Menschen
sondere Aufgaben. Je nachdem, ob eine Aufnahme in der Lage, sich ihrer selbst bewusst zu werden.
freiwillig oder unfreiwillig (z. B. im Rahmen einer Neben der Selbstwahrnehmung ist die bewusste
Unterbringung nach dem Gesetz für psychisch Kommunikation ein wichtiger Baustein in der the-
Kranke, PsychKG oder nach dem Betreuungsrecht) rapeutischen Arbeit. Schulz von Thun (1981) un-
erfolgt, können sich die Aufnahmensituationen sehr terscheidet in der Kommunikation die Akteure in
unterschiedlich in ihrer Brisanz darstellen. Grund- Sender und Empfänger einer Botschaft.
sätzlich ist es wichtig, in Aufnahmesituationen einen Eine Botschaft hat 4 Seiten/Aspekte:
Raum ohne (oder mit möglichst wenig) Aggression 1. Sachinhalt (worüber informiere ich?),
und Angst bzw. Unruhe herzustellen. Die Aufnahme 2. Selbstoffenbarung (was gebe ich von mir preis?),
sollte in einem separaten Raum stattfinden. Die An- 3. Beziehung (was halte ich von meinem Gegen-
zahl der anwesenden Personen des therapeutischen über, wie stehen wir zueinander?),
Teams sollte der Situation angemessen sein. 4. Appell (zu was möchte ich mein Gegenüber
In der Betreuung von psychisch kranken Men- motivieren, es zu tun?)
schen im stationären wie ambulant-komplementä-
ren Bereich ist die Grundlage der Pflegepersonen Diese Aspekte werden vom Empfänger einer Bot-
das Wahrnehmen und Beobachten der Anderen (Pa- schaft unterschiedlich gewichtet und wahrgenom-
tienten). Diese Wahrnehmung sollte auf der Grund- men. Dabei werden diese Aspekte in »Ohren« um-
lage einer professionellen Sichtweise geschehen. gewandelt:
Professionalität setzt neben fachlichem Wissen auch 1. Sachohr (Wahrnehmen der Fakten in der Bot-
ein hohes Maß an Selbstreflexion voraus. schaft),
2. Beziehungsohr (Wahrnehmen der Botschaft als
Stellungnahme zur Person des Empfängers),
6.3.1 Grundlagen der psychiatrischen 3. Selbstoffenbarungsohr (Wahrnehmen der Bot-
Pflege: wahrnehmen schaft als Information über den Sender),
und beobachten 4. Appellohr (Wahrnehmen der Botschaft als Hand-
lungsanweisung).
Selbstwahrnehmung
In der psychiatrischen Krankenpflege begegnen uns In der Rolle des professionellen Helfers ist man in
Menschen, die in der Beziehung zu sich selbst und der Pflicht, Nachrichten/Botschaften bewusst zu
in der Wahrnehmung der Umwelt beeinträchtigt »senden« und Nachrichten/Botschaften bewusst
sind. Ebenso häufig sind sie nicht in der Lage, mit wahrzunehmen/zu empfangen. Im Kontakt mit Pa-
ihren Gefühlen konstruktiv umzugehen und sich tienten ist eine professionelle Sprache auch deshalb
im zwischenmenschlichen Kontext klar zu orientie- vonnöten, um eine Arbeitsbeziehung/therapeuti-
ren und zu äußern. Manche leiden unter ihrer aus- sche Beziehung bewusst zu gestalten. Der professio-
geprägten Sensibilität und dem Unvermögen, sich nelle Helfer muss sich seiner Aussagen bewusst sein
anderen Menschen gegenüber emotional abzugren- und in der Lage sein, empfangene Botschaften vom
zen. Um im Kontakt hilfreich für den Patienten zu Patienten zu analysieren. Hierbei ist es wichtig, die
sein, dem Patienten die Orientierung zu erleichtern eigene Gefühlswelt zu reflektieren. (Wie fühlt sich
und eine Arbeitsbeziehung zu gestalten, muss sich die Nachricht für mich an? Meint der Patient mich
die Pflegeperson über ihr eigenes Verhalten bewusst persönlich? Welche Rolle nehme ich für den Patien-
sein. ten ein?)
Durch die bewusste Wahrnehmung der eigenen
Verhaltensweisen ist der Mensch in der Lage, sich
116 Kapitel 6 · Methoden der Pflegepraxis

Beobachtung ambulanten Ärzten und Fachärzten an Kliniken


Neben der Beobachtung der Parameter, die sich auf überwiesen. Ebenso können Menschen sich in der
die körperlichen Gesundheitszustände beziehen, Rettungsstelle/Erste Hilfe/Aufnahmezentrum mel-
wie Beobachtung von Vitalparametern, Ausschei- den und werden dort von Fachärzten betreut und
dungsprozessen, Nahrungsaufnahme, Hautzustand, auf die Stationen aufgenommen. Im Rahmen von
Körperpflege, Schlaf, Bewusstseinzustand etc., sind Zwangseinweisungen durch den sozialpsychiatri-
in der psychiatrischen Pflege weitere Parameter zu schen Dienst wird der Aufnahmemodus oft verkürzt
beachten: und der Patient wird direkt auf die geschützte Ab-
4 Stimmungslage und Wechsel der Stimmungslage, teilung gebracht. Es besteht außerdem die Möglich-
4 Lebensüberdrussgedanken, präsuizidales Syn- keit, dass Menschen mit anderen Erkrankungen, die
drom, bereits im stationären Rahmen betreut werden auf
4 Aufmerksamkeit des Patienten (wie aufmerksam eine psychiatrische Abteilung verlegt werden, wenn
ist der Patient im Gespräch, oder wirkt er abge- eine psychische Erkrankung hinzugetreten ist. In
6 lenkt, weil er vielleicht halluziniert?), manchen Kliniken ist es für Menschen mit schweren
4 Konzentrationsfähigkeit, körperlichen und psychischen Erkrankungen üb-
4 Abgrenzungsfähigkeit zu anderen Menschen, lich, eine medizinisch-psychiatrische Einheit vorzu-
4 Suchtverhalten (Umgang mit stoffgebundenen halten.
und nicht stoffgebundenen Suchtmitteln),
4 Krankheitseinsicht und Compliance (Verständ- Aufnahme im ambulanten/komplementären
nis über die Therapiebereitschaft), Bereich
4 Aktivität und Ruhephasen, Der ambulant-komplementäre Bereich ist oft der
4 Gestaltung des Tagesablaufs, Bereich der Nachsorge nach einem Klinikaufenthalt
4 Umgang mit Stresssituationen, oder/und die Vorbereitungsphase zur Reintergra-
4 Aggressivität gegen sich selbst und andere, tion in das Berufs- und Alltagsleben. Menschen
4 Verhalten gegenüber dem therapeutischen Team haben hier die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu
und gegenüber der Patientengruppe. stärken und wieder Selbstvertrauen in ihre Fähig-
keiten zu erlangen. Sie erhalten hier die Möglich-
Diese Beobachtungen werden im Pflegebericht keit, im soziotherapeutischen Rahmen ihre sozia-
schriftlich dokumentiert. Subjektive Eindrücke der len und kommunikativen Fähigkeiten zu üben. In
Pflegeperson werden als solche gekennzeichnet diesem Bereich vereint sich ein therapeutischer All-
(»… wirkt auf mich …«), sie sollten keinesfalls als tag mit der Integration in einen außerklinischen
Tatsachen oder Bewertungen beschrieben werden. Alltag.
Oft werden Menschen nach einer Behandlungs-
zeit im vollstationären Rahmen in der Tagesklinik
6.3.2 Aufnahmemodus weiterbetreut. An den tagesklinischen Bereich sind
gelegentlich Vereine oder Zuverdienstprojekte an-
Die Planung der Entlassung beginnt mit der Auf- gegliedert, um den Patienten bei der Wiedereinglie-
nahme! Daher ist es wichtig, bereits in der Aufnah- derung in die Arbeitswelt zu unterstützen und eine
mesituation wichtige Kenntnisse über die Situation Erprobung von Belastungssituationen im geschütz-
des Patienten zu erwerben und diese während der ten Rahmen zu ermöglichen.
Betreuungsphase ständig zu aktualisieren. Hierzu
dient die Erhebung von Pflegeanamnese bzw. -status
(7 Kap. 6.3.3). Psychiatrische Kliniken verfügen häu- 6.3.3 Pflegeanamnese/Pflegestatus
fig über unterschiedliche Aufnahmemöglichkeiten.
Definition
Aufnahme im stationären Bereich »Anamnese« (griech.) bedeutet »Erinnerung«,
Menschen werden in Kliniken in Notsituationen »status« (lat.) heißt übersetzt »Zustand«.
aufgenommen. Des Weiteren werden Menschen von
6.3 · Patientenaufnahme und Betreuung
117 6

Die Pflegeanamnese bzw. der Pflegestatus zeigt in- 6.3.5 Aufgaben der Bezugspflege
haltlich alle Informationen auf, die den aktuellen
psychischen und körperlichen Zustand eines Men- Das Konzept der Bezugspflege hat sich aus dem
schen in der Aufnahmesituation beschreiben und Primary nursing (Manthey, 1980) entwickelt. In der
die Situation, die zu dem jetzigen Zustand führte. Bezugspflege finden wir im Gegensatz zu anderen
Hierzu gehören: Pflegesystemen eine Zuordnung von Mensch zu
4 Situation, die zur Aufnahme führte (Krisenin- Mensch. In diesem Pflegesystem wird vorausschau-
halt), end die Zuordnung von neu aufgenommenen Pa-
4 aktuelle körperliche Einschränkungen/Erkran- tienten durch die Pflegepersonen geplant. Der Pati-
kungen (Status), ent wählt seine Pflegeperson nicht aus, sondern
4 Vorerkrankungen, diese wird ihm zugeteilt. Bei der Zuteilung sollten
4 aktuelle psychische Situation (hierbei sollte ein neben dienstplanerischen Aspekten (Anwesenhei-
besonderes Augenmerk auf krankheitsspezifi- ten der Bezugsperson) auch mögliche andere, z. B.
sche Symptome und Lebensüberdrussgedanken kulturelle Aspekte, berücksichtigt werden. Die Be-
gelegt werden), zugspflegeperson ist umfassend informiert über die
4 die Pflegeperson sollte in der Aufnahmesitua- ihr zugeteilten Patienten. In der Bezugspflege begeg-
tion einen Gesamteindruck über den Patienten nen uns 3 wegweisende Begriffe.
beschreiben können.
Verantwortung
Die Verantwortung bezieht sich auf die Bezugspfle-
6.3.4 Sozialanamnese geperson, die den Patienten betreut, für dessen Pfle-
geplanung, Durchführung und Evaluation sie ver-
Die Sozialanamnese umfasst Daten, die die häusli- antwortlich ist. Sie ist des Weiteren verantwortlich
che Situation des Patienten betreffen. für die Weiterleitung von Informationen an andere
4 Lebt der Patient allein oder in einer Partner- Mitglieder des therapeutischen Teams und für die
schaft? Koordination der Vertretung während ihrer Abwe-
4 Wie ist der Familienstand des Patienten? senheit (z. B. Urlaub, Fortbildungen). Ebenso ob-
4 Gibt es Kinder, besteht Kontakt zu diesen? liegt ihr gemeinsam mit den anderen Berufsgruppen
4 Hat der Patient ein bestehendes Arbeitsverhält- die Entlassungsplanung.
nis?
4 Gibt es eine rechtliche Betreuung für den Patien- Beziehung
ten? Wenn ja, für welche Bereiche? Die Beziehung zwischen Pflegeperson und Patient
4 Gibt es wichtige Bekannte/Verwandte, die zu trägt entscheidend zum Heilungsprozess bei. Hier-
informieren sind? bei steht neben der Sach- und Fachkenntnis der
4 Hat der Patient Haustiere, die wegen des Kran- Pflegeperson auch ihre kommunikative Kompetenz
kenhausaufenthalts woanders untergebracht im Vordergrund. Pflegepersonen sollten in klienten-
werden müssen? zentrierter Gesprächsführung oder ähnlichen An-
4 Wie sieht die finanzielle Situation des Patienten sätzen der Kommunikation geschult sein, um mit
aus? dem Patienten hilfreiche Gespräche führen zu kön-
4 Bestehen z. B. Mietschulden (o. a. Schulden)? nen. Die Beziehungsaufnahme zum Patienten ge-
4 Wie sieht die Wohnsituation des Patienten staltet die Bezugperson bewusst. Die Beziehung zum
aus? Patienten sollte immer respektvoll und partizipativ
4 Ist der Patient von Obdachlosigkeit bedroht? sein. Sie sollte als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden
4 Ist ein ambulanter Pflegedienst über die Aufnah- werden.
me des Patienten zu informieren?
4 Welche Religionszugehörigkeit hat der Patient? Konsens
Neben den kommunikativen Fähigkeiten spielen
auch die sozialen Fähigkeiten der Pflegeperson ei-
118 Kapitel 6 · Methoden der Pflegepraxis

ne wichtige Rolle. Im Rahmen der Bezugspflege Patientenbezogene Aufgaben der Bezugspflege-


sollte es immer zu einer Konsensfindung zwischen person
Patient und Bezugsperson kommen. Für eine trag- 4 Die Bezugsperson gestaltet die erste Kontaktauf-
fähige bezugspflegerische Beziehung ist der kleins- nahme zum Patienten.
te gemeinsame Nenner häufig wichtiger als ein 4 Die Bezugsperson nimmt aktiv am Aufnahme-
großes Ziel, das niemals erreicht wird. Patient und gespräch teil.
Bezugspflegeperson sollten gemeinsam Erfolge pla- 4 Bezugspflegegespräche finden mindestens 1-mal
nen! pro Woche 15 min bis 2-mal pro Woche 30 min
statt. Die Terminabsprache wird im Wochenthe-
Kurzkonzept zur Bezugspflege rapieplan des Patienten vermerkt und obliegt
In einem praxisorientierten Kurzkonzept kann zwi- der Bezugsperson.
schen patientennahen und patientenfernen Aufga- 4 Die Pflegeplanung erfolgt bis zum 4. Tag (ab
ben unterschieden werden: Aufnahmetag) mit der Bezugsperson.
6 4 Die Wochentherapieplanung wird mit der Be-
Definition zugsperson durchgesprochen.
Jeder Patient/jede Patientin hat eine pflegerische Be- 4 Hausbesuche, wenn therapeutisch notwendig/
zugsperson, die während des gesamten Aufenthaltes sinnvoll finden möglichst mit der Bezugsperson
auf der Station verantwortlich ist. Die pflegerische statt.
Beziehung gestaltet sich in erster Linie unterstüt- 4 Angehörige werden, wenn vom Patienten ge-
zend, womit eine zielgerichtete individuelle Pflege wünscht und/oder therapeutisch sinnvoll in
auf der Grundlage des Pflegeprozesses gewährleistet die Pflege durch die Bezugsperson miteinbe-
wird. zogen.
4 Die Bezugsperson informiert den Patienten über
Zuteilung Termine zur Diagnostik etc.
4 Festlegung nach freier Kapazität der Pflegeper- 4 Die Grund- und Behandlungspflege wird bei
sonen (PP). Anwesenheit der Bezugsperson durch diese
4 Berücksichtigung von Urlaub und Fortbildun- durchgeführt.
gen. 4 Die Bezugsperson gestaltet/plant gemeinsam
4 100%-Vollkraft betreut 3–4 Patienten. mit den anderen Therapeuten und dem Patienten
4 75% anwesende PP betreut 2–3 Patienten. die Entlassung und reflektiert den stationären
4 50% anwesende PP betreut 0–1 Patienten. Aufenthalt. Die Bezugsperson ist verantwortlich
für das Entlassungsmanagement.
Vertretungsregelungen
4 Bei voraussehbaren Ausfällen der Bezugsperson, Patientenferne Aufgaben
wie Urlaub oder Fortbildung, sorgt die Bezugs- Die Bezugsperson ist verantwortlich für:
person eigenverantwortlich und rechtzeitig für 4 die Vorstellung der Pflegeplanung/Behandlungs-
eine Vertretung. planung in der Dienstübergabe und Teamkon-
4 Der vertretenden Bezugsperson ist der Patient ferenz
rechtzeitig bekannt. 4 Realisierung und Überprüfung der Pflegepla-
4 Dem Patienten wird die vertretende Bezugsper- nung
son rechtzeitig vorgestellt. 4 die kontinuierliche Information an das multi-
4 Bei Krankheitsausfall wird die vertretende Be- professionelle Team in Dienstübergaben, Team-
zugsperson in der Einführungsphase des Kon- konferenzen und Visiten
zeptes durch die Stationsleitung bzw. deren Ver- 4 die Kontrolle der Übertragung von Medikamen-
tretung geregelt. ten auf ein neues Krankenkurvenblatt zur Mini-
4 Nach der Einführungsphase wird die Regelung mierung von Übertragungsfehlern
der Vertretung bei Krankheit an das Pflegeteam
eigenverantwortlich zurückgegeben.
6.3 · Patientenaufnahme und Betreuung
119 6

! Allgemeine pflegerische Aufgaben finden in fahren (Wissensvermittlung über die Krankheit und
allen Diensten mit allen anwesenden Patien- den Umgang damit) und Gruppen zur Reintegration
ten statt. in die Arbeitswelt (Arbeits- und Beschäftigungs-
Patienten, deren Bezugspersonen nicht therapie). Des Weiteren werden Entspannungs-
anwesend sind, werden selbstverständlich verfahren (autogenes Training, progressive Muskel-
durch die diensttuenden Pflegepersonen relaxation) angeboten.
kompetent mitversorgt. Bei der Unterschiedlichkeit psychischer Störun-
gen und der Vielfalt der persönlichen Situationen
von Klienten ist es sinnvoll, die Therapieplanung auf
6.3.6 Dokumentation den einzelnen Patienten abzustimmen. Hierbei wird
aus der Vielfalt des Angebotes das spezielle thera-
Der Pflegebericht dient als Dokument für erbrachte peutische Angebot für den Patienten herausgefiltert.
pflegerische Leistungen. Hierbei sollte darauf geach- Diese Angebote sollten für den Patienten bindend
tet werden, dass immer ein Bezug zum Patienten sein, auch um die Ernsthaftigkeit eines therapeuti-
hergestellt wird. Es werden die Wirkungen der durch- schen Settings zu unterstreichen. Bei akuten Verän-
geführten Maßnahmen beschrieben. Ebenso werden derungen des Gesundheits-/Krankheitszustands des
die Erkenntnisse aus der Krankenbeobachtung be- Patienten sind Veränderungen möglich und meist
schrieben. Inhalte aus Bezugspflegegesprächen, Visi- auch sinnvoll.
ten, Teamsitzungen, organisatorische Informationen
für den nächsten Dienst und aktuelle Veränderun-
gen des Zustands des Patienten werden hier ver- 6.3.8 Berufsspezifische Aufgaben-
schriftlicht. verteilung
Der Pflegebericht sollte kurz, prägnant und ver-
ständlich geschrieben sein. Im Bericht werden mess- Das therapeutische Team setzt sich aus unterschied-
bare Fakten beschrieben. Subjektive Einschätzungen lichen Berufsgruppen zusammen. Die verschiedenen
einer Situation durch die Pflegeperson sollten als Berufsgruppen ergänzen sich gegenseitig mit ihrem
solche gekennzeichnet sein (z. B. »Herr Gerber wirkt unterschiedlichen Fachwissen. Bei einer abgestimm-
auf mich …«). Äußerungen des Patienten, die als ten gemeinsamen Grundhaltung und gegenseitiger
wichtig erachtet werden, werden als solche gekenn- Anerkennung der individuellen und beruflichen
zeichnet (z. B.: Herr Gerber äußerte: »…ich spüre, Spezifität sind sie hilfreich für den Patienten. In
es wird etwas schreckliches passieren…«). Der Pfle- psychiatrischen Teams trifft man üblicherweise die
gebericht dient der Information und der Handlungs- folgenden Berufsgruppen an.
grundlage der nachfolgenden Schicht. Aus den Be-
schreibungen folgen neue pflegerische Maßnahmen Pflegepersonen
(7 Kap. 6.2.3). Sie sind zuständig für die körperliche und psychi-
sche Pflege des Patienten. Pflegepersonen sind die
»Wahrnehmungsspezialisten« im Team. Sie beo-
6.3.7 Individueller Therapieplan bachten und nehmen alle menschlichen Bedürfnisse
wahr. Hierbei handelt es sich nicht nur um elemen-
Im Rahmen von stationären und teilstationären tare körperliche Bedürfnisse, wie ausreichendes
Behandlungen finden sich in einem Wochenthera- Essen und Trinken, Kleidung u. ä., sondern auch die
pieplan alle möglichen angebotenen Therapien Pflege von Beziehungen, Umgang des Patienten mit
strukturiert zusammen. Ebenso finden sich sowohl der Umwelt, Begleitung des Patienten in seiner Er-
einzel- als auch gruppentherapeutische Angebote krankung, in seinem Rückzug. Diese Tätigkeiten
darin. Hierzu gehören verbale (Gesprächspsycho- können Pflegepersonen sowohl innerhalb einer Kli-
therapieverfahren) und nonverbale Therapieformen nik als auch im ambulanten Bereich ausführen. Im
(Kreativtherapien, körpertherapeutische Verfahren) Krankenpflegegesetz vom 01.04.2004 wird für Pfle-
ebenso wie psychoedukative Gruppentherapiever- gepersonen der Aspekt der Gesundheitsförderung
120 Kapitel 6 · Methoden der Pflegepraxis

und Beratung festgelegt. Insbesondere im psychiatri- Psychologen


schen Bereich ist der Aspekt der Gesundheitsförde- Spezielle psychologische Testverfahren zur Diagnos-
rung ein relativ neues Thema. Dabei ist es allerdings tik von psychischen Erkrankungen und Persönlich-
nicht unerheblich, wenn man an die Gewichtszunah- keitsstörungen und psychotherapeutische Verfahren
me unter Einnahme von Psychopharmaka denkt. stehen bei dieser Berufsgruppe im Vordergrund.
Ein häufig auftretendes Problem ist auch der Niko- Durch die spezielle Ausbildung bringt der Psycholo-
tingebrauch und die fehlende vitalstoffreiche Ernäh- ge Wissen über die menschliche Entwicklung, Ver-
rung (auch oft aufgrund von mangelnden finanziel- haltenstheorien und Lerntheorien mit in das Team.
len Mitteln durch Frühberentung, Arbeitslosigkeit Häufig haben Psychologen nach dem Studium eine
etc.). Heute erforscht man zunehmend die Zusam- therapeutische Ausbildung absolviert und sind spe-
menhänge zwischen körperlichen und psychischen zialisiert auf verschiedene Therapieverfahren (z. B.
Erkrankungen (z. B. Herzinfarktrisiko und Depres- Verhaltenstherapie, systemische Therapie, Familien-
sion) sowie Zusammenhänge von psychischer Ge- therapie, tiefenpsychologische Therapie, Analysever-
6 sundheit und z. B. Ausdauersportarten. fahren). Dennoch sollte der Blickwinkel des Psycho-
logen über den therapeutischen Rahmen hinausge-
Ärzte hen. Die Wahrnehmung der sozialen Umgebung und
Sie sind im Team zuständig für die Verordnung der des Ökosystems (Im Sinne der strukturellen und
Medikamente. Ihre fachliche Spezifität ist die Diag- ökonomischen Rahmenbedingungen), in dem sich
nostik der Zusammenhänge zwischen psychiatri- der Patient befindet, darf weder im klinischen noch
scher Erkrankung und körperlichen Einflussgrößen im ambulanten Rahmen vernachlässigt werden.
(z. B. Hirnverletzungen, Hirnveränderungen). Bei
der steigenden Zahl von psychiatrisch und körper- Bewegungstherapeuten/Physiotherapeuten
lich kranken Patienten ist ein umfassendes medizi- Die Wahrnehmung des Körpers und der körperli-
nisches Wissen für die Betreuung der Patienten un- chen Möglichkeiten ist ein Hauptthema für Physio-
umgänglich. Man denke hier nur an Patienten mit therapeuten. Hierbei geht es nicht nur um die Be-
Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes melli- weglichkeit oder das Wiedererlangen körperlicher
tus, Rheuma, Herzerkrankungen usw. bei gleichzei- Fitness, sondern auch um die Wahrnehmung der
tiger psychiatrischer Erkrankung. Mediziner müs- eigenen körperlichen Grenzen, von Nähe und Dis-
sen manchmal auch Entscheidungen gegen den tanz. Dies dient bei Störungen der Körperwahrneh-
Willen des Patienten treffen (Zwangsmedikation). mung auch der Realitätskontrolle. Ebenso dient die
Hierzu gehört eine gehörige Portion Selbstsicherheit Bewegungstherapie dem Patienten zum körperli-
neben fachlichem Know-how. chen Wohlbefinden, zur Regulierung des Körperge-
wichtes, Regulierung von Kreislaufstörungen unter
Sozialarbeiter Einnahme von Psychopharmaka und der Gesund-
Diese Berufsgruppe hat sich aus dem früheren Für- heitsförderung. Es können Techniken vermittelt
sorger entwickelt. Sozialarbeiter sind zuständig werden, die der Gesunderhaltung des Körpers
für die optimale Nutzung unseres Rechtssystems und der Psyche dienen (Zusammenhang zwischen
für die Patienten. Sie sind behilflich bei Renten- Ausdauersportarten und affektiven Störungen).
anträgen, Anträgen auf Sozialhilfe oder andere Außerdem ist der Bewegungstherapeut auch für
staatliche Hilfen. Sie organisieren Hilfemöglichkei- die Herstellung von körperlicher Gesundheit bei
ten, die nach der Entlassung aus der Klinik aktiv Patienten zuständig, die sich z. B. im Rahmen von
werden (z. B. Hauskrankenpflege). Ebenso sind Suizidversuchen körperlich schwer verletzt haben.
sie zuständig, soziale Verelendung zu verhindern
(Klärung der Wohnsituation, Abwendung von Ob- Arbeits- und Beschäftigungstherapeuten,
dachlosigkeit). Sie organisieren mit dem Patienten Ergotherapeuten
Möglichkeiten, sich wieder in die Gesellschaft zu Diese Berufsgruppe widmet sich der Integration des
integrieren (z. B. Integration in Gruppen, Begeg- Patienten in eine Gruppe mit Hinblick auf künstlich
nungsstätten u. a.). gestellte »Arbeitssituationen«. Hierbei geht es nicht
6.3 · Patientenaufnahme und Betreuung
121 6

nur um das Anfertigen von Gegenständen aus ver- Kontakten zu den Patienten und ihren primären
schiedenen Materialien (Ton, Holz, Seide, Papier Bezugspersonen. Somit können sie den Unterstüt-
etc.), sondern auch um die Möglichkeit der Erpro- zungsbedarf verlässlich einschätzen und erforderli-
bung von Situationen, in denen Anforderungen an che Maßnahmen einleiten und koordinieren.
den Patienten gestellt werden. Je nachdem, wie
niedrigschwellig das Angebot ist, wird man von Exkurs Expertenstandard Entlassungs-
Beschäftigungs- oder Arbeitstherapie sprechen. Die management
Tagesgestaltung mit schwer chronisch psychisch Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in
Kranke wird sicherlich anders aussehen als die Tages- der Pflege (DNQP) hat im Rahmen eines vom Bun-
gestaltung im Rahmen eines sozialpsychiatrischen desministerium für Gesundheit (BMG) geförderten
tagesklinischen Programms. Früher wurde die Tä- Pilotprojektes »Entwicklung, Konsentierung und
tigkeit oft als Beschäftigungstherapie bewertet. Implementierung von Expertenstandards in der
Der Arbeits- und Beschäftigungstherapeut hat Pflege« im Jahr 2003 den Expertenstandard Ent-
Wissen über die Arbeitswelt und kann den Patienten lassungsmanagement verabschiedet. Der Experten-
entsprechend anregen und unterstützen, Arbeiten standard richtet sich primär an Pflegefachkräfte
auszuprobieren, sich zu organisieren, kleine Abläufe in stationären Gesundheitseinrichtungen und zielt
zu gestalten, arbeiten in der Gruppe zu üben, zu ler- aus pflegerischer Perspektive systematisch darauf
nen, welche Qualität erbracht werden soll und wel- ab, dem Entstehen von Versorgungsbrüchen bei der
che Qualität er erbringt. So erlernt der Patient, die Patientenentlassung durch gezielte Vorbereitung, so-
eigene Leistung einzuschätzen und auch wertzu- wie durch einen besseren Informationsaustausch
schätzen (Steigerung des Selbstwertgefühls). Eine zwischen den Beteiligten entgegenzuwirken. Er re-
geregelte »Arbeit« birgt ein hohes Maß an Struktur gelt jedoch nicht das Vorgehen innerhalb der jewei-
in sich. Der Arbeits- und Beschäftigungstherapeut ligen Einrichtungen sondern stellt vielmehr in Rech-
ist der Experte für den Alltag (Freizeit und Arbeit). nung, dass viele Einrichtungen bereits über Ansätze
Arbeiten heißt auch, in die Gesellschaft integriert zu der systematischen Patientenentlassung verfügen, die
sein, sie dient der sozialen Kontrolle und dem Zu- weiter optimiert werden können. Vor dem Hinter-
sammenhalt der Gesellschaft. In Zeiten hoher Ar- grund der fragmentierten Versorgungssysteme sind
beitslosigkeit ist für psychisch Kranke v. a. die Mög- weitere einrichtungsübergreifende Regelungen zu
lichkeit in Zuverdienstprojekten zu arbeiten wichtig, treffen, um eine adäquate Kooperation zu forcieren.
um sich als Teil der Gesellschaft zu begreifen. In dem Expertenstandard wird ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass Pflegefachkräfte nicht alle Schritte
im Entlassungsmanagement selbst durchführen.
6.3.9 Entlassungsmanagement
! Ein gelungenes Entlassungsmanagement
Einleitung kann nur in multidisziplinärer Zusammenar-
beit erreicht werden.
Das Entlassungsmanagement zielt auf die Sicherung
der Versorgungskontinuität, welche beim Übergang Der Expertenstandard beinhaltet jeweils 6 Kriterien
des Patienten von der einen in die andere Versor- zur Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität: Assess-
gungsform gefährdet ist. Zwei zentrale Aufgaben- ment, individuelle Entlassungsplanung, Beratung
bereiche sind hier zu erwähnen: erstens eine Koordi- und Schulung, Koordination des Entlassungspro-
nation der im poststationären Bereich erforderlichen zesses, sowie bedarfsgerechte Vorbereitung der Ent-
Unterstützungs- und Versorgungsleistungen und lassung.
zweitens die Stärkung der Selbststeuerungs- und
Selbstmanagementfähigkeiten der Patienten. Prin- Überleitungspflege – Pflegeüberleitung
zipiell wird das Entlassungsmanagement als eine Domscheit (1996, S. 2) definiert Überleitung »als
multidisziplinäre Aufgabe verstanden. Eine zentrale Lösungsansatz für verschiedene Schnittstellenprob-
Stellung der Pflegefachkräfte im Entlassungsprozess leme. Sie soll dazu beitragen, dass der Patient beim
begründet sich aus dem häufigeren und intensiveren Übergang zwischen den Institutionen der Gesund-
122 Kapitel 6 · Methoden der Pflegepraxis

heitsversorgung bzw. in die ambulante Betreuung Definition


alle notwendigen Leistungen zeitgerecht […] erhält
Pflegeüberleitung umfasst vorwiegend Bera-
[…]«.
tungs- und Managementaufgaben, d. h. die Be-
Im Zuge der Reformbestrebungen seit den 70er
gleitung, Moderation und Kontrolle des Prozes-
Jahren wurden im Bereich der psychiatrischen Ver-
ses der Überleitung des Patienten (Schriftenrei-
sorgung die bislang umfangreichsten Konzepte zur
he des Institut für PW).
Behebung des Schnittstellenproblems entwickelt. Sie
reichen von globalen Konzepten einer koordinierten
gemeindeintegrierten Versorgung über konkrete An-
sätze der einrichtungsübergreifenden Abstimmung Organisationsformen der Überleitung
und Zusammenarbeit bis hin zur Begleitung der Pa- Dem Konsens, was die besondere Stellung der Pflege
tienten durch die Pflegenden beim Übergang aus der betrifft, stehen zahlreiche Organisationsmodelle
psychiatrischen Klinik in andere Betreuungsformen. bzw. -formen gegenüber. Wie aus den Arbeitstexten
6 Hinzu kommt, dass die Psychiatrie-Personalverord- zur Konsentierung des Expertenstandard zum Ent-
nung vergleichsweise günstige Voraussetzungen für lassungsmanagement (DNQP 2002, S. 26–29) zu
die Realisierung von Überleitungskonzepten bietet ersehen ist, empfiehlt es sich, zwei übergeordnete
(Schriftenreihe des Instituts für Pflegewissenschaft). Organisationsformen zu unterscheiden.
Die Funktion und Stellung des Akutkranken- Die indirekte Form ist charakterisiert durch den
hauses hat sich in den letzten Jahren erheblich ver- Einsatz von Pflegeexperten mit besonderer Qualifi-
ändert. Häuser der Akutversorgung sind heute als kation und Verantwortung für das Entlassungsma-
Intensivversorgungsinstitution (Bartholomeyczik, nagement, welches einzig oder zumindest einen we-
2001) meist nur ein kurzes Glied in der Versorgungs- sentlichen Bestandteil ihrer beruflichen Aufgaben
kette, wobei die Zahl der hilfe- und pflegebedürfti- ausmacht. Die Pflegeexperten sind als Bindeglied
gen Menschen stetig steigt. Dies hat zur Folge, dass zwischen Krankenhaus und anderen nachgeordne-
zum Zeitpunkt der Entlassung oder Verlegung aus ten Versorgungsbereichen angesiedelt.
dem Krankenhaus immer mehr Patienten für eine Die direkte Form hingegen charakterisiert sich
kurze Zeit oder auf Dauer der Unterstützung, Anlei- durch die Betonung der berufsgruppenübergreifen-
tung oder Übernahme der Pflege oder der Ausfüh- den Zusammenarbeit. Den Bezugspflegekräften der
rung von Behandlungspflege bedürfen. Station werden die Aufgaben des Assessment, der in-
Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die Be- itialen Auslösung der Prozesskette, Beratung, Anlei-
griffe Überleitungspflege und Pflegeüberleitung tung und Schulung von Patienten und ihrer Angehö-
häufig synonym verwendet. Da es sich allerdings um rigen und der adäquaten Informationsübermittlung
unterschiedliche Ansätze handelt, sollte hier eine an Beteiligte in der Nachsorge zugeschrieben. Die
Differenzierung vorgenommen werden. Die Unter- Pflegefachkräfte sind entweder Teil eines multidiszi-
scheidung soll verdeutlichen, dass es sich um Aufga- plinären Teams, das alle wesentlichen Schritte des
benfelder mit jeweils anderer Schwerpunktsetzung Entlassungsmanagements gemeinsam plant und in
handelt, die aufgrund ihrer personellen Zuordnung, enger Abstimmung arbeitsteilig durchführt, oder sie
organisatorischen Aspekten und ihres Leistungspro- übernehmen die Koordinationsverantwortung für
fils getrennt betrachtet werden sollten. den Gesamtprozess.

Definition Aufnahmemanagement
Überleitungspflege kennzeichnet die am Pati- Die Organisation der nach dem Krankenhaus not-
enten erbrachte Dienstleistung, d. h. die unmit- wendigen Pflege- und Betreuungsmaßnahmen sowie
telbare Betreuung des Patienten durch Pflege- weiterer sozialer Dienste kann nur dann erfolgreich
kräfte, die ihn beim Übergang von der einen Be- sein, wenn die dafür notwendigen Informationen
treuungsform in die andere zumindest zeitweise möglichst direkt im Anschluss an die stationäre Auf-
begleiten (Schriftenreihe des Institut für PW). nahme des Patienten im Krankenhaus eingeholt und
im Verlauf des Aufenthalts ständig aktualisiert wer-
Literatur
123 6

den (dip, Überleitung und CM in der Pflege, S. 64). Literatur


Um die entlassungsbezogenen Bedürfnisse eines Bauer R (2004) Beziehungspflege. Ibicura, Unterostendorf
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schiedliche Informationen benötigt: Dash K et al (Hrsg) (2000) Entlassungsplanung Überleitungs-
4 Soziodemographie, pflege. Urban & Fischer, München
4 allgemeiner Gesundheitszustand, Dörner K, Plog U, Teller Chr,Wendt F (2002) Irren ist menschlich.
4 funktioneller Status, 4. Aufl Psychiatrie-Verlag, Bonn
4 mentaler Status, Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
(2003) Expertenstandard Entlassungsmanagement, Ent-
4 Belastungsniveau,
wicklung, Konsentierung. Osnabrück
4 Eigenwahrnehmung des Gesundheitszustands, Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung eV (Hrsg)
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Entlassung (Naylor et al., 1994).
Ewers M, Schaeffer D (Hrsg) (2000) Case Management in Theo-
rie und Praxis. Hans Huber, Bern
Die eingesetzten Instrumente zur Erhebung variie- Finke J (1994) Empathie und Interaktion. Thieme, Stuttgart
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bögen bis hin zu definierten Assessmentverfahren. Kohlhammer, Stuttgart
Kruijswijk Jansen J, Mostert H (1997) Pflegeprozeß. Ullstein
Bisher ist der Nachweis, dass standardisierte Assess-
Mosby, Berlin
ments eine höhere Verlässlichkeit als andere Verfah- Kistner W (1994) Der Pflegeprozess in der Psychiatrie. 2. Aufl
ren der Pflegebedarfsermittlung haben, nicht er- Gustav Fischer, Stuttgart
bracht (Expertenstandard in der Pflege 2002, S. 35). Rogers C (1988) Therapeut und Klient – Grundlagen der Ge-
sprächspsychotherapie. Fischer
Überprüfen Sie Ihr Wissen! Schädle-Deininger H, Villinger U (1997) Praktische psychiatri-
sche Pflege. 2. Aufl Psychiatrie-Verlag, Bonn
4 Wie nennt man eine dem Patienten zugewandte Schlettig H-J, von der Heide U (1993) Bezugspflege. Springer,
Haltung? 7 Kap. 6.1.1 Berlin Heidelberg New York
4 Warum werden Case Management Konzepte Schulz von Thun F (2004) Miteinander Reden 1. 40. Aufl Ro-
derzeit auch hierzulande so intensiv diskutiert wohlt, Reinbek bei Hamburg
und vermehrt aufgegriffen? 7 Kap. 6.1.3 Schulz von Thun F (2004) Miteinander Reden 2. 24. Aufl Ro-
wohlt, Reinbek bei Hamburg
4 Welche Einflussfaktoren auf die Umsetzung von
Sauter D, Abderhalden C, Needham I, Wolff S (2004) Lehrbuch
Case Management kennen Sie? 7 Kap. 6.1.3 der psychiatrischen Pflege. Hans Huber, Bern
4 Beschreiben Sie die einzelnen Phasen des Case Wendt W-R (2001) Case Management im Sozial- und Gesund-
Management Prozesses. 7 Kap. 6.1.3 heitswesen. Lambertus, Freiburg
4 Auf welcher Grundlage findet die geplante Pfle-
ge und die Dokumentation der Durchführung
statt? 7 Kap. 6.2
4 Nennen Sie pflegerische Grundlagen in der
psychiatrischen Arbeit! 7 Kap. 6.3.1
4 Begründen Sie die zentrale Stellung von Pflege-
fachkräften im Entlassungsprozess! 7 Kap. 6.3.9
4 Benennen Sie die Unterschiede zwischen Über-
leitungspflege und Pflegeüberleitung! 7 Kap.
6.3.9
4 Welche unterschiedlichen Organisationsformen
des Entlassungsmanagement kennen Sie? 7 Kap.
6.3.9
7

7 Kommunikation
und Gesprächsführung
Mark Helle

7.1 Was ist Kommunikation? – 126

7.2 Allgemeine Kommunikationstheorien – 127


7.2.1 Encoder/Decoder-Modelle – 127
7.2.2 Intentionalistische Modelle – 128
7.2.3 Modelle der Perspektivenübernahme – 128
7.2.4 Dialogische Modelle – 129

7.3 Die fünf Axiome menschlicher Kommunikation (Watzlawick) – 129

7.4 Das Nachrichtenquadrat (Schulz v. Thun) – 131

7.5 Der personzentrierte Ansatz und Kommunikation (Rogers) – 134


7.5.1 Grundlagen des personzentrierten Ansatzes – 134
7.5.2 Das personzentrierte Beziehungsangebot – 134
7.5.3 Empathie – 135
7.5.4 Kongruenz – 136
7.5.5 Bedingungslose Wertschätzung – 136

7.6 Zusammenfassung – 136

Literatur – 137
126 Kapitel 7 · Kommunikation und Gesprächsführung

) ) In Kürze 7 das Menschenbild, das dem personzentrierten


Ansatz zu Grunde liegt, zu beschreiben
Kommunikation ist ein Vorgang, der den Austausch 7 die Grundlagen des personzentrierten Bezie-
von Informationen beschreibt. Besonders in der hungsangebotes darzustellen und mit den Kon-
zwischenmenschlichen Kommunikation handelt es zepten Empathie, Kongruenz und bedingungs-
sich um einen außergewöhnlich komplexen Pro- loser Wertschätzung in Verbindung zu bringen
zess. Informationen werden auf unterschiedlichen 7 die Bedeutung des personzentrierten Ansatzes
Ebenen (Sprache, Mimik, Gestik) übermittelt, sie für die Gestaltung zwischenmenschlicher kom-
können widersprüchlich sein, uneindeutig abge- munikativer Prozesse darzustellen
sendet aber auch falsch verstanden werden. Im
Bereich der psychiatrischen Pflege spielt Kommuni-
kation sowohl im Kontakt zu den Patienten als auch 7.1 Was ist Kommunikation?
im kollegialen Austausch eine zentrale Rolle. Das
Wissen um die verschiedenen Aspekte mensch- Der Begriff Kommunikation kommt aus dem Latei-
licher Kommunikation kann entscheidend dazu nischen und bedeutet so viel wie Mitteilung oder
7 beitragen, die unterschiedlichen Beziehungen im Unterredung. Während sich die ursprüngliche latei-
psychiatrisch-pflegerischen Berufsalltag klarer und nische Bedeutung ausschließlich auf den verbalen
konfliktfreier zu gestalten. zwischenmenschlichen Austausch bezieht, ist das
Ausgangspunkt dieses Kapitels ist eine Einfüh- heutige Verständnis sehr viel breiter:
rung in das weite Feld der Kommunikation, um in Mit Kommunikation wird ganz allgemein der
dem sich dann anschließenden Teil ausschließlich Austausch von Information beschrieben, wobei nicht
auf den Bereich der zwischenmenschlichen Kom- notwendigerweise Menschen daran beteiligt sein
munikation zu fokussieren. Zunächst wird ein Über- müssen. In der Regel steht zwischen Sender und Emp-
blick der unterschiedlichen kommunikationspsy- fänger ein sog. Medium, welches die Botschaft über-
chologischen Theorien gegeben, die in vier Klassen trägt, etwa Luft (für Sprache), Datenleitungen, Zeit-
unterteilt werden können. Hieran schließt sich eine schriften u. Ä. Die Kommunikation erfolgt durch die
ausführliche Darstellung der drei Ansätze an, die Übermittlung von Zeichen beliebiger Art; dies kön-
vor allem im kommunikativen und interpersonalen nen z. B. Laute, Buchstaben, Gesichtsausdrücke aber
Austausch in der psychiatrischen und psychosozia- auch Bitfolgen sein. Wesentlich für die Kommunika-
len Praxis von großer Relevanz sind: tion ist die Verbindung von Zeichen und Bedeutung.
4 die fünf Axiome menschlicher Kommunikation Eine erfolgreiche Kommunikation ist nur möglich,
(Watzlawick) wenn Sender und Empfänger diese Zuordnung in
4 die vier Seiten einer Nachricht (Schulz v. Thun) gleicher Weise vornehmen (vgl. Brockhaus, 2004).
4 der personzentrierte Ansatz (Rogers) Kommunikation findet demnach überall dort
statt, wo ein Transfer von Information erfolgt bzw. in-
Wissensinhalte tendiert ist. Wenn beispielsweise auf dem Monitor des
Nach dem Studium dieses Kapitels sind Sie in der Computers die Meldung erscheint: »Das System hat zu
Lage: wenig Arbeitsspeicher zur Verfügung«, so handelt es
7 die vier Klassen der psychologischen Kommuni- sich zweifelsfrei um einen kommunikativen Vorgang,
kationstheorien zu beschreiben und gegenein- genauer um Kommunikation zwischen Computer
ander abzugrenzen und Mensch (Mensch-Maschinen-Kommunikation).
7 die fünf Axiome von Watzlawick darzustellen Eine andere Form des Austausches von Information
und deren Bedeutung für die zwischenmensch- erfolgt über Kommunikationssatelliten, die es Maschi-
liche Kommunikation zu beschreiben nen ermöglichen, weltweit Informationen auszutau-
7 das Nachrichtenquadrat von Schulz v. Thun zu schen (Maschinenkommunikation). Weitere Formen
beschreiben und dessen Bedeutung sowohl für von Kommunikation sind animalische Kommunika-
den Sender als auch den Empfänger von Bot- tion (Kommunikation in der Tierwelt), Mensch-Tier-
schaften herauszuarbeiten Kommunikation oder auch Massenkommunikation.
7.2 · Allgemeine Kommunikationstheorien
127 7

Diese Bespiele sollen genügen, um deutlich zu ma- Wird diese Formel jedoch auf die Situation des
chen, wie breit das Feld der Kommunikation ist. Alltags übertragen, stellt sich rasch heraus, dass sie
In diesem Kapitel wird daher nur ein kleiner Aus- nicht ausreicht, um die Vielschichtigkeit kommu-
schnitt, nämlich der Bereich der zwischenmensch- nikativer Vorgänge abzubilden. Nicht selten ist es
lichen bzw. interpersonellen Kommunikation, also beispielsweise der Fall, dass ein und dieselbe Nach-
der Informationsaustausch zwischen mindestens richt von verschiedenen Empfängern unterschiedlich
zwei Individuen, behandelt. verstanden wird und daher auch die Effekte sehr
unterschiedlich ausfallen. Ferner ist die Absicht einer
Botschaft in vielen Fällen so komplex oder auch un-
7.2 Allgemeine Kommunikations- eindeutig, dass sich diese eher in Ausnahmen klar
theorien bestimmen lässt.
Mit der prägnanten Aufstellung grundlegen-
Die ersten empirisch untersuchten psychologischen der Aspekte menschlicher Kommunikation bildete
Kommunikationstheorien wurden Anfang des 20. das Modell von Lasswell den Ausgangspunkt einer
Jahrhunderts formuliert. Entsprechend der in der Entwicklung, die immer differenziertere Untersu-
damaligen akademischen Psychologie vorherrschen- chungsansätze innerhalb der Kommunikationspsy-
den behavioristischen Denkweise waren diese ange- chologie hervorbrachte.
lehnt am sog. Stimulus-Response-Modell. Kommu- Mittlerweile existiert eine Vielzahl sehr unter-
nikation wurde als ein linear-deterministischer schiedlicher Kommunikationstheorien, die hier in
Prozess zwischen Kommunikationsinhalt in einem einem groben Überblick vorgestellt werden sollen.
bestimmten Kommunikationsmodus – als ursächli- Mit Kraus und Fussel lassen sich diese Theorien in
chen Reiz (Stimulus) – und einem Empfänger – dem die folgenden vier Klassen einordnen (vgl. Kraus u.
auf den Reiz Antwortenden (Respons) – verstanden. Fussel, 1996):
Individuelle Unterschiede in der Verarbeitung kom- 4 Encoder/Decoder-Modelle,
munikativer Inhalte blieben dabei unberücksichtigt. 4 intentionalistische Modelle,
Im Mittelpunkt dieser Forschungstradition stand 4 Perspektivübernahme-Modelle,
vor allem das Interesse, die Wirkung von Massenme- 4 Dialog-Modelle.
dien auf Einstellungen und Einstellungsänderungen
von Menschen zu untersuchen. Diese eingeschränk-
te Sichtweise auf Kommunikation, die lediglich auf 7.2.1 Encoder/Decoder-Modelle
die Wirkung vom Sender auf den Empfänger fokus-
sierte, erfuhr 1948 mit der Publikation von Lasswell Grundlage dieser Modelle ist der Sender, der ei-
eine ganz entscheidende Erweiterung. nem Empfänger eine sog. interne Repräsentation
Mit der »Lasswell-Formel« werden alle relevan- übermittelt. Hierfür ist es notwendig, diese interne
ten Beschreibungskomponenten eines kommunika- Repräsentation in einen Code (z. B. Sprache) zu
tiven Prozesses zusammenfasst und wiedergegeben: transformieren bzw. zu encodieren. Über einen Ka-
nal, z. B. Schallwellen oder Telefonleitung, wird
! 5 Wer (Kommunikator, Sender) dieser Code an den Empfänger weitergeleitet, der
5 sagt was (Nachricht, Kommunikation, wiederum diese Information in eine eigene interne
Botschaft, Mitteilung) Repräsentation zurückübersetzen (decodieren)
5 zu wem (Empfänger, Kommunikant, muss.
Adressat) Auch wenn ein solches Modell nicht geeignet
5 womit (Zeichen, Signal, verbale, nonver- ist, alltägliche Kommunikationsprozesse zu be-
bale Verhaltensweisen) schreiben oder gar zu analysieren, so zeigt es doch
5 durch welches Medium (Modalität, Kanal) zentrale Punkte, die für ein Gelingen zwischen-
5 mit welcher Absicht (Intention, Motiva- menschlicher Kommunikation von hoher Relevanz
tion, Ziel) sind. Dies soll an folgendem Beispiel verdeutlicht
5 mit welchem Effekt? werden:
128 Kapitel 7 · Kommunikation und Gesprächsführung

3. Relevanzmaxime: Nachrichten an die


Kasuistik Kommunikationspartner sollen relevant
Im Klinikalltag gibt es eine Reihe von eindeuti- und bedeutungsvoll sein. Themen, die
gen Informationen, die an die Patienten weiter- nicht Gegenstand des laufenden Ge-
gegeben werden müssen. So existieren Stati- sprächs sind, sollen vermieden werden.
onsregeln, die eingehalten werden sollen. Es 4. Klarheitsmaxime: Nachrichten sollen klar,
gibt Termine, die die ganze Station oder auch deutlich und knapp sein. Mehrdeutige
einzelne Patientengruppen betreffen usw. Ausdrücke, unklare Formulierungen soll-
Anhand des Encoder/Decoder-Modells kann ten vermieden werden.
geprüft werden, ob
a) die Information so zusammen gefasst Befinden wir uns in strukturierten Situationen, in
(encodiert) wurde, dass die Inhalte für die denen Informationsinhalt und zeitlicher Rahmen
Patienten klar und eindeutig erkennbar vorgegeben sind – wie dies beispielsweise bei der
sind, Dienstübergabe auf der Station der Fall ist –, können
b) der Kanal des Informationstransfers (ge- die von Grice aufgestellten Konversationsmaximen
7 drucktes Papier, mündliche Instruktionen, sehr hilfreiche Orientierungspunkte bieten. Ein
Pinnwand etc.) geeignet ist, die Patienten zu Merkmal der Dienstübergabe ist, innerhalb eines
erreichen und unmissverständlich zu infor- vorgegebenen Zeitrahmens bestimmte Informatio-
mieren, und nen an den nachfolgenden Dienst zu übermitteln.
c) der einzelne Patient in der Lage ist, die so Nicht selten wird hier gegen alle vier der oben ge-
übermittelte Information entsprechend der nannten Maximen verstoßen, was in der Folge nicht
angestrebten Bedeutungsinhalte zurückzu- nur die Übergabe selbst zu einer lästigen Angelegen-
übersetzen (decodieren). heit werden lassen kann, sondern auch für den nach-
folgenden Dienst zu Komplikationen führt, wenn
dieser nicht über alle relevanten Informationen ver-
fügt. Das Modell von Grice soll anhand folgender
7.2.2 Intentionalistische Modelle Fragen konkretisiert werden:
! 1. Was genau will ich mitteilen?
Während die Encoder/Decoder-Modelle ein eher
2. Welche Hintergrundinformationen benö-
mechanisches Verständnis von Kommunikation
tigen die anderen, um meine Mitteilung
vermitteln, liegt der Fokus intentionalistischer Mo-
verstehen zu können?
delle auf der Absicht des Senders. Um ein Gelingen
3. Sind diese Informationen für die anderen
der Kommunikation zwischen Sender und Empfän-
wirklich von Bedeutung?
ger zu gewährleisten, müssen bestimmte Regeln
4. Ist die Art meiner Mitteilung für alle ver-
eingehalten werden. Grice, ein Vertreter diese Theo-
ständlich?
riengruppe, formulierte vier Basisregeln, die beachtet
werden sollten, um zwischenmenschliche Kommu-
nikation angenehm und effizient zu gestalten (Grice,
1975): 7.2.3 Modelle der Perspektiven-
übernahme
! 1. Qualitätsmaxime: Nachrichten sollen ein
Maximum an Qualität aufweisen. Modelle der Perspektivenübernahme betonen die
2. Quantitätsmaxime: Nachrichten sollen Notwendigkeit für die Kommunikationspartner,
nicht mehr und nicht weniger Information sich für ein Gelingen ihrer Kommunikation jeweils
als nötig enthalten. Das heißt, man soll so in die Rolle des Anderen hineinzuversetzen. Je bes-
informativ wie notwendig sein, aber nicht ser ich mich auf mein Gegenüber einstellen kann,
informativer als nötig. desto eher werde ich auch in der Lage sein, das, was
6 ich mitteilen möchte, so zu artikulieren, dass mein
7.3 · Die fünf Axiome menschlicher Kommunikation (Watzlawick)
129 7

Gegenüber mich richtig versteht. So werde ich einen 1990). Der Kommunikationsbegriff geht weit über
bestimmten Sachverhalt einem Kind ganz anders die Vorstellung, Kommunikation sei lediglich Infor-
erklären als einem Erwachsenen. Je besser ich mich mationstransfer, hinaus und wird daher als Synonym
auf meinen Zuhörer einstelle und seine Perspektive für Interaktion verstanden. Mit den folgenden fünf
kenne, um so eher werde ich eine Kommunikations- Axiomen werden nicht nur die basalen Eigenschaf-
form wählen, die für ihn unmissverständlich ist. ten von Kommunikation sondern auch die Grund-
Im Gegensatz zu den ersten beiden Modell- lagen interpersoneller Beziehungen beschrieben.
gruppen, von denen sich eindeutige Regeln oder ge-
zielte Techniken für den kommunikativen Prozess 1. Axiom: Man kann nicht nicht
ableiten lassen, fokussieren Modelle der Perspekti- kommunizieren
venübernahme auf eine Grundhaltung oder auch Wir alle kennen aus dem Alltag Konfliktsituationen,
Grundkompetenz, die ein generelles Gelingen oder die so weit eskalierten, dass beide Konfliktparteien
Nicht-Gelingen von Kommunikation entscheidend aufgehört haben, miteinander zu reden. Vor dem
beeinflusst. Der Aspekt der Einfühlung spielt im Hintergrund dieses ersten Axioms ist dies aber nicht
personzentrierten Ansatz, der an späterer Stelle aus- das Ende des kommunikativen Prozesses. Gehen
führlich behandelt wird, eine zentrale Rolle. wir davon aus, dass ein wesentlicher Bestandteil von
Kommunikation darin besteht, Information zu
transferieren, so muss bei genauerer Betrachtung
7.2.4 Dialogische Modelle festgestellt werden, dass auch ein Nicht-Handeln
oder ein Schweigen Mitteilungscharakter hat und
Diese letzte Gruppe von Modellen berücksichtigt somit auch Information beinhaltet. Die Tatsache,
vor allem die soziale Situation, in der Kommunika- dass mein Gegenüber schweigt, ist vielleicht das
tion stattfindet. Im Unterschied zu den vorherigen Ende des Gesprächs, nicht aber das Ende unserer
Modellen rückt hier die Interaktion der Kommuni- Kommunikation.
kationspartner in den Mittelpunkt. In den ersten
drei Modellen wurde zwischen Sender und Empfän-
ger eine gewisse Distanz aufrechterhalten, die sich Kasuistik
darin widerspiegelt, dass sowohl Sprecher als auch Ein Patient, der vom Ausgang zurückkommt
Hörer als autonome, informationsverarbeitende und wortlos mit gesenktem Blick an der Kran-
Instanzen verstanden werden. In den dialogischen kenpflegerin vorbeigeht, als ob sie Luft wäre,
Modellen wird das Ziel von Kommunikation in der kommuniziert in diesem Moment eine Vielfalt
Herstellung von Intersubjektivität im Sinne einer möglicher Informationen, wie z. B.: »Mir geht es
Begegnung und des Austausches zwischen zwei schlecht, bitte sprechen Sie mich an.« »Ich will
Individuen gesehen (vgl. Frindte, 2001). Erst in der meine Ruhe haben.« »Sie sind nicht die Person,
gemeinsamen Kommunikation wird der von beiden mit der ich sprechen möchte.«
Interaktionspartnern geteilte Bedeutungsgehalt be-
stimmter Handlungen und Symbole hergestellt. Als
Beispiel für ein dialogisches Modell wird im nachfol- Kommunikation lässt sich also nicht auf Interaktio-
genden Abschnitt der Ansatz von Watzlawick et al. nen reduzieren, in denen ein bewusster und erfolg-
(1990) ausführlich dargestellt. reicher Austausch in gegenseitigem Verständnis
stattfindet. Vielmehr ist es so, dass zwei Menschen,
sobald eine gewisse räumliche Nähe hergestellt ist,
7.3 Die fünf Axiome menschlicher immer kommunizieren, und sei es auch, indem bei-
Kommunikation (Watzlawick) de signalisieren, dass sie sich im Moment nicht
wahrnehmen, wahrnehmen wollen oder wahrneh-
Ausgangspunkt des viel beachteten Ansatzes von men können.
Watzlawick ist die Suche nach einer Pragmatik
menschlicher Kommunikation (Watzlawick et al.
130 Kapitel 7 · Kommunikation und Gesprächsführung

2. Axiom: Kommunikation hat einen


Inhalts- und einen Beziehungsaspekt Kasuistik
Dieses Axiom besagt, dass jede Kommunikation auf Die Stationsleitung kritisiert ihre Arbeitskol-
zwei Ebenen gesondert zu betrachten ist. Eine Ebe- legin, weil diese ihr ständig aus dem Weg
ne beschreibt die Information der Botschaft, also geht. Die Krankenpflegerin wiederum geht
das, was gesagt wird (Inhaltsaspekt). Die andere der Stationsleitung aus dem Weg, weil sie
Ebene fokussiert darauf, wie dieses gesagt wird (Be- ständig von ihr kritisiert wird. So ist jede der
ziehungsaspekt). Hier erhalten wir Informationen beiden im Glauben, nur auf die Andere zu
darüber, wie der Sender die Beziehung zum Empfän- reagieren. Die einzige Möglichkeit, diesem
ger sieht bzw. verstanden haben möchte. Eines der Teufelkreis zu entkommen, ist die Metakom-
zentralen Aussagen dieses zweiten Axioms ist, dass munikation, d. h. ein gegenseitiger Austausch
es im zwischenmenschlichen Dialog nie möglich ist, über die jeweils eigene Wahrnehmung dieser
einfach sachlich Fakten auszutauschen. Wann im- Situation.
mer ich mit anderen kommuniziere, gestalte ich im
selben Moment durch die Art und Weise meines
7 Kommunizierens wesentliche Teile meiner Bezie- Das Wettrüsten während des kalten Krieges ist ein
hung zu dieser Person. Der Beziehungsaspekt einer sehr spezielles Beispiel für die dramatischen Folgen,
Botschaft wird über Wortwahl, Tonfall, Mimik, die unterschiedliche Interpunktionen nach sich zie-
Gestik und auch Körperhaltung übermittelt. Je we- hen können. Um den Frieden in den Nato-Staaten zu
niger eindeutig die Beziehung zum Interaktions- sichern, begannen diese aufzurüsten. Die Staaten des
partner ist, desto mehr Aufmerksamkeit lenken wir Warschauer Paktes wiederum nahmen dieses Auf-
als Empfänger auf die Beziehungsaspekte einer Bot- rüsten als Bedrohung wahr, sodass nun auch sie –
schaft. Da die Signale, die den Beziehungsaspekt um den eigenen Frieden zu sichern – die Rüstungs-
betreffen, zu vielen Teilen unbewusst sind, ist hier industrie ankurbelten. Hierauf reagierten die Nato-
der Ausgangspunkt vieler Missverständnisse und Staaten und dehnten ihr Aufrüstungsprogramm
Konflikte zu sehen. Oft scheinen die streitenden weiter aus.
Parteien formal über inhaltliche Dinge zu verhan-
deln, tragen im Grunde jedoch Beziehungsproble- 4. Axiom: Digitale und analoge
me aus. Kommunikation
Mit digitaler Kommunikation werden alle Symbole
3. Axiom: Interpunktion von Ereignisfolgen erfasst, die eine bestimmte festgelegte Bedeutung
Jeder der Interaktionpartner strukturiert für sich haben. So besteht unsere Sprache aus Wörtern, deren
die kommunikative Situation in eine für ihn sinn- Bedeutung an sich nicht zwingend ist. Die Tatsache,
volle Kette von Einzelereignissen, auf die er dann dass das, was wir mit »Haus« beschreiben, unbedingt
wiederum reagiert (er interpunktiert die Ereignis- »Haus« und nicht »Kaus« heißen muss, ist nicht
se). Rufen wir uns einzelne Gespräche in Erinne- zwingend. Mit analoger Kommunikation sind dage-
rung, so gelingt dies meist nur, da wir den gesam- gen all die Komponenten des Informationsaustau-
ten Verlauf in ein sinnvolles Wechselspiel von auf- sches gemeint, die an sich schon die Bedeutung in
einander bezogenen Aktionen und Reaktionen sich tragen. Also der ganze Bereich der Mimik und
verstanden und abgespeichert haben. Das beson- Gestik werden der analogen Kommunikation zuge-
dere an der Interpunktion von Ereignisfolgen ist, ordnet.
dass eine solche Untergliederung in kleine Ursache-
Wirkungs-Zusammenhänge immer subjektive Ent- 5. Axiom: Symmetrische
würfe sind, die andere nicht zwangsläufig so teilen und komplementäre Interaktionen
müssen. Dieses Axiom besagt, dass sich die Interaktionen
zwischen zwei Menschen nach der Art der Bezie-
hung richten, in der beide zueinander stehen. Watz-
lawick unterscheidet zwei verschiedene Beziehungs-
7.4 · Das Nachrichtenquadrat (Schulz v. Thun)
131 7

formen: die der Gleichheit und die der Ungleichheit 7.4 Das Nachrichtenquadrat
der Interaktionspartner. Beruht die Beziehung auf (Schulz v. Thun)
Gleichheit, kommunizieren bzw. interagieren die
Partner symmetrisch und verhalten sich in allen Be- Schulz v. Thun leistete mit seinen Untersuchungen
langen ebenbürtig. Liegt dagegen eine Beziehung zur Anatomie einer Nachricht einen wesentlichen
der Ungleichheit vor, treten die Kommunikations- Beitrag zu einem besseren Verständnis von zwi-
partner in eine komplementäre Interaktion. Sie er- schenmenschlicher Kommunikation. Dieser Ansatz
gänzen sich gegenseitig, indem sie die bestehenden hat mittlerweile eine so große Verbreitung erfahren,
Unterschiede ausgleichen. dass er zum Allgemeinwissen der psychosozialen
Übertragen wir dieses Axiom auf den Stations- und psychotherapeutischen Praxis gerechnet wer-
alltag, so werden wir im Pflegeteam meist symmet- den kann. Seine Überlegungen mündeten in das sog.
rische Beziehungen vorfinden, die durch vergleich- Nachrichtenquadrat, welches in . Abb. 7.1 wieder-
bare Kompetenzen und Erfahrungen geprägt sind. gegeben ist. Grundlage dieses Modells ist die Annah-
Die Beziehungen zwischen Pflegepersonal und Pati- me, dass jede Nachricht aus den folgenden vier
ent haben dagegen einen komplementären Charak- Komponenten besteht:
ter, was sich darin äußert, dass das Pflegepersonal 4 Sachinhalt,
bemüht ist, die Schwächen der Patienten auszuglei- 4 Selbstoffenbarung,
chen. Beide Beziehungsformen gehen mit typischen 4 Beziehung,
Kommunikations- bzw. Interaktionsmustern ein- 4 Appell.
her.
Zwei dieser Komponenten, Sachinhalt und Bezie-
hung, wurden bereits mit dem zweiten Axiom von
Kasuistik Watzlawick beschrieben. Schulz v. Thun verfeinerte
Dem Kollegen, der sich in einer arbeitsintensi- das breite Verständnis von Beziehung bei Watzla-
ven Phase in den Aufenthaltsraum zurückzieht wick und untergliederte es in die drei Komponen-
und eine Zigarette raucht, kann ich in aller Deut- ten Selbstoffenbarung, Beziehung und Appell (vgl.
lichkeit signalisieren, dass ich selbst ein solches Schulz v. Thun, 2001, S. 30).
Verhalten nicht an den Tag legen würde, und Die vier Aspekte einer Nachricht sollen an fol-
auch von meinen Kollegen erwarte, Derartiges gendem Beispiel veranschaulicht werden:
zu unterlassen.
Einem depressiven Patienten, der wieder-
holt zu spät zum Frühstück kommt, werde ich Kasuistik
dagegen ganz anders begegnen. Im Sinne der Eine depressive Patientin kommt ins Stations-
Komplementarität unterstütze ich ihn darin, zimmer, ihre Körperhaltung ist leicht nach vorn
Strategien zu finden, mit der Tagesstruktur bes- gebeugt, ihre Mimik unbeweglich, und sie
ser umgehen zu können. 6

. Abb. 7.1. Die vier Seiten einer


Nachricht (Schulz v. Thun, 2001, S. 30)
Sachinhalt

Selbst-
Sender offen- Nachricht Appell Empfänger
barung

Beziehung
132 Kapitel 7 · Kommunikation und Gesprächsführung

an die Krankenpflegerin wendet, signalisiert sie ihr


spricht mit einer Mischung aus Anklage und gegenüber ein gewisses Vertrauen. Es scheint der
Frustration zur Pflegeperson: »Nun bin ich Patientin aber auch wichtig, dass die Krankenpfle-
schon drei Wochen hier und mir geht es genau gerin erfährt, wie es ihr geht. Möglicherweise gibt
so schlecht wie am ersten Tag. Das hat doch sie ihr stellvertretend für Therapeuten und Ärzte
alles keinen Sinn mehr. Da kann ich doch genau auch die Schuld daran, dass es ihr nicht besser geht.
so gut zuhause bei meinen Kindern sein.« Im Gegensatz zu den zuvor erwähnten Ich-Botschaf-
ten geht es bei dem Beziehungsaspekt ausschließlich
um sog. Wir-Botschaften.
Was ist der Sachinhalt dieser Nachricht?
Oder: Welche Information teilt die Patientin mit? Appell oder Wozu möchte die Patientin
Der Patientin geht es schlecht. Sie fühlt sich nach die Pflegeperson veranlassen?
einem dreiwöchigen Aufenthalt in der Klinik nicht Indem sich die Patientin an diese Pflegeperson wen-
besser als am Tag der Aufnahme. Eine Verlängerung det, möchte sie mehr oder weniger bewusst Einfluss
des stationären Aufenthaltes erscheint ihr sinnlos. auf sie nehmen. So könnte sie sich z. B. erhoffen, dass
7 Sie hat Kinder zu hause. Es macht für sie keinen Un- die Pflegeperson diese Information weiterträgt, und
terschied, ob sie bei ihren Kindern ist oder weiter auf daraufhin der bisherige Behandlungsplan überdacht
der Station bleibt. und verändert wird. Denkbar wäre auch, dass sie
sich durch ein Gespräch mehr Zuversicht in den
Worin besteht die Selbstoffenbarung? weiteren Aufenthalt zu gewinnen erhofft. Vielleicht
Oder: Was gibt die Patientin von sich kund? wünscht sie sich zudem mehr Zuwendung und eine
Dieser Teil der Nachricht lässt sich nur entschlüs- Gelegenheit, über ihr schlechtes Gewissen zu re-
seln, wenn neben dem reinen Textinhalt auch Infor- den, wenn sie befürchtet, ihre Kinder zu vernach-
mationen zu Tonfall, Körperhaltung und Mimik etc. lässigen.
vorliegen. Bei diesem Textbeispiel können wir daher An diesem Beispiel wird deutlich, wie viele un-
nur Vermutungen anstellen. Denn nur die Patientin terschiedliche Ebenen innerhalb ein und derselben
selbst kann beurteilen, worin ihre Selbstoffenbarung Botschaft zeitgleich mitschwingen. Das Modell des
besteht. Also sollte die Frage besser lauten: Worin Nachrichtenquadrates hat sich nicht nur in der Su-
könnte die Selbstoffenbarung bestehen? pervision und Mediation, also Situationen, in denen
Die Patientin hat eine Bilanz über die letzten drei mit professioneller Unterstützung Interaktionen
Wochen gezogen und kann persönlich keinerlei Ver- und Kommunikation reflektiert werden, bewährt. Es
änderungen feststellen. Mit dem anklagenden Ton- eignet sich ebenso gut, um Irritationen in berufli-
fall zeigt sie, dass Sie enttäuscht ist über das bisherige chen oder privaten Gesprächen unmittelbar zu klä-
Behandlungsergebnis. Gleichzeitig macht sie aber ren und dementsprechend reagieren zu können. Die
auch deutlich, dass ihr alles sinnlos erscheint. Im Fähigkeit, die verschiedenen Bedeutungen einer
letzten Teil ihrer Nachricht macht sie darauf auf- Botschaft wahrzunehmen, ist keineswegs angebo-
merksam, dass ihre Kinder sie brauchen. Kurz: Ihr ren, sondern kann gelernt und trainiert werden. So
geht es schlecht, sie ist frustriert, sie hat sich hier wie der Sender lernen kann, alle vier Ebenen in sei-
mehr erhofft und sie wird zuhause gebraucht. Bei ner Botschaft besser zu berücksichtigen, ist es auch
diesem Aspekt handelt es sich durchweg um mehr für den Empfänger möglich, die Fähigkeit, auf allen
oder weniger direkt übermittelte Ich-Botschaften. vier Ebenen hinzuhören, zu schulen.
Ein erster Schritt hierzu ist die Beantwortung der
Beziehung oder Was hält die Patientin von der folgenden vier Fragen, die sich jeweils auf eine Seite
Pflegeperson? des Nachrichtenquadrats beziehen:
Auch dieser Teil der Nachricht lässt sich eigentlich 4 Wie ist der Sachverhalt zu verstehen?
mit den hier verfügbaren Informationen nicht ent- 4 Wie redet der eigentlich mit mir? Wen glaubt er
schlüsseln, sodass auch diese Frage nur hypothetisch vor sich zu haben?
beantwortet werden kann. Indem sich die Patientin 4 Was ist das für einer? Was ist mit ihm?
7.4 · Das Nachrichtenquadrat (Schulz v. Thun)
133 7

4 Was soll ich tun, denken, fühlen auf Grund sei-


ner Mitteilung? schaft auf allen Kanälen kongruent. Sagt mir der
Patient dagegen in stark gebeugter Körperhal-
Diese Fragen müssen beantwortet werden, um verste- tung und mit gequältem Gesichtsausdruck, dass
hen zu können, welche Botschaften übermittelt wor- alles Ordnung ist, so erhalte ich höchst wider-
den sind und ob diese stimmig oder unstimmig sind. sprüchliche (inkongruente) Botschaften.
Gerade im psychosozialen Kontext ist es enorm wich-
tig, alle vier Ebenen schnell auffassen zu können.
Aus diesen vier Seiten einer Nachricht entwi- Die Schwierigkeit für den Empfänger bei inkongru-
ckelte Schulz v. Thun die Unterscheidung von expli- enten Botschaften besteht zunächst darin, sich der
ziten bzw. impliziten Botschaften und kongruenten Inkongruenz überhaupt bewusst zu werden. Wie
bzw. inkongruenten Botschaften. schnell ist es passiert, dass man im obigen Beispiel
die Widersprüchlichkeit der Botschaft übersieht und
Explizite und implizite Botschaften im Weitergehen antwortet »Schön, dass bei Ihnen
Eine explizite Botschaft liegt dann vor, wenn der alles Ordnung ist«. Inkongruente Botschaften stellen
Sender eindeutig und klar das artikuliert, was er den Empfänger vor die Frage, auf welchen Teil der
auch wirklich mitteilen möchte. So handelt es sich Botschaft er eingehen soll. Eine Möglichkeit, solche
um eine explizite Botschaft, wenn ich meinem Kol- Widersprüchlichkeit aufzugreifen, besteht darin, die
legen mitteile, dass die Äußerung von ihm eben ge- verschiedenen nicht zusammenpassenden Botschaf-
rade sehr verletzend für mich war. Anders verhält es ten aufzugreifen und zu artikulieren. Zum Beispiel:
sich bei der impliziten Botschaft. Hier spreche ich Ich höre, sie sagen mir sagen, dass alles in Ordnung
mein Gekränktsein nicht direkt an, sondern lasse es ist, aber ihre Körperhaltung und auch ihr Gesichts-
mein Gegenüber spüren. Zum Beispiel könnte ich ausdruck scheinen mir sagen zu wollen, dass sie sich
dem Kollegen aus dem Weg gehen oder versuchen, im Moment gar nicht so wohl fühlen.
ihn wie Luft erscheinen zu lassen. Derart verwirrende Botschaften sind auch unter
In der Regel sind es die impliziten Botschaften, dem Begriff »Doppelbindung« (»double-bind«)
die zu Missverständnissen führen und Kränkungen vielfach untersucht worden. Die Inkongruenz muss
nach sich ziehen. Da implizite Botschaften nicht nicht nur zwischen verbalem Inhalt und z. B. Mimik
offensichtlich sind, können sie vom Empfänger nur bestehen. Sie kann auch in dem verbalen Teil der
erschlossen werden. Der Sender impliziter Botschaf- Botschaft selbst enthalten sein. Oft handelt es sich
ten kann sogar ohne weiteres leugnen, etwas »zwi- hierbei um Aufforderungen, die dem Empfänger
schen den Zeilen« mitgeteilt zu haben. keine Möglichkeit lassen, richtig zu reagieren. »Du
sollst mich lieben« oder »Du sollst gerne mit den
Kongruente und inkongruente Botschaften Kindern spielen« sind Appelle, denen man unmög-
Eine Botschaft wird dann als kongruent bezeichnet, lich nachkommen kann. Liebe kommt aus freien
wenn alle gesendeten Signale, d. h. sowohl Inhalt der Stücken und kann nicht erzwungen werden. Ähnlich
Nachricht als auch Tonfall, Mimik und Gestik, stim- verhält es sich mit Dingen, die man gern bzw. ungern
mig sind und das gleiche ausdrücken, also in diesel- tut. Beides lässt sich nicht auf Befehl ändern. Bei ge-
be Richtung weisen. nauerem Hinsehen wird deutlich, dass beide Auffor-
derungen einen wesentlichen Teil auslassen, der aber
notwendig ist, um ihren eigentlichen Inhalt verste-
Kasuistik hen und auf ihn korrekt reagieren zu können. Beide
Frage ich beispielsweise einen Patienten, wie es müssten statt mit »Du sollst «…mit »Ich wünsche
ihm geht, und er in aufrechter Haltung stehen mir, dass du «…beginnen. »Ich wünsche mir, dass
bleibt, mich anlächelt und antwortet, dass er Du mich liebst« oder »Ich wünsche mir, dass Du
sich heute richtig gut fühlt, dann ist diese Bot- gern mit den Kindern spielst«, sind Formulierungen,
6 auf die der Empfänger sowohl auf Appell- als auch
auf Beziehungsebene reagieren kann.
134 Kapitel 7 · Kommunikation und Gesprächsführung

7.5 Der personzentrierte Ansatz Einheit betrachtet werden. Würde man diese in ihre
und Kommunikation (Rogers) Einzelelemente zerlegen und nach einer analyti-
schen Untersuchung wieder zusammenfügen, wür-
7.5.1 Grundlagen des de ein solcher Vorgang keine verlässlichen Aussagen
personzentrierten Ansatzes über die Gesamtheit des untersuchten Phänomens
zulassen.
Die ersten Anfänge des personzentrierten Ansatzes Der Mensch, so die Sicht der Humanistischen
gehen zurück auf die Veröffentlichung »Die nicht- Psychologie, befindet sich stets auf der Suche nach
direktive Beratung« von Carl Rogers (1902–1987). Entwicklungs- und Wachstumsmöglichkeiten, strebt
Als psychotherapeutisches Verfahren ist der per- also nach positiver Weiterentwicklung. Als soziales
sonzentrierte Ansatz unter der Bezeichnung »Ge- Wesen ist er auf die Zuwendung der Anderen ange-
sprächspsychotherapie« oder auch »klientenzent- wiesen (»need for positive regard«).
rierte Psychotherapie« bekannt geworden und wird Das erfahrende Subjekt, welches nach Wachs-
der Humanistischen Psychologie zugerechnet. tum und Zuwendung sucht, rückt in den Mittel-
Die Humanistische Psychologie, deren Wurzeln punkt der Betrachtung. Dieses kann unmöglich aus
7 in den späten 50er Jahren liegen, versteht sich als der Distanz anhand objektivierbarer Beobachtungen
sog. »Dritte Kraft«. Zum einen grenzt sie sich gegen geschehen, sondern nur über eine – wie der Name
ein behavioristisches Weltverständnis, welches die bereits ausdrückt – personzentrierte Grundhal-
akademische Psychologie der USA zwischen den tung.
30er und 60er Jahren prägte, ab. Hier wurde vor
allem das mechanistische Menschenbild, das den
Menschen auf Stimulus-Respons-Schemata redu- 7.5.2 Das personzentrierte
zierte (7 Kap. 7.2), kritisiert. Beziehungsangebot
Auf der anderen Seite wandten sich die Vertreter
der Humanistischen Psychologie gegen die Psycho- Um im Sinne des personzentrierten Ansatzes ein
analyse, welche bis Anfang der 70er Jahre die psy- hilfreiches Beziehungsangebot herzustellen, ist eine
chotherapeutische Landschaft sowohl in den USA der wichtigsten Voraussetzungen die Bereitschaft,
als auch in Europa dominierte. Hier richtete sich die das Gegenüber so anzunehmen, wie es ist. Das hat
Kritik vor allem gegen das pessimistische und deter- nicht unbedingt mit Sympathie zu tun. Vielmehr ist
ministische Menschenbild. Aus humanistisch-psy- dies eine Grundhaltung, in der vor allem Fragen
chologischer Sicht bemisst die psychoanalytische nach richtig und falsch einer bestimmten Handlung
Therapie der Vergangenheit des Menschen eine zu keinen Sinn machen. Alles, was mein Gegenüber tut
starke Bedeutung bei. und sagt, hat eine Bedeutung, auch wenn diese mir
Folgerichtig ist eines der zentralen Merkmale der selbst in vielen Fällen verschlossen bleiben kann.
Humanistischen Psychologie und somit auch des Gelingt es mir, dem Gegenüber zu vermitteln, dass
personzentrierten Ansatzes die Betonung des »Hier er – so wie er ist – willkommen ist, und dass das, was
und Jetzt«, also der Gegenwart. Der Mensch wird als es tut und denkt, einen Sinn hat, wird eine Atmos-
ein reflexives Wesen gesehen, das seine Existenz und phäre hergestellt, in der er sich nicht verstellen muss.
sein Dasein in dieser Welt sinnhaft definieren muss. Erlebt sich eine Person in einer derart angstfreien
Um im Hier und Jetzt sinnvoll leben zu können, Beziehung, wird sie Erfahrungen machen und äu-
muss der Mensch hinreichend konsistente Beschrei- ßern, die auch ihr selbst neu sein können. Je größer
bungen seiner Vergangenheit und Entwürfe seiner aber die Angst vor Kritik und Ablehnung ist, desto
Zukunft entwickeln. weniger wird sie Dinge wahrnehmen und zeigen, die
Ein weiteres wichtiges Charakteristikum kommt eng mit ihren unmittelbaren Erfahrungen zusam-
in dem gestaltpsychologischen Gesetz: Das Ganze menhängen.
ist mehr als die Summe seiner Teile, zum Ausdruck. Wie sich die Umsetzung eines solchen Bezie-
Phänomene, die für den Menschen und seine Le- hungsangebotes in der Praxis gestaltet, soll an fol-
benswelt Bedeutung haben, können sinnvoll nur als gendem Beispiel verdeutlicht werden:
7.5 · Der personzentrierte Ansatz und Kommunikation (Rogers)
135 7
7.5.3 Empathie
Kasuistik
Ein Patient hat vorzeitig die Tanztherapiegruppe Unter Empathie wird die Fähigkeit verstanden, sich
verlassen, wirkt leicht verstört und meldet sich in die andere Person einzufühlen. Das bedeutet, bei-
im Stationszimmer. spielsweise Trauer oder Freude des Gegenübers so zu
a) Ich begegne dem Patienten in einer Art und fühlen, als ob man diese selbst gerade erleben würde.
Weise, die ihn ahnen lässt, dass es nicht in Entscheidend hierbei ist allerdings, diesen Als-ob-
Ordnung ist, frühzeitig die Tanztherapie zu Zustand nicht zu verlassen, da man anderenfalls
verlassen. Der Patient wird sich nun recht- nicht mehr empathisch, sondern mit seinem Gegen-
fertigen wollen und ist darum bemüht, mich über identifiziert wäre.
davon zu überzeugen, richtig gehandelt zu
haben. Er wird insgesamt sehr viel mehr auf
Kasuistik
meine Wahrnehmung achten, als auf das,
was er selbst in der Tanztherapie erlebt und Eine Patientin weint sich bei der Krankenpflege-
was ihn letztlich dazu gebracht hatte, vor- rin aus. Sie beklagt sich über Ihren Mann, der sie
zeitig zu gehen. ständig mit einer anderen Frau betrügt.
b) Ich signalisiere dem Patienten meine Über- a) Empathie: Die Krankenpflegerin kann sich
zeugung, dass er triftige Gründe gehabt ha- sehr gut einfühlen und erhält so einen eige-
ben muss, frühzeitig die Tanztherapie zu ver- nen emotionalen Zugang zu der Wut und
lassen. Ich zeige mich zudem interessiert an der Hilflosigkeit, die die Patientin in diesem
dem, was ihn zum Abbruch bewogen hat. Moment gerade durchlebt. Dieser Zugang
Vermutlich werden der Patient und ich sehr ermöglicht ihr, die Patientin zu verstehen
viel mehr von seinen Erlebnissen während und zu begleiten.
der Tanztherapie erfahren, als dies in der Re- b) Identifikation: Die Krankenpflegerin ist em-
aktion im ersten Beispiel der Fall sein würde. pört, dass diese liebenswerte Patientin von
ihrem Mann so unmöglich behandelt wird,
und sie verspürt selbst großen Ärger gegen
Entsprechend der vorherrschenden Grundhaltung diesen Mann. Es fällt ihr jetzt schwer, mit
(»der Patient verhält sich nicht richtig« oder »der ihrer Aufmerksamkeit bei den Gefühlen der
Patient hat gute Gründe«) wird auf verbaler kommu- Patientin zu bleiben.
nikativer Ebene dann auch die Reaktion des Pflege-
personals ausfallen:
Aus Identifizierung mit dem Gegenüber kann leicht
ein Verhalten resultieren, das vom Gegenüber als
Kasuistik übergriffig erlebt wird.
a) »Was machen Sie denn schon hier? Sie Das Konzept der Empathie wird oft verkürzt
müssten doch noch Tanztherapie haben!« dargestellt. Zuweilen wird sogar der Eindruck ver-
b) »Na, Sie wollten wohl nicht bis zum Ende mittelt, man wäre empathisch, wenn die emotio-
der Tanztherapie bleiben? Möchten Sie mir nalen Erlebnisinhalte des Gehörten lediglich para-
erzählen, was vorgefallen ist?« phrasiert würden. Bei einem solchen Verständnis
droht Empathie zu einer bloßen Technik zu ver-
kommen, die nichts mehr mit dem personzentrier-
Die wesentlichen Charakteristika der Grundhaltung ten Beziehungsangebot gemein hat (Auckenthaler
eines hilfreichen Beziehungsangebotes hat Rogers u. Helle, 2002). Der empathische Prozess hat zu-
mit den drei Begriffen: Empathie, Kongruenz und nächst nichts mit verbaler Kommunikation zu tun.
Wertschätzung, näher umschrieben. Vielmehr begleitet dieser die gesamte Interaktion.
In vielen Fällen kann es sogar störend oder irritie-
rend sein, wenn die beim Anderen wahrgenomme-
136 Kapitel 7 · Kommunikation und Gesprächsführung

nen Empfindungen diesem mitgeteilt werden (spie- zität verwendet. Eine kongruente Person wird als
geln). integer und verlässlich erlebt, da sie dem Gegenüber
nichts vorspielt.

Kasuistik
Eine 32-jährige allein stehende Geschäftsfrau, 7.5.5 Bedingungslose Wertschätzung
die von einer gefühlskalten Mutter erzogen
wurde, kann sich nicht eingestehen, wie ent- Bedingungslose Wertschätzung gilt als die Grundla-
täuscht sie von ihrer Mutter war und immer ge des personzentrierten Beziehungsangebotes. Wie
noch ist. In einer Therapiestunde erinnert sie schwierig es ist, ein solches Beziehungsangebot zu
sich an eine Situation aus ihrer Kindheit, in der realisieren, wird deutlich, wenn wir uns fragen, wie
die Mutter aus einer Laune heraus ihren kleinen es eigentlich um unsere eigene Akzeptanz, unsere
Hund weggegeben hatte. Der Therapeut spie- Selbstakzeptanz, steht. Kann ich wirklich sagen, dass
gelt ihr daraufhin, wie enttäuscht und verzwei- ich mich selbst bedingungslos wertschätze und mich
felt sie sich wohl gerade fühlen müsse. Die Kli- in Ordnung finde, so, wie ich bin? Muss ich nicht erst
7 entin reagiert wütend und sagte zornig: »Haben bestimmte Leistungen vollbracht haben oder be-
Sie ja kein Mitleid mit mir! Ich kann auf Ihr Mit- stimmte Erfolge vorweisen können, damit ich mit
leid wirklich verzichten!« (Book, 1988, S. 423; mir zufrieden sein darf? In diesem Fall würde ich
Übersetzung M. H.) jedoch weniger mein Selbst als vielmehr mein Ich-
Ideal akzeptieren, und ich könnte mich nur in den
wenigen Momenten in Ordnung finden, in denen
In diesem Beispiel mag es durchaus so sein, dass der ich den Eindruck habe, meinem Ich-Ideal ganz nah
Therapeut genau das wiedergegeben hat, was die zu sein.
Klientin empfand. Die Reaktion der Klientin macht Mit einer Grundhaltung, die die Wertschätzung
aber deutlich, dass der Therapeut dennoch nicht em- der eigenen Person von Leistung und Erfolg abhän-
pathisch war. Zu diesem Zeitpunkt war es für die gig macht, wird es schwierig sein, den Gesprächs-
Klientin offenbar unerträglich und viel zu schmerz- partner ohne Vorbedingungen akzeptieren zu kön-
haft, ihre Gefühle von Anderen korrekt gespiegelt zu nen. Gelingt es jedoch, ein wertschätzendes Bezie-
bekommen. Hier empathisch mit zu empfinden hät- hungsangebot zu realisieren, stellen sich beinahe
te bedeutet, die Schmerzhaftigkeit und die Unerträg- zwangsläufig auch Empathie und Kongruenz ein.
lichkeit der Gefühle der Klientin lediglich mitzufüh- Das personzentrierte Beziehungsangebot im Sinne
len, nicht aber zu verbalisieren Rogers prägt dann unsere gesamte Kommunikation
und bestimmt unseren Interaktionsstil.

7.5.4 Kongruenz
7.6 Zusammenfassung
Mit Kongruenz beschreibt Rogers – anders als der
Begriff der Kongruenz bei Schultz v. Thun – einen In diesem Kapitel wurden die Besonderheiten
Zustand, der es dem Menschen ermöglicht, all das menschlicher Kommunikation aus sehr unterschied-
wahrzunehmen und sich all dessen bewusst zu wer- lichen Perspektiven betrachtet. Zunächst wurde ein
den, was ihn im Moment bewegt bzw. beschäftigt. Überblick über die Vielfalt psychologischer Kommu-
Auf diese Weise ist es möglich, in der Beziehung zu nikationstheorien vermittelt. In der Darstellung der
anderen Menschen transparent zu sein und ihnen vier Gruppen von Theorien, die in der Reihenfolge
offen gegenüber zu treten. Im Zustand der Kongru- auch ihrer historischen Entwicklung entsprechen,
enz finden keine Abwehrvorgänge statt, man ist im wird deutlich, wie sich diese Theorien von einer eher
Gegenteil fähig, der Welt und seinen Mitmenschen mechanistischen Auffassung immer mehr hin zu
mit völliger Offenheit zu begegnen. Statt Kongruenz einem individuellen subjektbezogenen Verständnis
werden oft auch die Begriffe Echtheit und Authenti- kommunikativer Prozesse entwickelt haben.
Literatur
137 7

Die von Watzlawick formulierten fünf Axiome 4 Wie lauten die vier Seiten einer Nachricht?
stellen die Basis einer pragmatisch-formalen Theo- 7 Kap. 7.4
rie menschlicher Kommunikation dar. Anhand die- 4 Skizzieren Sie die wesentlichen Merkmale der
ser Axiome lassen sich nicht nur die Grundlagen Humanistischen Psychologie! 7 Kap. 7.5.1
zwischenmenschlicher Kommunikation und Inter- 4 Mit welchen drei Begriffen hat C. Rogers das
aktion beschreiben. Sie dienen ebenso dazu, uner- personzentrierte Beziehungsangebot charakte-
wünschte kommunikative Vorgänge bzw. Strukturen risiert? 7 Kap. 7.5.2–7.5.4
zu analysieren. 4 Wie wirkt sich das personzentrierte Beziehungs-
Ähnlich sind die Arbeiten von Schulz v. Thun zu angebot auf die zwischenmenschliche Kommu-
bewerten. Anhand der vier Aspekte einer Nachricht nikation aus? 7 Kap. 7.5.2–7.5.4
sowie den Unterscheidungen zwischen impliziten/
expliziten und kongruenten/inkongruenten Bot- Literatur
schaften ist es möglich, einen besseren Zugang zur Auckenthaler A, Helle M (2002) Gefühle in der Gesprächspsy-
chotherapie. Psychotherapie im Dialog 2: 148
Vielschichtigkeit einer Botschaft zu gewinnen und
Bibliographisches Institut, F. A. Brockhaus AG (2004) Der Brock-
ein größeres Verständnis für Uneindeutigkeiten und haus Multimedial. Mannheim
Widersprüchlichkeiten zu entwickeln. Gleichzeitig Book HE (1988) Empathy: misconceptions and misuses in psy-
sensibilisiert das Modell für die Übermittlung eige- chotherapy. In: American Journal of Psychiatry 145: 420
ner sowie die Wahrnehmung empfangener Bot- Frindte W (2001) Einführung in die Kommunikationspsycholo-
schaften, und hilft somit, bereits im Vorfeld mögli- gie. Beltz, Weinheim
Grice HP (1975) Logic and conversation. In: Cole P, Morgan JL
chen Missverständnissen vorzubeugen.
(eds) Syntax and semantics 3: speech acts. Academic Press,
Eine Ergänzung dieser beiden Theorien bildet New York 41
der von Rogers entwickelte personzentrierte Ansatz. Krauss RM, Fussel SR (1996) Social psychological models of in-
Im Vordergrund steht hier, auf Basis des humanis- terpersponal communication. In: Higgins ET (ed) Social
tisch-psychologischen Menschenbildes, eine Grund- psychology: handbook of basic principles. Guilford, New
York 655
haltung, die ganz wesentlich zwischenmenschliche
Laswell HD (1948) The structure and function of communica-
Beziehungen zu gestalten vermag. Die Realisierung tion. In: Bryson L (ed) The communication of ideas. A series
einer solchen Grundhaltung, sowohl in der Bezie- of adresses. Harper, New York
hung zu sich selbst als auch in der zu Anderen, führt Rogers C (1992) Die nicht-direktive Beratung. Fischer, Frankfurt
zu einem kommunikativen Verhalten, welches an- aM
Schulz von Thun F (2001) Miteinander Reden. Störungen und
hand der drei Aspekte Empathie, Kongruenz und
Klärungen, Bd 1. 35. Aufl Rowohlt, Reinbek bei Hamburg
Wertschätzung veranschaulicht werden kann. Watzlawick P, Beavon JH Jackson D (1990) Menschliche Kom-
Alle diese unterschiedlichen Ansätze lassen sich munikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 8. Aufl Hans
zu einem Ganzen zusammenfügen. Sie vermitteln Huber, Bern
sowohl auf theoretischer Ebene wie auch in der per-
sönlichen und beruflichen Praxis ein tieferes Ver-
ständnis für zwischenmenschliche Kommunikation,
das sich schließlich auch in der Gestaltung zwischen-
menschlicher Beziehungen positiv niederschlägt.

Überprüfen Sie Ihr Wissen!


4 Warum stellt die zwischenmenschliche Kommu-
nikation nur einen kleinen Ausschnitt der Kom-
munikationswissenschaften dar? 7 Kap. 7.1
4 Wie lautet die Laswell-Formel und welche Be-
deutung hatte diese für die Weiterentwicklung
der Kommunikationstheorien? 7 Kap. 7.2
4 Wie lauten die fünf Axiome menschlicher Kom-
munikation? 7 Kap. 7.3
8

8 Interkulturelle Kompetenz
in der psychiatrischen Pflege
Heike Pfitzner

8.1 Einleitung – Wozu braucht die Pflege einen kultursensiblen


Ansatz? – 140

8.2 Betrachtungen zum Begriff »interkulturell« – 141

8.3 Was bedeutet »Kultur«? – 141

8.4 Was bedeutet dann interkulturelle Kompetenz? – 142

8.5 Aktuelle Konzepte der interkulturellen Kommunikation


in der Pflege – 143

Literatur – 144
140 Kapitel 8 · Interkulturelle Kompetenz in der psychiatrischen Pflege

) ) In Kürze balisierung mündet nicht in eine Homogenisierung


von Gemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft,
In diesem Kapitel werden der Einfluss von kultu- sondern vieles deutet darauf hin, dass bestehende
reller Herkunft auf die Erwartungen und Kommuni- kulturelle Unterschiede noch in der zweiten und
kationsmuster von Patienten und Pflegenden auf dritten Generation wirksam bleiben oder sich teil-
ihre Interaktion und der interkulturelle Ansatz in weise vertiefen, wie die Bedeutung des Kopftuchs für
der psychiatrischen Pflege dargestellt. die dritte Generation türkischer Jugendlicher ein-
drücklich zeigt. Unsicherheit, Stress oder der Ein-
Wissensinhalte fluss von Massenmedien verstärken auf diesem Hin-
Nach der Lektüre dieses Kapitels wissen Sie: tergrund eher vorhandene Stereotypen, um sich
7 was Kultur bedeutet schnell zu erklären, wie die »Fremden« sind.
7 wie kulturelle Unterschiede im Pflegealltag Der Ruf nach einer kultursensiblen Pflege in der
sichtbar werden Psychiatrie ertönte in Deutschland hörbar mit der
7 wie interkulturell kompetente Handlungen aus- Psychiatriereform von 1975, wo die Ansicht vertre-
sehen ten wurde, dass die Qualität der psychosozialen Ver-
7 welchen Einfluss Kultur auf das psychiatrische sorgung zu gleichen Maßen auch für die kranken
Konzept hat ausländischen Mitbürger gelten solle. Die Integrati-
8 on von psychisch kranken Migrantinnen und Mig-
ranten galt als eine der Kernaufgaben der Reform.
8.1 Einleitung – Wozu braucht die Gleichwohl ist die Umsetzung dieser Aufgabe bis
Pflege einen kultursensiblen zum heutigen Tag in der Praxis der Pflege und Be-
Ansatz? treuung von Menschen aus anderen Ländern und
Kulturen schwierig und verläuft nicht geradlinig.
Aktuell leben in Deutschland etwa 82 Millionen Vor den Mitarbeitern psychosozialer Einrich-
Menschen, die sich nach ihrem rechtlichen Status in tungen steht die Herausforderung, die soziokulturel-
drei Bevölkerungsgruppen einteilen lassen. Da sind len Unterschiede zum Ersten als solche wahrzuneh-
die deutschen Staatsbürger aus Ost- und West- men, sie zweitens als wesentlich für den Pflegepro-
deutschland, die große Gruppe von über 3 Millio- zess einzuschätzen und sich drittens darum zu
nen Spätaussiedlern und deutsche Staatsbürger bemühen, mit auftretenden Unterschieden oder
nichtdeutscher Herkunft. Des Weiteren leben etwa auch Problemen in der Kommunikation kompetent
7,3 Millionen Menschen mit einem offiziellen Aus- umzugehen.
länderstatus in Deutschland, die zu einem großen Unterschiede äußern sich zum Beispiel darin,
Teil aus den anderen EU-Staaten kommen oder wie das Anliegen durch den Klienten bzw. Patienten
einen Migrationshintergrund haben (z. B. Kinder vorgetragen wird, welche verbalen und nichtverba-
türkischer Eltern). Die dritte Gruppe mit einer len Ausdrucksformen dafür eingesetzt werden, wie
stets schwankenden Anzahl von Menschen bilden er psychische Erkrankungen erlebt und schildert,
die offiziell anerkannten Flüchtlinge, zu denen die welches Verhalten er seitens der professionellen Sei-
Kontingentflüchtlinge, Asylberechtigten und Asyl- te erwartet und in welcher Form dabei die bevorzug-
suchenden gehören. Es existiert noch eine vierte te Lebensweise, das soziale Umfeld und wichtige
Gruppe von Menschen – diejenigen, die ohne offi- Wertvorstellungen einen Einfluss auf den gesamten
ziellen Aufenthaltsstatus als »Papierlose« teilweise Prozess der Kommunikation und Pflege haben.
bereits seit vielen Jahren illegal in Deutschland
leben. ! Kulturelle Sensibilität bedeutet in der Pflege
Angesichts dieser Zahlen gehört es in Deutsch- eine bewusste Aufmerksamkeit für die Ein-
land seit Jahrzehnten zum Alltag der medizinischen flüsse, die Kultur, sozioökonomischer Status,
Pflege, dass sich die kulturelle Herkunft von Klien- Geschlecht oder sexuelle Orientierung auf das
ten oft von der Herkunft derjenigen unterscheidet, Verhalten von Patienten und ihrer Umgebung
die mit deren Pflege betraut sind. Der Trend zur Glo- haben.
8.3 · Was bedeutet »Kultur?«
141 8
8.2 Betrachtungen zum Begriff lich älteren Mann muslimischen Glaubens betreut
»interkulturell« und ihm konkrete Anweisungen erteilen will.

Die Diskussion um den Begriff des »Interkulturel-


len« wird seit Mitte der 90er Jahre sehr kontrovers 8.3 Was bedeutet »Kultur«?
geführt. Dabei stehen sich kritische Vertreter und
Vertreterinnen aus dem sozialpädagogischen Kon- Allein der Begriff »Kultur« wird aktuell in mehr als
text sowie dem Bereich der emanzipatorischen 160 wissenschaftlichen Definitionen näher erklärt.
Bildungs- und Migrationsarbeit einerseits (Auern- Diese Vielzahl an Erklärungsvarianten deutet bereits
heimer, 2002) und Trainer, Coachs oder Personal- auf die Schwierigkeiten hin, mit wenigen Worten
entwickler aus dem Bereich der Wirtschaft anderer- genau zu beschreiben, was Kultur eigentlich ist und
seits (Thomas, 2003) teilweise konträr gegenüber. welche Bedeutung sie beispielsweise auf den berufli-
Seit den Ereignissen des 11. September 2001 in chen Alltag hat.
New orkY tauchen in vielen westlichen Ländern
Definition
verstärkt Tendenzen der Kulturalisierung ökonomi-
scher, sozialer und politischer Unterschiede zwischen Nach Alexander Thomas (2003) ist Kultur ein
Menschen verschiedener ethnischer Herkunft auf. universelles Phänomen. Sie manifestiert sich in
Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe einem für eine Nation, Gesellschaft, Organisati-
wird mit einer ganzen Palette angeblich gleicher Ei- on oder Gruppe typischen Orientierungssystem,
genschaften von Menschen dieser Herkunft assozi- das aus spezifischen Symbolen, wie Sprache,
iert. Die Gefahr besteht darin, Kultur als einziges Gestik, Mimik, Kleidung und Begrüßungsritua-
Erklärungsprinzip für alles Unerklärliche, Unver- len, gebildet wird.
standene und scheinbar Unveränderliche zu miss-
brauchen.
Dieses spezielle System für die Orientierung in der
! Bei der Verwendung des Begriffs »interkultu-
Umwelt hat entscheidende Auswirkungen auf die
reller Kommunikation« oder »interkultureller
Art und Weise, wie andere Menschen wahrgenom-
Pflege« weist die Autorin nachdrücklich dar-
men werden, welche Handlungsvarianten als erlaubt
auf hin, dass Unterschiede zwischen Klienten
und möglich gelten und wo die Grenzen des eigenen
oder Patienten und den pflegenden Mitarbei-
und des anderen Handelns gesetzt werden. Dieses
tern stets mehrere Ursachen haben können.
Orientierungssystem beinhaltet seiner Meinung
So wie es zu einseitig ist, für sämtliche kom-
nach eine ganze Reihe von »Kulturstandards«, die als
munikative und pflegerische Probleme nur
eine Art innere Landkarte helfen, sich in der eigenen
den kulturellen Hintergrund der jeweiligen
und einer unbekannten Kultur zu orientieren.
Person zu bemühen, wäre es verkürzt, aus-
Eine weitere Form von Definition des Orientie-
schließlich Kultur angesichts weiterer mögli-
rungssystems bieten die »Kulturdimensionen«, die
cher Ursachen (soziale Herkunft, politische
seitens Hall, Hofstede und Trompenaars (2004) in
Ausrichtung, Geschlecht, Rasse, Klasse, sexu-
den letzten Jahrzehnten vorgeschlagen und unter-
elle Orientierung etc.) zu bemühen.
sucht worden sind. Diese Wissenschaftler vereint die
Die unterschiedlichen Voraussetzungen der Men- Überzeugung, dass sie die Unterschiede zwischen
schen hinsichtlich dieser Faktoren ergeben in einer Kulturen auf Achsen abbilden lassen, die jeweils
pflegerischen Situation eine ganze Reihe ethischer durch zwei Extrempunkte gekennzeichnet sind und
und kommunikativer Dilemmata, die oft mit Macht- innerhalb derer sich für jedes Land oder auch für
und Definitionsfragen zusammenhängen. So ist es jede spezifische Gemeinschaft von Menschen be-
von großer Bedeutung, ob die betreuende Person stimmte typische Merkmale festlegen lassen. Diese
eine andere Bewertung der Geschlechterrollen als Merkmale wurden in zahlreichen empirischen Stu-
der Patient oder die Patientin vornimmt, wenn zum dien untersucht, die meistens auf der Basis von inter-
Beispiel eine junge deutsche Pflegerin einen wesent- national tätigen Unternehmen, wie z. B. IBM, statt-
142 Kapitel 8 · Interkulturelle Kompetenz in der psychiatrischen Pflege

fanden. Der unkritische Transfer dieser statistischen


Ergebnisse aus dem wirtschaftlichen Bereich in die
Pflege ist fraglich und wird in der Fachliteratur stark
hinterfragt (Hegemann u. Salman, 2001).
WISSEN

8.4 Was bedeutet dann


interkulturelle Kompetenz?

Interkulturelle Kompetenz ist eine komplexe Kom- Fähigkeiten Handlungen


petenz, die die Bereiche der Wahrnehmung, Hand-
lung und Kommunikation einschließt und es er-
möglicht, die Herausforderungen einer von Vielfalt
geprägten Welt beruflich und privat zu meistern
(. Abb. 8.1). Innere Haltung – Sensibilität für Machtsymmetrien
! Die Fähigkeit, die Differenzen zwischen
. Abb. 8.1. Drei Hauptbestandteile von interkultureller
Eigenem, Vorhersagbarem und Verständli-
8 chem auf der einen Seite und dem Fremden,
Kompetenz

Unverständlichem andererseits stets aufs


4 Kenntnis über kulturabhängige Rollenstruk-
Neue auszuloten und dabei gleichzeitig zu
turen,
wissen, dass Kommunikation zwischen zwei
4 Kenntnisse über das Selbstkonzept der Bezugs-
Menschen, gleich welcher kultureller oder
person,
anderer Herkunft, wohl nie zu 100 % überein
4 Kenntnisse über Bedingungen und Wirkungen
stimmen kann, ist die wichtigste Fähigkeit,
beobachteten Verhaltens zwischen fremdkultu-
die als ein Teil von interkultureller Kompe-
rellen Interaktionspartnern,
tenz gelten kann.
4 Kenntnisse über Differenzierungen des Verhal-
Vier weitere Fähigkeiten sind bedeutsam für diese tens bezüglich Zeit und Raum,
Kompetenz: 4 Einsicht in die Art der Beziehung zwischen indi-
4 Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, viduellen Handlungszielen einerseits und norm-
4 Fähigkeit zum mehrdimensionalen Hören, vor bzw. rollengemäßen Verhalten andererseits,
allem Aufmerksamkeit für die Beziehungsseite 4 Kenntnisse über den angemessenen Verhaltens-
von Kommunikation (Erfassen intentionaler Be- spielraum in sozialen Situationen,
deutungen von Ausdrucksmerkmalen), 4 Wissen über Art und Ausmaß von Erwartungen
4 Systemische Sichtweise, die vor allem Eigen- (Machteinfluss).
verantwortung für die Kommunikation und
speziell Kommunikationsstörungen einschließt Mögliche Handlungsfelder sind (Auernheimer,
(empathisches Gespür für unerwünschtes Ver- 2002):
halten), 4 das eigene Tun kontinuierlich bilanzieren und
4 Fähigkeit zur Metakommunikation, verbunden die Rahmenbedingungen, die es befördern (Pa-
mit dem Bewusstsein dafür, dass in manchen radigmen, Selbstverständlichkeiten),
Kulturen und Milieus die »Metaebene« befremd- 4 konstruktiv mit der Fähigkeit umgehen, täglich
lich wirkt. mit Unwissen konfrontiert zu sein und doch
produktiv zu handeln,
Notwendige Wissensbestandteile zur Herausbildung 4 ethische Gesichtspunkte mit einschließen,
der Kompetenz sind: 4 in der Kommunikationshandlung die Konstruk-
4 Kenntnis von Normen, die soziale Situationen tion von Kultur als sozialer Praxis bewusst erle-
regulieren, ben und bei Problemen benennen.
8.5 · Aktuelle Konzepte der interkulturellen Kommunikation in der Pflege
143 8
8.5 Aktuelle Konzepte der auf psychiatrische Kontexte bezieht und dabei fol-
interkulturellen gendes betont:
Kommunikation in der Pflege 4 Kulturen unterscheiden sich in ihren Sichtwei-
sen auf Krisen, familiäre oder andere Konflikte
Interkulturelle Arbeit in Psychiatrie und Therapie und Krankheiten.
bedeutet zunächst, den eigenen kulturellen Hinter- 4 Da sich die Erklärungen und Bezeichnungen für
grund, auf dem sich der Pfleger oder die Pflegerin, Krankheiten etc. unterscheiden, gehen Kulturen
der Arzt oder die Ärztin, der Therapeut oder die unterschiedlich mit den Problemen um, die aus
Therapeutin erlebt, kritisch zu hinterfragen und auf den Krisen und Krankheiten resultieren.
Auswirkungen auf die eigene Wahrnehmung und 4 Auf den Verlauf von kommunikativen Beziehun-
Beurteilung des konkreten Pflegefalls hin zu über- gen haben sämtliche Behandlungsansätze, wie
prüfen. Therapien, Operationen, Pflege, Medikamente,
Jedes Krankheitskonzept einer bestimmten entsprechende Rituale oder Ratschläge einen
menschlichen Kultur beruht auf einem Menschen- großen Einfluss. Wie wichtig die einzelnen Be-
bild, dass von der überwiegenden Mehrzahl der Mit- standteile jeweils zu nehmen sind, unterscheidet
glieder dieser Gemeinschaft geteilt wird. Die cartesi- sich zwischen den Kulturen.
anische Idee der Existenz eines »Selbst« bildet mit 4 Die sozialen und psychischen Einflüsse von Kul-
der Vorstellung vom Körper als Sitz des »Selbst« die tur auf die Definition von Erfolg oder Misserfolg
Grundlage für die westliche Lehre von Gesundheit einer Behandlung sind ebenfalls zu berücksich-
und Krankheit. Dabei geht diese Lehre davon aus, tigen.
dass die Gesellschaft aus einer Anzahl ähnlicher
Selbste besteht, die sich durch ihre sozialen Rollen, Einen weiteren bedeutsamen Beitrag zur konkreten
ihr Alter, Geschlecht etc. unterscheiden. Der Ort der Behandlung und Betreuung von Menschen mit ei-
Psychopathologie ist demnach der Körper, der durch nem anderen kulturellen Hintergrund liefern sys-
seine individuelle Biografie und Persönlichkeit ge- temisch-konstruktivistische Konzepte, die in die
prägt ist, weswegen er auch im Falle einer gesund- Therapie und Beratung den Kontext der Patienten
heitlichen Störung der geeignete Ansatzpunkt für einbeziehen und die »innere Landkarte« erfragen,
Heilung ist. auf der die Ideen und Bedeutungen seitens der Pati-
Im Gegensatz dazu bildet in vielen östlichen, tra- enten abgebildet sind. Besonders gewürdigt für die
ditionellen Gemeinschaften die zentrale Einheit Anwendung in Erstgesprächen, Therapiesituatio-
nicht der einzelne Körper einer Person, sondern die nen oder Konsultationsgesprächen in Behand-
Familie als eine Art »gemeinsamer Körper«. Eine lungsteams wird das zirkuläre Fragen. Es ermög-
Störung im Körper drückt daher nicht nur eine in- licht, bisher Gedachtes umzudeuten, Beziehungs-
dividuelle Disharmonie aus, sondern eine Störung muster zu beleuchten und die Umstände, die zu
der sozialen Ordnung und innerhalb der sozialen ihren Veränderungen geführt haben könnten. Als
Beziehungen zwischen den Einzelnen in einer be- Themenbereiche werden vorgeschlagen: Situation
deutsamen Einheit (Familie, Sippe etc.). der Familie vor der Migration, Fragen zu den Kin-
Viel früher als die Psychiatrie hat die Anthro- dern und der Familienstruktur, zu vorhandenen
pologie die Übertragbarkeit westlich geläufiger so- Ressourcen, zum Problem selbst, zum Aufenthalts-
zialer Konzepte, wie denen von Familie, Ehe, Mo- status, zu Sprachkenntnissen und eigenen Erklä-
ral, Gesundheit und Krankheit, von einer in die rungsmodellen.
andere Kultur in Frage gestellt. Deshalb gehen z. B.
Medizinanthropologen davon aus, dass auch psy- Kurzzusammenfassung
chiatrische Kategorien, wie »Depression«, Neurose« Kultur zeigt sich erst in der Begegnung und der Aus-
oder »Suizidalität«, nicht weltweit gültig sein kön- einandersetzung mit dem Fremden und wird im
nen. Kontakt zwischen dem Eigenen und dem Anderen
Kleinman entwirft aus dieser Denkschule in den sichtbar. In der bewussten Auseinandersetzung mit
80er Jahren Grundannahmen, die Hegemann (2001) dem Anderen treten die eigenen kulturellen Werte
144 Kapitel 8 · Psychopathologie

hervor. Das Eigene bestimmt damit auch immer die


Sicht auf das Fremde mit.
Es ist denkbar, kulturelle Unterschiede zwischen
Menschen auf der Ebene von Kulturstandards oder
Kulturdimensionen vorzunehmen.
Die jeweilige Ausprägung der entsprechenden
Kulturdimension oder der geltenden Kulturstan-
dards sollte in dialogischer Form und in reflexiver
Selbstbefragung jeweils situations- und personen-
spezifisch erfragt und ausgeleuchtet werden, um
stereotype Zuweisungen und kulturdominierte Er-
klärungsmodelle zu vermeiden.
Die Kenntnis der eigenen Kultur- und Pflege-
standards im Bereich der Pflege und der alltäglichen
Berufskommunikation zwischen Pflegenden und
Patienten wird als notwendige Voraussetzung für
eine veränderte Betrachtung von Pflegefällen aus
8 einer anderen Kultur angesehen.

Überprüfen Sie Ihr Wissen!


4 Wie kann der Kulturbegriff definiert werden?
7 Kap. 8.3
4 Wie zeigen sich bei Patienten kulturell geprägte
Erwartungen? 7 Kap. 8.1
4 Welche 4 Fähigkeiten kennzeichnen interkultu-
relle Kompetenz? 7 Kap. 8.4
4 Welche Grundannahmen entwickelte Hegemann
bezüglich des kulturellen Einflusses auf die Psy-
chiatrie? 7 Kap. 8.5

Literatur
Auernheimer G (2002) Interkulturelle Kompetenz und pädago-
gische Professionalität. Leske & Budrich, Opladen
Hegemann T, Salman R (2001) Transkulturelle Psychiatrie: Kon-
zepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen.
Psychiatrie-Verlag, Bonn
Thomas A, Kinast E, Schroll-Machl S (2003) Handbuch Interkul-
turelle Kommunikation und Kooperation: Grundlagen und
Praxisfelder, Bd 1. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Trompenaars F, Wooliams P (2004) Business weltweit: Der Weg
zum interkulturellen Management. Murmann, Hamburg
III

Psychiatrische Pflege
9 Psychologische Grundlagen psychiatrischer
Pflege – 147
Jeanette Bischkopf, Astrid Sonntag

10 Pflegeinterventionen – 169
Jeannette Bischkopf (Kap. 10.3), Mirjam Gaßmann (Kap. 10.5),
Ilona Hippold (Kap. 10.4), Sibylle Linke (Kap. 10.1 u. Kap. 10.2),
Werner Marschall (Kap. 10.5), Astrid Sonntag (Kap. 10.3),
Helmut Thiede (Kap. 10.6)

11 Pharmakologie in der psychiatrischen


Pflege – 195
Katrin Nehring
9

9 Psychologische Grundlagen
psychiatrischer Pflege
Jeannette Bischkopf, Astrid Sonntag

9.1 Einführung in die psychologischen Begriffe – 148


9.1.1 Motivation – 148
9.1.2 Emotion – 150
9.1.3 Persönlichkeit – 151
9.1.4 Entwicklung – 152
9.1.5 Lernen – 152
9.1.6 Gedächtnis – 153
9.1.7 Soziale Prozesse – 154

9.2 Urteilsbildung und diagnostische Einschätzungen – 156


9.2.1 Urteilsfehler und ihre Auswirkungen – 156
9.2.2 Umgang mit Urteilsfehlern – 157

9.3 Psychologische Grundlagen des Handelns in pflegerischen


Arbeitsfeldern – 158
9.3.1 Stress und Stressbewältigung – 158
9.3.2 Krankheitsbewältigung – 160
9.3.3 Krisenintervention – 162
9.3.4 Angehörigenarbeit – 163
9.3.5 Psychotherapeutische Ansätze – 165

Literatur – 167
148 Kapitel 9 · Psychologische Grundlagen psychiatrischer Pflege

) ) In Kürze Handelns. Dazu gehören Modelle der Krankheits-


bewältigung und die Anforderungen in verschie-
Psychiatrische Gesundheits- und Krankenpflege denen pflegerischen Arbeitsfeldern.
setzt auch psychologisches Grundlagenwissen
in die Praxis um. Die Psychologie (aus griech. Wissensinhalte
ψυχολογία, psychología »die Seelenkunde« und Nach dem Studium dieses Kapitel haben Sie:
lógos »die Kunde, Vernunft, das Wort«) ist die Wis- 7 Kenntnis grundlegender psychologischer Be-
senschaft vom Erleben und Verhalten des Men- griffe und können diese erläutern
schen. Sie ist eine relativ junge Wissenschaft, die 7 Einblick darüber erworben, wie psychologisches
sich rasch entwickelt. Im Jahre 1879 wurde das Fachwissen über allgemeine Menschenkenntnis
erste experimentalpsychologische Labor von Wil- hinausgeht
helm Wundt an der Universität Leipzig gegründet. 7 Einblick in die verschiedenen Aspekte, die bei
Verglichen mit der langen Geschichte der Medizin der Beurteilung von Menschen berücksichtigt
scheinen 125 Jahre psychologischer Forschung werden müssen
eine kurze Zeitspanne. Seit seiner Etablierung be- 7 Einblick in Faktoren, die Stress und Coping be-
wegt sich das Fach zwischen Geisteswissenschaf- einflussen
ten, Sozialwissenschaften und Naturwissenschaf- 7 Grundkenntnisse über Ansätze der Psychothera-
ten und enthält viele Teilbereiche. Wer heute pie, Angehörigenarbeit und Krisenintervention
Psychologie als Stichwort in die Suchmaschine 7 eigene Einstellungen und Erfahrungen hinter-
»google« eingibt, ist mit über 5 Millionen Einträgen fragt und mit aktuellen Erkenntnissen in Verbin-
9 konfrontiert. dung gebracht
In diesem Kapitel wird aus dem Fundus psy-
chologischer Erkenntnisse auf das zurückgegriffen,
was für die psychiatrische Gesundheits- und Kran- 9.1 Einführung in die
kenpflege als grundlegend angesehen werden psychologischen Begriffe
kann. Angesichts der Fülle an Informationen muss
es sich um eine zum Teil subjektive Auswahl han- In diesem Kapitel werden Begriffe und Phänomene
deln. Wir haben uns bemüht, solche Erkenntnisse, aus der Psychologie erläutert, die für die psychiatri-
Modelle und Theorien zu berücksichtigen, die für sche Kranken- und Gesundheitspflege besonders
den psychiatrischen Alltag besonders relevant er- relevant sind.
scheinen. Für ausführlichere Informationen, einen
breiteren Überblick über das Fach oder alterna-
tive Erklärungen werden wir ggf. auf Literatur ver- 9.1.1 Motivation
weisen.
> »Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht
Das Kapitel ist in drei Abschnitte gegliedert, die
Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge
kurz charakterisiert werden können als Begreifen- vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit
Erkennen- Handeln. Für jeden dieser Bereiche wol- zu erleichtern, sondern lehre den Männern die Sehn-
len wir psychologisches Grundlagenwissen zur sucht nach dem endlos weiten Meer.« (Antoine de
Verfügung stellen. Im ersten Teil (Begreifen) stellen Saint-Exupéry)
wir Grundbegriffe und psychologische Themen vor,
die unserer Meinung nach einen direkten Bezug zur Motivation berührt die Frage, was den Menschen
psychiatrischen Pflege haben. Dazu gehören allge- antreibt. »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!« Aber
meinpsychologische Begriffe, wie Motivation oder was, wenn der Wille fehlt? Was ist eigentlich Motiva-
Gefühle. Im zweiten Teil (Erkennen) betrachten wir tion? In der klinischen Arbeit sprechen wir auch von
das Thema Menschenkenntnis sowie Probleme bei Behandlungs- oder Therapiemotivation. Es ist wich-
der Beurteilung und Einschätzung von Menschen tig zu wissen, was Patienten zur Behandlung bewegt
und ihrem Verhalten. Der dritte Teil (Handeln) the- oder ob sie vielleicht gar nicht motiviert sind, an der
matisiert psychologische Grundlagen pflegerischen Behandlung mitzuarbeiten.
9.1 · Einführung in die psychologischen Begriffe
149 9

! Pflege und Therapie sind ein gemeinsamer Motivation kann außerdem nicht nur aus einer
Prozess und auf die Mitarbeit und Motivation Person heraus entstehen, sondern auch von außen
der Klienten angewiesen. gesteuert werden. Man spricht von intrinsischer und
extrinsischer Motivation. Intrinsisch motiviert sein
Was treibt den Menschen an, was motiviert ihn bedeutet von innen her motiviert sein, extrinsisch
also? Abraham Maslow (1908–1970) hat dazu ein heißt von außen her. Motivatoren von außen können
Modell vorgeschlagen. Er bildete eine Pyramide aus z. B. Geld sein oder geschaffene Anreize, wie Besu-
den Bedürfnissen des Menschen, die sog. Bedürfnis- che von Angehörigen oder auch Ausgang aus dem
pyramide: Krankenhaus.
4 Die unterste und breiteste Stufe nehmen die
physiologischen Grundbedürfnisse ein: Essen, Praxisbox
Trinken, Schlafen, Sexualität, Wärme. Bei der Motivationsarbeit mit Patienten ist zu
4 Darauf folgt die zweite Stufe, das Sicherheitsbe- beachten:
dürfnis (Abgrenzung, Recht und Ordnung, 4 Motivationsarbeit ist in allen Therapiepha-
Schutz). sen notwendig.
4 Auf der dritten Stufe sind Liebe, Zugehörigkeit 4 Es wird ein konstruktives, vertrauensvolles
zu einer Gruppe und ganz allgemein soziale Be- Arbeitsbündnis benötigt.
dürfnisse angesiedelt. 4 Es sollten konkrete und kleine (erreichbare)
4 Die vierte Stufe umfasst das Bedürfnis nach An- Veränderungsziele definiert werden.
erkennung (Aufmerksamkeit, Ruhm). 4 Abwehrhaltung im Sinne einer Angst des
4 Die fünfte, letzte und in der Pyramide auch Patienten vor bedrohlicher Veränderung
kleinste Stufe wird vom Bedürfnis nach Selbst- muss akzeptiert werden.
verwirklichung eingenommen. 4 Bezugspersonen sollten einbezogen wer-
den.
Maslow geht davon aus, dass immer erst die unteren 4 Weitere Kontakte sollten angeboten
Bedürfnisse zufrieden gestellt werden müssen, bevor werden, auch wenn momentan keine Hilfe
die nächste Stufe interessant wird. Eine Person ist angenommen wird.
also motiviert, wenn sie ihre Bedürfnisse befriedigen
will. Erst wenn z. B. das Bedürfnis nach Sicherheit
zufrieden gestellt ist, kümmert sich der Mensch um Die Motivation zur Veränderung baut sich schritt-
seine sozialen Bedürfnisse. Wer dagegen Hunger weise auf und ist von Unsicherheiten und Ambiva-
hat, nimmt auch erhebliche Sicherheitsrisiken in lenzen gekennzeichnet. Es gibt immer Gründe, wa-
Kauf. Akute Bedürfnisse auf jeder Stufe blenden die rum alles so bleiben sollte wie es ist, und Gründe, die
darüber liegenden Stufen aus den Interessen des Veränderung notwendig machen. Prochaska und
Menschen aus. DiClimente (1982) haben umfangreich untersucht,
Für die psychiatrische Pflege können wir ablei- was Menschen motiviert und wie sie es schaffen, sich
ten, dass man einem Patienten zuerst einen Rahmen aus einer Abhängigkeit, z. B. Alkoholabhängigkeit,
bieten muss, in dem er sich geborgen und sicher zu befreien. Es sind sechs Stadien, durch die man auf
fühlt, in welchem er sich zugehörig zu einer Gruppe dem Weg zu einer dauerhaften Verhaltensänderung
fühlt (Vertrauen hat zu den Gruppenmitgliedern, zu hindurchgeht.
den ihn betreuenden Personen). Zudem muss der Zunächst werden Probleme nicht wahrgenom-
Patient Anerkennung im Sinne der Wertschätzung men und geleugnet, auch wenn sie für andere offen-
seiner Person spüren. Erst die Zufriedenstellung sichtlich sind. Die Betreffenden bestehen darauf, dass
aller dieser »unteren« Bedürfnisse ermöglicht es ihr Verhalten akzeptabel ist. Zum Beispiel werden
ihm, sich dem Bereich Selbstverwirklichung an- Menschen mit Alkoholproblemen oder mit einer Ni-
zunähern, sich in einer Therapie beispielsweise kotinabhängigkeit in dieser Phase glauben, dass sie
auf Fragen der Persönlichkeitsentwicklung einzu- jederzeit mit dem Trinken oder Rauchen aufhören
lassen. könnten, jedoch keine Notwendigkeit dazu sehen.
150 Kapitel 9 · Psychologische Grundlagen psychiatrischer Pflege

Im nächsten Schritt wird anerkannt, dass eine auch ungelegen, wenn wir sie nicht erwarten oder
Änderung des Verhaltens vielleicht notwendig wäre. nicht wollen. Wir sind zu Tränen gerührt oder ge-
Oft sind die Betreffenden aber mutlos, weil Versuche lähmt vor Angst. Gefühle können angenehm sein
in der Vergangenheit fehlschlugen. Das Trinkverhal- (z. B. Freude) oder unangenehm (z. B. Ekel). Sie sind
ten wird vielleicht als problematisch erkannt, erste von körperlichen Reaktionen begleitet. Wenn wir
medizinische Untersuchungen bringen alarmieren- uns freuen, spüren wir vielleicht, wie unser Herz
de Ergebnisse. schneller schlägt. Manchmal spüren wir auch nur
Erst im nächsten Schritt werden Vorbereitungen etwas Körperliches, z. B. einen Kloß im Hals, ein
getroffen für eine Veränderung. Eine Vorbereitung komisches Gefühl im Bauch oder eine Unruhe, die
kann auch nur gedanklicher Art sein, wenn Raucher den ganzen Körper erfasst.
z. B. überlegen, an einem bestimmten Tag, z. B. ei- Emotionen lassen sich auf 3 Ebenen beschreiben
nem Geburtstag, mit dem Rauchen aufzuhören. Erst (Izard, 1999):
wenn genug innerliche Bereitschaft und äußere Un- 4 auf der Ebene des Erlebens (Gefühle und Affek-
terstützung gesammelt sind, wird der Plan tatsäch- te),
lich in die Tat umgesetzt. 4 der Ebene des Ausdrucks (Mimik und beobacht-
Die schwierigste Aufgabe ist jedoch, das neue bares Verhalten),
Verhalten beizubehalten. In dieser Phase ist Rück- 4 der Ebene des körperlichen Zustandes (biologi-
fallprophylaxe besonders wichtig. Oft ist ein Rückfall sche und organische Prozesse).
unausweichlich, sodass der Kreislauf des Nachden-
kens über Veränderung, der Entscheidung, der ersten Wenn wir uns ängstlich fühlen, sind wir vielleicht
9 Vorbereitungen, der Veränderung und der Beibehal- angespannt, nervös, fühlen uns bedroht oder einge-
tung des neuen Verhaltens erneut einsetzt. schüchtert. Die Muskeln sind angespannt, wir haben
Dieser Kreislauf zeigt, dass die Motivation zur einen ängstlichen Gesichtsausdruck. Gefühle kom-
Veränderung in einem Prozess entsteht und nicht munizieren damit auch für andere, wie es uns geht.
einfach existiert oder nicht existiert. Das Modell ist Sie sind wichtig für unser soziales Zusammenleben.
für das Beispiel Rauchentwöhnung von Prochaska, Wir überprüfen, ob unser Gegenüber uns mag oder
Norcross u. DiClemente 1997 deutsch erschienen. ablehnt, uns versteht oder mit den Gedanken nicht
Aufbauend auf den Stadien der Veränderung kann bei uns ist, ärgerlich oder wohlwollend ist. Ärger ist
man speziell motivierend mit Klienten umgehen, z. B. die Emotion, die vom Gegenüber am schnells-
eine Technik, die motivierende Gesprächsführung ge- ten erkannt wird, weil sie das soziale Zusammen-
nannt wird. Wir verweisen hierbei auf die Literatur leben am nachhaltigsten gefährden kann und unter
von Miller u. Rollnick (2005). Ziel ist es, den Klien- Umständen Gefahr signalisiert. Der Ausdruck und
ten in den verschiedenen Stadien angemessen zu un- das Erleben von Gefühlen sind sozial und kulturell
terstützen. gefärbt und können sich auch zwischen Männern
und Frauen unterscheiden. Grundemotionen, wie
Freude, Ekel, Wut, Überraschung und Trauer wer-
9.1.2 Emotion den überall auf der Welt, z. B. anhand unseres Ge-
sichtsausdrucks, erkannt (Ekman, 1973).
Die wichtigsten Erfahrungen im Leben sind emotio- Jede Emotion ist eine Handlungstendenz und
nal gefärbt, z. B. wenn wir uns verlieben – enttäuscht damit eine Bewertung der Situation. Angst signali-
oder verzweifelt sind bei Zurückweisung – Freude siert, dass wir aufpassen, bereit zur Flucht sind, et-
und Überraschung empfinden über etwas Neues was als bedrohlich einschätzen. Solche emotionalen
oder einen Erfolg. In der Psychologie stand lange Zeit Bewertungen laufen unmittelbarer ab als unser
die Erforschung unseres Verhaltens im Vordergrund, Denken. Oftmals ist die gefühlsmäßige Reaktion
bevor unserem Denken und schließlich unserem schneller, bevor wir überhaupt einen klaren Gedan-
Fühlen mehr Beachtung geschenkt wurde. ken fassen. Das liegt unter anderem daran, dass
Gefühle können uns manchmal überwältigen. Hirnregionen aktiviert sind, hier z. B. die Amygda-
Wir haben keine Kontrolle über sie, sie kommen la, die unabhängig vom Kortex reagieren. Das Ge-
9.1 · Einführung in die psychologischen Begriffe
151 9

fühl steuert dann quasi die Handlungen, bevor der für unser Handeln zu nutzen, ist eine komplexe Auf-
Verstand es tut. Das ist biologisch wichtig. Wenn wir gabe. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Inte-
im Wald einen Stock versehentlich als Schlange resse an unseren Emotionen und ihrer Rolle für un-
wahrnehmen, spüren wir Angst und sind zur Flucht sere Gesundheit und unser Zusammenleben wächst.
bereit. Das passiert automatisch und sehr schnell. In der Psychotherapie sind es vor allem die huma-
Diese emotionale Reaktion ist notwendig für unser nistischen Ansätze, die mit diesem Wissen arbeiten.
Überleben. Wenn es sich tatsächlich um eine Schlan-
ge handelt, ist es sinnvoller, schnell zu reagieren als
stehen zu bleiben und die Gefahr abzuwägen (Le- 9.1.3 Persönlichkeit
Doux, 2001). Es gibt eine Fülle beeindruckender
Informationen über die neurobiologischen Grundla- Wohl kein anderer Bereich der Psychologie be-
gen unseres Fühlens und wir verweisen den interes- kommt soviel öffentliche Aufmerksamkeit wie die
sierten Leser auf die Literatur (z. B. Damasio, 2002). Frage nach dem »wer bin ich?«. Fast jede Zeitschrift
Emotionen sind weiterhin Informationen da- bietet die Möglichkeit, sich anhand eines »Persön-
rüber, was wir brauchen. Wenn wir uns ängstlich lichkeitstestes« einzuschätzen. Bei der Wahrneh-
fühlen, brauchen wir vielleicht Sicherheit, Trost, mung und Beurteilung von uns selbst und anderen,
Zuspruch oder Beruhigung. greifen wir auf Beschreibungen und Typologien zu-
rück. Wir schätzen z. B. Intelligenz und Persönlich-
! Emotionen sind Informationen darüber,
keit ein. Persönlichkeit bezeichnet in der Psychologie
was wir brauchen. Sie sind eine unmittelbare
die Gesamtheit der Eigenschaften eines Menschen,
Bewertung einer Situation im Hinblick auf
die relativ zeitstabil sind. Zum Beispiel unterschei-
unsere Bedürfnisse.
den sich Menschen darin, wie viel Anregung sie
Für den pflegerischen Alltag bedeutet das, dass Ge- als angenehm erleben und brauchen, ob sie z. B. eher
fühle nicht übergangen werden dürfen. Dies betrifft introvertiert oder extrovertiert sind.
die eigenen ebenso wie die des Patienten. Ähnlich
! Persönlichkeit ist die Gesamtheit der Eigen-
wie wir unsere Beobachtungsfähigkeit allgemein
schaften eines Menschen.
schulen können, können wir auch unsere Fähigkeit
schulen, Gefühle wahrzunehmen, sie auszudrücken Es gibt eine Reihe von Fragebögen, mit denen man
und mit ihnen umzugehen. Diese Fähigkeiten wur- diese Unterschiede erfassen kann. In einem der be-
den auch als emotionale Intelligenz beschrieben. Es kanntesten werden folgende 5 Bereiche genannt
kann also weder darum gehen, Gefühle blind auszu- (McCrae u. Costa, 1987):
leben, noch sollten wir um eine kühle Fassade und 4 Extraversion: Menschen unterscheiden sich da-
die Kontrolle unserer Emotionalität bemüht sein. rin, ob sie eher laut oder still, gesprächig oder
Vielmehr geht es darum, Gefühle zu bemerken und zurückgezogen, spontan oder gehemmt sind.
die Signale zu verstehen, welche uns Gefühle geben. 4 Neurotizismus: Menschen unterscheiden sich
darin, inwiefern sie sich Sorgen machen und ver-
Praxisbox letzbar sind oder in sich ruhen.
Im Umgang mit Patienten kann es besonders 4 Offenheit für Erfahrungen: Menschen unter-
wichtig sein, auf die Bedürfnisse zu achten, die scheiden sich darin, ob sie eher traditionsver-
durch die Gefühle offenbar werden. Braucht ein bunden oder neugierig auf Neues sind.
Patient Ruhe oder Anregung, mehr oder weni- 4 Gewissenhaftigkeit: Menschen unterscheiden
ger Zuwendung, Kontakte oder Rückzugsmög- sich darin, ob sie eher zuverlässig oder nachläs-
lichkeiten? Brauche ich mehr Abstand? Macht sig sind.
mich etwas ärgerlich und wenn ja, was ist es? 4 Verträglichkeit: Menschen unterscheiden sich
darin, ob sie sich leicht in soziale Gruppen ein-
fügen können und die Wünsche anderer respek-
Die eigenen Gefühle und die anderer wahrzuneh- tieren oder egoistisch und mit wenig Takt ihr
men, zu differenzieren, auszudrücken und als leitend soziales Leben gestalten.
152 Kapitel 9 · Psychologische Grundlagen psychiatrischer Pflege

Praxisbox 4 relativ verlässliche, stabile Beziehungen, im Kin-


Wichtig für den pflegerischen Alltag ist es, die desalter betrifft dies hauptsächlich die primären
Unterschiede zwischen Menschen und ihre Indi- Bezugspersonen,
vidualität anzuerkennen und zu respektieren; 4 Austausch mit der Umwelt und das Erfahren von
neugierig zu sein auf die Besonderheiten des Möglichkeiten und Grenzen,
Einzelnen, seine Talente und Vorlieben. 4 sich ausprobieren können,
4 die Anerkennung und Wertschätzung der eige-
nen Person.

9.1.4 Entwicklung ! Die Entwicklungspsychologie beschreibt die


psychische Entwicklung des Menschen über
die gesamte Lebensspanne.
Die Entwicklungspsychologie bezieht sich auf Verän-
derungen im Laufe der Lebensspanne. Können Sie
sich an ihren ersten Schritt erinnern oder daran, wie
Sie Fahrrad fahren lernten? Der Mensch vollzieht 9.1.5 Lernen
viele Entwicklungsschritte, nicht nur im Bereich
der Motorik. Andere entwicklungspsychologisch In der Psychologie spricht man von Lernen, wenn
interessante Themen sind Wahrnehmung, Lernen, Erfahrungen zu relativ dauerhaften Veränderungen
Denken, Sprache, Motivation, Gedächtnis. Erforscht im Wissen, dem Verhalten oder auch in den Über-
wird dabei nicht nur, wann welche Entwicklungsauf- zeugungen einer Person führen. So lernt man das
9 gabe im Durchschnitt von einem Mensch in Angriff Lesen oder sich in verschiedenen Situationen sozial
genommen wird, sondern auch, wie die Entwicklung angemessen zu verhalten. Ebenso kann man die
sich vollzieht, was Entwicklung erleichtert oder Überzeugung und Einstellung erlernen, von sich po-
hemmt. sitiv zu denken. Lernprozesse spielen in vielen Kon-
Die Entwicklungspsychologie umfasst alle Le- texten eine Rolle. Man unterscheidet verschiedene
bensphasen. Von besonderem Interesse waren an- Varianten des Lernens. Dazu gehören unter ande-
fangs eher das Kleinkind-, Kinder- und Jugend- rem das klassische und operante Konditionieren
alter. Hier geschehen die eindrucksvollsten Ent- sowie das Modelllernen.
wicklungen in einem vergleichsweise hohen Tempo.
Später rückten zunehmend auch das Erwachsenen- Klassisches Konditionieren
alter und gerontopsychologische Themen in den Das klassische Konditionieren wurde besonders
Mittelpunkt des Forschungsinteresses. durch Iwan Pawlow (1849–1936) bekannt. Im Expe-
Wichtige entwicklungspsychologische Beiträge riment zeigte Pawlow, dass ein Hund, wenn man ihm
wurden z. B. von Charlotte Bühler (1893–1974), Futter anbietet und gleichzeitig immer eine Glocke
Sigmund Freud (1856–1939), Erik Erikson (1902– dazu läutet, der Hund nach einer gewissen Zeit
1994) und Jean Piaget (1896–1980) geliefert. Dem schon Speichelfluss allein auf das Ertönen der Glo-
interessierten Leser empfehlen wir detaillierte Lehr- cke hin zeigt, ohne dass der Hund das Futter sieht.
bücher zur Entwicklungspsychologie (z. B. Oerter Klassisches Konditionieren heißt zu lernen, dass ei-
u. Montada, 2002). nem Reiz ein nächster folgen wird.
Die Entwicklungspsychologie setzt sich auch mit Klassische Konditionierung kann z. B. bei der
der Frage auseinander, welche Fähigkeiten und Fer- Entwicklung von Angstzuständen eine Rolle spielen.
tigkeiten genetisch oder durch die Umwelt bedingt Hat ein Patient bei medizinischen Behandlungen
sind. Jenseits der Entwicklungsvoraussetzungen die immer wieder Angst gespürt, wird er irgendwann
jeder Mensch anlagebedingt schon hat, gibt es doch diese Angst schon wahrnehmen, wenn er nur eine
einen beträchtlichen Spielraum, den die Umwelt ge- Person im weißen Kittel sieht. Der eigentlich neutra-
staltet. le Reiz (weißer Kittel) wurde mit der Angstreaktion
Was also brauchen Menschen um sich entwi- in Verbindung gebracht und reicht jetzt als Auslöser
ckeln zu können?: der Angstreaktion aus.
9.1 · Einführung in die psychologischen Begriffe
153 9
Operantes Konditionieren 9.1.6 Gedächtnis
Burrhus Frederic Skinner (1904–1990) wurde durch
seine Untersuchungen zum operanten Konditionie- Unter Gedächtnis versteht man die Fähigkeit des
ren berühmt. Skinner wollte die Veränderung von Menschen, Informationen aufzunehmen, zu spei-
Verhalten erklären und ermöglichen. Beim operan- chern und wiederzugeben. Dies sind komplexe Pro-
ten Konditionieren wird ein bestimmtes Verhalten zesse, die noch nicht vollständig erforscht sind. Die
einer Person belohnt und daher verstärkt, d. h., es Stärke unseres Gedächtnisses liegt nicht nur in der
tritt häufiger und mit höherer Wahrscheinlichkeit Fähigkeit, etwas zu speichern. Es kann Informatio-
auf. Die Häufigkeit eines Verhaltens wird durch Be- nen auch miteinander verknüpfen und es ermöglicht
lohnung gesteigert. uns, neue Situationen schnell zu bewältigen, indem
Man kann verschiedene positive Verstärker un- es wie ein Filter Wichtiges von Unwichtigem un-
terscheiden: terscheidet. Zudem ist dafür gesorgt, dass wir un-
4 gegenständliches Belohnung (z. B. Geld, Essen), brauchbare Informationen wieder vergessen.
4 Zuwendung (z. B. Aufmerksamkeit, Teilnahme Speicherorte für Gedächtnisinhalte sind weit
an Gruppenveranstaltungen), über das Gehirn verteilt. Die Gedächtnisprozesse
4 Selbstverstärker (angenehme Gefühle, Selbst- finden in Netzwerken statt und je nach Inhalt und
lob). Art der Information werden unterschiedliche Struk-
turen aktiviert, um die Informationen zu speichern
Verstärkend kann auch wirken, dass eine erwartete und zu verarbeiten.
negative Reaktion nicht erfolgt (negative Verstär- Wir benutzen das Gedächtnis auf verschiedene
kung). Weise: zum einen müssen neue Informationen (z. B.
ein Satz) verstanden (encodiert) werden, d. h., es
Modelllernen muss im (Langzeit-)Gedächtnis nach dessen Bedeu-
In der Tradition der Lerntheorien wies Albert Ban- tung gesucht werden. Zum anderen müssen wir eine
dura (geboren 1925) eine weitere Form des Lernens Reihe von Informationen ständig im Arbeitsge-
nach: das Modelllernen. Er stellte heraus, dass zusätz- dächtnis verfügbar haben, um Verknüpfungen (As-
lich zum Lernen aus eigener Erfahrung auch das soziationen) zwischen den aufeinander folgenden
Lernen durch Beobachtung (am Modell) wirksam Informationen herzustellen. Dabei spielen Emotio-
ist. So finden beispielsweise Kinder oder Jugendliche nen eine bedeutende Rolle. Sowohl das Speichern als
die Geschlechtsrollenidentität durch das Beobach- auch das Abrufen von Informationen sind emotional
ten des Verhaltens von Männern und Frauen in der gefärbt. Wenn wir z. B. trauriger Stimmung sind,
Gesellschaft. Kinder, die viele aggressive Vorbilder erinnern wir mehr traurige Ereignisse in unserem
haben, zeigen viele nachgeahmte aggressive Reakti- Leben als in freudiger Stimmung.
onen. Man kann das Gedächtnis auf einer zeitlichen
Das Modelllernen ist besonders effizient, wenn: Dimension zwischen dem Kurzzeitgedächtnis und
4 das Modell als sympathisch und attraktiv wahr- dem Langzeitgedächtnis unterscheiden. Das Kurz-
genommen wird, zeitgedächtnis (Arbeitsgedächtnis) ist die Verbin-
4 sich der Beobachter als dem Modell ähnlich er- dung zwischen aktuell ablaufenden Wahrnehmungs-
lebt (sich mit ihm identifizieren kann), prozessen und dem Langzeitgedächtnis. Im Kurz-
4 das Verhalten des Modells gut wahrnehmbar ist zeitgedächtnis können 7 (+ /-2) Inhalte gespeichert
(sich gut von anderen Modellen abgrenzen werden, also ungefähr die Länge einer Telefonnum-
lässt), mer. Wenn Sie das nächste Mal eine Liste mit Namen
4 beobachtet werden kann, dass das Modell für lesen und dann versuchen, die Namen zu wiederho-
sein Verhalten belohnt wird. len, so werden es wahrscheinlich zwischen fünf und
neun sein, die Sie sofort erinnern.
Die verschiedenen Formen des Lernens im Sinne Das Gedächtnis kann man nicht nur zeitlich un-
einer Verhaltensänderung finden besonders im Rah- terscheiden, sondern auch nach inhaltlich abgrenz-
men einer Verhaltenstherapie Anwendung. baren Bereichen.
154 Kapitel 9 · Psychologische Grundlagen psychiatrischer Pflege

Das prozedurale Gedächtnis steht für Routine- 9.1.7 Soziale Prozesse


handlungen, die hochgradig automatisiert ablaufen
(z. B. das Schalten beim Autofahren, sich im Ge- Motivation, Emotion, Persönlichkeit, Entwicklung,
spräch nebenbei eine Krawatte binden, Radfahren). Lernen und Gedächtnis können durch andere Men-
Die Verhaltensweisen sind sprachlich schwer zu be- schen beeinflusst werden. Wir werden motiviert
schreiben, können jedoch ohne wesentliche Auf- oder demotiviert durch andere, fühlen uns in ihrer
merksamkeit abgerufen werden. Anwesenheit wohl oder unwohl. Wir vergleichen
Priming bezeichnet Prozesse, bei denen ein Sys- uns mit anderen und formen ein Bild von uns selbst
tem durch äußere oder innere Anlässe in erhöhte im Kontakt mit anderen. Wir entwickeln uns und
Funktionsbereitschaft versetzt wird. Es werden z. B. lernen durch Vorbilder oder Rückmeldung von Fa-
Erinnerungen aktiviert, die in die gleiche Bedeu- milie, Freunden und Lehrern. Wir teilen gemein-
tungskategorie fallen wie eine auslösende Informati- same Erinnerungen. Wir leben unser Leben in sozi-
on. So steht uns beispielsweise nachdem das Wort alen Zusammenhängen. Der Teilbereich der Psycho-
»Arzt« gesprochen wurde, das Wort »Medizin« logie, der sich mit diesen Themen beschäftigt, ist die
schneller zur Verfügung als das Wort »Regentonne«, Sozialpsychologie. Für die psychiatrische Gesund-
da »Arzt« und »Medizin« in die gleiche Bedeutungs- heit- und Krankenpflege ist das Verständnis sozialer
kategorie fallen. Priming ist die kurzzeitige Aktivie- Prozesse besonders wichtig. Wir wollen uns vor
rung von Konzepten für die Verwirklichung nach- allem zwei Bereichen zuwenden: der sozialen Wahr-
folgender Ereignisse. Priming kann als eine Art Vor- nehmung und Attributionsprozessen. Mit sozialer
bereitung verstanden werden, die das Gedächtnis Wahrnehmung ist gemeint, wie wir andere Men-
9 automatisch, ohne unsere bewusste Entscheidung schen einschätzen, Vorurteile bilden, uns von ihnen
vornimmt. angezogen oder abgestoßen fühlen. Attributionspro-
Das perzeptuelle Gedächtnis ist für Familaritäts- zesse beschreiben, wie wir unsere eigenen Reaktio-
und Bekanntheitsurteile zuständig. Dieses Gedächt- nen und das Verhalten anderer Menschen erklären.
nis sortiert nur in bekannt und unbekannt. Hier
werden Objekte und Geräusche aufgrund ihrer Soziale Wahrnehmung
Wahrnehmungsmerkmale erkannt. Es entstehen Wenn wir einen anderen Menschen wahrnehmen,
Vertrautheit und Bekanntheit. Erkennen im Sinne so sehen wir zunächst nur sein Äußeres. Wir versu-
von Verstehen ist dazu nicht notwendig. chen, von seiner Kleidung, seiner Haltung, seiner
Das semantische Gedächtnis, das sog. Wissens- Stimme oder Wortwahl Rückschlüsse auf seine Per-
system, beinhaltet Sachverhalte und Fakten aus dem son zu treffen. Gleichzeitig schätzen wir unsere eige-
Bereich des Allgemein- und Fachwissens. Um eine ne Reaktion auf diese Wahrnehmung ein. Ist uns
der populären Ratesendungen zu gewinnen, müss- dieser Mensch sympathisch oder weniger sympa-
ten wir uns unter anderem auf unser semantisches thisch? Diese Bewertungen laufen sehr schnell ab
Gedächtnis verlassen. und sind meist nicht bewusst. Wir greifen hierbei auf
Das episodische oder autobiographische Gedächt- sog. Schemata zurück.
nis steht für biographische Ereignisse und weitere
! Schemata sind Annahmen über Menschen
Gedächtnisinhalte, die auf bestimmte Lebenser-
oder Ereignisse, die die Verarbeitung von
eignisse bezogen sind (z. B. der erste Kuss). Dieses
Informationen beeinflussen.
System ist immer an Bewusstsein und Selbstreflexi-
on und meist auch an emotionale Inhalte gekop- Sie haben den Vorteil, unsere Wahrnehmung zu be-
pelt. schleunigen und zu reduzieren. Gleichzeitig können
sie aber zu Fehleinschätzungen beitragen, z. B. bei
! Funktionen des Gedächtnisses sind das Enco- einem Vorurteil. Zum Beispiel haben wir die Ten-
dieren (Einfügen, Aufnehmen von Eindrü- denz, attraktiven Menschen bestimmte Persönlich-
cken) das Behalten und die Wiedergabe. Ge- keitseigenschaften zuzuschreiben. Wir glauben, dass
dächtnisprozesse finden in Netzwerken statt, sie freundlicher, warmherziger, geselliger, aber auch
an denen auch Emotionen beteiligt sind. erfolgreicher und kompetenter sind als weniger
9.1 · Einführung in die psychologischen Begriffe
155 9

attraktive Menschen. Man nimmt an, dass die Me- Attributionsprozesse


dien eine Rolle spielen dabei, dass sich ein solches Attributionsprozesse sind in der psychiatrischen
Vorurteil bildet. Zeigen sie uns doch, dass Erfolg Pflege beispielsweise für das Verständnis wichtig,
und gutes Aussehen Hand in Hand zu gehen schei- wie der Einzelne Erfolg oder Misserfolg seiner Be-
nen. handlung wahrnimmt. Attribuieren bedeutet, etwas
Typische Schemata werden in Begriffen deutlich, zuschreiben. Fritz Heider (1958) erklärte, wie Men-
mit denen wir eine ganze Reihe von Eigenschaften schen solche Zuschreibungen treffen. Er unterschied
verbinden. Überlegen Sie einmal, wie Sie sich eine zwei grundsätzliche Möglichkeiten. Menschen se-
Person vorstellen, die Sie z. B. als »Karrierefrau« be- hen die Ursache ihres Verhaltens entweder in ihrer
schreiben würden? Was für eine Person haben Sie eigenen Person begründet (z. B.: »Ich habe die Prü-
vor Augen, wenn Sie sich diese einmal als »Künst- fung bestanden, weil ich kompetent bin«) oder sie
ler«, dann als »Manager« vorstellen? Ein Künstler führen etwas auf äußere Faktoren zurück (z. B. »Ich
wäre vielleicht leger gekleidet, schläft morgens lange, habe die Prüfung bestanden, weil ich leichte Aufga-
geht abends spät ins Bett, ist unkonventionell, spielt ben bekommen habe«).
Schach in einer Kneipe und hat wenig Geld. Einen
! Internale Attributionen erklären Verhalten von
Manager hingegen sehen Sie vielleicht im Anzug mit
innen heraus, also durch persönliche Eigen-
Aktentasche, der am Abend in teuren Restaurants
schaften, Fähigkeiten und Gefühle. Externale
exklusive Menüs bestellt. Assoziationen dieser Art
Attributionen erklären Verhalten durch äußere
nennen wir Stereotyp.
Faktoren, wie Anforderungen der Situation
! Ein Stereotyp ist die Überzeugung, dass Men- und Umgebungsfaktoren.
schen bestimmte Charakteristika haben, je
Diese Attributionen sind jedoch oft fehlerhaft, da
nachdem welcher Gruppe sie angehören.
wir die tatsächlichen Ursachen eines Ereignisses
Gruppen können beruflicher Art sein (z. B. Manager oder eines Verhaltens nicht kennen. Wie bei der so-
vs. Künstler) oder das Alter betreffen (Teenager vs. zialen Wahrnehmung funktionieren wir auch hier
Greis). Auch nach Geschlecht (Frauen können nicht nach dem Prinzip der Sparsamkeit. Wir reduzieren
einparken, Männer nicht zuhören) und Nationalität Komplexität. Ein fundamentaler Irrtum ist z. B.,
(Deutsche haben keinen Humor) entstehen Stereo- dass wir das Verhalten anderer Menschen häufig
type. Stereotype können unsere Wahrnehmung und mit ihren Fähigkeiten und Wünschen erklären. Wir
unser Handeln lenken. Sie führen zu bestimmten glauben, dass andere so handeln, weil sie es so kön-
Erwartungen. Weiblichkeit ist z. B. verbunden mit nen und wollen (internal). Unser eigenes Verhalten
Begriffen wie Emotionalität und Unterordnung, erklären wir hingegen oft mit äußeren Umständen
Männlichkeit mit Rationalität und Aktivität. Alter ist (external). Die internale Attribution ist oftmals auch
assoziiert mit Vergesslichkeit, Jugend mit Rebellion. die einfachere. Es ist leicht anzunehmen, jemand
Läuft unsere Wahrnehmung und unser Denken in handelt so, weil er so ist. Um die Faktoren in der
diesen Kategorien ab, dann haben wir wenig Chan- Umwelt zu sehen, die zu seinem Handeln führen,
cen, die Individualität des anderen zu sehen. Wir müssen wir genauer hinschauen. Externale Attribu-
sehen dann z. B. nicht, dass der Manager vielleicht tionen brauchen also mehr Aufmerksamkeit und
abends in einer Rockband spielt oder zu Hause in Interesse.
der Küche putzt. Der Einzelne ist vielschichtiger als Man hat weiterhin gefunden, dass innere und
es der Stereotyp erlaubt, wahrzunehmen. äußere Bedingungen als stabil oder veränderlich
wahrgenommen werden können. Hat man eine Prü-
Praxisbox fung nicht bestanden, kann man sich z. B. als gene-
Wichtig im Umgang mit Menschen ist es, offen rell inkompetent und wenig intelligent wahrnehmen
zu sein, für Nuancen und Überraschungen und (internal, stabil). Man kann meinen, wenig vorberei-
dafür, die eigenen Wahrnehmungen immer wie- tet zu sein für genau die Prüfungsthemen, die erfragt
der zu überprüfen. wurden (internal, veränderbar). Auch äußere Ein-
flüsse können als stabil oder veränderlich gesehen
156 Kapitel 9 · Psychologische Grundlagen psychiatrischer Pflege

werden. Am Prüfungstag kann man einfach nur 9.2.1 Urteilsfehler und ihre
Pech gehabt haben (external, veränderbar). Man be- Auswirkungen
kommt immer die schwersten Aufgaben (external,
stabil). Halo-Effekt
Wie man bestimmten Ereignissen und Verhalten Eine Eigenschaft wird als so dominant wahrgenom-
Ursachen zuschreibt (attribuiert), hängt auch mit men, dass sie auf alle anderen Eigenschaften über-
psychischer Gesundheit zusammen. Internale, stabi- strahlt. Leicht schreiben wir jemandem Erfolg in
le negative Muster sind z. B. mit Depressivität ver- jeder Hinsicht zu, wenn wir ihn in einem Bereich
bunden. Ein depressiver »Stil« ist beispielsweise, Er- als erfolgreich erleben. Beispielsweise könnte man
folg external (Glück und Umstände) und Misserfolg annehmen, dass ein beruflich erfolgreicher Mann
internal (ich bin nicht gut genug) zu erklären. Der natürlich auch in allen anderen Lebensbereichen
Mensch glaubt dann, dass sich Gutes einfach ereig- erfolgreich und glücklich sei.
net und er darauf keinen Einfluss hat. Schlechtes
hingegen ist sein Verschulden. Wenn er sich aber Vorurteilseffekt (Rosenhan-Effekt)
für die Misserfolge verantwortlich fühlt, nicht aber Stereotype Beschreibungen bleiben oft erhalten,
für die Erfolge, entsteht ein verzerrtes Bild von den auch wenn neue gegenteilige Informationen vorlie-
eigenen Fähigkeiten und der eigenen Person. Im gen. Der Effekt ist nach einer Untersuchung von Ro-
psychiatrischen Alltag ist es wichtig, auf solche Mus- senhan benannt. Er ließ gesunde Personen verschie-
ter aufmerksam zu werden. Wir können das Selbst- dene psychische Störungen simulieren, sodass sie in
wertgefühl eines Menschen z. B. unterstützen, wenn eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurden. So-
9 wir ihm helfen, seine Stärken und seine Verantwor- bald sie dort waren, verhielten sie sich vollkommen
tung realistischer wahrzunehmen. »normal«. Ihre Diagnose führte jedoch dazu, dass
alle ihre Verhaltensweisen im Lichte ihrer psychi-
Praxisbox schen Störung gesehen wurden. Sie wurden nicht
Das Wissen um Attributionsprozesse kann uns sofort entlassen.
sensibler machen für vorschnelle Urteile und
einseitige Wahrnehmung. Positionseffekte: Primacy- und Recency-Effekt
Aus der Analyse von Gedächtnisleistungen bezüg-
lich des Erinnerns von Zahlenreihen gewann man
Ausgestattet mit einigen psychologischen Grundbe- die Erkenntnis, dass Versuchspersonen sich die je-
griffen, wollen wir uns nun Problemen der Beurtei- weils erste und letzte Zahl einer vorgegebenen Reihe
lung und Diagnostik zuwenden. besser merken konnten. So kann man sich auch von
Personen, welche nacheinander vorgestellt werden,
die erste und letzte Person mit höherer Wahrschein-
9.2 Urteilsbildung und lichkeit einprägen.
diagnostische Einschätzungen
Unangemessene Kausalattribuierung
Zur Beurteilung von Patienten und Klienten nutzt Wir neigen dazu, Dinge und Eigenschaften nicht
man verschiedene diagnostische Verfahren. Warum nur zu bezeichnen, sondern zu erklären und zu be-
eigentlich verlässt man sich nicht ausschließlich auf werten. Beispielsweise wäre die Bezeichnung für ein
die »natürliche Menschenkenntnis«? Die Einschät- schreiendes Baby zunächst »schreiendes Baby«. Wir
zung anderer Menschen unterliegt Verzerrungen tendieren jedoch dazu, eine Ursache zuzuschreiben
und Fehlern. Einige dieser Fehlerquellen, was sie be- und sprechen vielleicht von einem »hungrigen
wirken und wie wir mit ihnen umgehen können, Baby« (Erklären). Manchmal meinen wir in einem
wollen wir im Folgenden vorstellen. schreienden Baby bereits ein »schwieriges Baby« zu
erkennen (Bewerten). Es ist wichtig, bei der Be-
! Urteile und Wahrnehmungen unterliegen schreibung von Verhalten auf der Verhaltensebene
Verzerrungen und Fehlern. zu bezeichnen und nicht Ursachen zu benennen (zu
9.2 · Urteilsbildung und diagnostische Einschätzungen
157 9

erklären) oder Urteile zu fällen (zu bewerten). Auf ! Bewusste Wahrnehmung ist trainierbar
diese Weise hält man sich den Blick offen für mög- und an Selbsterfahrung und Selbstreflexion
liche andere relevante Zusammenhänge. Das Baby gebunden.
in unserem Beispiel könnte aus vielen Gründen
schreien. Neben dieser allgemeinen Schulung der Beobach-
tungsfähigkeit des Einzelnen gibt es Methoden, die
Pygmalion-Effekt die oben genannten Fehlerquellen möglichst ge-
Einst lebte ein König auf Zypern, der Pygmalion ring halten. Hierzu zählen systematische Beobach-
hieß und als begnadeter Künstler eine Statue einer tungssysteme und die psychologische (Test-)Diag-
wunderschönen Frau aus Elfenbein schuf. So ver- nostik.
liebt war der Künstler in sein Werk, dass die Göttin Die erste Frage jeder diagnostischen Einschät-
Aphrodite ein Einsehen hatte und die Elfenbein- zung bezieht sich auf die Datenquelle. Wo kann ich
jungfrau zum Leben erweckte. Die Mythologie be- Informationen bezüglich eines Klienten erhalten?
schreibt, dass unsere Vorstellungen von anderen Auskunft kann man von Klienten selbst, aber auch
Menschen und ihren Eigenschaften so stark sein über Dritte, so z. B. Angehörige, andere Helfer (The-
können, dass genau diese Eigenschaften entstehen rapeuten, Ärzte, Pflegende, Sozialarbeiter) erfragen.
und lebendig werden. Wir machen uns also nicht Man sollte auch an andere nichtprofessionelle Be-
nur ein Bild vom anderen, dieses Bild formt ihn zugspersonen denken, die nicht zur Familie des Kli-
auch. Ein vom Klinikpersonal als schwer gestört enten gehören (z. B. Nachbarn). Auch das Einbezie-
eingeschätzter Patient wird mit größerer Wahr- hen von Dokumenten kann wichtige Informationen
scheinlichkeit als verhaltensauffällig wahrgenom- liefern. Dazu gehören nicht nur formelle Schreiben,
men, wenn es zu dem Bild passt, das man bereits wie Pflegeberichte und Krankenakten. Mit dem
von ihm hat. Wenn wir andererseits ein positiveres Einverständnis der Klienten kann man auch deren
Bild wünschen, müssen wir auch dem positiven Bild Tagebücher oder Briefe als Informationsquelle nut-
in unserer Vorstellung Raum geben (z. B., indem auf zen.
die Ressourcen des Patienten geschaut wird). Der Zugleich können Informationen auf verschiede-
Pygmalion-Effekt ist ähnlich der »self-fulfilling- ne Arten gewonnen werden. In der psychiatrischen
prophecy« (selbsterfüllende Prophezeiung), die be- Pflege sind dabei die Verhaltensbeobachtung, das
schreibt, dass Menschen ein bestimmtes Verhalten Gespräch und die Anwendung von speziell für den
wahrscheinlicher zeigen, wenn man es von ihnen Pflegebereich konzipierten Fragebögen und Beur-
erwartet. teilungsskalen von Interesse. Zu den Basisqualifika-
tionen zählen jedoch immer Techniken der Ge-
sprächsführung und Beziehungsgestaltung. Es muss
9.2.2 Umgang mit Urteilsfehlern in jedem Falle erst eine Situation geschaffen werden,
in welcher der andere bereit ist, von sich Auskunft zu
Nun ist kein Mensch frei von diesen Urteilsfehlern. geben – auch, wenn er »nur« einen Fragebogen aus-
Mit dem Wissen darum wird man jedoch bewusster füllt.
wahrnehmen. Das bedeutet, immer wieder innezu- Die standardisierte Erhebung mittels diagnos-
halten und über eingeschliffene Denkmuster und tischer Verfahren ist an Gütekriterien gebunden:
Erklärungen zu reflektieren. Reflektion jedoch ist 4 Objektivität,
immer auch ein Weg der Selbsterkenntnis. So ist die 4 Reliabilität,
Fähigkeit, andere wahrzunehmen eng verbunden 4 Validität.
mit der Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen und
mit der Reife und Lebenserfahrung, die ein Mensch Die erhobenen Daten sind in diesem Verständnis
in sich findet. Beobachtungsfähigkeit ist in gewissem unabhängig von demjenigen, der sie erhebt (Objek-
Maße auch gezielt trainierbar. Hierfür haben sich tivität), sind bei wiederholter Erhebung nicht ver-
Wahrnehmungs- und Achtsamkeitsübungen be- zerrt (Reliabilität) und erfassen das, was sie zu erfas-
währt. sen vorgeben (Validität). Bezüglich einer detaillier-
158 Kapitel 9 · Psychologische Grundlagen psychiatrischer Pflege

teren Erläuterung verweisen wir auf die Literatur z. B. wegen einer Psychose oder Depression behan-
(z. B. Bourne u. Ekstrand, 2001). delt werden.
! Mit systematischer Beobachtung oder der Die Entstehung von Stress
Anwendung von standardisierten diagnosti-
Das Wort »stress« (engl.: Druck, Anspannung)
schen Verfahren lassen sich Beurteilungsfeh-
stammt ursprünglich nicht aus der Psychologie, son-
ler verringern.
dern aus der Werkstoffkunde und bezeichnet den
Zug oder Druck auf ein Material. Es existierten ver-
schiedene Modelle, welche die Entstehung von Stress
9.3 Psychologische Grundlagen erklären können. Am Beginn der Stressforschung
des Handelns in pflegerischen standen sog. situationsspezifische Konzepte, die den
Arbeitsfeldern Stress als Reaktion auf Stressoren aus der Umwelt
erklärten. Stressoren können sehr verschiedenste
Psychiatrische Pflege ist vorrangig Beziehungsarbeit. Dinge sein: Zeitdruck, Autofahren, Lärm, auch das
Man braucht dazu vielfältiges Fachwissen, wie z. B. Lesen von Lehrbüchern kann ein Stressor sein! Es
das Wissen um menschliche Verhaltensweisen, Er- gibt einige Situationen, die mit hoher Wahrschein-
krankungen und Möglichkeiten der Therapie. In der lichkeit für jeden Menschen Stress auslösen. Zum
alltäglichen Begegnung mit Patienten bringt man Beispiel, wenn die Erfüllung der Grundbedürfnisse,
Kompetenzen der Kommunikation und Gesprächs- wie Schlaf, Essen und Trinken, gefährdet ist. Aber
führung genauso ein wie lebenspraktische Erfah- auch das Erleben von Kontrollverlust wird als Stress
9 rung und menschliche Präsenz. erlebt. Monotonie, Unter- oder Überforderung und
Wir wollen uns nun einigen Aspekten pflegeri- Kontrollverlust sind die Bestandteile einer »stressen-
scher Anforderungen in psychiatrischen Handlungs- den« Arbeitssituation, am besten illustriert am Bei-
feldern zuwenden. Dies ist ein Grundverständnis spiel von Fließbandarbeit.
von Stress und Stressbewältigung, Krankheitsbewäl- Später schlug Lazarus ein neues Modell vor. Es
tigung und Ansätzen der Krisenintervention, Ange- erklärt Stress als Wechselwirkung zwischen Situati-
hörigenarbeit und Psychotherapie. on und Person und wird deshalb auch interaktionales
Stressmodell genannt (Lazarus, 1985). Dieses Modell
! Psychiatrische Pflege ist vorrangig Bezie-
ist immer noch leitend für unser aktuelles Verständ-
hungsarbeit.
nis von Stress. Ein Reiz, eine Situation (ein potenzi-
eller Stressor) führt bei einer Person zu einer ersten
Bewertung: Ist das für mich ein Stressor (eine Bedro-
9.3.1 Stress und Stressbewältigung hung, eine Herausforderung), ja oder nein? Wenn
ja, wird der Stressor in einer zweiten Bewertung
Stress empfindet nahezu jeder zumindest zeitweilig. mit den eigenen Bewältigungsmöglichkeiten ver-
Stress gehört zum Leben und kann sogar die Leis- glichen. Die Bewältigungsmöglichkeiten hängen ab
tungsfähigkeit steigern. Der Stressforscher Hans Se- von vorausgegangenen Erfahrungen und anderen
lye (1907–1982) sprach vom »Salz des Lebens«, wenn Ressourcen (z. B. sozialer Unterstützung). Falls dann
man die beanspruchenden Herausforderungen po- ein Ungleichgewicht zwischen Stressor und Bewäl-
sitiv erlebt und sich diesen Anforderungen gewach- tigungsmöglichkeiten wahrgenommen wird, emp-
sen fühlt. Leiden wir aber zu lange unter Stress und findet die Person Stress.
können uns nicht angemessen erholen, wird die
! Stress ist ein wahrgenommenes Ungleichge-
Leistungsfähigkeit eher beeinträchtigt und man er-
wicht zwischen Anforderungen und den zur
krankt. Anhaltender Stress ist ein Mitverursacher
Verfügung stehenden Bewältigungsmöglich-
verschiedenster Erkrankungen, am bekanntesten in
keiten.
ist hierbei wohl der Herzinfarkt. In der Psychiatrie
ist man eher mit Menschen konfrontiert, die in Kri- Es gibt kaum etwas, was von sich aus stressend ist.
sen- und Stresssituationen psychisch erkranken und Vielmehr ist jeder von etwas anderem »gestresst«
9.3 · Psychologische Grundlagen des Handelns in pflegerischen Arbeitsfeldern
159 9

entsprechend seiner Bewertungen, die von seinen betreffen, wenn man sie reduzieren kann. Gibt es
eigenen Erfahrungen und seinen Bewältigungsstra- Umgebungsfaktoren, die veränderbar sind? Das kann
tegien abhängen. Putzen wird von einer Hausfrau als die Gestaltung des Arbeitsplatzes sein, weniger Lärm
Stress erlebt, wenn sie es zusätzlich zum Einkaufen betreffen oder besseres Licht und bessere Belüftung.
und Kochen in einer bestimmten Zeit schaffen will. Seitens der Person gibt es eine Reihe von Ansatz-
Ein Student hingegen kann das Putzen als willkom- punkten, Stress und seine Folgen zu reduzieren. Es
mene Abwechslung erleben, wenn es ihn zeitweilig geht um das Erlernen von Fähigkeiten, mit Stress
vom Lernen für eine Prüfung »erlöst«. umzugehen. Zunächst kann man die Bewertung be-
trachten, die bei einer Person zum Stresserleben
Stressreaktionen führt. Welche Situation ist stressauslösend? Ist es
Stressreaktionen laufen auf verschiedenen Ebenen wirklich wichtig, diese Situation zu meistern, wie
ab: »perfekt« muss das sein und wie wichtig ist es?
4 emotional (z. B. Ärger, Hilflosigkeit), Neben der Bewertung kann man sich den Kom-
4 kognitiv, also das Denken betreffend (z. B. Denk- petenzen zuwenden, die die Person hat. Dies können
blockaden, Konzentrationsmangel), allgemeine Kompetenzen sein oder spezifische für
4 körperlich (z. B. Zittern, Kopfschmerzen, Faust eine bestimmte Anforderungssituation. Allgemeine
ballen, Unruhe, Erröten, Schwitzen, allgemeine Kompetenzen sind u. a. der Umgang mit Zeit, die
Verspanntheit), Fähigkeit zur Kooperation, die Fähigkeit zur Zusam-
4 das Verhalten betreffend (Aggression gegen an- menarbeit, die Fähigkeit zur Kommunikation, Stra-
dere, sich zurückziehen). tegien der Problemlösung etc. Diese Fähigkeiten
sind zum Teil erlernbar und können in den entspre-
Manchmal reagieren wir auf diese Anzeichen von chenden Programmen trainiert werden.
Stress mit wenig hilfreichen, kurzfristig aber als er- Als besonders wichtig hat sich auch der Glaube
leichternd erlebten Umgangsstrategien. Dies kann an die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten, Hoff-
der schnelle Griff zu Beruhigungsmitteln oder Auf- nung und Motivation erwiesen. Der Glaube an die
putschmitteln, Alkohol, Nikotin, zuviel Kaffee etc. eigene Kraft und die eigenen Gestaltungsmöglich-
sein. Stress (z. B. beruflicher Art) kann auch dazu keiten kann davor bewahren, demoralisiert zu sein
führen, dass wir Anforderungen um jeden Preis und depressiv zu reagieren.
meistern wollen: wir schlafen zu wenig, essen unre- Spezifische Kompetenzen können bestimmte
gelmäßig und schlecht, haben zu wenig Bewegung Situationen betreffen. Auch wenn wir sehr an uns
und zu wenig Erholungspausen. All dies steigert das glauben und allgemeine Kompetenzen haben, wer-
Stresserleben und kann uns an die Grenzen unserer den wir Fachwissen oder spezielle Informationen
physischen Belastungsfähigkeit bringen. brauchen, um z. B. eine berufliche Situation zu meis-
tern.
Hilfen für eine erfolgreiche Stress- Als besonders wirksam im Umgang mit Stress
bewältigung hat sich die Fähigkeit zur Erholung erwiesen. Men-
Denkt man über das Stressmodell von Lazarus nach, schen, die dauerhaft auf einem hohen Stressniveau
kommt man hingegen zu der Schlussfolgerung, dass funktionieren, können unter Umständen die Fähig-
man zur erfolgreichen Verringerung von Stress prin- keit verlieren, sich zu entspannen oder brauchen
zipiell zwei Ansatzmöglichkeiten hat: weit länger als andere, sich zu regenerieren. Das
4 zum einen die Beeinflussung der Situation und kann die schädigende Spirale in Gang setzen, die zu
4 zum anderen die Veränderung der Bewertungs- stressbedingten Erkrankungen führt. Das Training
und Bewältigungsmöglichkeiten der Person. der Entspannungsfähigkeit ist daher zentraler Be-
standteil eines jeden Stressbewältigungstrainings.
Wenn man an der Situation selbst ansetzt, empfiehlt Das sprichwörtliche »Durchatmen« oder erst einmal
es sich zunächst, diese genauer anzusehen. Was an »Luft holen« kann man also üben.
dieser Situation löst den Stress aus und ist es verän- Stress ist demnach immer im Zusammenhang
derbar? Das kann die Anzahl der Anforderungen mit Bewertungsvorgängen und Bewältigungsstrate-
160 Kapitel 9 · Psychologische Grundlagen psychiatrischer Pflege

gien zu verstehen. Eine Krankheit löst Stress aus und Zunächst löst die Mitteilung einer Erkrankung
es gibt eine Reihe von Vorstellungen, wie Menschen Ängste und ein »Nicht-wahrhaben-Wollen« aus.
mit diesem Stress umgehen und wie wir sie am bes- Das Nicht-wahrhaben-Wollen kann sich auch im
ten darin unterstützen können. Glauben an eine Fehldiagnose oder eine Verwechs-
lung äußern bis hin zu Verzögerungen oder sogar
der Verweigerung einer notwendigen Behandlung.
9.3.2 Krankheitsbewältigung Die Wirklichkeit, wie sie gelebt worden ist, muss neu
betrachtet werden. Häufig erleben Betroffene und
Mit einer Krankheit leben lernen, ist ein langwieri- Angehörige dies als eine Art Markierung in ihrem
ger Prozess mit vielen unterschiedlichen Stadien. Leben. Es gibt eine Zeit davor und eine Zeit danach.
Die einzelnen Phasen folgen nicht schrittweise auf- Oft kommt es dann nahezu zu einem Aufbäumen
einander, sondern können einander überspringen, gegen das Unausweichliche, übermächtig erschei-
sich abwechseln, sich wiederholen oder auch parallel nende in Form von Aggression. Dies lässt sich am
zueinander laufen. besten beschreiben in der Äußerung »Warum gera-
Die Zeit bis zur Mitteilung einer Diagnose ist de ich?«. Die Betroffenen hadern mit Gott und der
eine potenziell krisenhaft erlebte Zeit im Leben der Welt, sind gereizt und voller Vorwürfe. Ihre Ver-
Betroffenen und ihrer Angehörigen. Manchmal wird zweiflung ist zunächst noch unter Aggressivität und
die Diagnose als Erleichterung wahrgenommen, Feindseligkeit verborgen, bevor sie wirklich wahrge-
weil man endlich weiß, »was es ist« und die Zeit der nommen und erlebt wird. Werden die Verluste durch
Unsicherheit beendet ist. Es können jedoch auch die Krankheit anerkannt und betrauert, kann der
9 Ängste ausgelöst werden und neue Unsicherheiten Betreffende eine neue Sicht auf sein Leben entwi-
entstehen. Wie lange wird die Erkrankung dauern? ckeln und seinen Platz finden. Manchmal entsteht
Ist sie behandelbar? Wird sie wiederkommen? Wird auch eine neue Dimension des Lebens, mit vertrau-
sie an die Kinder weitergegeben? Kann man wieder ensvollen, erfüllenden Beziehungen und mehr Tiefe
arbeiten? Diese und andere Fragen stehen am Be- im Erleben und Verstehen.
ginn eines langen Weges, ein erfülltes Leben mit der So wie die Entstehung von Krankheiten von ver-
Krankheit oder ihren wiederkehrenden Phasen zu schiedenen Faktoren abhängig ist, ist auch die Bewäl-
finden. Dieser Weg wird als Krankheitsbewältigung, tigung einer Krankheit bio-psycho-sozial bedingt.
Krankheitsverarbeitung oder Coping beschrieben. Biologische Faktoren betreffen die Frage, wie schwer
die Krankheit ist und ob andere Krankheiten parallel
! Krankheitsbewältigung – auch Krankheits-
bestehen. Man hat z. B. gefunden, dass Depressionen
verarbeitung oder »Coping« (von englisch:
dann besonders »hartnäckig« sind und Menschen
to cope: fertig werden mit etwas) – ist das Be-
schwerer mit ihnen umgehen können, wenn sie zu-
mühen, bereits bestehende oder erwartete
sätzlich an körperlichen Krankheiten leiden.
Belastungen durch eine Krankheit innerpsy-
chisch oder durch zielgerichtetes Handeln Die Rolle von Kontrollüberzeugungen
aufzufangen, auszugleichen, zu meistern oder
Psychologische Faktoren betreffen z. B. Persönlich-
zu verarbeiten.
keitseigenschaften des Menschen, die es ihm leichter
oder schwerer machen, an seinen Erfolg zu glauben.
Phasen der Krankheitsbewältigung Wir sprechen von internalen und externalen Kon-
Die Auseinandersetzung mit einer Erkrankung wur- trollüberzeugungen. Internale Konrollüberzeugung
de in 5 Phasen eingeteilt, die vor allem emotional bedeutet, dass jemand überzeugt ist, dass er durch
unterschiedlich geprägt sind: eigenes Tun Einfluss nehmen kann. Externale Kon-
4 1. Phase: Schock/Verleugnung, trollüberzeugung hingegen beinhaltet, dass ein
4 2. Phase: Aggression (»Warum gerade ich?«), Mensch davon ausgeht, dass andere Menschen (ex-
4 3. Phase: Depression, ternal, personal), z. B. Ärzte oder Pfleger oder die
4 4. Phase: Verhandeln, Umwelt (external, situativ), z. B. vom Zufall oder
4 5. Phase: Akzeptanz. Schicksal bestimmend sind.
9.3 · Psychologische Grundlagen des Handelns in pflegerischen Arbeitsfeldern
161 9

Eine internale Kontrollüberzeugung ist eine Res- anzugehen. Dies entspricht dem Geschlechtsrollens-
source für die Krankheitsbewältigung bzw. ein ge- tereotyp, der Frauen eine passivere Rolle zuschreibt.
sundes Leben. Menschen, die glauben, ihr Leben Diese Art des Umgangs mit Problemen ist jedoch
selbst in der Hand zu haben, sind gemeinhin psy- mit dem Risiko verbunden, depressiv zu werden. In
chisch stabiler und gesünder. Sie gehen erfolgreicher anderen Situationen und Phasen von Erkrankungen
mit Krisen um. Eine solche Person sieht mehr Hand- hat sich das Ablenken durchaus als hilfreich erwie-
lungsmöglichkeiten und ist damit weniger anfällig sen. Für den Umgang mit Krebserkrankungen kann
für ein depressives Aufgeben, Hoffnungslosigkeit der Druck, aktiv kämpfen und stark sein zu müssen,
und Demoralisierung. ein weiterer Stressor sein. Wir müssen also genauer
Internale Kontrollüberzeugung ist auch wich- hinsehen, wann Aktivität und wann Akzeptanz ge-
tig dafür, positive Erwartungen zu mobilisieren. sünder ist. Das bringt uns zu der Weisheit zurück,
Hoffnung ist heilsam. In der Psychotherapie wird anzuerkennen, was wir ändern können und was wir
z. B. Erwartungseffekten des Patienten eine ebenso nicht ändern können und das eine vom anderen un-
große Rolle beigemessen wie der Technik, die der terscheiden zu lernen.
Therapeut anwendet (Miller, Duncan u. Hubble,
2000). Wenn wir Menschen in der Bewältigung ei- Umgang mit Stigma
ner Krankheit unterstützen wollen, müssen wir also Für die Bewältigung einer psychischen Krankheit ist
ihre eigenen Ressourcen aktivieren (Brody u. Brody, das Selbstwertgefühl des Patienten, sein Selbstbild
2002). zentral. Oftmals wird die Diagnose einer psychi-
schen Krankheit als stigmatisierend erlebt. Anti-Stig-
Formen von Coping ma-Arbeit ist daher ein wichtiger Faktor, Menschen
Es werden zwei Arten der Krankheitsbewältigung bei der Bewältigung einer Krankheit zu helfen. Ein
unterschieden: das problembezogene Coping und das erster Schritt ist es hierbei, dem anderen das Gefühl
emotionsbezogene Coping. Problembezogenes Co- zu vermitteln, wertvoll zu sein und wahrgenommen
ping bezieht sich direkt auf das Problem, das es zu zu werden. Wie wir gesehen haben, ist dies keine
lösen gilt. Auf eine Krankheit bezogen, bedeutet selbstverständliche Aufgabe. Manchmal kann eine
das, dass die Betreffenden Informationen über die Diagnose den Blick auf den Menschen verstellen.
Krankheit suchen. Sie versuchen aktiv, Veränderun- Krankheitsbewältigung in psychiatrischen Arbeits-
gen herbeizuführen. feldern kann daher bedeuten, Scham überwinden zu
Emotionsbezogenes Coping hingegen ist auf die helfen. Dies kann einmal durch Aufklärung und In-
eigenen Emotionen bezogen. Hier versuchen die Be- formationsvermittlung geschehen (Anti-Stigma-
treffenden, ihr Befinden zu beeinflussen. Sie lenken Kampagnen). Aber auch der alltägliche Kontakt
sich ab, hören Musik, versuchen, sich zu entspannen. kann Stigma entgegenwirken, wenn er denn voller
Auch das Reden über Gefühle, die beispielsweise Wärme, Akzeptanz, Offenheit und Neugier auf den
wahrgenommen wurden, als die Diagnose verkün- anderen und dessen Welt ist.
det wurde, ist entlastend. So erleben es viele Patien-
ten als schwierig, wenn gleich nach Lösungen ge- Soziale Aspekte von Krankheitsbewältigung
sucht wird (»Wie soll es weitergehen?«). Hilfreicher Am Beispiel Stigma wird deutlich, dass Krankheits-
für die Patienten ist es, ihnen vorerst zu gestatten, die bewältigung nicht nur ein innerpsychischer Prozess
Gefühle aussprechen zu können und zu verarbeiten, ist. Vielmehr findet jede Auseinandersetzung mit
die sie in Anbetracht der Krankheit haben. Oft müs- Krankheit in einem sozialen Rahmen statt und in
sen sie auch ermutigt werden, dies zu tun. einem sozialen Netz mit Bezugspersonen, die für den
Langes Grübeln statt Handeln allerdings kann Betreffenden von Bedeutung sind. Dieses soziale
eher zu Depression führen als zur Lösung eines Pro- Netz kann sowohl eine unterstützende als auch eine
blems. Diese Art des Umgangs mit Problemen wur- problemstabilisierende Wirkung haben. Beispiels-
de v. a. bei Frauen gefunden. Sie neigen dazu, ihr ei- weise können enge Beziehungen uns Fürsorge und
genes Verhalten zu hinterfragen und Situationen im- Rückhalt geben, gleichzeitig aber auch Konfliktpo-
mer wieder im Kopf durchzuspielen statt aktiv tenzial bergen. Wichtig für die Krankheitsbewälti-
162 Kapitel 9 · Psychologische Grundlagen psychiatrischer Pflege

gung sind Informationen, Haltungen und Feedback Ziel ist es also, die hilfreichen Strategien zu fördern
von außen. Beispielsweise kann Demoralisierung und dasjenige Umfeld zu finden, welches der einzel-
und Hoffnungslosigkeit entstehen, wenn auf Bemü- ne als unterstützend erlebt.
hungen zur Bewältigung keine Reaktion erfolgt. Be-
mühungen bleiben dann unbeantwortet, führen
nicht zum Erfolg. 9.3.3 Krisenintervention
Ein wichtiger Faktor für die Bewältigung einer
Krankheit ist demnach die soziale Unterstützung. Charakteristischerweise besteht in einer Krise ein
Menschen, die sich in einem sozialen Netz aufgeho- besonderes Missverhältnis zwischen der äußeren
ben fühlen, haben bessere Chancen, mit Krisen und Situation und den inneren Bewältigungsmöglichkei-
Krankheiten umzugehen. Dies kann einmal die ten eines Menschen. Nicht jedes schwere Ereignis
emotionale Unterstützung betreffen, die sie bekom- führt also zur psychischen Krise. Krisenintervention
men. Es kann aber auch um instrumentelle Unter- kann nicht eine umfassende psychotherapeutische
stützung gehen. Das kann Geld, Zeit oder Unterstüt- Behandlung ersetzen. Sie ist Hilfe im Notfall.
zung in der Kinderbetreuung, im Haushalt oder bei Das Wort Krisenintervention wird daher häufig
der Suche nach Arbeit sein. Auch die Fahrt zum Arzt auch im Zusammenhang mit Erster Hilfe benutzt.
oder Einkaufen kann als unterstützend betrachtet Hier stellt sie eine präventive Maßnahme gegen die
werden. Solche sozioökonomischen Ressourcen posttraumatische Belastungsstörung dar. Es betrifft
werden oftmals übersehen. Sie können aber manch- die Arbeit mit Menschen, die unmittelbar unter den
mal genau den Unterschied ausmachen, ob jemand Auswirkungen einer extremen psychischen Erfah-
9 psychisch erkrankt, ob er eine Behandlung aufsucht rung (wie z. B. einem schweren Unfall, Tod einer
und ob er eine Krankheit bewältigen kann. Wir wis- nahe stehenden Person oder Gewalterfahrung) lei-
sen heute, dass Armut krank macht und dass Isolati- den. Sie entwickeln eine Belastungsreaktion. Dies
on krank macht. Genau auf diese Faktoren müssen äußert sich in Form von subjektiv erlebter Hilflosig-
wir achten, wenn wir Menschen in der Bewältigung keit und Orientierungslosigkeit. Die Wahrnehmung
einer Krankheit unterstützen wollen. Soziale Fakto- und Konzentrationsfähigkeit sind eingeschränkt. Es
ren für eine erfolgreiche Krankheitsbewältigung können starke Gefühlsschwankungen auftreten;
sind: Angst, Verzweiflung, Wut, Aggression und andere
4 soziale Unterstützung, Emotionen wechseln sich spontan ab. Einige Szenen
4 verlässliche Beziehungen, des Ereignisses können sich in das Gedächtnis
4 sozioökonomische Ressourcen, einprägen und drängen sich später in der Erinne-
4 gesellschaftliche Teilhabe (Zugang zu Informa- rung auf. Das Ereignis wird als unwirklich und wie
tionen und Ressourcen). im Traum erlebt (dissoziiert). Betroffene Menschen
beschreiben dies mit den Worten, dass sie »neben
Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung kann sich stehen« und das Ereignis noch nicht realisieren.
auf allen 3 Ebenen, der biologischen, der psychi- Die Symptome der akuten Belastungsreaktion sind
schen und der sozialen gegeben werden. Auf der zunächst eine normale Reaktion auf ein unnormales
biologischen Ebene geht es um eine angemessene Ereignis. Allerdings kann sie chronifizieren und zu
Behandlung und die Ermöglichung eines gesunden einer Erkrankung werden. Um dem entgegenzuwir-
Lebens. Auf der psychischen Ebene geht es um die ken leistet man Krisenintervention im Sinne von
Stärkung der Selbstheilungskräfte und Ressourcen Erster Hilfe und dies möglichst zeitnah zu dem kri-
des Menschen sowie um Sinnfindung. Auf der sozi- senhaften Ereignis.
alen Ebene geht es um die soziale Einbettung und die
Aufhebung von Isolation. Alle Ebenen sind mitein- Prinzipien eines hilfreichen Verhaltens
ander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. im Notfall
Auch ohne therapeutische Begleitung finden Men- Praktisch geht es darum, durch unaufdringliche An-
schen Möglichkeiten des Umgangs mit ihrer Erkran- wesenheit und Präsenz dem traumatisierten Men-
kung (Bock, 1997). Coping findet also immer statt. schen die Erfahrung zu ermöglichen, dass seine Re-
9.3 · Psychologische Grundlagen des Handelns in pflegerischen Arbeitsfeldern
163 9

aktion und das unerträgliches Leid von anderen gen sollten überprüft werden, ob das, was der Sui-
Menschen ausgehalten werden können. Besonders zidgefährdete sich vornimmt, auch nicht zu schwer
in dieser ersten Phase der Betreuung liegt der Akzent für ihn ist.
auf einer engagierten Präsenz eines anderen Men- Zum Weiterlesen empfehlen wir zwei Bücher
schen. Dazu muss man sich zuerst bemerkbar ma- (Kunz, Scheuermann u. Schürmann, 2004 und Fer-
chen. Man nimmt eine für den Betroffenen mög- tig u. Wietersheim, 1994).
lichst wenig bedrohliche Haltung ein (Helfer auf der
! Krisenintervention ersetzt nicht Psychothera-
sitzenden oder liegenden Ebene des Betroffenen
pie. Ein Ziel der Krisenintervention ist die
werden als weniger bedrohlich erlebt). Gleichzeitig
emotionale Stabilisierung des Betroffenen.
positioniert man sich möglichst zwischen dem Be-
troffenen und eventuellen Zuschauern, um ihn zu
schützen. Der Helfer sollte zum Gespräch bereit 9.3.4 Angehörigenarbeit
sein, sich aber nicht aufdrängen. Der Wunsch und
der Kommunikationsstil des Betroffenen sind zu Angehörigenarbeit bewegt sich immer zwischen den
respektieren. Manch Betroffener möchte gern ab- Interessen und der Therapie des Erkrankten und den
gelenkt werden, ein anderer braucht am nötigsten Interessen und dem Wohlergehen der Angehörigen
einen geduldigen Zuhörer. Auf jeden Fall müssen (Bischkopf, 2005). Die Angehörigenarbeit ist also
Vorwürfe vermieden werden. Das Ziel der Betreu- nicht von alleiniger Bedeutung für den Patienten,
ung liegt darin, dass der traumatisierte Betroffene sondern auch für die Angehörigen selbst.
seine Handlungsfähigkeit wiedergewinnt und er bei Seit Mitte der 50er Jahre wird im Rahmen der
der ersten Bewältigung seiner Eindrücke und der sozialen Psychiatrie untersucht, welche Belastungen
emotionalen Stabilisierung unterstützt wird. Weiter Angehörige psychisch Kranker erleben und wel-
ist es ein Anliegen, unmittelbar zur Verfügung ste- chen Einfluss das Zusammenleben mit einem psy-
hende Ressourcen gemeinsam mit ihm zu erschlie- chiatrischen Patienten auf die Familie und das
ßen und für ihn nutzbar zu machen (Wo kann man Wohlbefinden der einzelnen Familienmitglieder
sich hinwenden?). hat. »Caregiver-Burden« untersucht speziell die Aus-
wirkungen einer Erkrankung auf die Personen, die
Verhalten bei Suizidgefahr eine Pflege- bzw. Unterstützungsfunktion für den
Ein besonderer Fall der Krisenintervention ist das Kranken ausüben (Familienmitglieder, Freunde,
Verhalten bei Suizidgefährdung. Auch hier ist es Pflegepersonen). Für einen Überblick über familiäre
wichtig, den Suizidgefährdeten nicht zu bedrängen Belastungen bei verschiedenen psychiatrischen
und keine Vorwürfe zu machen. Man nimmt den Krankheiten verweisen wir auf Jungbauer, Bischkopf
anderen Menschen als selbstverantwortlich ernst, u. Angermeyer (2001).
indem man ihm zeigt, dass das Recht auf den Tod Das Einbeziehen der Angehörigen in die psy-
als eine mögliche Lösung anerkannt wird. Es geht chiatrische Arbeit ist aus 3 Gründen unerlässlich:
nicht vorrangig darum, die Verzweiflung zu mil- 4 Angehörige psychiatrischer Patienten haben
dern, sondern den Grund dafür zu erfassen. Etwas ein erhöhtes Risiko belastungsbedingte Krank-
zu tun, hat für einen Suizidgefährdeten zumeist heiten zu entwickeln. Angehörigenarbeit kann
Entlastungscharakter. Man kann also versuchen, dieses Risiko mildern und Entlastungsangebote
Bedürfnisse zu wecken (Essen, Trinken, Bewegen). schaffen.
Im Gespräch kann man Fragen stellen, nach den 4 Das familiäre Klima ist ein wichtiger Faktor für
Gründen (der Wahrnehmung von Zusammenhän- den Therapieerfolg und die Rückfallprophylaxe
gen), nach früheren Krisen (als Potenzial für Lö- bei psychiatrisch erkrankten Menschen. Ange-
sungsmöglichkeiten), nach Zweifeln (gibt es nur hörigenarbeit kann aufklären und helfen, güns-
den Suizid als Lösung). Falls man den Suizidgefähr- tige Formen des Umgangs mit der Krankheit in
deten allein lassen muss, ist die Frage zu klären, was der Familie zu finden.
er bis zum Kontakt mit dem nächsten Professionel- 4 Die therapeutische Behandlung selbst kann auf
len (z. B. bis morgen) tun kann. Die Vereinbarun- das Paar oder die Familie abzielen mittels Verän-
164 Kapitel 9 · Psychologische Grundlagen psychiatrischer Pflege

derungen, z. B. in deren Struktur, Kommunika- rechtigte Dialog und der Austausch von Perspek-
tion und emotionaler Verbundenheit. In diesem tiven.
Verständnis sind Angehörigenarbeit und Thera-
pie verwoben (z. B. in der Paar- und Familien- Trialog
therapie). Der gleichberechtigte Austausch über Erfahrungen,
Wissen und Meinungen wurde als Trialog (Baumann
Die häufigsten Formen der Arbeit mit Angehörigen u. Lürßen, 1992) beschrieben. Diese Art des Zusam-
sind: menseins hat sich besonders im Bereich der Psycho-
4 Psychoedukation: Aufklärung über die Krank- sen als sog. Psychoseseminare etabliert (Bock, 2000).
heit, deren Entstehung, Therapie und Folgen, Sie beruhen auf Erfahrungsaustausch, Wissens-
4 Trialog: Zusammenarbeit von Betroffenen, Fa- und Fähigkeitserwerb, Initiierung von Aktionen zu
milien und Behandlern, kommunal relevanten Themen und soziale Aktivitä-
4 Angehörigenberatung. ten (Zaumseil, 1998). Obwohl Gruppengespräche
auch das Potenzial für eine Vernetzung verschiede-
Psychoedukation ner Sicht- und Erlebensweisen zu haben scheinen,
Ziel von Psychoedukation ist es, mehr über die Er- unterscheiden sie sich von den Psychoseseminaren.
krankung zu erfahren und damit kompetenter zu Sie sind im Gegensatz zu den Psychoseseminaren
werden in der Erkennung von individuellen Früh- institutionell gebunden und haben explizit thera-
warnzeichen, Symptomen und hilfreichen Um- peutische Funktion. Verhandeln, Bildung und Be-
gangsstrategien. Häufig geht es auch darum, thera- gegnung hingegen werden in den Psychosesemina-
9 peutische Maßnahmen besser einordnen und ihnen ren dem Behandeln entgegengesetzt (Zaumseil,
folgen zu können. Studien zufolge kann Wissen und 1998).
Information über die Erkrankung Stress reduzieren
und Wissenserwerb ist meist der erste Schritt in der Angehörigenberatung
Auseinandersetzung mit der Erkrankung sowohl Im Vergleich zu Psychoedukation und Modellen des
für die Patienten als auch für die Angehörigen. Der Dialogs, Trialogs und der Partizipation kann in der
Fokus liegt auf der Bildung, d. h. dem Erlernen be- Angehörigenberatung mit dem einzelnen Angehöri-
stimmter Inhalte, die von Experten vermittelt wer- gen oder mit spezifischen Angehörigengruppen
den. Dies bietet aber auch potenzielle Gefahren, gearbeitet werden. Vereinfacht ausgedrückt, steht
beispielsweise: in psychoedukativen Programmen die Krankheit
4 der spezifischen Situation des Einzelnen zu we- im Mittelpunkt, über die Wissen und Formen des
nig Raum zu geben, Umgangs vermittelt werden. In Modellen des Dia-
4 verschiedene Angehörigengruppen zusammen- logs, Trialogs und der Partizipation geht es um einen
zubringen, ohne auf ihre verschiedenen Bedürf- Austausch von Perspektiven und Erfahrungen in
nisse eingehen zu können, der Gruppe mit unterschiedlichem Hintergrund in
4 eine Expertensicht, z. B. Wissen über pharmako- Bezug zur Krankheit (Angehörige, Patienten, Be-
logische Prozesse zu betonen und psychosoziale handler).
Perspektiven, wie Beeinträchtigungen der Ar- Mit der Bezeichnung Angehörigenberatung ist
beitsfähigkeit, der Freizeit, des sozialen Netzes die Beratung der Angehörigen gemeint mit dem
und die Folgen für die Familie zu vernachlässi- Ziel, ihre Situation, Bedürfnisse und Erfahrungen zu
gen (Müller u. Luderer, 1999), verstehen und mit ihnen gemeinsam Strategien des
4 spezifische Wirkfaktoren der Gruppenarbeit zu Umgangs und Zusammenlebens mit dem Erkrank-
wenig zu nutzen, z. B. emotionale Entlastung ten zu finden. Hier würden die Angehörigen selbst
durch Austausch und Teilhabe sowie Empower- im Mittelpunkt stehen. Beispiele sind Selbsthilfe-
ment durch Vernetzung und Initiative. gruppen oder Angebote der Angehörigenverbände.
Für ein klientenzentriertes Beratungskonzept für
Der Psychoedukation wurde ein anderes »Auf- Angehörige depressiver Patienten siehe Bischkopf
klärungsmodell« gegenübergestellt: der gleichbe- (2005).
9.3 · Psychologische Grundlagen des Handelns in pflegerischen Arbeitsfeldern
165 9
9.3.5 Psychotherapeutische Ansätze ristischen Psychologie. Der Ansatz stellt einen Zu-
sammenhang her zwischen dem Verhalten des Pati-
Psychiatrische Gesundheits- und Krankenpflege ist enten und den aufrechterhaltenden Bedingungen
interdisziplinär organisiert. Für eine erfolgreiche sowie Konsequenzen dieses Verhaltens. Daher steht
Zusammenarbeit mit anderen Therapeuten sind am Anfang der Therapie zumeist eine Verhaltens-
Grundkenntnisse psychotherapeutischer Ansätze analyse. Es wird nach den auslösenden Bedingungen
notwendig. Wir wollen daher einen Exkurs in diesen für das (problematische) Verhalten gesucht, das
Bereich unternehmen. konkrete Verhalten wird beschrieben und die Kon-
sequenzen des Verhaltens werden betrachtet. Man
Tiefenpsychologische Ansätze geht davon aus, dass so wie psychische Störungen
Der Tiefenpsychologische Ansatz ist eine zusam- durch Lernprozesse entstehen, diese auch durch
menfassende Bezeichnung für alle Richtungen, wel- Lernprozesse therapiert werden können. Therapie-
che die Bedeutung des Unbewussten in den Mittel- ziel ist hauptsächlich die Symptomfreiheit und der
punkt der Therapie stellen. Man bezeichnet die Erwerb von Kompetenzen. Besondere Techniken
Richtung auch als psychodynamisch orientiert. Als der Verhaltenstherapie sind Reizkonfrontationsthe-
Antriebsquelle unseres Handelns wird das Unbe- rapien (systematische Desensibilisierung, Implosi-
wusste verstanden. Die Energie eines Menschen on, Habituationstraining, Flooding) oder verschie-
kommt aus den Trieben. Man geht davon aus, dass es dene Verstärkungs- und Schwächungstechniken
für alles eine Ursache gibt. Besonders der frühkind- (Token-Systeme). Als spezielle Strömungen wurden
lichen Entwicklung wird große Bedeutung beige- vor allem die Rational Emotive Therapie nach Albert
messen. Therapieziel ist, Einsicht in unbewusste Ellis und die Kognitive Verhaltenstherapie (Aaron T.
Konflikte zu gewinnen. Grob umrissen beinhaltet Beck, Donald Meichenbaum) bekannt. Moderne
eine tiefenpsychologisch orientierte Therapie das Formen der Verhaltenstherapie versuchen Gefühle
Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. des Patienten und soziale Beziehungen stärker mit
Am bekanntesten ist die Psychoanalyse durch einzubeziehen.
Sigmund Freud (1856–1939). Generell geht die Psy-
choanalyse davon aus, dass schwere, unverarbeitbare Humanistische Ansätze
Erfahrungen in der Kindheit verdrängt werden müs- Die humanistischen Ansätze der Psychotherapie
sen, weil die kindliche Persönlichkeit diese nicht sind dem Therapieziel des Wachstums der Persön-
ertragen könnte. Kein Kind kann z. B. längere Zeit lichkeit und der Selbstentfaltung verpflichtet. Wahr-
ertragen, von Mutter oder Vater nicht geliebt zu nehmung und Erleben werden im »Hier und Jetzt«
werden. Verdrängte Erfahrungen und unverarbeite- aktiviert. Dabei werden die therapeutische Bezie-
te Anteile einer Lebensgeschichte schränken aber hung und die Rolle von Emotionen für Verände-
die Persönlichkeit ein oder führen zu unangemesse- rungsprozesse in der Psychotherapie betont.
nem Verhalten, Störungen oder Erkrankungen. Die Nach Carl Rogers, dem Begründer der Klienten-
Psychoanalyse heilt durch Bewusstmachung des zentrierten Psychotherapie (Gesprächspsychothera-
Verdrängten. pie), ist eine Therapie dann erfolgreich, wenn der
Einige andere Namen und therapeutische An- Therapeut dem Klienten mit Echtheit, bedingungs-
sätze, die in das Feld der tiefenpsychologisch orien- loser Wertschätzung und Empathie begegnet. Ist
tierten Therapien eingeordnet werden, sind: Alfred eine therapeutische Beziehung davon getragen, kann
Adler, Carl Gustav Jung, die Katathym-Imaginative sich der Klient seinem Erleben angstfrei zuwenden
Psychotherapie nach Hanscarl Leuner (auch als und es besser verstehen. Der Zugang zu den eigenen
Katathymes Bilderleben bekannt) sowie die tiefen- Gefühlen wird als Schlüssel für ein gesundes und er-
psychologisch fundierte Psychotherapie. fülltes Leben angesehen. In der Klientenzentrierten
Psychotherapie wird davon ausgegangen, dass wir
Verhaltenstherapeutische Ansätze vieles von dem, was in uns vor sich geht, vorschnell
Die Verhaltenstherapie hat ihren Ursprung in den bewerten oder gar nicht mehr wahrnehmen. Das
Lerntheorien. Sie ist die Anwendung der behavio- rührt oftmals von einer Erziehung her, in der nur
166 Kapitel 9 · Psychologische Grundlagen psychiatrischer Pflege

einige Gefühle und Bedürfnisse akzeptabel und an- Systemische Ansätze


dere unakzeptabel waren. Macht der Klient in der Erkrankungen, Störungen und Probleme werden
Psychotherapie nun die Erfahrung, dass der Thera- hier unter dem Aspekt der daran beteiligten Systeme
peut alle seine Gefühle und Bedürfnisse zunächst betrachtet. Systeme können z. B. Familien, soziale
bedingungslos annimmt, wird er selbst auch akzep- Netzwerke oder auch ein Paar sein. Der Fokus ist auf
tierender mit sich umgehen. Die Selbstakzeptanz der Interaktion der Mitglieder eines Systems. Man
wird als zentral angesehen, damit wir wirklich den geht davon aus, dass ein (problematisches) Symptom
nächsten Schritt in unserer Entwicklung gehen kön- oder die Erkrankung eines Patienten eine Funktion
nen. Solange wir darum kämpfen, ein anderer zu in einem System besitzt. Der Patient wird nicht als
sein als wir sind, werden wir unsere individuell ein- krank oder gestört betrachtet, sondern schlicht als
zigartigen Möglichkeiten nicht ausschöpfen. Psychi- »Symptomträger«. Die systemische Therapie dient
sche Störungen sind in diesem Verständnis Entwick- daher nicht zuerst der Symptomfreiheit sondern
lungsblockaden. eher der Verdeutlichung und der Veränderung der
Die Gestalttherapie wurde ursprünglich von Interaktions- und Beziehungsmuster in einem Sys-
Fritz und Laura Perls begründet. Durch die Arbeit tem.
im Hier und Jetzt soll der Kontakt des Klienten mit Besondere Techniken der systemischen Thera-
sich und der Umwelt gefördert werden, die Selbst- pie sind z. B. verschiedene Fragetechniken (das zir-
heilungskräfte des Patienten freigelegt und neue kuläre Fragen, ressourcenorientiertes Fragen, hypo-
Einsichten und Erfahrungen erschlossen werden. thetisches Fragen), das Reframing (Umdeuten),
Damit steht bei den meisten gestalttherapeutischen Techniken zur Veranschaulichung von Familien-
9 Verfahren die Erlebnisorientierung im Mittelpunkt strukturen, wie das Genogramm oder das Aufstellen
des Geschehens. Der Klient wird also direkt aufge- von Systemen (z. B. als Familienskulptur).
fordert, wahrzunehmen, auszudrücken und zu ver- Auch innerhalb der systemischen Therapie gibt
stehen, was in ihm vor sich geht. Eine Verbindung es verschiedene Konzepte. Die strukturelle Fami-
von klientenzentrierter Beziehungsgestaltung und lientherapie (Minuchin) geht davon aus, dass es be-
gestalttherapeutischen Techniken wurde in der stimmte Strukturen einer gut funktionierenden Fa-
Emotionsfokussierten Therapie entwickelt (Green- milie gibt, welche es in der Therapie zu gestalten gilt.
berg, Rice u. Elliott, 2003). Die systemische Familientherapie (basierend auf
Die Hypnotherapie wurde durch Milton Erick- den Arbeiten der sog. Mailänder Gruppe) fokussiert
son begründet. Es handelt sich um eine Thera- eher auf die Funktionalität des Symptoms. Zudem
pieform, bei welcher der Therapeut den Klienten un- kann man die Lösungsorientierte Kurzzeittherapie
terstützt, in einen Trancezustand zu gehen. In die- (Steve de Shazer) abgrenzen.
sem Zustand ist die Kontrolle des Bewusstseins des
Klienten verringert. Daher ist der Zugang zu Infor- Körperorientierte Ansätze
mationen oder kreativen Veränderungsmöglichkei- Den recht verschiedenen Ansätzen ist der Körper als
ten in Trance leichter möglich. Der Therapeut kann Ansatzpunkt der Therapie gemeinsam. Mit jeweils
nun mit dem Klienten in der Trance neue Ideen, Bil- spezifischen Körperübungen wird die Sensibilität
der, Metaphern für Lösungsmöglichkeiten von Pro- für den eigenen Körper gesteigert. Die Erfahrungen
blemen erarbeiten. Im Gegensatz zur klassischen aus der Arbeit mit dem Körper werden als Infor-
Hypnose bleibt die Kontrolle über den Prozess voll- mationsquelle und als Erklärung für psychisches
kommen beim Klienten. Befinden genutzt. Der Körper wird auch als Medium
Weitere humanistische Ansätze sind die Logo- betrachtet, durch den man Veränderungen auf psy-
therapie (Viktor Frankl), Integrative Therapie (z. B. chischer Ebene initiieren kann.
nach Hilarion Petzold), das Psychodrama (Jakob Bekannte Verfahren sind neben vielen anderen
Levy Moreno) und verschiedene Therapien, die den die Bioenergetik (Alexander Lowen) und die Reichi-
Selbstausdruck fördern, wie die Kunst-, Schreib- anische Körperarbeit oder Charakteranalyse (Wil-
und Tanztherapie. helm Reich).
Literatur
167 9
Schlussbemerkung 4 Wie wird im Interaktionalen Stressmodell nach
Die Psychologie ist eine faszinierende Wissenschaft, Lazarus Stress erklärt? 7 Kap. 9.3.1
die Wissen für viele Anwendungsbereiche zur Ver- 4 Was ist Coping? 7 Kap. 9.3.2
fügung stellt. Die Sprache der Theorie ist wie die 4 Welche Ansätze der Psychotherapie gibt es?
jeder anderen Wissenschaft oft nur »Eingeweihten« 7 Kap. 9. 3.5
zugänglich. Die Erkenntnisse häufig auf viele Fach-
journale verstreut. Lange und abstrakte Definitio-
Literatur
nen oder Experimente scheinen oft weit vom tat-
Baumann KS, Lürßen M (1992) Lebensraum Familie: Situation
sächlichen Leben entfernt zu sein. So weiß die fÖ- von Angehörigen. In: Bock T, Weigand H (Hrsg) Handwerks-
fentlichkeit nach wie vor relativ wenig über die buch Psychiatrie. Psychiatrie-Verlag, Bonn 173
tatsächlichen psychologischen Themen, Methoden Bock T (1997) Lichtjahre. Psychosen ohne Psychiatrie. Krank-
und Erkenntnisse. heitsverständnis und Lebensentwürfe von Menschen mit
Wir sind uns bewusst, dass dieses Kapitel nur unbehandelten Psychosen. Psychiatrie-Verlag, Bonn
Bock T (2000) »Es ist normal, verschieden zu sein«: Psy-
einen sehr verkürzten Einblick in ausgewählte The- chose Seminare – Hilfen zum Dialog. Psychiatrie-Verlag,
men und Erkenntnisse bieten kann. Wir wollen je- Bonn
doch neugierig machen und zum weiteren Selbststu- Bourne L, Ekstrand BR (2001) Einführung in die Psychologie.
dium anregen. Ein umfassendes und gut lesbares Klotz, Eschborn
Lehrbuch ist das von Bourne und Ekstrand (2001), Bischkopf J (2005) Angehörigenberatung bei Depression. Rein-
hardt, München
sowie das von Zimbardo und Gerring (2000). Eine
Brody H, Brody D (2002) Der Placebo-Effekt. Deutscher Taschen-
gute Einführung in psychotherapeutische Ansätze buch Verlag, München
bietet Kriz (2001). Interessierte an Beratung und Damasio A (2002) Ich fühle, also bin ich. List, München
Therapie werden v. a. das Buch von Miller, Duncan Ekman P (1973) Darwin and facial expression: A century of
und Hubble (2000) aufschlussreich finden. Weitere research in review. Academic Press, New York
Fertig B, Wietersheim H (1994) Menschliche Begleitung und
Themen der Sozialpsychologie finden sich z. B. in
Krisenintervention im Rettungsdienst. Ein Arbeitsbuch
Mann (2001). Alle Bücher sind im Literaturverzeich- für Ausbildung und Praxis. Stumpf & Kossendey, Ede-
nis aufgeführt. wecht
Unsere Einführung in die psychologischen Greenberg LS, Rice L, Elliott R (2003) Emotionale Veränderung
Grundlagen der psychiatrischen Gesundheits- und fördern. Junfermann, Paderborn
Izard CE (1999) Die Emotionen des Menschen. Beltz, Wein-
Krankenpflege haben wir entlang der drei großen
heim
Bereiche: Begreifen, Erkennen, Handeln geschrie- Jungbauer J, Bischkopf J, Angermeyer MC (2001) Belastungen
ben. Dies kann auch leitend sein für ein kritisches von Angehörigen psychisch Kranker: Entwicklungslinien,
Denken, welches wir unterstützen möchten. Das Konzepte und Ergebnisse der Forschung. In: Psychiat Prax
betrifft u. a. folgende Fragen: Worüber sprechen 28: 105
wir eigentlich? Was genau meinen wir mit bestimm- Kriz J (2001) Grundkonzepte der Psychotherapie. Beltz, Wein-
heim
ten Begriffen? Woher wissen wir, was wir wissen?
Kunz S, Scheuermann U, Schürmann I (2004) Kriseninterven-
Was kann man mit diesem Wissen tun? Wie kann tion. Ein fallorientiertes Arbeitsbuch für die Praxis und
man es in die Praxis umsetzen? Wie kann man die Weiterbildung. Juventa, Weinheim
Praxis damit besser verstehen oder erklären? Ein Lazarus RS (1985) The psychology of stress and coping. In:
solcher Blickwinkel kann hilfreich sein für das Issues in Mental Health Nursing 7: 399
LeDoux J (2001) Das Netz der Gefühle. Deutscher Taschenbuch
weitere Studium, die Projektarbeit und einen erfolg-
Verlag, München
reichen Berufsalltag in psychiatrischen Arbeitsfel- Mann L (2001). Sozialpsychologie. Beltz, Weinheim
dern. McCrae RR, Costa PT (1987) Validation of the five-factor model
of personality across instruments and observers. In: J Pers
Überprüfen Sie Ihr Wissen! Social Psychol 52: 81
Miller SD, Dunca BL, Hubble MA (2000) Jenseits von Babel.
4 Auf welchen drei Ebenen lassen sich Emotionen
Wege zu einer gemeinsamen Sprache in der Psychothera-
beschreiben? 7 Kap. 9.1.2 pie. Klett-Cotta, Stuttgart
4 Wie ist das Gedächtnis aufgebaut? 7 Kap. 9.1.6 Miller WR, Rollnick S (2005) Motivierende Gesprächsführung.
4 Was sind typische Urteilsfehler? 7 Kap. 9.2.1 Lambertus, Freiburg
168 Kapitel 9 · Psychologische Grundlagen psychiatrischer Pflege

Müller J, Luderer HJ (1999) DEWIPA – Ein standardisiertes


Verfahren zur Erfassung des Wissens über Symptome,
Ursachen und pychopharmakologische Behandlung bei
Patienten mit depressiven Episoden. In: Psychiat Prax
26: 167
Oerter R, Montada L (2002) Entwicklungspsychologie. Beltz,
Weinheim
Prochaska JO, Norcross JC, DiClemente CC (1997) Jetzt fange
ich neu an. Droemer Knaur, München
Prochaska JO, DiClemente CC (1982) Transactional theory:
Toward a more integrative model of change. In: Psychothe-
rapy 19: 277
Zaumseil M (1998) Psychoseseminare – ein Puzzle theoreti-
scher Bausteine. In: Geislinger R (Hrsg) Experten in eigener
Sache: Psychiatrie, Selbsthilfe und Modelle der Teilhabe.
Zenit, München 191

9
10

10 Pflegeinterventionen
Jeannette Bischkopf (Kap. 10.3), Mirjam Gaßmann (Kap. 10.5),
Ilona Hippold (Kap. 10.4), Sibylle Linke (Kap. 10.1 u. Kap. 10.2),
Werner Marschall (Kap. 10.5), Astrid Sonntag (Kap. 10.3),
Helmut Thiede (Kap. 10.6)

10.1 Beziehung Patient und Pflegekraft – 172


10.1.1 Erwartungen an die Pflegende-Patienten-Beziehung – 173
10.1.2 Die kongruente Beziehungspflege – 173
10.1.3 Beziehungsbehinderungen – 174
10.1.4 Phasen einer Beziehung – 175
10.1.5 Beziehungspflegeplanung und Beziehungsdiagnose – 177
10.1.6 Einfluss der Krankenhaus-, Ablauf- und Organisationsstruktur auf die Beziehung – 177
10.1.7 Abgrenzung Beziehungsarbeit – Bezugspflege – 178

10.2 Nähe und Distanz – 178


10.2.1 Selbstpflegerische Interventionen – 179

10.3 Gruppenarbeit – 179


10.3.1 Was macht Gruppenarbeit aus? – 179
10.3.2 Rahmenbedingungen für die Arbeit mit Gruppen – 181

10.4 Aggressionsmanagement – Deeskalationsstrategien – 183


10.4.1 Allgemeines zur Psychologie von Eskalationen – 183
10.4.2 Allgemeines zur Deeskalation – 183
10.4.3 Erklärungsmodelle für Aggressionshandlungen und Eskalationen – 183
10.4.4 Aggressions- und Sicherheitsmanagementkonzepte – 184

10.5 Zusammenarbeit mit ambulant-komplementären


Einrichtungen – 186

10.6 Soziotherapie nach § 37a SGB V – 188


10.6.1 Einleitung – 188
10.6.2 Gesetzliche Grundlage – 189
10.6.3 Arbeit des Soziotherapeuten – 190

Literatur – 193
170 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

) ) In Kürze geschichte eines Patienten. Über alle organisatori-


schen Leistungserbringergrenzen hinweg steht der
Zwischen Patient und Pflegekraft besteht eine pro- Patient im Zentrum der Behandlung.
fessionelle und gleichzeitig zwischenmenschliche Die Soziotherapie – eine ambulante Versorgung
Beziehung. Das in 4 Phasen verlaufende Modell von Menschen mit schweren psychischen Erkran-
der kongruenten Beziehungspflege beschreibt die kungen – wurde im Jahr 2000 rechtlich verankert.
zielgerichtete Planung der Beziehungsgestaltung Sie soll die Betroffenen in die Lage versetzen, die
durch Pflegende. Die Beziehung kann durch den erforderliche ärztliche Behandlung anzunehmen.
Patienten, der Pflegekraft und den Einfluss von § 37a SGB V regelt unter anderem, welche Patien-
Ablauf- und Organisationsstrukturen behindert ten Soziotherapie erhalten können. Behandlungs-
werden. Diese behindernden Strukturen gilt es zu plan, Maßnahmenkatalog und Leistungsumfang
erkennen und zu beseitigen. bilden den Rahmen für die praktische Arbeit. Die
Pflegende bewegen sich bei der Gestaltung Soziotherapie soll koordinierend und begleitend
der Beziehung zwischen Engagement und Distanz. unterstützen sowie durch Motivation und struktu-
Die Nähe-Distanz-Problematik seitens der Pflegen- riertes Training helfen, psychosoziale Defizite ab-
den ist durch Ambivalenz gekennzeichnet. Es gibt zubauen.
verschiedene Ursachen für übermäßige Nähe oder
Distanz zum Patienten und selbstpflegerische In- Wissensinhalte
terventionen zum Schutz davor. Nach dem Studium dieses Kapitels haben Sie:
Pflegeinterventionen spielen sich nicht nur in 7 sich mit der professionellen und insbesonderen
der Begegnung zwischen zwei Menschen sondern zwischenmenschlichen Beziehung zum Patien-
häufig in Gruppen ab. Das Kapitel beschäftigt sich ten auseinandergesetzt
10 daher auch mit Aspekten der Psychologie der Grup- 7 Kenntnisse gewonnen über das Modell der
pe. Wir werden sehen, wie sich Gruppen zusam- kongruenten Beziehungspflege – der Möglich-
menfinden und wie sie funktionieren. Es werden keit, die Beziehungsgestaltung zielgerichtet
Denkanstöße gegeben zu nützlichen Rahmenbe- zu planen und Beziehungsbehinderungen zu
dingungen der Gruppenarbeit und einem ange- erkennen
messenen Umgang miteinander. 7 sich mit der Nähe-Distanz-Problematik seitens
Verbale und physische Übergriffe von psy- der Pflegenden befasst und seine Wahrneh-
chisch erkrankten Menschen stellen eine beson- mung für mögliche Ursachen geschärft
dere Herausforderung an alle Mitarbeitenden im 7 Anregungen für selbstpflegerische Interventio-
psychiatrischen Arbeitsfeld dar. Aus diesem Grun- nen erhalten
de und dem daraus resultierenden dringenden 7 Kenntnisse zu Gruppenbildungsprozessen
Bedarf nach hilfreichen Handlungsstrategien, In- und Rahmenbedingungen der Gruppen-
terventionen, Einschätzungsverfahren und Steue- arbeit
rungstechniken entwickeln sich seit Ende der 90er 7 Eindrücke von günstigen Umgangsregeln in
Jahre Methoden und Aggressionsmanagement- einer Gruppe
strategien, die ein geplantes, effektives Handeln im 7 Wissen über den typischen Ablauf von Grup-
Umgang mit Gewalt und Aggressionen ermögli- pensitzungen
chen. 7 Kenntnisse über eine Eskalation und Grund-
Die Zusammenführung von Strukturen und regeln deeskalierenden Verhaltens
Förderung der Zusammenarbeit der Leistungser- 7 einen Überblick über Erklärungsmodelle für
bringer im sektoral organisierten deutschen Ge- Aggressionshandlungen
sundheitswesen ist eine wichtige Voraussetzung 7 Besonderheiten und Ziele von Aggressions- und
für eine erfolgreiche Umsetzung verschiedener Sicherheitsmanagementkonzepten
Versorgungsmodelle. Der Leitgedanke der Modelle 7 Einblick in die Methode von Leo Regeer
der Versorgung befasst sich mit der prozessorien- 7 einen Überblick über die Bereiche der psychiat-
tierten Sicht auf eine Krankheit und die Krankheits- rischen Gesundheitsversorgung
10 · Pflegeinterventionen
171 10

7 Kenntnisse über die unterschiedlichen Arbeits- weiterer wesentlicher Baustein des Gesamtpro-
felder der psychiatrischen Pflege zesses.
7 allgemeine Kenntnisse über den Stellenwert der
ambulant-komplementären psychiatrischen Hilfsmittel
Versorgung Welche Hilfsmittel stehen zur Verfügung, um die
7 Wissen über den Leitgedanken der Sozio- »richtige« Maßnahme zu ergreifen?
therapie
7 Kenntnisse über die gesetzlichen Grundlagen Pflegeinterventionsklassifikation
der Soziotherapie Die Pflegeinterventionsklassifikation soll das ge-
7 einen Überblick über die praktische Arbeit der samte Spektrum pflegerischer Handlungen darstel-
Soziotherapie len, diese Aktivitäten beschreiben, und die theoreti-
sche und praktische Wissensbasis der Pflege definie-
Vorbemerkung ren und standardisieren. Die Kommunikation über
Pflegeinterventionen kann somit gefördert und die
Definition
Auswahl geeigneter Maßnahmen, durch alle in der
»Intervention« bedeutet laut Duden »Vermitt- Pflege Beschäftigten, erleichtert werden.
lung«, »Fürsprache« und »Dazwischentreten«. Der Fachbuchbereich bietet auch für den deutsch-
Pflegeinterventionen werden auch als Pflege- sprachigen Raum bereits entsprechende Literatur.
handlungen oder Pflegemaßnahmen bezeich- (z. B. »Pflegeinterventionsklassifikation« – NIC, von
net. Bulechek und McCloskey-Dochtermann, 2005, Hans
Huber Verlag).

Pflegeinterventionen sind ein Baustein des Problem- Pflegediagnosen


lösungs- und Beziehungsprozesses – dem Pflege- Pflegeinterventionen werden, wie bereits erwähnt,
prozesses (s. Kap. 6.2). Prozesse sind komplex: eine mit Pflegediagnosen verbunden (7 Kap. 16.3), um
Reihe von Tätigkeiten die ausgeführt werden, um ein pflegerische Entscheidungsfindungen im Rahmen
bestimmtes Ergebnis zu erreichen. Deshalb sind die des Pflegeprozesses zu erleichtern. Anhand der Ar-
Pflegeinterventionen im Rahmen des Pflegeprozes- beit von Townsend (2000) soll auf diese Verbindung
ses nicht isoliert zu betrachten. näher eingegangen werden.
NURSING data, ein gesamtschweizerisches Pro- Townsend erstellt eine Liste von Pflegediagno-
jekt zur Vervollständigung und Standardisierung sen, die den nach DSM IV gegliederten psychiatri-
von Informationen der Gesundheits- und Kranken- schen Krankheitsbildern zugeordnet sind. Ziele sind
pflege, definiert Pflegeinterventionen als die Ge- formuliert und zur Erreichung dieser gibt es eine
samtheit der Pflegeaktivitäten, die zur Erreichung Auswahl von entsprechenden begründeten Maß-
eines Pflegeziels geplant und umgesetzt werden. Das nahmen (= Pflegeinterventionen). Pflegeprobleme
setzt eine erste Einschätzung und Informations- (jetzt Pflegediagnosen!) sind allgemein verständlich
sammlung und die Feststellung von Problemen und und verbindlich beschrieben und dienen als Richt-
Ressourcen voraus. linie zur Erstellung von Pflegeplänen und stellen
Bulechek und McCloskey-Dochtermann defi- den Nachweis über den Zweck der angewandten
nieren Pflegeintervention weiterhin als »eine eigen- Maßnahmen dar.
ständige (autonome), wissenschaftlich begründbare Durch die Pflegediagnosen und die Zuordnung
Handlung, die ausgeführt wird, um einem Patienten der geeigneten Maßnahmen kann eine »gemeinsame
auf vorhersagbare Art und Weise einen Nutzen zu Sprache« innerhalb der Station, stations- und insti-
bringen. Die Handlung steht in Beziehung zur Pfle- tutionsübergreifend gefunden werden – die Voraus-
gediagnose und zu den festgelegten Zielen« (zitiert setzung, um gemeinsame Ziele in der Pflege zu ver-
nach Sauter et al., 2004). folgen.
Eine Überprüfung der Wirksamkeit von Pflege-
interventionen und der Zielerreichung sind ein
172 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

! Pflegediagnosen und Pflegeinterventions- Um das pflegerische Ziel – dem Patienten die


klassifikationen dienen als Hilfsmittel und passende benötige Hilfe zukommen zu lassen – zu
Orientierung: erreichen, formuliert Orlando (1996): »Die Pflege-
4 zur Pflegeplanung person muss die Initiative ergreifen, um dem Patien-
4 zum Erkennen von Gesundheitsproble- ten zu helfen, die genaue Bedeutung seines Be-
men und um diese zu benennen nehmens auszudrücken, damit sie seinen Kummer
4 zur Erleichterung der Verständigung über begreifen kann und sein Anliegen klargestellt ist.«
Pflegeprobleme und Vorgehensweisen Der Patient kann im Rahmen z. B. von Demenz,
4 zum Finden einer gemeinsamen pflege- einem akuten Krankheitsstadium, oder aufgund
spezifischen Sprache seiner Persönlichkeitsstruktur Schwierigkeiten ha-
4 um das berufliche Handeln sinnvoll zu ben, sein Anliegen und/oder seine Gefühle in Worte
ordnen zu fassen. Der nonverbalen Kommunikation muss in
diesem Zusammenhang große Bedeutung beige-
Gefahren von Pflegeinterventionsklassi- messen werden. Patienten können auch wenige oder
fikation und Pflegediagnosen schlechte Erfahrungen damit gemacht haben, sich
Um eine Definitionsmacht seitens der Pflegenden Hilfe einzufordern bzw. auf Hilfe angewiesen zu
zu vermeiden und die Individualität des einzelnen sein.
Patienten zu wahren, kann auf eine kritische Reflekti- Die Möglichkeit der körperbezogenen Interven-
on der Diagnosen und Interventionen nicht verzich- tionen soll ebenfalls Erwähnung finden: eine beson-
tet werden, bevor diese zur Anwendung kommen. dere und sensible Form der Begegnung zwischen
Die Betroffenen (Patienten) sollten in die Ent- Pflegekraft und Patient. Pflegerische Anwendungen
scheidung über die Auswahl der geeigneten pflege- über Körperkontakt und zeitliche Anwesenheit sind
10 rischen Interventionen mit einbezogen werden. beziehungsfördernd. Beispiele für körperbezogene
Interventionen sind:
! Haben Sie Respekt vor der Expertise der
4 Entspannungsübungen,
Betroffenen!
4 Aromatherapie,
In diesem Zusammenhang sollen die theoretischen 4 äußere Anwendungen (z. B. Bäder, Wickel, Ein-
Grundannahmen des Pflegeprozesses nochmals reibungen, einfache Massagen),
kurz erwähnt werden: 4 basale Stimulation und atemstimulierende Ein-
4 Der Pflegeprozess ist ein dynamisches Gesche- reibung.
hen und eine gemeinsame Wegstrecke, die Pfle-
gende mit dem Patienten gehen. Dieses Potenzial als eine Möglichkeit der Interventi-
4 Pflegende und Patienten arbeiten miteinander on sollte in das tägliche pflegerische Handeln inte-
und lernen voneinander. griert werden. Bezüglich spezieller Pflegeinterventi-
4 Pflege wird von/zwischen beiden Seiten geplant onen wird auf Sektion 5 »Spezielle psychiatrische
und durchgeführt und u. a. auch dadurch sicht- Krankheitslehre: Pflege, Behandlung, Prävention«
bar, systematisch, begründbar und überprüfbar verwiesen.
gemacht.
! Pflegerisches Handeln bezeichnet Schröck 10.1 Beziehung Patient und
(1988, S. 87) als »die intimste Dienstleistung Pflegekraft
sowohl im physischen wie im emotionalen
Sinn, die ein Erwachsener von einem anderen
! »Pflege ist nicht das, was Pflegende tun. Pfle-
Menschen annehmen kann.«
ge ist auch nicht das, was Pflegende denken,
das sie tun. Pflege ist das, was geschieht,
Sicherheit während Pflegende etwas tun, das sie Pflege
Wie kann ich »wirklich« sicher sein, dass der Patient nennen.« Biley (1998) zitiert nach Krause
die Hilfe erhält, die er benötigt? et al. (2004)
10.1 · Beziehung Patient und Pflegekraft
173 10

Psychiatrische Erkrankungen gehen oft mit Störun- 4 persönliche und zwischenmenschliche Bezie-
gen der Beziehungsfähigkeit einher, jedoch benötigt hung (Travelbee, 1971) – beschreibt die Grund-
jede pflegerische Intervention ein »In-Beziehung- haltung von Pflegenden gegenüber Patienten;
treten« zum Patienten. Der Patient und die Pflege- Travelbee definiert die Krankenpflege als zwi-
kraft begegnen sich. Zwischen beiden findet eine schenmenschlichen Prozess zwischen beruflich
Interaktion statt – es wird sichtbar kommuniziert Pflegenden und hilfsbedürftigen Menschen,
und gehandelt. 4 kongruente Beziehung (Bauer, 1997) – konkreti-
siert das Verhältnis (7 Kap. 10.1.2),
! Interaktion nicht gleichbedeutend mit Bezie-
4 heilende Beziehung (Benner,1994; Orlando 1996)
hung.
– positives Ergebnis der Beziehung; nach Benner
Die Pflegekraft ist nicht nur körperlich und in ihrer ist es die »heilende Beziehung«, die zwischen Pa-
Funktion präsent, sondern auch als individueller tient und Pflegendem das Klima schafft, in dem
Mensch. Auch der Patient unterscheidet sich durch die Heilung geschehen kann.
seine persönliche Besonderheit von anderen Patien-
ten. Beziehungen bestehen somit zwischen Menschen/ > »Eine gute Beziehung zwischen Pflegenden und Patien-
ten setzt innere und äußere Ressourcen frei und gibt ihm
Personen und sind mehr als die Interaktion innerhalb
Kraft, indem sie seine Hoffnung, seine Zuversicht und
von »Rollen«. Beziehung ist ein emotionaler, unsicht- sein Vertrauen stärkt. […] Es ist unklar, wie oft rein tech-
barer und lediglich aus dem Verhalten erkennbarer nisch-medizinische Ursachen als ausschlaggebend für
Prozess. Die Grundvoraussetzung für die Entstehung seine Genesung gesehen werden, während eine heilende
von Beziehungen ist das sog. »personale Gegenüber«. Beziehung der wahre Grund dafür war.« (Benner, 1994,
S. 208)
Die Betreffenden bleiben er oder sie selbst.

> »Die Pflegende bringt sich in ihrer Einmaligkeit, mit ihren


Stärken und auch Schwächen in die Beziehung zum Pa- 10.1.2 Die kongruente
tienten mit ein. Dies hat weit reichende Folgen: Pflegen-
Beziehungspflege
de können sich nicht mehr hinter einer Rolle verstecken,
und sie werden je nachdem als ganze Person in Frage
gestellt und sind auch verwundbar. […] Pflegende müs- Was bedeutet Kongruenz in der Beziehungspflege?
sen diese Verwundbarkeit zulassen – die Bereitschaft Eine Erklärung von Carl R. Rogers: Das Ziel ist, eine
dazu, sei nichts anderes als die Anerkennung der eigenen
möglichst hohe Kongruenz in der Pflegebeziehung
Menschlichkeit.« Winkler (1996, S. 11f )
zu erreichen. Kongruenz der Person bedeutet nach
Zwischen Patient und Pflegeperson besteht eine Rogers, das »Selbst-Sein«, ein Sein, das nicht darauf
zwischenmenschliche und professionelle Beziehung angewiesen ist, sich hinter Masken, Rollen oder Fas-
und dadurch ist die Pflegetätigkeit nicht als standar- saden zu verbergen. Kongruenz besagt hier, dass ein
disierte Handlung zu verstehen und die Pflegeper- Mensch das, was er erlebt oder leibhaftig empfindet,
son nicht als austauschbar Handelnde. Die Problem- deutlich wahrnimmt, und dass ihm diese Empfin-
lösung und die Beziehung bedingen sich gegenseitig dungen auch verfügbar sind. Rogers beschreibt dies
und diese beiden Prozesse bzw. diesen Pflegeprozess auch als Transparenz der Person (Rogers, 1998). Die
gab es schon immer. kongruente Beziehungspflege will diese Kongruenz
der Person auch auf die Beziehung zwischen zwei
Personen, dem Patienten und der Pflegekraft, über-
10.1.1 Erwartungen an die tragen. Rogers selbst sagt dazu:
Pflegende-Patienten-
Beziehung > »Kongruenz bedeutet, dass die Pflegekraft (Therapeut)
ihrer selbst gewahr ist, dass ihr ihre Gefühle und Erfah-
rungen nicht nur zugänglich sind, sondern dass sie Sie
Die folgenden 3 Aspekte stehen in einem engen Zu-
auch durch ihr Erleben in die Beziehung zum Klienten
sammenhang und sind schwer gegeneinander abzu- einbringen kann. Es bedeutet, dass es sich um eine direk-
grenzen. Sie beschreiben die theoretische Erwartung te, personale Begegnung mit dem Klienten handelt, eine
an die Beziehung (Pohlmann, 2005, S. 28): Begegnung von Person zu Person.« (Rogers, 1988, S. 51)
174 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

Das Erreichen der Kongruenz in der Beziehungs- schen Patient und Pflegenden (7 unten) und 6 Rol-
pflege ist laut Rüdiger Bauer das Produkt einer ge- len, die eine Pflegekraft einnehmen kann:
meinsamen Beziehungsarbeit mit dem Patienten, 4 Rolle des Unbekannten,
wobei die Pflegekraft eine professionelle Haltung 4 Rolle der Hilfsperson,
einnimmt und ganz klar die Schwerpunktarbeit zu 4 Lehrerrolle,
leisten hat. Im Nachfolgenden werden Aspekte der 4 Führungsrolle,
von Bauer beschriebenen kongruenten Beziehungs- 4 Stellvertreterrolle,
pflege vorgestellt. 4 Beraterrolle.
Bauer behandelt den personalen Aspekt des
Beziehungsprozesses und beschreibt damit ein Kon- Es ist die Aufgabe der Pflegekraft, im Verlauf der
zept zur zielgerichteten Planung der Beziehungs- kongruenten Beziehungspflege selbst eine möglichst
gestaltung durch Pflegende. Gefordert wird eine hohe Kongruenz zu realisieren und durch ihre ge-
intensive Auseinandersetzung der Pflegenden mit zielte Beziehungsarbeit eine hohe Kongruenz der
der eigenen Person, sodass über persönliche Aus- Beziehung herzustellen. Die Grundvariablen der
einandersetzung mit den Themenbereichen Wahr- klientenzentrierten Gesprächsführung sind dazu
nehmung, Kommunikation und Gesprächsfüh- besonders geeignet (Empathie, Kongruenz, Akzep-
rung die Grundlage für eine kongruente Beziehung tanz, 7 Kap. 7).
zum Patienten geschaffen wird. Bauer fragt, ob es Die kongruente Beziehungspflege geht davon
möglich sei, eine Systematik in das komplizierte aus, dass Pflegekräfte, die sich in einen Prozess der
und komplexe Werk menschlicher Beziehungen zu Selbstöffnung hineinbegeben, eine angemessene
bringen. Distanz zu sich selbst und zum Patienten finden. Nö-
tige Haltungen dafür sind:
10 > »Allein die Vielgestaltigkeit eines einzelnen Menschen in 4 Offenheit gegenüber dem eigenen Erleben und
seiner ihm eigenen Wirklichkeit, die durch eine ganze
Äußerungsbereitschaft,
Lebensgeschichte mit all ihren Erfahrungen, Kränkungen,
Gewohnheiten und Phantasien bestimmt ist, in seinem
4 Erkennen der eigenen Bedürfnisbefriedigung,
eigensten Erleben der Welt um ihn herum und in der aber relative Unabhängigkeit davon – »welchen
Beziehung zu sich selbst hat mich nachdenklich werden Nutzen ziehe ich aus der Beziehung zum Patien-
lassen.« (Bauer, 2004, Vorwort) ten?« (Helfen, Machtausübung etc.),
4 Reflexion des eigenen Störungserlebens, aber
Das Konzept der kongruenten Beziehungspflege relative Störungsfreiheit,
stützt sich auf die Pflegetheorie von Hildegard 4 Situationen im Leben der Pflegekraft (z. B. priva-
Peplau (1952) »Psychodynamische Pflege« und die te Beziehungsstörungen) oder auch Ängstlich-
»Pflegeprozesstheorien« von Ida Jean Orlando (Pel- keit, Depression und Unsicherheit können Ein-
letier in Bauer, 2004). Das Konzept sieht sich auch fluss auf die professionelle Interaktionsfähigkeit
dem neuen ganzheitlichen transformativen Paradig- haben.
ma (umformendes Musterbeispiel) der Pflege ver-
pflichtet, innerhalb dessen Martha Rogers (in Bauer,
2004) mit ihrem »Modell des einheitlichen Men- 10.1.3 Beziehungsbehinderungen
schen« anzusiedeln ist.
Es ist die Aufgabe der Pflegekraft, Beziehungsbehin-
> »Psychodynamische Krankenpflege kann das eigene derungen beim Patienten und bei sich zu erkennen –
Verhalten verstehen, um anderen zu helfen, empfundene
diese Verantwortung, Beziehungsbehinderungen zu
Schwierigkeiten zu erkennen und die Prinzipien der
menschlichen Beziehungen auf die Probleme anzuwen-
erkennen, liegt bei der Pflegekraft. »Beziehungs-
den, die auf allen Ebenen der Erfahrung entstehen.« behinderungen sind oft von einem unbestimmten
(Peplau in Bauer, 2004) Gefühl bei der Pflegenden geprägt« (Orlando, 1996).
Orlando »rät«, die Wahrnehmungen ernst zu neh-
Peplau beschreibt in ihrer Theorie »Psychodynami- men, Gefühle beim Patienten anzusprechen und zu
sche Pflege 4 Phasen der Beziehungsgestaltung zwi- hinterfragen.
10.1 · Beziehung Patient und Pflegekraft
175 10

Innere Beziehungsbehinderungen nach Bauer sind 4 Orientierungsphase,


in der Person der Pflegekraft schon vorhanden oder 4 Identifikationsphase,
neu entstanden (Lebensthema, aktuelles Thema). 4 Nutzungsphase,
4 Ablösungsphase.
! Das »Lebensthema« (z. B. Ruhe und Gebor-
genheit oder Vertrauen zu sich selbst und
Die Phasen gehen fließend ineinander über und
anderen) oder aktuelle Themen seitens der
sind keineswegs als ein starres Schema zu betrach-
Pflegeperson können Auswirkungen auf die
ten. Da sich das Konzept der kongruenten Bezie-
Beziehungsarbeit haben, auf Wahrnehmung
hungspflege von Rüdiger Bauer u. a. auf die Pflege-
und Interventionen.
theorie von Hildegard Peplau stützt, werden hier die
Beispiele für innere Beziehungsbehinderungen sind Phasen einer Beziehung anhand seines Modells be-
z. B.: schrieben.
4 Sympathie/Antipathie,
4 Angst vor innerer Verletzung, Phasen der kongruenten Beziehungspflege
4 spürbare Ablehnung durch den Patienten, Bauer (2004) beschreibt mehrere Phasen der kon-
4 innere Kündigung, gruenten Beziehungspflege.
4 Neid,
4 Gekränktsein. Begegnungsphase
Patient und Pflegekraft sehen sich zum ersten Mal
Äußere Beziehungsbehinderungen treten von außen und haben beide mehr oder weniger bestimmte
durch den Patienten an die Pflegekraft heran und/ Wahrnehmungen voneinander. Bei beiden tauchen
oder werden durch unzureichende Organisations- Gefühle auf. Sie nehmen die Gestalt, das Aussehen,
strukturen verursacht, z. B.: die Wirkung der Person, das Gesicht, die Ausstrah-
4 Aggressionen, lung und vieles mehr wahr. Hier kann sich bereits
4 Aussehen, entscheiden, ob die »Chemie« stimmt. Diese Phase
4 politische, ethnische Ansichten, ist nicht beschränkt auf den ersten Eindruck. Sie ist
4 Distanzlosigkeit, auch ein gegenseitiges Kennenlernen, was über
4 äußere Faktoren, wie z. B. Räumlichkeiten, Lärm, mehrere Tage bis Wochen gehen kann. In der Begeg-
Ablenkungen durch andere Verpflichtungen, nungsphase findet auch die systematische Bezie-
Zeitmangel, Störungen etc. hungsdiagnostik statt. Die Pflegekraft beginnt die
Pflegebeziehung mit dem sicheren Wissen, dass die
Praxisbox Beziehung auch wieder beendet sein wird. Die pro-
Stellen Sie sich die Frage: »Was behindert mich fessionell handelnde Pflegekraft überlässt von vorn-
in der Beziehungsarbeit?«. Offenheit für sich in herein dem Patienten die Entscheidung darüber,
der Beziehung, Gefühle zulassen, nicht verde- wann er sie beenden will.
cken, verneinen – dies wird dadurch deutlicher
! Kennen Sie die Eigenverantwortung des Pa-
und verstärkt (Angst, Ärger). Diese Gefühle soll-
tienten an!
ten Sie im Sinne von Kongruenz und Wertschät-
zung aussprechen (Bauer, 2004). Checkliste für das Wahrnehmen und den Klärungs-
versuch beziehungsfördernder und beziehungsbe-
hindernder Aspekte seitens der Pflegenden (modifi-
ziert nach Bauer, 2004):
10.1.4 Phasen einer Beziehung 4 Verhalten, Sprache, Aussehen des Patienten,
4 Kleidung usw.,
Die Phasen einer Beziehung wurden von Hildegrad 4 Diagnose,
Peplau schon 1952 in der Theorie der interpersona- 4 Krankheitsverständnis,
len Beziehung bzw. psychodynamische Pflege be- 4 Rollenverständnis,
schrieben: 4 Pflegeauftrag.
176 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

Die Situation und auftauchenden Gefühle sollten Kongruenzphase


wahrgenommen und beschrieben und die Gefühle Hier herrscht ein gegenseitiges tiefes Verständnis
auf Unabhängigkeit oder die Eignung zur Förderung für die eigene und die andere Person vor, wo »Wol-
der Beziehungsarbeit geprüft werden. len-Können-Sollen« in der Begegnung völlig abge-
stimmt und reflektiert ist. Der Einzelne bleibt er
Inkongruenzphase selbst und in der eigenen Person echt und transpa-
Die Inkongruenzphase ist der Beziehungsabschnitt, rent. Diese Phase stellt das Idealbild der Beziehung
in dem von der Pflegekraft höchste Professionalität dar. In einigen Bereichen kann sie schnell erreicht
und Kompetenz in der Wahrnehmung verlangt wird. werden, in anderen in den vorherigen Phasen ste-
Hier fällt die Entscheidung für einen erfolgreichen cken bleiben.
oder gescheiterten Beziehungsprozess und somit für Im Lehrbuch »Psychiatrische Pflege« (Sauter
den Problemlösungsprozess. et al., 2004, S. 355 u. S. 361) werden ergänzend zu
Checkliste für Aspekte, die zu Beziehungsbehin- den 4 Phasen von Peplau 2 weitere Phasen erwähnt:
derungen und Inkongruenzen führen können (mo- 4 die Phase vor der ersten Begegnung,
difiziert nach Bauer, 2004): 4 die Zeit nach der Beendigung einer Beziehung.
4 Pflegeauftrag erteilt?
4 Krankheitsverständnis, -bearbeitung, -verarbei- Der Patient ist vor der Aufnahme lang- oder kurz-
tung, fristig angekündigt, die Pflegekraft hat mehr oder
4 Rollenverständnis, weniger Informationen über ihn und macht sich
4 Werte und Glaubenssysteme, Gedanken über die Gestaltung des Erstkontaktes. In
4 Psyche (z. B. Charakter, psychische Grundstruk- dieser »Phase vor der ersten Begegnung« können
tur, aktuelle Lebenssituation), sich Unsicherheiten und Bedenken seitens der Pfle-
10 4 Art der Erkrankung (körperlich, psychisch etc.), gekraft einstellen. Um möglichst offen in die Begeg-
4 Kommunikationsstil, nung zu gehen, ist es wichtig, sich Klarheit über die
4 Motivation, eigenen Sorgen und Gefühle zu verschaffen.
4 Wahrnehmung (egozentrisch, differenziert). Die vergangenen/»beendeten Beziehungen« be-
4 Ist eine Akzeptanz seitens der Pflegeperson vor- gleiten uns und prägen Handlungen der Gegenwart
handen? und Zukunft. Walsh (1997) sagt, dass sich Pflegende
4 Gibt es die Möglichkeit der Klärung – mit oder manchmal noch nach Jahren gedanklich mit Patien-
ohne den Patient? ten, mit denen sie intensive Erlebnisse hatten, be-
schäftigen (Sauter et al., 2004, S.361).
Bearbeitungsphase Klaus Dörner (1989) hat »Handwerksregeln« er-
Die Bearbeitungsphase ist erreicht, wenn sich die stellt, die bedeutend für eine konstruktive Beziehung
Pflegende für die professionelle Beziehungsarbeit zum psychisch kranken Patienten sind. Sie werden
und somit gegen die mechanistische Pflege entschie- in mehreren Fachbüchern als hilfreich für den Be-
den hat. Der Patient hat noch nicht die Fähigkeit, um ginn, den Verlauf und das Beenden einer Beziehung
sich selbst kongruent zu verhalten. Die Pflegeperson erwähnt.
entscheidet, was sie wann anspricht und welche As- Die 12 Schritte zum Anderen nach Dörner:
pekte sie klären möchte. 4 Pflegende wollen die Begegnung. Sie sind bereit,
sich auf den anderen einzulassen.
Integrationsphase 4 Sie sind auf die Einzigartigkeit der anderen Per-
Integration bedeutet, dass bei Pflegekraft und Pa- son neugierig.
tient ein Wissen um den anderen, um dessen Um- 4 Sie sehen den Menschen und kategorisieren
gang mit Rollen, Gefühlen, Werten, Überzeugungen nicht.
entstanden ist, und beide ihre Interaktion darauf 4 Sie respektieren, was der andere sagt.
ausrichten. 4 Sie respektieren diejenigen, die den Patienten
kennen, da ihre Wahrnehmung nicht die einzig
mögliche ist.
10.1 · Beziehung Patient und Pflegekraft
177 10

4 Sie sehen den Patienten als Teil seiner materiel- Definition


len und sozialen Welt.
Beziehungsdiagnose ist die Wahrnehmung und
4 Sie erkennen und akzeptieren ihre »Ersatzfunk-
Beschreibung von beziehungsfördernden und
tion« für einen begrenzten Zeitraum.
beziehungsbehindernden Aspekten und deren
4 Sie erliegen nicht der Faszination der Symptome
Betrachtung im Kontext einer Pflegebeziehung
und akzeptieren, dass der Patient etwas anderes
(Bauer, 2004, S. 135).
will.
4 Sie sagen nicht: »Ich verstehe Sie«.
4 Sie wollen den Patienten nicht ändern.
4 Sie wollen nicht über eine Krankheit, sondern
mit der Person sprechen. 10.1.6 Einfluss der Krankenhaus-,
4 Sie fragen den Patienten nicht aus. Ablauf- und Organisations-
struktur auf die Beziehung

10.1.5 Beziehungspflegeplanung Ein strukturelles Beziehungsdilemma ergibt sich


und Beziehungsdiagnose nach Raspe u. Siegrist (1979), da die Patienten in
der Regel als Laien in eine professionelle Organi-
Eine geplante, patientenorientierte Pflege muss si- sation kommen und ihr Wissensdefizit und ihre
chergestellt werden. Im Rahmen der Qualitätssiche- weitgehende Inkompetenz, ihre Initiativechancen
rung sind Pflegende verpflichtet, ihre geleisteten und schmälern (Pohlmann, 2005, S. 35). Der Patient
geplanten Tätigkeiten zu beschreiben. Das Konzept erleidet »zusätzlich« einen Autonomieverlust und
der kongruenten Beziehungspflege wird dabei als muss sich der Krankenhaushierarchie »unterwer-
Instrument, Beziehung (wissenschaftlich begrün- fen«.
det) zu planen, genutzt.
Die Grundlagen der Beziehungspflegeplanung > »Starke Einschränkungen der Handlungsspielräume
von Pflegenden kann auch Weidner (1995) in seiner Stu-
finden sich im Konzept der kongruenten Bezie-
die aufgrund mangelnder organisatorischer, aber auch
hungspflege (Bauer, 1997 u. 2002) und den Thesen persönlicher Ressourcen feststellen. Zusätzlich werden
zur Beziehungsarbeit (Bauer, 2001). Der Beziehungs- täglich wahrgenommene Dilemma-Situationen beschrie-
aspekt wird in der Pflegeplanung verdeutlicht und ben: das Abwägen von Patientenbedürfnissen gegen-
sichtbar gemacht – zusätzlich zur Suche von Pro- einander, das Abwägen von Patienten- und Organisati-
onsbedürfnissen und das Abwägen von fremden und
blemlösungen für Pflegeprobleme.
eigenen Bedürfnissen und Erfordernissen gegeneinan-
der.« (Pohlmann, 2005, S. 32)
Praxisbox
Der unsichtbare Aspekt – die Beziehungspflege Eine Funktionspflege wirkt wesentlich »beeinflus-
– benötigt und verbraucht Zeit. Beziehungspfle- send« auf die Beziehung, da sie durch Arbeitsteilung
ge wird dokumentiert! Beziehung wird als pfle- gekennzeichnet ist und somit einen kontinuierlichen
gerische Leistung erbracht. Kontakt und das Aufbauen eines Vertrauensverhält-
nisses behindert.
Pflegerische Arbeitsorganisationen können nicht
! Beziehungspflegeplanung erfolgt zusätzlich
als primäre Ursache für Beziehungsstörungen ange-
zur Pflegeplanung!
sehen werden, jedoch scheint ein Zusammenhang
Die praktische Umsetzung der Beziehungspflegepla- zwischen der Ablauforganisation und der Pflegen-
nung ist auch von einer wissenschaftlich begründ- den-Patienten-Beziehung zu bestehen (Pohlmann
baren Methode, die das soziale Phänomen der Be- 2005, S. 41).
ziehung beschreiben kann, abhängig. Die Methode
der Grounded Theory (Glaser u. Strauss, 1967) liegt
der Beziehungspflege zugrunde (Krause et al., 2004,
S. 125).
178 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

10.1.7 Abgrenzung Beziehungs- Darüber hinaus ist die Beziehung mit angenehmen
arbeit – Bezugspflege (Anteilnahme, Interesse, Zuneigung, Wunsch zu
helfen) und unangenehmen Gefühlen (Ärger, Wut,
Die Bezugspflege ist ein pflegerisches Organisati- Ungeduld) verbunden.
onssystem, in dem der Begriff der Beziehungspflege Im Gegensatz zum Umgang mit Menschen im
häufig Verwendung findet. Beziehungsarbeit be- privaten Leben, kann sich der Pflegende den Patien-
deutet das pflegerische Bearbeiten von psychischen, ten nicht aussuchen. Außerdem baut sich der Pfle-
emotionalen, interpersonalen und interdependen- gende eine private Beziehung für sich selbst auf, da
ten (voneinander abhängigen) Inhalten einer Pfle- er von dieser Beziehung auch selbst profitieren
genden-Patienten-Beziehung. Die jeweiligen Bedeu- möchte.
tungen der Inhalte liegen der Interaktion zu Grunde.
Die Erkrankung, die Krankheitsverarbeitung, -ent- Distanz
stehung, und mögliche Folgen für das weitere Leben Durch die hohe Präsenz der Pflegenden beim Pati-
wird beiderseits und gemeinsam erlebt und bear- enten und das Miterleben von »Leid« können starke
beitet. Gefühle seitens der Pflegenden ausgelöst werden.
Wenn diese Gefühle nicht zugelassen, gezeigt oder
sogar verdrängt werden, kann dies zu Unbehagen,
10.2 Nähe und Distanz Unsicherheit und Ängstlichkeit führen. Die Konse-
quenz könnte eine (notwendige) Distanz zum Pati-
In diesem Kapitel wird die Nähe-Distanz-Problema- enten sein.
tik der Pflegenden näher betrachtet – nicht die Die Distanz zum Patienten kann somit als emo-
Nähe-Distanz-Problematik der Patienten. Wenn die tionaler Schutz für die Pflegenden erforderlich wer-
10 Pflegenden diese Thematik im Sinne der Selbst- den – z. B. als Selbstschutz gegenüber distanzlosen,
reflektion bearbeiten, ist dies eine beachtliche Vo- fordernden oder »unsympathischen« Patienten. Es
raussetzung, die Grenzen der Patienten wahrzuneh- gibt auch unangenehme Tätigkeiten, die Ekel,
men und dafür zu sensibilisieren. Scham, Peinlichkeit und Abwehrgefühle hervorru-
fen können und ein Gefühl des »Abstandnehmen-
! Elsbernd (2000, S. 140f.) stellt fest, dass
Wollens« zur Folge haben. Berufskleidung wird
sich Pflegende bei der Gestaltung der Bezie-
auch als emotionale Schutzkleidung »genutzt«; auch
hung zwischen Engagement und Distanz
das »Sie« und »nichts Privates erzählen« bedeutet
bewegen.
Distanz.
Martin Pohlmann ist in »Beziehung pflegen« (2005)
der Frage nachgegangen, wie Pflegende ihre Bezie- > »Eine professionelle Berufsrolle bietet auch Schutz für
Pflegende und Patienten. Distanz zum Patienten trägt
hungen zu Patienten tatsächlich gestalten und was
einerseits dazu bei, bestimmte negative Reaktionen des
sie dabei als hilfreich oder hinderlich erfahren. Er Patienten nicht persönlich zu interpretieren, und ermög-
führte 16 Interviews mit Pflegenden und analysierte licht es andererseits, die Situation des Patienten mög-
diese reichhaltigen Daten phänomenologisch. Im lichst neutral zu deuten. Ein mangelnder Rollenschutz
Folgenden werden sich viele Aspekte und Ergebnisse müsse zu starken Emotionen bei Pflegenden führen,
Emotionen, die nicht immer positiver Art sein können.
aus seiner Auseinandersetzung mit dieser Thematik
So könnten sich bald Schuldgefühle wegen vermeint-
wiederfinden. Die Ergebnisse seiner »Untersu- lichen Fehlversagens ergeben und in der Folge Aggres-
chung« zeigen die Ambivalenz der Pflegenden zwi- sionen auf den Patienten entwickeln, die schuld an
schen geforderter Nähe und gebotener Distanz in diesem vermeintlichen Fehlversagen sind.« (Strasser,
der Beziehung zum Patienten. 1994, S. 29)
Die Beziehung zum Patienten findet innerhalb
verschiedener Gegenpole statt, z. B.: Distanz wird auch erforderlich, um Berufs- und Pri-
4 Sympathie – Antipathie, vatleben voneinander trennen zu können – außer-
4 helfen wollen – Hilflosigkeit, halb der Klinik an den Patienten zu denken, schränkt
4 positives – negatives Feedback. das Privatleben ein.
10.3 · Gruppenarbeit
179 10
Nähe 4 Supervision,
Nähe kann Angst auslösen und hohe Erwartungen 4 zu Hause belastende Situationen erzählen kön-
und Vertrauen können als belastend erlebt werden. nen,
4 ein Austausch im Team,
> »Das ›Ertragenmüssen‹ der Nähe, der Intimität zum Pati-
4 ein einheitliches Pflegeverständnis im Team.
enten, auf die Pflegende nicht ohne emotionale Empfin-
dungen reagieren können, führt zu Vermeidungsverhal-
ten, um der Situation die Schärfe, Bedrohlichkeit und Der professionellere Umgang mit belastenden Situa-
Angst zu nehmen.« (Jürgens-Becker, 1987, S. 23) tionen setzt voraus, dass Pflegende ihre Gefühle
achtsam erkennen und zulassen.
Trotz »bloßer Anwesenheit« und Zuhören wurde in Den Gefühlen die Aufmerksamkeit zu verwei-
Pohlmanns Untersuchung Hilflosigkeit gegenüber gern – diese gar abzuwehren –, ist langfristig keine
dem Patienten (z. B. mit maligner Erkrankung) als »gesunde« Stressbewältigung. Kontrolle »darüber«
belastend und schwer aushaltbar erlebt. Grund dafür ist vielleicht erlernbar – Kontrolle ist kontrapro-
waren z. B. die Hilflosigkeit, kein adäquates Hilfs- duktiv, wenn sie das eigentliche Thema unbewusst
angebot machen zu können sowie Gefühle von Ohn- macht.
macht und Überforderung verbunden mit Schuldge- Die »innere Stimme« gibt Pflegenden ein deutli-
fühlen. ches Signal und dieses sollten sie beachten. Eigene
Benner und Wrubel (1997) sprechen von der Belange müssen akzeptiert, ernst genommen und
Gefahr eines Burn-out und der Berufsflucht, u. a. des- es muss dementsprechend gehandelt werden. Pfle-
halb, weil die Grenzen zwischen dem Selbst und dem gende arbeiten im Gesundheitswesen und handeln
Anderen verschwimmen. Es besteht ein schmaler Grat gesundheitsfördernd – auch für sich. Da die Bezie-
zwischen Mitleid (grenzenloses Mitgefühl), Trauer, hung ein Wechselspiel der Gefühle sein kann, ist
Wut, Verzweiflung, emotionaler Leere der Pflegeper- ein Ausgleich und Austausch wichtig. Innere Ruhe,
son und emotionaler Distanzierung zum Patienten. innere Achtsamkeit und »persönliche Erfahrungs-
Benner u. Wrubel (1997, S. 436) beschreiben reife« sind nötig, um die nahe Beziehung zum Pati-
2 Typen die sich intensiv um die Nähe zum Patien- enten nicht belastend zu erleben. Diese nahe Bezie-
ten bemühen: hung wird unter der Voraussetzung möglich, dass
1. Der Narzisst ist ausschließlich mit sich selbst diese bewusst abläuft und Abgrenzung »erlaubt«
beschäftigt und kämpft um die Liebe und An- ist.
erkennung anderer.
2. Der Altruist beschäftigt sich nur mit den an-
deren und läuft dadurch Gefahr, von deren For- 10.3 Gruppenarbeit
derungen quasi aufgefressen zu werden und die
eigene Selbstpflege nicht adäquat realisieren zu 10.3.1 Was macht Gruppenarbeit aus?
können – Stress ist dadurch vorprogrammiert.
Definition
! Schwarze (1998, S. 54f) spricht von »emotio-
Eine Gruppe wird definiert als eine Anordnung
naler Kälte oder altruistischem Verhalten« –
von mehr als zwei Menschen, die längere Zeit
es gilt, Liebe und Güte als Werte für die heuti-
miteinander interagieren, sich also wechselsei-
ge Pflege »neu« verstehen zu lernen.
tig beeinflussen, ein gemeinsames Ziel verfol-
gen und sich als »Wir« wahrnehmen.

10.2.1 Selbstpflegerische Inter-


ventionen In der Psychiatrie ist die Gruppe neben der Einzel-
therapie das vorrangige Medium der Arbeit mit
Zum Schutz vor übermäßiger Nähe oder Distanz Patienten. Aber auch das Team, die Mitarbeiter ei-
zum Patienten kann als individuell hilfreich erlebt nes Wohnbereichs oder einer Station sind eine
werden: Gruppe. Formell finden im Rahmen der psychiatri-
180 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

schen Versorgung verschiedene Gruppen statt. Zu- von Gruppen eine bestimmte Funktion, eine Rolle.
erst denkt man möglicherweise an die gruppenpsy- Manchmal unterscheiden sich die offiziell vorge-
chotherapeutischen Angebote für Patienten. Doch gebenen Rollen von den informellen, was zu Kon-
auch themenzentrierte Gruppen oder Selbsthilfe- flikten führt. Als Leiter einer Gruppe habe ich die
gruppen haben in den meisten Institutionen ihren Aufgabe, diesen Phasen und den entsprechenden
festen Platz. In diesem Kapitel steht die Gruppenar- Vorgängen in der Gruppe entsprechend Raum zu
beit mit Patienten oder mit Angehörigen im Vorder- geben. Die Gruppe soll unterstützt werden, an ihrem
grund. Ziel zu arbeiten. Diese Ziele können sehr vielgestal-
Die Gruppe in der Psychiatrie – gleich welchen tig sein. . Tabelle 10.1 gibt einen Überblick zu den
Inhalts – ist ein Abbild dafür, wie Menschen Bezie- Phasen, die eine Gruppe durchläuft, und den dazu
hungen gestalten und sich in sozialen Beziehungen gehörigen Leitungsaufgaben.
verhalten. Die Gruppe, die innerhalb der Psychiatrie
! Gruppen durchlaufen Phasen, denen entspre-
stattfindet, steht für die Beziehungen »draußen«.
chend man die Gruppe angemessen führen
Das heißt, so wie sich Menschen in der Gruppe ver-
und gestalten muss.
halten, verhalten sie sich auch draußen. Dies sind
wichtige Informationen für die einzelnen Gruppen- In allen Phasen arbeitet die Gruppe immer wieder
teilnehmer und den therapeutischen Prozess. Die auf verschiedenen Ebenen: der Sachebene und der
Gruppe in der Psychiatrie ist also eine Gelegenheit, Beziehungsebene. Auf der Sachebene geht es um
etwas über sich zu erfahren und Neues auszupro- die eigentlichen Inhalte, weswegen die Gruppe zu-
bieren. Dieser eher therapeutische Zugang sollte bei sammengekommen ist (z. B. die Veränderung be-
der Gruppenarbeit in der Psychiatrie immer mit- stimmter Verhaltensweisen oder die Erarbeitung
schwingen, auch wenn man vielleicht »nur« eine von Informationen zu bestimmten Erkrankungen).
10 Gruppe zur Ernährungsberatung gestaltet. Wer zur Auf der Beziehungsebene geht es um zwischen-
gruppenpsychotherapeutischen Arbeit weiterlesen menschliche Sympathie und Antipathie, um Span-
möchte, dem sei ein Buch von alomY (2005) emp- nungen, Konflikte, Vertrauen, Status, Ängste der
fohlen. Gruppenmitglieder. Einige Gruppenpsychotherapi-
Eine Gruppe entwickelt sich in bestimmten Pha- en fokussieren ausschließlich auf die Beziehungs-
sen, die man in jedem Gruppenbildungsprozess be- ebene. Hier wird die Beziehung zum Thema ge-
obachten kann. Menschen übernehmen innerhalb macht.

. Tabelle 10.1. Gruppenphasen und Aufgaben für die Gruppenleitung


Phase Leistungsaufgaben

Ankommen, Orientierung 5 den Beginn gestalten


5 Information und Orientierung geben
5 vertrauensvolle, angenehme Atomsphäre schaffen
5 Zeitrahmen und Plan vorgeben und einhalten

Hierarchie innerhalb der Gruppe und zum 5 die eigene Führungsposition festigen
Leiter/zur Leiterin festlegen 5 Klärung von verschiedenen Interessen der Gruppenmitglieder zulassen
5 Selbststeuerung der Gruppe fördern
5 Interesse der Gruppenmitglieder untereinander fördern

inhaltliche, zielorientierte Arbeit 5 inhaltliche Arbeit fördern und anerkennen


5 den eigenständigen, konstruktiven Arbeitsprozess der Gruppe moderieren
5 Methoden, Arbeitsweisen vorschlagen

Ende/Auflösung der Gruppe 5 das Ende der Gruppe und das Ziel ansteuern
5 Transfer des Erarbeiteten in Bereiche, die außerhalb der Gruppe liegen
(z. B. außerhalb der Klinik) thematisieren
5 den Abschied gestalten
10.3 · Gruppenarbeit
181 10
10.3.2 Rahmenbedingungen Regeln
für die Arbeit mit Gruppen Es hat sich als nützlich erwiesen, gewisse Regeln zum
Umgang miteinander aufzustellen und darauf zu
Größe der Gruppe achten, dass diese von den Teilnehmern eingehalten
Um effiziente Arbeitsprozesse zu ermöglichen, sollte werden. Einige dieser Regeln wurden von Ruth C.
eine Gruppe nicht weniger als 6 und nicht mehr als Cohn, einer Vertreterin der humanistischen Psycho-
12 Personen umfassen. Eine geringere Anzahl bietet logie, entwickelt und als ein Gruppenkonzept veröf-
wenig Vielfalt an Beziehungen der Gruppenmitglie- fentlicht: die »Themenzentrierte Interaktion« (Cohn,
der untereinander. Bei einer höheren Personenzahl 1997). Die Themenzentrierte Interaktion bedeutet
wird es zunehmend schwer, intensive und vertrau- eine demokratische Umgangsweise und die Anerken-
ensvolle Beziehungen aufzubauen. Es bleibt alles nung der Selbstverantwortung jeden Teilnehmers.
eher unverbindlich. Die Gruppe läuft Gefahr, sich in Die Themenzentrierte Interaktion beinhaltet folgen-
Untergruppen zu zersplittern und wäre dann auch de Forderungen an den Umgang der Gruppenmit-
bloß in diesen Untergruppen angemessen arbeits- glieder untereinander und an die Gruppenleitung:
fähig. 1. Sei Dein eigener Chairman und bestimme, wann
du reden oder schweigen möchtest und was du
Dauer der Gruppe sagst (Sei für dich selbst verantwortlich).
Wie schon erläutert, durchläuft eine Gruppe wäh- 2. Störungen haben Vorrang.
rend ihrer Bildung diverse Phasen. Diesem Prozess 3. Sprich in Ich-Form.
muss man Zeit geben. Wie viel Zeit ist natürlich 4. Stelle möglichst nur Informationsfragen. (Es ist
abhängig von dem Inhalt, weswegen die Gruppe beinahe immer besser eine persönliche Aussage
zusammenkam. Grundsätzlich kann eine Gruppe zu machen, als eine Frage zu stellen.)
solange bestehen, wie sie ein gemeinsames Ziel defi- 5. Seitengespräche haben Vorrang. (Wenn Teilneh-
niert. Wenn man den Gestaltungsspielraum hat, mer Seitengespräche führen. So sind sie mit
sollte man sich auch überlegen, ob man eine offene wahrscheinlich stark beteiligt oder gar nicht.)
oder geschlossene Gruppe anbietet. In einer offenen 6. Nur einer zur gleichen Zeit bitte. (Es spricht im-
Gruppe können permanent neue Teilnehmer dazu mer nur eine Person.)
kommen oder andere Teilnehmer die Gruppe verlas- 7. Sei authentisch und selektiv in Deiner Kommu-
sen, in einer geschlossenen Gruppe nicht. Der Nach- nikation. Mache Dir bewusst, was Du denkst
teil einer offenen Gruppe ist, dass die Teilnehmer und fühlst, und wähle aus, was Du sagst und
immer wieder die Phasen der Orientierung und Rol- tust.
lenverteilung durchlaufen müssen und möglicher- 8. Beachte Signale aus Deinem Körper und achte
weise die eigentliche Arbeitsphase hinausgeschoben auch auf solche Signale bei den anderen.
wird. Ein Vorteil einer offenen Gruppe ist hingegen, 9. Sprich Deine persönlichen Reaktionen aus und
dass schon erfahrene Gruppenteilnehmer die neuen stelle Interpretationen so lange wie möglich zu-
durch ihr Verhalten motivieren können und ein rück.
Modell dafür sein können, wie man angemessen
arbeiten kann in der Gruppe. Dies spielt beispiels- Regeln sollen Hilfen und Anregung sein. Für manche
weise in der Suchttherapie eine bedeutende Rolle. Gruppenanliegen müssen sie vielleicht ergänzt oder
Die Dauer einer Sitzung sollte möglichst 90 Mi- etwas anders formuliert werden. So ist es z. B. vor-
nuten nicht überschreiten. Die Aufnahme- und Kon- stellbar für eine Gruppe, die sich zur Verarbeitung
zentrationsfähigkeit lässt dann ohne eine Pause von Trauer und Verlust zusammenfindet, explizit die
deutlich nach. Noch wichtiger als die Dauer ist es Regel aufzunehmen »Jeder darf seine Gefühle hier
allerdings, die festgelegten Zeiten einzuhalten. Die zeigen, wie unterschiedlich sie auch sein mögen«. Für
Gruppenleitung hat für den pünktlichen Beginn und Gruppen mit Kindern sind einfachere Formulierun-
das Ende der Sitzung zu sorgen! gen, die Beschränkung auf weniger Regeln oder viel-
leicht die Darstellung mit Bildern sinnvoll. Gruppen
mit Menschen, die unter einer Psychose leiden, soll-
182 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

ten ebenfalls mit wenigen und einfachen Regeln ge- Ablauf einer Gruppensitzung
staltet werden. Die Teilnehmer können sich schnell Grob umrissen unterteilt man jegliche Sitzungen in
überfordert fühlen und das Gefühl haben, dem 3 Schritte: die Eröffnung, den eigentlichen Hauptteil
Gruppenziel nicht gerecht zu werden. und das Ende. Solcherlei festgelegte Abläufe erleich-
Man bedenke auch, dass Regeln, die gemeinsam tern den Teilnehmern, sich auf die Gruppenarbeit
in der Gruppe erarbeitet werden, mit größerer Wahr- einzustellen und einzulassen sowie am Ende wieder
scheinlichkeit von allen eingehalten werden, als die davon Abstand zu gewinnen.
»nur« von der Gruppenleitung vorgegebenen. Fra-
gen, wie »Was soll hier passieren, was nicht, wie wol- Eröffnung
len wir mit einander umgehen?«, können zum Nach- Manchmal reicht dazu ein Satz der Begrüßung. Für
denken anregen. die Arbeit mit Kindern bietet sich ein Lied an. Auch
kleine Körperübungen (z. B. Atemübung, Ball zu-
Anrede untereinander werfen und den Namen nennen) können als Eröff-
Häufig wird die Anrede mit dem Vornamen und nungsritual genutzt werden, sie bringen auf je-
dem »Du« von den Gruppenmitgliedern als erleich- den Fall »Bewegung« in die Gruppe. Viele Gruppen
ternd empfunden und als Zeichen des Vertrauens profitieren auch von einem »Blitzlicht«. Bei einem
gewertet. Das »Sie« ist eine Anrede, welche mehr Blitzlicht äußert sich jedes Gruppenmitglied kurz
Distanz schafft. Daher fühlen sich manche Teilneh- dazu, wie es ihm seit der letzten Sitzung ergangen
mer beim »Sie« – gerade am Anfang eines Gruppen- ist, wie er sich gerade fühlt oder ob er heute über
bildungsprozesses – wohler und sicherer. Wichtig etwas Bestimmtes sprechen will. Die Äußerung
ist, dass jede Gruppe selbst die Form der Anrede aus- des Teilnehmers wird nicht kommentiert. Man
wählt, mit der alle Mitglieder einverstanden sind. fasst sich dazu sehr kurz, aus einem Blitzlicht soll
10 Dabei scheint die Einheitlichkeit der Anrede wichti- kein Flutlicht werden!Falls bei 12 Teilnehmern je-
ger zu sein als die Form. der 1 Minute spricht, ist sonst schon eine viertel
Stunde vorüber. Ist eine Gruppe größer, kann es
Räumliche Bedingungen günstiger sein, Blitzlichter oder kurze Gespräche in
Die räumlichen Rahmenbedingungen können star- kleinen Gruppen anzuregen und aus jeder Klein-
ken Einfluss auf die eigentliche Gruppenarbeit neh- gruppe das Wichtigste in die gesamte Gruppe ein-
men. Die einzelnen Gruppenleiter und Gruppen ge- zubringen.
stalten den Rahmen entsprechend ihres Geschmacks
sehr unterschiedlich. Man sollte sich aber darüber Hauptteil
klar werden, dass die Rahmenbedingungen, die man Der Hauptteil wird entsprechend des Anliegens
schafft oder akzeptiert, eine Aussage darüber ma- der Gruppe gestaltet. Daher sind auch verschiedene
chen, wie man sich die Gruppenarbeit vorstellt. In- Methoden angemessen. Als Leiter kann man z. B.
dem man sich z. B. um angemessene Rahmenbedin- bestimmte Arbeitstechniken anregen, kreative Me-
gungen für die Gruppenarbeit sorgt, verdeutlicht man thoden oder Übungen anbieten oder gar spezielle
schon das erste Mal sein Interesse an dieser Gruppe, Themen einbringen. In jedem Fall achtet man auf die
den Teilnehmern und den behandelten Inhalten. Einhaltung von Zeit und Regeln.
Falls persönliche Dinge besprochen werden, ist
es wichtig, für eine ungestörte Atmosphäre zu sor- Beendigung
gen. Ein einfaches Schild an der Tür »Bitte nicht Es empfiehlt sich, die Sitzung ähnlich zu beenden,
stören!« kann nützlich sein. Günstig ist es, wenn alle wie man sie begonnen hat. Da die Blitzlichtmethode
Teilnehmer im Kreis sitzen, damit sich alle gegen- aber oft zu viel Zeit in Anspruch nimmt, kann man
seitig sehen können. Ansonsten gilt, dass was für auch fragen, ob jemand zum Schluss noch etwas
die eine Gruppe richtig ist, für eine andere völlig un- sagen möchte. Auch kann es nützlich sein, Dinge, die
angemessen sein kann. Es lohnt sich daher, dann nach und außerhalb der Gruppe stattfinden können,
und wann die äußeren Rahmenbedingungen in der anzuregen (etwas zu tun, zu schreiben, über etwas
Gruppe zu besprechen. nachzudenken). Wichtig ist, dass die Sitzung tat-
10.4 · Aggressionsmanagement – Deeskalationsstrategien
183 10

sächlich beendet wird, und die Gruppe sich nicht reich, deeskalierend (mod. nach Fäh-Oehy u. Ilkow,
einfach irgendwie auflöst. 2004):
4 zeitnah und angemessen reagieren,
! Die Arbeitsweise der Gruppe wird auch von
4 Grund bzw. Gründe des Aggressionsverhaltens
den Rahmenbedingungen bestimmt. Daher
identifizieren,
müssen diese sorgfältig bedacht werden.
4 ruhig, sicher, bestimmt und selbstbewusst auf-
treten, ohne zu provozieren,
4 Sicherheit aller Beteiligten bedenken, Flucht-
10.4 Aggressionsmanagement – und Notfallmöglichkeiten, gefährliche Gegen-
Deeskalationsstrategien stände,
4 Verantwortung mit anderen Mitarbeitern teilen,
10.4.1 Allgemeines zur Psychologie 4 deeskalierende Interventionen sollten, wenn
von Eskalationen möglich, nur von einer Person ausgehen,
4 Aufrechterhaltung von Empathie, Aufrichtig-
Eine Eskalation ist Ausdruck einer sich aggressiv keit, Respekt und Fairness,
entwickelnden zwischenmenschlichen Interaktion, 4 Signalisierung von Einfühlung und Sorge,
die einhergeht mit einer stufenweisen Zunahme 4 kleine Zugeständnisse, nur wo wirklich möglich,
von emotionalen und kognitiven Spannungsbögen. erlauben,
Diese können von einer einfachen interaktiven Ver- 4 Klient nicht in die »Ecke« drängen,
härtung bis hin zu Selbst- und Fremd-Zerstörung 4 Vermeiden von persönlichem Machtkampf,
reichen. In der Regel erfolgt dieses Geschehen in 4 Achtung und Aufrechterhaltung des Selbstwert-
Stufen, wobei jede Stufe mit einem Schwellenerleben gefühls,
verbunden ist, das uns zur Besinnung, zum Innehal- 4 verbale und nonverbale Kommunikation ziel-
ten oder zur Umkehr aufruft. Bei diesen Schwellen führend und bewusst einsetzen,
handelt es sich um intuitives Erfahrungswissen, das 4 bedachtsam Verhandlungsangebote anbieten.
dem Selbstschutz durch warnende, das Bewusstsein
aufrüttelnde Signalfunktionen dient. Unter anderem
deshalb schlägt ein Konflikt nicht gleich in völlige 10.4.3 Erklärungsmodelle für
Zerstörung um, sondern intensiviert sich aufbau- Aggressionshandlungen
end, sofern nichts dagegen unternommen wird. und Eskalationen
Ihren Anfang nimmt eine Eskalation in der sub-
jektiven Bedeutungsgebung aufgrund eines Differen- Die meisten aggressiven Handlungen und Eskalati-
zerlebens, meist zwischen mindestens zwei Personen. onssituationen von Seiten der Klienten werden in
Dabei erlebt einer der Beteiligten den Umgang mit den ersten Tagen der Behandlung bzw. Betreuung
einer Differenz (Sichtweise) so, dass er durch das verzeichnet. Seltener treten sie im weiteren Behand-
Handeln des Anderen dabei beeinträchtigt wird, die lungs- und Betreuungsverlauf auf. Hervorzuheben
eigenen Vorstellungen, Gefühle oder Absichten so zu ist, dass Bezugspersonen seltener Übergriffen ausge-
leben oder zu verwirklichen, wie er es möchte. Das setzt sind!
zieht Veränderungen der Wahrnehmung, des Den- Die Gründe für Eskalationen sind in der Regel
kens, des Fühlens und des Handelns nach sich. komplexer Natur, indem meist mehrere auslösende
Faktoren zusammenspielen. Diese Faktoren können
ihren Ursprung in folgenden Erklärungsmodellen
10.4.2 Allgemeines zur Deeskalation haben:
4 klientenbezogenes Erklärungsmodell, z. B.:
Deeskalierend einzugreifen bedeutet, eine bestehen- 5 krankheitsbedingte Verhaltensänderungen
de oder sich anbahnende Aggressionsstufe zu durch- durch Wahrnehmungsverzerrungen (Wahn,
brechen, sodass das Aggressionsniveau sinken kann. Halluzinationen),
Folgende Verhaltensregeln erweisen sich als hilf- 5 Bedrohungserleben und Angst,
184 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

5 reduzierte Impulskontrolle, onsskalierung, Selbstreflexion oder Handlungskon-


5 eingeschränkte, mangelnde Kommunikati- zepte, bieten nicht nur einen wichtigen und notwen-
onsmöglichkeiten, digen präventiven Beitrag, sondern bringen eine
4 situationsbezogenes Erklärungsmodell, z. B.: zeitgemäße pflegeprofessionelle Haltung zum Aus-
5 Zwangsunterbringung, druck. Diese Haltung orientiert sich nicht, wie bisher
5 Vorerfahrungen aller Beteiligten, an einem defizitär geprägten Handlungsverständnis
5 Infrastrukturelle Faktoren, z. B.: keine oder (was fehlt?), sondern fokussiert auf eine Kompetenz-
eingeschränkte Rückzugsmöglichkeiten, und Ressourcenorientierung (was ist da?). Dies führt
räumliche Enge, neue – veränderte – Umge- zu neuen Handlungsansätzen und Handlungsaufga-
bung, Überfüllung, Ort des Geschehens ben für Pflegende.
4 interaktionsbezogenes Erklärungsmodell, z. B.: Die Integration systemischer Erklärungskonzep-
5 neue Bezugspersonen, te über die Entstehung von Aggressionen und Über-
5 Konfliktbewältigungs- und Kommunika- griffen bildet eine Grundlage, mit deren Hilfe sich
tionsfähigkeiten aller Beteiligten, der Pflege-Fokus ändern kann: Veränderung von
5 Grundhaltung und Verhalten der Mitarbei- einer monokausalen bilateralen, personenzentrier-
tenden, ten Sichtweise zu einem Verständnis systemisch be-
5 vorausgegangene Interaktionen, dingter Beziehungsstrukturen, die auch den Einfluss
5 Situationen mit Aufforderungscharakter, struktureller Faktoren berücksichtigt, ändern kann.
5 Beziehungsaufbau und Beziehungskompe-
tenz der Pflegenden, Mitarbeitenden.
10.4.4 Aggressions- und Sicherheits-
Bislang dominierte das klientenbezogene Erklä- managementkonzepte
10 rungsmodell als Begründung aggressiver Übergriffe.
Bei dieser einseitigen Sichtweise lagen die Ursachen Im Laufe der letzten Jahre haben sich vereinzelt Ag-
beim Klienten. Die systemischen Kenntnisse aus der gressions- und Sicherheitsmanagementkonzepte
Aggressions- und Gewaltforschung rücken demge- entwickelt, deren Ziel es ist, aggressives Verhalten
genüber die Qualität der Interaktion und die Quali- frühzeitig wahrzunehmen, einzuschätzen und ent-
tät der Situation bei der Entstehung von aggressivem sprechende Handlungsstrategien abzuleiten und
Verhalten in den Vordergrund und kräftigen die anzuwenden (Broset Violence Checklist – BVC, RA-
folgende Aussage. DAR Methode Regeer). Damit tragen sie auch der
Verantwortung Rechnung, die systembedingten Ge-
! Es besteht in der Regel ein eindeutiger Zu-
waltanteile psychiatrischer Pflege (z. B. Zwangsein-
sammenhang zwischen Verhaltensauffällig-
weisung, Zwangsbehandlung) deutlicher zu machen
keiten auf Seiten des Klienten und der sub-
und einer handlungsfähigen, pflegeprofessionellen
jektiv empfundenen Pflegebelastung von
Ebene zuzuführen.
Pflegenden.
Weitere Ziele dieser Konzepte sind (mod. nach
Dieser Zusammenhang zusammen mit der Ver- L. Regeer):
schiebung, weg vom klientenbezogenen Erklärungs- 4 die Bildung eines eindeutigen Begriffsrahmens
modell hin zu einer systemischen Sichtweise, rückt von Aggression und Gewalt,
auch die Interaktionsfähigkeiten der betreuenden 4 die Entwicklung einer (inter)nationalen eindeu-
Pflegenden in den Fokus und fördert ein Umdenken tigen Registrierung von aggressiven, gewalttäti-
wie auch eine notwendige Weiterentwicklung kon- gen Zwischenfällen,
flikt- und kommunikationspsychologischer Kompe- 4 die Entwicklung einer Sicherheitspolitik in den
tenz. So ermöglicht z. B. die Wahrnehmung und Gesundheitsinstitutionen,
Reflexion eigener Gewaltanteile in einer eskalieren- 4 die Prävention von Aggressions- und Gewalt-
den Situation eine Chance für alle Beteiligten, in handlungen durch geschultes Personal,
deren Folge präventive Maßnahmen ableitbar und 4 die Förderung von Konflikt- und Kommunikati-
generierbar sind. Diese Maßnahmen, z. B. Aggressi- onskompetenz aller Beteiligten.
10.4 · Aggressionsmanagement – Deeskalationsstrategien
185 10

Allen Konzepten gemeinsam ist, ein Raster anzubie- schung). Das modulare CFB-Training ist so aufge-
ten, das hilft, aggressives Verhalten einschätzbar zu baut, dass es methodische Grundlagen vermittelt,
machen, zu erfassen und zu dokumentieren (vgl. die die Einschätzung und Registrierung von Aggres-
Broset Violence Checklist – BVC, RADAR Methode sionen und Gewalt erfassen helfen (7 RADAR-Klassi-
Regeer). fizierung), präventive Maßnahmen schult (wie z. B.
Frühzeitiges situatives, angemessenes konflikt- Wahrnehmungs- und Kommunikationstechniken),
und kommunikationskompetentes Verhalten ermög- Interventionen einübt, die der Kontrolle von Ge-
licht im Idealfall die Verhinderung oder Begrenzung waltsituationen dienen, Sicherheitsstrategien vor-
einer Eskalationssituation bzw. es reduziert das Aus- stellt und Techniken der Nachbetreuung anbietet.
maß und die Folgeschäden aller Beteiligten in einem Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Einübung
Eskalationsereignis. Dieser präventive Ansatz findet persönlicher Sicherheitstechniken und teamorien-
zunehmend Umsetzung in stationären und ambu- tierter Sicherheitstechniken, die so entwickelt sind,
lanten psychiatrischen Einrichtungen und erfordert dass kein Beteiligter zu körperlichen Schaden durch
ein angepasstes Sicherheitsmanagement, das nicht Anwendung der CFB-Techniken kommt. Diese
nur die eigentliche »Situation« managt, sondern weit Techniken bieten einen Handlungsrahmen, deeska-
mehr berücksichtigt, wie z. B. die geplante Nachver- lierend einzugreifen und kritische Situationen zu
sorgung aller Beteiligten nach einem Zwischenfall entschärfen bzw. selbstschützende, protektive Maß-
über einen längeren Zeitraum. Hierzu sind auch nahmen zu ergreifen, die helfen können, Schlimme-
angepasste personelle Maßnahmen erforderlich, wie res zu verhindern.
z. B. modulare, wiederholende Trainingsmaßnah- Das Herzstück dieser Methode ist die RADAR-
men für das gesamte Personal, eine Dienstplange- Klassifizierung (Registrierung, Aggression, Diag-
staltung, die den Anforderungen des Sicherheits- nostik, Analyse, Risiken). Hierbei sollen möglichst
managements entspricht, infrastrukturelle Anpas- objektiv empirische Phänomene erfasst werden und
sungen, wie z. B. die Möglichkeit in die Natur zu entsprechend ihrer Muster in Gruppen zusammen-
gehen, zu laufen, zu schreien, zu toben, Telefonbü- gefasst werden, die ihrerseits verschiedenen pflege-
cher zu zerreißen, einen »Kraftraum«, Turnhalle, rischen Diagnosen zugeordnet werden. Regeer hat
um aggressive Energie auszulassen und nicht zuletzt, hierzu 3 Ebenen/Niveaus von aggressiven Problem-
je nach Arbeitsfeld, einen vor Selbstverletzungen ge- bereichen definiert und zusätzlich eine 4. Ebene zu-
schützten Isolationsraum. geführt, die er assertives Verhalten nennt (assertives
Ergänzend zur Rasterungstechnik aggressiven Verhalten steht für das Eintreten für sich selbst, um
Verhaltens fordern und fördern diese Modelle/Kon- ein bestimmtes Ziel zu erreichen, dabei respektiert
zepte gezielte, wiederholende Schulungsmaßnah- es die eigenen Rechte und Pflichten, wie auch die
men für die Anwendung physischer Sicherheitstech- der anderen):
niken, die gewaltsame Übergriffe abwehren helfen, 4 0. Niveau: assertives Verhalten,
ohne einen körperlichen Schaden beim Klienten zu 4 1. Niveau: agitiertes Verhalten,
verursachen. Dies bedarf eines regelmäßige Trai- 4 2. Niveau: verbales/psychisches Verhalten,
nings! 4 3. Niveau: physisch gewalttätiges Verhalten.
Exemplarisch für diese Aggressions- und Sicher-
heitskonzepte wird die Methode von Leo Regeer Alle Ebenen/Niveaus hat er in weitere 3 Ebenen un-
vorgestellt. terteilt und diesen bestimmte Verhaltensmerkmale
zugeordnet, z. B.:
Aggressions- und Sicherheitsmanagement 1. Niveau: agitiertes Verhalten:
nach der Methode Leo Regeer 4 1. Ebene:
Leo Regeer entwickelte Mitte der 90er Jahre eine Me- 1. Ausstrahlung der Spannung,
thode, der er eine Klassifizierung wahrzunehmen- 2. erhöhte physische Aktivität,
der aggressiven Verhaltens zugrunde legte und mit 3. erhöhtes Volumen und Sprechtempo,
einem Training ergänzte (CFB: Controle uit Fysieke 4. mäßiges Schwitzen,
Beheersing – Kontrolle und physische Beherr- 5. leichter Tremor,
186 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

6. ängstlicher Affekt, weiligen Kontext ihrer Lebens- und Arbeitswelt zu


7. Spannung mimisch lesbar, begegnen. In der Psychiatrie haben integrierte Ver-
8. Konzentrationsverlust, sorgungsmodelle, wie gegenwärtig in der Gesund-
4 2. Ebene: heitsreform gefordert, bereits Eingang gefunden.
9. erhöhte Schrecksamkeit, Psychiatrische Versorgungsmodelle haben in vielen
10. zunehmende Unruhe und Aktivität, Bereichen des Gesundheitswesens damit eine Vor-
11. Gefühl der zunehmenden Spannung, reiterrolle gegenüber anderen Versorgungsbereichen
12. geballte Fäuste und Hände, eingenommen. Behandlungskontinuität über die
13. weitere Erhöhung des Tempos und Sprech- institutionellen Schranken hinweg – stationär-, teil-
volumens, stationär-, ambulant-, komplementär – findet bereits
14. Ansprüche stellen, prozessorientiert statt. Die Einbeziehung des fami-
15. verbale Bezichtigungen und Äußerungen liären, beruflichen und sozialen Umfeldes, wie etwa
der Bedrohung, die selbstverständliche Berücksichtigung psycholo-
16. Hyperwachsamkeit, gischer und sozialer Faktoren in der Diagnostik und
4 3. Ebene: Behandlung, haben bereits Eingang gefunden.
17. ausladende Aktivität, Multiprofessionelles Handeln spielt im thera-
18. zielloses Auf- und Abgehen, peutischen Prozess unter Mitwirkung von Patienten
19. Schreien und Weinen, und Angehörigen eine wesentliche Rolle und hat ei-
20. Fluchen, nen höheren Grad an Selbstverständlichkeit als in
21. heftiges Schwitzen, anderen Disziplinen erreicht.
22. Verstörtheit/Hast,
! »Mit den Stichworten ‚verhandeln statt
23. Gefühl des bevorstehenden Verlusts der
10 Kontrolle und mögliche Gewalt.
behandeln’, im Dialog und im Trialog (Patient,
Angehöriger, Profi) Entscheidungen erarbei-
ten, ist ein entscheidender Schritt zum mündi-
Aus der Zuordnung und Einteilung der beobacht-
gen Patienten getan, dessen Mitwirkungsbe-
baren Merkmale ergibt sich eine Einschätzung des
reitschaft mit dieser Entwicklung dramatisch
vorhandenen aggressiven Potenzials und Verhaltens,
gestiegen ist.« (Pörksen, 2004, S. 331)
auf das dann adäquat deeskalierend reagiert werden
soll. Die Fähigkeit, kompetent und adäquat zu re- Die Forderung nach Teilhabe an Arbeit und am
agieren, wird im Rahmen der Trainingsmodule ge- gesellschaftlichen Leben ist für viele, vor allem chro-
schult, bedarf aber darüber hinaus stetiger Weiter- nisch psychisch kranke Menschen, noch nicht er-
entwicklung. reicht. Auch heute sind noch viele psychisch er-
krankte Menschen in Heimen untergebracht, die mit
Unterstützung allein oder mit anderen zusammen,
10.5 Zusammenarbeit mit in größtmöglicher Autonomie leben könnten.
ambulant-komplementären Nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft
Einrichtungen liegt die bedarfsgerechte vollstationäre Zahl für eine
ausreichende Versorgung bei 0,55 – 0,8 Behand-
Die Reform der stationären Psychiatrie in Richtung lungsplätze je 1000 Einwohner, dabei wird die kon-
ambulanter und gemeindenaher Versorgung stellt krete Messziffer entsprechend den regionalen Be-
neue Herausforderungen an die Pflege. Die pflegen- dingungen bestimmt (vgl. Fritze, Schmaus u. Saß,
den Funktionen, welche die Gesundheit fördern, 2005). Die regionalen Bedingungen sind unter-
erhalten und Krankheit verhindern, gewinnen an schiedlich, da z. B. in ländlichen Regionen der am-
Bedeutung. Der gesellschaftliche Auftrag der Pflege bulant-komplementäre Bereich zu wenig ausgebaut
bedeutet in diesem Zusammenhang den geschlosse- ist und daher vermehrt stationäre Behandlungsplät-
nen Settingansatz, z. B. der stationären Versorgung, ze vorgehalten werden. Die vollstationäre psycho-
zu verlassen und in der Versorgung dem einzelnen therapeutische Versorgung ist in vielen ländlichen
Menschen, der Familie und ganzen Gruppen im je- Regionen überwiegend wohnortfern in Rehabilita-
10.5 · Zusammenarbeit mit ambulant-komplementären Einrichtungen
187 10

tionskliniken angesiedelt. Mittelfristig gilt es eine Im psychiatrischen Versorgungssystem nimmt der


Veränderung zu Gunsten einer wohnortnahen Be- Bereich der komplementären Versorgung eine nicht
handlung in psychiatrischen Fachkrankenhäusern zu unterschätzende Rolle ein. Gemeint sind da-
und Abteilungen umzusetzen. Neben der Einbin- mit außerklinische Einrichtungen für psychisch
dung in die gemeindenahe psychiatrische Akutver- erkrankte Menschen, die nicht dem engeren Sinne
sorgung werden von den Fachkliniken zunehmend der Behandlung dienen, jedoch aber im Hinblick
rehabilitative Aufgaben übernommen. Abhängig auf eine Stabilisierung der genannten Personen-
von lokalen Gegebenheiten können in Häusern, die gruppe eine entscheidende Funktion übernehmen.
aus Gründen mangelnden Bedarfs über keine bet- Institutionen der komplementären Versorgung
tenführende Abteilung für Psychiatrie und Psycho- sind z. B. Kontaktstellen, tagesstrukturierende Ein-
therapie verfügen, für den psychiatrisch-psychothe- richtungen, Krisendienste, betreute Wohneinrich-
rapeutischen und psychosomatischen Bedarf Liai- tungen, Einrichtungen zur Arbeitsrehabilitation
son-Dienste eingerichtet werden. Die Verzahnung etc.
von voll- und teilstationärer sowie ambulanter Ver-
! In der psychiatrischen Versorgung ist dieser
sorgung wird durch Institutsambulanzen, die für
Bereich nicht nur als komplementär (ergän-
schwerst chronisch psychisch erkrankte Menschen
zend) zu verstehen, sondern hat mit der zu-
ein Behandlungs- und Versorgungsangebot vorhal-
nehmenden Reintegration in die Gesellschaft
ten, ergänzt. Die ambulante Behandlung wird durch
als psychiatrische Behandlung und Versor-
niedergelassene Ärzte (Fachärzte für Psychiatrie und
gung eine zentrale Aufgabe.
Psychotherapie, Hausärzte) und Psychologische-
Psychotherapeuten sichergestellt. Für die Betreuung In den Empfehlungen der Expertenkommission
chronisch psychisch erkrankter Menschen, die oft (Bundesministerium für Jugend, Familie und Ge-
bedeutsame Einschränkungen in mehreren Lebens- sundheit) Ende der 1980er Jahre, wurde für die psy-
bereichen hinnehmen müssen, sollten beschützte chiatrische Pflege festgelegt, dass v. a. der ambulant-
Wohnmöglichkeiten vorgehalten werden. Weitere komplementäre Bereich als zentrales Arbeitsfeld
Hilfen, wie ambulante Pflegedienste oder spezielle ausgebaut werden soll. Erst heute scheint es, hat
psychiatrische Pflegedienste, Ergotherapie und Sozi- sich dieses psychiatrische Arbeitsfeld als Aufgaben-
alarbeit, stehen zur Verfügung (vgl. Schwarz u. a., feld psychiatrischer Pflege etabliert. Psychiatrische
2003). Pflege findet heute in nahezu allen Bereichen der
Um das Ziel der frühzeitigen Integration in das psychiatrischen Versorgung statt und ist ein fester
individuelle Lebensumfeld des psychisch erkrank- Bestandteil von multiprofessionellen Teams. Die
ten Menschen zu fördern, werden zusätzlich zu Kompetenzerweiterung wird durch das breite Auf-
den Fachkliniken und Abteilungen, Tageskliniken gabenspektrum der psychiatrischen Pflege deutlich.
und komplementäre Einrichtungen im Netzwerk Es umfasst auf der einen Seite Tätigkeiten einer qua-
der psychiatrischen Versorgung bereitgehalten. Ab- lifizierten Behandlungspflege und auf der anderen
schließend ist anzumerken, dass diese Entwicklung eine enge Kooperation mit anderen Diensten und
in Deutschland – auch fast 30 Jahre nach der Psy- koordinierenden Tätigkeiten im Sinne eines Case-
chiatrie-Enquete – jedoch noch nicht flächende- Managements.
ckend erreicht ist. Besonders in den ländlichen Die Zusammenhänge von Gesundheitsförde-
Bereichen besteht an dieser Stelle noch Nachhol- rung und die Aufgaben der psychiatrischen Pflege
bedarf. innerhalb eines gemeindenahen Versorgungssys-
Innerhalb der Gesundheitsversorgung lassen tems, die in allen Lebensbereichen des zu betreuen-
sich verschiedene Bereiche unterscheiden: den Patienten stattfinden können, verlangen ein ho-
4 stationärer (Krankenhäuser, Rehabilitationskli- hes Maß an Kompetenzen. . Abb. 10.1 gibt einen
niken), Überblick über das gesamte Spektrum psychiatri-
4 teilstationärer (Tageskliniken) und scher Versorgung.
4 ambulanter Bereich (z. B. niedergelassene Ärzte,
Institutsambulanzen).
188 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

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* Beziehung gestalten Aufgaben
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* Koordination in der Versorgung


verhaltensbezogene * komplementär begleiten
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* Aufsuchen – Nachsorge Aufgaben

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. Abb. 10.1. Gesundheitsförderung und psychiatrische Pflege im Netzwerk der Versorgung

10.6 Soziotherapie Spitzenverbände der Krankenkassen genutzt und im


nach § 37a SGB V Januar 1995 das Modellprojekt »Ambulante Reha-
bilitation Psychisch Kranker« gestartet. Das Modell-
10.6.1 Einleitung projekt wurde wissenschaftlich begleitet und diente
schließlich als Grundlage für die sozialrechtliche Ver-
Die Psychiatrie-Enquete (1975), das Modellpro- ankerung der ambulanten Soziotherapie. Durch das
gramm der Bundesregierung (1980–1985) sowie die Gesundheitsstrukturgesetzt wurde im Jahr 2000 die
Empfehlungen der Expertenkommission (1988) ha- ambulante Soziotherapie, gemäß den Empfehlungen
ben den Ruf nach ambulanter Versorgung immer der Expertenkommission, als eine neue Leistung
lauter werden lassen. Bis dahin waren die ambulan- der Krankenkassen für psychisch kranke Menschen
ten Versorgungsangebote für psychisch kranke Men- in das SGB V eingeführt, verankert im §37a SGB V.
schen sehr rar gesät. Die Zahl der psychiatrischen Die Soziotherapie stellt einen wichtigen Schritt
Großkrankenhäuser mit bis zu 1000 Betten war groß; im Strukturwandel der psychiatrischen Versorgung
die Anzahl der darin untergebrachten Langzeitpati- – weg von der institutions- und angebotsorientierten
enten ist nach wie vor nur geringfügig gesunken. Für hin zur personen- und bedarfsorientierten Behand-
die meisten chronisch psychisch kranken Menschen lung – dar. Die Verankerung der ambulanten Sozio-
überwiegt die wohnortferne stationäre gegenüber therapie im Sozialgesetzbuch als ein Bestandteil der
der ambulanten Versorgungsform. ambulanten Versorgung psychisch kranker Men-
Die Maxime »so viel ambulant wie möglich schen, auf die jeder Versicherte einen »einklagba-
und so wenig stationär wie nötig« haben dann die ren« Rechtsanspruch hat, entspricht ebenfalls den
10.6 · Soziotherapie nach § 37a SGB V
189 10

Forderungen der Expertenkommission und bedeu- 4 Der Patient soll in die Lage versetzt werden,
tet, dass der Forderung nach Gleichstellung psy- durch Soziotherapie die erforderlichen Leistun-
chisch kranker Menschen mit körperlich kranken gen zu akzeptieren und selbstständig in An-
Menschen entsprochen wurde. spruch zu nehmen.
4 Soziotherapie ist koordinierende und begleiten-
de Unterstützung auf der Grundlage definierter
10.6.2 Gesetzliche Grundlage Therapie(teil)ziele.
4 Arbeiten im sozialen Umfeld der Patienten (d. h.
Die gesetzliche Vorschrift zur Leistungserbringung vertraute Umgebung, Einbeziehung von Ange-
der ambulanten Soziotherapie ist der §37a SGB V. hörigen, Freunden etc. ist möglich).
Während in Abs. 1 dieses Gesetzes die ambulante So-
ziotherapie grundsätzlich beschrieben ist, werden in Den Patienten betreffende
Abs. 2 die in den Soziotherapie-Richtlinien nach §92 Voraussetzungen
SGB V (veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 217, Therapeutische Leistung
S. 23735, vom 21.11.2001) näher zu konkretisieren- Es muss eine therapeutische Leistung vorhanden
den inhaltlichen Anforderungen zu den Vorausset- sein, d. h. die Patienten müssen ein Grundverständ-
zungen, Art und Umfang der Versorgung genannt. nis sowie eine Form der Krankheitseinsicht haben,
Umfassend definiert wird ambulante Soziothe- um diese Leistungen überhaupt in Anspruch neh-
rapie in den Soziotherapie-Richtlinien hinsichtlich men bzw. umsetzen zu können. Sie müssen über
der Grundlagen und Ziele, der Indikation und The- eine notwendiges Maß an Belastbarkeit, Motivier-
rapiefähigkeit, des Leistungsinhalts, der Verordnung barkeit und Kommunikationsfähigkeit verfügen. Sie
und des Leistungsumfangs als auch des Inhalts und sollten in der Lage sein, Absprachen einhalten zu
Umfangs der Zusammenarbeit des verordnenden können.
Arztes mit dem Leistungserbringer.
Personenkreis
Anspruchsvoraussetzungen In Frage kommen nur Erkrankungen des schi-
§37a Abs. 1 SGB V beschreibt die Anspruchsvoraus- zophrenen Formenkreises sowie verschiedenste
setzungen für Patienten: depressive Erkrankungsbilder bei Grundlage be-
4 Es kommen Patienten in Betracht, die schwer stimmter Fähigkeitsstörungen. Diese werden an-
psychisch krank und nicht in der Lage sind, ärzt- hand der GAF-Skala bemessen. Hier kommt eine
liche oder ärztlich verordnete Leistungen selbst- soziotherapeutische Versorgung nur für einen be-
ständig in Anspruch zu nehmen. schränkten Teil psychisch erkrankter Menschen
4 Krankenhausbehandlung muss verkürzt, ver- zum Tragen.
mieden oder ersetzt werden, wenn diese gebo- Folgende Diagnosen stellen eine Indikation zur
ten, aber nicht durchführbar ist. Soziotherapie dar:
4 Schizophrenie (F20.0 bis F20.6),
Es werden 2 Hauptziele verfolgt: 4 schizotype Störung (F21),
4 Verkürzung, Vermeidung oder Ersatz von Kran- 4 anhaltende wahnhafte Störung (F22),
kenhausbehandlung, wenn diese geboten, aber 4 induzierte wahnhafte Störung (F24),
nicht ausführbar ist. 4 schizoaffektive Störung (F25).
4 selbstständige Inanspruchnahme ärztlicher oder
ärztlich verordneter Leistungen. Diagnosen aus dem Bereich der affektiven Störun-
gen:
Diese Ziele werden durch verschiedene Maßnahmen 4 gegenwärtig schwere depressive Episode mit
erreicht: psychotischen Symptomen im Rahmen einer
4 Motivierungsarbeit und strukturierte Trainings- bipolar affektiven Störung (F31.5),
maßnahmen sollen dem Patienten helfen, psy- 4 schwere depressive Episode mit psychotischen
chosoziale Defizite abzubauen. Symptomen (F32.3),
190 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

4 gegenwärtig schwere depressive Episode mit Im Betreuungsplan müssen enthalten sein:


psychotischen Symptomen im Rahmen einer 4 Benennung der in den vergangenen 6 Monaten
rezidivierenden depressiven Störung (F33.3). in Anspruch genommenen stationären psychi-
atrischen Hilfen,
Voraussetzung für die Verordnung von Soziothera- 4 Anamnese,
pie sind Defizite in den folgenden Bereichen. 4 Diagnose,
Fähigkeitsstörungen: 4 aktueller Befund mit Art und Ausprägung der
4 Beeinträchtigung durch Störungen des Antriebs, Fähigkeitsstörungen und Schweregrad gemäß
der Ausdauer und der Belastbarkeit, durch Un- GAF-Skala,
fähigkeit zu strukturieren, durch Einschränkun- 4 die angestrebten Therapie(teil)ziele mit Angabe
gen des planerischen Denkens und Handelns der erforderlichen Teilschritte (Nah- und Fern-
sowie des Realitätsbezuges, ziel),
4 Störungen im Verhalten mit Einschränkung 4 die zur Erreichung der Therapie(teil)ziele vorge-
der Kontaktfähigkeit und fehlender Konfliktlö- sehenen therapeutischen Maßnahmen,
sungsfähigkeit, 4 die zeitliche Strukturierung der therapeutischen
4 Einbußen im Sinne von Störungen der kogniti- Maßnahmen,
ven Fähigkeiten, wie Konzentration und Merk- 4 die Prognose.
fähigkeit, der Lernleistungen sowie des problem-
lösenden Denkens, Die Soziotherapie umfasst die erforderliche Koordi-
4 mangelnde Compliance im Sinne eines krank- nation und terminliche Abstimmung der ärztlichen
heitsbedingt unzureichenden Zugangs zur ei- Behandlung und der ärztlich verordneten Leistun-
genen Krankheitssymptomatik und mangelnde gen der Behandlung (auch zu anderen Leistungser-
10 Fähigkeit zum Erkennen von Konfliktsituatio- bringern) sowie ggf. die Begleitung des Patienten zu
nen und Krisen. den einzelnen Behandlungsmaßnahmen.
Der Soziotherapeut verrichtet Arbeit im häusli-
GAF-Skala: Gemessen wird das Niveau der psycho- chen Umfeld. Ein Beispiel: Durch Mietrückstände
sozialen Funktionsstörungen anhand der GAF-Ska- droht eine Kündigung der Wohnung. Der Soziothe-
la. Um Soziotherapie verordnen zu können, darf der rapeut entwirft mit dem Patienten eine Strategie, um
Wert 40 (von 100) auf der GAF-Skala nicht über- dies zu vermeiden.
schreiten. Es wird eine fortlaufende soziotherapeutische
Dokumentation durchgeführt, insbesondere über
! Besonders indiziert ist Soziotherapie für Pati-
Art und Umfang der durchgeführten Maßnahmen.
enten, die im letzten Jahr mehrfach wegen
Es erfolgt eine Berichterstattung an den verordnen-
der Schwere ihrer psychiatrischen Erkrankung
den Arzt, die Krankenkasse und evtl. den MDK.
stationär behandelt werden mussten oder bei
denen eine stationäre Behandlung unmittel- Maßnahmen
bar droht.
Zu den durchgeführten Maßnahmen gehören:
Motivations-(antriebs-)relevantes Training. Mit
dem Patienten werden praktische Übungen zur Ver-
10.6.3 Arbeit des Soziotherapeuten besserung von Motivation, Belastbarkeit und Aus-
dauer durchgeführt. Sie finden im Lebensumfeld des
Die Durchführung der Soziotherapie setzt voraus, Patienten statt.
dass ein Betreuungsplan erstellt wird. Er ist das Er- Handlungsanleitung und Vermittlung von Selbst-
gebnis eines Abstimmungsprozesses zwischen dem hilfe, d. h. der Soziotherapeut muss nicht zwangsläu-
Patienten, dem verordnenden Arzt und dem Sozio- fig alle im soziotherapeutischen Behandlungsplan
therapeuten (STP). Er wird zu Beginn der Maßnah- festgelegten Therapieziele selbst erbringen, er kann
me vom Leistungserbringer erstellt und kontinuier- bei entsprechender therapeutischer Notwendigkeit
lich aktualisiert. an Fachkräfte aber auch an Hilfskräfte delegieren.
10.6 · Soziotherapie nach § 37a SGB V
191 10

Grundsätzlich sollten aber alle fachlichen Aspekte Leistungserbringer nicht nur die häusliche, soziale
der Versorgung von Fachpersonen mit den im fest- und berufliche Situation des Patienten, er kann
zulegenden Vertrag und den Bundesempfehlungen auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte
zur Soziotherapie definierten Vorraussetzungen ge- zur Unterstützung einbeziehen. Außerdem soll der
leistet werden. Ausschließlich Hilfstätigkeiten, die Leistungserbringer nach einem soziotherapeuti-
keine fachlichen Vorraussetzungen verlangen, wie schen Betreuungsplan die Inanspruchnahme ärztli-
Begleitung zu Arztbesuchen, Begleitung zu weiter- cher Behandlung und verordneter Leistungen für
führenden Diensten oder einfache tagesstrukturie- den Patienten koordinieren.
rende Tätigkeiten könnten ggf. nach gemeinsamer Um die Therapieziele zu erreichen, kann So-
Absprache des behandelnden Arztes und des Sozio- ziotherapie auch den Patienten an komplementäre
therapeuten delegiert werden. Hier ist der individu- Dienste heranführen. Außerdem soll sie Patienten
elle Einzelfall entscheidend. motivieren, diese Leistungen überhaupt in Anspruch
Anleitung zur Verbesserung der Krankheitswahr- zu nehmen.
nehmung. Dies bedeutet das Aufzeigen und die Ver- Besonders wichtig ist: Soziotherapie leistet auf-
mittlung von Auswirkungen einzelner Krankheits- suchende Hilfe in Krisen- und Notsituationen. Sie
symptome. umfasst sowohl aktive Hilfe und Begleitung als auch
Hilfen beim Erkennen von Frühwarnzeichen ei- Anleitung zur Selbsthilfe. Dabei soll Soziotherapie
ner Verschlechterung des Krankheitszustands zur den Patienten zur Selbständigkeit anleiten und ihn
Krisenvermeidung, sowie die Förderung der Com- so von der soziotherapeutischen Betreuung unab-
pliance und von gesunden Persönlichkeitsanteilen. hängig machen.
Hilfe in Krisensituationen. Bei auftretenden Kri- Soziotherapie ist zuerst eine Koordinationsleis-
sen erfolgt entsprechende Hilfe zur Vermeidung er- tung. Der Soziotherapeut soll den Betroffenen durch
heblicher Verschlimmerung sowohl der Krankheit den Dschungel von Leistungen führen und Angebo-
als auch der häuslichen, sozialen wie der beruflichen te, wie berufliche Rehabilitation, Ergotherapie, Psy-
Situation des Patienten, ggf. auch aufsuchend. chotherapie, Pflege und ärztliche Behandlung mit-
einander koordinieren. Außerdem soll Soziotherapie
Leistungsumfang den Patienten motivieren, diese Leistungen über-
Es besteht eine zeitliche Begrenzung der Therapie- haupt in Anspruch zu nehmen.
stunden: insgesamt 120 Stunden je Krankheitsfall Viele Betroffene sind krankheitsbedingt an-
innerhalb eines Zeitraumes von höchstens 3 Jahren. triebsgemindert und nur eingeschränkt belastbar,
Eine Verordnung umfasst maximal 30 Therapieein- mitunter fehlen aufgrund früher Störungen viele
heiten. Eine Soziotherapieeinheit umfasst 60 Minu- wichtige lebenspraktische Kompetenzen. Mit sozio-
ten, die maßnahmebezogen in kleinere Zeiteinhei- therapeutischer Unterstützung zur Verbesserung
ten aufgeteilt werden kann. Die Soziotherapieeinheit von Motivation, Belastbarkeit und Ausdauer können
ist im Regelfall als Einzelmaßnahme, in begründeten die Betroffenen wichtige Alltagskompetenzen (wie-
Fällen auch als Gruppenmaßnahme zu erbringen der) erlernen.
(bis zu 12 Teilnehmer). Dann umfasst die Soziothe- Es herrscht inzwischen Einvernehmen, dass ein
rapieeinheit 90 Minuten. stabiles und stützendes soziales Umfeld wesentli-
Die Soziotherapie ist zu beenden, wenn: chen Einfluss auf den Verlauf schwerer psychischer
4 sich herausstellt, dass die Therapieziele nicht Erkrankungen hat. Gute soziale Ressourcen tragen
erreicht werden können, oder bedeutsam zur Stabilisierung bei. Isolation und Be-
4 die Therapieziele vorzeitig erreicht werden. nachteiligung produzieren Stress. Zwei Drittel der
Psychosekranken erleiden infolge der Erkrankung
Konkrete Arbeit soziale Einschränkungen in verschiedenen Lebens-
Soziotherapie findet im sozialen Umfeld der Betrof- bereichen, die sich in sozialem Rückzug manifestie-
fenen statt und unterstützt einen Prozess zur Förde- ren können. Unbehandelt haben diese Veränderun-
rung von sozialer Kompetenz und einen besseren gen dauerhafte Auswirkungen auf den Krankheits-
Umgang mit der Erkrankung. Dabei analysiert der verlauf und verschlechtern die Prognose. Hier knüpft
192 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

Soziotherapie

Grundlagen:
• SGB V, § 37a
• Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen
• Empfehlungen des Spitzenverbände der Krankenkassen
• Leistungs- u. Vergütungsverträge nach SGB V, § 132 b

... kann verordnet werden:


• zur Vermeidung oder Verkürzung von Krankenhausaufenthalt
• zur Sicherstellung ambulanter ärztlicher Behandlung
• zur Realisierung einer Brückenfunktion zu bestehenden sozialversicherungs- und
steuerfinanzierten Behandlungs- und Rehabilitationsangeboten
• zur Koordination notwendiger Hilfen einschließlich der Motivation zu deren Nutzung

Krankenhaus Institutsambulanz
kann Soziotherapie niedergelassener Arzt kann Soziotherapie
nicht verordnen verordnen –
kann Soziotherapie nicht verordnen,
3 Probestunden
aber an niedergelassenen Nervenarzt
überweisen
Überweisung

Überweisung
Empfehlung

10

niedergelassener Nervenarzt
– prüft das Vorliegen der Voraussetzungen
– verordnet:
a) direkt (evtl. bereits unter Hinzuziehung des STD)
b) Vorschaltung von 5 Probeeinheiten, dann Verordnung

Patient
1. Erkrankung aus dem schizophrenen
Formenkreis (ICD 10: F 20.0–20.6, 21, 22,
Verordnung

24, 25) zw. 20 und 40 Punkten auf der


GAF-Skala
2. schwere affektive Störung (F 31.5, 32.3, 33.3
5 Probeeinheiten • ist motiviert und fähig, Absprachen
bedarf Erstellung eines einzuhalten
vorläufigen • benötigt Unterstützung bei der
Betreuungsplans zw. Wahrnehmung ärztl. verordneter
Patienten, Arzt u. STD Maßnahmen

. Abb. 10.2. Schematische Darstellung der Verordnung von Soziotherapie


Literatur
193 10

Soziotherapie an, indem sie Betroffene dabei unter- 4 Wie definieren Sie den Begriff Eskalation? 7 Kap.
stützt, mit Hilfen zur Kontaktanbahnung und Bera- 10.4.1
tung zur Beziehungsgestaltung ein solches Umfeld 4 Nennen Sie mindestens 5 Verhaltensregeln, die
aufzubauen oder im sozialen Kontext (Familie) Kon- hilfreich sein können, das Aggressionsniveau
flikte zu bewältigen. zu senken! 7 Kap. 10.4.2
Den betroffenen Menschen steht ein professio- 4 Beschreiben Sie in kurzen Zügen ein Aggres-
neller Soziotherapie-Dienst (STD) zur Seite. Die am- sions- und Sicherheitsmanagementkonzept!
bulant und stationär versierten Fachpflegekräfte und 7 Kap. 10.4.4 u. Kap. 10.4.5
Sozialpädagogen besitzen eine mehrjährige Berufs- 4 Welche verschiedenen Bereiche lassen sich in-
erfahrung. Sie sichern die Einbindung in einen ge- nerhalb der Gesundheitsversorgung unterschei-
meindepsychiatrischen Verbund. Sie nehmen auch den? 7 Kap. 10.5
die Rolle des Wegweisers durch die verschiedene 4 Was soll die Soziotherapie erreichen? 7 Kap.
Instanzen des Gesundheitswesens wahr: Eine Ver- 10.6.1
ordnung zur Soziotherapie bedarf sehr spezifischer 4 Welche Vorraussetzungen sind für schwer psy-
Wege, wie . Abb. 10.2 veranschaulicht. chisch kranke Menschen maßgebend, um So-
ziotherapie zu erhalten? 7 Kap. 10.6.2
Überprüfen Sie Ihr Wissen! 4 Wie setzt sich der Betreuungsplan zusammen?
4 In welchem Kontext sind Pflegeinterventionen 7 Kap. 10.6.3
zu betrachten? (Vorbemerkung) 4 Welche Maßnahmen unterstützen den betroffe-
4 Welche Hilfsmittel stehen mir für die Entschei- nen Menschen darin, Handlungskompetenz zu
dungsfindung der »richtigen« Pflegeinterven- erlangen? 7 Kap. 10.6.3
tion zur Verfügung und was muss ich bei de- 4 Wie ist der Leistungsumfang von Soziotherapie
ren Anwendung berücksichtigen? (Vorbemer- gestaltet? 7 Kap. 10.6.3
kung)
4 Welche Beziehungen bestehen zwischen Patient Literatur
und Pflegekraft? 7 Kap. 10.1 Almvik R, Woods P (1998) The Broset Violence Checklist (BVC)
4 Warum ist »Interaktion« nicht gleichbedeutend and the prediction of inpatient violance: Some prelimiary
mit »Beziehung«? 7 Kap. 10.1 results. In: Psychiatric Care 6: 208
Almvik R, Woods P (2003) Short-term risk prediction: the Broset
4 Welche Rolle spielt die Beziehung bei der Hei-
Violence Checklist. In: Journal of Psychiatric and Mental
lung? Kap. 7 10.1.1 Health Nursing 10: 231
4 Was bedeutet Kongruenz in der Beziehungspfle- Almvik R, Woods P, Rasmussen K (2000) The Broset Violence
ge und wie kann diese erreicht werden? 7 Kap. Checklist: Sensivity, specifity and interater reliability. In:
10.1.2 Journal of Interpersonal Violence 12: 1284
Bauer R (2004) Beziehungspflege. ibicura, Unterostendorf
4 Was kann die Beziehung behindern und wie er-
Bell CC (Ed) (2000) Psychiatric aspects of violence: Issues in pre-
kenne ich dies? 7 Kap. 10.1.3 vention and treatment. New directions for mental health
4 Wie können Beziehungsbehinderungen geklärt services, 86. Jossey-Bass, San Francisco
werden? 7 Kap. 10.1.4 Benner P (1994) Stufen der Pflegekompetenz. Hans Huber,
4 Was führt zur Ambivalenz seitens der Pflegen- Bern
den zwischen geforderter Nähe und gebotener Benner P, Wrubel J (1997) Pflege, Stress und Bewältigung –
Gelebte Erfahrung von Gesundheit und Krankheit. Hans
Distanz? 7 Kap. 10.2 Huber, Bern
4 Wie können sich Pflegende vor übermäßiger Brandt R (2002) Inwieweit beeinflusst die pflegerische Bezie-
Nähe oder Distanz zum Patienten schützen? hung aggressives Verhalten von Patienten? In: Psych Pfle-
7 Kap. 10.2.1 ge 8: 253
4 Was sind Regeln des Umgangs in einer Gruppe Breakwell GM (1998) Aggression bewältigen – Umgang mit
Gewalttätigkeit in Klinik, Schule und Sozialarbeit. Hans
nach der Themenzentrierten Interaktion? 7 Kap.
Huber, Bern
10.3.2 Cohn R (1997) Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten
4 Wie ist eine Gruppensitzung aufgebaut? 7 Kap. Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu einer Päda-
10.3.2? gogik für alle. Klett-Cotta, Stuttgart
194 Kapitel 10 · Pflegeinterventionen

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11

11 Pharmakologie
in der psychiatrischen Pflege
Katrin Nehring

11.1 Definitionen – 196

11.2 Grundsätzliches zum Umgang mit Psychopharmaka – 197

11.3 Neuroleptika – 197


11.3.1 Umgang mit Neuroleptika – 197
11.3.2 Compliance – 199
11.3.3 Verabreichungsformen – 200

11.4 Antidepressiva – 200


11.4.1 Umgang mit Antidepressiva – 200
11.4.2 Compliance – 202
11.4.3 Verabreichungsformen – 202

11.5 Phasenprophylaktika (Lithium und Antiepileptika) – 202


11.5.1 Umgang mit Lithium – 202
11.5.2 Compliance – 203
11.5.3 Verabreichungsformen – 204
11.5.4 Antiepileptika (Antikonvulsiva) – 204

11.6 Benzodiazepine – 204


11.6.1 Umgang mit Benzodiazepinen – 204

11.7 Antidementiva – 205


11.7.1 Umgang mit Antidementiva – 205

Literatur – 206
196 Kapitel 11 · Pharmakologie in der psychiatrischen Pflege

) ) In Kürze Wissensinhalte
Nach der Lektüre dieses Kapitels haben Sie:
Die pharmakologische Behandlung in der Psychi- 7 Einblick in die Problematik der Psychopharma-
atrie ist seit Jahren und Jahrzehnten sowohl für kotherapie genommen
Patienten als auch für Ärzte und Pflegepersonal 7 allgemeine psychopharmakologische Kenntnis-
ein kontrovers diskutiertes Thema. Aus diesem se erworben
Grunde ist es wichtig, sich diesem Thema mit der 7 die verschiedenen Aspekte der Psychopharma-
entsprechenden Sensibilität zu nähern. In jedem kotherapie kennen gelernt
Fall sollte das Risiko der Krankheit gegen den Nut- 7 Anregungen erhalten, über Ihren Umgang mit
zen und das Risiko der Therapie sorgfältig abge- dem Patienten zu reflektieren
wogen werden (Finzen, 2004). Wichtig ist, dass sich
alle Beteiligten zusammensetzen und eine mög-
lichst optimale Behandlungsstrategie erarbeiten. 11.1 Definitionen
Im Zusammenhang mit der mehr oder minder vor-
handenen Bereitschaft des Patienten, Medikamen- Pharmakologie
te zu nehmen, wird häufig das Schlagwort »Compli- Lehre von der Wirkung fremder und körpereigener
ance« benutzt. Compliance kann nur entstehen, Stoffe auf den Organismus sowie der Nutzung be-
wenn der Patient so gut wie möglich über seine stimmter chemischer Stoffe als Heilmittel = Pharma-
Krankheit informiert ist, darüber zu einer Krank- ka. (Roche Lexikon Medizin)
heitseinsicht gelangen kann, und dann seine Be-
reitschaft zur Behandlung vertrauensvoll genutzt Pharmaka
wird (Dörner u. Plog, 2002). Das bedeutet, den Pa- Arzneimittel, Medikamente; pflanzliche, tierische
tienten nach seinen individuellen Bedürfnissen in oder synthetisierte Stoffe, die gemäß Arzneimittel-
die Behandlung einzubeziehen. Wenn eine ge- gesetz bestimmt sind zur Diagnostik oder – in
11 meinsame Linie gefunden ist, sollte ausreichend geeigneter Dosierung – als Therapeutika – zur Be-
Zeit zur Klärung bzw. Erklärung genommen wer- einflussung von Zuständen oder Funktionen des
den. Vor allem die Wirkung und die Nebenwirkun- Körpers, als Ersatz für natürlich vom menschlichen
gen der gewählten Medikamente sollten zufrieden oder tierischen Körper erzeugte Wirkstoffe oder
stellend besprochen werden. Dann werden weni- Körperflüssigkeiten sowie zur Beseitigung oder
ger Ängste, Befürchtungen und Zweifel auftau- zum Unschädlichmachen von Krankheitserregern,
chen, sollte z. B. die gewünschte Wirkung nicht Parasiten oder körperfremden Stoffen. International
eintreffen oder eine Nebenwirkung besonders gebräuchlich ist die Angabe des Freinamens (INN).
heftig auftreten. (Roche Lexikon Medizin)
Bei all dem ist wichtig, dass – angepasst an
die aktuelle Situation – medikamentöse Therapie, Pharmakotherapie
Soziotherapie und Psychotherapie miteinander Krankenbehandlung mit Arzneimitteln. (Roche Le-
verknüpft werden. xikon Medizin)
In diesem Kapitel geht es um den Umgang und
die Verabreichungsformen von psychopharmako- Psychopharmakologie
logischen Medikamenten: Antidepressiva, Neuro- Lehre von den Wirkungen und Nebenwirkungen der
leptika, Phasenprophylaktika (Lithium, Antiepi- Psychopharmaka, ihrer Anwendung sowie der che-
leptika), Benzodiazepine und Antidementiva. Die mischen und physiologischen Grundlagen. (Roche
schwierige Phase der Einstellung wird dabei beson- Lexikon Medizin)
ders im Mittelpunkt stehen, ebenso die Geduld, die
an dieser Stelle von beiden Seiten gefordert ist. Ein Psychopharmaka
zentrales Thema wird hierbei die Compliance sein. Psychotrope Arzneimittel, die nach ihrer klinischen
Schließlich wird auch die Rückfallprophylaxe an- Wirkung in Hauptgruppen eingeteilt werden. Die
gesprochen. chemische Struktur dient erst in zweiter Linie zur
11.3 · Neuroleptika
197 11

weiteren Unterscheidung, da bereits geringe Verän- Interesse an der Meinung des Patienten besteht –
derungen am Molekül zu beträchtlicher Änderung denn es geht um seine Behandlung – wird er bereit
der Wirkung führen können. (Roche Lexikon Medi- sein, einen gemeinsamen Behandlungsplan zu ent-
zin) wickeln. Fühlt sich der Patient angenommen und
verstanden, auch in seinen Ängsten, Befürchtungen
Psychopharmakotherapie und Zweifeln, wird er die an ihn gerichteten Ange-
Behandlung mit Psychopharmaka. (Roche Lexikon bote auch als wirkliche Hilfe annehmen oder sich
Medizin) zumindest damit auseinander setzen können. Auch
ein »nein!« von Seiten des Patienten sollte akzeptiert
werden und zu einer gemeinsamen Suche nach an-
11.2 Grundsätzliches zum deren Wegen führen (Dörner u. Plog, 2002). Aller-
Umgang mit Psycho- dings muss am Ende ein klares Behandlungskonzept
pharmaka erkennbar sein, worüber sich der Patient bewusst
sein muss. Es liegt an den Möglichkeiten des jewei-
Zu Beginn ist die Anmerkung wichtig, dass unter ligen Menschen, der Hilfe wünscht, ob er zu diesem
dem Begriff »Umgang« die Beziehung des Patienten Zeitpunkt wirklich für eine Behandlung bereit ist
zur meist plötzlich notwendig gewordenen medika- oder vielleicht noch Zeit braucht, um diese Klarheit
mentösen Therapie und die pflegerische Beziehung für sich zu gewinnen. Dann sollte die Behandlung
zum Patienten zu verstehen ist. Am Therapiebeginn abgebrochen und bei Bedarf erneut aufgenommen
steht meist eine mehr oder weniger ausgeprägte Ab- werden. Klare Grenzen sind ein sehr wichtiger Teil
wehr des Betroffenen der Erkrankung gegenüber. therapeutischer Arbeit, die mehr helfen als eine
Der Patient hat wenig bzw. keine Krankheitseinsicht. unausgereifte Therapie (Dörner u. Plog, 2002).
Die Herausforderung pflegerischen Handelns be- Es ist wichtig zu wissen: Einem akut kranken
zieht sich hierbei besonders auf die Motivations- Menschen muss evtl. vorübergehend die Entschei-
arbeit. Fehlt die Einsicht in die Notwendigkeit einer dung abgenommen werden. Dies kann bis hin zur
Therapie, erschwert dies die Situation zusätzlich. Die Einweisung auf eine geschützte Station führen. Auch
Chance der Pflege liegt in dem Aufbau einer ver- dieser Punkt sollte zu Beginn der Behandlung klar
trauensvollen Beziehung zum Patienten, die diesem besprochen werden, damit sie nicht als Bestrafung
helfen kann, eine selbstständige Meinung zu entwi- empfunden wird.
ckeln und sich zumindest teilweise auf eine medi-
! Für die Pflegeperson ist es ein Lernprozess,
kamentöse Therapie einzulassen.
anzuerkennen, dass Hilfe auch abgelehnt
Eine Verbesserung seines Zustandes, der un-
werden kann, weil ein Mensch sich für sein
zweifelhaft auf die Medikamente zurückzuführen
eigenes Leben aktuell anders entscheidet.
ist, wird dieses Bemühen unterstützen. Ungünstig
Auch wenn seine Entscheidungen nicht zu
wirkt sich eine Verschlechterung des Zustandes
seinem Nutzen sind, sollte er dafür nicht ver-
durch die Medikation aus, die den Patienten in sei-
urteilt werden.
ner gesamten Abneigung, sich überhaupt behandeln
zu lassen, bestärkt (Finzen, 2004). Umso wichtiger
erscheint gerade in diesem Punkt eine ehrliche und
umfangreiche Aufklärung zu den Wirkungen und 11.3 Neuroleptika
Nebenwirkungen des eingesetzten Medikaments.
Dies kann Widerstände hervorrufen, was jedoch 11.3.1 Umgang mit Neuroleptika
besser ist, als mögliche Folgen zu verschweigen, die
dann – sobald sie tatsächlich auftreten – jegliches Neuroleptika sind häufig ungeliebte Medikamente.
Vertrauen des Patienten zerstören und eine drin- Sie haben nach wie vor einen schlechten Ruf. Dabei
gend erforderliche Therapie verhindern. Daher ist es ist es bemerkenswert, dass sie von der fÖfentlichkeit
wichtig, den Patienten empathisch als gleichberech- mit größeren Vorbehalten – um nicht zu sagen mit
tigten Partner anzusehen. Nur wenn ein ehrliches Vorurteilen – betrachtet werden als von den Men-
198 Kapitel 11 · Pharmakologie in der psychiatrischen Pflege

schen, die mit Neuroleptika ihre persönlichen Er- Wirkungen


fahrungen gemacht haben: »Neuroleptika würden Die Neuroleptikabehandlung schien Anfang der
nur symptomatisch wirken, sie dämpfen nur, sie achtziger Jahre gescheitert zu sein. Das Vertrauen
nähmen den Kranken ihren Willen und hätten viel- vieler kranker Menschen und der fÖfentlichkeit in
fältige unerwünschte Wirkungen« (Finzen, 2004). die Neuroleptika war in eine tiefe Krise gestürzt. »Für
Einiges davon ist richtig, anderes nicht. Richtig ist, einige Patienten ist das Elend der Behandlungsfol-
dass Neuroleptika unvollkommene Medikamente gen – insbesondere die Akathesie, Akinesie und, we-
sind, dass sie viele Wünsche offen, viele Hoffnungen niger häufig, Spätdyskinesie – so schwerwiegend wie
unerfüllt gelassen haben – dies trifft auch auf die die Symptome der Krankheit selber. Andere spre-
modernen Neuroleptika der zweiten Generation, die chen auf die verfügbaren Medikamente nur unzurei-
Atypika, zu. chend an, die für sie quälendsten Krankheitssympto-
me erfahren keine Linderung« (Finzen, 2004).
Klassifikation Die über 40 verschiedenen Neuroleptika, nach
Trizyklische Neuroleptika, heutigen Erkenntnissen als »konventionell« bezeich-
4 Phenothiazin-Derivate, z. B. Chlorpromazin, net, verursachten extrapyramidal-motorische Symp-
Fluphenazin (Lyogen, Dapotum), Thioridazin tome und die Patienten erfuhren parkinsonoide Be-
(Melleril), Troflupromazin (Psyquil), sind die einträchtigungen:
verbreitesten Neuroleptika. Ihre Derivate stellen 4 die schon erwähnte Akathesie (quälende Bewe-
die meisten gebräuchlichen Medikamentenspe- gungsunruhe),
zialitäten. Die Phenothiazine bestehen nach der 4 die nicht ungefährliche Frühdyskinesie (unwill-
chemischen Struktur aus einem Dreierring-Sys- kürliche Muskelbewegung),
tem mit einem Schwefel- und einem Stickstoff- 4 bei längerer Einnahme die Gefahr der Spätdys-
atom im mittleren Ring. kinesie.
4 Thioxanthen-Derivate, z. B. Chlorprothixen
11 (Truxal), Clopenthixol (Ciatyl), Flupentixol Das zusätzlich Belastende der Spätdyskinesie ist,
(Fluanxol), unterscheiden sich von den Pheno- dass sie fortbesteht, auch wenn das Medikament
thiazinen dadurch, dass das Stickstoffatom im schon längere Zeit nicht mehr eingenommen wurde.
mittleren Ring durch ein Kohlenstoffatom er- Es ist wichtig zu wissen: Die Spätdyskinesie besteht
setzt ist. In Wirkungen und Nebenwirkungen lebenslang!(Townsend, 1998).
sind sie sehr ähnlich. In den Wirkungen unterscheiden sie sich kaum.
4 Butyrophenon-Derivate, z. B. Haloperidol (Hal- Bei den sog. niederpotenten Mitteln stehen bei den
dol), Benperidol (Glianimon), Pipamperon (Di- Nebenwirkungen Müdigkeit und vegetative Ein-
piperon), leiten sich vom Haloperidol ab – die schränkungen im Vordergrund, bei den hochpoten-
antipsychotische Wirkung wurde bereits 1957 ten (z. B. Haldol, Fluanxol) die extrapyramidal-mo-
nachgewiesen (in besonderen Screening-Metho- torischen Symptome (Finzen, 2004).
den). Bei diesen Substanzen treten die vegetati- Das bedeutet jedoch nicht, dass die Neuroleptika
ven Nebenwirkungen ganz gegenüber den extra- der ersten Generation keine entscheidenden Fort-
pyramidalen Wirkungen in den Hintergrund. schritte gebracht hätten. Neuroleptika sind v. a. bei
4 Dibenzodiazepin, z. B. Clozapin (Leponex) (Fin- niedrigen und mittleren Dosierungen bei sehr vielen
zen, 2004). Betroffenen nach wie vor wirksam und gut verträg-
lich (Finzen, 2004).
Atypische Neuroleptika –
Neuroleptika der 2.Generation Atypika
Hierzu gehören z. B. Clozapin (Leponex), Sulprid Vor allem die schädlichen Auswirkungen der Hoch-
(Dogmatil), Risperidon (Risperdal), Olanzapin (Zy- dosierung von Neuroleptika bei begrenzter Wirkung
prexa), Seroquel (Quetiapin), Amisulprid (Solian), gaben den Anstoß zu einer Weiterentwicklung. Es
Ziprasidon (Zeldox) und Aripiprazol (Abilify) (Town- kam zur Entwicklung der Neuroleptika der zweiten
send, 1998; Finzen, 2004). Generation, die Atypika (z. B. Risperdal (Risperi-
11.3 · Neuroleptika
199 11

don), Zyprexa (Olanzapin), Seroquel (Quetiapin), und körperlich begründbaren Psychosen. Sie be-
Solian (Amisulprid), Zeldox (Ziprasidon) und Le- wirken eine Verbesserung der teilweise quälenden
ponex (Clozapin). Leponex ist mittlerweile schon psychotischen Symptome, wie Verfolgungsangst,
30 Jahre auf dem Markt, ist aber trotzdem »atypisch«. psychomotorische Erregung, Halluzinationen oder
Es war das erste Neuroleptikum, das praktisch kei- Denkstörungen. Sie wirken spezifisch auf psychoti-
ne extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen sche Symptome, ohne die Ursachen der Psychose zu
verursachte und wurde dadurch zum Modell für beeinflussen (Townsend, 1998).
Weiterentwicklungen (Finzen, 2004). Erfahrungsge-
mäß ist es nach wie vor eines der wirksamsten Neu- Nebenwirkungen
roleptika. Leponex kann jedoch zu einer massiven Die unangenehmen Nebenwirkungen müssen vom
Schädigung der weißen Blutkörperchen bis hin zum Pflegepersonal unbedingt ernst genommen werden.
vollständigen Verschwinden, der Agranulozytose Sie sind keineswegs Ausdruck der kranken Seele,
(Townsend, 1998), führen – und im ungünstigsten sondern entsprechen in dieser Situation der inneren
Fall einen tödlichen Verlauf nehmen. Deswegen sind Realität des Patienten. Dieser hat unter der Bewe-
eine strenge Indikationsstellung und engmaschige gungsunruhe wohl am schwersten zu leiden, denn
Blutbildkontrollen oberstes Gebot. Wichtig sind v. a. sie macht es fast unmöglich, still zu sitzen oder still
in der Einstellungsphase EKG-, EEG-, Blutdruck- zu liegen. Die Patienten wissen sehr genau, zwischen
und Pulskontrollen wegen möglicher Hypotonie dieser Störung und der typischen psychosebedingten
und Tachykardie. Ebenso unerlässlich sind regel- inneren Unruhe zu unterscheiden (Podvoll, 1994).
mäßige Temperaturmessungen, um ein mögliches Der kranke Mensch, der auf die Behandlung un-
malignes neuroleptisches Syndrom zu erkennen. willig reagiert, wird diese sehr wahrscheinlich früher
Dies ist durch hohe Temperaturen gekennzeichnet, oder später abbrechen. Deswegen sollte die neuro-
kommt allerdings sehr selten vor. leptische Einstellung so gestaltet werden, dass mög-
Die Neuroleptika der zweiten Generation zeich- lichst wenige Nebenwirkungen auftreten bzw. dass
net aus, dass sie auf komplexen »chemischen« Wegen vorher diese aufklärend besprochen werden. Durch
die extrapyramidal-motorische Schranke umgehen intensive Beratung kann eine veränderte Haltung
(Finzen, 2004). Die meisten modernen Neuroleptika zum Medikament erreicht werden (Finzen, 2004).
sind heute bei vergleichbarer Dosierung ähnlich oder Häufig versuchen Patienten, mit übermäßigem Kaf-
sogar besser wirksam als z. B. Haloperidol – und sub- fee- und Nikotingenuss die Nebenwirkungen ab-
jektiv besser verträglich. Es besteht eine berechtigte zumildern.
Hoffnung, dass die meisten von ihnen bei langer An-
wendung nicht zu Spätdyskinesien führen werden.
Auch moderne Neuroleptika sind nicht ohne 11.3.2 Compliance
Nebenwirkungen. Die meisten haben eine deutliche
Gewichtszunahme zur Folge, die Gefahr der Entwick- Die Behandlung psychisch kranker Menschen stützt
lung eines Diabetes besteht und vereinzelt wirken sie sich auf die medikamentöse Therapie, die soziothe-
auf das blutbildende System (Townsend, 1998). Trotz- rapeutischen Maßnahmen und auf die Psychothera-
dem ist heute eine auf den einzelnen kranken Men- pie. Die Medikamente unterdrücken die psychoti-
schen abgestimmte Psychopharmakotherapie besser schen Symptome und versetzen den Betroffenen in
als vor 10 Jahren möglich. Sie erfordert allerdings die Lage, möglichst gut mit seiner Erkrankung leben
mehr Kenntnisse und Erfahrungen als damals. zu können. Aus diesem Grund ist die Compliance
– die zuverlässige Einnahme der Medikamente –
! Die neuen Neuroleptika haben die alten nicht
von sehr großer Bedeutung. Allerdings ist bekannt,
überflüssig gemacht. Sie sollten Patienten,
dass die Compliance bei psychotischen Patienten
die diese nachweislich gut vertragen, nicht
weit weniger vorhanden ist als bei anderen chroni-
vorenthalten werden.
schen-psychischen Erkrankungen. Die Folgen sind
Die Besonderheit der Neuroleptika ist die therapeu- dann häufige Rückfälle und ein ungünstiger Krank-
tische Beeinflussung von manischen, schizophrenen heitsverlauf (Dörner u. Plog, 2002).
200 Kapitel 11 · Pharmakologie in der psychiatrischen Pflege

Schnell wird die fehlende Kooperation auf die Einnahme von Medikamenten gegen Depressionen
Krankheit zurückgeführt, da sie den Willen, den fast als normal angesehen. Bei der Anwendung von
Antrieb und die Ausdauer beeinträchtigt, nicht sel- Antidepressiva stehen das Ausmaß und die Schwere
ten auch die Fähigkeit, wichtige und unwichtige der depressiven Symptomatik im Vordergrund.
Dinge voneinander zu unterscheiden. Allerdings ist
! Nicht jede depressive Verstimmung ist als
auch zu berücksichtigen, dass die unangenehmen
krankhaft anzusehen. Erst wenn feststeht,
Nebenwirkungen antipsychotischer Medikamente
dass der Mensch eine tiefergehende depressi-
die Compliance beeinflussen (Podvoll, 1998).
ve Verstimmung hat, die nicht in kurzer Zeit
alleine oder durch Psychotherapie abklingt,
11.3.3 Verabreichungsformen ist die Idee einer medikamentösen Therapie
berechtigt (Finzen, 2004).

Neuroleptika werden meist in Tablettenform verab-


reicht. Dies kann zu einem Problem werden, wenn Klassifikation
der Patient die Medikamente nicht einnehmen will Trizyklische Antidepressiva
oder er einfach Mühe hat, mehrmals am Tag an die Trizyklische Antidepressiva bestehen strukturche-
Einnahme zu denken. misch aus einem dreiringigen Grundgerüst und lei-
Eine andere Verabreichungsform ist die Depot- ten sich von Imipramin (Tofranil) ab – 1957 als ers-
spritze, die intramuskulär gegeben wird. Dies wird tes Antidepressivum entdeckt (Kuhn). Klassisches
oft eher akzeptiert als die ständige orale Einnahme. Standard-Antidepressivum ist das Amitriptyllin
Bei instabiler Compliance ist die Depotspritze eine (Saroten). Des weiteren z. B. Clomipramin (Anafra-
gute Lösung, da das Depotmedikament wöchentlich nil), Doxepin (Aponal), Trimipramin (Stangyl)
bzw. 14-tägig meist in der Arztpraxis gegeben wird (Townsend, 1998; Finzen, 2004).
und eine engere Anbindung erforderlich macht. Von Zwischen trizyklischen Neuroleptika und tri-
11 den atypischen Neuroleptika gibt es bisher jedoch zyklischen Antidepressiva besteht eine strukturche-
nur wenige Depotpräparate. mische Verwandtschaft. Je nach der räumlichen
Da es sich oftmals um eine lebenslang notwen- Struktur wirken diese Substanzen der Gruppen
dige Medikamenteneinnahme handelt, sollten es neuroleptisch oder antidepressiv: Bei dreiringigen
nur »soviel wie nötig und so wenig wie möglich« Strukturen die annähernd eben sind, ist mit einer
Tabletten sein, die eingenommen werden müssen. neuroleptischen Wirkung zu rechnen; sind sie stark
Die Patientencompliance ist am besten, wenn nur gegeneinander verkantet, ist mit einer antidepressi-
einmal am Tag ein Medikament geschluckt werden ven Wirkung zu rechnen.
muss, jedes weitere Medikament und jede zusätz- Bei den neueren Antidepressiva fehlt diese Ver-
liche Einnahme lassen die Compliance drastisch wandtschaft in der chemischen Struktur (Finzen,
sinken (Finzen, 2004). 2004).
! Die unregelmäßige Einnahme von Medika- Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-
menten ist eher die Realität als die Ausnahme! hemmer (SSRI, NASSA)
SSRI sind wirksame Antidepressiva mit im Vergleich
(z. B. mit Trizyklika) geringen unerwünschten Wir-
11.4 Antidepressiva kungen, z. B. Fluoxetin (Fluctin), Sertralin (Zoloft),
Paroxetin (Paroxat).
11.4.1 Umgang mit Antidepressiva Neu sind die NASSA, noradrenerge und spezi-
fisch serotonerge Antidepressiva. Sie erhöhen die Frei-
Den Antidepressiva eilt im Gegensatz zu den Neuro- setzung von Noradrenalin und Serotonin. Zugleich
leptika nicht unbedingt ein schlechter Ruf voraus. blockieren sie bestimmte Rezeptoren, die typische
An Depressionen zu leiden, wird mittlerweile größ- serotonerge Nebenwirkungen auslösen, z. B. Venlafa-
tenteils akzeptiert. Dementsprechend wird auch die xin (Trevilor) (Townsend, 1998; Finzen, 2004).
11.4 · Antidepressiva
201 11

Bei der Depression ist die verfügbare Menge von lich bei bestehender Suizidalität, braucht der kranke
Noradreanlin und/oder Serotonin im synaptischen Mensch den Schutz einer psychomotorischen Dämp-
Spalt vermindert. Die Signalübermittlung zwischen fung, bis sich die Wirkung der Antidepressiva ein-
den Nervenzellen wird damit gestört. Ähnlich ver- stellt (Townsend, 1998).
hält es sich bei der neuroleptischen Behandlung.
! Die Ungeduld des kranken Menschen darf uns
Ziel der antidepressiven Therapie ist es, die Men-
nicht dazu verleiten, grundlos und womöglich
ge der verfügbaren Botenstoffe zu erhöhen:
zum Schaden des Patienten, das Medikament
4 durch die Erhöhung der Produktion von Nor-
zu wechseln, bevor es überhaupt eine Chance
adreanlin oder Serotonin in der abgebenden
hatte, seine Wirkung zu zeigen (Finzen, 2004).
Nervenzelle,
4 durch die Blockade der natürlichen Wiederauf-
nahme der Botenstoffe durch die abgebende prä- Nebenwirkungen
synaptische Zelle. Die vegetativen Nebenwirkungen sind zu Beginn der
Behandlung am stärksten, das heißt, der Patient
Die für psychische Funktionen wichtigsten Neuro- fühlt sich anfänglich noch schlechter, ohne eine ent-
transmitter sind das Noradrenalin, Serotonin, Dopa- lastende Wirkung zu spüren. Zum Teil erlebt der
min, Azetylcholin und Gamma-Amino-Buttersäure Betroffene kaum Nebenwirkungen und verspürt
(GABA). Wichtige Botenstoffe sind weiterhin Hist- auch noch keine Wirkung. Beide Situationen sind
amin, Glutamat, Opioide und Adenosin (Finzen, für den kranken Menschen schwierig zu verstehen
2004). und auszuhalten. Hier gehört Ermutigung und Un-
terstützung zu den Aufgaben des Pflegepersonals,
Wirkungen damit der Betroffene trotzdem wieder Mut und Ver-
Es werden bei Antidepressiva 3 Wirkungsweisen trauen in das Leben fassen kann (Finzen, 2004).
voneinander unterschieden, die bei den einzelnen
Präparaten unterschiedlich ausgeprägt sind (Town- Geduld
send, 1998): Die Behandlung von depressiven Patienten kann für
4 vorwiegend dämpfende Wirkung, das Personal zu einer Geduldsprobe werden. Viele
4 vorwiegend depressionslösende und stimmungs- Menschen haben, obwohl sie schon durch einige De-
aufhellende Wirkung, pressionen hindurchgegangen sind, aktuell keine
4 vorwiegend aktivierende und antriebssteigernde Erinnerung mehr daran, dass diese auch wieder ab-
Wirkung. geklungen sind. Im Gegenteil, sie haben aufgrund
ihrer Erfahrungen und Symptomatik, die akut meist
Die Wirkung von Antidepressiva setzt nicht sofort schlimmer erlebt wird als bei den vorhergehenden
ein. Dies ist ein Problem, da die Patienten einen ho- Krankheitsphasen, noch weniger Hoffnung auf Bes-
hen Leidensdruck haben, der bis zur Suizidalität serung. »So schlimm wie diesmal war es noch nie –
führen kann. Die Ungeduld, die Verzweiflung und ich schaffe es bestimmt nicht noch einmal, da wieder
das tägliche Hoffen auf eine Stimmungsverbesse- raus zukommen. Ich habe keine Kraft mehr« (Pod-
rung, weil der momentane Zustand als unaushaltbar voll, 1994).
erlebt wird, setzen die Zusammenarbeit einer erheb- Die meisten Betroffenen haben die Geduld ver-
lichen Belastungsprobe aus. Erst nach 10 bis 14 Ta- loren, die Grundvoraussetzung einer erfolgreichen
gen ist erfahrungsgemäß mit einer stimmungsauf- Behandlung ist. Natürlich ist es auch hier eine ver-
hellenden, depressionslösenden Wirkung zu rech- trauensvolle Beziehung zum Patienten von großer
nen. Bedeutung. Im Gespräch sollte ehrlich darüber ge-
Antriebssteigerung und Aktivierung stellen sich sprochen werden, dass eine Besserung nicht von
von alleine ein, wenn die Stimmung sich wieder auf- heute auf morgen zu erreichen ist, aber mit großer
zuhellen beginnt. Bei quälender innerer Unruhe, Wahrscheinlichkeit eintritt, wenn nicht mit diesem
zwanghaftem Grübeln meist in den Morgenstunden dann mit einem anderen Medikament (Dörner u.
(morgendliches Früherwachen) und selbstverständ- Plog, 2002).
202 Kapitel 11 · Pharmakologie in der psychiatrischen Pflege

11.4.2 Compliance Saroten (Amitriptylin), Anafranil (Clomipramin),


Ludiomil (Maprotilin), Aponal (Doxepin), zu geben.
Auch bei Depressionen ist es kein leichtes Unterfan-
! Patienten, die mit den alten Antidepressiva
gen, die regelmäßige Einnahme der Medikamente
gute Erfahrungen gemacht haben, sollten
zu gewährleisten. Die verordneten Tabletten werden,
diese niemals vorenthalten werden. Saroten
wie die Erfahrung zeigt, viel unregelmäßiger ein-
und Anafranil haben zudem eine sehr gute
genommen als angenommen wird.
Wirkung auf unterschiedliche Schmerzzustän-
! Die Verminderung des Antriebs, das Gefühl, de, seien sie rein somatisch oder als Somati-
dass alles keinen Sinn mehr hat, zusammen sierungsstörung zu sehen.
mit dem verzögerten Wirkungseintritt und
Die Infusionstherapie ist eine weitere Möglichkeit,
den Nebenwirkungen der Antidepressiva füh-
macht allerdings einen stationären Aufenthalt nötig.
ren bis zur Verweigerung der Kooperation
Vorteil kann die Förderung der therapieunterstüt-
Auch hier ist wiederum eine gründliche Aufklärung, zenden Regression, durch die tägliche mehrstündige
die Berücksichtigung schlechter Erfahrungen in Bettruhe, sein – die Erlaubnis wirklich krank zu
der Vergangenheit und die Einbeziehung von Ange- sein. Wirklich bewiesen, dass diese sehr aufwändige
hörigen notwendig und trägt zur Verbesserung der Methode der herkömmlichen Tabletteneinnahme
Compliance bei (Dörner u. Plog, 2002). überlegen ist, gibt es nicht. Der Versuch einer medi-
kamentösen Therapie sollte einer Infusionstherapie
! Bei ausbleibendem Behandlungserfolg ist
immer vorausgehen (Finzen, 2004).
die Möglichkeit einer mangelhaften Compli-
ance immer zu bedenken, zu hinterfragen
und zu thematisieren. Meist lässt sich dann – 11.5 Phasenprophylaktika
bei einer vertrauensvollen Beziehung – ein (Lithium, Antiepileptika)
anderer gemeinsamer Weg erarbeiten.
11 11.5.1 Umgang mit Lithium

11.4.3 Verabreichungsformen Anfang der sechziger Jahre wurde entdeckt, dass


Lithiumsalze bei der manisch-depressiven Erkran-
Antidepressiva werden üblicherweise in Tabletten- kung eine prophylaktische Wirkung haben. Die Li-
form eingenommen. Sie werden entweder morgens thiumprophylaxe hat das Leben der betroffenen
und mittags verordnet, z. B. Cipramil (Citalopram), Menschen und deren Angehörigen deutlich erleich-
Paroxat (Paroxetin), Trevilor (Venlafaxin), Zoloft tert. Die regelmäßige Lithiumgabe führt bei 75 %
(Sertralin), Fluctin (Fluoxetin), oder nur abends, z. B. der Kranken dazu, dass weitere depressive und ma-
Remergil (Mirtazapin), oder auch in einer bewährten nische Phasen verhindert werden. Selbst wenn diese
Kombination, z. B. Cipramil (morgens) und Remergil Wirkung ausbleibt, ist noch eine deutliche Verkür-
(abends). Diese Kombination wirkt positiv auf die zung, ein geringerer Schweregrad oder ein selteneres
Schlafstörung/Früherwachen in der Nacht und die Auftreten zu beobachten (Finzen, 2004).
Antriebsstörung und die Stimmungsaufhellung am
Tag. Die medikamentöse antidepressive Therapie soll- Wirkungen – Rückfallprophylaxe
te sich mindestens über Wochen, besser noch über
! Die prophylaktische Wirkung von Lithium setzt
Monate erstrecken (bis zu einem Jahr), bevor an eine
meistens erst nach 3 bis 6 Monaten ein. Des-
Reduzierung und schließlich an das Absetzen der Me-
halb soll die Lithiumgabe während der akuten
dikamente gedacht werden kann (Townsend, 1998).
Krankheitsphase nicht unterbrochen werden.
Die Indikationsstellung ist eher an den uner-
wünschten als an den erwünschten Wirkungen aus- Die vorbeugende Wirkung von Lithium ist nur
gerichtet. Es gilt auch hier den modernen Antidepres- bei phasischen Depressionen oder Manien bei der
siva den Vorzug vor den »konventionellen«, z. B. manisch-depressiven Erkrankung zu erwarten.
11.5 · Phasenprophylaktika (Lithium, Antiepileptika)
203 11

Sind die manischen Symptome nur gering aus- Nebenwirkungen


geprägt, kann eine Behandlung mit Lithium allein Die Behandlung ist für den Patienten mit großen
ambulant begonnen werden. Die Lithiumtherapie Belastungen verbunden. Sie muss über einen länge-
hat den entscheidenden Vorteil, dass sie problemlos ren Zeitraum geplant werden, da sie nicht ohne Ne-
in die Rückfallprophylaxe übergehen kann und zu- benwirkungen und Risiken einhergeht. Auch hier
dem viele Menschen die medikamentöse Behand- sind wieder eine vertrauensvolle Beziehung und
lung mit Lithium als weit weniger beeinträchtigend Zeit für ausführliche Gespräche angezeigt, damit
empfinden als die Behandlung mit Neuroleptika möglichst viele Fragen zufrieden stellend beantwor-
(Finzen, 2004). Lithium verursacht z. B. keine Aka- tet werden können.
thesie, keine Akinesie und keine extrapyramidal- Harmlos, allerdings als sehr störend empfunden
motorischen Symptome. wird ein feinschlägiger Tremor und eine manchmal
Bei Lithium gibt es, neben den positiven Effek- erhebliche Gewichtszunahme, unter der die Patien-
ten auf affektive Symptome, Hinweise, dass beglei- ten, vor allem Frauen, sehr leiden. Dies ist natürlich
tend zur antipsychotischen Therapie bei Behand- auch der Compliance abträglich. Eine Ernährungs-
lungsresistenz eine Wirkung zu erzielen ist (Gaebel beratung, evtl. ein Diätprogramm, können hier hilf-
u. Falkai, 2005). reich sein (Townsend, 1998).
! Trotz aller Risiken ist die Lithiumprophylaxe ! Zeichen einer Überdosierung können sein:
als einer der größten Erfolge der Psychophar- starker Tremor, Übelkeit, Durchfall, Erbrechen,
makologie anzusehen. Die Erkrankungen brin- Müdigkeit, Schläfrigkeit und Muskelschwä-
gen oft schweres Leiden und schwerwiegende che. Bei einer Intoxikation kann ein somno-
soziale Konsequenzen über die betroffenen lenter Zustand eintreten, bis hin zum Koma.
Menschen. Das Suizidrisiko ist sehr hoch! Die
Die Lithiumsalze habe eine geringe therapeutische
Verhinderung von Rückfällen ist deshalb als
Breite. Der Lithiumspiegel im Blut sollte zwischen
ein großartiger Fortschritt anzusehen. Es darf
0,6 und 0,8 mmol/l liegen, bei älteren Menschen
dabei nicht vergessen werden, dass Lithium
0,5–0,7 mmol/l nicht übersteigen. Der kranke
nur dann als ein ungefährliches Medikament
Mensch ist während der gesamten Einstellungspha-
angesehen werden kann, wenn sich der be-
se im Hinblick auf Nebenwirkungen zu beobachten
handelnde Arzt der hohen Anforderungen die-
und zu befragen.
ser Behandlung bewusst ist (Finzen, 2004)!
! Besonders wichtig ist eine sorgfältige Auf-
Es kommen für eine Therapie mit Lithium nur Pa-
klärung über die Nebenwirkungen, gerade
tienten in Frage, die innerhalb eines Jahres mindes-
dann, wenn der Patient noch an anderen kör-
tens zwei, in den letzten zwei Jahren wenigstens
perlichen Erkrankungen leidet. Je mehr Auf-
drei, oder aber jährlich eine schwere depressive, ma-
klärung, desto weniger treten Ängste auf – je
nische oder manisch-depressive Phase durchge-
weniger Ängste existieren, desto sorgfältiger
macht haben.
begleitet der Patient die Therapie (Dörner u.
! Die Indikation zur Rückfallprophylaxe sollte Plog, 2002).
streng gestellt werden und eine ausreichende
Absicherung der Diagnose sollte selbstver-
ständlich sein. 11.5.2 Compliance
Forschung und Praxis haben sich zunächst ganz auf
die Lithiumsalze konzentriert, schon bald wurden Die Behandlung mit Lithium ist nur dann sinnvoll,
bei unipolaren Depressionen auch positive Erfah- wenn sie auch über Jahre eingehalten wird. Dies muss
rungen bei der Rückfallprophylaxe mit trizyklischen sowohl dem behandelnden Arzt als auch dem Patien-
Antidepressiva gesammelt (Finzen, 2004). ten klar sein. Eine erfolgreiche Lithiumprophylaxe
verlangt vom erkrankten Menschen eine sehr ausge-
prägte Compliance, die in der akuten Phase schwie-
204 Kapitel 11 · Pharmakologie in der psychiatrischen Pflege

rig werden kann, aber auch in der phasenfreien Zeit pulsivem oder fremdaggressivem Verhalten sowie
nicht selbstverständlich ist (Dörner u. Plog, 2002). affektiven Symptomen zur Anwendung. Carbama-
zepin sollte wegen der Agranulozytosegefahr nicht
! Der Schutz vor einem Rückfall wird erst nach
zusammen mit Clozapin gegeben werden. Carbama-
monatelanger Lithiumeinnahme wirksam,
zepin hat eine gute »antimanische« Wirkung bei
und er erlischt nach Absetzen bzw. kurzer
gleichzeitiger Sedierung (Gaebel u. Falkai, 2005).
Unterbrechung der Medikamenteneinnahme
Zudem ist Carbamazepin ein seit langem bewähr-
sofort. So können monatelange Bemühun-
tes Antiepileptikum mit einem breiten Wirkungs-
gen, einen Rückfall zu verhindern, innerhalb
spektrum. Es scheint unabhängig von der anti-
kürzester Zeit zunichte gemacht werden
epileptischen Wirkung das psychische Befinden
(Finzen, 2004)!
vieler Anfallsleidender zu verbessern.
Die folgenden Antiepileptika werden mittler-
weile neben Carbamazepin und Valproinsäure zur
11.5.3 Verabreichungsformen Phasenprophylaxe eingesetzt:
Lamictal (Lamotrigen), Neurontin (Gabapen-
Lithiumsalze werden ausschließlich in Tabletten- tin), Topamax (Topiramat) und Keppra (Levitira-
form verabreicht. Quilonum retard ist hierbei das cetam) (Benkert u. Hippius, 2005).
am häufigsten verwendete Präparat. Die Gabe er- Genau wie beim Lithium ist eine sorgfältige
folgt möglichst einmal täglich, häufig abends. In der Einstellung (einschleichender Beginn) der Medikati-
Einstellungsphase sind auch Gaben zweimal pro Tag on ein wichtiger Teil der Therapie. Regelmäßige Blut-
durchaus üblich. bild- und Blutspiegelkontrollen sind unerlässlich.
Im Kontakt mit dem Patienten ist herauszu-
! Wichtig sind Blutentnahmen vor der ersten
finden, welche Nebenwirkungen möglicherweise
Lithiumgabe und dann in engen Abständen
auftreten, z. B. Müdigkeit, Schwindel, Kreislaufbe-
folgende Kontrollen des Blutspiegels, aber
11 auch der übrigen Werte, z. B. Elektrolyte, Blut-
schwerden, die so belastend sind, dass sie die Com-
pliance beeinträchtigen.
bild, Blutzucker, Nierenwerte und Urinkont-
Phasenprophylaktika finden Anwendung bei:
rollen (Townsend, 1998).
4 unipolaren und bipolaren affektiven Störungen,
Eine länger dauernde Lithiumbehandlung kann 4 schizoaffektiven Psychosen.
das Nierengewebe verändern, allerdings ohne eine
Funktionsstörung hervorzurufen. Bei bekannten
Nierenfunktionsstörungen kann es entsprechend 11.6 Benzodiazepine
rasch zu einer Erhöhung des Lithiumspiegels kom-
men, bis hin zur Intoxikation (Townsend, 1998)! 11.6.1 Umgang mit Benzodiazepinen

Benzodiazepine werden häufig begleitend zur anti-


11.5.4 Antiepileptika psychotischen Therapie verwendet. Sie haben eine
(Antikonvulsiva) geringere antipsychotische Wirksamkeit als Antipsy-
chotika, können jedoch neben Angst und Agitiert-
Seit den achtziger Jahren eröffnet sich mit dem Ein- heit auch Positivsymptome günstig beeinflussen.
satz von Antiepileptika eine neue Perspektive in der Benzodiazepine werden insbesondere in der
Behandlung der Manie und der Rückfallprophylaxe akuten Phase eingesetzt und verstärken die Wirkung
der manisch-depressiven Erkrankung. der antipsychotischen Therapie. Zur Behandlung
Lithium und Antiepileptika werden lediglich des akuten Erregungszustandes wird allerdings auf-
begleitend zur antipsychotischen Medikation gege- grund des günstigeren Nebenwirkungsspektrums
ben. Sie sind insbesondere für bestimmte Patien- eine Monotherapie mit Benzodiazepinen im Ver-
tengruppen indiziert. Tegretal (Carbamazepin) und gleich zur Kombination mit typischen Antipsychoti-
Orfiril (Valproinsäure) kommen besonders bei im- ka bevorzugt (Gaebel u. Falkai, 2005).
11.7 · Antidementiva
205 11

In der Regel werden Benzodiazepine zeitlich be- Nebenwirkungen


grenzt begleitend zur neuroleptischen Pharmako- Benzodiazepine gelten als Medikamente mit einer
therapie angewendet. Sie werden zumeist in Tablet- verhältnismäßig großen therapeutischen Breite. Sie
tenform verabreicht, allerdings ist bei Bedarf auch sind dennoch nicht harmlos und sollten vorsichtig
eine intravenöse Gabe möglich. Besondere Anwen- dosiert werden, um eine zu starke Sedierung zu ver-
dungsbereiche sind: meiden. Vor allem zu Beginn der Behandlung kann
4 psychotisch-agitierte, ängstliche und katatone es zu starker Müdigkeit, Ataxie und kognitiven Be-
Symptomatik, einträchtigungen kommen; dies bedeutet, das die
4 Akathesie, Konzentrationsfähigkeit ebenso wie das Reaktions-
4 belastende Schlafstörungen bei Schizophrenie vermögen stark herabgesetzt sind.
(Gaebel u. Falkai, 2005). Das Abhängigkeitspotenzial bei längerer Gaben
von Benzodiazepinen ist nicht zu unterschätzen. Zu-
Häufig verwendete Benzodiazepine sind (Benkert dem sollten sie nicht plötzlich abgesetzt, sondern es
u. Hippius, 2005): sollte einer allmählichen Reduzierung der Vorzug
4 kurzwirksam: Lorazepam (Tavor), Oxazepam gegeben werden, da bei zu raschem Absetzen psy-
(Adumbran), chotische Symptome und epileptische Anfälle ausge-
4 mittelwirksam: Noctamid (Lormetazepam), Le- löst werden können (Finzen, 2004).
xotanil (Bromazepam), Benzodiazepine werden hauptsächlich ergän-
4 langwirksam: Valium bzw. Faustan (Diazepam), zend zur neuroleptischen Behandlung, in der Ein-
Rivotril (Clonazepam). stellungsphase der Medikation oder bei akuter Ver-
schlechterung der Symptomatik, eingesetzt. Weiter-
Wirkungen hin bei akuten Angstzuständen, Erregungs- und
Benzodiazepine wirken spannungslösend, antiag- Spannungszuständen, akuten Schlafstörungen, aku-
gressiv, anxiolytisch (angstlösend), sedierend (beru- ter Suizidalität, bei Epilepsie und beim Alkoholent-
higend) bis hypnotisch (schlaffördernd), sie haben zugssyndrom (Benkert u. Hippius, 2005).
außerdem eine muskelrelaxierende und antikonvul-
sive (antiepileptische) Wirkung. Sie eröffnen hiermit
eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten. Sie 11.7 Antidementiva
bieten kurzfristig Erleichterung der Beschwerden,
was bei akut suizidalen oder gespannt-aggressiven 11.7.1 Umgang mit Antidementiva
Patient ein sehr gewünschter Effekt ist, außerdem
bei ausgeprägten Angstzuständen, Panikattacken Die Demenz ist ein Syndrom der Entwicklung fortbe-
und Schlafstörungen, die akut aufgetreten sind, z. B. stehender intellektueller Beeinträchtigung, von der
in einer Krisensituation oder nach einem Trauma. verschiedene Bereiche der geistigen Aktivität betrof-
Von einer regelmäßigen Einnahme über längere Zeit fen sind, wie Gedächtnis, Sprache, visuell-räumliche
ist wegen der Gefahr der Abhängigkeit unbedingt Funktionen, Gefühl oder Persönlichkeit sowie kogni-
abzusehen (Benkert u. Hippius, 2005). tive Funktionen (Wise u. Gray, 1994). Das bedeutet
Der Umbau der Benzodiazepine im Körper zu der Verlust erworbener intellektueller Fähigkeiten,
aktiven Substanzen bedingt eine Verlängerung der v. a. des Gedächtnisses, und eine Veränderung der
Wirkungsdauer, sodass es bei wiederholter Einnah- Persönlichkeit als Folge einer Hirnschädigung.
me zu einer Kumulation kommen kann. Ganz be- Es gibt unterschiedliche Typen der Demenz,
sonders ist dies bei älteren Menschen zu beachten. z. B. die Demenz vom Alzheimer-Typ, die vaskuläre
Die Halbwertzeit der meisten Benzodiazepine liegt Demenz, weiterhin die Demenz aufgrund einer
bei 24–48 Stunden. Dies heißt, dass erst einige Tage HIV-Erkrankung, eines Schädel-Hirntraumas, einer
nach dem Absetzen das Medikament völlig aus dem Parkinson-Erkrankung und aufgrund einer Creutz-
Körper verschwunden ist (Finzen, 2004). feldt-Jakobschen Erkrankung (Townsend, 1998).
Schon hier wird aufgrund der unterschiedlichen
Typen deutlich, wie schwierig die medikamentöse
206 Kapitel 11 · Pharmakologie in der psychiatrischen Pflege

Behandlung der Demenz ist, zumal die Behandlung zen und Appetitverlust sind neben Schwindel, Kopf-
die Erkrankung nur aufhalten, aber nicht heilen schmerzen, Erregtheit, Verwirrtheit, Depressionen,
kann. Dies allerdings ist für den Patienten und die Schwächegefühl, Müdigkeit, Stürzen und Schlaf-
Angehörigen ein wesentlicher Faktor: die gemein- schwierigkeiten mögliche Nebenwirkungen. Selte-
same Zeit kann verlängert, eine evtl. notwendige ner treten Schwitzen, allgemeines Unwohlsein, Ge-
Heimunterbringung kann dadurch verzögert wer- wichtsverlust oder Zittern auf.
den (Townsend, 1998). Antidementiva werden bei der Alzheimer-De-
Antidementiva werden oral in Form von Tablet- menz, der vaskulären Demenz, Demenz vom Typ
ten, Kapseln oder Tropfen eingenommen. In der des Morbus Pick und anderen demenziellen Syndro-
Behandlung der Demenz werden häufig die folgen- men eingesetzt (Benkert u. Hippius, 2005).
den Antidementiva eingesetzt:
4 Acetylcholinesterase-(AChE-)Hemmer, z. B. Überprüfen Sie Ihr Wissen!
Aricept (Donepezil), Exelon (Rivastigmin) oder 4 Wann ist es angezeigt, Neuroleptika, Antidepres-
Remenyl (Galantamin) (Benkert u. Hippius, siva und Lithium zu verordnen? 7 Kap. 11.3.2,
2005). Acetylcholin ist ein sog. »Vaguswirkstoff«, Kap. 11.4.1, Kap. 11.5.1
ein enzymatisch reguliertes Gewebshormon 4 Welche Rolle spielen Antiepileptika und Benzo-
im menschlichen Körper. Acetylcholinesterase- diazepine in der Psychopharmakologie? 7 Kap.
Hemmer sind Substanzen, die die Wirkung der 11.5.4, Kap. 11.6.1
Acetylcholinesterase hemmen und damit als 4 Was ist jeweils unbedingt bei der Gabe von
»Blocker« des Acetylcholinabbaus eine toxische Neuroleptika, Antidepressiva und Phasenpro-
Acetylcholinanreicherung bewirken (»indirekte phylaktika zu beachten? Wirkung/Nebenwir-
Parasympathomimetika«) (Benkert u. Hippius, kung? 7 Kap. 11.3.1, Kap. 11.4.1, Kap. 11.5.1
2005). 4 Weshalb ist die Compliance in der psychophar-
4 Nootropika, z. B. Nimotop (Nimodipin), Noo- makologischen Behandlung von so entscheiden-
11 trop oder Normabrain (Pirazetam). Nootropica der Bedeutung? Was zeichnet die Compliance
sind Arzneimittel, denen eine günstige Beein- aus? 7 Kap. 11.3.2, Kap. 11.4.2, Kap. 11.5.2
flussung auf die Hirnfunktionen zugeschrieben 4 Welche pflegerischen Aufgaben sind bei der
wird, z. B. Aktivierung und Vigilanzanhebung Verabreichung von Psychopharmaka unbedingt
(Benkert u. Hippius, 2005). zu beachten? 7 Kap. 11.2, Kap. 11.3.1, Kap. 11.4.1,
4 Ein weiteres Antidementivum, v. a. bei schwerer Kap. 11.4.2, Kap. 11.5.1
Demenz, ist Ebixa (Mementin).
Literatur
Wirkungen Dörner K, Plog U (2002) Irren ist menschlich. Lehrbuch der
Psychiatrie/Psychotherapie. Psychiatrieverlag, Bonn
Antidementiva erhöhen das Acetylcholin im zent-
Finzen A (2004) Medikamentenbehandlung bei psychischen
ralen Nervensystem (ZNS), tragen zu einer Verlang- Störungen – Einführung in die Therapie mit Psychophar-
samung des kognitiven Abbaus bei (Gedächtnis, in- maka. Psychiatrieverlag, Bonn
tellektuelle Funktionen), verbessern die Aktivitäten Podvoll EM (1994) Verlockung des Wahnsinns – Therapeutische
des täglichen Lebens (ADL – Activity of daily living) Wege aus entrückten Welten. Heinrich Hugendubel, Mün-
(Benkert u. Hippius, 2005). chen
Townsend MC (1998) Pflegediagnosen und Maßnahmen für
die psychiatrische Pflege. Hans Huber, Bern
Nebenwirkungen Gaebel W, Falkai P (2005) Praxisleitlinien in der Psychiatrie und
Mögliche Nebenwirkungen treten am häufigsten zu Psychotherapie (Bd 1). Steinkopff, Darmstadt
Beginn der Medikamenteneinnahme oder bei Do- Benkert O, Hippius H (2005) Kompendium der Psychiatrischen
sissteigerung auf. Diese Nebenwirkungen werden im Pharmakotherapie. Springer, Berlin Heidelberg New York
Roche Lexikon Medizin. 4. Aufl Urban & Schwarzenberg, Mün-
Allgemeinen allmählich wieder verschwinden, wenn
chen
sich der Körper an das Medikament gewöhnt hat.
Magen-Darm-Beschwerden, wie z. B. Übelkeit,
Erbrechen, Durchfall, Sodbrennen, Magenschmer-
IV

Allgemeine psychiatrische
Pflege
12 Anatomie und Physiologie des zentralen
Nervensystems (ZNS) – 209
Ewald Proll

13 Theorien zur Krankheitsentstehung – 219


Claudia Heinz

14 Verlauf psychischer Erkrankungen – 223


Claudia Heinz, Jörg Utschakowski

15 Psychopathologie – 231
Martin Meyer

16 Einteilungsmodelle psychischer
Störungen – 245
Ruth Ahrens (Kap. 16.3), Meik Friedrich (Kap. 16.2),
Claudia Heinz (Kap. 16.1), Christoph Vauth (Kap. 16.2)
12

12 Anatomie und Physiologie


des zentralen Nervensystems (ZNS)
Ewald Proll

12.1 Einführung – 210

12.2 Hirnstamm: verlängertes Mark und Hinterhirn


(Metencephalon) – 211

12.3 Zwischenhirn (Diencephalon) – 212

12.4 Endhirn (Großhirn, Telencephalon) – 214

12.5 Wie arbeitet das Gehirn? – 216

Literatur – 217
210 Kapitel 12 · Anatomie und Physiologie des zentralen Nervensystems (ZNS)

) ) In Kürze Im Gehirn gibt es kein Bindegewebe. Seine Funk-


tion übernehmen spezialisierte Nervenzellen, die
Das Gehirn ist die »Steuerzentrale« des Körpers. Es Gliazellen. Sie füllen den Raum zwischen den Ner-
regelt elementare Körperfunktionen, wie Atmung, venzellen aus, sie umgeben die Blutgefäße und sie
Herzschlag und Körpertemperatur. Es regelt den kleiden die Ventrikel aus. Dort sind sie als Ependym-
Rhythmus von Schlafen und Wachen. Es steuert zellen für die Liquorproduktion verantwortlich.
die Versorgung mit Hormonen. Es verarbeitet Infor-
mationen aus dem Körperinneren und aus unserer Die Versorgung
Umwelt. Es plant und koordiniert unsere Bewe- Das Gehirn wird durch die inneren Halsschlagadern
gungen. Es speichert Erinnerungen, Bilder, Töne und durch die Wirbelschlagadern mit Blut versorgt,
und Gefühle. Es entwirft Pläne, durchkreuzt sie die sich in einem ringförmigen Gebilde an der Un-
durch instinktive Reaktionen und erfindet Ausre- terseite des Gehirns (Circulus arteriosus) treffen.
den dafür. Aus diesem Ring entspringen drei größere Arterien,
die einzelne Bereiche des Gehirns mit Blut versorgen
Wissensinhalte (Arteria cerebri anterior, media und posterior).
In diesem Kapitel erfahren Sie mehr über: Das Gehirn ist, anders als andere Organe, durch
7 den Aufbau des zentralen Nervensystems die sog. Blut-Hirn-Schranke (ein System aus in den
7 die Funktionsweise des Gehirns Blutgefäßen liegenden Endothelzellen und einem
Mantel außen liegender Gliazellen) vom Blutkreis-
lauf abgeschirmt: nur fettlösliche Substanzen kön-
12.1 Einführung nen diese Schranke ungehindert passieren, während
Traubenzucker und Eiweiße aktiv transportiert wer-
Von außen den müssen. Störungen dieser Funktion (etwa bei
Das menschliche Gehirn wiegt etwa 1300 Gramm. Sauerstoffmangel, Vergiftungen oder Verletzungen)
Es ist über 12 Hirnnerven und über das Rückenmark machen die Schranke durchlässig, und es entwickelt
mit dem Körper und mit der Außenwelt verbunden. sich ein Hirnödem.
Seine Oberfläche hat zahlreiche Windungen und Das Gehirn hat einen enorm hohen Bedarf an
12 Furchen. Es ist in eine linke und eine rechte Hälfte Sauerstoff und Traubenzucker (etwa 6 g pro Stunde,
unterteilt. das sind 10 % des gesamten Angebots). Unterbre-
Die weiche Hirnhaut (Pia mater) bedeckt die chungen der Blutzufuhr führen innerhalb weniger
Hirnoberfläche. Mit den Schädelknochen ist das Sekunden zur Bewusstlosigkeit. Bereits nach 5 Mi-
Gehirn durch die harte Hirnhaut (Dura mater) fest nuten können bleibende Schäden der Hirnfunktion
verbunden. Dazwischen befinden sich die Spinn- eintreten, denn die Nervenzellen des Gehirns wach-
webhaut (Arachnoidea) und Flüssigkeit (Liquor), sen bei Ausfall nicht nach.
die zum Schutz und zur Versorgung des Gehirns mit
Nährstoffen beiträgt. Praxisbox
Der Liquorraum, zu dem auch die Hohlräume Bei einem Schlaganfall ist oft die Arteria cerebri
im Inneren des Gehirns (die Ventrikel) gehören, media betroffen. Halbseitige Lähmungen, Emp-
erstreckt sich vom Großhirn bis zu den unteren Aus- findungsstörungen und Störungen des Spre-
läufern des Rückenmarks. chens und des Sprachverständnisses sind die
Folge.
Im Inneren
Das Innere des Gehirns ist teils weißlich, teils grau
gefärbt. Die weiße Substanz besteht aus Bündeln von Dennoch ist das Gehirn kein statisches Gebilde. Die
Nervenfasern (z. B. der Balken – Corpus callosum Zahl der Dendriten und der Synapsen und die Emp-
–, der rechte und linke Hirnhälfte miteinander ver- findlichkeit der Rezeptoren passt sich im Laufe des
bindet), die graue Substanz aus Nervenzellen (z. B. Lebens an die jeweiligen Erfordernisse und an die
die Hirnrinde oder die Kerne der Hirnnerven). gemachten Erfahrungen an (neuronale Plastizität).
12.2 · Hirnstamm: verlängertes Mark und Hinterhirn (Metencephalon)
211 12

. Abb. 12.1. Mittelschnitt durch das Gehirn

12.2 Hirnstamm: verlängertes in der sog. Rautengrube) Endpunkte der Hirnnerven,


Mark und Hinterhirn die überwiegend Informationen aus den Sinnesor-
(Metencephalon) ganen transportieren.

Die Steuerungsvorgänge des Hirnstammes laufen Brücke


automatisch (unbewusst) und reflexhaft ab. Saug- Nach oben schließt sich die Brücke (Pons) an. Hier
reflex, Schluckreflex, Niesreflex, Hustenreflex, Herz- kreuzen weitere Nervenbahnen auf die Gegenseite,
tätigkeit, Regulation von Schlafen und Wachen, von weitere Hirnnerven haben ihre vorläufigen End-
Blutdruck und Atmung, von Gleichgewicht und punkte und es werden zahlreiche Verbindungen zwi-
Nahrungsaufnahme, die Ausführung und Koordi- schen Groß- und Kleinhirn hergestellt. Diese Ver-
nation von Bewegungen. Diese Funktionen sind bindungen sorgen u. a. für die Feinabstimmung von
relativ robust und können den Körper am Leben Bewegungen.
erhalten, selbst wenn höhere Hirnfunktionen ausge-
fallen sind. Kleinhirn
Das Kleinhirn (Cerebellum) ist eng mit den Struktu-
Verlängertes Mark ren des Hinterhirns verbunden. Es besteht aus einem
Nervenbahnen des Rückenmarks transportieren In- mittleren Teil, dem Wurm (Vermis), und zwei Klein-
formationen vom und zum Gehirn. Nach oben hirnhemisphären. Es erhält u. a. Informationen über
mündet das Rückenmark in das verlängerte Mark das Gleichgewicht (Tractus olivocerebellaris, Tractus
(Medulla oblongata). Auf Höhe der Pyramiden- vestibulocerebellaris), über den Zustand des Bewe-
bahnkreuzung teilen sich die Nervenbahnen des gungsapparates (Tractus spinocerebellaris) und über
Rückenmarks auf, um von oder zu spezialisierten Be- die motorischen Kontrollfunktionen des Großhirns
reichen des Gehirns weitergeleitet zu werden. Gleich- (Tractus pontocerebellaris). Es reguliert Muskel-
zeitig kreuzen sie von links nach rechts, und umge- spannung und -kraft, koordiniert und harmonisiert
kehrt (deswegen ist unsere linke Körperhälfte in der zielgerichtete Bewegungen über verschiedene Rück-
rechten Gehirnhälfte abgebildet, und umgekehrt). koppelungsbahnen zum Nucleus ruber und zum
Außerdem befinden sich im verlängerten Mark (u. a. Zwischenhirn (u. a. Brachium conjunctivum).
212 Kapitel 12 · Anatomie und Physiologie des zentralen Nervensystems (ZNS)

Mittelhirn in Zusammenarbeit mit den optischen Eindrücken,


Nach oben erfolgt der Übergang ins Mittelhirn (Me- die wiederum über Sehnerv (2. Hirnnerv: N. opti-
sencephalon). Hier befindet sich der Hauptanteil der cus) und Großhirn vermittelt werden.
netzartigen Formatio reticularis, die einen wichtigen
Schaltkreis für die Weiterleitung und Verknüpfung Steuerung der Nahrungsaufnahme
aller eingehenden Informationen darstellt, und die Nahrung zum Mund führen, kauen, Speichelfluss,
an der Feinabstimmung von Bewegungen beteiligt schlucken, atmen, sprechen: ein komplexer Vor-
ist. Außerdem regt die Formatio reticularis die Hirn- gang. Beteiligt sind 1. (Tractus olfactorius: Geruchs-
aktivität an und beeinflusst damit den Grad an sinn), 5. (N. trigeminus: Schmerz-, Temperatur- und
Wachheit. Geschmacksempfindungen; Steuerung der Kau-
In den vorderen Hügeln (Colliculi superiores) muskulatur), 7. (N. facialis: Steuerung der Gesichts-
der Vierhügelplatte werden Teile der optischen In- muskeln), 9. (N. glossopharyngeus: Steuerung der
formationen aufbereitet, bevor sie zu den speziali- Zunge und des Kehlkopfes, Geschmacksempfin-
sierten Zentren weitergeleitet werden. Es bestehen dungen), 10. (N. vagus: Verbindung zu den inneren
Verbindungen zum Gleichgewichtsorgan und zur Organen, zur Kaumuskulatur, zu den Speicheldrü-
Körperwahrnehmung, sodass hier auch eine Koor- sen), 11. (N. accessorius: Steuerung der Halsmusku-
dination der Bewegungen stattfindet. Pupillenreflex latur) und 12. Hirnnerv (N. hypoglossus: Steuerung
und Lidschlussreflex werden hier eingeleitet, die der Zunge).
Kopfhaltung wird – abhängig von Gleichgewichts-
und optischen Reizen – gesteuert. Steuerung von Atmung und Kreislauf
Die unteren Hügel (Colliculi inferiores) gehören 10. und 11. Hirnnerv (N. vagus, N. accessorius)
zur Hörbahn und sind für die Verbindung akusti- gehören zum vegetativen Nervensystem und be-
scher Reize mit den motorischen Steuerungsfunkti- einflussen wesentlich die Funktion der inneren
onen zuständig. Der rote Kern (Nucleus ruber) stellt Organe.
eine wichtige Verbindungsstelle zwischen Groß-
und Kleinhirn dar; er überträgt Impulse an das Rü- Feinsteuerung der Sprache beim Menschen
ckenmark und empfängt Steuersignale aus dem Alle genannten Hirnnerven mit Verbindung zur
12 Kleinhirn, die Rhythmus und Flüssigkeit von Bewe- Zungen-, Schlund- und Gesichtsmuskulatur sind
gungen koordinieren. daran beteiligt. Sie verarbeiten auch Schallempfin-
dungen auf der Ebene von Schreckreaktionen, noch
Praxisbox vor der Weiterleitung an das Großhirn.
Erkrankungen der Vierhügelplatte führen bei-
spielsweise zu Zittern und Ataxie.
12.3 Zwischenhirn

Die Hirnnerven Das Zwischenhirn vermittelt und integriert zwi-


Steuerung von Gleichgewicht und Augen- schen körpernahen, vitalen Funktionen und den
bewegungen bewusstseinsnahen, höheren Gehirnfunktionen. Es
Der 8. Hirnnerv (N. vestibulocochlearis) liefert filtert Informationen und bereitet sie für die Verar-
Gleichgewichtsinformationen aus dem Innenohr beitung auf. Es stimmt seelische und körperliche
(und leitet Schallempfindungen an das Großhirn Reaktionen mit den wechselnden Zuständen des
weiter). Nervenfasern aus dem Körperinneren (so- Körpers und der Umwelt ab.
matisch afferente und viszeroafferente Fasern) lie- Das Zwischenhirn liegt zwischen Hirnstamm
fern Informationen über Gelenkstellung und Mus- und Großhirn, ganz unten befindet sich der Sub-
kelspannung. 3. (N. oculomotorius), 4. (N. trochlea- thalamus. Dort finden sich der Nucleus subthala-
ris) und 6. Hirnnerv (N. abducens) koordinieren micus, der an der Koordination von Bewegungen der
Augenbewegungen und Pupillenreaktionen abhän- Gliedmaßen beteiligt ist, und zahlreiche Faserbün-
gig von Körperstellung, Bewegung und Beleuchtung, del, die ebenfalls zum motorischen System gehören.
12.3 · Zwischenhirn
213 12

Am Übergang zum Mittelhirn befindet sich höhe) und optisch vermittelte Reflexe werden ver-
der Epithalamus. Dort ist die Zirbeldrüse (Epiphyse arbeitet. Der Faserapparat insgesamt bildet einen
oder Corpus pineale) befestigt: von der Netzhaut des Teil der inneren Kapsel (Capsula interna), die alle
Auges laufen Fasern bis in den unteren Hirnstamm, Sinnesreize und die Bewegungssteuerung trans-
und vom Rückenmark leiten parasympathische portiert.
Fasern Informationen über die Helligkeit an die Zir-
beldrüse. Diese bestimmt über die Produktion von Hypothalamus
Melatonin den Tag-Nacht-Rhythmus mit. Außer- Der weiter vorn, unter der Sehnervenkreuzung lie-
dem ist sie indirekt an der Regulation des Hormon- gende Hypothalamus ist ebenfalls in zahlreiche Ker-
haushaltes beteiligt. ne unterteilt. Unten ist die Hirnanhangdrüse (Hypo-
Die Habenulae stellen Verbindungen zu den physe) befestigt.
vegetativen Hirnnerven (Speichelsekretion, Verdau-
! Der Hypothalamus reguliert die Körperfunk-
ungstätigkeit) dar, und sie verknüpfen Geruchsemp-
tionen und passt sie an wechselnde Belastun-
findungen, Emotionen und Triebe mit vegetativen
gen an.
Funktionen.
In Zusammenarbeit mit dem limbischen System
Thalamus und dem Thalamus regelt er die subjektiven Ge-
Der eiförmige Thalamus ist eine komplex aufgebaute fühlsqualitäten von Erlebnissen und Erinnerungen
Struktur aus zahlreichen Kernen und mit vielfältigen und greift in die damit verbundenen vegetativen
Verbindungen zu und von anderen Hirnregionen. Er und hormonellen Reaktionen ein. Er vermittelt
filtert und bearbeitet sowohl Sinneseindrücke, als zwischen autonomem Nervensystem und höheren
auch Bewegungen, er ist an der Entstehung von Ge- Gehirnfunktionen (die für ein angemessenes, emo-
fühlen und an der Speicherung von Informationen tionales Verhalten unverzichtbar sind). Zusammen
beteiligt. mit Hirnstamm und Thalamus reguliert er den
Seine Kerne bilden Rückkopplungsschleifen zu Schlaf und die dabei auftretenden vegetativen und
speziellen Hirnrindengebieten: jedem Sinnesorgan motorischen Veränderungen. Er stabilisiert die
ist ein Gebiet der Hirnrinde zugeordnet, und für Körpertemperatur. Um diese Aufgaben zu erfüllen,
jedes dieser Gebiete existiert ein Relaiskern im erhält er zahlreiche Informationen von allen Sin-
Thalamus, der das zugeordnete Gebiet stimuliert nen. Dabei hat das Riechorgan als einziges einen
(angeregt wiederum von der Formatio reticularis). direkten Zugang zum Hypothalamus (weswegen
Der Nucleus lateralis beispielsweise hat Verbindun- Gerüche heftige emotionale und vegetative Reakti-
gen zu Schläfenlappen und limbischem System, der onen hervorrufen können).
Nucleus medialis zu limbischem System, Frontal- Die Nervenzellen des Hypothalamus erhalten
hirn, Temporalhirn, und Hypothalamus. Hier wer- ständig Informationen über die Konzentration der
den unspezifische Reaktionen in Verbindung mit Hormone im Blut und in der Hirnanhangdrüse. Ab-
körperlichen Reaktionen (Erröten, Schwitzen) ver- hängig von der Stoffwechsellage des Körpers werden
mittelt: als Gefühle oder Stimmungen, wie Freude, im Hypothalamus Neurosekrete (»Releasing Fac-
Enttäuschung, Depression. tors«) gebildet, die die Produktion von Neurohor-
Es gibt Schaltkerne für die großen Inputsyste- monen in der Hypophyse regulieren. Diese wieder-
me aus Rückenmark, Hirnstamm oder Kleinhirn um steuern über das tuberoinfundibuläre System
(Nucleus ventralis, Nucleus geniculatus) mit punkt- die Hormonproduktion der Drüsen (Schilddrüse,
genauer Weiterleitung zur Hirnrinde. Das System Nebenniere, Bauchspeicheldrüse, Keimdrüsen). So
unterstützt spezifische Funktionen (Sehen, Hören), werden beispielsweise Durstempfinden und Wasser-
deren Integration, Modulation und die Verbindung ausscheidung, Ausschüttung von Kortison und die
mit Gefühlsqualitäten (Lust-Unlustgefühle). Hier Erhöhung des Blutdruckes bei Stressbelastung, oder
findet die Verarbeitung von Schmerz, Tast- und, die Veränderung der Darmtätigkeit bei Schreckreak-
Geschmacksempfindungen statt. Einfache akusti- tionen gesteuert. Parallel dazu nimmt der Hypotha-
sche Wahrnehmungen (Unterscheidung der Ton- lamus direkten Einfluss auf die parasympathischen
214 Kapitel 12 · Anatomie und Physiologie des zentralen Nervensystems (ZNS)

und sympathischen Anteile des vegetativen Nerven- dung erklärt vielleicht, warum der Verstand manch-
systems. Das im Hypothalamus gelegene Corpus mal aussetzt). Funktionsstörungen dieses Systems
mamillare wiederum gehört zum limbischen System äußern sich teilweise mit Angst oder Aggressivität,
und ist an der Verarbeitung von Gefühlen und Erin- teilweise mit Störungen der Gedächtnisleistungen
nerungen beteiligt. (Alzheimersche Erkrankung).

Vegetatives Nervensystem
Es steuert in erster Linie die Aktivität der inneren 12.4 Endhirn (Großhirn,
Organe. Sein Befehlszentrum befindet sich im Hy- Telencephalon)
pothalamus, weitere Schaltstellen liegen im Mittel-
hirn, in der Medulla oblongata und im Rückenmark. Die Großhirnrinde (Cortex) stellt die oberste, äu-
Die ausgehenden Fasern enden an Drüsen (Spei- ßerst komplexe Ebene der Informationsverarbeitung
cheldrüsen, Schweißdrüsen, Bauchspeicheldrüse, dar. Sie nimmt etwa 35 % des gesamten Hirnvolu-
Keimdrüsen) und an der glatten Muskulatur (z. B. an mens ein, die Zahl der Nervenzellen im Cortex wird
den inneren Augenmuskeln, die Linse und Pupillen- auf etwa 1010 geschätzt. Die Hirnwindungen (Gyri)
weite steuern, an Speiseröhre, Bronchien, Herz, Ma- und die dazwischen liegenden Falten (Sulci) vergrö-
gen und Darm). Die ankommenden Fasern übermit- ßern die kortikale Oberfläche, sodass eine größere
teln auch Empfindungen aus dem Körperinneren. In Zahl von Nervenzellen auf kleinem Raum unterge-
Brust, Bauch und Becken bildet das vegetative Ner- bracht werden kann: ausgebreitet würde die Hirn-
vensystem ausgedehnte Geflechte, die teilweise auto- rinde eine Fläche von etwa 1,5 m2 bedecken.
nom arbeiten. Neben dem entwicklungsgeschichtlich jüngsten
Der aktivierende (sympathische) Anteil aktiviert Neocortex gibt es noch den älteren Archicortex (die
über die Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin Hippocampusformation) und den Paläocortex, die
Herz, Kreislauf und Atmung, hemmt aber die Ver- sich mit dem Geruchssinn entwickelt haben.
dauungstätigkeit (Ergotropie). Der eher hemmende Der Zufluss der Informationen stammt in erster
(parasympathische) Anteil fördert die Verdauungs- Linie aus den Schaltkernen des Thalamus, daneben
tätigkeit und dient der Erholung der Organe (Tropo- gibt es weitere Verbindungen zur Formatio reticula-
12 trophie). Seine Wirkung wird über den Botenstoff ris. Sämtliche Informationen aus dem Cortex ziehen
Acetylcholin vermittelt. Wichtigster parasympathi- über motorische Bahnen zu Hirnstamm und Rü-
scher Nerv ist der 10. Hirnnerv, der N. vagus, wich- ckenmark, aber auch zu subkortikalen Thalamus-
tiger sympathischer Anteil ist der sog. Grenzstrang kernen. Weitere Fasern schließlich verbinden Teile
des Rückenmarks. Die hypothalamische Regulation der Großhirnrinde miteinander.
sorgt für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen bei- Die Hirnrinde ist modular aufgebaut: benach-
den Anteilen des vegetativen Nervensystems. barte Nervenzellen teilen sich eine Aufgabe. Einzelne
Regionen der Rinde haben spezialisierte Aufgaben:
Limbisches System es gibt Zentren für die Sprache und das Hören, für
Das limbische System liegt zwischen Großhirn und das Sehen, für das Fühlen und für Bewegungen. Man
Hirnstamm. Man unterscheidet einen äußeren (Cin- unterscheidet eine linke und eine rechte Gehirnhälf-
gulum, Gyrus parahippocampalis) und einen inneren te (Hemisphäre), die funktionell unterschiedliche
Ring (Gyrus dentatus, Corpus amygdaloideum). Aufgaben haben. Traditionell werden der linken (do-
Über den sog. Fornix (Gewölbe) steht es mit den minanten) Hemisphäre von Rechtshändern analy-
Mammillarkörpern (Corpus mamillare) in Verbin- tisch-rationale Fähigkeiten zugeordnet, der rechten
dung. Es bildet eine starke Rückkopplungsschleife, emotional-assoziative (bei Linkshändern ist es um-
mit der Gefühle, vegetative und hormonelle Reaktio- gekehrt). Beide Hemisphären sind durch die massi-
nen und Lernen und Gedächtnis gesteuert werden. ven Faserverbindungen des Balkens (Corpus callo-
Seine Funktionen dienen der Selbst- und der sum) und durch vordere und hintere Kommissur
Arterhaltung. Über den sog. Papez-Kreis besteht (Commissura anterior, posterior) miteinander ver-
eine Verbindung zur Großhirnrinde (diese Verbin- bunden. Im Stirnbereich liegt der Lobus frontalis
12.4 · Endhirn (Großhirn, Telencephalon)
215 12

(Stirnlappen), der durch den Sulcus centralis nach Lautstärke und Richtung bereits in tieferen Hirn-
hinten begrenzt ist. Daran schließt sich der Lobus regionen analysiert wurde. In der Hörrinde werden
parietalis (Scheitellappen) an, und noch weiter hin- Änderungen dieser Parameter, Tonmuster, die Er-
ten liegt der Lobus occipitalis (Hinterhauptslappen). kennung gleichzeitig erklingender Geräusche und
Unterhalb des Scheitellappens liegt der Lobus tem- ihre präzise Ortung im Raum festgelegt. Die Hörrin-
poralis (Schläfenlappen). de der linken Hemisphäre ist außerdem für Wort-
erkennung und Sprachverständnis zuständig (bei
Rindenfelder Linkshändern ist es die rechte Hemisphäre). Aller-
Die primäre motorische Rinde im Gyrus praecen- dings ist die menschliche Sprache ein komplexes
tralis steuert willkürliche Bewegungen in Zusam- Phänomen, das der Zusammenarbeit mehrerer Be-
menarbeit mit Rückenmark- und Hirnstammrefle- reiche der Hirnrinde (frontal, temporal, parietal)
xen und mit dem Kleinhirn. Die Gesamtheit der bedarf.
Systeme zur Bewegungssteuerung wird auch als py- Die primäre Sehrinde (Area striata) befindet sich
ramidal-extrapyramidal-motorisches System be- im Hinterhauptslappen. Spezialisierte Zellen verar-
zeichnet. beiten Stärke und Dauer von Helligkeit und Dun-
Die primäre somatosensible Rinde im Gyrus kelheit, Lage und Bewegung von Mustern, Farbein-
postcentralis verarbeitet Tastempfindungen und drücke, und die Veränderung dieser Faktoren.
Wahrnehmungen aus dem Körperinneren. Ein Be- Der präfrontale Cortex im Lobus frontalis und
reich ist für die Wahrnehmung von Geschmacks- seine Verbindungen zum Thalamus sind von großer
empfindungen reserviert. Bedeutung für die Regulation von Gefühlen, für das
Beide, motorische und somatosensible Rinde, Lernen und Erinnern, für Antrieb, Motivation und
bilden den menschlichen Körper wie auf einer Land- Bewertung. Er koordiniert die Informationen aus
karte ab. allen anderen Hirnregionen, und seine Funktion
Die primäre Hörrinde im Gyrus temporalis su- wird als wesentlich für die Entwicklung der Persön-
perior verarbeitet Höreindrücke, deren Tonhöhe, lichkeit bezeichnet.

. Abb. 12.2. Vereinfachte Darstellung der wichtigsten Funktionsorte im Gehirn


216 Kapitel 12 · Anatomie und Physiologie des zentralen Nervensystems (ZNS)

Endhirnkerne trochemischem Weg. Zum Zellkörper (Soma) einer


Die Endhirnkerne (Nucleus caudatus, Putamen, Nervenzelle führen meist mehrere Fasern (die Dend-
Claustrum) liegen um die Ventrikel herum. Sie sind riten). Ein bis zu einem Meter langer Zellfortsatz
durch Streifen grauer Substanz miteinander verbun- (der Neurit) transportiert die Signale weiter zur
den und bilden dadurch den Streifenkörper (Corpus nächsten Nervenzelle. An der Oberfläche der Den-
striatum). Sie regulieren die Muskelspannung und driten und des Zellkörpers (der Rezeptorzone) be-
sind an der Koordinierung komplexer Bewegungen finden sich Kontaktstellen, die mit den Kontaktstel-
(Mimik, Gestik) beteiligt. Sie stehen mit der Sub- len der Neuriten benachbarter Zellen verbunden
stantia nigra in Verbindung, die sie mit Dopamin sind.
versorgt (Tractus nigrostriatalis). Daneben existiert
eine Rückkopplungsschleife, die mit GABA hem- Synapsen
menden Einfluss auf die Substantia nigra ausübt Den Verbund aus präsynaptischem Endpunkt des
(Tractus striatonigralis). Neuriten und postsynaptischem Rezeptor bezeich-
net man als Synapse. Die Nervenzelle sendet ihre
Praxisbox Impulse, die durch eingehende Reize in den Dendri-
Störungen dieses Systems manifestieren sich ten ausgelöst werden, als elektrischen Strom durch
bei der Parkinson’schen Krankheit und bei den Neuriten. In der Synapse sorgt der eingehende
Morbus Huntington, aber auch als Ausdruck der Strom dafür, dass aus kleinen Bläschen in der synap-
Wirkung von Neuroleptika, die die Dopamin- tischen Membran des Neuriten Überträgerstoffe
konzentration verringern. freigesetzt werden, die durch den synaptischen Spalt
wandern und die Dendriten auf der Gegenseite ent-
weder anregen oder hemmen. In der Regel sind zahl-
Durch die Endhirnkerne hindurch und an ihnen reiche Neurone im Signalweg zusammengeschaltet,
vorbei zieht die Innere Kapsel (Capsula interna), die teils in Rückkoppelungsschleifen, und die Summe
die Faserverbindung zwischen Großhirn und Rü- ihrer Reaktionen entscheidet über Verstärkung oder
ckenmark darstellt. Sie wird durch die Arteria cere- Abschwächung des Eingangssignals. Die höchste
bri media mit Blut versorgt. Konzentration von Nervenzellen findet man in den
12 einzelnen Schichten der Großhirnrinde und in den
Pyramidales und extrapyramidales System Großhirnkernen. Dort bilden sie die graue Substanz,
Das von den motorischen Rindenfeldern ausgehen- während ihre Neuritenbündel (Tractus) die weiße
de pyramidale System durchläuft diesen Bereich Substanz darstellen.
und bildet in der Medulla oblongata einen Wulst (die
Pyramide). Von dort verlaufen die Fasern zum Rü- Neurotransmitter
ckenmark, und zwar zur Gegenseite des Körpers. Die Gehirnfunktionen werden durch die aufeinan-
Dem Pyramidenbahnsystem wird die Steuerung der der abgestimmten Reaktionen erregender (exzitato-
Willkürmotorik zugeschrieben. Das für die Halte- rischer) und hemmender (inhibitorischer) Neurone
und Stellbewegungen des Körpers verantwortliche moduliert. Eingehende Reize aus den Sinnesorganen
extrapyramidal-motorische System ist davon nicht werden verstärkt oder abgeschwächt, miteinander
scharf zu unterscheiden, bezieht aber seine Informa- verglichen, gefiltert und in Reaktionen – meist Mus-
tionen hauptsächlich aus den Endhirnkernen. kelbewegungen – umgesetzt. Dafür sind die Boten-
stoffe verantwortlich, die in den Synapsen freige-
setzt werden. Man unterscheidet kurz wirksame
12.5 Wie arbeitet das Gehirn? Neurotransmitter von länger wirksamen Neuromo-
dulatoren. Noradrenalin, Dopamin, Serotonin und
Nervenzellen Glutamat sind anregende (exzitatorische) Neuro-
Nervenzellen (auch als Neurone bezeichnet) sind transmitter.
die funktionellen Grundbausteine des Gehirns. Als Dopamin vermittelt zwischen limbischem Sys-
Netzwerk verarbeiten sie Informationen auf elek- tem und Hirnrinde (mesokortikales und meso-
Literatur
217 12

limbisches System): es steuert das »Belohnungs- Praxisbox


system«, das durch verschiedenste Reize (Essen, Bei Anfallsleiden (Epilepsien) spielen Störungen
Sex, Drogen, Spiele) aktiviert wird. Außerdem re- des GABA-Stoffwechsels eine wichtige Rolle.
guliert es Halte- und Stellbewegungen des Körpers
(nigrostriatales System). Schließlich ist es an der
Regulation der Hormonproduktion in Hypothala- Überprüfen Sie Ihr Wissen!
mus und Hypophyse beteiligt (tuberoinfundibulä- 4 Welche Blutgefäße versorgen das Gehirn? 7 Kap.
res System). 12.1
4 Welches System verarbeitet Angst und Aggressi-
Praxisbox vität? 7 Kap. 12.3
Ein gestörter Dopaminstoffwechsel wird für 4 Welcher Teil des Gehirns ist für die Hormonpro-
die Symptome schizophrener Psychosen verant- duktion zuständig? 7 Kap. 12.3
wortlich gemacht. 4 Wie wird die Gesamtheit der Systeme zur Bewe-
gungssteuerung bezeichnet? 7 Kap. 12.4
4 Welche Gehirnhälfte ist für Worterkennung und
Noradrenalin wird hauptsächlich im Locus coeru- Sprachverständnis zuständig? 7 Kap. 12.4
leus des Pons produziert. Noradrenerge Systeme 4 Welcher Überträgerstoff ist an der Entstehung
strahlen in den frontalen Cortex und ins Zwischen- der Schizophrenie beteiligt? 7 Kap. 12.5
hirn aus. Es reguliert Wachheit und Aufmerksam- 4 Was ist eine Synapse? 7 Kap. 12.5
keit, Angst, Lernfähigkeit und Motivation. 4 Was ist ein Neurotransmitter? 7 Kap. 12.5
Serotonin beeinflusst u. a. die Wirkung von Nor-
adrenalin und Dopamin. Man findet es in weiten Be- Literatur
reichen des Gehirns, die es, ausgehend vom limbi- Benninghoff A (1977) Lehrbuch der Anatomie des Menschen,
Bd 3: Nervensystem, Haut und Sinnesorgane. 11./12. Aufl
schen System, im Sinne sozialer Kontrolle modu-
Urban & Schwarzenberg, München
liert. Duus P (1983) Neurologisch-topische Diagnostik. 3. Aufl Thie-
me, Stuttgart
Praxisbox Faller A (1988) Der Körper des Menschen. 11. Aufl Thieme, Stutt-
Störungen des Noradrenalin- und Serotonin- gart
Stoffwechsels können zu Depression und Angst- Schiebler T (1977) Lehrbuch der gesamten Anatomie des
Menschen. Springer, Berlin Heidelberg New York
symptomen führen.

Acetylcholin beeinflusst Merkfähigkeit und Gedächt-


nis. In Zwischen- und Großhirn ist es an der Integra-
tion vegetativer und motivationaler Informationen
beteiligt, in Hirnstamm und Basalganglien steuert es
die Funktion sensorischer Filtermechanismen und
die Regulation des Schlaf-Wach-Rhythmus.

Praxisbox
Störungen des Acetylcholin-Stoffwechsels sind
an der Entstehung der Alzheimer-Erkrankung
beteiligt.

GABA (Gamma-Amino-Buttersäure) ist der wich-


tigste hemmende (inhibitorische) Neurotransmitter,
der vor allem die Aktivität von Dopamin moduliert.
13

13 Theorien zur Krankheitsentstehung


Claudia Heinz

13.1 Biologisch-medizinische Ursachen – 220

13.2 Psychologische Ursachen – 221

13.3 Soziale Ursachen – 221

Literatur – 221
220 Kapitel 13 · Theorien zur Krankheitsentstehung

) ) In Kürze Protektive Faktoren, also Schutzfaktoren, die


die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung ver-
In der Psychiatrie ist es in der Regel schwieriger hindern können, sind z. B.:
Diagnosen einer spezifischen Ursache zuzuordnen. 4 Fürsorge im Elternhaus,
In der Körpermedizin gelingt dies recht gut, d. h. 4 Verlässlichkeit der Bezugspersonen,
einer bestimmten Erkrankung kann oft ein eindeu- 4 Qualität der elterlichen Zuwendung,
tiger ätiologischer Faktor zugeordnet werden (so 4 Aufforderung zur Autonomie,
werden z. B. die Röteln von einem bestimmten Erre- 4 Ermutigung zur Loslösung vom Elternhaus.
ger ausgelöst, dem Rötelnvirus). Die Psychiatrie
kennt nur sehr selten eine eindeutige Ursache für Die Schutzfaktoren haben eine große Bedeutung
ihre Störungsbilder. Dies hat in der Vergangenheit bei der Krankheitsbewältigung bzw. bei der Gesun-
und Gegenwart und wird auch in der Zukunft zu dung. Wichtig ist die Stärkung dieser protektiven
vielfältigen Konstrukten über die Ätiologie der psy- Faktoren.
chiatrischen Krankheitsbilder führen. Begriffe wie Viele Krankheiten werden in Lebensumbruchsi-
Vulnerabilität und multifaktorielle Auslösung von tuationen ausgelöst, diese können einen positiven (!)
Störungen werden immer wieder ins Feld geführt, oder negativen Charakter haben. Typische Auslöser
um die Schizophrenie, die Depression oder auch die für psychische Krisen sind Verlusterlebnisse (Tod
Süchte erklärbar zu machen. Ganz allgemein kön- eines wichtigen Menschen, Trennung, Verlust des
nen wir biologisch-medizinische, psychologische Arbeitsplatzes) oder wichtige Lebensereignisse (Hei-
und soziale Ursachen unterscheiden rat, Berentung, Geburt eines Kindes).
Die Ätiologie ist die Lehre von den Krankheits-
Wissensinhalte ursachen. Über die Verursachung von vielen psy-
Nach dem Studium dieses Kapitel haben Sie: chischen Störungen besteht nur ein begrenzter Wis-
7 Einblick in die Unterschiede zwischen Risiko- sensstand. Die Begriffe Vulnerabilität und multi-
faktoren, Auslösern und Ursachen psychischer faktorielle Verursachung tragen diesem Umstand
Störungsbilder Rechnung. Vulnerabilität meint eine erhöhte An-
7 Einblick in die multifaktorielle Verursachung fälligkeit für bestimmte Krankheitsbilder und der
von psychischen Erkrankungen Begriff Multifaktorialität beschreibt die Verursa-
7 einen selbstbewussten Umgang mit den ätio- chung eines Krankheitsbildes durch mehrere Fak-
13 logischen Bedingungen von psychischen toren.
Störungsbildern

Vorbemerkung 13.1 Biologisch-medizinische


Ursachen
Definition

Risikofaktoren sind innere und äußere Faktoren, Die Informationsübermittlung im Gehirn funktio-
die das Risiko, an einer bestimmten psychischen niert über Neurotransmitter, das sind Überträgersub-
Störung zu erkranken, erhöhen. stanzen, die die Kommunikation zwischen 2 Ner-
venzellen herstellen. Im Kontext mit psychiatrischen
Krankheitsbildern sind die Überträgersubstanzen
Als psychosoziale Risikofaktoren in der Kindheit Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Acetylcholin,
für die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung Gamma-Aminobuttersäure und Glutamat von Be-
gelten z. B.: deutung. So ist bei einer schizophrenen Störung als
4 Trennungs- und Verlusterlebnisse, ein möglicher ätiologischer Faktor eine regionale
4 Aufenthalt in einem Heim, Überaktivität des Dopaminsystems zu beobachten
4 familiäre Aggressivität und körperliche Miss- und eine mögliche Therapieform ist die Behandlung
handlung, mit Medikamenten, die dieses Überangebot regu-
4 sexueller Missbrauch. lieren.
Literatur
221 13

Bei vielen psychischen Störungen kann ein ge- Erkennen und Verstehen eines Vorgangs. Die kogni-
netischer Beitrag als gesichert gelten. Familien- und tive Psychotherapie veranlasst Patienten mit einer
Adoptionsstudien zeigen in belasteten Familien eine Depression, ihre Situation zu überdenken, anders zu
höhere Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von beurteilen und letztlich zu verändern.
spezifischen Erkrankungen. Die Wahrscheinlich-
keit, im Laufe seines Lebens an einer schizophrenen
Störung zu erkranken, liegt in der Allgemeinbevöl- 13.3 Soziale Ursachen
kerung bei ca. 1 %, bei einer genetischen Belastung
kann sich diese Wahrscheinlichkeit deutlich erhö- Psychische Störungsbilder können durch traumati-
hen (z. B. bei Erkrankung eines Elternteils auf ca. sche Erlebnisse verursacht werden. Unter einem
15 % für die Kinder). Trauma wird jede belastende Situation verstanden,
Bei psychischen Störungsbildern finden sich welche die Person außergewöhnlich bedroht oder
Auffälligkeiten in der Morphologie, die verschiede- die ein katastrophenartiges Ausmaß annimmt. Das
ne Teile des Gehirns betreffen können. Bei der Schi- Trauma wird bei fast jedem Menschen eine tiefe Ver-
zophrenie zum Beispiel sprechen wir von einer ge- zweiflung auslösen. Typische Traumata sind Natur-
störten Funktion des sog. limbischen Systems, das katastrophen (z. B. der Tsunami in Südostasien Ende
anatomisch aus dem Gyrus cingularis und frontoor- 2004), Kampfhandlungen, Opfer oder Zeuge von
bitalis, dem Hippocampus und Parahippocampus, Gewalttaten (Mord, Vergewaltigung, Folter). Sexuel-
der Amygdala, den Mamillarkörpern, sowie dem ler Missbrauch und körperliche Misshandlungen
ventralen Striatum mit dem Nucleus accumbens be- sowie Vernachlässigung in der Kindheit können
steht. Mittels bildgebender Verfahren, wie z. B. der ursächlich für vielfältige Symptome und Krankhei-
Computer- und Kernspintomographie, kann man ten sein. Ein Störungsbild direkt im Anschluss an
u. a. das Gehirn untersuchen und diese morphologi- ein Trauma ist die posttraumatische Belastungsstö-
schen Veränderungen z. T. sichtbar machen. rung, aber auch andere Störungsbilder werden mit
Traumata in Verbindung gebracht, so die Border-
line-Persönlichkeitsstörung, Süchte, depressive Stö-
13.2 Psychologische Ursachen rungsbilder und die somatoformen Störungen.
Die meisten psychischen Störungen werden mul-
Die Psychologie befasst sich mit dem Erleben und tifaktoriell verursacht. Es gibt genetische und biolo-
Verhalten des Menschen in Bezug auf sich und seine gische Faktoren, Umweltbedingungen, sowie psy-
Umwelt. Erziehung und Ereignisse in der Kindheit chologische Erklärungsmodelle. Die Therapie muss
können prägend sein. Bindungsstile sind wichtig dementsprechend mehrdimensional (z. B. Psycho-
für die spätere Gestaltung von zwischenmenschli- therapie, Soziotherapie und Psychopharmakothera-
chen Beziehungen. In der Kindheit nicht gelöste pie) und multiprofessionell erfolgen.
Konflikte können später erneut aktualisiert werden
und zu Symptomen und Leid führen. So kann eine Überprüfen Sie Ihr Wissen!
Trennung vom Lebenspartner im Sinne eines Schlüs- 4 Was meint der Begriff Ätiologie? (Vorbemer-
selerlebnisses Verlustängste, die verdrängt waren, kung)
aktualisieren. Es kann eine depressive Störung ent- 4 Was bedeutet der Begriff Vulnerabilität? (Vorbe-
stehen. merkung)
Kinder lernen die Symptome ihrer Eltern, eine 4 Was meint multifaktorielle Verursachung von
zwangserkrankte Mutter kann so für ihre Kinder psychischen Störungsbildern? 7 Kap. 13.3
zum Modell für eine Zwangsstörung werden.
Kognitive Modelle der Panikstörung beschrei-
Literatur
ben die Fehldeutung körperlicher Symptome. Die
Ebert D (2001) Psychiatrie systematisch. Uni-med Verlag,
Beschleunigung des Herzschlages wird dann als Bremen
Hinweis auf eine bedrohliche Erkrankung gewertet. Kasper S, Volz H-P (2003) Psychiatrie compact. Thieme, Stutt-
Kognition als Oberbegriff meint das Wahrnehmen, gart
14

14 Verlauf psychischer Erkrankungen


Claudia Heinz, Jörg Utschakowski

14.1 Krankheitsepisoden – 224

14.2 Chronifizierung – 224


14.2.1 Bewältigungsphasen – 225
14.2.2 Bewältigungsstile –225

14.3 Prognose – 226

14.4 »Drehtürpsychiatrie« und Hospitalismus – 226

14.5 Kasuistik – 227

Literatur – 229
224 Kapitel 14 · Verlauf psychischer Erkrankungen

) ) In Kürze Der schizophrene Schub kann ohne dauerhafte Fol-


gen abklingen oder zu sog. Residualsymptomen füh-
Der Verlauf psychischer Störungsbilder ist ausge- ren. Residualsymptome können sich z. B. in einer ty-
sprochen vielfältig. Auch nach Jahren ist eine ein- pischen Negativsymptomatik äußern. Der betroffene
deutige Besserung der Symptomatik noch möglich. Mensch mit einer schizophrenen Störung zeigt dann
Bei vielen psychischen Krankheitsbildern werden eine Antriebsverarmung, Gleichgültigkeit und sozi-
Prognosekriterien festgelegt, diese werden im Rah- ale Isolierung, die affektive Kontaktaufnahme und
men des Kapitels näher erläutert. Es gibt unter- das Mitfühlen mit anderen sind betroffen. Milieu-
schiedliche Verläufe bei Kindern, Erwachsenen und und soziotherapeutische Ansätze beziehen sich ins-
alten Menschen. Die Störungen können in Schü- besondere auf Menschen mit dieser Symptomatik.
ben verlaufen, es gibt vollständige Heilungen oder Verlaufstypen psychischer Störungen:
auch schwerste Verläufe mit der Gefahr der dauer- 4 episodisch:
haften Versorgungsbedürftigkeit (z. B. Alzheimer- 5 monoepisodisch (einmaliges Auftreten mit
Demenz). Der fatalste Ausgang psychischer Krank- Heilung),
heiten ist der Suizid. 5 vollremittierend (phasenhaftes Auftreten
ohne Symptome in der Zwischenzeit),
Wissensinhalte 5 teilremittierend (schubweises Auftreten,
Nach dem Studium dieses Kapitel haben Sie: leichte stabile bis schwere Symptome),
7 Einblick in die vielfältigen Verlaufsformen 4 chronisch:
psychischer Störungsbilder 5 kontinuierlich (ständige Symptome),
7 Einblick in die Entstehungsbedingungen der 5 sekundär (nach episodischem Verlauf),
Chronifizierung 5 schnell oder langsam fortschreitend.
7 Einblick in Langzeitverläufe mit ihren unter-
schiedlichen Konsequenzen Verlaufsphasen psychischer Störungen:
4 Prodromalphase: nicht psychotische Dekom-
pensationsphase,
14.1 Krankheitsepisoden 4 akute, floride Phase: spezifisch psychotisch,
4 postakute Phase: Abklingen der Positivsympto-
Viele psychische Krankheiten verlaufen günstig. Sie me, Weiterbestehen der Negativsymptome, er-
heilen folgenlos aus. Die Vorstellung, dass eine psy- höhte Rezidivgefahr,
chische Krankheit immer chronisch verläuft, ist ein 4 stabile Phase: Stabilisierung auf Ausgangsniveau
14 Mythos. So nimmt die Schizophrenie in ca. 2/3 der oder auf Residuum.
Fälle einen günstigen Verlauf. Bestimmte Störungen
(z. B. eine Anpassungsstörung) können durch eine Ergänzend hierzu sind die vom Pflegestandpunkt
kurze Psychotherapie oder eine Krisenintervention aus entwickelten Krankheitsverlaufsphasen chroni-
erfolgreich behandelt werden. scher Erkrankungen von Corbin und Strauss zu be-
Viele psychische Erkrankungen verlaufen in Epi- achten (vgl. Kap. 2.2.3).
soden. Eine Episode ist eine vorübergehende, völlig
rückbildungsfähige Phase einer Störung. Typisch ist
diese Verlaufsform für bestimmte affektive Störun- 14.2 Chronifizierung
gen, so z. B. für die Depression. Wenn die depressi-
ven Symptome erneut auftreten, sprechen wir von Die Bedingungen für das Entstehen von chronischen
einer rezidivierenden depressiven Episode. Krankheitsprozessen sind vielfältig. Die Persönlich-
Der Begriff des Schubes wird oft im Kontext mit keit des Erkrankten, die Erwartungen der Umwelt an
der Schizophrenie verwendet und beschreibt die ihn und die Dauer und die Schwere der Symptoma-
Verlaufscharakteristika dieser Erkrankung. Diese tik haben Einfluss auf Chronifizierungsprozesse.
sind oftmals nicht gleichmäßig, sondern stufenför- Wenn das Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit
mig in ungleichmäßigen Sprüngen fortschreitend. des Körpers und der Psyche verloren geht, der Pa-
14.2 · Chronifizierung
225 14

tient sich zunehmend hilflos und passiv fühlt und 2. Aggression


sich um Schonung bemüht, er zusätzlich in seinen Das Gefühl, vom Schicksal ungerecht behandelt zu
sozialen Kompetenzen eingeschränkt ist und sich werden oder von Fachkräften und Angehörigen
sozial zurückzieht, immer öfter diagnostische und falsch eingeschätzt zu werden, führt häufig zu Ag-
therapeutische Leistungen in Anspruch nimmt und gressionen, die z. T. offen, aber auch versteckt gezeigt
sich abhängig vom medizinischen und sozialen Ver- werden. Trotz der gezeigten Ablehnung ist in dieser
sorgungssystem macht, dann sprechen wir von ei- Phase das Signalisieren der Gesprächsbereitschaft
nem chronischen Krankheitsverhalten. Chronifizie- sehr wichtig.
rung hängt eng mit der Bewältigung von Krankheit
zusammen, wir sprechen von Coping bzw. Coping- 3. Depression
mechanismen. Mit dem Bewusstwerden der Krankheit und den
damit verbundenen Folgeerscheinungen können
Selbstzweifel, Unsicherheit und Zukunftsängste auf-
14.2.1 Bewältigungsphasen treten, die sich bis hin zu depressiven Symptomen
steigern können. Die Betroffenen suchen oft Hilfe,
Mit den Verläufen der Krankheitsbewältigung be- ohne sie wirklich annehmen zu können. In dieser Pha-
fasst sich wissenschaftlich die Bewältigungsfor- se sollten dem Patienten Akzeptanz und kontinuierli-
schung insbesondere in der Gesundheitspsycho- che Beziehungsangebote entgegengebracht werden.
logie. Die Bewältigung von krankheitsbedingten
Veränderungen und Problemen ist entscheidend für 4. Verhandeln
die Lebensqualität der Betroffenen. Die Bewälti- Diese Phase ist damit verbunden, dass die Betroffe-
gungs- oder Copingstrategien sind abhängig von nen die Folgen und die Tragweite der Krankheit aus-
individuellen und sozialen Ressourcen des Betrof- zuloten versuchen. Dies kann auch damit verbunden
fenen und der Art und Intensität der Belastung. Eine sein, erweiterte Erklärungsmuster für die erlebten
Eigenschaft wird zur Ressource, wenn mit ihrer Hilfe Phänomene zu finden, oder alternative Behand-
eine positive Veränderung angestoßen werden kann. lungsversuche zu erproben.
Die Form der Krankheitsbewältigung lässt sich da-
her nicht aus der Art und Schwere der Krankheit 5. Akzeptanz
vorhersagen. Die Krankheitsbewältigung ist kein In dieser Phase beginnen die Betroffenen die Krank-
einmaliger Schritt, sondern ein Prozess, der sich heit und ihre Folgen in den Alltag und in das Lebens-
über längere Zeit und über verschiedene Phasen konzept zu integrieren. Dies kann in der befreienden
hinziehen kann. Die Phasen verlaufen nicht unbe- Erkenntnis und Erfahrung münden, dass trotz einer
dingt in einer festen Reihenfolge. Einzelne Phasen psychischen Störung das Leben wieder aktiv gestal-
können übersprungen werden oder gleichzeitig er- tet werden kann.
folgen. Daher ist die folgende Beschreibung eher als
Orientierung und nicht als festgelegte Struktur zu
verstehen. 14.2.2 Bewältigungsstile

1. Verleugnung Die Art der Krankheitsbewältigung kann sehr unter-


Die Diagnose einer psychischen Erkrankung ist für schiedlich sein. Zusammenfassend lassen sich im
viele Betroffene auch aufgrund der damit verbunde- Wesentlichen 4 Stile der Bewältigung identifizieren.
nen Stigmatisierung schwer zu akzeptieren. Ein Me-
chanismus der Verarbeitung dieser schockierenden Der verleugnende Bewältigungsstil
Nachricht kann daher die Verleugnung der Krank- Der Stil der Verleugnung bezieht sich auf Symptome,
heit sein. In dieser Phase ist Zuwendung und »Da- Krankheitsanzeichen und Frühwarnzeichen. Der
bei-sein« (»being-with«) sehr unterstützend. Betroffene ignoriert Besonderheiten und bagatelli-
siert Beeinträchtigungen. Dieser Stil birgt einerseits
die Gefahr, dass Krisen erst spät erkannt und behan-
226 Kapitel 14 · Verlauf psychischer Erkrankungen

delt werden können. Andererseits kann darin auch 14.3 Prognose


ein Potenzial des Patienten liegen, sich nicht von der
Krankheit bestimmen lassen zu wollen. Für verschiedene Krankheitsbilder wurden Progno-
sekriterien festgelegt. Diese sollen eine Aussage
Der sinnsuchende Bewältigungsstil über den wahrscheinlichen Verlauf einer Störung
Dieser Stil ist stark beeinflusst von den Glaubenssys- machen. Bei den schizophrenen Störungen sind
temen der Betroffenen, die herangezogen werden, beispielsweise prognostisch ein akuter Krankheits-
um für die Tatsache, erkrankt zu sein, einen Sinn zu beginn mit produktiver Symptomatik, eine ausge-
finden. Einerseits kann dieser Stil dazu führen, dass glichene und sozial erfolgreiche prämorbide Per-
das Phänomen der psychischen Krankheit in einen sönlichkeit und eine psychoreaktive Auslösung als
erklärbaren Kontext eingeordnet wird. Andererseits prognostisch günstig zu werten.
kann dies auch zu Resignation und Verzweiflung Psychoreaktiv sind z. B. Krisen im Zusammen-
führen. hang mit lebensverändernden Ereignissen, wie die
Geburt eines Kindes, ein Arbeitsplatzwechsel, aber
Der aktive Bewältigungsstil auch Trennungen oder Verlusterlebnisse. Verschie-
Dieser Stil ist davon bestimmt, einen aktiven Um- dene Untersuchungen haben aufgezeigt, dass die
gang mit der Krankheit zu suchen. Hierzu gehören Einschätzungen der Betroffenen selbst über ihren
das Interesse an umfangreichen Informationen zur Krankheitsverlauf am ehesten zutreffen. Neben den
Krankheit aber auch an erweiterten Hilfsangeboten individuellen Bedingungen der Betroffenen spielen
und Unterstützungsmöglichkeiten. Der Betroffene für die Chronifizierung von psychischen Störungen
versucht für sich und mit seinem sozialen Umfeld auch die Behandlungs- und Versorgungsangebote
neue Zugehensweisen und Bewältigungsmöglich- eine erhebliche Rolle.
keiten zu entwickeln.

Der sozial-integrative Stil 14.4 »Drehtürpsychiatrie«


Dieser Stil ist besonders wichtig und nachhaltig. Kon- und Hospitalismus
takte, Beziehungen und soziale Unterstützung sind
im Kontext psychischer Störungen besonders wichtig, Die psychiatrischen Versorgungssysteme gliedern
da ihre Begleiterscheinungen immer wieder die Ge- sich in ambulante, teilstationäre, vollstationäre so-
fahr der Isolation mit sich bringen. Soziale Eingebun- wie komplementäre Einrichtungen. Der Begriff der
denheit erfolgt auf Dauer jedoch nur, wenn sie wech- »Drehtürpsychiatrie« beschreibt das Phänomen der
14 selseitig hergestellt wird. Sie fordert von den Betroffe- wiederholten Krankenhausaufnahme in kurzer Zeit.
nen aktives Handeln, indem einerseits Bedürfnisse Die Behandlung mit modernen Psychopharmaka,
formuliert werden, aber auch Verantwortungsüber- die psychotherapeutischen Interventionen durch
nahme für die eigene Situation gezeigt wird. ein therapeutisches Team und die Beschäftigungs-
und Milieutherapie können schnell zu einer Ent-
Krankheitsbewältigung und Lebensqualität aktualisierung der psychischen Symptome führen.
Die Bewältigung von Krankheit und Krankheitsfol- Besonders wichtig sind verlässliche Beziehungs-
gen hat einen großen Einfluss auf die Lebensqualität angebote des therapeutischen, multiprofessionellen
der Betroffenen. Die Möglichkeiten und die Qualität Teams.
von Arbeit und Beruf, der Freizeitgestaltung, Part- Nach der Krankenhausbehandlung fällt es den
nerschaft, Familie und sozialen Kontakten hängen psychisch erkrankten Menschen jedoch häufig
von der Bewältigung ab. Neben den individuellen schwer, sich wieder an die soziale Umgebung anzu-
und sozialen Ressourcen kommt hierbei der profes- passen. Auftretende Probleme können nicht ange-
sionellen Unterstützung eine große Bedeutung zu. messen bewältigt werden, die nötigen Medikamente
Schon zu Beginn der Behandlung ist es wichtig, die werden abgesetzt und die erneute Klinikaufnahme
Patienten bei der Entwicklung von flexiblen und erfolgt. Um den Drehtüreffekt zu vermeiden und
aktiven Bewältigungsmöglichkeiten zu fördern. die Betroffenen bei der Rückkehr in ihr soziales Um-
14.5 · Kasuistik
227 14

feld zu unterstützen, werden zunehmend nachsor- 14.5 Kasuistik


gende Dienste angeboten (Beratungsstellen, betreu-
tes Wohnen etc.). Da das Problem der häufigen sta-
tionären Wiederaufnahme z. T. aber auch darin Kasuistik
begründet liegt, dass die sozialen Ressourcen und Frau Sch., eine 35-jährige Verwaltungsangestell-
Kompetenzen im Krankenhausrahmen zu wenig te, erkrankte erstmals vor 10 Jahren an einer
gestärkt und entwickelt werden können, bieten am- schizophrenen Störung. Sie stammt aus einer
bulante psychiatrische Pflegedienste und regionale kleinen südniedersächsischen Stadt. Der Bruder
Krisenzentren oftmals eine sinnvolle gemeindeori- der Mutter und die Großmutter mütterlicher-
entierte Alternative. seits litten ebenfalls an einer paranoiden Schizo-
In diesem Kontext gewinnen die Bezugspflege phrenie. Die Erstmanifestation bei Frau Sch. er-
und Case-Managment-Ansätze eine besondere Be- folgte im Anschluss an eine Beförderung, sie war
deutung. Die individuelle Beziehung wird hier zur vom Archiv einer Bibliothek in die Verleihabtei-
Grundlage der Intervention (ohne Beziehung lässt lung befördert worden. Sie hörte imperative
der Patient keinen Kontakt zu), zum Erfahrungs- Stimmen, die sie bedrohten und beschimpften,
raum (Erleben oder Ausprobieren von Handlungs- sie wähnte sich von Männern verfolgt.
alternativen) und zur Methode (Handlungen und Die Mutter bemühte sich um eine psychiatri-
Wahrnehmungen reflektieren und initiieren). sche Vorstellung, letztlich wurde Frau Sch. für 4
Wochen stationär behandelt. Sie erhielt Antipsy-
Definition
chotika und relativ zügig verschwanden die pro-
Unter Hospitalismus werden alle körperlichen duktiv-psychotischen Symptome. Sie war durch
und seelischen Störungen verstanden, die die Medikamente müde und in ihrer Beweglich-
durch einen langfristigen stationären Aufenthalt keit eingeschränkt. Die behandelnden Psychiater
hervorgerufen werden. In der Regel wird dieser in der Klink empfahlen eine Weiterbehandlung
Begriff auf Kinder angewandt, die zuhause oder bei einem niedergelassenen Psychiater und die
in Institutionen in der Erfüllung ihrer Grundbe- Fortführung der medikamentösen Therapie. Frau
dürfnisse erheblich vernachlässigt werden. Sch. ging nicht zu einem niedergelassenen Psy-
chiater und setzte die Medikamente zeitnah zur
Entlassung aus der Klinik ab. Sie fand nur zöger-
Ähnliche Erscheinungen kommen auch bei Erwach- lich zurück in den Beruf, die neue Tätigkeit berei-
senen in Krankenhäusern, Seniorenheimen und in tete ihr Schwierigkeiten. Sie war gereizter und
der Psychiatrie bei unpersönlicher Betreuung und kam immer häufiger unpünktlich zur Arbeit. Sie
mangelhafter individueller Zuwendung, reizarmer hatte Fehltage, besonders montags kam sie nur
Umgebung und sozialer Isolation vor. Symptome noch selten aus ihrer Wohnung. Etwa ein halbes
des Hospitalismus sind u. a. körperliche Vernachläs- Jahr nach der ersten Klinikaufnahme kehrten die
sigung, emotionale und intellektuelle Retardierung, wahnhaften Symptome zurück. Frau Sch. verließ
Wahrnehmungs- und Kontaktstörungen, Reizbar- kaum noch die Wohnung, nur in den eigenen
keit, Angstzustände, motorische Unruhe und Ste- Räumlichkeiten fühlte sie sich sicher. Sie küm-
reotypien. merte sich nicht um Freunde, erschien nicht
zu Familienfeiern und der Haushalt wurde ihr
! Nicht nur die Institution sorgt für das Phäno-
gleichgültig. Sie aß nicht mehr, sie wähnte die
men des Hospitalismus, auch die Persönlich-
Lebensmittel vergiftet, nachts hörte sie laut Mu-
keitsmerkmale des einzelnen Patienten kön-
sik, dann hörte sie die Stimmen nicht mehr so
nen den Hospitalismus fördern.
laut. Schließlich verständigten die Nachbarn die
In der folgenden Kasuistik wird ein möglicher Ver- Polizei und Frau Sch. wurde gegen ihren Willen
lauf einer schizophrenen Störung beschrieben. in der Klinik aufgenommen.
6
228 Kapitel 14 · Verlauf psychischer Erkrankungen

Die Kasuistik, in der die persönlichen Daten anony-


Nach der Entaktualisierung der Symptome misiert wurden, dokumentiert eine mögliche und
blieb Frau Sch. noch 3 Monate vollstationär. Im typische Verlaufsform einer Patientin mit einer schi-
Anschluss wurde sie 8 Wochen in der Tagesklinik zophrenen Störung.
behandelt. Die Tagesklinik bemühte sich sehr Bis zum 25. Lebensjahr hatte die Patientin nur
um die Patientin, vielfältige Therapieoptionen einmalig einen Kontakt zu einer Psychiaterin, sie
wurden geprüft und angewandt. Besonders hatte mit 15 Jahren Schlafstörungen, Schulängste
profitierte die Patientin von der individuellen und hatte sich vermehrt zurückgezogen. Nach eini-
Betreuung durch das Pflegepersonal (Bezugs- gen Wochen waren die Symptome verschwunden.
pflege), die psychoedukativen (gesundheitsför- In der Nachschau des Störungsbildes können die
dernden) Gruppenangebote, der Bewegungs- Symptome im Sinne von unspezifischen Vorposten-
therapie, der stützenden Psychotherapie und symptomen gewertet werden. Vorpostensymptome
den Gesprächen zwischen der Sozialarbeiterin sind z. B. Konzentrationsstörungen, Antriebsstö-
und dem Arbeitgeber, an denen Frau Sch. zu- rungen, aber auch Ängste und depressive Verstim-
nächst mit vielen Ängsten teilnahm. Frau Sch. mungen. Sie gehen der schizophrenen Störung im
konnte mit ihrem Arbeitgeber eine stufenweise Durchschnitt 10 Jahre voraus.
Wiedereingliederung in ihre Berufstätigkeit Die Mutter von Frau Sch. war durch das Auftre-
(Archiv) vereinbaren, begonnen wurde die ten von schizophrenen Störungen in der Familie mit
Maßnahme aus der Klinik heraus. spezifischen Kompetenzen ausgestattet, sie erkannte
Von der Tagesklinik knüpfte die Patientin die Symptome und deren Krankheitswert, vorsichtig
Kontakte zu niedergelassenen Psychiatern. Frau und bemüht schaltete sie einen Psychiater ein, als es
Sch. wurde mit einer Erhaltungsdosis eines zur Erstmanifestation von schizophrenen Sympto-
hochpotenten Antipsychotikums entlassen, wel- men bei der Tochter kam, und initiierte die Klinik-
ches sie in einer niedrigen Dosis relativ gut ver- aufnahme. Bezüglich der akut produktiv-psychoti-
trug. Im Verlauf der folgenden 9 Jahre ging Frau schen Symptome – in unserer Kasuistik akustische
Sch. noch dreimal in die Klinik, zweimal wurde Halluzinationen und inhaltliche Denkstörungen im
sie für einige Tage auf einer offenen Aufnah- Sinne eines Verfolgungswahnes – remittierte (Zu-
mestation aufgenommen, sie hatte die Medika- rückgehen von Krankheitssymptomen) die Patien-
mente jedes Mal abgesetzt. Es kam erneut zu tin durch die Behandlung mit Antipsychotika. Sie
einem tagesklinischen Aufenthalt. Die Patientin hatte eine schizophrene Episode. Es traten in der
hatte sich verliebt und stand vor der Entschei- Folge weitere Episoden auf, insbesondere nach Ab-
14 dung dem Partner ihre Erkrankung mitzuteilen. setzen der Medikamente und in lebensverändern-
Sie war hin- und hergerissen. Sie schlief schlecht, den Situationen. Die Patientin erholte sich jeweils
war traurig und es drängten sich Selbstmordge- vollständig. Frau Sch. suchte eine ärztliche Psycho-
danken auf, die sie gut kontrollieren konnte. Frau therapeutin auf, hier konnte sie für sich wichtige
Sch. erlebte die Tagesklinik erneut sehr hilfreich, Lösungsstrategien im Umgang mit der Erkrankung
die Mitarbeiter des Pflegedienstes kannten Frau erarbeiten und Probleme im Beruf und in der Part-
Sch. und in mehreren Gesprächen mit Frau Sch. nerschaft besprechen.
und ihrem Partner konnten Zukunftsperspek- Die Patientin selbst spricht nicht von einer schi-
tiven entwickelt werden. Es erfolgte die Um- zophrenen Störung, sie sagt, sie leide an Depressio-
stellung auf ein atypisches Antipsychotikum, nen oder habe psychotische Krisen. Der Krankheits-
welches Frau Sch. deutlich besser vertrug. Seit verlauf ist insgesamt bis zum jetzigen Zeitpunkt als
dieser teilstationären Behandlung gab es keinen günstig zu werten. Die Patientin erholte sich bislang
erneuten stationären oder teilstationären Auf- vollständig von den psychotischen Episoden. Beson-
enthalt, die Patientin ist stabil, eine Rezidivpro- ders im ersten Jahr der Erkrankung verbrachte
phylaxe (Rückfallverhütung) erfolgt weiterhin. die Patientin viel Zeit in der Klinik, konnte jedoch
Frau Sch. hat ihren Partner geheiratet. letztlich gut von den dortigen Therapieangeboten
profitieren, sie lernte, mit Frühwarnsymptomen –
Literatur
229 14

bei ihr Schlafstörungen und Rückzug in die eigenen Literatur


vier Wände – umzugehen und kurzfristig die Medi- Ebert D (2001) Psychiatrie systematisch. Uni-Med Verlag, Bre-
men
kation zu erhöhen bzw. ein niederpotentes Neuro-
Goffmann E (1973) Asyle: Über die soziale Situation psychiat-
leptikum als beruhigendes und schlafanstoßendes rischer Patienten und anderer Insassen. Fischer, Frank-
Medikament zu nutzen. Zusätzlich fühlt sie sich von furt aM
der behandelnden Psychiaterin verstanden und Hauch J, Zeiler HP (Hrsg) (1991) Gesundheitspsychologie:
nutzt regelmäßige Gesprächskontakte in deren Pra- zur Sozialpsychologie der Prävention und der Gesund-
xis. Die Kasuistik beschreibt zwischen den einzelnen heitsforschung. Asanger, Kröning
Hunold P, Rahn E (2000) Selbstbewusster Umgang mit psychia-
Erkrankungsschüben eine vollständige Remission
trischen Diagnosen. Psychiatrieverlag, Bonn
(Zurückbildung) der Symptome. Kasper S, Volz HP (2003) Psychiatrie compact. Thieme, Stutt-
Bei einem ungünstigeren Verlauf können bei gart
einem Patienten Residualsymptome (Restsympto- Rössler W, Hoff P (2005) Psychiatrie zwischen Autonomie und
me) zurückbleiben. Solche Residualsymptome sind Zwang. Springer, Berlin Heidelberg New York
Schmolke M (2001) Gesundheitsressourcen im Lebensalltag
z. B. die soziale Isolation, die Beeinträchtigung in der
schizophrener Menschen: Eine empirische Untersuchung.
Durchführung der persönlichen Hygiene, Antriebs- Psychiatrieverlag, Bonn
mangel und eine depressive Stimmungslage. Daraus Weitkunat B, Haisch J, Kessler M (1997) Public Health und
leiten sich konkrete Tätigkeiten in der Arbeit mit Gesundheitspsychologie. Hans Huber, Bern
psychisch erkrankten Menschen ab, wie z. B. eine
ambulante Betreuung durch psychiatrische Dienste,
regelmäßige Freizeitaktivitäten in der Gruppe, Be-
gleitung zu Ämtern und Nervenärzten. Der Patient
wird da abgeholt, wo er steht und erhält soviel Un-
terstützung wie nötig. Er wird aktiv begleitet, d. h.,
wenn er nicht zum Kaffeetreff in der Institutsam-
bulanz kommt, wird eine »nachgehende Hilfe« or-
ganisiert.
Bei manchen Verläufen von psychischen Erkran-
kungen bleiben die Residualsymptome für lange Zeit
stabil, bei anderen betroffenen Menschen treten sie
nach jedem Erkrankungsschub stärker in den Vor-
dergrund.

Überprüfen Sie Ihr Wissen!


4 Was sind Vorpostensymptome? 7 Kap. 14.5
4 Was sind Residualsymptome? 7 Kap. 14.1
4 Was meint der Begriff Episode? 7 Kap. 14.1
4 Wie kann der Begriff Chronifizierung erklärt
werden? 7 Kap. 14.2
4 Was ist der Unterschied zwischen Bewältigungs-
formen und Bewältigungsstilen? 7 Kap. 14.2
4 Was meint der Begriff Drehtürpsychiatrie? 7 Kap.
14.4
4 Erklären Sie den Begriff Hospitalismus! 7 Kap.
14.4
15

15 Psychopathologie
Martin Meyer

15.1 Erkennen von Bewusstseinsstörungen – 232


15.1.1 Quantitative Bewusstseinsstörungen – 232
15.1.2 Qualitative Bewusstseinsstörungen – 233

15.2 Erkennen von Orientierungsstörungen – 233

15.3 Erkennen von Aufmerksamkeits-


und Konzentrationsstörungen – 234

15.4 Erkennen von Gedächtnisstörungen – 234


15.4.1 Quantitative Gedächtnisstörungen – 235
15.4.2 Qualitative Gedächtnisstörungen – 235

15.5 Erkennen von Denkstörungen – 236


15.5.1 Formale Denkstörungen – 236
15.5.2 Inhaltliche Denkstörungen – 237

15.6 Erkennen von Ängsten und Zwängen – 239


15.6.1 Ängste – 239
15.6.2 Zwänge – 239

15.7 Erkennen von Störungen des Ich-Erlebens – 239

15.8 Erkennen von Affektstörungen – 241

Literatur – 243
232 Kapitel 15 · Psychopathologie

) ) In Kürze
Bewusstsein

Die Psychopathologie ist ein Teilbereich der Psycho-


logie/Psychiatrie und beschäftigt sich mit denje-
nigen Veränderungen des Erlebens, Verhaltens und Bewusstlosigkeit Unterbewusstsein
der Persönlichkeit, die aus der Norm fallen und Lei-
den verursachen. Hierbei geht es um die Beschrei- . Abb. 15.1. Das Bewusstsein und seine Gegenpole
bung und Klassifikation der einzelnen psychischen
Störungen und der für sie typischen Symptome. Die
psychopathologischen Phänomene sind Grundlage z. B. durch psychotherapeutische Prozesse bewusst
jeder psychiatrischen Diagnostik und Nosologie. gemacht und somit zu Erlebnissen werden.
Unter Bewusstseinstörungen werden alle krank-
haften oder auf Ermüdung zurückzuführenden
Wissensinhalte Beeinträchtigungen bei der Wahrnehmung, bei Ge-
Durch das Studium dieses Kapitels erhalten Sie: dächtnisleistungen und beim Denken verstanden.
7 einen Einblick in abnorme Veränderungen des Man unterscheidet quantitative von qualitativen Be-
Erlebens, Verhaltens und der Persönlichkeit wusstseinsstörungen.
7 Kenntnisse über Bewusstseins-, Orientierungs-,
Aufmerksamkeits-, Konzentrations-, Gedächtnis-,
Denk- und Affektstörungen 15.1.1 Quantitative Bewusstseins-
7 allgemeine Kenntnisse über Ängste und Zwänge störungen
7 Einblick in die Störungen des Ich-Erlebens
Hierbei handelt es sich um eine graduelle Abstufung
der Bewusstseinshelligkeit. Man unterteilt sie in 3
15.1 Erkennen von Bewusstseins- Grade.
störungen
Somnolenz
Definition Sie stellt die leichteste Stufe dar. Es handelt sich bei ihr
Bewusstsein bezeichnet die Gesamtheit und um einen Zustand der Benommenheit. Die Betroffe-
den Ausdruck aller unserer gegenwärtigen psy- nen wirken apathisch und schläfrig. Durch Anruf
chischen Vorgänge. Es beschreibt die Fähigkeit, oder Schmerzreiz besteht jedoch Weckbarkeit. In be-
sich mittels, Beobachtung, Urteil und Verhalten grenztem Umfang ist eine Verständigung möglich.
im Vergleich zu seiner Umwelt zu erleben. Es ist
ferner die Instanz, in der mentale Zustände, wie Sopor
15 beispielsweise Schmerz, Wut und Farbempfin- Die Betroffenen befinden sich in einem tiefschlaf-
dung, repräsentiert werden. Eine höhere Stufe ähnlichen Zustand. Eine Weckbarkeit ist nicht
ist das »Bewusstsein des eigenen Bewusstseins«. mehr möglich. Nur noch stärkere Reize können
Reaktionen auslösen. Diese entsprechen jedoch
meist nicht der Situation, sind eher stereotyp und
Das Bewusstsein verfügt über zwei Gegenpole. Auf äußern sich in Form von Lallen, Grimassieren oder
der einen Seite die Bewusstlosigkeit, die den Fort- Murmeln.
fall jeglicher Möglichkeiten des Erlebens und Han-
delns im Umwelt-, Körper- und Selbstbezug Koma
bezeichnet. Auf der anderen Seite das Unbewusste, Dies ist die letzte Abstufung der Bewusstseinshellig-
das alle psychischen Vorgänge beschreibt, die – aus keit. Es handelt sich um einen Zustand der tiefen
welchen Gründen auch immer – selbst nicht vom Bewusstlosigkeit. Selbst auf stärkste Reize erfolgt
erlebenden Individuum wahrgenommen werden keine Reaktion. Neben dem Erlöschen der Eigen-
können. Inhalte des Unbewussten können jedoch und Fremdreflexe fehlt häufig die Pupillenreaktion.
15.2 · Erkennen von Orientierungsstörungen
233 15

Es kommt zu Störungen der Atem- und Kreislaufre- nehmung interpersonaler oder außenweltlicher Vor-
gulationen. gänge einhergeht. Die Wahrnehmung erscheint leb-
hafter und stärker gefühlsbetont. Das Erleben scheint
Praxisbox auf andere, ungewohnte Dinge des Alltags ausge-
Vorkommen quantitativer Bewusstseinsstörun- richtet. Manchmal besteht eine beglückt-gehobene
gen: bei hirnorganischen Erkrankungen, inter- Stimmung mit inneren Licht- und Energieerlebnis-
nistische Erkrankungen (z. B. Coma diabeticum, sen und kosmischer Verbundenheit.
Leberkoma, Urämie, Intoxikationen).
Praxisbox
Vorkommen: bei Schizophrenie, bei Manie,
nach Einnahme von halluzinogenen Drogen
15.1.2 Qualitative Bewusstseins oder Psychostimulanzien (Amphetamine).
störungen

Damit sind Veränderungen der Bewusstseinsinhalte


und der Art und Weise des Erlebens gemeint. 15.2 Erkennen von
Orientierungsstörungen
Bewusstseinseintrübung
Definition
Hier handelt es sich um einen Zustand der Ver-
wirrung. Die Betroffenen sind in ihrer Fähigkeit Orientierung bedeutet das Wissen um die Zeit,
zu denken beeinträchtigt. Sie können die aktuelle den Ort, die Situation und die eigene Person.
Situation, in der sie sich befinden, nicht abschät- Diese Kenntnis ermöglicht, dass Menschen sich
zen. Die Umgebung wird häufig illusionär ver- im täglichen Leben zurechtfinden.
kannt. Die Betroffenen wirken verwirrt und des-
orientiert.
Störungen der zeitlichen Orientierung
Praxisbox Damit ist der Verlust der Kenntnis von Datum, Tag,
Vorkommen: bei körperlich begründbaren Monat, Jahr und Uhrzeit gemeint. Die Betroffenen
Psychosen, hirnorganischen Erkrankungen und wissen nicht, welche Zeit es ist. Mitunter kommt es
Vergiftungen. zu Fassadenverhalten und einem häufigen Nach-
fragen nach dem Wochentag oder der Jahreszeit.
Menschen mit einer zeitlichen Orientierungsstö-
Bewusstseinseinengung rung leben meistens im Altzeitgedächtnis. Das heißt,
Hiermit ist eine Reduktion der Bewusstseinsinhalte in einer Zeit vor dem Eintreten der Störung.
gemeint. Der Kranke wird von einigen wenigen
Gedanken, Gefühlen und Trieben beherrscht. Alles Störungen der räumlichen Orientierung
andere ist ausgeschaltet. Die Ansprechbarkeit auf Es kommt zu einem Verlust der Kenntnis des Ortes,
Außenreize ist stark vermindert. an dem man sich aufhält. Die Betroffenen wissen
nicht mehr, wo sie sich befinden. Sie verlaufen sich
Praxisbox häufig, finden sich in ihrer aktuellen Umgebung
Vorkommen: auch hier sind die Ursachen in nicht zurecht.
körperlich begründbaren Psychosen zu finden.
Störungen der situativen Orientierung
Hierbei handelt es sich um ein Verkennen der aktu-
Bewusstseinsverschiebung ellen Situation, in der man sich befindet. Dement-
Hierbei handelt es sich um eine Bewusstseinsver- sprechend verhält sich der Erkrankte. Er hält z. B.
änderung, die mit dem Gefühl der Intensitäts- und die Station für ein Hotel. Die Teammitarbeiter
Helligkeitssteigerung hinsichtlich Wachheit, Wahr- sind Hotelangestellte. Weder die Einrichtung seines
234 Kapitel 15 · Psychopathologie

Zimmers noch die Dienstkleidung lassen den Er- Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen
krankten auf einen Aufenthalt im Krankenhaus Die Bedeutung von Wahrnehmungen kann nicht
schließen. mehr erfasst und sinnvoll miteinander in Verbindung
gebracht werden. Die Erkrankten sind unfähig, ihre
Störung der Orientierung zur eigenen Person Aufmerksamkeit auf einen Sachverhalt oder Gegen-
Verlust des Wissens um die Merkmale der eigenen stand auszurichten. Sinnvolle, zielgerichtete Ge-
Person. Die Erkrankten können keine Angaben zu spräche sind kaum möglich. Sinnvolle Handlungen
ihrem Namen, dem Geburtsdatum oder ihrem Beruf können, je nach Schweregrad, nicht mehr oder nur
machen. Manchmal sind Bruchstücke der Person ungenügend durchgeführt werden.
vorhanden. Ein Patient reagiert z. B. auf seinen Vor-
namen, hat aber keinerlei Kenntnis mehr um seinen Praxisbox
Familiennamen. Vorkommen von Aufmerksamkeits- und
Konzentrationsstörungen: bei der Schizophre-
Praxisbox nie, bei Manien, Depressionen, degenerativen
Vorkommen von Orientierungsstörungen: Hirnerkrankungen und anderen hirnorganischen
bei organisch bedingten psychischen Störun- Störungen.
gen (z. B. Demenzerkrankungen oder Delirium),
Wahnerkrankungen.

15.4 Erkennen von Gedächtnis-


störungen
15.3 Erkennen von Aufmerk-
samkeits- und Definition
Konzentrationsstörungen Unter Gedächtnis versteht man die Fähigkeit
des Gehirns, Informationen zu speichern und
Definition
diese zu einem späteren Zeitpunkt, willentlich
Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit, die Welt oder unwillentlich, wieder hervorzuholen.
selektiv wahrzunehmen. Darunter wird die Tat-
sache verstanden, dass Menschen Informa-
tionen gezielt auswählen, ihre geistige Anstren- Man unterscheidet zwischen Kurz- und Langzeit-
gung unter einer Zielsetzung bündeln und nicht gedächtnis. Störungen in diesen verschiedenen Be-
Dazugehöriges außer Acht lassen. Diese Form reichen wirken sich im Alltag sehr unterschiedlich
der Aufmerksamkeit bezeichnet die Fähigkeit, aus. Da nicht alle Reize aus der Umwelt gespeichert
stetig und zielgerichtet einer Aufgabe nach- werden können, findet zunächst teils unbewusst,
15 zugehen und konkurrierende Handlungsten- teils auch bewusst, eine Filterung dieser Reize statt.
denzen zu unterlassen. Danach gelangt der Teil der Informationen, die
Mit Konzentration ist die Fähigkeit ge- durch den Filter gekommen sind, in das Kurzzeit-
meint, eine Aufgabe über einen definierten gedächtnis, wo sie für wenige Minuten verbleiben.
Zeitraum sorgfältig und zügig auszuführen. Erst durch Wiederholen, bewusstes Lernen oder
Eine Person handelt in dem Maße konzentriert, eine starke emotionale Verknüpfung werden Infor-
in dem sie verschiedene, an der Informations- mationen schließlich in das Langzeitgedächtnis
verarbeitung und Handlungsregulation betei- übertragen. Dort können sie Minuten bis Jahre ver-
ligte Funktionen ausrichtet und abstimmt, um bleiben.
ein bestimmtes Handlungsziel zu verfolgen.
15.4 · Erkennen von Gedächtnisstörungen
235 15
15.4.1 Quantitative Gedächtnis- der schädigenden Ursache erstreckt. Daneben gibt
störungen es psychogene Amnesien, die im Rahmen von ab-
normen Erlebnisreaktionen auftreten können. Meist
Definition
sind diese als »Verdrängung« von Gedächtnisinhal-
Darunter versteht man Schwierigkeiten, sich ten zu verstehen.
Informationen und Erlebtes einzuprägen, zu
behalten und sich daran wieder zu erinnern. Praxisbox
Man spricht dann von Störungen, wenn sich Vorkommen quantitativer Gedächtnisstö-
das Gedächtnis durch eine Krankheit wesentlich rungen: bei allen degenerativen Hirnerkran-
verschlechtert hat und die Leistungen nicht kungen und anderen hirnorganischen Stö-
mehr denen der Altersgruppe entsprechen. rungen, hysterischen Persönlichkeitsstörungen,
abnormen Erlebnisreaktionen.

Störung des Kurzzeitgedächtnisses


Dies bedeutet, dass neue Informationen bereits nach
wenigen Sekunden oder Minuten wieder vergessen 15.4.2 Qualitative Gedächtnis-
werden. Die Erinnerung an Dinge, die vor dem störungen
Krankheitseintritt gespeichert wurden, bleibt erhal-
Definition
ten. Insbesondere beim Korsakow-Syndrom bleiben
Intelligenz und geistige Beweglichkeit oft weit- Hierbei handelt es sich um Erinnerungsfälschun-
gehend unbeeinträchtig. Die Vergesslichkeit wird gen oder Scheinerinnerungen. Die Gedächt-
häufig bewusst erlebt. nisleistung lässt nicht nach, sondern Inhalte des
Gedächtnisses werden umgestaltet.
Störung des Langzeitgedächtnisses
Im Langzeitgedächtnis sind Ereignisse vor der
Krankheit, die Monate oder gar Jahre zurückliegen, Wahnhafte Erinnerungsentstellung
abgelegt. Wichtige Aspekte des Altgedächtnisses Hierbei werden Erinnerungen so umgestaltet, dass
sind das biographische Gedächtnis sowie allge- sie sich in das augenblickliche Wahnsystem einord-
meines und fachliches Wissen eines Menschen. nen lassen. So kann sich der Wahnkranke sehr genau
Treten Störungen des Altgedächtnisses auf, müssen daran erinnern, dass seine Frau seit über einem Jahr
nicht alle alten Erinnerungen betroffen sein. Bei bereits mit dem Nachbarn regelmäßig hinter seinem
vielen degenerativen Hirnerkrankungen kommt es Rücken tuschelt, obschon in der Realität keinerlei
zu einem allmählichen Nachlassen der Gedächtnis- Kontakte zwischen den beiden bestehen.
tätigkeit. In der Regel sind am stärksten die kürzer
zurückliegenden Gedächtnisinhalte beeinträchtigt. Pseudologia phantastica
Weit zurückliegende Gedächtnisinhalte können Erinnerungen werden durch Hinzudichten und
noch lange Zeit abgerufen werden. Am längsten freies Erfinden entstellt. Häufig ist es so, dass die
bleiben gut eingeschliffene Verhaltensweisen und Grenze zwischen tatsächlich Erlebtem und Erfun-
Redensarten erhalten. denem sowohl für Außenstehende als auch für den
Patienten selber verschwimmt. Dabei ist der Betrof-
Amnesien fene nur für den Augenblick der Erzählung von der
Damit sind begrenzte Erinnerungslücken gemeint. Wahrheit und Richtigkeit überzeugt.
So kann es nach einem Hirntrauma zu einer Erinne-
rungslücke kommen, die sich auf einen gewissen Konfabulation
Zeitraum vor dem Eintreten der Verletzung er- Die Konfabulation kommt in der Regel bei Störungen
streckt. Man spricht dann von einer retrograden des Kurzzeitgedächtnisses vor. Es handelt sich dabei
Amnesie. Dem gegenüber steht die anterograde Am- um eine Variation der Unwahrheit, ohne die bewusste
nesie, die sich auf einen bestimmten Zeitraum nach Absicht der Lüge. Es besteht die feste und anhaltende
236 Kapitel 15 · Psychopathologie

Überzeugung, dass keine Erinnerungslücken vorlie- wegen sowie die Prüfung und anschließende Bewer-
gen und die Geschichte so stimmt, während sie tat- tung deren Anwendbarkeit.
sächlich nachträglich hinzugefügt wurde, um eine In Bezug auf Störungen des Denkens wird zwi-
Lücke zu schließen. schen dem gesetzmäßigen Ablauf, also der Form des
Sowohl die Pseudologia phantastica als auch die Denkens, und den Denkinhalten unterschieden.
Konfabulation geben sich oft erst im Verlauf eines
längeren Gesprächs zu erkennen. Gerade Konfabu-
lierende haben, bedingt durch die eigene Gewissheit 15.5.1 Formale Denkstörungen
um die Wahrheit der Erinnerung, eine oft verblüf-
Definition
fende Überzeugungskraft.
Damit gemeint sind Störungen des Gedanken-
Déjà-vu-Erlebnisse ganges. Der Ablauf des Denkens und der Denk-
Hierbei handelt es ich um eine Form der Erinnerungs- operationen gelingt nicht mehr oder nur sehr
täuschung, bei der man meint, eine momentane ungenügend.
Situation schon einmal gesehen oder erlebt zu haben.
Déjà-vu-Erlebnisse treten auf, bei schizophrenen
Psychosen, bestimmten Formen der Epilepsie aber Denkhemmung/Denkverlangsamung
auch bei Gesunden, vornehmlich im Zustand der Der Ablauf des Denkens ist verlangsamt. Die Denk-
Ermüdung. inhalte konzentrieren sich auf wenige Themen. Das
Sprechen ist oft sehr langsam, der Wortschatz redu-
Praxisbox ziert. Das Denken in sich ist jedoch noch geordnet.
Vorkommen qualitativer Gedächtnisstö- Die Patienten sind sich der Störung bewusst und
rungen: bei Psychosen, hirnorganischen Erkran- klagen sehr darüber, ohne diese jedoch mit eigenen
kungen, Persönlichkeitsstörungen, Neurosen. Möglichkeiten beseitigen zu können.

Praxisbox
Vorkommen: bei Depressionen, Schizophrenie.
15.5 Erkennen von
Denkstörungen
Umständliches Denken
Definition Die Betroffenen sind nicht dazu in der Lage, Wich-
Denken ist eine geistige Tätigkeit, die darauf tiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden. Im
ausgerichtet ist, Bedeutungen zu erkennen und Gespräch wird das eigentliche Ziel nur über sehr
Beziehungen herzustellen. Der Ablauf des Den- viele Umwege erreicht. Fast alle Nebensächlichkei-
15 kens ist auf Begriffe, Urteile und Schlüsse ange- ten werden miteinbezogen.
wiesen. Mit Denken ist eine Form der Informati-
onsverarbeitung gemeint, die alle Vorgänge zu- Praxisbox
sammenfasst, die aus einer aktiven inneren Vorkommen: bei organisch begründbaren
Beschäftigung mit Vorstellungen, Erinnerungen Psychosen, Oligophrenie.
und Begriffen eine Erkenntnis zu formen su-
chen. Dies geschieht durch Verknüpfen oder be-
wusstes Entkoppeln von Gedankeninhalten und Einengung des Denkens
Ideen sowie deren Umformung. Das Denken beschränkt sich auf wenige Themen. Im
Gespräch kreist der Patient ausschließlich um ein
bestimmtes Thema. Es ist kaum möglich, ihn davon
Zu den elementaren Denkoperationen gehören Er- abzulenken und die Inhalte auszuweiten.
kennen, Wiedererkennen und Identifizieren, das
Suchen nach neuen, logisch begründbaren Lösungs-
15.5 · Erkennen von Denkstörungen
237 15

Praxisbox Praxisbox
Vorkommen: bei organisch begründbaren Vorkommen: bei Schizophrenie.
Psychosen, Wahnerkrankungen, Schizophrenie.

Zerfahrenes Denken
Perseverierendes Denken Das Denken ist zusammenhangslos und sprung-
Das Denken des Patienten kehrt immer wieder zu haft. Die Gedanken haben häufig keinerlei Ver-
den gleichen Gedanken, Worten und Angaben zu- bindung mehr miteinander. Die Sprache des Pa-
rück. Er kann sich davon nicht lösen. Die Gesprächs- tienten ist zerrissen. Es kann zu einem regelrechten
inhalte beziehen sich fast immer auf die entsprechen- Wortsalat und Wortneubildungen (Neologismen)
den Themen. Die Patienten klagen darüber, immer kommen.
nur über »ihr« sorgenvolles Thema grübeln zu
müssen. Praxisbox
Vorkommen: bei Schizophrenie.
Praxisbox
Vorkommen: bei Depressionen.

15.5.2 Inhaltliche Denkstörungen


Ideenflucht
Definition
Im Gegensatz zur Denkhemmung ist hier der Ge-
dankenablauf stark beschleunigt. Die Gedanken Hiermit ist eine pathologische Veränderung
unterliegen keiner Kontrolle mehr. Das Denken ist der Denkinhalte gemeint. Die Patienten be-
sprunghaft, flüchtig und dauernd unterbrochen. Es schäftigen sich mit Gedanken und Vorstellun-
werden ohne Unterlass neue Einfälle und Ideen vor- gen, die unrichtig, nicht realitätsbezogen und
gebracht. Häufig sind diese in einer lockeren Wort- für Außenstehende nicht nachvollziehbar sind.
assoziation an vorher Gesagtes geknüpft. Beliebige Inhaltliche Denkstörungen beeinträchtigen
Worte werden aufgeschnappt und sofort zu einem sowohl den Patienten selber, als auch sein ge-
neuen Gedankengang verarbeitet. Das Denken wird samtes Umfeld.
oberflächlich und wechselt ständig sein Ziel.

Praxisbox Überwertige Idee


Vorkommen: bei Manie, Schizophrenie, Drogen- Hierbei handelt es sich um einen Gedanken, eine
intoxikation (Halluzinogene, Amphetamine, Vorstellung oder einer Idee, die das gesamte Denken
Kokain). des Betroffenen beherrscht. Das können politische,
religiöse oder weltanschauliche Vorstellungen sein,
die mit sehr starken Affekten in Verbindung stehen.
Gedankensperre/Gedankenabreißen Im Gegensatz zum Wahn sind die Gedanken psycho-
Hier kommt es zu einer plötzlichen Unterbrechung logisch ableitbar und verstehbar. Sie stellen jedoch
des Gedankenganges, ohne eine erkennbare Ursache. für den Betroffenen eine (zumeist nicht bewusst er-
Der zunächst flüssige Gedankengang wird, mitten lebte) Beeinträchtigung dar.
im Satz, unterbrochen. Den Betroffenen ist dieser
Gedankenabriss in der Regel bewusst und wird als Zwangsgedanken
sehr quälend empfunden. Häufig wird er wahnhaft Es kommt zu Gedanken oder Handlungsimpulsen,
umgedeutet. Den Patienten werden die Gedanken die der Betroffene selber als unsinnig oder quälend
von außen entzogen. Man spricht dann von einem empfindet, jedoch nicht unterdrücken kann. Sie wer-
»Gedankenentzug«. den, im Gegensatz zum Wahn, nicht als von außen
gemacht sondern von innen aus dem eigenen Den-
ken heraus entstehend erlebt.
238 Kapitel 15 · Psychopathologie

Praxisbox 4 Wahnsystem. Aus der Wahnarbeit heraus gestal-


Vorkommen von überwertigen Ideen und tet der Patient den systematischen Ausbau eines
Zwangsgedanken: bei Persönlichkeitsstörun- regelrechten Wahnsystems.
gen, Neurosen, Belastungs- und Anpassungs-
störungen, Schizophrenie, affektiven Störungen. Häufige Wahnthemen sind:
4 Beziehungswahn. Belanglose Ereignisse werden
auf die eigene Person bezogen. Alles, was um den
Wahn Kranken herum geschieht, erhält eine besondere
Der Wahn ist das wahrscheinlich komplexeste Phä- Beutung.
nomen seelischer Störungen und gehört mit zum 4 Verfolgungswahn. Der Kranke fühlt sich durch
schwierigsten, was Diagnose, Betreuer-Patient-Ver- Personen, Wesen oder fremde Mächte bedroht
hältnis und damit Therapie und Pflege anbelangt. und verfolgt. Selbst belanglose Ereignisse kön-
Kennzeichnend für eine Wahn ist: nen eine Bedrohung darstellen.
4 die Unangemessenheit der Wahninhalte bezüg- 4 Beeinträchtigungswahn. Der Kranke ist davon
lich der eigenen Person und Situation, überzeugt, von außen in seinem Fühlen, Denken
4 die unkorrigierbare Überzeugung, die unbeein- und Handeln negativ beeinflusst zu werden. Der
flussbar durch Erfahrung ist, Beeinträchtigungswahn stellt sozusagen die Er-
4 die absolute Gewissheit, obgleich niemand den klärung für die Störung der Ich-Struktur dar.
Inhalt teilt, 4 Größenwahn. Der Kranke misst seiner gesell-
4 die Doppelgleisigkeit der Lebensweise bei oft schaftlichen Bedeutung, seinen Fähigkeiten und
gleichzeitig realitätsgerechtem Verhalten. Leistungen eine Größe bei, die nicht der Realität
entspricht. Er kann der festen Überzeugung sein,
Man unterscheidet verschiedene Formen des Wahn- eine ungeheuere Macht oder Reichtum zu besit-
erlebens: zen. Ebenso kann er sich für Gott halten, John
4 Wahnstimmung. Hierbei handelt es sich um ein Lennon oder z. B. den wiedergeborenen Rex
unbestimmtes Gefühl der Bedrohung. Alles wirkt Gildo.
unheimlich, bedrohlich, sonderbar, »es liegt 4 Verarmungswahn. Der Kranke ist davon über-
etwas in der Luft«. Der Kranke reagiert darauf zeugt, materiell ruiniert zu sein. Er glaubt, nichts
mit Angst, Argwohn, Misstrauen, Verunsiche- mehr zu besitzen.
rung, Ratlosigkeit. Es können aber auch Gefühle 4 Schuldwahn. Der Patient glaubt, große Schuld
der Gehobenheit oder Beseligung auftauchen. auf sich geladen zu haben. So kann er davon
4 Wahneinfall. Hierbei handelt es sich um eine überzeugt sein, Kriege werden geführt, weil er
plötzlich auftauchende wahnhafte Überzeugung. sich falsch verhalten habe.
Die Patienten berichten über eine Eingebung
15 oder Erleuchtung. Praxisbox
4 Wahnwahrnehmung. Die realen Wahrnehmun- Vorkommen: bei Schizophrenie, Depressionen,
gen aus alltäglichen Vorkommnissen erhalten hirnorganischen Erkrankungen, isolierten Wahn-
eine andere, neue, der Wahnstimmung und den erkrankungen.
Wahninhalten entsprechende Bedeutung. Bemer-
kungen, Gesten und Gespräche erhalten plötz-
lich eine spezifische Bedeutung. Sie werden vom
Patienten als Zeichen, Hinweis, Warnung oder
Aufforderung gedeutet.
4 Wahnarbeit. Der Wahn wird durch weitere
Wahnsymptome bewiesen, begründet, abgeleitet
oder ausgestaltet.
4 Wahnerinnerungen. Die Vergangenheit wird
rückwirkend wahnhaft umgedeutet.
15.7 · Erkennen von Störungen des Ich-Erlebens
239 15
15.6 Erkennen von Ängsten Hypochondrie
und Zwängen Die Hypochondrie bezeichnet einen Zustand zwang-
hafter Beachtung des eigenen Gesundheitszustandes,
15.6.1 Ängste begleitet von heftigen Ängsten vor Krankheiten.

Definition

Angst ist die Bezeichnung für Erregungszustän- 15.6.2 Zwänge


de, die auf die Erwartung von physischer oder
psychischer Bedrohung zurückgehen. Als Warn- Zwangsstörungen stehen den Angststörungen sehr
system ist sie lebensnotwendig und veranlasst nahe. Der Betroffene muss bestimmte Handlungen
das Lebewesen zur Flucht oder zum Angriff. immer wieder durchführen oder bestimmte Ge-
danken immer wieder denken, um seine Angst zu
bewältigen. Gelegentlich haben Ängste und Zwänge
Angststörungen unterscheiden sich von der »physi- ihre Ursache in anderen Erkrankungen oder auch in
ologischen« Angst dadurch, dass sie ohne erkenn- schwerwiegenden belastenden Erlebnissen. Häufig
baren Anlass oder weit übersteigert auftritt und Le- treten sie aber auch als eigenständige Störung auf.
bensführung wie Lebensfreude beeinträchtigt. Man Die Zwänge werden als quälend oder sinnlos erlebt,
unterscheidet verschiedene Erscheinungsformen. ohne dass der Betroffene ihnen ausweichen kann.
Da jeder Mensch bestimmten Alltagszwängen
Phobien unterworfen ist, spricht man dann von einer »Stö-
Die Ängste beziehen sich auf bestimmte Situationen rung«, wenn das zwanghafte Verhalten von dem
oder Objekte: sonst üblichen Verhalten so sehr abweicht, dass es
4 Platzangst oder Ängste in sozialen Situationen, den Betroffenen in seinem alltäglichen Leben behin-
4 Angst vor Tieren (z. B. Spinnen- oder Katzen), dert und einengt.
4 Höhenangst,
4 Angst, sich in engen Räumen aufzuhalten (Klaus- Praxisbox
trophobie), Vorkommen von Ängsten und Zwängen: u. a.
4 Herzangst. bei Neurosen und Persönlichkeitsstörungen,
Schizophrenie, Depressionen.
Generalisierte Angststörung
Eine chronische, unrealistische und übermäßige
Angst und Sorge in Bezug auf verschiedene Situatio-
nen und Dinge. Die Betroffenen sind ruhelos, fühlen 15.7 Erkennen von Störungen
sich permanent angespannt. Es herrschen eine leichte des Ich-Erlebens
Ermüdbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und
Definition
Reizbarkeit. Man spricht von einer generalisierten
Angststörung, wenn die Symptome innerhalb von Das Ich bezeichnet ein angenommenes »In-
6 Monaten an der Mehrzahl der Tage auftreten und nerstes«, den Kern oder die Struktur der Per-
bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigungen in ver- sönlichkeit und bedeutet, dass die psychischen
schiedenen Bereichen des Lebens hervorrufen. Vorgänge als Eigenes erlebt werden. Man
spricht von einem Ich-Bewusstsein.
Panikattacken
Die Angstsymptome treten anfallsartig auf und kön-
nen sich bis zur Todesangst steigern. Die Panik steht Dieses »ich bin« bedeutet, dass »ich« lebendig,
in der Regel in keinerlei Bezug zu bestimmten Per- einheitlich und zusammenhängend in »meiner«
sonen, Objekten oder Situationen. Die Symptome Beschaffenheit bin, mich von anderen Wesen und
wirken auch auf die Umgebung übermächtig und Dingen abgrenzen und unterscheiden kann, dass ich
lösen dort oft ähnliche Reaktionen aus. mich als eigenständiges Wesen erlebe und mein Er-
240 Kapitel 15 · Psychopathologie

kennen und Einordnen der Dinge um mich herum empfunden. Bei den Betroffenen löst dies sehr häufig
sowie mein Handeln selber bestimmen kann. Angst aus. Manchmal führt die Ich-Identitätsverun-
Bei Ich-Störungen geht dass Bewusstsein von sicherung zu skurrilen Reaktionen, wie z. B. Selbst-
mir selber verloren. Das Erleben der Ichhaftigkeit beschwörungen. Je nach Grunderkrankung kann
und die Abgrenzung zwischen dem Selbst und der es auch zu wahnhaften Erklärungen des Problems
Umwelt gelingt nicht mehr. Ich-Störungen werden kommen.
von den Betroffenen als außerordentlich quälend
empfunden. Sie sind für Außenstehende und Betrof- Praxisbox
fene unbegreifbar und schwer zu fassen. Sehr viele Vorkommen von Derealisations- und Deperso-
psychische Beeinträchtigungen können eine Folge nalisationserleben: hauptsächlich bei Neurosen,
der Ich-Störungen sein. Die Fremdheit und Unfass- Belastungs- und Persönlichkeitsstörungen,
barkeit löst Angst und Depression aus, Selbst- und Schizophrenie und wahnhaften Erkrankungen,
Fremdaggressivität, Wahnzustände jeglicher Form, affektiven Störungen.
Verwirrtheit, Absonderlichkeiten im Denken, Spre-
chen und Handeln.
Ich-Störungen treten in unterschiedlicher Er- Störungen der Ich-Aktivität
scheinungsform auf. Der Betroffene erlebt sich selber in allem gebremst,
zäh und stockend. Wie in einem Alptraum erscheint
Derealisationserleben alles erschwert und verzögert. Die Patienten wirken
Die Umgebung erscheint dem Patienten plötzlich verlangsamt und schwerfällig. Manchmal auch
verändert. Sie ist unwirklich, fremdartig und un- manieriert oder bizarr. Es kommt zu sonderbaren
vertraut. Die Betroffenen klagen, »es ist als bewege Bewegungen oder Grimassen, mit dem Hinter-
man sich durch einen Traum«. Das Derealisations- grund, die Blockaden zu durchbrechen. Das Spre-
erleben wird als sehr quälend und angstmachend chen ist abgehackt oder sprunghaft. Der extremste
empfunden. Ausdruck dieser Störung zeigt sich in Form eines
Stupors oder des Mutismus, d. h. einer völligen see-
Depersonalisation lischen, geistigen und körperlichen Blockade.
Es besteht eine tiefe Verunsicherung über die Ich-
Identität. Das Selbst oder Teile des eigenen Körpers Störungen der Ich-Grenzen
erscheinen dem Betroffenen verändert, unwirklich, Der Kranke kann nicht erkennen, wo er selbst auf-
fremd, oder werden als nicht mehr dazugehörend hört und seine Umwelt anfängt. Er fühlt sich sozu-

15 Gesunde Ich-Demarkation Gestörte Ich-Demarkation

. Abb. 15.2. Störung der Ich-Grenzen


15.8 · Erkennen von Affektstörungen
241 15

sagen körperlos. Das Außen kann nicht mehr vom Praxisbox


Innen unterschieden werden. Die Ich-Grenzen lösen Vorkommen von Störungen der Ich-Aktivität,
sich auf und der Betroffene ist seiner Umwelt schutz- Ich-Grenzen, Ich-Struktur und Ich-Vitalität:
los ausgeliefert. Alles dringt ein ohne dass er sich hauptsächlich bei Schizophrenie, wahnhaften
davor abschirmen kann. Folge dieser Störung ist Erkrankungen und affektiven Störungen.
häufig die Vorstellung der Gedankenausbreitung.
Die Patienten haben den Eindruck, dass sich die ei-
genen Gedanken überall hin verbreiten und andere
diese lesen können. Zugleich kann der unkontrol- 15.8 Erkennen
lierte Austausch auch wechselseitig sein. Fremde von Affektstörungen
Gedanken, Impulse und Stimmungen können ein-
Definition
gegeben werden. Hinzu kommen Handlungsanwei-
sungen bis hin zu Suizidaufträgen. Der Kranke rea- Affektivität bedeutet die Gesamtheit der Ge-
giert darauf häufig mit merkwürdigem, sonderba- fühlsregungen, Stimmungen und des Selbst-
rem Verhalten. Nach außen hin erscheint er bizarr wertgefühls eines Menschen. Eine Unterschei-
und befremdend. dung kann man treffen zwischen der Grund-
stimmung, einer länger anhaltenden, das
! Synonyme dafür sind »Gedankenausbreitung«,
gesamte Erleben tönende Stimmung, und den
»Gedankenlautwerdung« und »Gedankenein-
Affekten, einem zeitlich begrenzten, mehr oder
gebung«.
weniger spannungsreichen, aus Einzelgefühlen
zusammengesetzten Zustand.
Störungen der Ich-Struktur
Das Ich in seinem Zusammenhang löst sich auf. Wie
ein Puzzlespiel zerfällt es in seine einzelnen Teile. Der Eine Reihe von psychischen Erkrankungen führen
Kranke fühlt sich zerrissen, gespalten oder zersplit- zu Veränderungen in der Stimmung. Von einer Stö-
tert. Er ist nur noch »eine Wolke aus kleinen Teilen, rung spricht man, wenn es zu einer Beeinträchtigung
zerstreut in alle Winde«. Wahrnehmungen, Gefühle, des Erlebens und des damit verbundenen Denkens
Stimmung und Gedanken passen nicht mehr zusam- und Handelns kommt. Im Unterschied zu den Ge-
men. Es drohen widersprüchlichste Gefühlsregun- fühlen eines gesunden Menschen, erscheinen die des
gen und absurd erscheinende Reaktionen. Das Chaos Betroffenen oft unangemessen und nicht der Situa-
tobt nicht nur im Patienten, der Kranke »ist Chaos«. tion entsprechend.

! Die Störungen der Ich-Struktur bezeichnen Depressivität


das, was in dem Wort »schizo-phren« enthal- Gedrückte, pessimistische, hoffnungslose und nieder-
ten ist. Sie entsprechen am ehesten dem, was geschlagene Stimmungslage. Dazu kommen häufig
man allgemein unter »Spaltungs-Irresein« Antriebsminderung, Angst, Selbsttötungsneigung
versteht. und ein vermindertes Selbstwertgefühl. In seiner
stärksten Ausprägung kommt es zu einem Gefühl der
Störungen der Ich-Vitalität inneren Leere, einem Gefühl der »Gefühllosigkeit«.
Im Unterschied zum Gefühl der Fremdheit sich
selber gegenüber, geht hier das Empfinden für die Euphorie
eigene Lebendigkeit verloren. Der Kranke spürt, Unangemessene, extrem heitere Stimmung mit Sorg-
dass ihm das Leben entgleitet, dass er untergeht und losigkeit, Optimismus, subjektivem Wohlbefinden
stirbt. Oder er ist der Überzeugung, bereits tot und und übersteigertem Selbstwertgefühl.
verwest zu sein.
Dysphorie
Ein durch Angst, Depression und Unruhe geprägter
Zustand der Niedergeschlagenheit. Die Stimmung
242 Kapitel 15 · Psychopathologie

ist gereizt, freudlos und bedrückt. Die Patienten wir- Affektsperre


ken griesgrämig und motzig. Ein Fortfall von Affektäußerungen trotz starker
affektiver Spannungen. Den Betroffenen fehlt die
Apathie Möglichkeit, ihre Gefühle mitzuteilen. Die vorhan-
Beschreibt die Abwesenheit von Gefühlen, mangeln- denen Gefühle lassen sich nicht an Mimik, Gesichts-
der Aktivität und Ansprechbarkeit. Die Patienten ausdruck, Gestik ablesen. Die Menschen wirken
erscheinen vollkommen teilnahmslos. undurchsichtig.

Gereizte Stimmung Parathymie


Auf kleine und kleinste Zurücksetzungen oder Fehl- Die Gefühlsäußerungen entsprechen nicht den
schläge wird mit stärkerer Verstimmung, Freud- Gedankeninhalten oder der jeweiligen Situation. Die
losigkeit und mühsam beherrschter Wut reagiert. Patienten scheinen Mimik, Gestik und Sprache nicht
Bei bestimmten Krankheitsbildern, wie z. B. der dem eigentlichen Gefühl anpassen zu können. So
Manie, kann sich die Gereiztheit bis zu rasender Wut kann eine traurige Nachricht nach außen als Belus-
und Tobsucht steigern. tigung wirken.

Affektlabilität Gefühlsverarmung
Die Gefühle und Gefühlsäußerungen wechseln Ein Verlust von affektiver Schwingungsfähigkeit.
rasch. Auffallend sind überschießende Stimmungs- Die Patienten sprechen von einem Absterben der Ge-
wechsel in schneller Folge. Bereits bei kleinen Anläs- fühle, bis hin zu einem Gefühl der »Gefühllosigkeit«.
sen wechselt der Patient von einem Extrem ins an- Die Patienten haben das Gefühl, nichts mehr zu
dere. Man spricht auch von einer Vergrößerung der empfinden. Es herrscht ein qualvolles Gefühl von
affektiven Ablenkbarkeit. Meistens haben die Affekte innerer Leere.
nur eine kurze Dauer.
Ambivalenz
Affektinkontinenz Das gleichzeitige Bestehen zweier entgegengesetzter
Im Unterschied zur Affektlabilität reichen hier noch Gefühle. Obschon diese Gefühle nicht miteinander
geringfügigere Reize, um überschießende Affekte vereinbar erscheinen, so sind sie doch gleichwertig
hervorzurufen. Der Patient ist kaum dazu in der vorhanden. Die Ambivalenz bezieht sich auf das
Lage, seine Gefühlsäußerungen zu steuern. Bei Fühlen, Denken und Wollen. So können zwei ent-
geringsten Anlässen zur Freude oder zur Trauer ist gegengesetzte Ansichten zeitgleich geäußert werden.
mit einem extremen Maß an Gefühlsäußerung Es kann für dieselbe Person zu gleicher Zeit Hass
zu rechnen. Es entstehen sehr schnell intensive und Liebe empfunden werden.
emotionale Reaktionen, die eine übermäßige Stärke
15 haben und nicht beherrscht werden können. Die Praxisbox
emotionalen Äußerungen klingen meist rasch wie- Vorkommen: Affektstörungen erscheinen bei
der ab. affektiven und schizophrenen Psychosen, orga-
nischen Hirnerkrankungen, Persönlichkeits- und
Affektverflachung Verhaltensstörungen, neurotischen Störungen,
Es besteht eine mangelnde Ansprechbarkeit der Ge- Belastungs- und Anpassungsstörungen, Such-
fühle. Der Betroffene verliert die Fähigkeit der Em- terkrankungen und beim Gebrauch psycho-
pathie. Es kommt zu einer Verringerung der emo- troper Substanzen.
tionalen Schwingungsfähigkeit. Gefühlsäußerungen
lassen sich nur schwer auslösen. Im Extremfall wirken
Betroffene nach außen teilnahmslos und gefühlsleer.
Bei bestimmten Krankheitsbildern, wie z. B. der hebe-
phrenen Verlausform der Schizophrenie, kommt es
zu einer läppischen Färbung der Verflachung.
Literatur
243 15
Überprüfen Sie Ihr Wissen!
4 Benennen Sie die Grade quantitativer Bewusst-
seinsstörungen! 7 Kap. 15.1.1
4 Was sind die wichtigsten Orientierungsstörun-
gen? 7 Kap. 15.2
4 Definieren Sie die Begriffe Aufmerksamkeit und
Konzentration! 7 Kap. 15.3
4 Was unterscheidet quantitative von qualitativen
Gedächtnisstörungen? 7 Kap. 15.4
4 Nennen Sie die wichtigsten Arten formaler Denk-
störungen! 7 Kap. 15.5.1
4 Was versteht man unter einem Wahn? 7 Kap.
15.5.2
4 Wie unterscheidet sich eine Phobie von einer ge-
neralisierten Angststörung? 7 Kap. 15.6.1
4 Was sind Ich-Störungen? 7 Kap. 15.7
4 Nennen Sie die wichtigsten Affektstörungen!
7 Kap. 15.8

Literatur
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Nervenheilkunde (DGPPN) (Zugriff: 20.5.2005) Affektive
Erkrankungen, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft-
lichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), Düssel-
dorf, http://www.awmf-online.de/
Haupt F, Jochheim KA, Remschmidt H (2002) Neurologie und
Psychiatrie für Pflegeberufe. Thieme, Stuttgart
Faust V (Zugriff: 17.5.2005) Psychosoziale Gesundheit. Von Angst
bis Zwang. Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Gesund-
heit. Prof. Dr. med. Volker Faust, Zentrum für Psychiatrie –
Die Weissenau, Ravensburg, http://www.psychosoziale-ge-
sundheit.net
Fröhlich WD (2000) Wörterbuch Psychologie. Deutscher Taschen-
buchverlag, München
Saß H et al (2003) DSM-IV-TR. Hofgrefe, Göttingen
Stangl W (2005) Das Denken. http://www.arbeitsblaetter.
stangl-taller.at/
16

16 Einteilungsmodelle psychischer
Störungen
Ruth Ahrens (Kap. 16.3), Meik Friedrich (Kap. 16.2),
Claudia Heinz (Kap. 16.1), Christoph Vauth (Kap. 16.2)

16.1 ICD 10 und DSM IV – 246

16.2 DRGs in der Psychiatrie – 247


16.2.1 Funktion und Entwicklung der DRGs – 247

16.3 Pflegediagnosen in der Psychiatrie – ein Ausblick – 249


16.3.1 Definitionen – 249
16.3.2 Grundsätzliches – 250
16.3.3 Kritische Auseinandersetzung – 250

Literatur – 251
246 Kapitel 16 · Einteilungsmodelle psychischer Störungen

) ) In Kürze 7 Einblick in die Verwendung von Pflegediag-


nosen im Pflegeprozess
In der psychiatrischen Diagnostik werden spezifi- 7 allgemeine Kenntnisse über Grundlagen von
sche Klassifikationssysteme genutzt. Die Aufgabe Pflegediagnosen
dieser Systeme ist die Einteilung psychischer Stö- 7 Wissen über Vorteile der Arbeit mit Pflegediag-
rungsbilder. Die zurzeit bedeutendsten Klassifika- nosen sowie über die Punkte, die auch kritisch
tionssysteme sind die ICD und das DSM. zu reflektieren sind
Fallpauschalen finden in vielen Bereichen un-
seres Gesundheitssystems ihre Anwendung. Zur
Vergütung stationärer psychiatrischer Leistung im 16.1 ICD 10 und DSM IV
Krankenhaus ist es erforderlich, die Patienten sowie
die Erkrankungen genau zu bezeichnen. Mit Hilfe Die ICD ist die Internationale Klassifikation der
der ICD sowie weiterer Parameter werden die er- Krankheiten (International Classification of Di-
brachten Leistungen in Form der Diagnosis Related seases) und wird von der Weltgesundheitsorgani-
Groups (DRGs) vergütet. Dies erfordert weitere Be- sation (WHO) herausgegeben. Das DSM ist das
mühungen in Richtung Qualitätssicherung und Diagnostische und statistische Manual psychischer
vollständiger Dokumentation. Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of
Pflegediagnosen sind eine strukturierte Mög- Mental Disorders) und ist 1980 erstmals erschienen.
lichkeit, Pflegeprobleme zu benennen. In den Verfasser ist die amerikanische psychiatrische Ver-
USA, in Europa in der Schweiz und in Österreich einigung.
wird bereits seit einigen Jahren mit Pflegediag- In der Psychiatrie und Psychotherapie werden
nosen gearbeitet. Aufbauend auf der Arbeit von psychische Störungen durch psychopathologische
Marjory Gordon wurde 1973 in den USA die Symptome, zeitliche Charakteristika und den Ver-
Nordamerikanische Pflegediagnosenvereinigung lauf beschrieben. Bei den Symptomen handelt es sich
NANDA (North American Nursing Diagnosis Asso- um Störungen im Bereich des Bewusstseins, Emp-
ciation) gegründet. Pflegediagnosen stellen im findens und Wahrnehmens, des Gedächtnisses, des
Wesentlichen den zweiten Schritt im Pflegepro- Denkens, der Intelligenz und des Fühlens und Wol-
zess dar: die Benennung der Pflegeprobleme. Es lens. Die Klassifikationssysteme geben diagnosti-
wurden systematische Kategorien geschaffen, in- sche Kriterien (Ein- und Ausschlusskriterien) vor.
nerhalb deren Pflegediagnosen gestellt werden Für eine spezifische Diagnose sind eine bestimmte
(menschliche Reaktionsmuster), auch Taxonomie Anzahl von Symptomen und eine typische zeitliche
genannt. Durch die vereinheitlichten Benennun- Dimension erforderlich. Eine Zwangsstörung muss
gen der Pflegediagnosentitel wurde eine Sprache wenigstens 2 Wochen lang bestehen und es müssen
für Pflegeprobleme entwickelt, die dazu dienen an den meisten Tagen Zwangsgedanken und/oder
kann, Pflegephänomene klarer zu fassen und Zwangshandlungen nachweisbar sein.
die darüber hinaus auch in der elektronischen Sowohl in der ICD 10 als auch im DSM IV wer-
16 Datenverarbeitung benutzt werden kann. Dadurch den Krankheitsbilder beschreibend erfasst, die ätio-
lässt sich Pflege einheitlicher beschreiben und logischen (ursächlichen) Bedingungen werden in
kann strukturierter unterrichtet und dokumentiert der Regel nicht berücksichtigt.
werden. Wenn mehr als eine psychische Störung vorliegt,
sprechen wir von Komorbidität. Ein Patient kann
Wissensinhalte gleichzeitig eine Alkoholabhängigkeit und eine Schi-
Nach dem Studium dieses Kapitels haben Sie: zophrenie haben.
7 Einblick in die beiden wichtigsten Klassifika- Das Klassifikationssystem der Weltgesundheits-
tionssysteme organisation, die ICD 10, liegt in der 10. Revision
7 Konzeption der Diagnosis Related Groups vor und beschreibt körperliche und psychische
7 Anwendung der DRGs bei psychischen Störungsbilder und Krankheiten. Im Kapitel V (F)
Störungen werden die psychischen Störungen klassifiziert. Im
16.2 · DRGs in der Psychiatrie
247 16

Sinne der leichteren Nutzbarkeit werden Störungen 4 Angststörungen,


entsprechend einer Hauptthematik zusammenge- 4 somatoforme Störungen,
fasst. Die ICD 10 beschreibt die wesentlichen kli- 4 vorgetäuschte Störungen,
nischen Symptome und formuliert für die einzel- 4 dissoziative Störungen,
nen Störungsbilder diagnostische Leitlinien, die 4 sexuelle und Geschlechtsidentitätsstörungen,
zur Stellung einer sicheren Diagnose erforderlich 4 Essstörungen,
sind. 4 Schlafstörungen,
Diagnostische Hauptgruppen der ICD 10: 4 Störung der Impulskontrolle, nicht anderenorts
4 F0: organische, einschließlich symptomatischer klassifiziert,
psychischer Störungen, 4 Anpassungsstörungen,
4 F1: psychische und Verhaltenstörungen durch 4 Persönlichkeitsstörungen,
psychotrope Substanzen, 4 andere klinisch relevante Probleme,
4 F2: Schizophrenie, schizotype und wahnhafte 4 zusätzliche Codierungen.
Störungen,
4 F3: affektive Störungen,
4 F4: neurotische, Belastungs- und somatoforme 16.2 DRGs in der Psychiatrie
Störungen,
4 F5: Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit 16.2.1 Funktion und Entwicklung
körperlichen Störungen und Faktoren, der DRGs
4 F6: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen,
4 F7: Intelligenzminderung, Klassifikation und Vergütung
4 F8: Entwicklungsstörungen, Diagnoseorientierte Fallpauschalensysteme finden
4 F9: Verhaltens- und emotionale Störungen mit als »Diagnosis Related Groups« (DRGs) seit dem
Beginn in der Kindheit und Jugend, Jahr 2002 ihre Verwendung in der deutschen Kran-
4 F99: nicht näher bezeichnete psychische Störun- kenhauslandschaft. Kernelemente sind die Klassi-
gen. fizierung und Vergütung von stationären Behand-
lungsfällen. DRGs gehen zurück auf eine Entwick-
Das von der American Psychiatric Association 1994 lung der ale-Universität
Y der 70er Jahre des 20.
herausgegebene Diagnostische und Statistische Ma- Jahrhunderts, als ein Instrument zur Definition von
nual psychischer Störungen (DSM IV) ist die 4. Ver- klinischen Produkten und zur Auswertung von de-
sion eines der bekanntesten Klassifikationssysteme ren Inanspruchnahme gesucht und entwickelt wur-
für psychische Störungen weltweit. Genau wie in der de. Daneben sollte das neue Instrument mehr Trans-
ICD 10 werden die psychischen Störungsbilder in parenz in die Qualitätssicherung bringen, auf alle
Hauptgruppen eingeteilt. Krankenhausfälle anwendbar sein, auf Standard-
Diagnostische Hauptgruppen im DSM IV: daten basieren, eine überschaubare Gesamtzahl an
4 Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkind- Gruppen produzieren und medizinisch sinnvoll so-
alter, in der Kindheit oder Adoleszenz diagnos- wie ökonomisch homogen im Ressourcenverbrauch
tiziert werden, sein.
4 Delir, Demenz, amnestische und andere kogni-
! Fallpauschalensysteme, wie die Diagnosis
tive Störungen,
Related Groups (DRG), orientieren sich an der
4 psychische Störungen aufgrund eines medizini-
Hauptdiagnose eines Patienten und dienen
schen Krankheitsfaktors, nicht anderenorts klas-
der Klassifikation und Vergütung von Behand-
sifiziert,
lungsfällen.
4 Störungen im Zusammenhang mit psychotro-
pen Substanzen, Heute definieren sich DRG-Systeme als ärztlich-öko-
4 Schizophrenie und andere psychotische Störun- nomische Patientenklassifikationssysteme, welche
gen, die Behandlungsfälle in Krankenhäusern in einer
4 affektive Störungen, beschränkten Anzahl klinisch definierter und kos-
248 Kapitel 16 · Einteilungsmodelle psychischer Störungen

tenhomogener Gruppen abbilden. Jeder Fall wird aufweisen. In Deutschland geht der Trend hin zu
genau einer Gruppe, der sog. DRG, zugeordnet. Die einer ausreichenden Differenzierung der DRGs, was
Zuordnung richtet sich primär nach der Hauptdiag- bedeutet, dass deutlich über 800 einzelne Fallgrup-
nose, die zu einer Major Diagnostic Category (MDC) pen unterschieden werden.
führt. In der Grundform existieren 23 MDCs, die Der Erlös bzw. die Vergütung für die stationäre
sich im weitesten Sinne an der behandelten Körper- Krankenhausbehandlung eines Patienten richtet
region bzw. Behandlungsart orientieren. Als Haupt- sich primär nach der Höhe des Relativgewichtes,
diagnose wird die Diagnose bezeichnet, die sich des ökonomischen Schweregrades des Falles.
bei Entlassung des Patienten als wichtigster Grund
! Erlös = Basisfallwert in € x Relativgewicht der
für die stationäre Behandlung des Patienten erwie-
DRG
sen hat.
Die Zuordnung eines Behandlungsfalls in die je- Mit diesem Erlös werden sämtliche Kosten aus
weilige Fallgruppe orientiert sich im Wesentlichen der Behandlung, Unterkunft und Pflege des Patien-
an der vom Arzt als entscheidend für den Kranken- ten pauschal abgegolten. Somit besteht für das Kran-
hausaufenthalt ausgewählten Hauptdiagnose. Der kenhaus der Anreiz, innerhalb kürzester Zeit den
Patient wird zunächst der zugehörigen Hauptdiag- Patienten gesund bzw. stabil zu entlassen. Im Falle
nosegruppe zugeordnet. Innerhalb der Major Diag- einer notwendigen Rückeinweisung des Patienten
nostic Categories wird dann zwischen chirurgischen aufgrund zu frühen Entlassens muss das Kranken-
und medizinischen Eingriffen unterschieden. Bei haus die Behandlung in der Regel kostenfrei weiter-
chirurgischen Eingriffen wird der Behandlungsfall führen. Um nochmalige Einweisungen zu verhin-
durch eine geeignete Systematik (z. B. OPS-Kennzif- dern, sind die internen Prozesse so zu optimieren,
fern) sowie durch die Unterscheidung nach Kompli- dass im Rahmen eines Qualitätsmanagements der
kationen und Komorbiditäten in die zugehörige Patient die optimale Versorgung mit dem Ziel der
DRG geschlüsselt. Bei rein medizinischen Behand- zügigen Gesundung erfährt. Kosten und gleichzeitig
lungen wird die DRG ebenfalls anhand einer eigenen die Qualität der Leistungserbringung werden in Zu-
Systematik (z. B. ICD-Kennziffern) sowie mögli- kunft noch stärker Hand in Hand gehen.
chen Komplikationen und Komorbiditäten ausge-
wählt. Komplikationen und Komorbiditäten defi- Psychische Störungen im DRG-System
nieren den Schweregrad. Die Behandlung psychischer Störungen zeichnet
Die Grundkonzeption eines DRG-Systems sieht sich oft durch eine große Anzahl, teils prospektiv
vor, dass die Einteilung innerhalb der einzelnen nicht erkennbarer Faktoren aus, sodass chronische
DRG-Fallgruppen sowohl medizinisch als auch öko- Verläufe mit langen Verweildauern entstehen kön-
nomisch ausgewogen sein soll. kÖonomisch homo- nen. Aus diesem Grund werden in Deutschland
gen sind die Fallgruppen genau dann, wenn nur lediglich akute Fälle in somatischen Einrichtungen,
Patienten mit gleichem oder zumindest sehr ähn- die dem Krankenhausfinanzierungsgesetz unter-
lichem Behandlungsaufwand in einer Gruppe zu- worfen sind, im Rahmen der DRGs abgegolten. Im
16 sammengefasst werden. Die medizinische Homoge- Jahr 2005 bestehen sieben einzelne Fallgruppen
nität liegt dann vor, wenn nur Patienten in einer (u. a. geriatrische frührehabilitative Komplexbe-
Gruppe zusammengefasst werden, die im Kranken- handlung, multimodale Schmerztherapie, Schizo-
haus ein unter medizinischen Gesichtspunkten phrenie, wahnhafte und akut psychotische Störun-
ähnliches Leistungsgeschehen auslösen. Aus öko- gen sowie schwere affektive Störungen). Die Unter-
nomischer Sicht könnten somit wenige Fallgruppen schiedlichkeit der Krankheitsverläufe führt jedoch
ausreichend sein, während aus medizinischer Sicht generell zu Problemen bei der Bildung homogener
eine hinreichend große Differenzierung erforder- Gruppen und macht eine sinnvolle Klassifizierung
lich wäre. Daneben ist auch auf die Begrenzung der sehr schwierig.
Fallgruppen zu achten, damit die einzelnen Fall- Neben der bereits skizzierten medizinisch sinn-
gruppen deutliche Unterschiede hinsichtlich des Be- vollen Gruppierung auf Basis der Hauptdiagnose
handlungsablaufes sowie der verursachten Kosten ergeben sich weitere Einflussfaktoren aus Neben-
16.3 · Pflegediagnosen in der Psychiatrie – ein Ausblick
249 16

diagnosen, Prozeduren und anderen Patienten- ches Modell mit gesonderter Finanzierung beim
daten. Die statistischen Parameter Varianz und Va- Überschreiten von Grenzverweildauern könnte auch
riationskoeffizient werden üblicherweise zur Ein- in Deutschland die Versorgung, insbesondere chro-
schätzung herangezogen. Bis jetzt können nur nisch erkrankter Patienten, verbessern. Darüber hi-
wenig statistisch signifikante Beziehungen zwischen naus gilt es, Therapien in einem solchen System im
psychiatrischen DRGs auf der einen Seite und Ver- Sinne von Prozeduren einzubinden. Allem voran
weildauern, Ressourcenverbrauch bzw. Kosten auf muss jedoch eine sorgfältige Erhebung der Kosten
der anderen Seite ermittelt werden. Der Erklärungs- stehen, um die Relativgewichte und Verweildauern
gehalt bisheriger Modelle, die auch den chronischen zu ermitteln.
Bereich einbeziehen, ist als gering einzuschätzen.
Eine Ausweitung der einzuziehenden Variablen Qualitätssicherung
würde den erklärten Anteil der Varianz und des Soweit die DRGs bereits ihre Anwendung im Kran-
Variationskoeffizienten erhöhen. Eine solche Aus- kenhaus finden, ist dem Bereich der Qualitätssiche-
weitung der Einflussfaktoren würde jedoch zeitnah rung und der Dokumentation eine besondere Be-
und ökonomisch nicht zu erfassen sein. Die Einbe- deutung beizumessen. Eine im Rahmen von Clinical
ziehung der Art des Krankenhauses erscheint jedoch Pathways im Vorhinein definierte Behandlungsstra-
als eine geeignete zusätzliche Variable, da das defi- tegie hilft, festgelegte medizinische Zielgrößen ohne
nierte Therapieziel mit der Wahl der Krankenhaus- Ressourcenverschwendung zu erreichen. Im Rah-
art in Zusammenhang steht. Die im Vergleich zu men der Pflegedokumentation sind sämtliche Be-
medizinischen und chirurgischen DRGs geringere handlungsschritte, Medikationen und Prozeduren
Verbindung zwischen Krankheit und Kosten wird zu dokumentieren und den jeweiligen Gesundheits-
durch die geringere Standardisierung der Therapie- zustand des Patienten zu verzeichnen. Nur so ist es
verfahren und die fehlende Möglichkeit, diese Ver- möglich, effektiv und auch effizient den Patienten
fahren differenziert als Prozeduren abzubilden, ver- durch den Behandlungsalltag im Krankenhaus zu
ursacht. Die angesprochene Definition der Thera- führen und die kostendeckende Vergütung zu er-
pieziele beeinflusst den Ressourcenverbrauch, denn zielen.
es macht einen Unterschied, eine kurzzeitige Krisen-
intervention zu betreiben oder langfristige Thera-
pieziele zu verfolgen. Eine Vereinheitlichung der 16.3 Pflegediagnosen in der
Therapiestrategien würde die Klassifizierung verein- Psychiatrie – ein Ausblick
fachen.
16.3.1 Definitionen
Ungarn und Österreich als Beispiel
Definition
Grundsätzlich könnte der Ressourcenverbrauch
ausreichend abgebildet werden, wenn ein DRG-Sys- Die ANA (American Nurses Association) definier-
tem den Bedürfnissen entsprechend modifiziert te 1980 Pflege wie folgt: »Pflege ist die Diagnose
wird. Die Beispiele in Ungarn und sÖterreich ver- und Behandlung menschlicher Reaktionen
deutlichen dies. In beiden Ländern wurden schon auf vorhandene oder potenzielle Gesundheits-
vor Jahren pauschalierte Vergütungssysteme einge- probleme« (zit. nach Doenges, Moorhouse u.
setzt, die mit einer an der Verweildauer orientierten Geissler-Murr, 2002, S. 13).
Mischfinanzierung durchaus Erfolg versprechend
sind. Ein DRG-basiertes System würde die Psychia-
trie in Deutschland stärker mit der Akutmedizin Damit wird darauf aufmerksam gemacht, dass Pfle-
verbinden und der Gefahr entgegenwirken, dass die gephänomene, denen sich die Pflegenden widmen,
Psychiatrie in die Ecke der chronischen Medizin ge- von ihnen selbst beschrieben, benannt und behan-
drängt wird. Die oben angesprochenen Modelle ver- delt werden.
binden DRGs im Akutbereich mit tagesgleichen Für den Begriff der Pflegediagnose wurde die
Pflegesätzen für den chronischen Bereich. Ein sol- folgende Arbeitsdefinition gegeben:
250 Kapitel 16 · Einteilungsmodelle psychischer Störungen

Definition sen sehr ausführlich und fügt die ihr sinnvoll er-
scheinenden Pflegemaßnahmen bei. Insgesamt ist
»Eine Pflegediagnose ist eine klinische Beurtei-
hier zu sehen, dass Pflegediagnosen eine sprachlich-
lung über die Reaktionen eines Individuums,
formale Frage der Pflege zu erfassen versuchen, es
einer Familie oder einer Gemeinschaft auf aktu-
geht um die Entwicklung eines Instrumentes, dass
elle oder potenzielle Gesundheitsprobleme/
Pflege sprachlich verbessert mitgeteilt werden kann.
Lebensprozesse. Pflegediagnosen bilden die
Grundlage zur Auswahl von Pflegeinterventio- ! Dieses Instrument bringt nicht automatisch
nen zur Erreichung von Ergebnissen, für die eine inhaltliche Verbesserung der Pflege mit
Pflegende verantwortlich sind« (Doenges, sich.
Moorhouse u. Geissler-Murr, 2002, S. 21).
Pflegediagnosen sind nicht sehr stark an medizini-
schen Kategorien orientiert. Sie erfassen vielmehr
Im Gegensatz dazu stellt die medizinische Diagnose stark subjektive Merkmale des Erlebens von Patien-
die Erkennung und Benennung der Krankheit oder ten und beschreiben die Probleme, die Patienten zu
Störung dar, für deren Behandlung der Arzt die Ver- uns führen. Dies kann die Pflegeplanung dahinge-
antwortung hat. Pflegediagnosen beschreiben somit hend verbessern, dass die Probleme, die ein Patient
die Stellung der Pflege im interdisziplinären Kontext. hat, systematisch erfasst werden. Darum wird eine
Pflegediagnose im PES-Format gestellt (Problem –
Einflussfaktoren – Symptome und Kennzeichen).
16.3.2 Grundsätzliches
! Vorteile bei der Arbeit mit Pflegediagnosen
sind, dass es leicht erlernbar ist, mit ihnen zu
Im Zuge der anhaltenden Professionalisierung ist es
arbeiten. Sie strukturieren das eigene Pflege-
sinnvoll, Pflegephänomene nicht wie früher üblich
denken durch das vorgegebene Gerüst, lassen
als »Pflege bei bestimmten Krankheitsbildern« zu be-
andererseits auch die freie Formulierung von
schreiben. Darüber würden sich eine Reihe von Pfle-
Pflegeproblemen noch zu. Sie geben sowohl
geleistungen, wie z. B. Beratungstätigkeiten zur Ge-
für den innerprofessionellen wie den interdis-
sundheitsvorsorge, nicht abbilden lassen. Pflegediag-
ziplinären Dialog eine einheitliche Sprache
nosen als Gesamtheit beschreiben das Fachgebiet der
vor, und machen es dadurch möglich, einheit-
Pflege, dies ist nicht nur für die Forschung nach effek-
lich zu planen und zu dokumentieren, sowie
tiven Pflegemaßnahmen wichtig, sondern auch für
mittels EDV erfasst zu werden. Die Evaluation
die Berufsentwicklung insgesamt. Weltweit am meis-
von Pflegeergebnissen wird vereinfacht.
ten verbreitet sind die NANDA-Pflegediagnosen.
Anders als die ATL-Modelle sind die Pflegediagnosen
der NANDA in menschliche (Verhaltens-)Reaktio-
nen oder Verhaltensmuster eingeteilt. Dies sind: 16.3.3 Kritische Auseinandersetzung
1. Austauschen,
16 2. Kommunizieren, Die Arbeit mit Pflegediagnosen birgt einige Aspekte,
3. In-Beziehung-treten, über die Klarheit herrschen muss. Weil sie detailliert
4. Wertschätzen, und strukturiert sind, können sie einerseits die psy-
5. Wählen, chosozialen Probleme besser benennen, andererseits
6. Sich bewegen, bergen sie auch die Gefahr, Patienten mit Etiketten
7. Wahrnehmen, zu versehen (z. B. »unwirksames Coping«, »defensi-
8. Wissen, ves Coping« oder »unwirksames Rollenverhalten«).
9. Fühlen. Diese Gefahr besteht grundsätzlich auch bei der
freien Formulierung von Pflegeproblemen, fällt je-
Die Verhaltensmuster sind auch in der Psychiatrie- doch bei den Pflegediagnosen stärker ins Gewicht.
pflege grundsätzlich verwendbar. Townsend bei- Die NANDA-Pflegediagnosen wurden nicht für
spielsweise (1998) bearbeitet die NANDA-Diagno- den deutschsprachigen Raum entwickelt, sie müssen
Literatur
251 16

daher stets übersetzt und an deutschsprachige Gege- psychiatrischen Pflege durchsetzen wird, ist noch
benheiten angepasst werden. Es wurde bisher nicht offen.
beschrieben, inwieweit sie DRG-kompatibel sind,
bzw. bei den pflegerelevanten (medizinischen) Ne- Überprüfen Sie Ihr Wissen!
bendiagnosen Verwendung finden können. 4 Auf welche Daten ist bezüglich der Fallpauscha-
Pflegediagnosen sind durch die Orientierung an lenvergütung in der Patientendokumentation
Verhaltensmustern geeignet, innerhalb eines pflege- besonders zu achten? 7 Kap. 16.2
theoretischen Denkens, welches sich an Interakti- 4 Vor welchem zentralen Problem stehen Kran-
onstheorien orientiert, eingesetzt zu werden. Doch kenhäuser, die nach dem DRG-System abrech-
wird diese Verortung ebenso wie die Ansiedlung in- nen, bei der Behandlung von Patienten mit
nerhalb von Bedürfnismodellen ein Konstrukt sein, chronischen Erkrankungen? 7 Kap. 16.2
weil die grundsätzlichen Auffassungen darüber, was 4 Wie kann Pflegediagnose definiert werden?
Menschsein, Krankheit, Gesundheit und Pflege aus- 7 Kap. 16.3.1
machen, differieren. So sind auch die Pflegediagno- 4 Was sind die Vorteile bei der Arbeit mit Pflege-
sen weitgehend defizitorientiert, also zur Beschrei- diagnosen? 7 Kap. 16.3.2
bung von Ressourcen weitgehend ungeeignet. Ob- 4 Welche Gefahren bestehen bei der Verwendung
wohl die Diagnosen mit großem Aufwand und Mühe von Pflegediagnosen? 7 Kap. 16.3.3
entwickelt werden, sind sie bisher nur wenig evalu-
iert und wissenschaftlich abgesichert. Es werden Literatur
auch weiterhin neue Pflegediagnosen in die Liste Casas M, Wiley M (1993) Diagnosis Related Groups in Europe,
aufgenommen, der Prozess ist nicht abgeschlossen. Springer, Berlin Heidelberg New York
Doenges M, Moorhouse M, Geissler-Murr A (2002) Pflegediag-
ICNP und ICF nosen und Maßnahmen. Hans Huber, Bern
Fischer W (2002) Diagnosis related groups (DRGs) und Pflege:
Es sind darüber hinaus weitere Taxonomiesysteme
Grundlagen, Codierungssysteme, Integrationsmöglichkei-
entwickelt worden, wie die ICNP (International ten. Hans Huber, Bern.
Classification for Nursing Practice = Internationale Gordon M (2001) Handbuch Pflegediagnosen. Urban & Fischer,
Klassifikation für die Pflegepraxis), die vom ICN München
(International Council of Nurses = Weltpflegever- Gordon M, Bartholomeyczik S (2001) Pflegediagnosen. Urban &
Fischer, München
band) u. a. mit dem Ziel entwickelt wurden, die Ge-
International Council of Nurses (1999) ICNP® Internationale
sundheitspolitik damit voranzubringen. Diese sind Klassifikation für die Pflegepraxis. Hans Huber, Bern
unterteilt in eine Pflegeinterventionsklassifikation Kim M, McFarland M, McLane A (1999) Pflegediagnosen und
(NIC = Nursing Interventions Classification) und Pflegeinterventionen. Ullstein Medical, Wiesbaden
die Pflegeergebnisklassifikation (NOC = Nursing Neubauer G, Nowy R (2000) Wege zur Einführung eines leis-
Outcome Classification). tungsorientierten und pauschalierenden Vergütungssys-
tems für operative und konservative Krankenhausleistun-
Von der Weltgesundheitsbehörde WHO wurden gen in Deutschland, Gutachten im Auftrag der Deutschen
die ICF entwickelt (International Classification of Krankenhausgesellschaft, München
Functioning, Disability and Health), mit dem Ziel Robbers C (2000) Übertragbarkeit internationaler Bewertungs-
eine einheitliche Beschreibung von Gesundheit und relationen zur Vergütung von Krankenhausleistungen. Eul,
Gesundheitszuständen für alle an der Gesundheits- Lohmar
Paulitsch K (2004) Praxis der ICD-10-Diagnostik. facultas, Wien
versorgung beteiligten Berufsgruppen sowie die be-
Saß H, Wittchen HU, Zaudig M (1998) Diagnostisches und statis-
troffenen Menschen selbst zu schaffen. Sie erfassen tisches Manual psychischer Störungen. Hogrefe, Göttingen
Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Stefan H, Allmer F, Eberl J (2003) Praxis der Pflegediagnosen.
Teilhabe sowie Umweltfaktoren. Springer, Wien
Diese weiteren Taxonomiesysteme schaffen Viel- Townsend M (1998) Psychiatrische Pflegediagnosen und Maß-
nahmen. Hans Huber, Bern
falt und Komplexität beim Benennen von Gesund-
Weltgesundheitsorganisation (1993) Internationale Klassifika-
heitsproblemen, sie basieren auf unterschiedlichen tion psychischer Störungen. Hans Huber, Bern
Verständnisebenen von dem, was Gesundheit und World Health Organisation (2001) International classification of
Krankheit ist. Welches System sich innerhalb der functioning, disability and health: ICF. WHO, Genf
V

Spezielle psychiatrische
Krankheitslehre: Pflege,
Behandlung, Prävention
17 Pflege bei organisch-psychischen
Störungen – 255
Christa Lehmann, Sibylle Linke

18 Pflege bei Schizophrenie und wahnhaften


Störungen – 263
Katrin Nehring

19 Pflege bei neurotischen, Belastungs-


und somatoformen Störungen – 271
Katrin Hartung, Kerstin Müller

20 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen – 281


Winfried Böhner, Martin Meyer

21 Affektive Störungen – 289


Winfried Böhner, Martin Meyer

22 Pflege bei posttraumatischen Störungen – 297


Ruth Ahrens

23 Pflege bei Abhängigkeitserkrankungen – 309


Rosemarie Heger

24 Gerontopsychiatrie – 321
R. Hellweg, Esther I. Strittmatter

25 Kinder- und Jugendpsychiatrie – 337


Günter Koch, Christoph Kussmaul, Wolf-Rüdiger Naussed

26 Forensische Psychiatrie – 355


Michael Hülsen
17

17 Pflege bei organisch-psychischen


Störungen
Christa Lehmann, Sibylle Linke

17.1 Demenzielle Erkrankungen – 256


17.1.1 Einteilung, Formen und Schweregrade – 256
17.1.2 Betreuung von Menschen mit demenziellen Erkrankung – 257
17.1.3 Betreuung, Beschäftigung und Tagesstrukturierung – 260

17.2 Delir (Delirium) – 260


17.2.1 Arten des Delirs – 260
17.2.2 Symptome des Delirs – 261
17.2.3 Pflegerische Interventionen beim Delir – 261

Literatur – 262
256 Kapitel 17 · Pflege bei organisch-psychischen Störungen

) ) In Kürze 7 pflegerische Interventionen der dreigleisigen


Therapie beim Delir
Desorientierte bzw. demente Menschen sind äu-
ßertst kreativ auf der Suche nach ihrer verlorenen
Identität, ihrem Selbstwert und ihrer Würde. Diese 17.1 Demenzielle Erkrankungen
Suche geschieht nicht im Hier und Heute. Gerade
das Hier und Heute verwehrt ihnen das »Verstan- Der Begriff Demenz leitet sich von dem lateinischen
denwerden«. Diese alten, desorientierten Men- Wort »dementia« ab und bedeutet »Unsinn, Wahn-
schen kehren in ihre Vergangenheit zurück, um sinn«. In der Hirnrinde sterben Hirnzellen ab, was
sich nicht einsam, bevormundet, dirigiert oder eine Minderung der Hirnleistungsfähigkeit zur Fol-
gefangen zu fühlen. Die Gegenwart wird sinnlos ge hat. Der Begriff Demenz beschreibt einen lang-
und oft als unerträglich empfunden. Wenn sich die sam fortschreitenden Verlust geistiger Fähigkeiten,
»Orientierten« nicht bemühen in die Erlebniswelt der weit über den normalen altersbedingten Abbau
der »Nicht-Orientierten« einzusteigen, wird ihnen der Hirnleistungsfähigkeit hinaus geht und somit
eine erstaunliche Welt verschlossen bleiben. Um Krankheitswert erlangt. Die Krankheit hat gewöhn-
Stresssituationen auf beiden Seiten zu vermeiden, lich einen schleichenden Beginn und verläuft chro-
muss eine gemeinsame Kommunikationsebene nisch, progressiv und irreversibel.
gefunden werden. Das gegenseitige Nicht-verste- Beeinträchtigt sind vor allem die Gedächtnis-
hen kann schreckliche Konsequenzen haben: Ag- leistung und die Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lö-
gression und Gewalt. Den dementen und auch sen. Auch Wahrnehmungsstörungen, Denkstörun-
deliranten Menschen scheint die personale, häusli- gen, Desorientiertheit und Persönlichkeitsstörun-
che und soziale Kompetenz verloren gegangen gen kommen hinzu.
zu sein. Die drei menschlichen Grundbedürfnisse nach
Neben dem Finden des geeigneten Zugangs- Abraham Maslows Bedürfnispyramide sollen be-
weges und speziellen pflegerischen Maßnahmen sonders an dieser Stelle – der »Auflistung« der »De-
geht es in diesem Kapitel hauptsächlich darum, fizite« von an Demenz Erkrankten erwähnt werden.
dem desorientierten Menschen das Gefühl von Diese Bedürfnisse hat jeder Mensch – unabhängig
Akzeptanz und Sicherheit zu vermitteln und somit von Diagnosen!:
seine Identität und Würde zu bewahren. 4 lieben und geliebt werden,
Die Symptomatiken der Demenz und des Delirs 4 nützlich und produktiv sein,
sind ähnlich. Aufgrund dessen wurden die pflegeri- 4 Gefühle ausdrücken, angehört und verstanden
schen Interventionen nur einmal ausführlich be- werden.
handelt.
Bezüglich Ätiologie, Pharmakotherapie und
weiteren Behandlungsmöglichkeiten bei Demenz 17.1.1 Einteilung, Formen
und Delir wird auf das Kapitel Gerontopsychiatrie und Schweregrade
verwiesen.
Es werden verschiedene Typen von Demenzen un-
Wissensinhalte terschieden, die sich ihrer Ursache entsprechend in
17 Nach der Lektüre dieses Kapitels kennen Sie: »primäre« und »sekundäre« Demenzen einteilen
7 Formen, Symptome und Schweregrade von lassen:
demenziellen Erkrankungen 4 Primäre Demenzen entstehen als eigenständige
7 Grundsätzliches im Umgang mit an Demenz Krankheit des Gehirns.
Erkrankten 4 Sekundäre Demenzen sind Folgeerscheinungen
7 drei spezielle bedeutsame Betreuungskonzepte anderer Erkrankungen, wie z. B. Vitaminman-
der Demenz (Validation, Biographiearbeit und gelzustände, Alkoholmissbrauch, Herz-Kreis-
Milieugestaltung) lauferkrankungen oder Gehirnerkrankungen.
7 Arten und Symptome des Delirs
17.1 · Demenzielle Erkrankungen
257 17

Die Alzheimer-Demenz ist mit ca. 60 % die häufigs- 17.1.2 Betreuung von Menschen mit
te Ursache aller Demenzen, danach folgt die vasku- demenziellen Erkrankungen
läre (gefäßbedingte) Demenz mit ca. 20 % und dann
mit ebenfalls 20 % die Mischformen der vaskulären Die Demenz bezieht sich auf ein vielschichtiges
Demenz und der Alzheimer-Demenz. Muster von Symptomen, das auf eine Schädigung
Es wird bei der Demenzerkrankung nach dem und Zerstörung von Nervenzellen zurückzuführen
Ausmaß der Hirnleistungsstörung zwischen der ist. Die Demenz begleitende Störungen und Symp-
leichten, mittelschweren und der schweren Demenz- tome sind:
erkrankung unterschieden. 4 Depression,
4 Wahnvorstellungen,
Leichte Demenz 4 Angst,
Der Betroffene kann die demenzielle Erkrankung 4 Schlafstörungen,
weitgehend kompensieren. Er lebt selbstständig 4 Bewegungsstörungen,
und sein Urteilsvermögen ist intakt. Merkmale 4 Inkontinenz,
sind: 4 Obstipation,
4 verringerte Konzentration, 4 auffälliges Sexualverhalten,
4 beginnende Merk- und Gedächtnisschwäche, 4 Schmerzen,
4 eingeschränkte Leistung bei der Bewältigung 4 epileptische Anfälle,
komplexer Aufgaben, 4 Sehstörungen,
4 gestörte Befindlichkeit, 4 Schwerhörigkeit,
4 Reaktion auf Leistungseinbuße (ängstlich, unsi- 4 Sprachstörungen,
cher, depressiv, aggressiv). 4 Essstörungen.
! Grundsätze im Umgang mit an Demenz
Mittelschwere Demenz
erkrankten Menschen:
Der Betroffene kann die Aktivitäten des täglichen
4 Der Mensch wird angenommen und
Lebens nicht selbstständig und sorgfältig ausführen,
erfährt Wertschätzung!
d. h. eine eigenständige Lebensführung ist nur ein-
4 Die Persönlichkeit des Erkrankten wird
geschränkt möglich. Merkmale sind:
geachtet!
4 gestörtes Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis,
4 Äußerungen des Betroffenen werden
4 abnehmende Sprachfunktion,
nicht angezweifelt oder berichtigt!
4 gestörtes Lesen, Schreiben und Rechnen,
4 Reaktionen werden nicht belächelt!
4 eingeschränkte Leistung bei der Bewältigung
4 Dem Erkrankten wird bei allen anleiten-
des Alltags.
den Tätigkeiten Zeit geben!
4 Der Erkrankte wird ermutigt, gelobt
Schwere Demenz
und es werden ihm Erfolgserlebnisse
Eine kontinuierliche Aufsicht ist unerlässlich, um
verschafft!
beispielsweise die persönliche Hygiene aufrecht zu
erhalten. Der demenzkranke Mensch ist nicht mehr Interventionen sind:
in der Lage für sich selbst zu sorgen. Die Kommuni- 4 Gründe für Zunahme der Verwirrtheit heraus-
kation ist sehr oder auch ganz eingeschränkt, d. h. finden (mögliche Gründe: Flüssigkeitsmangel,
eine sprachliche Kommunikation ist kaum noch Obstipation, Fehlen von vertrauten Gegenstän-
möglich. Seine zeitliche und örtliche Orientierung den oder Bezugspersonen, Überforderung, Hek-
ist stark eingeschränkt. Es kommt in vielen Fällen tik, Schmerz, Angst usw.),
zur Inkontinenz. 4 nonverbale Kommunikation aufbauen, durch
Blickkontakt, liebevolle Berührung, sanfte Stim-
me,
4 Überforderung (z. B. lange Gespräche, große
Veranstaltungen) vermeiden,
258 Kapitel 17 · Pflege bei organisch-psychischen Störungen

4 Orientierungshilfen geben, z. B. durch Erken- Diese Informationen haben eine hohe Bedeutung
nungssymbole, wiederkehrende Abläufe, ver- für das Finden der »passenden«
traute Gegenstände, 4 Kommunikation – z. B. Worte und Ausdrucks-
4 an Demenz erkrankte Menschen müssen vor weisen verwenden, die zur Biographie passen,
Personen geschützt werden, die kein Verständnis 4 Orientierungshilfen – z. B. zur Biographie pas-
für deren Verhaltensweisen haben, sende Stützen,
4 Tagesstrukturierung und Einzelbeschäftigung 4 und basalen Stimulation – z. B. biographienahe
und auch Beschäftigung in der Gruppe müssen Materialien zur Beschäftigung anbieten.
individuell auf den Erkrankten abgestimmt wer-
den (7 Kap. 17.1.3), Die Informationen erleichtern auch das Verstehen
4 personenzentrierter ganzheitlicher Umgang. und Einschätzen von schwierigen Pflegesituationen.
Unkontrollierte Gefühlsausbrüche stellen oft die
Aspekte, die wichtig sind: letzte Möglichkeit für den dementen Menschen dar,
4 Wissen über Biographie und Lebensstil der Per- sich gegen ungewollte Fremdbestimmung zu wehren
son mit Demenz: Biographiearbeit, – eine ungewohnte Situation macht Angst und wird
4 demenzgerechter Gesprächsstil: Validation, bedrohlich erlebt. Biographiearbeit kann dazu bei-
4 angemessene Umweltbedingungen: Milieuthe- tragen, Ungewohntes zu Gewohntem zu machen
rapie. und das Gefühl von Selbstbestimmung aufrecht zu
erhalten.
Die Bedeutung der Biographiearbeit Der ganzheitlich biographische Ansatz in der
Jeder Mensch hat eine einzigartige Lebensgeschich- Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz ist
te. Dieser individuell gegangene Weg und Erfahrun- von äußerster Wichtigkeit und sollte in Pflegepla-
gen haben den dementen Menschen geprägt und nungen und Beschäftigungs- und Tagesstrukturie-
bestimmen nun weiterhin sein Verhalten, seine Ge- rungskonzepten unbedingte Beachtung finden. Die
wohnheiten, Vorlieben und Empfindlichkeiten. Das Umsetzung trägt zum Wohlbefinden des Erkrankten
Wissen um die Lebensgeschichte hilft, zu verstehen. bei, gibt ihm das Gefühl etwas wert zu sein, etwas
Bedürfnissignale können »entschlüsselt« und vor- tun zu können und das Gefühl der Hoffnung und
handene Fähigkeiten bewusst gefördert und mög- des Urvertrauens.
lichst lange erhalten werden. Die »letzten Erinne- Jede Person mit Demenz kann:
rungen« werden durch das Reden über das »indivi- 4 ihren eigenen Willen behaupten,
duelle Leben« bewahrt. Dies verleiht dem Erkrankten 4 Gefühle ausdrücken,
Sicherheit und stärkt das Selbstvertrauen. 4 soziale Kontakte aufnehmen,
Wirkliches Interesse und Offenheit seitens der 4 Zuneigung zeigen,
Pflegekraft für der Biographie des dementen Men- 4 humorvoll sein,
schen spürt dieser und schafft Vertrauen. Durch das 4 sich selbst ausdrücken und kreativ sein,
Befragen der Angehörigen können wichtige Infor- 4 sich selbst achten,
mationen eingeholt und durch Fotoalben, Schrift- 4 Bedürfnisse anderer wahrnehmen.
stücke usw. verstärkt genutzt werden. Diese Infor-
mationen betreffen z. B.: Die Bedeutung der Validation
17 4 Familie,
Definition
4 Werdegang,
4 spezielle Fähigkeiten, Validation (Wertschätzen): Die wörtliche Bedeu-
4 Schicksalsschläge, tung ist: stark oder robust (widerstandsfähig)
4 Charakter, machen.
4 Marotten,
4 Gewohnheiten.
Dieser Begriff hat eine lange Geschichte in der psy-
chotherapeutischen Arbeit. Es ist eine Technik, die
17.1 · Demenzielle Erkrankungen
259 17

besonders durch Naomi Feil berühmt gemacht wur-


de und dem dementen Menschen hilft, seine Würde fährlich – Dieses Abwägen ist grundsätzlich
wiederzugewinnen. Validation bedeutet das Wert- nötig!
schätzen und Erfassen von menschlichen Situa-
tionen, die in den Augen von »normalen« Menschen Ein dementer Mann läuft ausschließlich der
als verrückt und widersinnig erfahren werden. Die Wand zugewandt den Stationsflur auf und ab.
aktuelle Gefühlslage, wie Angst, Trauer und Zorn Dabei klatscht er mit den Händen die Wand ab,
werden respektiert. Das schafft Vertrauen und gibt wirkt sehr beschäftigt und nimmt keine Hinder-
dem Erkrankten ein sicheres Gefühl. nisse wahr. – Er war früher Maurer. Mit diesem
Ich ändere meine Grundhaltung und begebe Wissen (Biographiearbeit) »erkenne« ich die
mich in seine Welt, ich formuliere Fragen an ihn Situation und spreche mit dem Mann über seine
einfach sowie verständlich und wiederhole das Ge- »Arbeit«.
sagte. Ebenso lasse ich Erinnerungen zu. Validation
ist das Bestreben, an Demenz erkrankten Personen Eine Patientin möchte mitten in der Nacht, voll-
in ihren persönlichen Denkprozessen größtmögli- ständig angezogen, die Station verlassen und
che Unterstützung zukommen zu lassen. Durch Be- nach Hause gehen. Sie müsse zu Hause sein,
rührungen, Streicheln oder einem Annehmen seiner wenn die Kinder aus der Schule kommen, sagt
Bewegungen äußere ich ebenfalls die Wertschätzung sie. Ihre ehemals gelebte soziale Rolle berück-
des Dementen. sichtigend, frage ich sie z. B. nach der Anzahl der
Validation heißt, die Person mit Demenz in sei- Kinder, welche Tätigkeiten zu tun sind und er-
ner Realität zu besuchen. Dies drückt große Empa- kenne ihre Fürsorglichkeit an. Ich greife Schlüs-
thie aus und erfordert seitens der Pflegeperson hohe selwörter auf, wiederhole diese und frage z. B.:
Konzentration. Validation ist keine Therapiemetho- »Ist es sehr schlimm, nicht mehr Mutter zu sein,
de, wir heilen nicht – es ist zu spät. Es ist eine Kom- für niemanden mehr zu sorgen?«
munikationsmethode und gleichzeitig eine Grund-
haltung gegenüber desorientierten Alten.
Praxisbox
Dass es Wege zum dementen Menschen gibt,
Kasuistik dass sich selbst dort, wo vertraute Kommunika-
Eine Bewohnerin sitzt am Tisch und wischt die- tion an ihre Grenzen stößt, Brücken zu ihm
sen mit einem Schuh. Im Sinne der Validation schlagen lassen, zeigt das Video »Integrative
nehme ich der Bewohnerin den Schuh nicht aus Validation« nach Nicole Richard, erschienen im
der Hand, frage nicht, was sie dort tut und be- Vincenz-Verlag.
werte diese Aktion nicht – »Das tut man doch
nicht!«
Stattdessen frage ich wertschätzend, »Ha- Die Bedeutung der Milieugestaltung
ben Sie heute Putztag?« oder ich sage »Sie sind Die dementengerechte architektonisch-räumliche
aber beschäftigt!« oder »Sie haben aber viel zu Umgebung erfüllt die Funktionen Schutz und Ori-
tun!« entierung im Rahmen der Aktivierung. Das bauliche
Meine Realität (die der Pflegeperson), dass Milieu soll therapieunterstützend sein. Bei der Ge-
Schuhe nicht auf den Tisch gehören, ist eine an- staltung des Wohnumfeldes soll die Erhaltung und
dere, als die der dementen Bewohnerin – Es gibt Förderung der Kompetenzen und der Mobilität im
2 Realitäten. Was die Bewohnerin tut, macht für Vordergrund stehen. Um die Orientierung zu er-
sie Sinn. leichtern, soll eine übersichtliche, einfach zu erfas-
Die beschriebene Situation ist für die sende Raum- und Gebäudestruktur geschaffen wer-
Bewohnerin oder andere Personen nicht ge- den. In der Gestaltung der Räume sollte man Spie-
6 gelungen und Symmetrien oder Wiederholungen
vermeiden, auch Verglasungen bis zum Boden,
260 Kapitel 17 · Pflege bei organisch-psychischen Störungen

verwirrende Muster oder krasse Farbunterschiede 4 Versorgung und Spiel von und mit Haustieren,
im Bodenbelag erzeugen Unsicherheiten. Markante 4 Spiele.
Orte, wie Toilette oder Küche sollten spezifisch ge-
staltet werden. Große, farbige und klar verständliche Gleichmäßige, immer wiederkehrende Tagesstruk-
Piktogramme an den Türen können recht hilfreich turen und Rituale (z. B. Glöckchen läutet zur Mahl-
sein. Unbewusst wirkende Orientierungshilfen, z. B. zeit) nach dem Motto »gleiche Zeit, gleicher Ort«
Handläufe oder Lichtführungen, helfen dem De- machen den Tag angenehm.
menten, sich sicher fortzubewegen. Um eventuell
»Katastrophenreaktionen« vorzubeugen bzw. um sie
zu verringern, sollte eine stressarme, entspannende 17.2 Delir (Delirium)
Umgebung geschaffen werden.
Der Demente hat einen erhöhten Bewegungs- Das Delirium tritt meist akut auf und ist von relativ
drang, dieser dient dem Abführen von inneren Span- kurzer Dauer (Stunden bis wenige Wochen). Das
nungen. Sichere »Wanderwege« und Rundläufe in Leitsymptom ist die Verwirrung – Aufmerksamkeit
denen sich Ereignis (Handlungsanreize durch Ob- und Orientierung sind stets gestört. Das Bewusst-
jekte, wie z. B. Tastwände) und Ruhe (Sitzecken in sein ist oft beeinträchtigt und die Symptome sind
Nischen und z. B. an Aquarien) abwechseln, tragen stark wechselnd. Die gedanklichen Leistungen sind
dazu bei, dass der demente Mensch sich in einem inkohärent (zusammenhanglos) und eingeengt.
freiheitlichen und gefährdungsarmen Bereich wohl- Zeitweise können Halluzinationen auftreten und der
fühlen kann. Schlaf-Wach-Rhythmus ist immer gestört. Das Delir
Auch hier ist der biographische Ansatz in der verläuft fluktuierend, mit meist nächtlicher Ver-
Gestaltung der Umgebung des Dementen von ho- schlechterung. Eine »organische« Krankheit oder
hem Wert für das Wohlbefinden des erkrankten Intoxikation liegt immer zugrunde. Ein Delirium
Menschen (z. B. mit einer guten alten Stube in einem kann zusätzlich zur Demenz auftreten und die
Seniorenheim). demente Symptomatik verstärken.
! Das Delirium ist eine der meisten übersehe-
17.1.3 Betreuung, Beschäftigung nen Diagnosen in Praxis und Klinik.
und Tagesstrukturierung

Die individuellen psychologischen und emotionalen 17.2.1 Arten des Delirs


Bedürfnisse haben Vorrang vor der körperlichen
Pflege. Im Vordergrund stehen das Schaffen einer Die Arten des Delirs werden nach DSM IV anhand
Tagesstruktur im gemeinsamen Tätigsein (z. B. Kör- der Ätiologie unterschieden:
perhygiene), das Beobachten des Dementen und das 1. Delir aufgrund eines medizinischen Krankheits-
Erkennen seiner inneren Realität, das Auffangen in faktors (systemische Infektionen, Stoffwechsel-
seiner aktuellen Stimmung und das Vermitteln von störungen, unausgeglichener Flüssigkeits- und
Sicherheit und Geborgenheit. Aktivitäten sind bei Elektrolythaushalt, Leber- oder Nierenerkran-
17 der Schaffung von Tagesstrukturen von größter Be- kungen, Enzephalopathie und Schädel-Hirn-
deutung. Angebote sind handlungs- nicht ergebnis- Traumen),
orientiert, wie: 2. substanzinduziertes Delir (durch eine Toxinex-
4 hauswirtschaftliche Tätigkeiten, position oder durch die Einnahme eines Medika-
4 Aromatherapie, mentes, z. B. Antikonvulsiva, Neuroleptika, An-
4 Gedächtnistraining, xiolytika, Antidepressiva, kardiovaskuläre Medi-
4 Malen und Gestalten, kamente, Antineoplasmen und Hormone),
4 Gymnastik mit Musik, 3. Substanzintoxikationsdelir (hohe Dosis an Can-
4 Gesangsgruppen, nabis, Kokain, Hallizunogenen, Alkohol, Anxio-
4 handwerkliche Beschäftigung, lytika oder Narkotika),
17.2 · Delir (Delirium)
261 17

4. Substanzentzugsdelir, Sturz könnte z. B. ein subdurales Hämatom erken-


5. Delir aufgrund multipler Ätiologien nen helfen. Eine Blasenentleerungsstörung oder
Obstipation kann durch eine Ausfuhrkontrolle er-
hoben werden.
17.2.2 Symptome Auslöser und »Verstärker« eines Delirs können
auch psychosoziale Faktoren sein, wie z. B. der Um-
Alle Delirarten weisen die gleichen Symptome auf. zug in ein Heim, Tod einer Person aus dem unmittel-
Die Symptome sind denen der Demenz sehr ähnlich. baren Umfeld, alle Stressfaktoren (z. B. Besuchs-
Subjektive und objektive Symptomatik sind (Town- stress) und wenn gewohnte Hilfsmittel (z. B. Brille,
send, 2000, S. 163): Gehhilfe) plötzlich fehlen. Diese »besonderen Anläs-
4 veränderter Bewusstseinszustand, der von Über- se« müssen auch pflegerisch betrachtet und berück-
wachsamkeit bis zu Stupor und Halbkoma sichtigt werden.
reicht, Im Gegensatz zur Demenz ist die Basis der Be-
4 übermäßige Ablenkbarkeit mit Schwierigkeiten, treuung von deliranten Patienten die Konfrontation
die Aufmerksamkeit zu fokussieren, mit der Realität durch Betreuende und Angehörige.
4 Desorientierung zu Zeit und Ort, Der Verlust des Realitätsbezuges im Delirium er-
4 Beeinträchtigung von logischem Denken und zeugt Angst. Eine konstante Bezugsperson bzw.
zielgerichtetem Verhalten, Einzelbetreuung (evtl. Sitzwache) kann nicht nur
4 Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus, Fehlhandlungen verhindern. Durch wiederholtes,
4 emotionale Instabilität, die sich durch Angst, einfühlsames, ruhiges, geduldiges Aufzeigen z. B.
Furcht, Depression, Reizbarkeit, Wut oder Apa- der örtlichen, zeitlichen, situativen und »persönli-
thie ausdrückt, chen« Realität, kann die Angst gelindert werden.
4 Fehlwahrnehmung der Umgebung mit Illusio- Die gewohnte Umgebung sollte ermöglicht werden
nen und Halluzinationen, – im stationären Rahmen könnte dies bedeuten,
4 autonome Symptome, wie Tachykardie, Schwit- Veränderungen im Zimmer zu vermeiden oder ein
zen, gerötetes Gesicht, erweiterte Pupillen sowie bekanntes Bild/Foto aufzuhängen – Schaffung einer
erhöhter Blutdruck, reizarmen, beschützten Umgebung. Eine gute Be-
4 unzusammenhängendes Reden, leuchtung ist weiterhin hilfreich bei der Erleichte-
4 Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses. rung der Reorientierung. Der Kontakt muss immer
aufrecht erhalten werden – dabei sich dem Bewe-
gungsdrang des Patienten, soweit möglich, anpas-
17.2.3 Pflegerische Interventionen sen. Um den Patienten nicht zu überfordern, keine
beim Delir offenen Fragen stellen und niemals fragen »Wa-
rum?«. Zwangsmaßnahmen (Fixierungen) nur im
Die Pflege ist aktiv an der dreigleisigen Therapie – Notfall durchführen.
besonders der Ursachenforschung und Betreuung Konkrete pflegerische Maßnahmen, gegen das
von deliranten Patienten – jedoch auch an konkreten Delir werden je nach Ursache getroffen. Wichtige
Maßnahmen gegen das Delir beteiligt. Ursachen können sein:
Die wichtigste Frage, die gestellt werden sollte, 4 Systemisch (meist ohne neurologische Ausfälle)
ist die nach dem Auslöser des Delirs. Bezüglich 5 Exsikkose,
der Ursachenforschung sind die Pflegekräfte u. a. für 5 Fieber,
die Vitalzeichen-, Blutzucker-, Einfuhr- und Atem- 5 Medikamente,
rhythmuskontrolle zuständig. Der evtl. Zusammen- 5 Medikamentenentzug,
hang zwischen »Auffälligkeiten« beim Patienten 5 Hypoglykämie,
und Medikamentenänderungen fällt auch in den 5 Hypoxie,
Zuständigkeitsbereich der Pflegekräfte. Im Rahmen 5 Elektrolytstörung,
der Patientenbeobachtung ist der Schlaf von großer 5 Hypothyreose,
Bedeutung. Die Frage nach Schmerzen und einem 4 Erkrankungen des ZNS.
262 Kapitel 17 · Pflege bei organisch-psychischen Störungen

Die Behandlung der auslösenden Faktoren stehen


bei der Behandlung des Delirs an erster Stelle. Das
Absetzten/Umsetzen delirogener Medikamente, die
Behandlung der Grunderkrankung (z. B. Infektbe-
handlung) und die Beseitigung begünstigender Fak-
toren (Elektrolytstörung) fallen in den ärztlichen
Aufgabenbereich – ebenso die pharmakologische
Behandlung (häufig Antipsychotika).
Die Pflegenden informieren bei entsprechenden
Beobachtungen den Arzt und führen die ärztliche
Verordnung aus.
Pflegerische Maßnahmen, wenn die Ursache be-
kannt ist, sind z. B.:
4 Flüssigkeitszufuhr/-bilanzierung,
4 fiebersenkende Maßnahmen,
4 Gabe von Traubenzucker,
4 Prävention von Komlikationen (Vermeidung
von Stürzen, Druckläsionen, Übersedierung und
Verletzungen).

Überprüfen Sie Ihr Wissen!


4 Nennen und beschreiben Sie 3 bedeutsame Be-
treuungskonzepte aus der Arbeit mit dementen
Menschen! 7 Kap. 17.1.2
4 Durch welche weiteren pflegerischen Interventi-
onen kann ich, neben der »Grundhaltung«, mei-
nen Respekt vor an Demenz erkrankten Patien-
ten ausdrücken? 7 Kap. 17.1.3
4 Was steht bei der Therapie deliranter Patienten
im Vordergrund und durch welche Maßnahmen
ist die Pflege daran beteiligt? 7 Kap. 17.2.3
4 Wo unterscheidet sich die Betreuung von an De-
menz Erkrankten und deliranten Patienten trotz
ähnlicher Symptomatik? 7 Kap. 17.2.3

Literatur
Dürrmann P (2001) Besondere stationäre Dementenbetreuung,
Bd 1. Vincentz, Hannover
Dürrmann P (2005) Besondere stationäre Dementenbetreuung,
17 Bd 2. Vincentz, Hannover
Feil N (2004) Validation in Anwendung und Beispielen. Der
Umgang mit verwirrten alten Menschen. Reinhardt, Mün-
chen
Hürny C, Schwenk B, Inglin D (2002) Vergesslich, verwirrt und
verloren. In: Schweiz Med Forum 17, 24. April 2002: 395
Osborn C et al (1997) Erinnern. Eine Anleitung zur Biographie-
arbeit mit alten Menschen. Lambertus, Freiburg iB
Saß H et al (1998) DSM-IV. Hogrefe, Göttingen
Townsend MC (2000) Pflegediagnosen und Maßnahmen für
die psychiatrische Pflege. 2. Aufl Hans Huber, Bern
18

18 Pflege bei Schizophrenie


und wahnhaften Störungen
Katrin Nehring

18.1 Pflege bei Schizophrenie – 264


18.1.1 Grundsätzliches – 264
18.1.2 Mit Schizophrenie umgehen – 265

18.2 Pflege bei wahnhaften Störungen – 267


18.2.1 Grundsätzliches – 267
18.2.2 Mit wahnhaften Störungen umgehen – 267

Literatur – 269
264 Kapitel 18 · Pflege bei Schizophrenie und wahnhaten Störungen

) ) In Kürze Die wahnhafte Störung entwickelt sich in der Re-


gel unauffälliger und ist meist noch schwieriger zu
In diesem Kapitel geht es um die Pflege von Men- begreifen. Aus scheinbar normalen Alltagssituatio-
schen mit Schizophrenie und von Menschen mit nen entwickeln sich für den Menschen Inhalte, von
wahnhaften Störungen. Von besonderem Interesse denen er nicht mehr abzubringen ist. Er reagiert är-
ist hierbei die schwierige Phase des Erkennens der gerlich, wenn von anderen Versuche unternommen
Erkrankung und parallel dazu die Krankheitsein- werden, die Realität zu überprüfen. Der Betroffene
sicht des Patienten. Hier ist Geduld und Compliance fühlt sich dann unverstanden, gar der Lüge verdäch-
ein wichtiges Thema. Die medikamentöse Behand- tigt und versucht, durch »Beweise«, möglichst durch
lung ist in der Regel notwendig, die Prophylaxe ist Dritte, seine Glaubwürdigkeit zu untermauern. Der
wichtig, um den Menschen ein lebenswertes Leben Erkrankte wird durch seinen Wahn dominiert. Er
zu ermöglichen. bringt sich mit diesem Verhalten in schwierige und
auch ausweglose Situationen, wird arbeitsunfähig,
Wissensinhalte gerät in offene Konflikte mit den Angehörigen. Dies
Nach der Lektüre dieses Kapitels: kann bis hin zur Trennung führen, da die Angehöri-
7 haben Sie Einblick in die Problematik gewon- gen den Zustand nicht mehr ertagen können (Dör-
nen, die Krankheiten anhand der Symptomatik ner u. Plog, 2002). Mitunter kommt es auch vor, dass
zu erkennen sich ein enger Angehöriger völlig in die Erkrankung
7 können sie dem Patienten diese Problematik einbinden lässt, dann ist es oft nicht mehr zu erken-
nahebringen, und ihn im Prozess der Krank- nen, wer der eigentliche Kranke ist.
heitseinsicht unterstützen
! Bei diesen beiden Erkrankungen ist es wich-
7 haben Sie die verschiedenen Aspekte der
tig, eine Kombination aus medikamentöser
speziellen Pflege kennengelernt
Therapie, Soziotherapie und Psychotherapie
7 sind Sie in der Lage, gemeinsam mit dem
anzustreben. Jedoch ist es angezeigt, bei ei-
Patienten nach seinen gesunden Anteilen zu
nem akuten schizophrenen Schub auf Psycho-
forschen
therapie zu verzichten und stattdessen auf
Vorbemerkung eine intensive Betreuung im Sinne von »Da-
sein und Angst reduzieren« auszuweichen.
Die Schizophrenie ist wohl die schillerndste aller
psychischen Störungen. Sie kann so unterschiedlich
verlaufen, dass sie schwer begreifbar erscheint. Sie
kann leicht oder schwer, akut-dramatisch oder 18.1 Pflege bei Schizophrenie
schleichend und für eher unbeteiligte Menschen
kaum wahrnehmbar sein. Die Schizophrenie kann 18.1.1 Grundsätzliches
kurze Zeit andauern oder ein ganzes Leben bestehen.
Sie kann in längeren oder in kürzeren Abständen Die Pflege bei schizophrenen Patienten ist bei Men-
wiederkehren, sie kann einmalig auftreten und dann schen, die erstmalig erkranken, sehr unterschiedlich
ausheilen, kann aber ebenso zu Invalidität führen. Sie zur Pflege von Patienten, die mit einem erneuten
trifft sehr häufig Jugendliche am Beginn des Erwach- Krankheitsschub in die Klinik kommen. Der Erst-
senwerdens und der beruflichen Entwicklung ge- manifestation einer Schizophrenie gehen in der Re-
nauso wie Menschen, die mitten im Leben stehen gel Monate oder Jahre voraus, in denen der kranke
18 oder sich an der Schwelle des Alters befinden (Fin- Mensch zwar merkt, dass mit ihm etwas nicht
zen, 2003). Zu Beginn der Erkrankung fällt die eige- stimmt, er aber nicht erklären kann, was es genau
ne Ratlosigkeit – »Was ist eigentlich mit mir los? Ich sein könnte. Bei jungen Menschen fallen ein Leis-
verstehe mich selbst nicht mehr!« – besonders auf. tungsknick in der Schule, Rückzug von Freunden,
Dies führt häufig beim Betroffenen zu einem typi- leichte Irritierbarkeit und ungewöhnliche Handlun-
schen Gefühl: »auch meine Umgebung kann mich gen auf. Bei erwachsenen Menschen können eben-
nicht mehr verstehen«. falls eine Abnahme der Leistungsfähigkeit, Rückzug
18.1 · Pflege bei Schizophrenie
265 18

von Freunden, zunehmende Reizbarkeit und merk- äußerte ein psychosekranker Arzt (Finzen, 2003).
würdiges Verhalten auffallen (Townsend, 1998). Dies ist ganz häufig das große Dilemma am Beginn
Der kranke Mensch ist von diesen Ereignissen, dieser Erkrankung. Die vielschichtigen Erschei-
die er innerlich und äußerlich erlebt, völlig verängs- nungsformen macht sie auch für Erfahrene sehr
tigt und verunsichert. Ein Klinkaufenthalt lässt seine schwer greifbar. Unerfahrene – das sind auch Men-
schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Das Ge- schen am Beginn ihres Leidens, Angehörige, Men-
spräch mit dem Arzt, der eine Verdachtsdiagnose schen aus dem Freundeskreis und Berufskollegen –
äußert, und das Angebot von Gruppenaktivitäten stehen der Krankheit eher hilflos, ratlos oder zwei-
und Medikamenten führen oft zu einer völligen Ab- felnd gegenüber. Zudem bietet dieses hohe Maß an
wehr. Der Patient fühlt sich häufig nicht verstanden, Unklarheit auch den Boden für Vorurteile und
falsch eingeschätzt und ist verzweifelt darüber, sich macht es gerade dem erstmalig Erkrankten sehr
nicht richtig mitteilen zu können. Dies liegt daran, schwierig, die Diagnose »Schizophrenie« zu akzep-
dass er sich selbst nicht verstehen und diese Situati- tieren. Zumal der Betroffene selbst anfänglich das
on nicht realisieren kann. Gerade in dieser Phase Gefühl hat »es wird ihm etwas eingeredet« (Finzen,
braucht der Patient die Pflegenden. Geduld, Zeit und 2003).
viel Information sind nötig, um eine vertrauensvolle Diese Phase ist eine schwierige Zeit im stationä-
Beziehung aufzubauen und dem Patienten deutlich ren Rahmen. Die Patienten brauchen enorme Zu-
zu machen, dass die Pflegenden bereit sind, auf seine wendung, Zeit sich zu erklären und wollen Informa-
Ängste und Verunsicherungen einzugehen. In dieser tionen von den Mitarbeitern. Die Ambivalenz zwi-
Phase kommt es nicht selten zu einem Abbrechen schen stationärer Aufnahme und dem Wunsch, doch
der Therapie – das Angebot wiederzukommen, lässt lieber wieder entlassen zu werden, ist für das Pflege-
dem kranken Menschen eine Tür offen und erweist personal und den Patienten gleichermaßen aufrei-
sich sehr häufig als hilfreich (Dörner u. Plog, 2002). bend. Hierbei gilt es aufzupassen und nicht um jeden
Der Patient, der mit einem erneuten Krankheits- Preis überzeugen zu wollen. Dies provoziert eher
schub in die Klinik kommt, ist ebenfalls ängstlich Abwehr und eine Verteidigungshaltung. Eine klare,
und verunsichert, er weiß aber um seine Diagnose verständnisvolle und zugewandte Aufmerksamkeit
und ist gegenüber den Angeboten der Klinik weit we- von Pflegeseite, das Bemühen der Pflegenden, die
niger ablehnend. Dies bedeutet allerdings noch recht Ängste, Unsicherheiten und auch Verzweiflung des
wenig bezüglich seiner Compliance im Zusammen- Patienten wahrzunehmen und zu akzeptieren, schaf-
hang mit der Medikamenteneinnahme, da Krank- fen am ehesten eine Vertrauensbasis (Dörner u. Plog,
heitseinsicht und die Einsicht in die Notwendigkeit 2002). Pflegende können Informationen über den
von Behandlung und Prävention ein immer wieder Aufenthalt und mögliche Behandlungsformen deut-
schwieriges Thema sind (Dörner u. Plog, 2002). lich machen, also ein Therapieangebot unterbreiten.
Der Patient wird von sich aus Erklärungsmodelle für
! Ein typischer Dialog könnte sein: »Mir geht
seinen aktuellen Zustand anbieten.
es gut und ich brauche keine Tabletten ein-
nehmen!« – »Deswegen, weil Sie Medika-
mente einnehmen, geht es Ihnen doch gut!« Kasuistik
– »Nein, das stimmt nicht, sie machen mich
Patient: »Ich bin nicht krank, die anderen wol-
müde, ohne sie würde es mir noch viel besser
len mir das einreden! Ich nehme keine Medika-
gehen!« (Podvoll, 1994)
mente!«
Pflegeperson: »Allerdings sind Sie zu uns ge-
kommen, weil Sie unsere Hilfe möchten, oder
18.1.2 Mit Schizophrenie umgehen habe ich das falsch verstanden?«
Patient: »Nein, aber ich bin nicht krank! Ich fühle
Das Erkennen der Krankheit mich in letzter Zeit manchmal überfordert, z. B.
»Ich habe oft das Gefühl, dass die Kranken nicht er- 6
klären können und die Gesunden nicht verstehen!«
266 Kapitel 18 · Pflege bei Schizophrenie und wahnhaten Störungen

Willen ist ausnahmsweise im akut psychotischen


mit dem Lernen, ich mag gerade nicht viel mit Zustand möglich (Finzen, 2003).
meinen Freunden machen. So was hat doch »Fachleute« wissen nicht immer, was für den
jeder mal oder nicht? Deswegen bin ich nicht Kranken am besten ist. Selbst wenn sie es wissen,
gleich krank!« können sie ihm nur selten ersparen, seine eigenen
Pflegeperson: »Um das genau sagen zu können, Erfahrungen zu sammeln. Die Pharmakotherapie ist
wäre es gut, wenn Sie eine Zeit lang auf der ein Punkt, der zur Verhandlung steht. Leicht geraten
Station blieben. Wir könnten einige Gespräche Pflegende hier in Übermut, weil sie um die Möglich-
führen, um gemeinsam mit Ihnen Klarheit zu keit wissen, akute Symptome rasch zu beeinflussen.
gewinnen. Meinen Sie, dies könnte für Sie hilf- Dies vertreten sie dann mitunter mit allem Nach-
reich sein?« druck. Sie übersehen dabei manchmal, dass die Er-
Patient: »Na ja, vielleicht, aber ich glaube ich fahrung der Krankheitssymptome für den kranken
sehe das anders. Ich will keine Medikamente Menschen wichtig ist. Nur so kann er verstehen, wie-
aufgeschwatzt bekommen! Ich bin nicht psy- so er sich verändert fühlt und was eigentlich mit ihm
chisch krank! Ein paar Tage werde ich bleiben, los ist. Erlebt der Patient die Nebenwirkungen der
aber nur, um mich ein bisschen von dem ganzen Medikamente schlimmer als die Symptome der Er-
Stress zu erholen. Nichts weiter!!« krankung, kann die Chance zu einer konstruktiven
Pflegeperson: »Das ist sicher eine gute Entschei- Zusammenarbeit vergeben sein (Finzen, 2003).
dung. Möglicherweise können Sie von unserem Eine Mitbestimmung über Art und Dosierung
Angebot profitieren. An dieser Stelle möchte ich der Medikamente kann die Grundlage für eine
das Gespräch beenden, wir sehen uns später vertrauensvolle Beziehung sein. Sie stärkt das Ge-
noch einmal.« fühl des Patienten, ernstgenommen zu werden und
gleichberechtigter Partner zu sein. Dies fördert das
Zutrauen des Betroffenen, für sich und seine Krank-
Es ist empfehlenswert in einem Dienst mehrere heit der »Experte« zu sein. Die Mitbestimmung ent-
kürzere Gespräche als ein einzelnes einzuplanen, das zieht der Ambivalenz, die bei schizophrenen Men-
sich über einen zu langen Zeitraum (1–1,5 Stunden) schen nicht selten auftritt, zumindest teilweise den
hinzieht. Boden.
! Wichtig zu erkennen: »Viel hilft nicht viel!«, ! Die Grundvoraussetzung für eine erfolgver-
sondern kann eher schaden, weil Angebote sprechende Therapie Psychosekranker ist:
und Möglichkeiten zerredet werden. Also gilt »Verhandeln statt behandeln oder erst ver-
es hier ein gutes Maß zu finden. handeln und dann behandeln« (Finzen, 2003).

Krankheitseinsicht – Compliance – Ressourcen mobilisieren und gesunde


Ambivalenz Anteile fördern
Hier geht es um »verhandeln statt behandeln« (Fin- Dies ist sicher kein einfacher Punkt, da die bittere
zen, 2003). Sehr schnell befinden sich Pflegende an Erfahrung, dass die Schizophrenie mit dem Abklin-
diesem Punkt in einer Falle. Die Krankheitsunein- gen eines akuten Schubes nicht vorbei ist, zeitweise
sichtigkeit wird erkennbar, sie ist häufiger Bestand- unerträglich erscheint und dass die Schizophrenie
teil schizophrener Symptomatik. Andererseits wird wahrscheinlich ein Leiden sein wird, mit dem zu le-
18 deutlich, dass die Compliance des Patienten, mit den ben man lernen muss (Finzen, 2003).
Pflegenden an einem Behandlungsplan und damit Wege, die Situation anzunehmen, sind die tages-
an seiner Genesung zu arbeiten, eine Grundvoraus- klinische Behandlung, die Psychotherapie und
setzung für einen langfristig positiven Verlauf ist. Selbsthilfegruppen. Überall dort werden auf unter-
Das gilt für den Bereich der Behandlung mit Medi- schiedliche Art und Weise Möglichkeiten eröffnet
kamenten ebenso wie für den Bereich von Psycho- und erarbeitet, gut mit dieser Erkrankung zu leben.
therapie und Soziotherapie. Behandlung gegen den Wichtig ist es dabei, Belastungsfaktoren individuell
18.2 · Pflege bei wahnhaften Störungen
267 18

herauszufinden, um einen zu hohen Stresspegel zu ! Tritt durch die medikamentöse Therapie eine
vermeiden. Neue Ideen für eine veränderte Lebens- erwünschte Wirkung ein, dann ist es häufig
planung zu entwickeln (z. B. Berufstätigkeit, Famili- möglich mit dem Menschen über seine wahn-
ensituation, Wohnsituation), ohne sich dabei min- hafte Störung zu reden.
derwertig fühlen zu müssen, leisten einen wichtigen
Beitrag, gesunde Anteile der jeweiligen Menschen zu
fördern und zu unterstützen (Dörner u. Plog 2002). 18.2.2 Mit wahnhaften Störungen
umgehen
! Die Eigenverantwortung zu stärken, kann den
kranken Menschen in die Lage versetzen, sich Das Erkennen der Störung
der Krankheit nicht völlig ausgeliefert zu füh-
Die wahnhafte Störung entwickelt sich häufig aus
len und wieder handlungsfähig zu werden
dem normalen Alltagsleben.
(Podvoll, 1994).

Kasuistik
18.2 Pflege bei wahnhaften »Der Nachbar, der mir Übles will, der sich dem
Störungen genauen Rhythmus meines Lebens anpasst,
weiß, wann ich zur Arbeit gehe, wann ich wie-
18.2.1 Grundsätzliches derkomme. Der in dem Raum Geräusche macht,
in dem ich mich jeweils aufhalte, der genau
Bei den Betroffenen handelt es sich um erwachsene weiß, in welchem Raum ich mich befinde. Der
Menschen, häufig in der zweiten Lebenshälfte. Häu- mir durch die Wohnung folgt, beinahe mit dem
fig werden sie von Angehörigen, Bekannten oder »Stethoskop auf der Erde liegt«, um zu erkennen
Arbeitskollegen gedrängt, in die Klinik zu gehen. wo ich mich befinde und was ich gerade mache.
Damit tut sich auch für die Pflegenden ein großes Schlafe ich, macht er Krach, damit ich wieder
Problem auf. Der Betroffene kommt nicht freiwillig, aufwache. Er leitet Gase durch die Decke in mei-
sondern auf Druck seiner Mitmenschen. Dies ist ne Wohnung. Gift lässt sich auf meiner Kleidung
kein guter Einstieg für eine erfolgreiche Therapie, nieder und dringt in meinen Körper ein. Ich lasse
allerdings auch kein Hinderungsgrund. Es ist viel mein Haus bewachen und versehe es mit Alarm-
Geduld, Zeit und Information erforderlich, um zum anlagen, weil sich jemand dort zu schaffen
Patienten eine vertrauensvolle Beziehung aufzu- macht, und mir Gift aufs Fensterbrett legt. Ich
bauen. sehe Fußspuren unter dem Fenster, die mich
Manchmal ist der Leidensdruck des kranken bestätigen.« (Podvoll, 1994)
Menschen so groß, dass er von sich aus in die Klinik
kommt. Natürlich unter seiner Wahrnehmung: er
fühlt sich nicht krank, sondern in irgendeiner Form Es wird schon an diesem Beispiel deutlich, dass die
bedroht und möchte dafür Hilfe und Unterstützung. Erkrankung das Leben des Menschen beeinträchtigt,
Auch diese Situation erfordert viel Fingerspitzenge- verändert und für ihn erhebliche Probleme mit sich
fühl, um in eine für den Patienten wirklich hilfreiche bringt. Extremes Misstrauen ist ein Leitsymptom der
Richtung zu führen. Die Aussage von Pflegenden, Störung. Die Unmöglichkeit aus dem Haus zu gehen,
dass hier eine krankhafte psychische Störung vorlie- weil während meiner Abwesenheit womöglich noch
gen könnte, führt in der Regel zu massivem Wider- schlimmere Dinge geschehen, die ich nicht kontrol-
stand, manchmal auch zu Aggression. Unlogisch er- lieren kann. Oder der Nachbar »rächt sich an mir,
scheint oft die Bereitschaft, dennoch Medikamente wenn ich wieder nach Hause komme«. Einer Arbeit
einzunehmen. Die Einnahme wird vom Patienten nachzugehen, wird zu einem riesigen Konflikt für
mit anderen Begründungen belegt, die ihm »helfen«, den betroffenen Menschen. Überhaupt das Haus zu
nicht als psychisch krank angesehen zu werden verlassen, kann zum Problem werden. Sind Angehö-
(Townsend, 1998). rige mit involviert, wird es auch hier massive Kon-
268 Kapitel 18 · Pflege bei Schizophrenie und wahnhaten Störungen

flikte geben. Der Patient ist hin und her gerissen von heitseinsicht eine Folge sein und die Compliance ist
den Gefühlen seiner Familie gegenüber und seinem vorhanden. Es kann aber auch zu einem »Überge-
als real erlebten Zustand, von dem er sich nicht lösen hen« der Besserung kommen oder der Betroffene
kann. Dies ist ein weiteres Symptom der wahnhaften führt seine nachlassende Symptomatik auf verän-
Störung. Der kranke Mensch ist ganz und gar mit derte Lebensumstände zurück, um ein Eingeständ-
diesem Zustand verwoben, ohne eine Möglichkeit nis seines Irrtums zu vermeiden. Dies führt manch-
der Lösung. Das Gefühl, die anderen Menschen ver- mal dazu, dass die Medikamente wieder abgesetzt
stehen ihn nicht, halten ihn für »verrückt und psy- werden und die ursprünglichen Beschwerden wie-
chisch krank«, bringt den Patienten zum einen in der auftreten (Dörner u. Plog, 2002).
Wut und zum anderen kann es ihn in tiefe Verzweif-
! Es sollte nicht darum gehen, dem Patienten
lung stürzen, aus der er keinen Ausweg mehr sieht
sein wahnhaftes Erleben auszureden, aller-
(Townsend, 1998).
dings sollte es auch nicht darum gehen, dies
Auch das Gefühl »ich bin Gott und habe alle Fä-
zu bestätigen.
den in der Hand, Dinge geschehen, weil sie mir et-
was sagen sollen. Ich lese ein Buch und bin verän-
dert, weil dadurch etwas mit mir passiert ist« (Aus- Ressourcen mobilisieren und gesunde
sage eines Patienten mit einer wahnhaften Störung), Anteile fördern
weisen auf einen wahnhaften Zustand hin. Es sollte eine tagesklinische Behandlung angestrebt
werden, um sich allmählich wieder Alltagssituatio-
! Starkes Misstrauen, eine bestimmte Situation
nen anzunähern. Ziel könnte es für den Patienten
nicht loslassen können und eine Abwehr da-
sein, die Arbeit wieder aufzunehmen, sich problem-
gegen, als »verrückt« zu gelten, sind die auf-
los außerhalb der eigenen Wohnung aufzuhalten
fälligen Merkmale der wahnhaften Störung.
und Umzugswünsche aufzugeben, da sie ein Symp-
tom der Erkrankung sind und nicht die Ursache des
Krankheitseinsicht und Compliance Problems. Kontakte zu Angehörigen sollten geklärt
Der Patient sucht Hilfe in der Klinik, weil er von An- werden, vielleicht in einem gemeinsamen Gespräch
gehörigen dazu gedrängt wird oder weil er sich selbst mit dem Pflegepersonal. Dem Patienten wird vermit-
zu sehr bedroht fühlt. Beides ist für die Pflegen- telt, dass er eine Eigenverantwortung besitzt und der
den keine einfache Ausgangssituation. Der kranke Krankheit nicht hilflos ausgeliefert ist, also Hand-
Mensch will vor allem klar machen, dass nicht er lungsmöglichkeit besitzt. Die regelmäßige Einnahme
krank ist, sondern die anderen. An dieser Stelle hat von Medikamenten sollte ausreichend thematisiert
wieder die Geduld ihren Platz, für den Versuch eine werden, um die Wichtigkeit deutlich zu machen. Die
tragfähige Beziehung zum Patienten aufzubauen. Soziotherapie ist gerade hier ein realitätsfördernder
Vorsichtig können Pflegende dann seine Problema- Faktor. Der Patient kann sich in diesem Rahmen
tik in Frage stellen und die Möglichkeit einer Über- nicht so gut »verstecken« oder zurückziehen, da Mit-
reaktion seitens des Patienten thematisieren. Im patienten ihn mit seinem Verhalten oder seinen Äu-
Verlauf sollte ihm deutlich gesagt werden, dass auch ßerungen konfrontieren (Dörner u. Plog, 2002).
dies als krankhafte Störung angesehen wird. Mit Re-
! Soviel Klinik wie nötig, soviel soziales Training
aktionen, wie Enttäuschung, Ärger und Wut, ist zu
wie möglich!
rechnen. In dieser Situation kann es zu zwei unter-
schiedlichen »Antworten« kommen: entweder der
18 Patient verlässt die Klinik oder er will beweisen, dass Überprüfen Sie Ihr Wissen!
er im Recht und Pflegende und Ärzte im Unrecht 4 Welches sind die Leitsymptome der Schizophre-
sind und ist aus diesem Grunde bereit, Medikamen- nie bzw. der wahnhaften Störungen? 7 Kap. 18.1.1,
te einzunehmen (»die ja sowieso nichts helfen, aber Kap. 18.1.2, Kap. 18.2.2
ihnen zuliebe, werde ich es versuchen«). 4 An welchen Punkten gleichen sich die Krank-
Wirken die Medikamente und es kommt zu einer heitsbilder? An welchen Punkten unterscheiden
Distanzierung von der Symptomatik, kann Krank- sie sich? 7 Kap. 18.1.1, Kap. 18.2.1, Kap. 18.2.2
Literatur
269 18

4 Was ist bei der Schizophrenie bzw. wahnhaften


Störung vom Pflegepersonal unbedingt zu be-
achten? Was sollte vermieden werden? 7 Kap.
18.1.1, Kap. 18.1.2, Kap. 18.2.1, Kap. 18.2.2
4 Wieso ist es so wichtig, die Ressourcen des Pati-
enten zu entdecken und seine gesunden Anteile
zu fördern? 7 Kap. 18.1.2, Kap. 18.2.2

Literatur
Dörner K, Plog U (2002) Irren ist menschlich. Lehrbuch der
Psychiatrie/Psychotherapie. Psychiatrieverlag, Bonn
Finzen A (2003) Schizophrenie – Die Krankheit verstehen.
Psychiatrieverlag, Bonn
Podvoll EM (1994) Verlockung des Wahnsinns – Therapeutische
Wege aus entrückten Welten. Heinrich Hugendubel, Mün-
chen
Townsend MC (1998) Pflegediagnosen und Maßnahmen für
die psychiatrische Pflege. Hans Huber, Bern
19

19 Pflege bei neurotischen, Belastungs-


und somatoformen Störungen
Katrin Hartung, Kerstin Müller

19.1 Angststörungen und Phobien – 272


19.1.1 Definition und Klassifikation – 272
19.1.2 Ätiologie – 273
19.1.3 Pflegerisches Vorgehen – 274

19.2 Zwangsstörungen – 274


19.2.1 Definition und Klassifikation – 274
19.2.2 Ätiologie – 275
19.2.3 Pflegerisches Vorgehen – 275

19.3 Belastungs- und Anpassungsstörungen – 276


19.3.1 Definition und Klassifikation – 276
19.3.2 Ätiologie – 277
19.3.3 Pflegerisches Vorgehen – 277

19.4 Weitere neurotische Störungen – 278


19.4.1 Definition und Klassifikation – 278
19.4.2 Ätiologie – 278
19.4.3 Pflegerisches Vorgehen – 279

Literatur – 279
272 Kapitel 19 · Pflege bei neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen

) ) In Kürze Angst kann jedoch, wie im Folgenden beschrie-


ben, auch Krankheitswert erlangen. Dann leiden die
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Stö- Betroffenen unter den Ängsten selbst sowie unter
rungen sind besonders durch das Symptom Angst dem Gefühl der Unkontrollierbarkeit ihrer Befürch-
gekennzeichnet. Aber auch Zwangsgedanken und tungen. Sigmund Freud prägte für diese Symptoma-
-handlungen, depressive Verstimmungen sowie tik den Begriff »Angstneurose«.
körperliche Symptome können auftreten. Diese Bei vielen psychiatrischen Erkrankungen tritt
Erkrankungen und Ihre Symptome sind für die Angst als Symptom auf, hier jedoch wollen wir uns
Betroffenen meist sehr quälend und gleichzeitig oft mit den Angststörungen als Einzeldiagnosen be-
für außenstehende Personen schwer nachvollzieh- schäftigen. Es werden im folgenden Abschnitt zu-
bar. Daher erfordert der Umgang mit an diesen nächst 5 unterschiedliche Angststörungen und Pho-
Störungen erkrankten Menschen ein besonders bien mit Erklärungen und Definitionen unterschie-
hohes Maß an Einfühlung und Verständnis. den. Abhängig vom Modell der Betrachtung ist dann
In diesem Kapitel werden die unterschiedlichen der Umgang und die Behandlung mit den an diesen
Formen beschrieben, in denen diese Krankheits- Störungen erkrankten Menschen.
bilder auftreten können. Des Weiteren werden Vor-
stellungen über die Entstehung (Ätiologie) von den
unterschiedlichen Fachdisziplinen erläutert, da die- 19.1.1 Definition und Klassifikation
se Erklärungen hilfreich für das Krankheitsverständ-
nis sind und ein systematisches Vorgehen innerhalb Panikstörungen
eines therapeutischen Teams ermöglichen. Menschen, die an Panikstörungen leiden, erleben
wiederkehrende Attacken intensivster Angst. Diese
Wissensinhalte taucht plötzlich und unerwartet auf, und zwar in
Nach dem Studium dieses Kapitels haben Sie: objektiv ungefährlichen Situationen. Sie wird be-
7 Kenntnisse über Formen, Herkunft und Behand- gleitet von massiven körperlichen Symptomen, die
lungsansätze von Angststörungen und Phobien, für den Betroffenen subjektiv lebensbedrohlichen
Zwangsstörungen, Belastungs- und Anpas- Charakter haben können, wie z. B. Herzrasen,
sungsstörungen und weitere neurotische und Atemnot, Schwindel, Zittern, Schwitzen, Taubheits-
somatoforme Störungen gefühle, Todesangst oder Magen-Darm-Beschwer-
7 eine Vorstellung von den spezifischen Schwie- den.
rigkeiten im Alltag der an diesen Störungen
erkrankten Personen Generalisierte Angststörung
7 Hilfen für einen adäquaten Umgang mit den Die generalisierte Angststörung ist eine anhaltende,
Betroffenen kennen gelernt verallgemeinerte Angst, die nicht auf bestimmte Si-
7 Ideen über die Einbindung der Pflege in das tuationen in der Umgebung beschränkt ist, sondern
therapeutische Team erworben sich auf eine Reihe von unterschiedlichen Ereignis-
sen bezieht, d. h. sie ist »frei flottierend«. Ein weite-
res Symptom dieser Erkrankung ist die übertriebene
19.1 Angststörungen Sorge, die die Betroffenen dauerhaft quält.
und Phobien »Generalisiert« drückt aus, dass diese Form der
Angststörung durch übertriebene, eigentlich unrea-
Grundsätzlich ist Angst eine biologisch im Men- listische, andauernde Besorgnisse, Ängste und Be-
schen verankerte Reaktion auf Gefahr und Bedro- fürchtungen in Bezug auf vielfältige Aspekte des
19 hungen. Sie hilft uns, gefährliche Situationen zu Lebens charakterisiert ist.
erkennen, um Gegenmaßnahmen ergreifen zu kön-
nen. Das Gefühl der Angst ist uns allen bekannt. Es Agoraphobie
ist eine normale Reaktion des Organismus auf po- Von einer Agoraphobie betroffene Menschen leiden
tenziell gefährliche Situationen. an Ängsten vor öffentlichen Orten und Menschen-
19.1 · Angststörungen und Phobien
273 19

ansammlungen. Diese Erkrankung kann auch als 19.1.2 Ätiologie


multiple Situationsphobie bezeichnet werden.
Gemieden oder nur mit großem Unbehagen er- Die Entstehung der Angsterkrankungen wird von
tragen werden daher folgende Situationen: Aufent- den verschiedenen therapeutischen Richtungen
halt in öffentlichen Räumen, besonders wenn diese (Schulen) unterschiedlich betrachtet.
überfüllt sind (z. B. Geschäfte, Kinos, Krankenhäu- Psychodynamisch/psychoanalytisch wird Angst
ser, Gaststätten), Nutzung öffentlicher Verkehrs- als Abwehrmechanismus verstanden, d. h. Angst
mittel, in einer Schlange stehen, Aufenthalt im Frei- machende innerpsychische Bewusstseinsvorgänge
en bzw. Reisen, insbesondere allein in unbekannten werden nach außen verlagert und durch externe,
Gegenden. vermeintlich belanglosere Angst machende Gründe
ersetzt.
Soziale Phobie Aus verhaltens- oder lernpsychologischer
Die soziale Phobie besteht in der Furcht vor der Sichtweise ist die Angstreaktion das Ergebnis eines
kritischen Betrachtung durch andere Menschen in individuellen Lern- bzw. Konditionierungsprozes-
verhältnismäßig kleinen Gruppen (nicht dagegen in ses. Ein bestimmter Reiz oder eine Situation, die
Menschenmengen) und führt schließlich dazu, dass unangenehm oder mit großer Furcht erlebt wurde,
soziale Situationen vermieden werden. Es bestehen wird zu einem Auslöser für Angst. Die betroffene
unangemessen starke Ängste vor sozialen Situatio- Person beginnt in Folge dessen, den Reiz oder die
nen, z. B. sich in Gegenwart anderer zu äußern, Per- Situation systematisch zu meiden, um die damit ver-
sonen des anderen Geschlechts anzusprechen, vor bundenen Gefühle nicht noch einmal zu erleben.
anderen zu reden oder zu essen oder in anderer Wei- Biologisch/medizinisch wird angenommen, dass
se im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. genetische Faktoren Angsterkrankungen mitbedin-
Die sozialen Ängste können sich z. B. in Erröten, gen können. Familiäre Häufungen wurden z. B. an-
Schwitzen, Händezittern, Herzrasen, Vermeiden von hand von Zwillingsstudien festgestellt. Aus neuro-
Blickkontakt, Versagen bzw. Veränderung der Stim- biologischer Sichtweise lässt sich häufig eine Störung
me, Übelkeit oder Harndrang äußern. im Bereich der Neurotransmitter feststellen.
Darüber hinaus existieren noch weitere, z. B. so-
Spezifische Phobie ziokulturelle und humanistische Erklärungsmodelle
Hiermit sind unangemessen starke Ängste und für Angsterkrankungen.
Angstreaktionen in Bezug auf spezifische Situatio- Abhängig von der jeweiligen Betrachtungsweise
nen gemeint. Dunkelheit, geschlossene Räume, Auf- ist in der Folge auch das therapeutische Vorgehen.
züge, Höhe, Fliegen, bestimmte Tiere, Prüfungssitu- Der Tiefenpsychologe wird versuchen, dem zugrunde
ationen, Anblick von Blut, Spritzen oder bestimmte liegenden unbewussten Konflikt auf die Spur zu
Krankheiten (z. B. Krebs) können die Auslöser dieser kommen und diesen möglichst bewusst zu machen
Angst sein. und zu lösen.

. Tabelle 19.1. Angststörungen

Diagnosen Symptome
Panikstörung plötzlich auftauchende Angstattacken, körperliche Symptome: Tachykardie, Schwitzen,
Engegefühl in der Brust etc.
generalisierte Angststörung übertriebene, dauerhafte Sorgen, Befürchtungen, anhaltende Angst
Agoraphobie Angst vor öffentlichen Plätzen, Menschenansammlungen, »multiple Situationsphobie«
soziale Phobie Furcht vor der kritischen Betrachtung durch andere Menschen, Furcht, im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit zu stehen
spezifische Phobie unangemessen starke Angst vor spezifischen Situationen und Dingen: z. B. Spinnen,
geschlossenen Räumen
274 Kapitel 19 · Pflege bei neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen

Der Verhaltenspsychologe wird (mit den Metho- Absprachen innerhalb des therapeutischen Teams
den Desensibilisierung und Konfrontation) die für das Verhalten in Angstsituationen müssen beach-
Auseinandersetzung mit der konkreten angstbe- tet werden. Die Angstsituation des Patienten nicht
setzten Situation und das Ende der Vermeidung verstärken, indem man z. B. Blutdruck misst. Wich-
anstreben. tig ist im Vorfeld die Klärung der folgenden Fragen:
Der Mediziner wird versuchen, die Angst zu- Soll der Therapeut bei Panikattacken gerufen wer-
nächst mit Hilfe von Medikamenten zu lindern. den? Soll der Patient gerade lernen, die Angst »kom-
Im klinischen Alltag werden diese Methoden, men zu lassen« und auszuhalten und ist es deswegen
abhängig von der Art und Schwere der Symptoma- kontraproduktiv, beruhigend auf ihn einzuwirken?
tik, oftmals kombiniert vorzufinden sein. Eventuell Fachpflegerische Betreuung der oben genannten
werden in akuten Fällen Medikamente eingesetzt, Therapien: Medikamentengabe, evtl. nach Absprache
um die Betroffenen kurzfristig zu entlasten und psy- Begleitung zum Angsttraining, den Patienten nach
chotherapeutische Methoden wirksamer einsetzen Absprache bei Gruppenaktivitäten integrieren. Dabei
zu können. ist zu berücksichtigen, dass sowohl Therapien als
auch Gruppenaktivitäten Angst auslösen können.

19.1.3 Pflegerisches Vorgehen ! Wesentlich ist insgesamt eine annehmende,


Scham nehmende und bei Bedarf intervenie-
rende, aber nicht verstärkende Grundhaltung!
Geboten ist eine kontrollierte, leicht distanzierte
und normalisierende Grundhaltung dem Patienten
gegenüber. Dies bedeutet z. B. bei einer Panikatta-
cke, kein »Mitagieren«, wenn der Patient hyperven- 19.2 Zwangsstörungen
tiliert, schwitzt und zittert. Stattdessen gilt, Ruhe zu
bewahren und dem Patienten das Gefühl zu geben, Natürlich kennt fast jeder von uns geringfügige
dass man selbst nicht mit in Panik gerät. Notwendi- Zwangshandlungen oder -gedanken. Gern angeführt
ge Maßnahmen müssen jedoch ergriffen werden. wird als ein Beispiel der Herd oder die Kaffeemaschi-
ne, die uns unruhig werden lassen, wenn wir ver-
Praxisbox muten, sie nicht ausgeschaltet zu haben. Auch ver-
Nach Einschätzung der Situation ggf. den Arzt meiden wir es vielleicht manchmal, auf Ritzen im
rufen, evtl. den Betroffenen in eine Tüte rück- Gehweg zu treten oder es entspannt uns, wenn wir
atmen lassen oder »gemeinsam« atmen (dem Dinge ordnen können. In geringem Maße haben
Patienten die Möglichkeit bieten, sich einem diese kleinen Zwänge im Alltag für uns einen Nut-
normalen Atemrhythmus anzuschließen). Falls zen, indem sie uns etwas beruhigen. Jedoch können
es möglich ist, können Kurzentspannungsme- Zwänge auch Krankheitswert bekommen. Dies ist
thoden angeboten werden. der Fall, wenn jemand erheblichen Leidensdruck in
Bezug auf diese Handlungen oder Gedanken be-
schreibt, wenn sie übertrieben, unvernünftig, stö-
Wesentlich ist es, eine Balance im Umgang mit dem rend und unangemessen wirken und schwer zu
Patienten zu erlangen. Dieser soll sich einerseits unterdrücken sind. Manchmal sind sie sehr zeitauf-
ernst genommen fühlen und nicht das Gefühl ha- wändig und erschweren den Alltag der betroffenen
ben, man glaube ihm sein subjektiv erlebtes Befin- Person erheblich.
den nicht. Gleichzeitig ist es wichtig ihm zu vermit-
teln, dass sein Zustand keine körperlich lebens-
19 bedrohliche Situation darstellt. Sinnvoll ist es, den 19.2.1 Definition und Klassifikation
Patienten nach Absprachen mit den behandelnden
Therapeuten zu fragen, da er in Angst- oder Panik- Gekennzeichnet ist dieses Krankheitsbild vorwie-
situationen Schwierigkeiten haben wird, auf dieses gend von 2 Hauptsymptomen: Zwangsgedanken und/
Wissen zurückzugreifen. oder Zwangshandlungen.
19.2 · Zwangsstörungen
275 19

Definition um einen normalen Mechanismus zu handeln, der


auch bei nicht Zwangserkrankten funktioniert: Der
Zwangsgedanken sind wiederkehrende Gedan-
Versuch, einen Gedanken zu unterdrücken, bewirkt
ken, Ideen, Impulse oder Bilder, die das Be-
genau das Gegenteil!
wusstsein der betroffenen Person beherrschen.
Biologisch/medizinisch wird eine Neurotrans-
Zwangshandlungen sind stereotype und rigi-
mitterstörung (Serotonin) im Gehirn, ähnlich wie
de Verhaltensweisen oder Handlungen, die
bei Depressionen, angenommen. Ein anderer Erklä-
durchzuführen jemand sich gezwungen fühlt,
rungsansatz nimmt Funktionsstörungen in bestimm-
um Angst oder Qual zu verhindern oder zu ver-
ten Hirnregionen als Verursacher an. Auch hier wird
ringern (oder zu erwartende negative Folgen
die Vererbung als möglicher Mitverursacher ange-
abzuwenden).
nommen.
Die Therapie ist abhängig vom Erklärungs-
Zwangsstörungen werden diagnostisch den Angst- modell.
störungen zugeordnet, weil sie dazu führen, die Der Tiefenpsychologe wird versuchen, den Kon-
Angst zu reduzieren, bzw. gar nicht erst entstehen flikt, der zu den Abwehrreaktionen führt, zu finden
zu lassen. und zu lösen. Das kann z. B. bedeuten, die Trieb-
regungen, die abgewehrt werden sollen, ins Leben zu
integrieren.
19.2.2 Ätiologie Der Verhaltenspsychologe wird den Betroffenen
direkt mit den zwangsauslösenden Faktoren kon-
Auch hier gibt es unterschiedliche Erklärungsan- frontieren, d. h. ihn den Gedanken oder Reizen un-
sätze. ter therapeutischer Begleitung aussetzen. Das Ziel
Psychodynamisch/psychoanalytisch: Nach An- ist die sog. »Habituation«, also eine Gewöhnung an
sicht der psychoanalytischen Theorie versucht sich diese Reize, bei Zwangsgedanken auch die Erler-
der Zwangserkrankte mit Hilfe seiner Zwänge gegen nung von Methoden, mit diesen anders umzugehen,
unerlaubte Impulse – wie sexuelle oder aggressive wie z. B. der Stop-Technik. Die medizinische Thera-
Triebkräfte – zu wehren. Durch eine strenge und/ pie wird, entsprechend der angenommen Verur-
oder extrem auf Sauberkeit fixierte Erziehung hat sachung, Einfluss auf den Serotoninstoffwechsel
der Betroffene ein übermäßig ausgeprägtes Gewis- nehmen. Hierzu gibt es die selektiven »Serotonin-
sen entwickelt. Die Symptome sind nun das Ergebnis Wiederaufnahmehemmer« (SSRI) – eine bestimmte
eines ständigen Kampfes zwischen den Triebimpul- Gruppe der Antidepressiva.
sen und den Abwehrmechanismen, da die Zwangs-
gedanken und Zwangshandlungen den Betroffenen
in gewisser Weise von diesen überzogenen Gewis- 19.2.3 Pflegerisches Vorgehen
sensansprüchen entlasten. Mit Hilfe seiner rituali-
sierten Verhaltensweisen versucht der Zwangser- Wesentliche Punkte im Umgang mit zwangser-
krankte, die verbotenen Impulse auszulöschen und krankten Menschen sind:
sie damit ungeschehen zu machen. 4 Sich nicht in die Zwangshandlungen miteinbin-
Verhaltens- und lernpsychologisch wird u. a. da- den lassen! Hiermit versucht der Betroffene,
von ausgegangen, dass jeder Mensch sich wiederho- Verantwortung abzugeben. Das führt auf die
lende, unerwünschte und unangenehme Gedanken Dauer nicht zu einer Besserung. Also auf keinen
hat, jedoch die meisten Menschen diese einfach Fall »Mit-Kontrollieren«!
ignorieren und sie sich selbst nicht »übel nehmen«. 4 Kontraproduktiv ist es außerdem, den Betroffe-
Dagegen empfinden Zwangserkrankte solche Ideen nen übermäßig zu entlasten, ihn zu beruhigen
als hochgradig besorgniserregend und versuchen sie oder Verantwortung für ihn zu übernehmen.
mit aller Macht wieder loszuwerden. Paradoxerwei- Der Erkrankte ist in seinem Selbstbewusstsein
se werden diese Gedanken aber genau dadurch ver- meist bereits angeschlagen und das würde es
stärkt. Untersuchungen zufolge scheint es sich dabei weiter schwächen.
276 Kapitel 19 · Pflege bei neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen

4 Empfehlenswert ist es oft, im eigenen Tagesab-


lauf weiter fortzufahren und evtl. auch den Be-
troffenen miteinzubinden. Es soll vermieden
werden, falsche Rücksicht auf seine Zwänge zu
nehmen.

Praxisbox
Eine Unterbrechung der Zwangshandlungen
kann zu aggressivem Verhalten führen, da es
hier oft ausgeklügelte Rituale gibt. Hierbei gilt
es zu berücksichtigen, dass der Betroffene unter
großem inneren Druck steht. . Abb. 19.2. Waschzwang als typische Zwangshandlung

! Akzeptanz und therapeutisches, reflektiertes 19.3 Belastungs-


Verhalten sind die wesentlichen Handlungs- und Anpassungsstörungen
ratschläge. Der Zwangserkrankte sollte mer-
ken, dass Sie sich zwar nicht in seine Störung Diese beiden Störungen sehen im Alltag in ihrer
einbinden lassen, ihn aber als Person mit Erscheinungsform unterschiedlich aus, sind aber in
seinen Schwierigkeiten ernst nehmen. ihrem Auslöser, nämlich den psychosozialen Belas-
tungsfaktoren, zusammengefasst (7 ICD 10). Neben
der posttraumatischen Belastungsstörung, auf die
hier nicht näher eingegangen werden soll, werden
die akute Belastungsreaktion und die Anpassungs-
störung genannt.
Auch diese Störungen sind uns in milder Form
vielleicht aus dem eigenen Alltag bekannt. Umgangs-
sprachlich wird eine akute Belastungsstörung z. B.
auch »Nervenzusammenbruch« oder »psychischer
Schock« genannt. Eine Anpassungsstörung kann
nach einer entscheidenden Lebensveränderung auf-
a treten, z. B. dem Tod eines Angehörigen oder einem
Umzug.

19.3.1 Definition und Klassifikation

Die akute Belastungsreaktion ist eine vorübergehen-


de Störung, die sich bei einem psychisch nicht mani-
fest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außer-
gewöhnliche physische oder psychische Belastung
entwickelt und die im Allgemeinen innerhalb von
b Stunden oder Tagen abklingt.
19 . Abb. 19.1a, b. Herdplatten nicht ausgeschaltet zu haben,
Beispiele für starke psychische Belastungsfakto-
ren sind das eigene Erleben körperlicher oder psy-
ist ein häufiger Zwangsgedanke, der Betroffene beschäftigt.
Das vielfache An- und Ausstellen von Schaltern ist ein Symp-
chischer Gewalt, das Erleben von extremer Gewalt
tom, das den Zwangshandlungen zugeordnet wird und der gegenüber anderen und schmerzvolle Verlusterleb-
Beruhigung dient nisse, z. B. von nahestehenden Personen.
19.3 · Belastungs- und Anpassungsstörungen
277 19

Die Symptomatik zeigt typischerweise ein ge- 19.3.2 Ätiologie


mischtes und wechselndes Bild, beginnend mit einer
Art von »Betäubung«, mit einer Bewusstseinseinen- Unbestritten ist bei beiden Störungen, dass es einen
gung und eingeschränkten Aufmerksamkeit, einer direkten Zusammenhang zwischen einer trauma-
Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und Desorien- tischen oder anderen Belastung und dem Beginn
tiertheit. Diesem Zustand kann ein weiteres »Sich- einer Belastungsstörung gibt. Die Frage ist, warum
zurückziehen« aus der Umweltsituation folgen (bis manche Menschen eine Störung entwickeln und
hin zu dissoziativem Stupor). Eine andere Folge andere nicht. Man geht davon aus, dass die von
kann jedoch auch Unruhe oder Überaktivität (z. B. einer Störung betroffene Person aus unterschiedli-
Fluchtreaktion) sein. Vegetative Zeichen panischer chen Gründen über nicht ausreichende Bewälti-
Angst, wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten, tre- gungsstrategien verfügt und daher besonders ver-
ten häufig auf. Die Symptome erscheinen im Allge- wundbar (vulnerabel) ist. Bewältigungsstrategien
meinen innerhalb von Minuten nach dem belasten- können unterschiedlich »nützlich« sein. Sie entste-
den Ereignis und gehen innerhalb von 2 oder 3 Ta- hen in der Kindheit aber auch im Erwachsenenalter.
gen, oft innerhalb von Stunden, zurück. Teilweise Ein nicht vorhandenes unterstützendes soziales
oder vollständige Amnesie bezüglich dieser Episode Netz erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Belas-
kann vorkommen. tungsstörung.
Bestehen die Symptome länger als 28 Tage, so ist Die Behandlung der akuten Belastungsstörung
von der posttraumatischen Belastungsstörung zu erfolgt meist vor allem durch ein geschütztes Um-
sprechen (7 Kap. 22). feld, wobei in der Regel kaum Medikamente einge-
Bei der Anpassungsstörung handelt es sich um setzt werden. Es wird vorwiegend auf die aktuellen
Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotio- Symptome reagiert, bei Bedarf werden entlastende
naler Beeinträchtigung, die im Allgemeinen soziale Gespräche angeboten. Meistens handelt es sich um
Funktionen und Leistungen behindern und wäh- eine kurzzeitige Behandlungsnotwendigkeit.
rend des Anpassungsprozesses nach einer entschei- Die Anpassungsstörung sollte in jedem Fall mit
denden Lebensveränderung oder nach belastenden einer stützenden psychotherapeutischen Betreuung
Lebensereignissen auftreten. Die Belastung kann das und in schweren Fällen auch mit Medikamenten, wie
soziale Netz des Betroffenen beschädigt haben (wie z. B. Antidepressiva, behandelt werden.
nach einem Trauerfall oder Trennungserlebnissen),
oder das weitere Umfeld sozialer Unterstützung oder
soziale Werte (wie bei Emigration oder nach Flucht). 19.3.3 Pflegerisches Vorgehen
Sie kann auch in einem größeren Entwicklungs-
schritt oder einer Krise bestehen (wie Schulbesuch, Bei den akuten Belastungssituationen ist das Bild,
Elternschaft, Misserfolg, Erreichen eines ersehnten das der Betroffene zeigen kann, sehr unterschiedlich
Zieles und Ruhestand). Die Anzeichen sind unter- (7 oben). Es ist daher wichtig, auf die jeweilige Pha-
schiedlich und umfassen depressive Stimmung, se adäquat zu reagieren. Bei Desorientierung und
Angst oder Sorge (oder eine Mischung von diesen). Rückzug ist es wichtig, in Kontakt zu bleiben und
Außerdem kann ein Gefühl bestehen, mit den all- ggf. für Schutz zu sorgen, bzw. einen Therapeuten
täglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen, hinzuzuziehen.
diese nicht vorausplanen oder fortsetzen zu können. Auch bei der Anpassungsstörung ist es wesent-
Störungen des Sozialverhaltens können insbeson- lich, bei Rückzug in Kontakt zu bleiben; nicht zu-
dere bei Jugendlichen ein zusätzliches Symptom letzt, weil mit einem erhöhten Suizidrisiko gerechnet
sein. werden muss. Insgesamt ist das pflegerische Vorge-
hen ähnlich wie bei einer Depression: den Patienten
! Hervorstechendes Merkmal kann eine kurze ernst nehmen und versuchen, seine Teilnahms- und
oder längere depressive Reaktion oder eine Lustlosigkeit mit Motivation und Zuwendung über-
Störung anderer Gefühle und des Sozialver- winden zu helfen und auch bei abweisendem Verhal-
haltens sein. ten »weiter dran zu bleiben«.
278 Kapitel 19 · Pflege bei neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen

! Bei beiden Störungen ist der Kontakt zur eine Krebserkankung interpretiert). Diese Störung
erkrankten Person sehr wesentlich. Hier sollte ist mit der vorhergehenden sehr eng »verwandt«,
auf das aktuelle Erscheinungsbild reagiert allerdings herrscht hier das Symptom der Angst,
werden. an einer lebensbedrohlichen Krankheit zu leiden,
vor und die körperlichen Symptome sind relativ
geringfügig.
19.4 Weitere neurotische
Störungen Neurasthenie
Die Neurasthenie ist von den Symptomen der extre-
Besonders hervorzuheben sind die körperbezoge- men geistigen und/oder körperlichen Ermüdung/
nen (somatoformen) neurotischen Störungen, wie Ermüdbarkeit geprägt. Auch hier wird für diese
die Somatisierungsstörung, die hypochondrische Symptome keine körperliche Ursache gefunden.
Störung und die Neurasthenie. Aber auch weitere,
seltenere neurotische Störungen fallen in diese Ka-
tegorie. 19.4.2 Ätiologie
Schon Sokrates glaubte, man dürfe den Körper
nicht ohne die Seele behandeln (Fiester, 1986; Co- Ursprünglich sind die neurotischen und insbeson-
mer, 1995). Bei den somatoformen Störungen wird dere die Somatisierungsstörungen eine von Sigmund
der enge Zusammenhang zwischen Körper und See- Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, erstmals
le besonders deutlich. Von somatoformen Störun- gestellte Diagnose. Er hat Menschen mit den oben
gen spricht man, wenn beim Patienten körperliche genannten Symptomen als hysterisch bezeichnet.
Symptome im Vordergrund stehen, für die sich kei- Freud ging bei der genaueren Zuwendung zur Hys-
ne oder keine ausreichenden organischen Ursachen terie davon aus, dass die Symptome Ausdruck eines
finden lassen. Die Symptome werden jedoch keines- innerpsychischen Konfliktes sind (7 Psycho-Instan-
falls vom Patienten vorgetäuscht oder eingebildet. Es zen-Modell: zwischen dem Über-Ich und dem Es)
handelt sich um tatsächliche Beschwerden, die von die sich körperlichen Ausdruck suchen. So geht die
den Betroffenen als unangenehm, oft schmerzhaft Psychoanalyse davon aus, dass dieser Konflikt gefun-
und beeinträchtigend erlebt werden. den und bearbeitet werden muss, um die Symptome
zu verlieren.
Die Verhaltenstherapie hält die Symptome für
19.4.1 Definition und Klassifikation ein Mittel, das dem erkrankten Menschen indirekt
Vorteile verschafft, wie z. B. soziale Zuwendung.
Somatisierungsstörungen Aber auch das Umgehen von schwierigen oder un-
Menschen mit diesem Störungsbild leiden unter angenehmen Situation (z. B. am Arbeitsplatz oder in
vielfachen körperlichen Symptomen (Schmerz, Ma- zwischenmenschlichen Beziehungen) kann ein Vor-
gen-Darm-Funktionsstörungen, sexuelle Störun- teil sein, der durch das Auftreten körperlicher Be-
gen, neurologische Symptome), ohne erkennbare schwerden erzielt wird.
organische Grundlage. Sie sind oft davon überzeugt, Ein weiterer, kognitiver Erklärungsansatz be-
dass sie ein körperliches Problem haben, was einfach greift psychische Störungen mit körperlichem Aus-
nicht erkannt wird und alle Symptome erklären druck als eine besondere Form der Kommunikation.
kann. Nach dieser Auffassung drücken Menschen mit
Schwierigkeiten beim Erkennen und Ausdrücken
Hypochondrische Störung eigener Gefühle diese auf der körperlichen Ebene
19 Die an einer hypochondrischen Störung erkrankten aus, ohne dass ihnen das bewusst sein muss.
Personen deuten körperliche Empfindungen oder Die Therapie wird hier in der Regel psychothe-
Symptome unrealistisch und ängstlich als Zeichen rapeutisch ausgerichtet sein.
einer schweren, oft lebensbedrohlichen Erkrankung
(z. B. wird eine Erkältung als sicheres Zeichen für
Literatur
279 19
19.4.3 Pflegerisches Vorgehen Überprüfen Sie Ihr Wissen!
4 Wie werden Angststörungen klassifiziert? 7 Kap.
Die meisten Menschen, die mit einer dieser Störun- 19.1.1
gen in Behandlung kommen, haben die Erfahrung 4 Definieren Sie die Begriff »Zwangsgedanken«
gemacht, oft nicht ernst genommen worden zu sein. und »Zwangshandlungen«! 7 Kap. 19.2.1
Da sie in der Regel einen hohen Leidensdruck ha- 4 Beschreiben Sie kurz das pflegerische Vorge-
ben, ist es hier überaus wichtig, ihnen das Gefühl hen bei Belastungs- und Anpassungsstörungen!
zu geben, dass sie nicht abwertend oder belächelnd 7 Kap. 19.3.3
behandelt werden. 4 Was ist eine Neurasthenie? 7 Kap. 19.4.1
Im Verlauf der Behandlung sollte darauf hinge-
arbeitet werden, der Störung auf den Grund zu kom- Literatur
men und die bisherigen Lösungsversuche in den Comer RJ (2001) Klinische Psychologie. Spektrum, Heidelberg
Dilling H, Mombur W, Schmidt MH(Hrsg) (2004) ICD-10, Inter-
Hintergrund treten zu lassen. Hier ist es besonders
nationale Klassifikation psychischer Störungen, Klinisch-
wichtig, die körperlichen Symptome nicht durch ein diagnostische Leitlinien. Hans Huber, Bern
»Daraufeingehen« zu verstärken. Payk T (2003) Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie. Thie-
Die Betroffenen versuchen häufig, mit dem me- me, Stuttgart
dizinischen Personal ein Gespräch über die Schmer- Margraf J (Hrsg) (2000) Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Bd 1,
zen oder über die schwere Erkrankung, die nur noch 2. Springer, Berlin Heidelberg New York
American Psychiatric Association (1996) Diagnostisches und
nicht entdeckt ist, zu führen. Sinnvoll wäre es in
statistisches Manual psychischer Störungen (DSM-IV). Ho-
der Kommunikation, das Gespräch auf andere Din- grefe, Göttingen
ge zu lenken und nicht zu viel auf die körperlichen
Aspekte einzugehen.

Praxisbox
Auch wenn die Patienten nach Schmerzmitteln
oder anderen Medikamenten verlangen, ist es
wichtig, sich hier zurückzuhalten und Rückspra-
che mit den anderen Berufsgruppen zu halten.
Beispiel einer Kommunikation mit einem
Patienten mit Somatisierungsstörung: »Ich leide
wirklich unter sehr schlimmem Schwindel!«
Antwort: »Ich glaube ihnen, dass sie diese Be-
schwerden haben, ich habe aber eine andere
Vorstellung über deren Herkunft als sie.«

! Hier ist also die Balance zwischen ernst-


und annehmendem, und gleichzeitig nicht
verstärkendem Verhalten zu suchen!
20

20 Persönlichkeits-
und Verhaltensstörungen
Winfried Böhner, Martin Meyer

20.1 Verhaltensstörungen – 282


20.1.1 Essstörungen – 282
20.1.2 Schlafstörungen – 284
20.1.3 Sexualstörungen – 284

20.2 Paranoide Persönlichkeitsstörung – 285

20.3 Schizoide Persönlichkeitsstörung – 286

20.4 Zwanghafte Persönlichkeitsstörung – 286

20.5 Depressive Persönlichkeitsstörung – 286

20.6 Grundsätzliches zur Pflege bei Verhaltens-


und Persönlichkeitsstörungen – 287

Literatur – 288
282 Kapitel 20 · Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

) ) In Kürze 20.1 Verhaltensstörungen

In der Gruppe der Persönlichkeits- und Verhaltens- 20.1.1 Essstörungen


störungen findet sich eine Vielzahl von klinisch
wichtigen, oft lange anhaltenden Zustandsbildern Anorexia nervosa (ICD 10: F50.0)
und Erkrankungen, die auf das Leben des Betroffe- Bei der Magersucht liegt das Verhältnis Frauen zu
nen lange und erheblichen Einfluss haben können. Männern zwischen 10:1 und 13:1. Der Altersgipfel
Einige dieser Störungen treten als Folge von konsti- für das Erstauftreten der Symptomatik liegt zwi-
tutionellen Faktoren und sozialer Erfahrungen schen dem 10. und 25. Lebensjahr. Es kommt zu
schon früh im Laufe der Lebensgeschichte auf und einer erheblichen Gewichtsabnahme, 10 % der Pati-
verändern tief greifend die weitere Lebensentwick- enten versterben. Wir haben es also mit einer lebens-
lung. Obwohl sie an dieser Stelle in einem Kapitel bedrohlichen Erkrankung zu tun, die trotz aller me-
abgehandelt werden, sollte nicht der Eindruck ent- dizinischen und therapeutischen Maßnahmen oft
stehen, dass sie große Ähnlichkeiten miteinander nicht zu einer dauerhaften Heilung führt.
haben oder dass sie ähnliche Behandlungsansätze Als diagnostische Hinweise finden wir die Furcht
hätten. Auch werden wir hier nur einige wichtige vor dem Dickwerden, die auch bei Gewichtsverlust
Krankheitsbilder streifen können. nicht nachlässt. Diese Patienten können vor einem
Spiegel stehen oder mit einer Waage konfrontiert
Wissensinhalte werden, nehmen sich immer noch als zu dick wahr.
Nach der Lektüre dieses Kapitels kennen Sie: Es ist nicht einfach nur Sturheit, sondern hat eher
7 wichtige Probleme von Essstörungen und schon wahnhaften Charakter. Gewichtsverluste von
Grundlegendes zum pflegerischen Umgang mit 25 % unter dem ursprünglichen Körpergewicht sind
diesen Patienten nicht selten, als diagnostisches Kriterium gilt ein
7 Wichtiges zum Umgang mit Schlafstörungen Körpergewicht von 15 % unter dem für das Alter
7 Probleme der Sexualstörungen und die Körpergröße erwarteten Gewicht. Es liegen
7 die wichtigsten Merkmale und Probleme von umfassende endokrine Störungen der Achse Hypo-
Persönlichkeitsstörungen und entsprechende thalamus-Hypophyse-Gonaden vor; bei Frauen folgt
pflegerische Interventionen daraus Amenorrhö, bei Männern Interessenverlust
7 Grundlegendes zum pflegerischen Umgang mit an Sexualität und evtl. Potenzverlust.
Persönlichkeitsstörungen Die Patienten betreiben in hohem Maße selbst-
schädigendes Verhalten. Um das Gewicht zu senken,
Vorbemerkung beschränken sie sich auf fettarme Nahrung, selbst
Von Persönlichkeitsstörungen spricht man, wenn herbeigeführtes Erbrechen (teilweise mit Manipula-
eine Persönlichkeitsstruktur so ausgeprägt vorliegt, tionen im hinteren Rachenbereich, die zu deutlichen
dass sich hieraus ernsthaftes Leiden für die Person Wunden führen), aber auch Appetitzügler und Di-
oder seine Umgebung ergeben. Persönlichkeitsstö- uretika sind häufig eingenommene Mittel.
rungen sind keine absoluten Größen sondern im- Im Kontakt kommt es zu teils recht heftigen Re-
mer abhängig von Zeit und Lebensumständen des aktionen. Die Unerbittlichkeit, mit der die Patienten
Betreffenden, so wird eine selbstunsichere Persön- jedes Therapieangebot unterlaufen oder scheinbar
lichkeit vielleicht erst dann auffällig erkranken, gegen besseres Wissen handeln, sich dabei in real
wenn ein haltgebendes Element, das Elternhaus lebensbedrohliche Situationen bringen, führt häufig
oder ein Partner nicht mehr zur Verfügung stehen. zu Gewaltmaßnahmen. Hier kann das manchmal
Der Begriff der Persönlichkeitsstörung entwickelte notwendige Legen einer Magensonde zu einem ag-
sich aus den psychiatrischen Psychopathiekonzep- gressiven Akt des behandelnden Teams werden.
ten, wovon auch die Vielzahl der Begriffe noch
zeugt: z. B. schizotype, antisoziale, hystrionische, ! Gerade bei häufigem Kontakt mit diesen Pati-
20 narzisstische, dependente oder Borderline-Persön- enten sollte an eine regelmäßige Supervision
lichkeitsstruktur. gedacht werden.
20.1 · Verhaltensstörungen
283 20

Die Behandlung wird heute meist in einem statio- modelle mit Regressionen auf eine orale Stufe
nären Setting begonnen – hier ist Methodenviel- oder Ablösungsproblematiken etc.
falt gefragt, rein somatische oder rein psychothera- 4 Systemische Familienansätze gehen von Aspek-
peutische Konzepte sind nicht ausreichend. Nach ten, wie Einmischung und Überprotektion aus,
stationärer Behandlung sind weitere therapeutische und nicht zuletzt verweisen soziokulturelle An-
Interventionen und Unterstützungen z. B. in Selbst- sätze auf den Einfluss der Darstellung von Weib-
hilfegruppen notwendig. Rückfälle müssen einge- lichkeit in den Medien. (Wie viel wiegt eigentlich
plant werden. ein Topmodell?)

Bulimie (ICD 10: F50.2) Pflege bei Essstörungen


Die Bulimie ist gekennzeichnet durch wiederholte Das schrittweise Heranführen an neue Essgewohn-
Anfälle von Heißhunger mit Fressattacken, in denen heiten gelingt nur über die Herbeiführung einer
große Mengen von Nahrung in kurzer Zeit konsu- Krankheitseinsicht. Dies sollte der zugrunde liegen-
miert werden (diagnostisch: in einem Zeitraum von de Gedanke pflegerischen Handelns sein. Dazu
3 Monaten mindestens 2-mal pro Woche). Es besteht notwendig ist der vorsichtige Aufbau einer Atmos-
eine dauernde Beschäftigung mit dem Essen, die Pa- phäre des Vertrauens und des Angenommenseins.
tienten beschreiben eine nicht kontrollierbare Gier Erschwert wird dies durch die Bestrebungen der
oder sogar einen Zwang zu essen. Das Gewicht ist Patienten, sich vordergründig anzupassen. Wichtig
meist normal, wird aber auch mit folgenden Verhal- ist es, die angepasste Fassade von Beginn an zu hin-
tensweisen gesteuert: terfragen und die pathologische Struktur zu er-
4 selbstinduziertes Erbrechen, kennen.
4 Missbrauch von Abführmitteln,
! Entscheidend für Pflegende ist es, sich vor
4 zeitweilige Hungerperioden,
den Versuchen der Vereinnahmung zu schüt-
4 Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsen-
zen. Hilfreich dabei ist eine professionelle
präparaten oder Diuretika.
Haltung mit einem ausgewogenen Nähe-
Distanz-Verhalten.
Die Bulimie wird von den Patienten oft verborgen.
Fälle, in denen die Patienten über Jahre ihr Erbro- In allen Phasen sind überwachende Tätigkeiten not-
chenes fein säuberlich in Tüten abfüllen und dann wendig. Hierzu gehören regelmäßige Kontrollen
heimlich außerhalb der Wohnung entsorgen sind des Körpergewichts, des Verschwindenlassens von
keine Seltenheit. Diagnostisch fallen sie oft erst auf, Nahrung, des Erbrechens nach den Mahlzeiten und
wenn sie z. B. durch ihre speziellen Maßnahmen der das Beschränken verschiedener Handlungen, die
Gewichtskontrolle Elektrolytstörungen verursachen. der weiteren Gewichtsreduktion dienen (exzessiver
Im Gegensatz zu den anorektischen Patientinnen Sport, bewusstes Frieren durch zu dünne Kleidung).
sind sie oft sehr attraktiv, verhalten sich angepasst, Auf der Einhaltung von vereinbarten Regeln muss
freundlich, scheinbar hat man schnell einen guten konsequent bestanden werden. Die Beziehungsge-
Kontakt zu ihnen. Das führt dazu, dass man sie oft staltung ist wohlwollend, die pathologische Struktur
als gesunder und »geheilter« einschätzt als sie eigent- verstehend und niemals moralisierend.
lich sind. Weitere pflegerische Maßnahmen sind:
Die Konzepte zur Erklärung von Essstörungen 4 Unterstützung von Esstraining nach zuvor er-
sind vielfältig: arbeiteten Plänen,
4 Organomedizinisch werden gestörte hypothala- 4 Unterstützung bei der Führung eines Ernäh-
misch-hypophysäre Regelkreismechanismen an- rungstagebuchs,
genommen oder Transmitterstörungen, die mit 4 Ernährungsberatung,
Depressionsmodellen in Verbindung zu bringen 4 Bearbeitung der Körperschemastörung,
sind. 4 Bearbeitung von Ängsten.
4 Lerntheoretisch werden Suchtmodelle disku-
tiert, psychoanalytisch Trieb- Abwehr-Konflikt-
284 Kapitel 20 · Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

20.1.2 Schlafstörungen Pflege bei Schlafstörungen


Eine wichtige Aufgabe ist es, auf eine angemessene
Im ICD 10 werden Schlafstörungen mit organischer – sprich – gelassenere Haltung des Patienten bezüg-
Ursache (G47.9 bis G47.9) von nichtorganischen lich seines Schlafverhaltens hinzuarbeiten. Hierzu
Schlafstörungen (F51.0 bis F51.9) abgegrenzt. Bei den ist es notwendig, die oftmals bestehenden, unrealis-
nichtorganischen Schlafstörungen, die im psychiatri- tischen Vorstellungen über Dauer und Qualität des
schen Bereich eine große Bedeutung haben, ist fast Schlafes zu korrigieren. Der subjektiven Wahrneh-
immer ein Zusammenhang zu einer anderen psychi- mung der Schlafstörung und des Ausmaßes der er-
schen Störung herzustellen oder andere Arten von lebten Beeinträchtigungen tagsüber gilt dabei das
Belastungen, ein Trauma, mannigfaltige Anforderun- besondere Augenmerk.
gen, denen der Betreffende meint, nicht mehr begeg- Weiter Pflegerische Interventionen sind:
nen zu können. In diesen Zusammenhängen findet 4 vermehrte Tagesaktivitäten,
dann eine Fixierung auf den Schlaf statt. Je deutlicher 4 Möglichkeiten der emotionalen Entlastung
ich aber davon ausgehe, dass ich schlafen muss, umso schaffen,
geringer ist meine Chance. Anders ausgedrückt, das 4 Unterstützung bei der Entwicklung von Ein-
beste Mittel nicht einzuschlafen besteht darin, sich schlafritualen,
den Schlaf sehnlichst herbeizuwünschen. 4 schlafgerechte Umgebung schaffen,
4 Wohlbefinden herstellen.
! Der Einsatz von Tranquilizern aus der Gruppe
der Benzodiazepine tut dann oft noch ein Üb-
riges. Nach dem Absetzen kommt es häufig zu 20.1.3 Sexualstörungen
einer Steigerung der Schlafstörung; wenn die
Patienten darauf nicht vorbereitet sind, grei-
Sexuelle Funktionsstörungen beeinträchtigen eine
fen sie oft erneut zu diesen Mitteln.
erwünschte sexuelle Beziehung. Die sexuellen Reak-
Die Behandlung besteht in der Therapie der Grund- tionen sind psychosomatische Prozesse, d. h. bei
krankheit bzw. in der Entwicklung neuer Routinen der Entstehung der Störung sind meist psychologi-
und Schlafrituale. Dazu gehören v. a.: sche und somatische Prozesse beteiligt:
4 Möglichst jeden Abend zur gleichen Zeit ins Bett 4 der Mangel oder der Verlust von sexuellem Ver-
gehen. Das morgendliche Aufstehen sollte – un- langen (F52.0), in diesen Bereich gehört auch der
abhängig vom Zeitpunkt des Einschlafens oder Begriff Frigidität,
der Qualität des Schlafes – immer zur gleichen 4 sexuelle Aversion und mangelnde sexuelle Be-
Zeit geschehen. friedigung,
4 Koffein und Alkohol müssen vermieden werden 4 Versagen genitaler Reaktionen: bei Männern ein
(Alkohol hilft zwar beim Einschlafen, führt aber Ausbleiben oder eine mangelnde Erektion, die
zu Durchschlafstörungen). für einen Geschlechtsverkehr nicht ausreicht; bei
4 Die Raumtemperatur sollte – je nach Bettdecke Frauen ein »Ausbleiben der vaginalen Lubrikati-
und Schlafkleidung – bei 16 bis 18 C ° liegen. on mit einer ungenügenden Tumeszenz der La-
4 Der Wecker sollte so gestellt werden, dass er bien«, also ein Ausbleiben der Feuchtigkeit in
nicht gesehen werden kann. der Vagina und ein Nichtanschwellen der Scham-
4 Wenn über längere Zeit nicht eingeschlafen wer- lippen.
den kann (nach ca. 30 Minuten, das kann man
auch ohne Wecker schätzen), sollte das Bett ver- In beiden Fällen ist oft von einer hohen Anspannung
lassen werden. Die Beschäftigung mit anderen der Beteiligten auszugehen. Männer wie Frauen ha-
Dingen ist dann ratsam (lesen, schreiben, kein ben so hohe Ansprüche an die Qualität ihrer sexuel-
Fernsehen!), bis Müdigkeit eintritt. len Fähigkeiten, dass schon kleine Störungen zu
4 Entspannungsübungen, Baldrianpräparate, evtl. Versagensgefühlen mit den entsprechenden Reak-
20 trizyklische Antidepressiva sind andere Ansatz- tionen führen können. Erschwerend kommt hinzu,
möglichkeiten. wie unangenehm es den meisten von uns ist, sich mit
20.2 · Paranoide Persönlichkeitsstörung
285 20

dieser Thematik auseinanderzusetzen. Machen Sie Diese muss auf vertrauensvollem Fundament stehen
nur einem Moment mal den inneren Versuch und und dem Patienten ermöglichen, sich dem Thema zu
stellen sich vor, sie sprechen mit einem guten Freund öffnen. In einem ersten Schritt wird dem Patienten
oder Freundin über ein »Versagen« im Bett – schon die Bereitschaft vermittelt, über seine Störung zu
der Gedanke macht ein schamhaftes Gefühl. Wie sprechen. Entscheidend dabei ist die Akzeptanz des
viel schlimmer und wie viel mehr an innerer Ver- Problems seitens des Behandlungsteams. In einem
zweifelung muss im Spiel sein, bevor sich ein Patient zweiten Schritt besteht die Möglichkeit, dem Patien-
einem Arzt oder Therapeuten anvertraut! ten grundlegende Informationen über das Thema
Beispiele für Sexualstörungen sind: zu vermitteln.
4 Orgasmusstörung (F52.3): der Orgasmus tritt
! Von hoher Wichtigkeit ist die Gewährleistung
nie oder stark verzögert auf.
eines vertraulichen Umgangs mit den Ge-
4 Ejaculatio praecox (F52.4): Unfähigkeit, den Er-
sprächsinhalten seitens der Bezugspflege-
guss ausreichend lange hinauszuzögern, um das
person.
sexuelle Zusammensein genießen zu können.
Zur Ejakulation kommt es in diesen Fällen schon
vor oder innerhalb von 15 Sekunden nach dem
Eindringen, und das immer wieder und nicht als 20.2 Paranoide
Folge langer sexueller Enthaltsamkeit. Persönlichkeitsstörung
4 Vaginismus (F52.5): Spasmus der die Vagina
umgebenden Beckenbodenmuskulatur, wo- Patienten mit einer paranoiden Persönlichkeitsstö-
durch das Eindringen des Penis unmöglich oder rung sind empfindlich gegenüber Ablehnung, Miss-
schmerzhaft wird. Die Geschichte, die immer erfolg oder anderen kleinen Ereignissen. Sie neigen
wieder berichtet wird, über ein so ausgeprägten dazu, schicksalhafte Ereignisse persönlich zu neh-
Vaginismus, dass ein Entfernen des Penis un- men und als gegen sich gerichtet zu betrachten. Da-
möglich sei, gehört unseres Erachtens in den rauf reagieren sie mit hilfloser Resignation oder mit
Bereich der sexuellen Mythen – und davon gibt kämpferischer Wut. Dabei kann ein kleiner Anlass
es viele. zu einem heftigen Streit eskalieren; der mögliche
4 Dyspareunie (F52.6): Schmerzen während des Gewinn steht dabei in keinem Verhältnis mehr zum
Sexualverkehrs; tritt sowohl bei Frauen als auch betriebenen Aufwand. Nachbarschaftsstreitigkeiten,
bei Männern auf, organisch können lokale krank- die in diversen Fernsehsendungen begeistert ausge-
hafte Befunde vorliegen, die dann somatisch be- breitet werden, entstammen oft dem Zusammen-
handelt werden müssen. treffen einer oder mehrer Menschen mit dieser Stö-
rung. Ausgangspunkt ist dabei immer das Gefühl
Pflege bei Sexualstörungen der Kränkung.
Das Thema Sexualität ist ein sensibles Thema, bei
dem sowohl auf Seiten der Patienten als auch auf der Pflege bei paranoider Persönlichkeits-
der Pflegenden Tabuisierungen und Ängste existie- störung
ren. Dies trifft im besonderen Maße auf Störungen in Es ist wenig angebracht, sich bei Verdächtigungen zu
diesem Bereich zu. Dennoch ist Sexualität ein wesent- rechtfertigen. Jeder Versuch, seine Unschuld zu be-
licher Bestandteil der menschlichen Gesundheit. weisen, unterstützt das störungsspezifische Verhal-
Das Einbeziehen sexueller Störungen in den ten. Das Einlassen auf einen Streit führt zu einem
Pflegeprozess geschieht dann, wenn diese zu einem Verlust an professioneller Distanz und gefährdet da-
Problem werden. Entweder derart, dass der Patient mit die Helferrolle. Von entscheidender Bedeutung
Leidensdruck und Besorgnis äußert oder seine Um- ist ein sensibel austariertes Verhältnis von Nähe und
welt in Mitleidenschaft zieht, ohne dass der Patient Distanz. Der professionelle Umgang mit der para-
dies für sich selber als Problem erkennt. noid geprägten Wahrnehmungsverzerrung gelingt
Ein wesentlicher Anteil des Umgangs mit betrof- nur über eine gleich bleibend gelassene Grundhal-
fenen Patienten liegt in der Beziehungsgestaltung. tung der Pflegenden.
286 Kapitel 20 · Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

Die Grundtendenz der Beziehungsgestaltung ist 20.4 Zwanghafte


davon bestimmt, der Wahrnehmung des Patienten Persönlichkeitsstörung
das eigene Erleben gegenüber zu setzen.
Zwanghafte Persönlichkeiten sind in ihren Lebens-
! Zwingend notwendig sind ein funktionieren-
bereichen übergenau, penibel, pedantisch usw. Sie
der Informationsfluss im Pflegeteam und der
verfolgen einen Tagesablauf mit genauester Minu-
permanente Austausch mit anderen Berufs-
teneinteilung; die Kaffeetasse, der Löffel, sogar der
gruppen.
Mülleimer, alles muss an seinem Platz sein. Kontrol-
le dient als Gegenmittel gegen jeden Hauch von Un-
ordnung. Psychisch sind diese Menschen oft ausge-
20.3 Schizoide Persönlichkeits- prägte Gewissensmenschen, eine »Notlüge« kann zu
störung tagelangen Gewissensbissen führen. In stärkerer
Ausprägung besteht das Leben nur noch aus Routi-
Schizoid hat nichts mit Schizophrenie zu tun, und nen, der Übergang zur Zwangsneurose ist dabei flie-
auch die Wahrscheinlichkeit einer schizophrenen ßend. Die Not dieser Menschen ist oft auf den ersten
Erkrankung bei Menschen mit einer schizoiden Blick nicht erkennbar, man neigt zur Abgrenzung
Persönlichkleitsstörung ist nicht höher als in der oder dazu, sich über sie lustig zu machen – auch ma-
Normalbevölkerung. Schizoiden Patienten fällt es chen sie es einem in ihrer peniblen Art nicht gerade
schwer, einen guten Kontakt zu ihrer Umwelt herzu- leicht, sich mit ihnen zu beschäftigen.
stellen, sie wirken eigenbrötlerisch, seltsam, oft ver-
schroben. In einem Gespräch gelingt es selten, einen Pflege bei zwanghafter Persönlichkeits-
wirklichen Kontakt zu ihnen herzustellen. Sie blei- störung
ben wenig greifbar, wie hinter einer Milchglasschei- Für das Team ist eines der wichtigsten Gebote bei
be versteckt. diesen Patienten, selber auf das peinliche Einhalten
Verständlicherweise zeigen sich so auch ihre der Stationsregeln zu achten. Unvorhergesehene Än-
Probleme meist in den sozialen Beziehungen, über- derungen im üblichen Tagesablauf müssen dem Pa-
durchschnittlich häufig kommt es zum Scheitern tienten frühzeitig mitgeteilt werden. Ihm wird damit
von Partnerbeziehungen oder zu Konflikten am Ar- ein Milieu geboten, in dem er sich mit dem Gefühl
beitsplatz. der Sicherheit und des Aufgehobenseins bewegen
kann. Dies erleichtert die Kontaktaufnahme zum
Pflege bei schizoider Persönlichkeits- Patienten. Gesprächsinhalte betreffen die Wahrneh-
störung mung der eigenen Gefühle und die anderer Men-
Die Herstellung des Kontaktes und der Aufbau einer schen. Auseinandersetzungen, die sich inhaltlich im
den Möglichkeiten des schizoiden Patienten ent- zwanghaften System des Patienten befinden, sind
sprechenden tragfähigen Beziehung ist wichtigstes wenig sinnvoll. Die Rigidität des Patienten lässt we-
pflegerisches Mittel. Notwendig dabei ist es, den Af- nig Spielraum zu. Ein Beharren auf der eigenen Po-
fekt der Gefühllosigkeit als einen Abwehrmechanis- sition endet in der Regel als Machtkampf. Sinnvoll ist
mus des Patienten zu verstehen. Das Bedürfnis nach es Kompromisslösungen zu finden.
Distanz muss respektiert werden. Es ist wenig sinn-
voll, mit persönlicher Kränkung darauf zu reagieren.
Es gilt, Kälte und Unnahbarkeit auszuhalten ohne 20.5 Depressive
diese zu erwidern. Einen Weg aus der Isolation fin- Persönlichkeitsstörung
det der Patient in einer Struktur der Klarheit und
Offenheit. Die Gestaltung der Beziehung ist geprägt Depressive Persönlichkeit hat nichts mit einer De-
von einer freundlichen Atmosphäre und einem auf pression zu tun, auch wenn die verwendeten Begriff-
gleich bleibende Distanz achtenden Verhalten. lichkeiten im klinischen Sprachgebrauch leicht ver-
20 schwimmen. Depressive Persönlichkeiten sind still,
zurückhaltend, stellen eigene Wünsche und Ansprü-
20.6 · Grundsätzliches zur Pflege bei Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
287 20

che – auch berechtige – hinter anderen zurück. Sie Durch ihre zentrale Position im Behandlungsteam
können sich oft schlecht abgrenzen oder deutlich und der damit verbundenen speziellen Nähe zum
ihre Wünsche artikulieren. Werden sie enttäuscht Patienten sind Pflegekräfte die Berufsgruppe, welche
oder verlieren sie ihre Geborgenheit vermittelnde am meisten zur Effektivität einer stationären Be-
Umgebung, wie Arbeitsplatz, Ehrenamt oder Part- handlung beiträgt bzw. am meisten zum Misslingen
ner, kommt es oft zum Ausbruch der Erkrankung. beitragen kann. Gleichzeitig sind Pflegekräfte am
Hier stehen auch körperliche Beschwerden im Vor- stärksten emotional belastet.
dergrund, oft sind Somatisierungsstörungen auf der Die pflegerische Beziehung ist geprägt von ei-
Grundlage einer depressiven Persönlichkeitsent- nem Balanceakt zwischen wohlwollend unterstüt-
wicklung zu verstehen. zender und fordernder Haltung, zwischen Drängen
auf Veränderung und Hilfe bei der Akzeptanz von
Pflege bei depressiver Persönlichkeits- Bedürftigkeit. Das Pflegeteam hält die Waage zwi-
störung schen Veränderung und Fürsorge.
Problematisch für die Beziehungsgestaltung ist, dass
! Allzu rigide Kontrollbedürfnisse oder der
Patienten mit einer depressiven Persönlichkeitsstö-
Vorwurf der Behandlungsunwilligkeit sind
rung im Stationsalltag oft nicht wahrgenommen wer-
ein Ausdruck für die Unter- oder Überschät-
den. Sie verschwinden hinter Patienten, die in ihrem
zung der Kompetenz und willensgesteuerten
Verhalten mehr Aufmerksamkeit fordern oder bin-
Handlungsfähigkeit des Patienten. Beides
den. Für die Pflege ist es wichtig, sich diesen Patien-
führt zu einer Gefährdung der Balance und
ten bewusst zuzuwenden. Schwierig für die Bezie-
damit möglicherweise zu einer Verstärkung
hungsgestaltung ist die Angst des Patienten vor Nähe.
des gestörten Verhaltens oder zu Therapie-
Ein wärmendes auf ein gleich bleibendes Verhältnis
abbrüchen.
von Nähe und Distanz achtendes Verhalten ist hier
sehr hilfreich. Im Fokus der Gespräche stehen die
Bedürfnisse des Patienten und das Entwickeln der Pflegerische Aufgaben
Fähigkeit diese zu äußern. Besondere Beachtung ist Von zentraler Bedeutung ist die Gestaltung einer
den Abgrenzungsschwierigkeiten des Patienten ge- pflegerischen Beziehung. Sinnvoll dafür ist die Zu-
widmet. Die Tendenz dazu, sich Aufgaben übertra- ordnung einer Bezugspflegekraft. Sie ist Hauptan-
gen zu lassen und sich für andere aufzuopfern, bedarf sprechpartner sowohl für den Patienten als auch
besonderer Beachtung. Der Patient benötigt an dieser für den Therapeuten. Die Kontakte zum Patienten
Stelle die Unterstützung der Pflege. Eine Gegensteu- finden über strukturierte Einzelgespräche statt,
erung ist oft erforderlich. Sinnvoll ist auch das Ein- die 1- bis 2-mal pro Woche erfolgen und auf max.
binden in Gruppenaktivitäten. Das Vertreten eigener 60 Minuten begrenzt sein sollten.
Interessen kann in Form von Rollenspielen oder the- Die Struktur der Beziehungsgestaltung sollte in
menzentrierten Gruppen eingeübt werden. 3 Phasen gegliedert sein:
4 In der Anfangsphase ist die Zielsetzung der Ge-
spräche die Klärung der Stationsregeln und Un-
20.6 Grundsätzliches zur Pflege terstützung bei der Orientierung hinsichtlich
bei Persönlichkeits- und Ablauf und Zielsetzung der Therapie.
Verhaltensstörungen 4 In der Hauptphase steht das in der Therapie Er-
arbeitete im Vordergrund. Hier geht es um das
Pflegerische Grundhaltung Trainieren von Fähigkeiten und deren Umset-
zung in die Alltagspraxis. Der Patient erfährt
! Der Patient ist mündiger Partner mit einem Unterstützung bei der Umsetzung des in der
spezifischen Problem. Die Pflegekraft ist Therapie Vermittelten. Die Absprache mit dem
Experte mit der vorrangigen Aufgabe, die Therapeuten ist dabei von unbedingter Notwen-
Patienten darin zu unterstützen, Verände- digkeit. Über die vereinbarten Einzelkontakte
rungsprozesse in die Wege zu leiten. hinaus steht die Bezugspflegekraft bei Krisen zur
288 Kapitel 20 · Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

Verfügung. Von hoher Bedeutung ist es, den


Patienten dahin zu führen, Krisen im Sinne mit
den bereits Erlernten Mitteln zu bewältigen.
4 In der Endphase steht die Vorbereitung und Pla-
nung der Entlassung im Vordergrund. Aufgabe
ist es, Ängste zu bearbeiten, Belastungserpro-
bungen vor- und nachzubereiten oder besondere
Probleme z. B. bei arbeitstherapeutischen Maß-
nahmen zu besprechen.

Das Angebot stützender, helfender Gespräche ist


eingebunden in ein System von tagesstrukturieren-
den Maßnahmen, Gruppenangeboten und dem üb-
rigen therapeutischen Programm. Das Funktionie-
ren einer guten interdisziplinären Teamarbeit ist für
das Initialisieren eines Veränderungsprozesses un-
erlässlich.

Überprüfen Sie Ihr Wissen!


4 Mit welchen Verhaltensweisen steuern an einer
Bulimie Erkrankte ihr Gewicht? 7 Kap. 20.1.1
4 Mit Hilfe welcher pflegerischen Interventionen
kann man Patienten mit einer Schlafstörung
positiv unterstützen? 7 Kap. 20.1.2
4 Nennen sie einige Sexualstörungen! 7 Kap. 20.1.3
4 Auf was ist im Umgang mit einer paranoiden Per-
sönlichkeitsstörung hinsichtlich Anschuldigun-
gen seitens des Patienten zu achten? 7 Kap. 20.2
4 Was ist das Problematische an der Beziehungs-
gestaltung mit Patienten, die an einer depressi-
ven Persönlichkeitsstörung leiden? 7 Kap. 20.5
4 Nennen Sie die 3 Phasen, in welche die Struktur
einer Beziehungsgestaltung mit Persönlichkeits-
gestörten gegliedert ist! 7 Kap. 20.6

Literatur
Dulz B, Schneider A (1997) Borderline-Störungen Theorie und
Therapie. Schattauer, Stuttgart
Dulz B, Bolm T, Thomasius R (2002) Stationäre Therapie von Bor-
derline Patienten. In: Kernberg OF, Dulz B, Sachsse T (Hrsg)
PTT Persönlichkeitsstörungen, Bd 1: Das Borderline-spezi-
fische therapeutische Setting. Schattauer, Stuttgart
Kernberg OF (2000) Schwere Persönlichkeitsstörungen. Klett-
Cotta, Stuttgart
Sauter D, Abderhalden C, Needham I, Wolff S et al (Hrsg) (2004)
Lehrbuch psychiatrische Pflege. Hans Huber, Bern

20
21

21 Affektive Störungen
Winfried Böhner, Martin Meyer

21.1 Depression – 290


21.1.1 Therapie – 291
21.1.2 Pflege bei Depressionen – 291

21.2 Manie – 293


21.2.1 Therapie – 294
21.2.2 Pflege bei Manie – 294

Literatur – 295
290 Kapitel 21 · Affektive Störungen

) ) In Kürze mit Transmitterstörungen im Gehirn zu erklären


21 sind.
Dauerhafte Müdigkeit und Erschöpfung kennzeich- In den diagnostischen Klassifikationen, wie z. B.
nen die Situation des Depressiven, und auch das dem in Deutschland überwiegend benutzten ICD 10,
Gefühl, jeglicher Energie und Willenskraft beraubt spielt das heute keine große Rolle mehr, es wird le-
zu sein. Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, ein feh- diglich darauf hingewiesen, dass der Beginn der
lendes Selbstwertgefühl und völlige Leere nehmen meisten Episoden mit belastenden Ereignissen oder
den depressiven Menschen in Besitz. Gleichzeitig Situationen in Zusammenhang zu bringen ist, ohne
geht das Interesse und die Freude an allen Aktivitä- hier weiter Ursachenforschung zu betreiben. Unter-
ten des täglichen Lebens verloren. Dieses Gefühl schiedliche Erklärungsansätze werden dann von den
der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit kann so neurobiologischen Schulen der Psychiatrie, den tie-
stark ausgeprägt sein, dass es zu Selbsttötungsab- fenpsychologischen Schulen oder den verhaltens-
sichten kommt. therapeutischen Ansätzen geliefert.
Die Manie stellt das exakte Gegenteil dar. Mani- Dementsprechend entwickelt sich daraus auch
sche Patienten haben eine gehobene Stimmung. die weitere Behandlung, einem schwer depressiven
Sie erscheinen uns grundlos heiter und ausgelassen. Patienten ist sicherlich nicht mit einer reinen psy-
Manchmal aber auch gereizt, aggressiv bis hin zur chotherapeutischen Behandlung zu helfen, ebenso
Angriffsbereitschaft. Insbesondere dann, wenn wir wenig wie eine rein medikamentöse Behandlung
darum bemüht sind, ihnen Grenzen zu setzen. Die ohne ausführliche Anamnese empfohlen werden
Patienten strahlen eine Energie ab, die sich zügel- kann. Wichtig ist auch immer eine ausführliche
und ziellos in alle Richtungen ausbreitet. Dem Be- körperliche Untersuchung, da auch diverse organi-
handlungsteam fällt es schwer, der Umgebung und sche Erkrankungen affektive Symptome auslösen
dem Maniker selber Schutz zu bieten. können.
Beide Störungsbilder erzeugen sehr oft das Die Einteilung der affektiven Störungen liegt
Gefühl von Hilflosigkeit. Pflegende schwanken zwi- zwischen den beiden Polen der Manie und der De-
schen Mitleid, ohnmächtigem Danebenstehen und pression. Es gibt reine Formen der Manie oder der
Aggression. Depression, es gibt aber auch immer wieder auftre-
tende Episoden, bei denen die Patienten von geho-
Wissensinhalte bener zu gedrückter Stimmung wechseln. Es können
Nach der Lektüre dieses Kapitels kennen Sie: einzelne Episoden mit psychotischem Erleben auf-
7 Definitionen der Störungen des Gefühlslebens treten oder es können sich auch anhaltende Stim-
7 das Wesen von Depressionen und Manien mungsstörungen entwickeln, die jahrelang den
7 die Besonderheiten in der Behandlung dieser größten Teil des erwachsenen Lebens bestehen und
Störungen beträchtliches Leid und Beeinträchtigung mit sich
7 wichtige pflegerische Interventionen bei mani- bringen können.
schen und depressiven Erkrankungen Am Beispiel der Manie und der Depression sol-
7 Wichtiges zum Umgang mit Suizidalität len hier die extremen Pole der affektiven Störungen
beispielhaft erläutert werden.
Vorbemerkung
Bei der Gruppe der affektiven Störungen liegen Ver-
änderungen der Stimmung und der Affekte vor, 21.1 Depression
entweder hin zur gedrückten Stimmung, der De-
pression, oder hin zur gehobenen, überschäumen- Depression beschreibt zunächst nur eine gedrückte
den Stimmung, der Manie. Noch bis vor einigen Stimmung. Im allgemeinen Sprachgebrauch benut-
Jahren wurde eine heftige Diskussion darüber ge- zen die Patienten dieses Wort, um Trauer, Melan-
führt, ob eine solche Störung lebensgeschichtlich, cholie oder einen Verlust zu beschreiben. Depressi-
durch einen inneren Konflikt oder erlerntes Verhal- on in diesem Sinne ist die für uns nachvollziehbare
ten entstehen könnte oder ob diese Erkrankungen Trauer z. B. beim Verlust eines Angehörigen. Stüt-
21.1 · Depression
291 21

zung und das Einfühlen in das Gegenüber helfen 4 objektivierter Befund einer psychomotorischen
üblicherweise dabei, den Verlust zu verarbeiten und Hemmung oder Agitiertheit (von anderen be-
führen dann auch zum Abklingen der Beschwerden. merkt oder berichtet),
Ist die Trauer übermäßig verlängert, von überstar- 4 deutlicher Appetitverlust,
ker Intensität oder treten zusätzliche körperliche 4 Gewichtsverlust (5 % oder mehr des Körperge-
Beschwerden auf, kann nach der Lehrmeinung der wichts im vergangenen Monat),
tiefenpsychologischen Schulen von einem unbewäl- 4 deutlicher Libidoverlust.
tigten Konflikt ausgegangen werden. Weitere Stich-
worte, die in diesem Zusammenhang oft benutzt
werden, sind: depressive Neurose, reaktive Depres- 21.1.1 Therapie
sion, depressive Reaktion oder auch depressive Kon-
fliktreaktion. Die medikamentöse Behandlung erfolgt mit der
Davon abzugrenzen ist die Art von Depressio- Substanzgruppe der Antidepressiva, hier sind die
nen, die in älteren Lehrbüchern oft auch als endoge- klassischen tri- und tetrazyklischen Antidepressiva
ne, von innen kommende Depressionen bezeichnet zu erwähnen oder auch die neueren Substanzgrup-
werden. Der Patient ist gedrückt bei einer Vermin- pen, die SSRI (Selektive Serotonin Wiederaufnah-
derung des Antriebs und überhaupt bereitet ihm jeg- mehemmer). Die anfangs hohen Erwartungen an
liche Aktivität Mühe. Ausgeprägte Müdigkeit und die bessere antidepressive Wirksamkeit haben sich
Erschöpfungsgefühle schon nach der kleinsten An- nicht in dem erwarteten Ausmaß erfüllt, der Vorteil
strengung sind vorhanden. Trotz der Müdigkeit fin- ist ein anderes Nebenwirkungsprofil, das sich gera-
den die Betroffenen keinen Schlaf oder werden de bei älteren Patienten als günstig erwiesen hat.
schon nach wenigen Stunden wieder wach. Dinge Parallel zur medikamentösen Behandlung sind
oder Tätigkeiten, die sonst Freude gemacht haben, Gruppentherapieansätze, die die Eigenständigkeit
lösen jetzt nichts mehr aus; ein typischer Satz in die- des Patienten betonen und fördern, als sehr hilfreich
sem Zusammenhang ist: »Ich fühle gar nichts mehr!« beschrieben worden. Einzeltherapeutische Ansätze
Schon bei leichteren Formen der Depression ist das sind abhängig von den dahinter stehenden The-
Selbstvertrauen, das Selbstwertgefühl beeinträch- rapiekonzepten (Verhaltenstherapie: Stichwort »er-
tigt, hinzu kommen Schuldgefühle, Gedanken der lernte Hilflosigkeit« oder tiefenpsychologische Ver-
Wertlosigkeit, für niemanden eine Wichtigkeit zu fahren: Stichwort »Arbeit am unbewussten Kon-
haben. Diese Stimmung ändert sich über die Tage flikt«) und können dementsprechend auch nur
wenig. schwer beurteilt werden. In den letzten Jahren ist
Zusätzlich findet man auch oft das sog. somati- bei schweren Fällen auch die Elektrokrampfthera-
sche Syndrom; in anderen Klassifikationen werden pie wieder verstärkt in die Diskussion gekommen,
auch Begriffe, wie endogenomorph, vital, biologisch bei therapieresistenten Verläufen wurden hierbei
oder melancholisch gebraucht. gute Ergebnisse beschrieben.
Der ICD 10 klassifiziert diesen Begriff beim Vor-
liegen von mindestens 4 der folgenden Symptome.
21.1.2 Pflege bei Depressionen
Somatisches Syndrom
4 Deutlicher Interessenverlust oder Verlust der ! Der erste Schritt zur Heilung ist der Aufbau
Freude an normalerweise angenehmen Aktivi- einer tragfähigen Beziehung zum Patienten.
täten,
4 mangelnde Fähigkeit, auf Ereignisse oder Akti- Wie bereits beschrieben, erzeugt das Verhalten de-
vitäten emotional zu reagieren, die normaler- pressiver Menschen sehr häufig ein Gefühl der Hilf-
weise eine Reaktion hervorrufen, losigkeit. Die Art und Weise der depressiven Kom-
4 Früherwachen, 2 Stunden oder mehr vor der munikation kann uns dazu verführen, dem Patien-
gewohnten Zeit, ten mit Ablehnung und Aggression zu begegnen.
4 Morgentief, Beides beeinflusst pflegerisches Handeln. Der bleier-
292 Kapitel 21 · Affektive Störungen

nen Lähmung der depressiven Antriebslosigkeit folgt


21 oft eine Handlungsunfähigkeit auf Seiten der Helfer. Problem der Beziehungsgestaltung bei Depressiven
Um dem zu begegnen, ist es notwendig, das Milieu so
zu gestalten, dass der Depressive sich mit seinem Be- schwierige Grenzziehung
finden und Verhalten angenommen fühlt und Ein-
entweder: oder:
flüsse findet, die sich positiv auf seine Entwicklung Patient fühlt sich Patient fühlt sich
auswirken. Dem pflegerischen Handeln sind dem- bedroht durch zu verletzt durch zu
entsprechend folgende Ziele zugrunde zu legen: viel Nähe wenig Nähe

4 die Schaffung einer Umgebung, in der sich der


Patient geborgen und sicher fühlt, . Abb. 21.1. Beziehungsgestaltung bei Depressiven

4 die Herstellung eines Milieus, in dem der Patient


sich weder über- noch unterfordert fühlt, wie mich, den meidet man eben!« Beides führt dazu,
4 eine Atmosphäre des geduldvollen Begleitens. dass er sich wenig angenommen fühlt. Die Folge ist,
dass der Patient wenig Chancen hat, aus seinem
Praxisbox Schneckenhaus aufzutauchen und sich wieder darin
Der über allem stehende Grundsatz pflege- zurückziehen muss.
rischen Handelns bei Depressionen ist das
beständige Halten einer Balance zwischen Pflegerische Beziehungsgestaltung
Über- und Unterforderung. Akzeptanz
Notwendig für die pflegerische Beziehungsgestal-
tung ist es, den Patienten mitsamt seiner depressiven
Eine gleichmäßige, verlässliche, professionelle, auf Stimmung und seinen negativen Einstellungen zu
gegenseitigem Vertrauen beruhende Beziehung zum akzeptieren.
depressiven Patienten ist das Hauptwerkzeug der
Pflege. Gleichmäßig bedeutet in diesem Falle Be- Praxisbox
ständigkeit im Verhältnis von Nähe und Distanz Gegenübertragung: Die Gefahr, die Gefühle
dem Patienten gegenüber. Dies stellt gewissermaßen und Haltungen des Patienten zu übernehmen,
den Grundstock pflegerischen Handelns dar. Zu- ist groß. Bei den Betreuenden entstehen oft
gleich ist dies jedoch auch der Schritt, der als der zwiespältige Gefühle. Sie schwanken zwischen
schwierigste erscheint. Es erfordert ein hohes Maß Mitleid, Ablehnung, Zorn und Hilflosigkeit.
an Geduld und zugleich auch innerer Stärke. Entscheidend ist es, einen Einklang zwischen
Der Patient ist gefangen in seiner Depression. Es diesen Gefühlen und dem eigenen Handeln
erscheint unmöglich, ihn in seinem Gefängnis der zu finden.
Niedergeschlagenheit, Mutlosigkeit und Trauer zu
erreichen. Es gelingt ihm nicht, sich mit eigener Kraft
daraus zu befreien. Zugleich ist er sehr empfindsam Dies sollte sich auch in der Gesprächsführung mit
und verletzbar. Ein Zuviel an Nähe führt sehr schnell den Patienten zeigen. Es ist davon abzuraten, an ihm
zur Überforderung. Im Patienten entsteht das Ge- zu zerren oder ihn gar mit aggressiven Forderungen
fühl, dass etwas von ihm verlangt wird, zu dem er anzugehen: »Nun reißen sie sich doch mal zusam-
sich nicht in der Lage sieht: nämlich Kontakt aufzu- men!« Ebenso ungünstig sind oberflächlich erschei-
nehmen und Beziehung herzustellen. Dem Patienten nende Trostformeln: »Kopf hoch, diese Gefühle
erscheint dies unweigerlich als Bedrohung. Er wird werden vergehen, das wird schon wieder!« Hilfreich
sich in seinem Gefühl, zu versagen, bestärkt sehen. für den Patienten ist es, aktiv zuzuhören, ihm sein
»Was die Menschen von mir verlangen, das kann ich Gesagtes zu spiegeln und ihm v. a. deutlich zu sig-
nicht geben. Ich bin nun mal ein Versager!« Dem Ge- nalisieren, dass man seine Gefühle erkannt hat
genüber steht ein Zuwenig an Nähe. Damit wird das und ihnen nicht die Berechtigung abspricht (7 Kap. 7
Gefühl des Nichts-wert-seins unterstützt. »So einen Gesprächsführung und Kommunikation).
21.2 · Manie
293 21
Kein Aktionismus – Tatendrang den Verhaltensänderungen, die auf eine sich entwickeln-
Möglichkeiten des Patienten anpassen de Suizidalität hinweisen:
Ein Versuch, den Ursachen der Niedergeschlagen- 4 Äußerung von Suizidgedanken,
heit nachzugehen, ist wenig sinnvoll. Der Patient 4 plötzliche Veränderung des Verhaltens ohne
wird davon nicht profitieren. Das gleiche gilt für gut ersichtlichen Grund,
gemeinte Ratschläge. Sinnvoll hingegen ist es, dem 4 zunehmender Rückzug aus dem Stationsalltag
Patienten echtes Mitgefühl entgegenzubringen; z. B. und soziale Isolation,
durch Spiegelung der emotionalen Inhalte. Es ist not- 4 Einengung von Interessen und Gedanken.
wendig, die eigenen Ansprüche immer wieder aus
! Die Suizidgefährdung ist besonders groß bei
Neue zu überprüfen und sich mit der Frage zu kon-
Wiedererlangung des Antriebs und gleich-
frontieren, ob der Patient mit dem Tempo, mit dem
zeitig unverminderter depressiver Gefühle.
wir Veränderung wünschen, Schritt halten kann.
Gefahr bei Wirkeintritt der antidepressiven
Haltgebende Beziehung – Zuwendung Medikation!
geben Ein entscheidendes Werkzeug der Einschätzung ist
Auch hier ist übertriebene Aktion kontraindiziert. die Konfrontation. Das direkte Nachfragen. Dem Pa-
Nähe alleine genügt vollkommen. Zeit zu haben, er- tienten muss die Möglichkeit angeboten werden, über
scheint mitunter ausreichend. Eine vorsichtige Be- seine Suizidwünsche und -phantasien zu reden.
rührung oder gar schweigendes Beieinandersitzen Sicherheit hat Vorrang:
kann dem Depressiven Halt geben. 4 intensiver Austausch mit dem Team und aus-
führliche Dokumentation,
Vorsichtiges Aktivieren 4 engmaschige Betreuung und gezielte Zuwen-
Oberste Regel hierbei ist, dass dem Patienten je- dung,
derzeit die Möglichkeit des Rückzugs gegeben wird. 4 Beschäftigungsmöglichkeiten und Gesprächs-
In der akuten Phase ist eine Entlastung unbedingt alternativen anbieten,
notwendig. Es sollten jedoch so bald wie möglich 4 je nach Grad der Gefährdung »gefährliche Ge-
aktivierende Maßnahmen eingeleitet werden. genstände« – in Absprache mit dem Patienten –
1. Es genügt zunächst, auf die Einhaltung eines an- aus dem Zimmer entfernen,
gemessenen Tag- Nacht-Rhythmus zu achten. 4 auf Beibehaltung einer ruhigen und entspannten
2. Im zweiten Schritt vorsichtige Aktivität anbieten Atmosphäre auf Station achten,
(z. B. Spaziergänge). 4 möglicherweise Verlegung auf eine geschlossene
3. Im weiteren Verlauf allmähliches Heranführen Station.
an Tätigkeiten in der Gruppe.
4. Schließlich regelmäßige Teilnahme an Stations-
versammlungen und verschiedenen stationsin- 21.2 Manie
ternen Gruppenmaßnahmen.
In der Vorform einer Manie, der sog. Hypomanie,
Das Ziel ist, den Patienten geduldig und behutsam findet man ein Verhalten, das im Grenzbereich zur
aus seinem Gefängnis herauszubegleiten und ihn Krankheit steht, für den Betroffenen und auch für
der Erfahrung zuzuführen, Fähigkeiten zu besitzen, die Umgebung oft noch nicht als Krankheit erkenn-
die er glaubte verloren zu haben. bar ist, sondern eher als »gut drauf« betrachtet
wird.
Umgang mit Suizidalität Eine anhaltende, leicht gehobene Stimmung mit
gesteigerter Aktivität – körperliche und geistige
! Entscheidend für die Pflege ist, die Gefähr- Leistungsfähigkeit sind gekoppelt mit einem Gefühl
dung frühzeitig einzuschätzen. des Wohlbefindens. Erkennbar sind Suche nach Ge-
selligkeit, Gesprächigkeit, oft auch eine gesteigerte
Libido und vermindertes Schlafbedürfnis. In sol-
294 Kapitel 21 · Affektive Störungen

chen Situationen neigen Menschen dazu, sich etwas wenn die Patienten in einem solchen Maß auffällig
21 zu kaufen, was sie nicht brauchen, wagen sich auch wurden, dass eine Einweisung, ggf. eine Zwangsein-
schon mal an Geschäfte heran, die zumindest risi- weisung, nicht mehr zu vermeiden ist.
kohafter sind, als es sonst ihrem Charakter ent- Bei der Manie mit psychotischen Symptomen
spricht. Handelt es sich um eine Persönlichkeit, die können auch Halluzinationen auftreten. Oft sind es
sowieso eher zu einem nach außen orientierten Stimmen, die zum Patienten sprechen. Auch kann
Handeln neigt, wird man eine solche Störung nicht die innere Erregung, das Gedankenrasen oder die
als Störung identifizieren können. Möglicherweise körperliche Aktivität so ausgeprägt sein, dass eine
fällt eine gewisse Ruhelosigkeit auf, oder die Stim- Kommunikation nicht mehr stattfinden kann.
mung kippt vom Wohlbefinden in eine gewisse
Reizbarkeit.
Mit der ausgeprägten Manie gibt es kaum 21.2.1 Therapie
Schwierigkeiten diagnostischer Art. Die Stimmung
passt jetzt nicht mehr zur Situation und kann blitz- Die hohe Getriebenheit und die psychotischen
schnell wechseln von ungehemmter Fröhlichkeit Symptome machen eine Behandlung mit Neurolep-
zu Reizbarkeit und Zorn. Die Gesprächigkeit ist zu tika erforderlich. Eingesetzt werden hochpotente,
einem Rededrang geworden, der nicht mehr ge- die beim Wahnsystem ansetzen sowie niedrig- bis
stoppt werden kann. Die Gedanken des Patienten mittelpotente Neuroleptika, um eine Sedierung her-
hüpfen und springen, seinen Gedanken kann man beizuführen. Gerade bei bipolaren Erkrankungen,
im Kontakt nicht mehr folgen (Ideenflucht), die Pa- also dem Wechsel zwischen Manie und Depression,
tienten selber sprechen oft von Gedankenrasen. Plä- muss evtl. auch schon frühzeitig mit Antidepressiva
ne, Ideen – manchmal wirken sie brillant – werden behandelt werden, um ein Umschwenken in eine
entworfen und sofort wieder verworfen. Die gestei- Depression aufzufangen – die meisten Antidepressi-
gerte Aktivität und Ruhelosigkeit machen den Pa- va benötigen eine »Anlaufzeit« von ca. 2 Wochen bis
tienten nur schwer ertragbar, auch zum Schlafen ist sie wirksam werden.
er nicht mehr in der Lage, braucht auch subjektiv
des Schlaf nicht mehr. Der Verlust von Hemmun-
gen, bei gesteigerter Libido, führt oft zu problema- 21.2.2 Pflege bei Manie
tischen und unangemessenen Verhaltensweisen.
Angehörige beschreiben das dann als persönlich- Die ungezügelte Energie, die unentwegte Umtriebig-
keitsfremd, als wäre der Charakter ausgetauscht keit und das permanente Schwanken zwischen Eu-
worden. phorie und Gereiztheit scheinen sich dem Einfluss
der Umgebung zu entziehen. Der Patient wirkt kaum
oder überhaupt nicht erreichbar. Den Betreuenden
Kasuistik erwächst ein Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit.
Als Beispiel mag die erste Begegnung mit einer Die Angriffslust macht Angst, die entweder lähmt
Manikerin dienen, die auf die höfliche Frage, oder zu aggressivem Verhalten – dem Gegenangriff
ob ihr der Arzt Blut abnehmen könne, sich die – reizt. Dem gegenüber steht die Notwendigkeit,
Kleidung vom Leib riss und sagte: »Ja, nimm die Mitpatienten, den Maniker, das Team und letzt-
mich!« lich sich selber zu schützen. Bei manischen Patien-
ten ist die Verführung sehr groß, die Aggressivität
auf sich übertragen zu lassen und entsprechend zu
Auch die Selbsteinschätzung bei diesen Patienten ist handeln. Es ist eine Milieugestaltung notwendig,
überhöht, was bis zum Größenwahn führen kann. die die Handlungsfähigkeit des Teams erhält. Gleich-
Risiken sind nicht mehr einschätzbar, sodass es in zeitig muss sie allgemeinen Schutz bieten und eine
diesen Phasen vermehrt zu Unfällen kommen kann. Atmosphäre erzeugen, in der ein allmähliches Her-
Da die Krankheitseinsicht ebenfalls nicht vorhanden anführen an allgemeingültige Normen und Regeln
ist, kommt es meist erst dann zu einer Behandlung, möglich ist.
Literatur
295 21

Dem pflegerischen Handeln müssen folgende Unangemessene Geldausgaben verhindern


Ziele zugrunde gelegt werden: Das kann z. B. bedeuten, dass Telefonate oder Besu-
4 die Schaffung einer Struktur, in der der Patient che eingeschränkt bzw. kontrolliert werden müssen.
für alle verbindliche Regeln erlebt, In manischen Phasen kommt es vor, dass sich Pati-
4 ein für alle verlässliches Aufzeigen von Spielräu- enten finanziell ruinieren.
men,
4 Mitpatienten erfahren Schutz, Sexuelle Kontakte
4 Herstellung einer Atmosphäre, die es dem Pati- Diese sollten in jedem Falle verhindert werden, ins-
enten ermöglicht, zur Ruhe zu kommen. besondere wenn Mitpatienten hiervon betroffen
wären. Ziel ist nicht nur der Schutz der Mitpatienten
Praxisbox sondern auch der des Manikers. Die mit der Manie
Im Akutfall sind die Möglichkeiten, einem Ma- einhergehende Enthemmung spiegelt fast nie die
niker zu begegnen, eher begrenzt. Hier gilt es Werte und Normen wider, die in den gesunden Pha-
vor allen Dingen, den Patienten vor sich selber sen gelten.
zu schützen. Speziell in der Anfangsphase
ist die Isolierung oft das einzig verbleibende Störung der Nachtruhe
Mittel. Die unermüdliche Betriebsamkeit des Patienten
reicht in der Regel bis tief in die Nacht hinein. Es
bleiben, wenn überhaupt, zumeist nur wenige Stun-
Gleichbedeutend ist jedoch auch der Schutz der Mit- den Schlaf.
patienten. Bei sehr empfindsamen Patienten – z. B. Wichtig ist eine ausführliche Dokumentation.
Depressive oder frisch stabilisierte Psychotiker – Der Versuch, den Patienten zur Bettruhe zu zwingen
kann die hohe, zügellose und v. a. zumeist ziellose ist in den meisten Fällen zwecklos. An dieser Stelle
Energie, die sich beständig in alle Richtungen aus- ist Spielraum zu gewähren. Allerdings ist der Schutz
breitet, verbunden mit einem permanenten Ge- der Mitpatienten hier von hoher Bedeutung.
räuschpegel oftmals zur Dekompensation führen.
Aber auch vor gezielten Übergriffen seitens des Überprüfen Sie Ihr Wissen!
manischen Patienten, ob diese nun sexueller Natur 4 Definieren Sie den Begriff affektive Störungen!
oder sonstwie geartet sind, müssen Mitpatienten un- (Vorbemerkung)
bedingt geschützt werden. 4 Beschreiben Sie das depressive somatische Syn-
drom! 7 Kap. 21.1
Pflegerische Interventionen 4 Was ist bei der pflegerischen Beziehungsgestal-
Gesteigerter Antrieb tung mit Depressiven zu beachten? 7 Kap. 21.1.2
Auf die körperlichen Grenzen des Patienten muss 4 Welche Verhaltensänderungen weisen auf eine
geachtet werden. Ihm selber mangelt es an einer ad- sich entwickelnde Suizidalität hin? 7 Kap. 21.1.2
äquaten Einschätzung seiner Kräfte. Wichtig ist v. a. 4 Nennen Sie einige Symptome der Manie! 7 Kap.
den Patienten von Handlungen abzuhalten, die er 21.2
später bereuen würde. Im weiteren Krankheitsver- 4 Nennen Sie pflegerische Interventionen bei der
lauf ist es sinnvoll, ihm kleine stationsbezogene Auf- Manie! 7 Kap. 21.2.2
gaben zu übertragen – wobei eine Begleitung dabei
unabdingbar ist. Literatur
Helmchen H, Lauter H, Henn F et al (Hrsg) (2000) Psychiatrie der
Ideenflucht Gegenwart – Schizophrene und affektive Störungen.
Springer, Berlin Heidelberg New York
Jeder Außenreiz führt zu einer Flut neuer Einfälle. Köhler T (1999) Affektive Störungen. Kohlhammer, Stuttgart
Die Schaffung eines reizarmen Klimas ist hier die Kors B, Seunke W (2001) Gerontopsychiatrische Pflege. Urban &
oberste Regel. Zugleich ist, abhängig vom Grade der Fischer, München
Denkstörung, eine Strukturierung der alltäglichen
Handlungen des Patienten notwendig.
22

22 Pflege bei posttraumatischen


Störungen
Ruth Ahrens

22.1 Definitionen und Klassifizierung – 298

22.2 Ursachen – 299

22.3 Krankenbeobachtung – 300

22.4 Neurobiologische Veränderungen und deren Auswirkung


im (stationären) Alltag – 300
22.4.1 HPA-Achse und noradrenerge Veränderungen – 300
22.4.2 Serotonin als Beispiel für Neurotransmittermutation – 302
22.4.3 Dauerhafte Veränderungen der Gehirnstrukturen – 302

22.5 Alternativen zum selbstverletzenden Verhalten – 305

22.6 Umgang mit Menschen nach Selbstverletzung – 306

Literatur – 307
298 Kapitel 22 · Pflege bei posttraumatischen Störungen

) ) In Kürze Vorbemerkung
Der Begriff traumatischer Stress bezieht sich auf
Menschen, die eine traumatische Erfahrung ge- einen Zustand der Starre, der Menschen in gefährli-
22 macht haben, erkranken nicht automatisch an einer chen Situationen handlungsunfähig macht. Sie sind
posttraumatischen Störung. Dazu müssen noch nicht fähig zu fliehen oder zu kämpfen, sondern ge-
andere Faktoren vorliegen, wie die psychophysi- zwungen eine augenscheinliche Unmöglichkeit zu
sche Vulnerabilität und ein spezifischer Interakti- vollbringen: in der bedrohlichen Situation zu ver-
onsstil in Beziehungen. Weil letztgenannte Faktoren bleiben und zu überleben.
bei sehr vielen Menschen vorkommen, leiden auch Traumatischer Stress kann Ursache bzw. Begleit-
viele Menschen unter posttraumatischen Störun- erscheinung vieler psychiatrischer Erkrankungen
gen. In diesem Kapitel wird eher von traumatischem sein, wie Angsterkrankung, Depression, Aufmerk-
und posttraumatischem Stress als von posttrauma- samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Posttrau-
tischer Störung gesprochen, denn die Reaktion von matische Belastungsstörung, Essstörungen, Border-
Gehirn, Organismus und Seele sind Bewältigungs- line-Persönlichkeitsstörung und andere Persönlich-
versuche auf traumatisierende Bedingungen, die keitsstörungen.
in Fehlanpassungen an normale Umweltanforde-
rungen münden können. Die Störungen resultieren
daraus, dass das Alltagshandeln von dem posttrau- 22.1 Definitionen
matischen Stress stark beeinflusst sein kann. und Klassifizierung
Es werden die Ursachen, Risiko- und Schutz-
faktoren von (post-)traumatischem Stress bespro- Fischer und Riedesser definieren die traumatische
chen und im Kontext der neurobiologischen Verän- Erfahrung wie folgt:
derungen im Gehirn von Betroffenen diskutiert. Es
Definition
wird eine Übersicht über die Symptome von trau-
matischem Stress und Bewältigungsverhalten, wie »Ein psychisches Trauma ist ein vitales Diskre-
selbstverletzendes Verhalten, gegeben. Pflegeri- panzerlebnis zwischen bedrohlichen Situations-
sche Maßnahmen werden besprochen und auf faktoren und den individuellen Bewältigungs-
ihre Sinnhaftigkeit hin diskutiert. möglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosig-
keit und schutzloser Preisgabe einhergeht
Wissensinhalte und so eine dauerhafte Erschütterung von
Nach dem Studium dieses Kapitels haben Sie: Selbst- und Weltverständnis bewirkt.« (Fischer
7 Einblick in die Problematik von traumatischem u. Riedesser 1999, S. 79)
Stress und können diese erläutern
7 allgemeine Kenntnisse über Verhaltensmuster
bei Patienten mit traumatischem Stress Was in diesem Kapitel mit posttraumatischer Störung
7 Einblick in die verschiedenen Aspekte, die gemeint ist, bezieht sich auf die Gefühle von schutzlo-
bei der stationären Pflege von Menschen mit ser Preisgabe und die Erschütterung von Selbst- und
traumatischem Stress berücksichtigt werden Weltverständnis, in dem Sinne, dass es ein unter-
müssen schiedliches Erleben der Person von sich und der Welt
7 Einblick in die Faktoren, die posttraumatischen vor und nach traumatischem Erleben gibt: zwei Wel-
Stress im stationären Umfeld verstärken können ten, die sich massiv voneinander unterscheiden. Aller-
7 Kenntnisse über Alternativen zum selbstverlet- dings erinnern sich schwerst- und frühtraumatisierte
zenden Verhalten Menschen manchmal nicht an eine Zeit »davor«, das
7 Wissen darüber erworben, wie man adäquat mit Trauma wird Teil der Persönlichkeitsentwicklung.
Menschen nach selbstverletzendem Verhalten Selbst- und Weltverständnis formen sich dann so aus,
pflegerisch umgehen kann dass die Welt nicht als ein sicherer, handhabbarer Ort
verstanden wird. Das Kohärenzgefühl der Person ist
erschüttert (vgl. Salutogenese, Kap. 3.3).
22.2 · Ursachen
299 22

Von Zubin und Spring (1977) wurde die psycho- Zu den Risikofaktoren, die zu einer posttraumati-
physische Vulnerabilität (Verletzlichkeit) erstmals schen Störung beitragen können, gehören:
für die Schizophrenie beschrieben und wird heute für 4 Stress-Vulnerabilität,
viele psychische Erkrankungen als Erklärungsmodell 4 unsichere, gleichgültige/nicht liebevolle Bin-
herangezogen. Verschiedene ätiologische Faktoren, dungserfahrungen, häufig wechselnde Bezugs-
wie eine genetisch/organische Vorbelastung (z. B. personen, Verlust von Bezugspersonen,
kann Krankheit, Drogen-/Alkoholabhängigkeit das 4 überforderte Bezugspersonen (z. B. durch Ar-
embryonale Gehirn in seiner Entwicklung beein- beitslosigkeit, Scheidung der Eltern, Drogen-
flussen), sowie die o. g. Risikofaktoren können die missbrauch, psychische Erkrankung, Teenager-
Vulnerabilität erhöhen. Zusätzliche Stressoren, wie Eltern),
traumatische Erlebnisse, erhöhen die Vulnerabilität, 4 Vernachlässigung, Ablehnung,
Fähigkeiten der Bewältigung (Coping) verringern 4 starker und extremer Stress.
sie. Zu diesen Bewältigungsfaktoren gehören auch
sichere, stabile Bindungsbeziehungen. Je höher je- Die Lebenszeit-Prävalenz in der Gesamtbevölkerung
doch die Vulnerabilität eines Menschen ist, umso liegt je nach Untersuchungsmethode und untersuch-
eher reichen geringe Lebensereignisse aus, um eine ter Bevölkerungsgruppe zwischen 1 und 14 %. Stu-
psychische Störung oder Krankheit zu verursachen. dien mit Zeugen/Überlebenden von Katastrophen
Je geringer die Vulnerabilität ist und je größer die (z. B. Zeugen des Challenger-Absturzes, Überleben-
Fähigkeiten zur Bewältigung kritischer Lebensereig- de der Ramsteiner Flugkatastrophe 1988 sowie Über-
nisse sind, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, lebende der Terroranschläge vom 11. September
eine psychische Störung oder Erkrankung auszubil- 2001) zeigen Prävalenzraten von 3–58 % (Streeck-
den (. Abb. 22.1). Fischer et al., 2002). Laut DSM IV (Diagnostisches
Schutzfaktoren sind: und statistisches Manual psychiatrischer Störungen)
4 Feinfühligkeit der Bezugspersonen, positive In- sind die wichtigsten Faktoren bei der Ausbildung
teraktionen einer PTSD (»posttraumatic stress disorder«) die
4 sichere Bindungsbeziehungen Schwere und Dauer des traumatischen Ereignisses
4 wenigstens durchschnittliche Intelligenz sowie die Nähe des Individuums zum traumatischen
4 die Fähigkeit, sich positiv auf andere Menschen Geschehen. Die neurobiologischen Veränderungen,
einzustellen die mit den psychischen Veränderungen einher-
4 Unterstützung von Außen (Kirche, Großeltern, gehen, sind zwei Aspekte der komplexen, ganzheit-
Lehrer etc.) lichen Reaktion von Menschen auf Traumen. In
4 Herausforderungen, die bewältigt werden kön- diesem Zusammenhang ist die Benennung posttrau-
nen matische Störung möglicherweise nicht exakt genug,
posttraumatische Stressverarbeitungsstörung wäre
wohl die genauere Bezeichnung.
Max.
krank
Kritische Lebensereignisse

22.2 Ursachen
Schwelle
Deutlicher als bei anderen psychiatrischen Erkran-
gesund kungen wird bei posttraumatischen Störungen un-
terstellt, dass es eine spezifische Ursache gibt, ein
Min. Trauma, bzw. Diskrepanzerlebnis. Dazu zählen u. a.
gering hoch militärische Kämpfe, gewalttätige Übergriffe (psy-
Vulnerabilität chische, körperliche und sexuelle Gewalt), als Geisel
. Abb. 22.1. Vulnerabilität (n. Zubin u. Spring, 1977) genommen werden, Opfer terroristischer Angriffe
zu sein, Folter, Gefangennahme (als Kriegsgefange-
ner, Konzentrationslager), Raubüberfälle, natürliche
300 Kapitel 22 · Pflege bei posttraumatischen Störungen

Katastrophen oder von Menschen erzeugte (Au- alem Rückzug führen, andererseits auf physiologi-
tounfälle etc.), eine lebensbedrohliche Krankheit zu scher Ebene zu Gefühlen von emotionaler Taubheit
haben, Erfahrungen von Vernachlässigung, Willkür (»numbness«), Entfremdung und zu mnestischen
22 usw. Bei Kindern und Erwachsenen können Trau- Lücken (Vergessen des Traumas).
matisierungen durch unangemessene sexuelle Kon- Bei Kindern kann ein desorganisiert wirkendes
takte mit und ohne Androhung von Gewalt und oder agitiertes Verhalten ein Hinweis auf ein trau-
Verletzung vorkommen. Bei allen hier genannten matisches Erlebnis sein. Kinder spielen manchmal
Erfahrungen kann das Mitansehen-müssen zur auch das Erlebte nach, sie leiden ebenfalls unter Ein-
Traumatisierung führen. und Durchschlafstörungen, unter Alpträumen und
Nicht jeder Mensch, der ein Trauma erlebt, ent- versuchen auch Aktivitäten, Orte, Gespräche usw. zu
wickelt eine Posttraumatische Belastungsstörung vermeiden, die Erinnerungen an das Trauma wieder
(PTBS, oft auch abgekürzt mit PTSD). beleben können.
Die Symptome der PTSD bilden sich meist in-
! Es besteht ein eindeutiger Zusammenhang
nerhalb von 3 Monaten nach dem Trauma aus. Je
zwischen Risikofaktoren, traumatischem
früher ein Trauma lebensgeschichtlich beginnt und
Stress und der Entwicklung einer posttrauma-
je mehr es durch zwischenmenschliche Interaktio-
tischen Störung.
nen bedingt ist, umso höher ist die Wahrscheinlich-
keit, dass sich neurobiologische Anpassungen her-
anbilden (Teicher et al, 1993; Tanev, 2003).
22.3 Krankenbeobachtung Gerade weil psychiatrische Pflege ein überwie-
gend zwischenmenschlicher Prozess ist, müssen die-
Insbesondere lassen sich die folgenden Symptome se Faktoren und diese Aspekte bekannt und berück-
bei Menschen mit PTSD beobachten. sichtigt werden, um sie in die Krankenbeobachtung
Es kommt zu Intrusionen, das sind Gedanken mit einzubeziehen und um eine Re-Taumatisierung
und Erinnerungen an das traumatische Ereignis, durch die stationäre Behandlung zu verhindern.
die sich ungewollt aufdrängen. Dies geschieht in
Alpträumen, in sich tagsüber aufdrängenden, trau-
mabezogenen Vorstellungen, sowie in sog. Flash 22.4 Neurobiologische
backs (traumabezogene Erinnerungsbilder, die als Veränderungen und
real empfunden werden). Dadurch entstehen inten- deren Auswirkung im
sive, immer wiederkehrende traumabezogene Emo- (stationären) Alltag
tionen. Physiologisch hält sich durch diese intrusi-
ven Erlebnisse eine körperliche Angst- und Schreck- 22.4.1 HPA-Achse und noradrenerge
reaktion dauerhaft aufrecht. Diese kann durch Veränderungen:
verschiedene Sinneseindrücke getriggert werden,
z. B. durch das Knacken einer Treppenstufe, was zu Die HPA-Achse (»hypothalamus-pituitary-adrenal-
einschießenden, starken inneren Spannungen führt, axis« = Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-
die nicht situationsadäquat abgeführt werden kön- Achse) und das noradrenerge System regulieren die
nen. Manchmal fühlen die Betroffenen nicht nur menschliche Reaktion auf Stress (. Abb. 22.2). Bei
so, als ob das traumatische Ereignis anhält, sondern Menschen mit posttraumatischem Stress wurden
handeln auch so. Die starke Anspannung ihrerseits normale bis erniedrigte Glukokortikoidwerte ge-
führt regelrecht in einen Teufelskreis, weil sie zu messen (Erschöpfung der Stressreaktion). Diese füh-
Hyperaousal (übermäßige innere Erregung) führt, ren zu einer verminderten Bewältigung von akutem
die mit Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Ge- und starkem Stress. Obwohl die Glukokortikoidwer-
fühlsausbrüchen und erhöhter Wachsamkeit ein- te bei Menschen mit PTSD normal bzw. erniedrigt
hergeht. Nachvollziehbar führt dieses Erleben zu sind, zeigten die untersuchten Probanden immer
dem Versuch, traumabezogene Erinnerungen und noch die Hochstressreaktion im noradrenergen Sys-
Gefühle zu vermeiden. Dies kann einerseits zu sozi- tem. Bei chronischem, traumatischem Stress bewirkt
22.4 · Neurobiologische Veränderungen und deren Auswirkung im Alltag
301 22

. Abb. 22.2. Hypothalamus-Hypo-


physen-Nebennierenrinden-Achse. Stressor Cortex
Duchgezogene Pfeile bedeuten
fördernde, freisetzende Wirkungen, Hypothalamus
gestrichelte Pfeile hemmende Wir-
kungen
CRH

Hypophyse Zytokine

ACTH
Immunzellen

Nebennierenrinde

CORTISOL Glukoneogenese

die Stressreaktion auch eine Immunsuppression, was oniert werden, sondern als gültige, berechtigte Reak-
zu einer erhöhten Infektanfälligkeit führt. tionen angesehen werden.
Dies entspricht dem anhaltenden inneren
Alarmzustand der Betroffenen; geringe Stressoren Praxisbox
reichen bereits aus, ein extremes Hyperarousal aus- Betroffene reagieren hypersensibel v. a. auf non-
zulösen, das mit emotionaler Verflachung oder emo- verbale (bewusste und unbewusste) Mitteilun-
tionaler Überflutung einhergehen kann. gen von der Umwelt, was Hyperarousal auslö-
sen kann.
! Der innere Alarmzustand macht es Betroffe-
nen schwer, sich auszuruhen, zu entspannen
oder zu schlafen. Sie sind infektanfälliger,
Bei erniedrigtem Kortisol kann Hyperarousal zu
tendieren zu Kopfschmerzen und neigen zu
einer emotionalen Grundlinie nur sehr schwer mo-
häufigen Unfällen.
duliert werden.
Der hohe Adrenalin-/Noradrenalin-Spiegel wird
auch mit dem hohen Angstpegel in Verbindung ge- Praxisbox
bracht, der oft mit anxiolytischen Medikamenten Alle Erwartungen, die an die Patienten gestellt
(Cave: Benzodiazepine) behandelt wird. werden, sollten darum auf deren Fähigkeit,
In der Pflege müssen wir dieses Wissen präsent Stress zu bewältigen, abgestimmt werden.
haben, v. a. für unkontrollierbare Belastungen, die
durch die stationäre Behandlung entstehen. Hier
versuchen sich die Patienten (normales bzw. ernied- Möglichkeiten kontrollierter Entspannung, wie Tai
rigtes Kortisol) zunächst anzupassen. Sie zeigen kei- Chi, Chi Gong, Bogenschießen, therapeutisches Rei-
ne Zeichen von Überforderung oder Hilflosigkeit, ten, Aromapflege etc.) helfen, auch in der Entspan-
können aber dennoch überfordert sein. Ein Verstoß nung Kontrolle zu bewahren.
gegen starre Behandlungsrichtlinien oder gegen ein
restriktives Setting kann in diesem Sinne auch posi- Praxisbox
tiv als eine Besserung der Symptome verstanden Vorsicht bei Verfahren, wie Progressiver Mus-
werden. Die Patienten neigen dazu, ihre negativen kelentspannung und autogenem Training, hier
Gefühle zu verbergen, weil sie negative Konsequen- kann es zu unerwünschten Nebenwirkungen
zen befürchten. Äußerungen über Gefühle sollten 6
deshalb nicht bagatellisiert, trivialisiert oder sankti-
302 Kapitel 22 · Pflege bei posttraumatischen Störungen

Praxisbox
kommen, wenn Patienten z. B. mit geschlosse- Das erniedrigte Serotonin wird häufig mit selek-
nen Augen Depersonalisationsphänomene tiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern
22 (Entfremdungszustände) erleben, in Flash backs (SSRI) oder anderen Antidepressiva behandelt.
oder Intrusionen geraten und der Übungsleiter Dies kann zu einem Anstieg des Körpergewich-
dies nicht merkt und darum nicht gegensteuern tes führen und die Körperwahrnehmung weiter
kann. beeinträchtigen.

Insgesamt sind kontrollierbare Entspannungsange- Hier gilt es, in der Pflege beständig zu reflektieren
bote vorzuziehen, auch weil sie den Betroffenen hel- und der Versuchung zu widerstehen, Symptome auf
fen, sich selbst zu beruhigen und anxiolytisch wirken der Beziehungs- oder Appellebene aufzufassen.
können. Bei Benzodiazepinentzug sollten diese oft
! Die Etablierung einer Sicherheit vermitteln-
und geduldig mit Patienten geübt werden.
den Arbeitsbeziehung ist von größter Bedeu-
Aspekte der Ernährung aufzugreifen, kann die
tung.
Infektanfälligkeit verringern. Die Patienten zum
Sport zu ermutigen, kann helfen die Körperreaktion Wenn Patienten, Angehörige und Mitpatienten da-
auf Stress abzubauen. Achtsamkeitsübungen können rüber aufgeklärt werden, dass diese Gefühle auch aus
helfen, Unfälle zu verhüten und Emotionen auszu- Symptomen gespeist werden, kann sich dies sehr ent-
halten. lastend auswirken. Wegen der verminderten Merk-
fähigkeit kann es nützlich sein, z. B. Termine immer
auch schriftlich vorzumerken. Die Körperwahrneh-
22.4.2 Serotonin als Beispiel für mung kann auf vielfältige Weise stimuliert werden,
Neurotransmittermutation z. B. durch Liegen in einer Hängematte, baden, bar-
fuss gehen, Bäume oder Menschen umarmen, Tiere
Der Serotoninspiegel ist bei PTSD-Patienten signifi- streicheln, joggen, evtl. schwimmen etc. Auf die
kant erniedrigt (Streeck-Fischer et al., 2002; Van der mögliche Gewichtszunahme sollte mit Ernährungs-
Kolk et al., 2000; Fischer u. Riedesser, 1999) beratung und -umstellung reagiert werden. Um mit
den starken Gefühlen umzugehen, empfiehlt es sich
! Der erniedrigte Serotoninspiegel wird mit
hier, mit dem Skills-Training von Linehan (1996) zu
der depressiven Stimmung, der vermin-
beginnen, speziell den Übungen zur Emotionsregu-
derten Merkfähigkeit und dem verminder-
lation. Alle Interventionen, die dazu geeignet sind,
ten Schmerzempfinden in Verbindung
die Patienten aufzuheitern und zum Lachen zu brin-
gebracht.
gen, sind hilfreich beim Gestalten der Erfahrung,
Bei Letzterem scheint die Körperwahrnehmung dass es positive Gefühle gibt und diese auch häufiger
Zustände emotionaler Anästhesie (Entfremdungser- werden können.
leben, Depersonalisation) widerzuspiegeln.
Andere Gefühle, die mit erniedrigtem Serotonin
in Verbindung stehen, sind Aggressivität, Feindse- 22.4.3 Dauerhafte Veränderungen
ligkeit, Reizbarkeit und Impulsivität. Diese Gefühle der Gehirnstrukturen
auszuhalten ohne sie auszuleben, erfordert ein hohes
Maß an Kontrolle, die schwer aufzubringen ist. Viele Magnetresonanzuntersuchungen haben zeigen kön-
Patienten richten diese Gefühle in ihrer Not gegen nen, dass es bedeutsame Veränderungen im Gehirn
sich selbst, oft führt intensiver Selbsthass zu selbst- von PTSD-Betroffenen geben kann (Bremner et al.,
verletzendem Verhalten. 1995; Bremner, 2002; Koenen et al., 2001; Schore,
2002; Shalev et al., 1999; Van der Kolk et al., 2000).
22.4 · Neurobiologische Veränderungen und deren Auswirkung im Alltag
303 22
Amygdalae troffene so große Schwierigkeiten, sich über die
Die Amygdalae zeigen bei Betroffenen eine Hyper- Inhalte der Bilder, denen sie ausgeliefert sind, mit-
sensitivität. Die Aufgabe der Amygdalae ist es, Au- zuteilen. Auch in stressigen Alltagssituationen er-
ßenreize auf Gefahren hin zu verarbeiten. Bei Hy- schwert die Situation im Broca-Zentrum die Mit-
persensitivität ist es nachvollziehbar, dass bereits ein teilung darüber, welche Gefühle im Augenblick am
geringer Stress ausreicht, um eine Alarmsituation stärksten sind.
im Gehirn auszulösen. Van der Kolk (1998) beo- Hierbei ist es nicht hilfreich, wenn die Pflege-
bachtete auch die Vereinseitigung des Gehirns (La- person darum bittet, die belastenden Inhalte verbal
teralisierung), was heißt, dass bei den untersuchten mitzuteilen, sondern vielmehr, die Verhaltensbot-
Probanden in Stresssituationen nur eine Amygdala schaften zu entschlüsseln, wie z. B. das selbstverlet-
überhaupt Aktivitätszeichen zeigte. Dies kann erklä- zende Verhalten als Ausdruck eines sehr qualvollen
ren, warum die Realitätsprüfung für die Patienten inneren Erlebens zu verstehen.
in anstrengenden Situationen so schwierig ist. Die Da sich diese Situation in Gehirn über Jahre he-
Reizschwelle für bedrohliche Stimuli ist signifikant rangebildet hat, ist es wahrscheinlich, dass auch Ver-
gemindert. Die Amygdalae spielen wohl auch eine änderungen von symbolischer zu verbaler Kommu-
Rolle in der Konditionierung von Angstzuständen. nikation Zeit, Geduld und konsequente Übung
Teicher et al. (1993) fanden heraus, dass das limbi- brauchen.
sche System durch schwere, interpersonale Traumata
bei Kindern in seiner Entwicklung gehemmt wird, Hippocampus
was erklären könnte, warum bei vielen Probanden Der verkleinerte Hippocampus spielt eine wichti-
die Amygdalae-Volumina verringert waren. Unter- ge Rolle bei der Stressreaktion. In dieser Hirnre-
suchungen zeigten die Hyperaktivität der Amygda- gion findet sich eine hohe Dichte von Glukokorti-
lae, was die Hyperarousals erklärt und verstehbar koidrezeptoren (Fischer u. Riedesser, 1999; Koenen
macht, wie schwierig diese für Patienten zu modu- et al., 2001; ehuda
Y et al., 1991). Deren degenerative
lieren sind. Mutation bei PTSD-Betroffenen hat zur Vermutung
Aus dieser Perspektive wird vieles von der feind- geführt, dass die hohen Kortisolspiegel während
seligen, ängstlichen und aggressiven Haltung bei akuter Stresszustände Neuronen und Synapsen
Veränderungen in der Therapie oder Bezugspflege zerstören (Yehuda et al., 1991; Van der Kolk et al.,
nachvollziehbar. 2000). Der Hippocampus wird als der Ort des pro-
zeduralen und mnestischen Gedächtnisses betrach-
Praxisbox tet. So kann gefolgert werden, dass das geringere
Pflegeinterventionen werden darum verstärkt Hippocampus Volumen für die lebensgeschichtli-
darauf abzielen, den Patienten vorausschauend chen Erinnerungslücken verantwortlich ist, sowie
bei der Einschätzung von Stressoren zu helfen. mit den Schwierigkeiten zu tun hat, Neues zu er-
lernen und Informationen zu erinnern (Bremner
et al., 1997; Streeck-Fischer et al., 2002). Kognitive
Linehans Übungen zur Stresstoleranz können hier- Prozesse werden statt im Kortex und Neokortex
bei eine Hilfe sein. (wo Sprache und Denken verortet sind) in subkor-
tikalen Strukturen und im limbischen Regionen
Broca-Zentrum verarbeitet.
Das Broca-Zentrum ist wesentlich für die verbale Dies kann erklären, warum Rationalität, Bewer-
Wiedergabe visueller Eindrücke zuständig. Mag- tung, Entscheidungen, Konzentration und das Been-
netresonanzuntersuchungen haben gezeigt, dass bei den von Aufgaben beeinträchtigt ist, der Fokus auf
PTSD-Betroffenen unter Stress die Funktion des nonverbaler Information liegt und es in Verbindung
Broca-Zentrums beeinträchtigt ist (Bremner et al., mit der Hypersensitivität sehr schwierig macht, in-
1995 u. 1997 u. 1999; Van der Kolk, 2000). Gleich- nere Zustände sprachlich mitzuteilen.
zeitig ist z. B. bei Flash backs und Intrusionen der
visuelle Kortex verstärkt aktiv. Darum haben Be-
304 Kapitel 22 · Pflege bei posttraumatischen Störungen

Praxisbox traumatischen Erfahrung oder während getrigger-


Diese Erkenntnisse können dazu beitragen, ter Erinnerungen. Dissoziative Zustände gehen mit
Pflegesituationen hilfreich zu gestalten, denn dem totalen Verlust von Kontrolle einher, Betroffene
22 es wird deutlich, dass Informationen in kleinen fühlen sich getrennt von ihrem Erleben und von sich
Einheiten gegeben werden sollten und häufig selbst entfremdet. Dies ist hilfreich in traumatischen
wiederholt und auch niedergeschrieben wer- Situationen, um nicht von Emotionen überflutet zu
den können, damit sich der Stress für die Betrof- werden, jedoch sehr hinderlich beim Gestalten eines
fenen reduziert und das Gedächtnis trainiert Alltags. Dissoziative Vorgänge können nur mit sehr
werden kann. starken Reizen vorzeitig beendet werden, wie z. B.
durch selbstverletzendes Verhalten. Der Beginn von
Dissoziationen kann nur schwer kontrolliert oder
Eine freundliche, akzeptierende Grundhaltung wird gesteuert werden, was Gefühle von Hoffnungslosig-
den Stress ebenfalls reduzieren. Auch hier wird deut- keit und Verzweiflung hervorruft und auch zum
lich, wie wichtig eine ruhige, gelassene Ausstrahlung Verlust vormals Kraft gebenden Überzeugungen
ist, z. B. nach selbstverletzendem Verhalten, weil ja führen kann. Leidvolle Erfahrungen scheinen nicht
ein Fokus der Informationsverarbeitung und -ver- als Tatsachen abgespeichert zu werden (was die Per-
mittlung der Betroffenen auf der nonverbalen Ebene son schützt), sondern als innere Bilder, die jedoch
liegt. Hier liegt auch eine wichtige Ressource, näm- getriggert ausgelöst werden können und so immer
lich visuelle Bilder auch zur Heilung einzusetzen, wieder durchlebt werden müssen.
wie dies z. B. bei Imaginationsverfahren geschieht, Andererseits kommt es zu Gedächtnisblocka-
die helfen Emotionen zu regulieren und zu stabilisie- den, die Person kann sich unter Stress nicht erin-
ren. Diese Fertigkeit wird auch in dem Skills-Trai- nern, z. B. auch nicht an hilfreiche Verhaltensweisen
ning von Linehan geübt. oder an Informationen. Dies wird im klinischen
Rahmen oft als Agieren oder als provokatives Ver-
Limbisches System halten missgedeutet.
Die o.g. Veränderungen betreffen das limbische Sys-
! Diese hier beschriebene Spezialisierung des
tem, welches als der Teil des Gehirns angesehen wird,
limbischen Systems, traumatische Erfahrun-
der die Balance zwischen der äußeren Realität und
gen zu eliminieren und zu verarbeiten, hat
inneren Homöostase steuert. Es wird als das Zen-
unausweichlich zur Folge, dass es nur schwer
trum der Emotionen betrachtet und Teicher et al.
auf andere, seltenere Stimuli reagieren kann,
(1993) fanden heraus, dass physischer und sexueller
wie z. B. sichere Beziehungserfahrungen.
Missbrauch die Entwicklung des limbischen Systems
Neue Interaktionsmuster, neuronale Verbin-
hemmt. Es umfasst die Amygdalae, Hippocampus,
dungen und synaptische Verschaltungen
Thalamus, Hypothalamus und andere Bereiche und
können sich nur auf der bereits bestehenden
steuert u. a. die Funktion der Hypophyse.
Basis etablierter Interaktionsmuster entwi-
! Das limbische System verbindet die Emotion ckeln.
mit dem Gedächtnis und kann bei sehr star-
Neue Entwicklungen im Gehirn werden nur stattfin-
kem Stress und in qualvollen Situationen von
den können, wenn die klinische Situation pathoge-
den Denkfunktionen und dem körperlichen
netische (re-traumatisierende) Bedingungen nicht
und seelischen Empfinden entkoppeln. Das ist
wiederholt, sondern eine durch die Patienten kon-
hilfreich, um Schmerzen und Missbrauch
trollierbare Situation schafft und genügend Zeit
überleben zu können.
einräumt, damit das Gehirn seine Fähigkeit der Neu-
Der Thalamus gilt als sensorische Relaisstation und roplastizität einsetzen kann.
ist hauptsächlich an der Auslösung dissoziativer Zu diesen Bedingungen zählen sehr vorsichtige,
Zustände beteiligt, die mit psychischer Taubheit fürsorgliche, Schutz bietende und körperbezogene
(Numbness) und einer emotionalen und sensori- Interventionen (Regie führen) um z. B. dissoziative
schen Anästhesie einhergehen, z. B. während einer Zustände zu beenden, wie das Halten der Hand.
22.5 · Alternativen zum selbstverletzenden Verhalten
305 22

Auch ein häufiger Wechsel der Ansprechpartner ist 22.5 Alternativen zum selbst-
eher als abträglich anzusehen (stattdessen besser Be- verletzenden Verhalten
zugspflege). Eine fürsorgliche, interessierte und von
Zuneigung gekennzeichnete Grundhaltung hilft den Die Spannungsreduktion, Rücknahme von dissozia-
Patienten, sich sicher zu fühlen (sichere Bindung). tiven Zuständen und Entfremdungserleben wird
Die eigene Psychohygiene der Pflegekraft darf nicht von Betroffenen oft durch selbstverletzendes Verhal-
vernachlässigt werden, dazu gehört ebenfalls genü- ten herbeigeführt. Hier ist es in der Pflege wichtig,
gend Zeit für Patientengespräche, den kollegialen Patienten Alternativen zur Spannungsreduktion
Austausch sowie die Supervision. Behandlungen anzubieten, einerseits, um das medizinische Risiko
sollten bei Behandlern und Behandelten dafür sor- von Selbstverletzungen zu reduzieren, andererseits,
gen, dass beide Seiten vor starkem Stress geschützt um Scham- und Schuldgefühle zu reduzieren.
sind, wie z. B. durch einen Behandlungsplan, der Es empfiehlt sich der Einsatz einer Spannungs-
nicht zu viele therapeutische Aktivitäten hinterei- kurve, die Patienten selbst führen und mit der Pfle-
nander »abspult«. So kann auch leichter verhindert gekraft gemeinsam regelmäßig mindestens 2-mal
werden, dass Pflegekräfte die Symptome der Patien- pro Woche ausgewertet werden (. Abb. 22.3). Bei
ten persönlich nehmen. Spannung bis etwa 4 eignen sich Achtsamkeitsübun-
gen, die Patienten helfen, ihre Aufmerksamkeit und
Praxisbox Konzentration im Augenblick zu bewahren. Dies
Das Interessante und Herausfordernde bei der kann durch das Betrachten und detaillierte Beschrei-
Pflege und Behandlung von traumatisierten ben eines Bildes geschehen, durch Puzzeln, das Lö-
Menschen ist, dass die strukturellen Verände- sen eines Kreuzworträtsels, den Atem zählen, Ge-
rungen im Gehirn eben nicht mit Psychophar- dichte, Limericks oder das kleine oder große Ein-
maka behandelt werden können, sondern neue, maleins aufsagen. Die Konzentration auf Gerüche
Sicherheit gebende Beziehungen neue organi- durch starke Aromaessenzen kann ermöglicht wer-
sche und zwischenmenschliche Interaktions- den, z. B. Melisse, Teebaumöl, Rosmarin etc.: das
muster hervorbringen. Fläschchen direkt unter die Nase halten oder etwas
auf ein Tuch/Watte/Tupfer tropfen und riechen las-

Spannung
9 Hochstress, max. Anspannung
(Abreagieren: joggen, tanzen etc.)

intensiver Stress, nicht mehr allein aushaltbar, Risiko Selbstverletzung


(bewusster Umgang mit Gefühlen, Übungen zur Stresstoleranz
7

wenn es nicht bald besser wird, halte ich es nicht mehr lange aus
(Sinneseindrücke wahrnehmen, bewusster Umgang mit Gefühlen)

ich kriege es alleine hin (Achtsamkeitsübungen, Konzentration auf Sinneseindrücke)

0
Uhrzeit: 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 0
1

. Abb. 22.3. Spannungskurve


306 Kapitel 22 · Pflege bei posttraumatischen Störungen

sen. Die Konzentration auf Geräusche kann durch Eine Schlüsseleigenschaft der traumatisierenden
Musik, Klangschalen, Windspiel und andere laute Umwelt ist es, situationsadäquate Emotionen, Ge-
Geräusche gefördert werden. danken und Handlungen zu unterbieten, »löschen«
22 Bei Spannungszuständen über 4 sind stärkere zu wollen durch Ignorieren der Befindlichkeit oder
Reize meist erfolgreicher, man kann z. B.: stumme Reaktionen. Reagieren Sie nicht laut, vor-
4 einen kleinen Stein in den Schuh legen und da- wurfsvoll und fragen Sie nicht, ob die Person nicht
mit herumlaufen, hätte vorher kommen können. Wenn das möglich
4 barfuss gehen, gewesen wäre, wäre sie gekommen!
4 mit den Füssen aufstampfen, Zeigen Sie sachliches Interesse an der Wunde
4 Eiswürfel auf die Stirn pressen oder über die und Fürsorglichkeit für die Person in ihrem seeli-
Unterarme streichen, schen Schmerz. Unabhängig von der manchmal zur
4 Igelbälle mit harten Stacheln über Unterarme Schau getragenen Maske, sind es sehr schmerzhafte
oder Fußsohlen rollen, seelische Vorgänge, die zu selbstverletzendem Ver-
4 Finalgon-Salbe auf die (intakte!) Haut der Unter- halten (SVV) führen. Verstärken Sie diese Gefühle
arme oder in der Leistengegend auftragen, nicht durch Ihr Verhalten, Ihre Gesten oder Ihren
4 heiß baden oder duschen, Gesichtsausdruck. Sie haben hier die Möglichkeit,
4 warme, rote Farbe über die Arme laufen lassen, diesem Menschen andere Reaktionen entgegenzu-
4 joggen, tanzen oder trommeln. bringen, als die, die er bereits von seiner Umgebung
kennt: Mitgefühl und Respekt. Machen Sie eine kor-
Geschmackliche Reize, wie frischer Meerrettich, rekte Wundversorgung, die Schmerzwahrnehmung
scharfer Senf oder Tabasco haben sich als hilfreich setzt nach dem SVV wieder ein, arbeiten Sie zügig,
erwiesen, ebenso wie das Beißen in eine Chilischote ohne zusätzliche Schmerzen zu erzeugen. Machen
oder eine frische Zitrone. Auch eine Brausetablette Sie deutlich, dass es in Ordnung ist, über SVV zu
(Kalzium oder Vitamine), die direkt in den Mund sprechen, wenn Patienten dies wünschen. Bieten Sie
genommen und gelutscht wird, bietet einen starken immer wieder Alternativen zum SVV an und üben
Reiz. Sie den Einsatz der Spannungskurve. Gerade weil es
Auch optische Reize haben sich als nützlich er- schwierig für Patienten sein kann, in Spannungszu-
wiesen, z. B. das Duschen mit roter Lebensmittel- ständen Alternativen zu erinnern und anzuwenden,
oder Fingerfarbe. brauchen Pflegende viel Geduld und Gelassenheit,
Das Drücken von Schmerzpunkten, z. B. an der um ihre Patienten immer wieder zu ermutigen und
Orbita, ist geeignet, Entfremdungserleben entgegen- anzuspornen.
zuwirken.
Überprüfen Sie Ihr Wissen!
4 Welche Risikofaktoren kennen Sie, die bei der
22.6 Umgang mit Menschen Entwicklung einer posttraumatischen Störung
nach Selbstverletzung vorliegen können? 7 Kap. 22.1
4 Welche Schutzfaktoren helfen, trotz traumati-
Auch wenn Alternativen zum Spannungsabbau an- scher Erfahrungen die Ausbildung einer trauma-
geboten werden, kann es zu Selbstverletzungen tischen Störung zu verhindern? 7 Kap. 22.1
kommen. 4 Welche organische Veränderung ist hauptsäch-
lich an den Zuständen leicht auslösbarer und
Praxisbox lang anhaltender innerer Erregungszustände
Die gute Wundversorgung ist auch eine Versor- beteiligt? 7 Kap. 22.4.3
gung der psycho-physischen Ver-Wund-barkeit, 4 Welche Betreuungsform der Pflege stellt sich an-
hier ist immer darauf zu achten, keine re-trau- gesichts der Risiko- und Schutzfaktoren als ge-
matisierenden Bedingungen entstehen zu eignet dar? 7 Kap. 22.4.3
lassen.
Literatur
307 22
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23

23 Pflege bei Abhängigkeits-


erkrankungen
Rosemarie Heger

23.1 Entstehungsbedingungen – 310


23.1.1 Ursachen und Risikofaktoren – 311
23.1.2 Definition – 311

23.2 Typologie – 312


23.2.1 Phasen der Alkoholabhängigkeit – 312
23.2.2 Verlauf des Gamma-Alkoholismus – 312

23.3 Folgeschäden – 313


23.3.1 Körperliche Schäden – 313
23.3.2 Funktionsstörungen im psychosozialen Bereich – 314

23.4 Diagnose der Alkoholabhängigkeit – 314


23.4.1 Indikatoren abhängigen Alkoholkonsums – 314

23.5 Co-Abhängigkeit – 314

23.6 Behandlung der Alkoholabhängigkeit – 315


23.6.1 Behandlungsverlauf – 315
23.6.2 Motivation des Patienten – 316

23.7 Abwehrmechanismen – 316


23.7.1 Umgang mit Abwehrmechanismen – 317

23.8 Veränderungsprozesse – 317


23.8.1 Pflegerischer Kontakt mit Abhängigen – 318
23.8.2 Grundhaltung – 318
23.8.3 Sozial-pädagogische Grundsätze – 318
23.8.4 Aspekte motivierender Gesprächsführung – 319
23.8.5 Kurzintervention – 319

23.9 Überleitung – Netzwerke – 320

Literatur – 320
310 Kapitel 23 · Pflege bei Abhängigkeitserkrankungen

) ) In Kürze holkrankheit ist eine wesentliche Voraussetzung


des Verstehens dieser Patienten und der professio-
Substanzabhängigkeit ist im Pflegealltag ein ver- nellen Einordnung der Verhaltensauffälligkeiten.
breitetes Phänomen. Wir sehen Konsumenten lega- Ressourcen- und lösungsorientierte Kurzinterven-
ler Drogen, wie Alkohol und Tabak, und Konsumen- tion sowie Regeln der motivierenden Gesprächs-
23 ten illegaler Drogen, wie Heroin, Kokain, Cannabis führung werden ebenso Thema sein wie der Blick
etc., aber auch z. B. Menschen, die spiel- oder ess- auf co-abhängiges Verhalten. Am Kapitelende wird
brechsüchtig sind. Zentrales Merkmal aller Abhän- auf die Frage »Was kommt danach?« eingegangen.
gigkeitserkrankungen ist die psychische Abhängig-
keit. In der Pflege begegnet man vorwiegend der Wissensinhalte
Droge Nr. 1, dem Alkohol und den alkoholbezoge- Nach dem Studium dieses Kapitels wissen Sie:
nen Störungen. Daher werden in diesem Kapitel 7 was mögliche Indikatoren einer Alkoholabhän-
exemplarisch die Alkoholproblematik und der pfle- gigkeit sind
gerische Umgang damit behandelt. 7 wie sich ein typischer Verlauf des Gamma-Alko-
Jährlich sterben in Deutschland etwa 42 000 holismus gestaltet
Menschen an den direkten oder indirekten Folgen 7 welche körperlichen Schäden durch Alkohol-
des Alkoholmissbrauchs (DHS, 2004). Diese Zahl missbrauch verursacht werden
deutet auf ein erhebliches gesundheitspolitisches 7 welche Behandlungsschritte denkbar sind
Problem hin. Während das Hilfesystem bzw. die Hil- 7 wie man im Pflegealltag Abwehrmechanismen
feangebote für Suchtkranke relativ gut ausgebaut des Patienten begegnen kann
sind, besteht nach wie vor Handlungsbedarf in der 7 welche pflegerische Kommunikation die Krank-
Kooperation der Träger der Hilfeangebote unterein- heitseinsicht fördert
ander. Den Pflegekräften in den verschiedenen 7 wie co-abhängigem Verhalten im Pflegealltag
Versorgungsfeldern (stationär, ambulant, ambulant- begegnet werden kann
komplementär etc.) kann hier eine besondere Rolle 7 wohin Abhängigkeitskranke entlassen werden
zukommen, nämlich die, eine systemübergreifende können
Hilfeplanung mit zu initiieren bzw. zu begleiten.
Nach der Definition der Welt-Gesundheits-
Organisation (WHO) ist diejenige Person substanz- 23.1 Entstehungsbedingungen
abhängig, die ohne die Droge nicht mehr leben
kann bzw. die Kontrolle über die Menge der kon- Zur Erklärung des Phänomens Suchtmittelabhän-
sumierten Substanz verloren hat (Kontrollverlust). gigkeit wurden zahlreiche Modelle entwickelt. Das
Beeinflusst wird der Umgang mit Alkoholabhängi- derzeit gängige Modell beschreibt ein multifaktori-
gen auch durch die negative soziale Bewertung, die elles bio-psychosoziales Bedingungsgefüge. Dieses
dieser Personenkreis in der Gesellschaft erfährt. erklärt sich:
Auch im Pflegealltag zeigen Alkoholabhängige 4 aus der Droge selbst, ihrer psychotropen Wir-
nicht selten ein widerständiges, wenig krankheits- kung und ihrem Abhängigkeitspotenzial,
einsichtiges und behandlungsbereites sowie mit- 4 aus der sozialen Griffnähe, also auch der kulturel-
unter »unzuverlässiges« Verhalten. Diese krankheits- len bzw. gesellschaftlichen Akzeptanz der Droge,
bedingten Verhaltensweisen stellen das Pflegeper- 4 aus den spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen
sonal vor eine große Herausforderung, der es mit des konsumierenden Individuums.
geeigneten Methoden zu begegnen gilt. Der ange-
messene Umgang mit diesen, der Abhängigkeits- Diese drei Merkmale sind je nach Droge, gesell-
erkrankung inhärenten Störungen ermöglicht nicht schaftlichen Bedingungen sowie der Persönlichkeit
nur einen ressourcenorientierten Pflegeprozess, des Konsumenten unterschiedlich wirksam und be-
sondern fördert die Krankheitseinsicht und Behand- dingen sich gegenseitig. Das Abhängigkeitspotenzial
lungsbereitschaft des betroffenen Patienten. Die einer Substanz wird bestimmt durch die psychotro-
Kenntnis des Verlaufs und des Charakters der Alko- pe Wirkung und durch die Entwicklung einer Ge-
23.1 · Entstehungsbedingungen
311 23

wöhnung sowie einer Toleranzsteigerung bis hin zur ist gestört, beispielsweise die Selbst- und Fremd-
körperlichen Abhängigkeit. Aufgrund seiner ent- wahrnehmung, die Frustrationstoleranz, die Affekt-
spannenden und enthemmenden Wirkung hat Al- und Impulskontrolle.
kohol ein relativ hohes Suchtpotenzial. Die Lerntheorie fragt nach der Funktion, die Al-
Die Griffnähe beschreibt, wie gesellschaftlich kohol im Leben des Betroffenen einnimmt. Sie geht
akzeptiert die Droge ist und wie einfach oder auch davon aus, dass verstärkter Alkoholkonsum erlernt
kompliziert ihre Beschaffung und Finanzierung ist. ist und folglich auch wieder verlernt werden kann.
Die soziologische Theorie nimmt (unbewusste)
Rollenkonflikte und Machtbedürfnisse an. Die daraus
23.1.1 Ursachen und Risikofaktoren resultierenden Ängste werden mit verstärktem Al-
koholkonsum beantwortet.
Um Antwort auf die Frage »Wer wird alkoholkrank?« Biologische Faktoren. Familienuntersuchungen
bemühen sich weltweit zahlreiche Forscher. Hier weisen darauf hin, dass es genetische Dispositionen
werden die derzeit gängigsten Theorien vorgestellt. zur Entwicklung einer Alkoholkrankheit gibt (Ba-
Auch wenn es keine explizite Suchtpersönlich- sisinformation Alkohol DHS Info, Hamm, 2001), Das
keit gibt, wurden doch Risikofaktoren ermittelt, die Systemische Paradigma geht von der Bedeutung des
eine Abhängigkeitsentwicklung fördern bzw. Bedin- Symptoms für das jeweilige Beziehungsverhalten aus.
gungen, die ihr entgegenwirken. Der generelle Um- Es fragt nach der beziehungsgestaltenden Wirkung
gang mit Alkohol ist das Ergebnis eines individuellen der Alkoholabhängigkeit für das jeweilige Bezugssys-
Aneignungsprozesses. Konsumbezogene Normen- tem. Es versucht, die Dynamik und die Wechselwir-
bildung in der Familie prägen demnach den späteren kung der Suchtentwicklung zu erklären.
Trinkstil. Das Aufwachsen in einer dysfunktionalen
! Welchem Erklärungsmodell auch immer der
Familie, in der Kinder keine ausreichende emotiona-
Vorzug gegeben wird, für den Betroffenen
le Versorgung und Betreuung erfahren, gilt als ein
Patienten ist das Ergebnis einer Alkoholab-
Risikofaktor, schneller zu Substanzen mit psychotro-
hängigkeit in etwa gleich: die erhebliche Be-
per Wirkung zu greifen.
einträchtigung der körperlichen, seelischen,
Die psychoanalytischen Theorien gehen davon
geistigen und sozialen Gesundheit geht bei
aus, dass Sucht das Symptom einer tiefliegenden
Nichtbehandlung letztendlich mit einem Ver-
frühkindlichen psychischen Störung ist. Diese äu-
lust sämtlicher sozialer Bezüge, wie Arbeits-
ßert sich u. a. darin, dass eigene Bedürfnisse und
platz, Familie und Freunde, einher.
Triebwünsche nicht sinnvoll befriedigt werden kön-
nen. Die Entwicklung zahlreicher Ich-Funktionen

23.1.2 Definition

Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisati-


on (WHO) ist derjenige alkoholabhängig, der
Droge Umwelt 4 die Kontrolle über die Menge seines Alkohol-
konsums verloren hat,
4 unfähig ist zur Abstinenz.

Person Diagnostiziert wird die Alkoholabhängigkeit nach


ICD 10. Das Alkoholabhängigkeitssyndrom ist dem-
nach F10.2.
In der Pflege begegnet man aber auch einer gro-
ßen Bandbreite alkoholbedingter Störungen und Fol-
geerkrankungen, die auf einen schädlichen oder auch
. Abb. 23.1. Bedingungsgefüge (mod. nach Schmidt, 1997) riskantem Alkoholkonsum zurückzuführen sind.
312 Kapitel 23 · Pflege bei Abhängigkeitserkrankungen

Definition Seit 1968 ist Alkoholabhängigkeit als Krankheit an-


erkannt (Urteil des Bundessozialgerichtes 1968).
Als schädlicher Gebrauch wird ein Alkoholkon-
Damit ist eine Finanzierung der Behandlung der
sum bezeichnet, der gewohnheitsmäßig in
Alkoholkrankheit selbst und ihrer Folgeschäden
großen Mengen konsumiert wird. Hierbei muss
durch die Kranken- und Sozialversicherungssyste-
nicht zwangsläufig eine Abhängigkeit zugrunde
23 liegen. Riskanter Konsum liegt vor, wenn regel-
me gewährleistet.
mäßig täglich mehr als 20–30 g (Männer) bzw.
10–20 g (Frauen) reiner Alkohol konsumiert 23.2 Typologie
werden. Diese Menge hat sich als risikoreich für
die Entstehung von Folgeerkrankungen heraus- 23.2.1 Phasen der Alkohol-
kristallisiert Alkohol (Basisinformation Alkohol abhängigkeit
DHS Info, Hamm, 2001).

Das von Jellinek (in Schmidt, 1997) entwickelte


Phasenmodell und die Beschreibung des Verlaufs
In der Praxis ist die Diagnose »Alkoholabhängig- der Krankheit bestätigen sich in der Praxis immer
keit« erst in einem relativ späten Stadium eindeutig wieder. Betroffene erkennen sich in den beschriebene
und einfach (Feuerlein, 1984). Insbesondere auch Phasen wieder und werden ermutigt, ihre Erkran-
deswegen, weil die Betroffenen alles unternehmen, kung zu verstehen und anzunehmen (. Tabelle 23.1).
um sich und ihrem Umfeld eine eindeutige Zuord-
nung zu erschweren. Auch die konsumierte Alko-
holmenge ist kein verlässlicher Gradmesser, da es 23.2.2 Verlauf des Gamma-
erhebliche individuelle Verträglichkeitsunterschie- Alkoholismus
de gibt. Die Merkmale Kontrollverlust und Absti-
nenzunfähigkeit werden von den Betroffenen so Der Gammatyp ist die Form der Alkoholabhängig-
lange wie nur irgend möglich verleugnet. Die auf- keit, die in Deutschland bei ca. 80 % der Alko-
grund des Alkoholmissbrauchs aufgetretenen Stö- holkranken vorkommt. Der Rest verteilt sich auf
rungen und Erkrankungen könnten theoretisch – so den Delta- und den Epsilon-Typ. Das entscheidende
die Logik des Patienten – auch andere Ursachen Wesensmerkmal des Gamma-Typs ist der Kontroll-
haben. verlust. Der Betroffene verliert die Kontrolle über die
Menge des Trinkens, er kann nicht mehr aufhören,
Praxisbox bis eine äußere Grenze ein Ende setzt (z. B. Betroffe-
Es ist im Pflegeprozess immer sinnvoll, beobach- ner schläft ein, Alkoholvorrat ist zu Ende).
tete Folgen eines Alkoholkonsums bei dem Pati- Auch bei der Beschreibung des Gamma-Typs
enten anzusprechen. bedient sich Jellinek eines Phasenmodells. Die Rei-
henfolge dieser Phasen gehen fließend ineinander

. Tabelle 23.1. Trinkertypen nach Jellinek (1952)


Alpha-Typ Beta-Typ Gamma-Typ Delta-Typ Epsilon-Typ
Konflikttrinker Gelegenheitstrinker Süchtiger Trinker kontinuierlicher episodischer Trinker
Alkoholkonsum (Quartalstrinker)
(Spiegeltrinker)
psychische Keine Abhängigkeit Psychische und phy- physische physische Abhängigkeit
Abhängigkeit sische Abhängigkeit Abhängigkeit
kein Kontrollverlust Kein Kontrollverlust Kontrollverlust Unfähigkeit zur Kontrollverlust, jedoch
und Fähigkeit zur Abstinenz Fähigkeit zur Abstinenz
Abstinenz kein Kontrollverlust
23.3 · Folgeschäden
313 23

über. Die beschriebenen Merkmale muss nicht jeder deutlich. Der Betroffene hat in dieser Situation die
Alkoholkranke genau so durchlaufen. Vielmehr ist Entscheidungsmöglichkeit, »das erste Glas stehen zu
die Beschreibung als Modell zu verstehen, das in lassen«, denn kleinste Alkoholmengen können ein
seiner Gesamtheit das Bild der Alkoholabhängigkeit unwiderstehliches Verlangen nach mehr Alkohol
zeichnet. auslösen. In dieser Phase werden in aller Regel zahl-
reiche Anstrengungen unternommen, um die nun-
Voralkoholische Phase mehr bestehende Alkoholabhängigkeit möglichst
Die voralkoholische Phase ist zunächst gekennzeich- geheim zu halten, z. B. durch vermehrtes heimliches
net durch gelegentliches Erleichterungstrinken, Er- Trinken. Bei Trinkgelegenheiten werden vorab
höhung der Alkoholtoleranz bis hin zum häufigen (heimlich) die ersten Gläser hastig konsumiert, um
Erleichterungstrinken. Der Beginn des Trinkens al- eine schnelle Wirkung zu erzielen. In der Gesell-
koholischer Getränke ist bei potenziellen Alkohol- schaft wird dann ein »normales« Trinkverhalten
abhängigen in der Regel unauffällig. Vielmehr ergibt gezeigt.
sich das Bild des Beginns eines gesellschaftlich un- Das vorherrschende Gefühl des Alkoholabhän-
auffälligen Umgangs mit Alkohol. Im Gegensatz zu gigen ist Schuld und Scham. Er wird alles versuchen,
denjenigen, die weiterhin sozial akzeptiert trinken diese Gefühle nicht zu spüren und unter Umständen
können, entwickelt der potenziell Alkoholabhängige ein renommistisches Gehabe an den Tag legen. Für
eine derart befriedigende Erleichterung beim Trin- die Pflege und den Umgang ist es von besonderer
ken, dass dieser Zustand so oft es geht wieder herbei- Bedeutung, diese Verhaltensweisen adäquat zu deu-
geführt wird. ten und dem Patienten die Möglichkeit zu geben,
Im weiteren Verlauf kommt es zur Toleranzab- seine Abwehr aufzugeben. Aber auch ein regressives
nahme für seelische Belastungen, was – wie in einem Verhalten ist zu beobachten, was eine unterstützend
Teufelskreis – erneuten Trinkwunsch auslöst. Alko- erzieherische Pflege sinnvoll erscheinen lässt.
hol wird zunehmend als Stimmungsregulanz kon-
sumiert. Weder dem Betroffenen selbst noch seinem Praxisbox
Umfeld fällt der missbräuchliche Umgang mit Alko- Das Phasenmodell und der Krankheitsverlauf
hol auf. nach Jellinek können gut mit Patienten be-
sprochen werden, was die Krankheitseinsicht
Prodromal- oder Anfangsphase erleichtert und die Behandlungsbereitschaft
Die Prodromal- oder auch Anfangsphase beginnt in fördert.
der Regel mit ersten Gedächtnislücken. Nach ca. 1–5
Jahren regelmäßigen Alkoholmissbrauchs werden
Auffälligkeiten deutlich. Eher unbewusst spürt der
Betroffene, dass er anders trinkt als andere. Der 23.3 Folgeschäden
Alkohol wird zunehmend zum notwendigen psychi-
schen Regulanzmittel. Heimliches Trinken, schnel- 23.3.1 Körperliche Schäden
les Trinken des ersten Glases, Vermeidung von Ge-
sprächen über Alkohol sowie Schuldgefühle wegen Chronischer Alkoholkonsum kann in allen Organ-
des Trinkens sind in dieser Anfangsphase kenn- systemen Störungen verursachen. Das Ausmaß und
zeichnend. Noch hat der potenziell Abhängige die die Schwere der Schäden sind auch abhängig von
Kontrolle über die Menge seines Konsums. Nach der zugeführten Alkoholmenge, dem Alter des Pa-
außen hin wirkt er in einer permissiven Gesellschaft tienten, Vorschädigungen und auch vom Geschlecht.
eher als kontaktfreudig. Neben dem Alkohol selbst, der ein Zellgift ist, beein-
trächtigt auch Mangelernährung, die bei Alkohol-
Kritische Phase abhängigen häufig anzutreffen ist, den gesundheit-
Die kritische Phase wird eingeleitet durch das Auf- lichen Zustand des Patienten.
treten des Kontrollverlustes. Damit wird die Al- Neben den somatischen Diagnosen, wie z. B.
koholproblematik erstmals auch für das Umfeld chronischer Gastritis, Leberschäden oder Schädi-
314 Kapitel 23 · Pflege bei Abhängigkeitserkrankungen

gung der Bauchspeicheldrüse, leiden Alkoholabhän- 4 Toleranzentwicklung,


gige an vielfältigen Stoffwechsel- und Mineralstoff- 4 Anlegen von Alkoholvorräten und heimliches
störungen, sowie Störungen des Vitaminhaushaltes. Trinken.
Somit ist im Pflegealltag ein besonderes Augenmerk
auf die Ernährung wichtig. Dies sind jeweils Hinweise. Um das Vorliegen einer
23 Alkoholabhängigkeit zu vermuten, müssen gleich-
zeitig 3 dieser Merkmale während der letzten 12 Mo-
23.3.2 Funktionsstörungen nate festgestellt werden.
im psychosozialen Bereich
Körperliche Indikatoren:
Alkoholabhängigkeit kann zu Funktionsstörungen 4 Appetitlosigkeit,
in allen Bereichen des persönlichen Lebens führen, 4 Magen-Darm-Probleme,
z. B.: 4 depressive Verstimmungen,
4 Verlust des Arbeitsplatzes, 4 Fettleber.
4 Zerstörung der Familie,
4 soziale Isolation. Verhaltensindikatoren:
4 verminderte emotionale Kontrolle (»Ausras-
Diese Aufzählung lässt ahnen, dass das unmittelbare ten«),
Umfeld des Betroffenen immer auch von der Abhän- 4 erhebliche Stimmungsschwankungen,
gigkeitserkrankung mitbelastet ist (7 auch Abschnitt 4 Selbstmitleid,
Co-Abhängigkeit) 4 Schuldzuweisung an andere.

23.4 Diagnose der Alkohol- 23.5 Co-Abhängigkeit


abhängigkeit
Definition
23.4.1 Indikatoren abhängigen Als co-abhängig werden Verhaltensweisen
Alkoholkonsums bezeichnet, die geeignet sind, die Suchterkran-
kung des Betroffenen zu verlängern und einen
Wenngleich eine genaue Diagnose der Alkoholkrank- Genesungsprozess hinauszuzögern.
heit erst im fortgeschrittenen Stadium sicher mög-
lich ist, so gibt es im Pflegealltag doch Indikatoren,
die zumindest auf eine Alkoholproblematik hindeu- In erster Linie sind die nächsten Angehörigen in der
ten können. Gefahr, sich co-abhängig zu verhalten. Dies geschieht
immer dann, wenn sie versuchen, die Folgen der Al-
Gesamteindruck: koholproblematik zu beseitigen oder zu verringern.
4 häufige Alkoholfahne, Gleichgültig, um welches Suchtmittel es sich
4 abnorme Gesichtsröte, handelt, um Alkohol, Medikamente, illegale Drogen,
4 Anzeichen eines Alkoholentzugssyndroms (z. B. Essstörungen oder Spielsucht, gemeinsam ist den
Zittern). Angehörigen Folgendes: sie machen sich große Sor-
gen, sie ängstigen sich, sie versuchen mit verschiede-
Trinkverhalten: nen Methoden zu helfen und fühlen sich nach jahre-
4 Weitertrinken trotz Wissens um die schädlichen langen erfolglosen Versuchen hilflos, ohnmächtig
Folgen (z.B. körperliche Beeinträchtigungen, und auch zornig. Die Intensität der Gefühlszustände
Schwierigkeiten mit Mitbewohnern und Pflege- hängt mit dem Grad der Nähe zusammen, die der
personal, Auflagen), Angehörige zu dem Betroffenen hat.
4 gesteigertes Verlangen nach Alkohol, Genauso wie der Abhängige versucht oft auch
4 verminderte Kontrollfähigkeit, der Angehörige die Suchterkrankung jahrelang als
23.6 · Behandlung der Alkoholabhängigkeit
315 23

»Familiengeheimnis« zu behandeln. Beide haben sierung und Aufrechterhaltung der Abstinenz sinn-
mehr oder weniger lange versucht, die Folgen des voll sein.
Suchtmittelmissbrauchs auszugleichen, z. B. das
Trinkverhalten des Betroffenen nach außen hin ent-
schuldigt oder Schulden beglichen. Angehörige von 23.6.1 Behandlungsverlauf
Abhängigen können mitunter den Pflegeprozess er-
heblich behindern. Dies geschieht beispielsweise in- Die hier vorgestellten Behandlungsphasen sind als
dem sie die Selbstpflegekompetenz des Patienten in Orientierungshilfe zu sehen.
Frage stellen aber auch indem sie überhöhte Ansprü-
che an das Pflegepersonal stellen. So wie der Abhän- Kontaktaufnahme
gige benötigt auch der Angehörige in aller Regel pro- Der erste Behandlungsschritt ist die Kontaktaufnah-
fessionelle Hilfen, die in Suchtberatungsstellen ange- me zu einem Hilfesystem (Arzt, Klinik, Beratungs-
boten werden. Wesentlich für den Genesungsprozess stelle). Durch diesen Schritt »nach draußen« bekennt
der Angehörigen ist ein Umdenken über das, was der Betroffene, dass es überhaupt ein Problem gibt.
Hilfe ist, und die Bereitschaft, eigene Verhaltenswei- Diese Phase ist noch gekennzeichnet von Zweifeln,
sen zu hinterfragen und zu modifizieren. Scham und der Angst, eine endgültige Abstinenz-
Nicht nur Angehörige, sondern auch Helfer kön- entscheidung treffen zu müssen. Die Phase der Kon-
nen Gefahr laufen, sich im Umgang mit Suchtmittel- taktaufnahme kann einen längeren Zeitraum in An-
abhängigen co-abhängig zu verhalten. Insbesondere spruch nehmen bis sich der Patient zum nächsten
in Pflegeeinrichtungen, betreuten Wohneinrichtun- Schritt, der körperlichen Entgiftung und der Be-
gen oder häuslicher Pflege besteht die Gefahr der handlung des Entzugssyndroms stellen kann.
strukturellen Co-Abhängigkeit, nämlich dann, wenn
die Folgen eines Alkoholmissbrauchs in Form einer Körperliche Entgiftung
Pflegeleistung zu beseitigen sind. Dies kann sowohl im ambulanten als auch im stati-
Eine genaue Abstimmung der Hilfepläne, kolle- onären Rahmen geschehen. Während die Entzugs-
gialer Austausch und Supervision sind Instrumente, syndrome Delirium tremens, zerebrale Krampfan-
co-abhängige Verhaltensweisen geringer zu halten fälle und Halluzinosen eine stationäre und auch
und gemeinsam Alternativen zu entwickeln (Schmid- medikamentöse Entzugsbehandlung erforderlich
bauer, 2002). machen, kann in leichteren Fällen auf eine Medika-
tion verzichtet werden. In der Regel ist nach spä-
testens 10 Tagen die körperliche Entgiftung vom
23.6 Behandlung der Alkohol- Alkohol abgeschlossen (die Entgiftung von anderen
abhängigkeit Substanzen, z. B. Medikamenten, kann hingegen
deutlich länger dauern). Ebenso verlängert sich diese
Bislang ist die Alkoholabhängigkeit nicht heilbar, Behandlungsphase, wenn erhebliche Alkoholfolge-
durch eine Abstinenzentscheidung ist der zerstöre- schäden diagnostiziert werden. Eine stationäre Ent-
rische Prozess jedoch zu stoppen. Die Uneinheit- giftungsbehandlung ist immer auch ein krisenhafter
lichkeit des Krankheitsbildes Alkoholabhängigkeit Prozess und an sich schon eine »Intervention«, in
erfordert ein breites Behandlungsangebot, das sich der Menschen für eine Ansprache zur möglichen
jeweils in seiner Dauer, seinem Setting und seiner Weiterbehandlung ihres Abhängigkeitssyndroms
Intensität unterscheiden muss. Die Angebote rei- empfänglicher sind. Die verschiedenen Pflegever-
chen von kurzen oder längeren stationären Aufent- richtungen während einer stationären Entgiftung
halten bis zur professionellen ambulanten Behand- sind gute Möglichkeiten, mit dem Patienten moti-
lung. Eine besondere Stellung nehmen hier die vierende Gespräche zu führen.
Selbsthilfegruppen, wie z. B. die Anonymen Alko-
holiker, ein. Während die professionellen Angebote Entwöhnung
»einen Anfang und ein Ende« haben, kann der jah- Es schließt sich als nächster Schritt die Entwöh-
relange Besuch einer Selbsthilfegruppe zur Stabili- nungsbehandlung an. Diese zielt wesentlich auf die
316 Kapitel 23 · Pflege bei Abhängigkeitserkrankungen

Überwindung der psychischen Abhängigkeit und Im Verlauf der Alkoholabhängigkeit hat der Patient
das Erlernen alternativer Konfliktlösungsstrategien. die Verantwortung für sein Handeln der Umwelt
Hierzu gehören auch die Auseinandersetzung mit bzw. dem Umfeld überlassen (»die anderen sind
der Sinnfrage sowie das Hinterfragen bisheriger Le- schuld daran, dass ich trinke!«). Die Eigenverant-
benseinstellungen. Auch dieser Teil der Behandlung wortung kann beispielsweise durch Anleitung und
23 kann in unterschiedlichem Setting organisiert wer- Förderung der Selbstpflegekompetenz gestärkt wer-
den. Stationär, ambulant und auch teilstationär kann den (nach Orem). Das Selbstwertgefühl des Abhän-
eine solche Behandlung erfolgreich durchgeführt gigen wird gefördert, wenn er in die Pflege anderer
werden. Aufgrund der unterschiedlichen Krank- Patienten miteinbezogen werden kann. Er macht
heitsbilder, der Krankheitsentwicklung und auch dadurch die Erfahrung, »nützlich und hilfreich« zu
der bereits bestehenden Folgeschäden ist das Be- sein.
handlungsangebot variabel. Die Art der Behandlung
klärt der Patient in der Regel in einer Suchtbera-
tungsstelle, Fachambulanz oder auch mit seinem 23.7 Abwehrmechanismen
speziell geschulten Arzt.
»Abwehrmechanismus« ist ein psychoanalytischer
Nachsorge Begriff. Er beschreibt Verhaltensweisen, mit denen
Die Nachsorge im Anschluss an eine Entwöhnungs- sich Menschen vor negativen Gefühlen und Empfin-
behandlung übernehmen professionelle Beratungs- dungen schützen. Abwehrmechanismen haben die
stellen und anknüpfend daran die Selbsthilfegrup- Funktion, einen Schutz gegenüber dem Überflutet-
pen. Es hat sich gezeigt, dass der regelmäßige Besuch werden von Angst und negativen Gefühlen zu leis-
einer Selbsthilfegruppe die Abstinenzentscheidung ten. Die Mobilisierung der Abwehrmechanismen
wesentlich stabilisiert, sodass es in jedem Falle sinn- verläuft weitestgehend unbewusst. Sie werden einge-
voll ist, Patienten zu ermutigen, sich einer solchen setzt, wenn ein Konflikt äußeren Ursprungs (z. B.
Gruppe anzuschließen. reale Gefahren) oder auch inneren Ursprungs (z. B.
unerlaubte Gefühle, Impulse) nicht bewusst gelöst
werden kann. Erlebt wird somit nicht der Vorgang
23.6.2 Motivation des Patienten der Abwehr, sondern lediglich das Ergebnis, z. B.:
Schutz vor Kränkung, vor Veränderung, die eigene
Grundsätzlich wird ein Abhängigkeitskranker erst Realität sehen müssen.
dann eine Veränderung seines Trinkverhaltens an- Die Motivation des Abhängigen wird auf eine
streben, wenn der persönliche Leidensdruck groß harte Probe gestellt. Bedeutet doch der Verzicht auf
genug ist und wenn die Nachteile des Trinkens über- Alkohol zunächst eine Verschlechterung seiner Be-
wiegen. Trotzdem ist die Motivation, eine Absti- findlichkeit. Mehr oder minder schwere Entzugser-
nenzentscheidung zu treffen, ambivalent. Diese Am- scheinungen, erhöhte Reizbarkeit, Ängstlichkeit,
bivalenz kann sich eine lange Zeit durch den Be- Schlaflosigkeit, Wahrnehmung der Realität sind nur
handlungsablauf zeigen und erfordert immer wieder, einige Folgen, mit denen sich der Abhängige ausei-
den ursprünglichen Beweggrund zu stärken. Der nandersetzen muss. Die auftretenden Schuld- und
Motivationsprozess kann aber auch durch die Hal- Schamgefühle, die Selbstverachtung und die Selbst-
tung der Pflegeperson positiv beeinflusst werden. Es vorwürfe werden hinter Abwehrmechanismen ver-
sollte hauptsächlich auf Fakten geachtet werden, die steckt.
den Patienten ermutigen, an seinem Genesungspro- Oft erfolgt der Einsatz von Abwehrmechanis-
zess aktiv mitzuarbeiten. Der Patient sollte wieder men, wenn eine Verletzung des Selbstwertgefühls
lernen, Verantwortung für sich zu übernehmen. droht. Der starre Einsatz von Abwehrmechanismen
birgt die Gefahr einer Behinderung der persönlichen
! Die Übernahme der Eigenverantwortung Entfaltung, der persönlichen Entwicklung, der
ist ein wesentlicher Teil des Gesundungs- Selbstverwirklichung und nicht zuletzt des Gesun-
prozesses. dungsprozesses.
23.8 · Veränderungsprozesse
317 23

Die wichtigsten Abwehrmechanismen sind: werden bzw. sich selbst abzuwerten. Es ist deshalb
4 Verleugnung: Hierdurch wird ein Teil der Angst wenig hilfreich, nur die Abwehr aufzuzeigen. Damit
machenden Realität von der Wahrnehmung aus- wird die Angst gesteigert und die Abwehr vergrö-
geschlossen (»Vogel-Strauß-Politik«). ßert. Sinnvoller und Erfolg versprechender ist es, die
4 Bagatellisierung: Die Ernsthaftigkeit der Erkran- dahinter liegende Angst anzusprechen und dem Pa-
kung und ihrer Folgen wird verharmlost, die tienten verstehbar zu machen.
Realität verzerrt wahrgenommen. Um die Abwehr nicht zu aktivieren und zu ver-
4 Projektion: Wünsche, Impulse, Charakterzüge tiefen, ist eine annehmende, einfühlende und verste-
und Verhaltensweisen, die Menschen an sich hende Haltung des Pflegepersonals notwendig. Nur
selbst verurteilen, schreiben sie anderen zu, wer- in einer annehmenden und verstehenden Atmos-
den auf andere Personen projiziert. Projektion phäre werden Abwehrmechanismen sinnlos und der
führt ebenfalls zur Störung bzw. Verzerrung der Abhängige entwickelt zunehmend den Mut, auf sei-
Realitätswahrnehmung. ne Abwehr zu verzichten. Er beginnt zu zeigen, was
4 Rationalisierung: Scheinbegründungen werden er wirklich denkt und fühlt. Damit erhöht sich die
konstruiert. Ein Angst auslösendes Verhalten Chance einer Krankheitseinsicht und die Bereit-
wird durch intellektuelle Rechtfertigung akzep- schaft, Veränderungen vorzunehmen.
tabel gemacht (»Ich trinke, weil «…).
4 Regression: Ist ein Konflikt durch die bisher
beschriebenen Abwehrmechanismen nicht zu 23.8 Veränderungsprozesse
bewältigen, erfolgt als Notlösung die Regressi-
on. Diese zeigt sich durch Teilrückzug in eine Veränderung gestaltet sich als Prozess, der verschie-
frühere Entwicklungsphase. Es kommt zum dene Stadien der Veränderungsbereitschaft durch-
Rückfall in eine frühere infantile psychische läuft.
Entwicklungsstufe. Das logische Denken wird Proschaska und diClemente (1999) entwickelten
verlassen, ein mehr emotional gestörtes Denken ein Modell, das diese Stadien der Veränderungsbe-
tritt auf. reitschaft beschreibt und hilfreiche Hinweise für er-
4 Verdrängung: Diese geniest eine Sonderstellung folgreiche Interventionen erlaubt:
unter den Abwehrmechanismen, weil sie star- 4 In der ersten Phase ist der Patient absichtslos im
ke Triebregungen noch bewältigen kann, ge- Hinblick auf seine Suchterkrankung. Er hat kei-
gen die andere Abwehrmechanismen machtlos nerlei Krankheitseinsicht oder gar Problembe-
sind. Verdrängung führt zu partiellem Wahr- wusstsein. In diesem Stadium ist es sinnvoll,
nehmungsausfall, der den gesamten Blick scheu- dem Patienten neue Informationen über seine
klappenartig einengen kann. Das Ergebnis sind Erkrankung zu geben. Eine Rückmeldung über
naive Erwartungen, unrealistische Einschätzung erhobene Befunde und ihre Bedeutung ist eben-
der eigenen Möglichkeiten, und letztendlich Re- falls eine sinnvolle Intervention. Eine Rückmel-
alitätsverlust. dung über die beobachtete aktuelle Situation der
Patienten kann dazu beitragen, ein Problembe-
wusstsein zu entwickeln. Damit hat der Patient
23.7.1 Umgang mit Abwehr- die Möglichkeit, sich mit der Realität auseinan-
mechanismen der zu setzen.
4 Die nächste Phase im Veränderungsprozess ist
Ein zentrales Merkmal bei Alkoholabhängigen ist gekennzeichnet durch Ambivalenz. Die Wahr-
die Verleugnung der Realität ihrer Erkrankung. In nehmung des Problems wird begleitet durch eine
diesem Sinne ist das »Lügen« nicht moralisch zu be- Kosten-Nutzen-Analyse. In dieser Phase können
werten, sondern als Schutzmechanismus der Seele mit dem Patienten realistische Veränderungs-
zu begreifen, sich von Scham und Schuldgefühlen zu strategien ausgehandelt werden. Gleichzeitig
schützen. So ist der tiefere Grund all dieser Abwehr- wird er immer wieder auch an der Richtigkeit
mechanismen die Angst: die Angst, abgewertet zu seiner Entscheidung zweifeln.
318 Kapitel 23 · Pflege bei Abhängigkeitserkrankungen

4 Die Handlungsphase ist erkennbar dadurch, dass die zeitlich begrenzten Möglichkeiten effektiv zu
der Patient konkrete Schritte zur Veränderung nutzen.
unternimmt. Er trifft eine Abstinenzentschei-
! Unabhängig von medizinischen und thera-
dung und kümmert sich beispielsweise um einen
peutischen Verfahren ist die Haltung des
geeigneten Therapieplatz.
Pflegepersonals von allergrößter Wichtigkeit.
23 4 Jetzt ist der Patient bemüht, seine erzielte Verän-
Die eigene Person mit ihrer Haltung ist im
derung aufrecht zu erhalten und in den Alltag zu
Umgang mit Abhängigen als wichtigstes In-
integrieren, beispielsweise, indem er regelmäßig
strument zu sehen.
eine Selbsthilfegruppe besucht, um seine Absti-
nenzentscheidung zu stabilisieren. Folgender Hintergrund kann nützlich sein:
4 Als normales Ereignis kann nun ein Rückfall in 4 ständige Überprüfung der eigenen Haltung,
alte Verhaltensweisen auftreten. Entscheidend 4 Kenntnis und Berücksichtigung der Pathologie
ist, hierbei nicht zu verharren, sondern erneut in der Abhängigkeitserkrankung,
den Kreislauf der Veränderung einzutreten. 4 Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen,
4 Selbstkontrolle und Supervision.

23.8.1 Pflegerischer Kontakt


mit Abhängigen 23.8.3 Sozial-pädagogische
Grundsätze
Zu Beginn des Kontaktes ist es wesentlich, den Pa-
tienten so anzunehmen wie er ist. Eine allzu hef- In der Einzelfallarbeit haben sich Grundsätze be-
tige konfrontierende Haltung löst Abwehr aus, und währt, die nicht nur dem respektvollen Umgang
es droht ein Kontaktabbruch seitens des Patien- mit dem Patienten dienen, sondern auch für die
ten. Erfolg versprechender ist es, die noch vorhan- Pflegeperson eine entlastende Funktion haben kön-
denen Ressourcen des Patienten zu sehen und zu nen:
fördern. Patienten reagieren im Allgemeinen posi- 4 Achtung der Persönlichkeit des Patienten.
tiv auf die Einbeziehung in die Pflege. Dies fördert Alles mit dem Patienten, möglichst wenig für
die Eigenverantwortung am eigenen Genesungs- den Patienten. Nichts gegen den Patienten.
prozess. 4 Annahme des Patienten. Innere Akzeptanz der
Wertsysteme des Patienten.
Die nicht verurteilende Einstellung des Pflege-
23.8.2 Grundhaltung personals, und das Gefühl, akzeptiert zu werden,
bilden weitgehend die Grundlage für den Auf-
Im Umgang mit Abhängigen kann die Pflegeperson bau einer helfenden Beziehung.
besonders leicht unter Druck geraten. Gerne über- 4 Aufbau einer helfenden Beziehung.
tragen Abhängige die Verantwortung für ihr Wohl- Durch die Akzeptanz entsteht ein Vertrauens-
ergehen auf die Außenwelt – so auch auf die Pfle- verhältnis beruflicher Art. Durch die Qualität
genden. Gleichzeitig hat die Pflegeperson die Hilfe der Zielsetzung unterscheidet sich diese profes-
für andere und die Pflege für sich professionali- sionelle Beziehung von allen anderen Beziehun-
siert. Diese Konstellation kann mitunter zu Schwie- gen z. B. partnerschaftlicher und freundschaftli-
rigkeiten und Missverständnissen im Pflegealltag cher Art. Das Ziel ist, den Patienten zu ermuti-
führen. Daher ist es von Bedeutung, die eigene Be- gen, wieder Verantwortung für sein Leben und
grenztheit und Grenzen im aktuellen Pflegesetting seinen Genesungsprozess zu übernehmen.
einschätzen zu können. In der Regel ist der Kontakt 4 Bewusster Gebrauch der eigenen Persönlichkeit
zu dem Abhängigen zeitlich befristet. Der Motivati- und ihrer Stärken im Hilfeprozess.
ons- und Genesungsprozess umfasst jedoch einen Supervision und kollegialer Austausch dienen
größeren Zeitraum, in dem der Patient sich in ande- der Entlastung und der Korrektur eigener Ver-
ren Zusammenhängen befindet. Es gilt demnach, haltensweisen.
23.8 · Veränderungsprozesse
319 23

4 Arbeit mit den Stärken. Die genannten 4 Prinzipien werden über folgende
Zunächst ermitteln, was der Patient noch kann Methoden umgesetzt:
und inwieweit diese Fähigkeiten geeignet sind, 4 Offene Fragen stellen. Dies sind Fragen, die nicht
sein Selbstwertgefühl zu stärken. Nach den ge- mit Ja oder Nein zu beantworten sind, z. B.: »Was
sunden Anteilen der Persönlichkeit fahnden und denken Sie selbst über die Auswirkungen Ihres
diese aktivieren. Alkoholkonsums?«.
4 Hilfe zur Selbsthilfe. 4 Aktiv zuhören. Das heißt, das Gehörte so zu-
Den Patienten zur aktiven Teilnahme am Hilfe- rückmelden, dass der Patient sich zutiefst ver-
und Pflegeprozess ermutigen. standen fühlt. Beispiel: Patient: »Ich hatte noch
4 Ganzheitliche Sichtweise. nie ein Delirium!« Pflegeperson: »Sie sind froh,
Den Patienten im Kontext seiner Umgebung dass die Entgiftung bisher so problemlos abge-
wahrnehmen, seinem kulturellen Hintergrund, laufen ist!«
seiner Familie, seinem beruflichen Umfeld etc. 4 Die Wertschätzung ermöglicht den Aufbau einer
4 Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes des helfenden Beziehung. Beispiel: »Mich beein-
Patienten. druckt, wie sehr Sie sich um eine Veränderung
Der Patient ist verantwortlicher Teilnehmer des bemühen!«
Prozesses. Er ist nicht verpflichtet, die Vorschlä-
ge des Pflegepersonals anzunehmen. (Hunziker,
1997). 23.8.5 Kurzintervention

Neben der eher ausführlichen Variante des Motiva-


23.8.4 Aspekte motivierender tion Interviews können im Pflegealltag auch Kurzin-
Gesprächsführung terventionen ihren Platz finden.
Um den Betroffenen weiterhin darin zu unter-
Die motivierende Gesprächsführung, wie sie von stützen, die Realität seines Trinkverhaltens wahrzu-
Miller u. Rollnick (1999) formuliert ist, schließt sich nehmen, kann folgendes geschlossenes Fragenmo-
an die Haltung sozialpädagogischer Grundsätze an. dell genutzt werden, das 1974 von Mayfield et al. ent-
Motivierende Gesprächsführung – Motivation Inter- wickelt wurde. In der (ärztlichen) Praxis dient es als
viewing (M. I.) – ist ein Beratungskonzept zur Lö- eines der Diagnoseinstrumente, die Aufschluss über
sung ambivalenter Einstellungen gegenüber Verhal- das Trinkverhalten geben.
tensänderungen. Damit ist diese Methode für die Die CAGE-Fragen:
pflegerische Kommunikation mit Abhängigen be- 4 Cut down (herunterbrechen): »Haben Sie jemals
sonders geeignet. das Gefühl gehabt, Sie müssten Ihren Alkohol-
Den Kern des M. I. bilden die 4 Basisprinzipien: konsum vermindern?«
4 Annahme des Patienten in seinem So-sein. 4 Annoyed (aufgeregt): »Haben andere Personen
4 Diskrepanzen entwickeln. Das heißt, Vor- und Sie dadurch geärgert, dass sie Ihr Trinkverhalten
Nachteile einer Verhaltensänderung herausar- kritisiert haben?«
beiten. 4 Guilt feeling (Gewissensbisse): »Haben Sie sich
4 Mit dem Widerstand arbeiten, sich nicht dage- jemals schlecht oder schuldig wegen Ihres Trin-
gen stellen. Begünstigt wird der Patientenwider- kens gefühlt?«
stand, wenn die Pflegeperson ihn »dazu bringen 4 Eye opener (Augenöffner): »Brauchen Sie mor-
will, doch endlich Hilfe anzunehmen.« gens Alkohol, um erst richtig leistungsfähig zu
4 Den Glauben an die eigene Veränderungsfähig- werden?« (Mayfield et al. 1974, zit. nach Bundes-
keit stärken. Dies kann z. B. durch Bezug auf zentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2001)
frühere erfolgreiche Verhaltensänderungen ge-
schehen. Auch hiermit wird eine Hinwendung zur realen
Auseinandersetzung mit dem eigenen Trinkverhal-
ten gefördert.
320 Kapitel 23 · Pflege bei Abhängigkeitserkrankungen

23.9 Überleitung – Netzwerke 4 Welche körperlichen Schäden können alleine


durch Alkoholmissbrauch entstehen? 7 Kap.
Oft ist der Patientenkontakt in der Pflege eher von 23.3.1
kurzer Dauer. Insbesondere nach einer klinischen 4 Welche Abwehrmechanismen kennen Sie?
Behandlung besteht die Gefahr, dass der Patient ins 7 Kap. 23.7.1
23 scheinbar Ungewisse entlassen wird. Dies gilt es
möglichst zu vermeiden, denn: Literatur
! Die Arbeit mit Abhängigkeitserkrankungen Alkohol. Basisinformation DHS (2004) Hamm
Arend H (1999) Alkoholismus – Ambulante Therapie und Rück-
ist immer ein Gemeinschaftswerk unter-
fallprophylaxe. Beltz, Weinheim
schiedlicher Hilfesysteme. Kein Hilfesystem Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2001) Kurzin-
alleine kann das Phänomen Sucht versorgen tervention bei Patienten mit Alkoholproblemen. Bera-
bzw. behandeln. tungsleitfaden für die ärztliche Praxis. Berlin
Feuerlein W (1998) Alkoholismus – Missbrauch und Abhängig-
Um den Patienten eben nicht sich selbst zu überlas- keit. Thieme, Stuttgart
sen, soll ihm die Kontaktaufnahme mit einem wei- Hunziker A (1997) Alkoholkrankheit Alkoholmissbrauch
terführenden Hilfesystem ermöglicht werden. Je Kolitzus H (2000) Ich befreie mich von Deiner Sucht – Hilfen für
Angehörige von Suchtkranken. Kösel, München
nachdem, in welchem Pflegekontext der Patient er-
Körkel J, Veltrup C (2003) Motivational Interviewing: Eine Über-
reicht wurde, bieten sich unterschiedliche Anlauf- sicht. In: Suchttherapie 4: 115
stellen an: Lindenmayer J (1999) Alkoholabhängigkeit. Hogrefe, Göttin-
4 in Suchtfragen ausreichend qualifizierte (Haus-) gen
Ärzte, Lindenmayer J (1994) Lieber schlau als blau. Beltz, Weinheim
4 psychosoziale Beratungsstellen für Sucht- Sommerbauer (2003) Pflegemodell nach Dorothea Orem. Ös-
terreichische Pflegezeitschrift 8-9
kranke, Miller W, Rollnick S (1999) Motivierende Gesprächsführung.
4 Tagesstätten und betreute Wohnformen für Lambertus, Freiburg
Suchtkranke, Schmidbauer W (2002) Helfersyndom und Burnoutgefahr. Ur-
4 sozialpsychiatrische Dienste der Gesundheits- ban & Fischer, München
ämter, Schmidt L (1997) Alkoholkrankheit und Missbrauch. 4. Aufl
Kohlhammer, Stuttgart
4 niedergelassene Suchttherapeuten.
Wienberg G (Hrsg) (1994) Die vergessene Mehrheit. Psychiatrie-
Verlag, Bonn
Es ist daher zu empfehlen, entsprechende Kontakte Wienberg G, Driessen M (2001) Auf dem Weg zur vergessenen
zu pflegen oder zumindest die Anlaufadressen zur Mehrheit. Psychiatrie-Verlag Bonn
Verfügung zu haben. Ein zusammen mit dem Pati-
enten telefonisch vereinbarter Termin kann den
Schritt in das nächste Hilfesystem erheblich erleich-
tern.

Überprüfen Sie Ihr Wissen!


4 Bei welchen Anzeichen kann eine Alkoholab-
hängigkeit vermutet werden? 7 Kap. 23.4.1
4 Wie gestaltet sich idealtypisch der Verlauf des
Gamma-Alkoholismus? 7 Kap. 23.2.2
4 Was ist unter co-abhängigem Verhalten zu ver-
stehen und wie kann man sich als Pflegender
davor schützen, selbst ein co-abhängiges Verhal-
ten zu entwickeln? 7 Kap. 23.5
4 Welche Kommunikation mit dem Patienten för-
dert seine Krankheitseinsicht und seine Behand-
lungsbereitschaft? 7 Kap. 23.8.1
24

24 Gerontopsychiatrie
R. Hellweg, Esther I. Strittmatter

24.1 Organische Störungen – 322


24.1.1 Demenzen – 322
24.1.2 Leichte kognitive Störung – 327
24.1.3 Delir – 328

24.2 Affektive Erkrankungen – 329


24.2.1 Depression – 329
24.2.2 Manie und bipolare Erkrankungen – 330

24.3 Schizophrenie – 332

24.4 Weitere psychische Erkrankungen im Senium – 333


24.4.1 Sucht – 333
24.4.2 Schlaf und Schlafstörungen – 334
24.4.3 Angst- und Zwangsstörungen – 334

Literatur – 335
322 Kapitel 24 · Gerontopsychiatrie

) ) In Kürze Therapie der Erkrankung zu beachten und Per-


spektiven zu vermitteln.
Angesichts des demographischen Wandels in Bei der somatischen Diagnostik ist insbesonde-
Deutschland und anderen Industriestaaten erlan- re auf Ernährungszustand, Dehydrierung, Sehkraft,
gen Erkrankungen des höheren Lebensalters wach- Hörvermögen, Kontrakturen, Dekubitalgeschwüre,
sende Bedeutung. Nach den kardiovaskulären und Hämatome, Wunden, und selbstverständlich die
onkologischen Erkrankungen kommen die psychi- Vitalparameter zu achten.
schen Störungen bei älteren Menschen am dritt-
24 häufigsten vor. Dabei sind Demenzen und Depres- Wissensinhalte
sionen mit Abstand die häufigsten psychischen Nach der Lektüre dieses Kapitels kennen Sie:
Störungen. Weiterhin sind schizophrene Störun- 7 Ursachen, Klinik, Verlauf und Behandlung
gen, Angststörungen, Schlafstörungen und Sucht demenzieller Syndrome
von Bedeutung (Helmchen et al., 1996). 7 Manifestation und Behandlung affektiver und
Eine der größten Herausforderungen der Ge- schizophrener Erkrankungen im Alter
rontopsychiatrie besteht in der Unterscheidung 7 Schlafstörungen, Abhängigkeit und Angst-
zwischen physiologischen Alterungsprozessen und erkrankungen im Alter
krankhaften Störungen. Erschwerend tritt hinzu,
dass im Alter häufig mehrere Krankheiten gleich-
zeitig auftreten, die sich gegenseitig beeinflussen 24.1 Organische Störungen
können (Multimorbidität). So bestehen Wechsel-
wirkungen zwischen psychischen und körperlichen 24.1.1 Demenzen
Erkrankungen. Gerontopsychiatrische Diagnostik
ist ein vielschichtiger Prozess, der sich an den Prin- Die Weltgesundheitsorganisation definiert demen-
zipien der medizinischen Diagnostik und an der zielle Syndrome als »erworbene globale Beeinträch-
Klassifikation nach ICD 10 und DSM IV orientiert. tigung der höheren Hirnfunktionen einschließlich
Die Anamneseerhebung, der psychopathologische des Gedächtnisses, der Fähigkeit, Alltagsprobleme
Befund und die körperliche Untersuchung sind zu lösen, der Ausführung sensomotorischer und
vergleichbar mit denen bei jüngeren Patienten. Ne- sozialer Fertigkeiten, der Sprache und Kommuni-
ben der Erfassung der somatischen und psychi- kation sowie der Kontrolle emotionaler Reaktionen
schen Probleme ist es notwendig, die derzeitigen ohne ausgeprägte Bewusstseinstrübung«. Im Ge-
Lebensumstände zu ergründen. Der psychosoziale gensatz zur Minderbegabung bedeutet dies eine er-
Kontext (Beruf/Rente, somatische und psychische worbene Verschlechterung einer vorher größeren
Krankheiten, Partnerschaft, Kinder, Wohnsituation, intellektuellen Leistungsfähigkeit.
soziale Kontakte und Freizeitverhalten, finanzielle Wesentliche Voraussetzung für die Diagnose-
Situation) sollte frühzeitig erfragt und in das thera- stellung ist der Nachweis einer Abnahme des Ge-
peutische Gesamtkonzept integriert werden. Die dächtnisses, einer Beeinträchtigung in mindestens
Information durch Angehörige (Fremdanamnese) einem weiteren neuropsychologischen Teilbereich
spielt insbesondere bei kognitiv beeinträchtigten und eine damit verbundene deutliche Beeinträchti-
Patienten eine wichtige Rolle. Jedoch sollte gegen- gung der Aktivitäten des täglichen Lebens. Diese
über den Patienten der Eindruck vermieden wer- Symptome müssen mindestens 6 Monate bestanden
den, dass Dinge hinter ihrem Rücken geschehen haben.
könnten. Derzeit sind 10–12 % der über 64-Jährigen an
Ältere Menschen weisen oft eine atypische einem demenziellen Syndrom erkrankt. Davon leiden
Krankheitspräsentation sowie ein Phänomen der 40–60 % an einer Demenz vom Alzheimer-Typ, 15–
verminderten Reserve auf. Sie brauchen oft länger 20 % an einer vaskulären Demenz und 10–15 % an
und müssen sich erst auf die neue Untersuchungs- Mischformen. Die Inzidenzraten für eine Altersde-
situation einstellen. Wichtig ist, bisherige Lebens- menz verdreifachen sich alle 10 Jahre (0,3–0,5 % für
und Problemlösungsstile bei der Bewertung und 60–69 J., 1,2–2,3 % für 70–79 J., 3,3–3,9 % für 8>0 J.).
24.1 · Organische Störungen
323 24
Ätiologie Bei der Differenzialdiagnostik helfen ferner die kör-
Es werden primär degenerative Demenzen von de- perliche Untersuchung und zusätzliche Untersu-
menziellen Syndromen, die als sekundäre Kom- chungsverfahren. Die bildgebenden Verfahren (kra-
plikationen bei anderen Grunderkrankungen auf- niale Computertomographie, Magnetresonanzto-
treten und häufig reversibel sind, unterschieden. mographie) erlauben neben der Atrophiebeurteilung
Zu den primär degenerativen Demenzen zählen die Detektion von vaskulären Läsionen, intrazere-
Alzheimer-Demenz, Demenz-Mischformen, Lewy- bralen Neoplasien, subduralen Hämatomen, Nor-
Körperchen-Demenz, Parkinson-Demenz, Morbus maldruckhydrozephalus, entzündliche Läsionen so-
Pick, Chorea Huntington und Creutzfeld-Jacob- wie eine Atrophiebeurteilung. Als Basisparameter
Erkrankung. Sekundäre demenzielle Syndrome tre- sollten im Labor Blutbild, Differenzialblutbild, CRP/
ten auf bei Fehl- bzw. Mangelernährungen (Vita- BSG, Elektrolyte, GOT, GPT, gGT, AP, Bilirubin,
min-B1-, -B12-, Folsäuremangel, Alkoholabhängig- Ammoniak, Kreatinin, Harnsäure, Glukose, Lipide,
keit), endokrinen Störungen (Hypo-/Hyperthyreose, Cholesterin, TSH, Vitamin B12, Folsäure, HIV-Sero-
Hypo-/Hyperthyreoidismus, Nebennierenrinden- logie, TPHA und Homoglycinsäure untersucht wer-
unter-/-überfunktion), Kollagenosen, metaboli- den. Eine Liquoranalytik empfiehlt sich bei Verdacht
schen Störungen (Leberinsuffizienz, Niereninsuffi- auf metastasierende Malignome, ZNS-Infektion, se-
zienz, Fettstoffwechselstörungen), entzündlichen rologisch positive Syphilis, Hydrozephalus, Immun-
ZNS-Erkrankungen (Multiple Sklerose, Neurolues, suppression, Immunvaskulitis mit ZNS-Beteiligung
Neuroborreliose, HSV-Enzephalitis) und dem sog. sowie bei allen Patienten, die jünger als 55 Jahre
Normaldruckhydrozephalus. Ferner können Medi- sind.
kamentennebenwirkungen (Sedativa, Neuroleptika,
Lithium) und depressive Erkrankungen demenziel- Alzheimer-Demenz
le Syndrome vortäuschen. Die Prävalenz sekundä- Der Alzheimer-Krankheit liegt ein über Jahrzehnte
rer demenzieller Syndrome beträgt 13–15 %. langsam fortschreitender subtiler Untergang von
Erfüllt ein Patient die Kriterien einer Demenz, ist Nervenzellen zugrunde, der insbesondere die Tem-
es wichtig, die Ursache der Demenz herauszufinden. poral- und Parietallappen in beiden Hirnhemisphä-
Aufgrund der durch die Krankheit bedingten kogni- ren befällt. Sie beginnt häufig schleichend und ver-
tiven Einschränkung des Patienten stellt die Fremd- läuft langsam progredient.
anamnese von Angehörigen und Bezugspersonen Die frühe präsenile Form der Alzheimer-De-
die wichtigste Informationsquelle dar. Erfasst wer- menz (Beginn vor dem 60. Lebensjahr) dauert im
den Art und Beginn der Symptomatik, Verlauf der Schnitt 3–6 Jahre, während die Gesamtdauer der
Erkrankung, Verhaltensauffälligkeiten, Medikamen- späteren, häufigeren Form 8–10 Jahre beträgt.
teneinnahme und Alkoholkonsum. Weiterhin sind
! Anfänglich machen sich Gedächtnisstörungen
Angaben zur Abschätzung der Primärpersönlich-
für kürzer zurückliegende Ereignisse mit einer
keit, zum Ausbildungs- und Bildungsstand, zur Le-
Störung des Erlernens von neuen Informatio-
bensgeschichte und sozialen Situation sehr wichtig.
nen sowie frühzeitig räumliche Orientierungs-
störungen bemerkbar.
Praxisbox
Es ist von Nöten auch Symptome, wie Angst, Erste Wortfindungsstörungen treten auf. Im mittle-
Aggressivität, Unruhe, Schlafstörungen und ren Stadium greifen die Gedächtnisstörungen all-
Wahn, die zu Belastungen der Angehörigen füh- mählich auf das langfristige Behalten über. Am
ren können, zu erfassen. So können frühzeitig längsten bleiben Altgedächtnisleitungen, insbeson-
soziale Hilfen zur Krankheitsbewältigung ver- dere bezüglich der persönlichen Biographie, erhal-
mittelt und therapeutische und rehabilitative ten. Auch in vertrauter Umgebung besteht nun Des-
Maßnahmen eingeleitet werden. orientiertheit. Es kommen Beeinträchtigungen der
intellektuellen Fähigkeiten (Abstraktion, Urteilsfä-
higkeit) und Hirnwerkzeugstörungen (aphasische,
apraktische und agnostische Störungen) hinzu.
324 Kapitel 24 · Gerontopsychiatrie

Charakteristisch ist ein Verlust des Antriebs und der Form der Alzheimer-Demenz, die nicht familiär
Initiative, wobei die Persönlichkeit des Patienten gehäuft auftritt. Auch für diese Patientengruppe
häufig lange erhalten bleibt. In den ersten Jahren ist gibt es Hinweise auf eine genetische Prädisposition
die Stimmung häufig ängstlich, unsicher, ratlos und (Vulnerabilitätsgene: z. B. Apolipoprotein-E-Gen,
depressiv. An nicht kognitiven Symptomen können e4-Allel). Das Apo-E4-Allel ist mit früherem Er-
auch Unruhezustände, Wahn, Halluzinationen, Ag- krankungsbeginn assoziiert, erhöht jedoch nicht das
gressionen und Agitiertheit im Vordergrund stehen. absolute Risiko an einer AD zu erkranken (Selkoe,
Im späten Stadium sind alle kognitiven Funktionen 2001).
24 auf das Schwerste gestört. Es dominieren die Ver-
! Bei Aufklärungen von Patienten und Angehö-
haltensstörungen (Apathie, Agitiertheit, Aggressio-
rigen sollte also darauf hingewiesen werden,
nen, Unruhe, Störungen des Tag-Nacht-Rhythmus).
dass Vererbungsgesichtspunkte nur bei einer
Neurologisch zeigen sich Symptome, wie Gang-
kleinen Gruppe von weniger als 10 % der Alz-
störung, Sturzneigung, parkinsonähnliche Symp-
heimer-Patienten eine direkte Rolle spielen.
tomatik, Dysphagie, epileptische Anfälle, Blasen-
und Darminkontinenz. Aufgrund der Immobilität Zur Krankheitsprädiktion können genetische Ana-
kommt es zu einer vermehrten Anfälligkeit für In- lysen bei nicht symptomatischen Angehörigen in
fektionen. Die häufigsten Todesursachen sind Lun- Familien mit bekannten Mutationen (PS1, PS2, APP)
genentzündungen und aufsteigende Harnwegsin- als auch bei begründetem Verdacht auf eine positive
fektionen. Familienanamnese durchgeführt werden. Ohne die-
sen Hintergrund ist die Suche nach den genannten
Ätiologie Mutationen nicht sinnvoll. Zur Prädiktion ist die
Die Ätiopathogense der Alzheimer Demenz ist kom- Bestimmung des Apo-E-Genotyps nicht zu emp-
plex. Histopathologisch zeichnet sie sich extrazel- fehlen.
lulär durch Beta-Amyloid-haltige Plaques und in-
! Da die Alzheimer-Erkrankung nur post mor-
trazellulär durch die Bildung von tau-positiven
tem histopathologisch eindeutig zu diagnos-
Fibrillenbündeln in den betroffenen Neuronen aus.
tizieren ist, wird die Diagnose gemäß ICD 10
Ob die Ablagerung von Amyloid zur Bildung neuro-
im Ausschlussverfahren gestellt.
fibrillärer Bündel führt oder die Entstehung von
neurofibrillären Bündeln die Plaquebildung initiiert, Neuropsychologisch eignen sich zur Frühdiagnostik
wird kontrovers diskutiert. Im Rahmen des neuro- besonders die Testung bestimmter kognitiver Teil-
degenerativen Prozesses kommt es zu einem erheb- leistungen (verzögerter Abruf verbal und visuell dar-
lichen Nervenzellausfall mit einer messbaren Re- gebotener Informationen) und der Uhrentest. Der-
duktion neuronaler Synapsen. zeit wird versucht, mittels bildgebender Verfahren
Die Ausbreitung des neurodegenerativen Pro- und Liquoranalytik Positivkriterien für eine Alzhei-
zesses von früh betroffenen hippokampalen Arealen mer-Erkrankung zu etablieren (u. a. cMRT: Erweite-
auf neokortikale Areale ist mit der Ausbildung eines rung der Liquorräume a[ ußen >innen, parietal/tem-
klinisch fassbaren Demenzsyndroms assoziiert. Bei poral >frontal >okzipital], Hippokampusatrophie,
insgesamt 5–10 % aller Alzheimer-Patienten finden Liquor: Beta-Amyloid-Peptide A-beta1-42 im Li-
sich mehr als 2 erstgradige Verwandte, die ebenfalls quor erniedrigt, p-tau erhöht).
eine Alzheimer-Demenz haben. Verschiedene auto-
somal dominant vererbte Genmutationen konnten Pharmakotherapie
bislang identifiziert werden (bei 1–3 % Mutation des Gemäß dem zugrunde liegenden progredienten neu-
APP-Gens auf Chromosom 21 – Manifestationsalter rodegenerativen Geschehen begrenzen sich die the-
40–50 Jahre, 70 % Mutation des Presenilin 1-Gens rapeutischen Strategien auf die Verlangsamung eines
auf Chromosom 14 – Manifestationsalter 30–40 Jah- weiteren kognitiven Leistungsverlusts. Je nach Sta-
re, wenige Mutationen des PS2-Gens auf Chromo- dium der Alzheimer-Krankheit sind unterschiedli-
som 1 – Manifestationsalter 50–65 Jahre). Etwa 90 % che therapeutische Interventionen erforderlich. Ge-
der Patienten leiden jedoch an einer »sporadischen« genwärtig existieren folgende Behandlungsansätze:
24.1 · Organische Störungen
325 24

4 Krankheitsprävention (z. B. Behandlung einer hezuständen und Aggressivität stellen Antiepilepti-


Hypercholesterinämie), ka dar. Bei depressiven Symptomen werden selektive
4 Neuroprotektion (u. a. Antioxidanzien), Serotoninwiederaufnahmehemmer als Antidepres-
4 Neuroregeneration (z. B. neurotrophe Substan- siva empfohlen. Benzodiazepine sollten nur kurz-
zen), fristig bei Ängsten, Unruhezuständen und Schlaf-
4 Transmittersubstitution (Acetylcholinesterase- störungen eingesetzt werden, da sie zu einer Zunah-
inhibitoren). me der kognitiven Beeinträchtigung, zu Sturzneigung
und Abhängigkeit führen können.
Indikation
Die Acetylcholinesteraseinhibitoren (Donepezil Ethische Aspekte und nicht-medikamentöse
A
[ ricept],Rivastigmin E[ xelon],Galantamin R [ emi- Behandlungsverfahren
nyl]) sind bei einer leicht- bis mittelgradigen De- Der Patient sollte im Beisein seiner Familie adäquat
menz vom Alzheimer-Typ indiziert und zugelassen. über die Erkrankung, ihren Verlauf und ihren Aus-
Sie gleichen das bestehende cholinerge Defizit aus gang informiert werden. Die wahrheitsgemäße In-
und führen zu einer Verzögerung der Krankheitspro- formation ermöglicht Angehörigen, viele im Alltag
gression von ungefähr 5 Monaten. Die wichtigsten auftretende Probleme einzuordnen und dadurch
Nebenwirkungen sind Magen-Darm-Beschwerden besser zu bewältigen. Ferner bildet die Diagnose die
(Übelkeit, Erbrechen). Ebenfalls für die Behandlung Grundlage für eine gezielte, frühzeitige Behandlung.
der Alzheimer-Krankheit zugelassen ist Memantine Nicht zuletzt werden die Patienten mit ihren Ange-
(Axura, Ebixa). Dieser gut verträgliche, nicht-kom- hörigen in die Lage versetzt, Vorkehrungen für die
petitiver NMDA-Rezeptor-Antagonist besitzt zu- künftige Lebensgestaltung zu treffen und Wünsche
sätzlich neuroprotektive Eigenschaften. Um festzu- in Form einer Patientenverfügung zum Ausdruck zu
stellen, ob ein Therapieeffekt eintritt sollte 3–6 Mo- bringen. Es sollten soziale Betreuungsangebote, Spe-
nate behandelt werden. Als Behandlungserfolg ist zialeinrichtungen für Demenzkranke, Beratungs-
bereits eine Stabilisierung des Ausgangsniveaus bzw. stellen, Angehörigengruppen mitgeteilt werden und
eine Verlangsamung des Fortschreitens zu werten. Hinweise auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme
Nootropika (Piracetam, Nimodipin, Nicergolin, Py- von Versicherungsleistungen, Haushaltshilfen oder
ritinol, Ginkgo-biloba-Extrakt) sind als Antidemen- ambulanten Pflegediensten erteilt werden.
tiva nach Arzneimittelgesetz zugelassen, jedoch ist Nicht-medikamentöse Interventionsstrategien
die Datenlage in kritischer Bewertung nicht ausrei- sind eine wesentliche und notwendige Ergänzung
chend, um generell als Antidementivum empfohlen zur pharmakologischen Behandlung (kognitive Ver-
zu werden. fahren, psychosoziale und psychoedukative Inter-
Die nicht kognitiven Symptome sind mit einer ventionen). Grundsätzlich steht die konstante und
zunehmenden Alltagsbeeinträchtigung, einem Ver- einfühlsame Beziehung zu dem Patienten bzw. sei-
lust an Lebensqualität für den Demenzkranken ver- ner Familie im Mittelpunkt. Um depressiven Ver-
bunden. Außerdem stellen sie in der Versorgung stimmungen und sozialem Rückzug entgegenzuwir-
eine erhebliche Belastung für die pflegende Bezugs- ken, ist es wichtig, die noch vorhandenen Fähigkei-
person dar und sind eine der Hauptursachen für eine ten und Fertigkeiten wahrzunehmen, erhaltene
frühzeitige Institutionalisierung. Psychomotorische Kompetenzbereiche zu respektieren und damit die
Unruhezustände, Aggressivität, Störung des Tag- Selbstbestimmung soweit wie möglich zu wahren,
Nacht-Rhythmus, Wahn und Sinnestäuschung wer- dem Kranken Mut zuzusprechen und Bestätigung zu
den durch Antipsychotika deutlich reduziert. Atypi- vermitteln. Dies trägt dazu bei, dem Erkrankten eine
sche Antipsychotika zeichnen sich durch eine besse- Atmosphäre von Toleranz, Geborgenheit und Zu-
re Verträglichkeit ohne Wirksamkeitseinbußen aus. wendung zu verschaffen, in der seine Wünsche und
Zu bedenken ist, dass Patienten mit hirnorganischer Bedürfnisse Beachtung finden. Auch für die Bezugs-
Vorschädigung besonders häufig extrapyramidal- person ist es wichtig, die Welt des Kranken zu akzep-
motorische Nebenwirkungen entwickeln. Eine Be- tieren und zu lernen, mit welchen Ausdrucksformen
handlungsalternative bei psychomotorischen Unru- der Kranke auf sein Erleben und Empfinden ver-
326 Kapitel 24 · Gerontopsychiatrie

weist und wie er sich mit seinen Bedürfnissen im tanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) ernährt.
Alltag mitteilt. Aus dem gleichen Grund werden Inkontinenzhilfen
oder Dauerkatheter angelegt. Dekubitusprophylaxe
! Ziel ist eine optimale Nutzung der noch vor-
und -therapie werden kaum praktiziert. Fixierungen
handene Fähigkeiten und Fertigkeiten des
und andere bewegungseinschränkende Maßnah-
Kranken. Psychotherapeutische Interventio-
men werden oft ohne zwingende Notwendigkeit und
nen verbessern Depressionen und Verhaltens-
während längerer Zeiträume durchgeführt. Neuro-
störungen der Demenzkranken, vermindern
leptika, deren Verordnung zur Behandlung krank-
24 den Belastungsgrad der Pflegenden und
heitsbedingter Verhaltensauffälligkeiten angezeigt
erhöhen die Motivation zur Fortsetzung der
sein kann, werden zu häufig, zu lange und in zu ho-
häuslichen Pflege.
her Dosierung verabreicht.
Kognitive und übende Verfahren (wie z. B. virtueller
Einkauf mit einem alltagsbezogenen interaktiven Vaskuläre Demenz
Computerprogramm) verbessern zwar nicht die Ge- Die vaskuläre Demenz unterscheidet sich von der
dächtnisleistung, aber sie haben positive Auswirkun- Demenz bei Alzheimer-Krankheit durch den Be-
gen auf die Bewältigung alltäglicher Aufgaben und ginn, die klinischen Merkmale und den Verlauf. Es
vermindern den Anteil depressiver Verstimmungen. gibt keine einheitliche klinische Symptomatik der
Auch aktiver Verhaltenstherapie, in Form von freud- vaskulären Demenz. Für die Diagnose einer vaskulä-
vollen Aktivitäten oder der Einübung von Problem- ren Demenz werden folgende Hinweise auf eine ze-
lösestrategien zur Modifizierung von problemati- rebrovaskuläre Erkrankung gefordert (Roman et al.,
schen Verhaltensweisen, führt zu einer signifikanten 1993):
Verbesserung der Depression. Ferner wird versucht, 4 Vorhandensein eines fokal neurologischen Defi-
Wahrnehmung und Orientierung der Kranken zu zits oder
erleichtern. So können Bezugspersonen regelmäßig 4 strukturelle zerebrovaskuläre Veränderungen in
die wichtigsten Informationen über den Alltag, ins- der Bildgebung.
besondere zu Zeit, Ort, Person oder Tagesablauf,
wiederholen. Die Anpassung an die Umgebung ge- Die Anamnese ist oft positiv für vaskuläre Risiko-
lingt umso besser, je vertrauter und einfacher diese faktoren und vorangegangene Schlaganfälle in Kom-
gestaltet ist. Beim Aufkommen von Wahn, Halluzi- bination mit kognitivem Abbau. Ein plötzlicher Be-
nationen sowie Verkennung der Umgebung sind ginn und eine schrittweise Verschlechterung des
eine klare Strukturierung der Umgebung und eine kognitiven Abbaus erhöhen die Wahrscheinlichkeit
Überschaubarkeit des Alltags wichtig (z. B. auch der Diagnose.
Spiegel entfernen, Fernseher ausschalten, Vorhang Die Prävalenz der vaskulären Demenz beträgt
abends zuziehen). bei über 65-Jährigen 1–4 % und bei über 75-Jähri-
Biographische Methoden versuchen, die im Ver- gen 2–8 %. Eine vaskuläre Demenz tritt gehäuft im
lauf der Krankheit immer weiter verblassende Erin- 1. Jahr nach einem Schlaganfall auf. Männer sind
nerung zu stützen und den Verlust der personalen etwas häufiger betroffen.
Identität zu verhindern. Geeignete Materialien sind
u. a. Bücher, Zeitungsausschnitte, Familienalben Ätiologie
oder Musikstücke. Im späten Stadium der Demenz Strukturelle Veränderungen bei der vaskulären De-
sind über basale Aktivitäten (z. B. Musik- oder Be- menz können mehrere große kortikale Infarkte
wegungstherapie) spürbare Verbesserungen im Be- (Multiinfarktdemenz), kleine Infarkte an kritischer
reich Stimmung und des Verhaltens zu erzielen. Ob- Stelle (strategische Infarkte), eine Vielzahl kleinerer
wohl manche Heimbewohner mit Unterstützung des lakunärer Infarkte, ausgeprägte diffuse ischämische
Pflegepersonals in der Lage wären, ausreichend zu Veränderungen der subkortikalen weißen Substanz
essen und zu trinken, werden viele von ihnen aus oder Blutungen umfassen. Das Risikoprofil beinhal-
Gründen der Pflegeerleichterung künstlich durch tet: Hypertonie, Lipidstoffwechselstörung, Hyper-
Infusionen, Nasensonden oder mithilfe einer perku- homozysteinämie, koronare Herzkrankheit, Vor-
24.1 · Organische Störungen
327 24

hoffflimmern, Diabetes mellitus, Rauchen, höheres Typischerweise fehlt die Krankheitseinsicht. Die
Alter, niedriger Bildungsstand, frühere Schlaganfäl- Störungen des Gedächtnisses und der Orientie-
le, Karotisstenose und ApoE4-Allel. rungsfähigkeit sind nur gering ausgeprägt. Ätiopa-
Informationen zu Infarktmorphologie und -ver- thogenetisch konnte eine Mutation im Tau-Gen auf
teilung liefern die bildgebenden Verfahren (CCT, Chromosom 17 nachgewiesen werden. Azetylcholin-
cMRT). Im EEG können diffuse allgemeine Verlang- esterasehemmer sind nicht wirksam.
samung, Anfallsmuster oder fokale Läsionen nach-
weisbar sein. In den neuropsychologischen Untersu- Lewy-Körper-Demenz
chungen zeigen Patienten mit vaskulärer Demenz Lewy-Körperchen sind unspezifische, rundliche in-
deutlich bessere Testleistungen des verbalen mittel- traneuronale Einschlusskörper, die bei vielen neuro-
und langfristigen Gedächtnisses als Patienten mit degenerativen Erkrankungen vorkommen.
Alzheimer-Krankheit. Hingegen fallen die Leistun- Charakteristisch für die Lewy-Körper-Demenz
gen in Exekutivfunktionen, Wortflüssigkeitsaufga- sind starke Schwankungen der Aufmerksamkeit,
ben, Aufmerksamkeit und motorischer Geschwin- lebhafte optische Halluzinationen, leichtgradige Par-
digkeit schlechter aus. kinson-Symptomatik und Überempfindlichkeit ge-
Die Bedeutung dieser Demenzform liegt in dem gen Neuroleptika. Zu Beginn treten oft nur diskrete
z. T. kausal angreifenden Therapieansatz durch Be- Gedächtnisstörungen auf.
handlung der vaskulären Risikofaktoren sowie in der Die Häufigkeit der Lewy-Körper-Demenz be-
effizienten Sekundärprophylaxe. Bislang gibt es kei- trägt knapp 11 %. Der klinische Beginn liegt meist
ne generelle Empfehlung für eine spezifische Phar- jenseits des 70. Lebensjahres. Die durchschnittliche
makotherapie. Alle Pharmaka, deren Therapieeffek- Überlebenszeit beträgt 2–5 Jahre. Die meisten Krank-
te bei der Alzheimer-Demenz untersucht worden heitsfälle sind sporadisch. Es gibt einen autosomal-
sind, werden letztendlich auch bei der vaskulären dominanten Erbgang durch eine Mutation im alpha-
Demenz eingesetzt. Dies resultiert einerseits aus der Synuklein-Gen. Die funktionelle Bildgebung zeigt
bestehenden diagnostischen Unsicherheit, anderer- eine Stoffwechselminderung über dem gesamten
seits gibt es zwischen beiden Erkrankungen durch- Kortex. Das kortikale cholinerge Defizit ist noch
dringende pathophysiologische Überschneidungen, ausgeprägter als bei der Alzheimer-Krankheit. Dies
die ein derartiges Vorgehen rechtfertigen. Für Me- erklärt, dass die Behandlungserfolge mit Azetyl-
mantine und die Azetylcholinesteraseinhibitoren cholinesterasehemmern ausgeprägter sind als bei
konnte eine Wirksamkeit bei vaskulärer Demenz der Alzheimer-Krankheit. Neben einer Stabilisie-
und bei Mischformen nachgewiesen werden, es liegt rung der kognitiven Leistungen, scheinen sie auch
jedoch keine spezifische Zulassung vor. Halluzinationen positiv zu beeinflussen.

Ausgewählte andere neurodegenerative


Demenzursachen 24.1.2 Leichte kognitive Störung
Frontotemporale Demenz
Bei der frontotemporalen Demenz ist insbesondere Die leichte kognitve Störung (»mild cognitive im-
der Frontallappen vom Nervenzelluntergang betrof- pairement«: MCI) geht quantitativ über altersbe-
fen. Der klinische Beginn liegt meist in der 5. oder dingte Leistungsstörungen hinaus, führt jedoch nicht
6. Lebensdekade. Die durchschnittliche Überlebens- zu deutlicheren Alltagsbeeinträchtigungen.
zeit beträgt 6 Jahre. Im Gegensatz zur Alzheimer Kognitive Beeinträchtigungen sind keine Sel-
Demenz stehen nicht-kognitive Symptome im Vor- tenheit im Alter. Differenzialdiagnostisch ist es
dergrund. wichtig, normales Altern von der leichten kogniti-
Frühzeitig kommt es zu einer Veränderung der ven Störung und die leichte kognitve Störung von
Persönlichkeit und des Sozialverhaltens (Enthem- der Demenz abzugrenzen. Die aktuelle Forschung
mung, Antriebsminderung, fehlende Empathie, Af- geht vorwiegend von einer Kontinuitätshypothese
fektverflachung, Vernachlässigung der Hygiene, ver- aus, in der die Demenz den Endpunkt eines Konti-
änderte Essgewohnheiten). nuums von normaler Kognition über das MCI-Sta-
328 Kapitel 24 · Gerontopsychiatrie

dium darstellt. Aktuell wird davon ausgegangen, Fragen zum Fallbeispiel:


dass innerhalb eines Jahres 15 % der Fälle von leich- 1. Wie lautet die Verdachtsdiagnose?
ter kognitiver Störung zu einem Demenzsyndrom 2. Was sind Differenzialdiagnosen und warum
konvertieren (Petersen et al., 2001). Die Prävalenz sind sie unwahrscheinlich?
der leichten kognitiven Störung liegt bei 10–15 % 3. Was erwarten Sie in der Kernspintomographie?
der über 65-Jährigen. Die Ursachen leichter kogni- 4. Welche Hilfen sind für das Ehepaar wichtig?
tiver Beeinträchtigungen ähneln denen demenziel-
ler Erkrankungen. Aus epidemiologischen Grün- Antworten:
24 den würde sie am häufigsten das Prodromalstadium 1. Alzheimer-Demenz.
einer Alzheimer-Demenz darstellen, aber auch an- 2. Vaskuläre Demenz (kein neurologisches Defizit,
dere primäre Ursachen (z. B. vaskuläre Demenz) kein plötzlicher Beginn, keine schrittweise Ver-
wären möglich. Geht man von einem Kontinuum schlechterung), MCI (Alltagsbeeinträchtigung
des kognitiven Abbaus aus, so schafft die ätiologi- vorhanden), frontotemporale Demenz (Gedächt-
sche Zuordnung im frühen Stadium eines neurode- nisstörung, nicht Veränderung der Persönlich-
generativen Prozesses die Voraussetzung, eine adä- keit steht im Vordergrund), Lewy-Körper-De-
quate symptomatische Pharmakotherapie zu begin- menz (keine Fluktuation, keine Halluzination,
nen. So könnte wahrscheinlich der größte Nutzen keine Parkinsonsymptomatik).
hinsichtlich einer Verzögerung der Krankheitspro- 3. Normalbefund oder temporoparietal betonte
gression realisiert werden. Atrophie oder Hippokampusatrophie.
4. Pharmakotherapie (Azetylcholinesterasehem-
mer oder Memantine), Psychotherapie, Psycho-
Kasuistik edukation, Vermittlung von sozialen Betreuung-
Fallbeispiel: Eine 67-jährige Hausfrau kommt zu- sangeboten, ambulanten Pflegediensten, Bera-
sammen mit ihrem Ehemann in die Gedächtnis- tungsstellen, Angehörigengruppen.
sprechstunde. Sie wirkt ratlos und äußert Ärger
über ihren Mann, der sie ohne Grund mit zu die-
sem Termin genommen habe. Der Ehemann hin- 24.1.3 Delir
gegen ist sehr besorgt. Er erzählt, seine Frau ver-
gesse beim Einkaufen oft die Hälfte und koche Von den Demenzsyndromen sind kurzzeitige hirn-
auch nicht mehr so gut wie früher. Neulich habe organische Störungen im Sinne eines Delirs abzu-
sie sich sogar in der Nachbarschaft verlaufen. grenzen. Es handelt sich um eine unspezifische
Auch halte sie sich nicht an vereinbarte Termine. Funktionsstörung des Gehirns infolge Einwirkung
Unlängst habe er eine Wurst im Kleiderschrank von Noxen.
gefunden und die Kaffeemaschine sei kaputt ge- Delire gehen mit einer Störung des Bewusst-
gangen, da seine Frau den Kaffee direkt in den seins, der Wahrnehmung und Desorientiertheit ein-
Wasserbehälter gefüllt habe. Es gebe viel Streit her. Der Beginn ist gewöhnlich akut. Die Symptoma-
zu Hause, da seine Frau ihre Fehler nicht einse- tik ist fluktuierend.
hen würde. An den Beginn der Gedächtnispro-
bleme könne er sich nicht erinnern. Alles werde Ätiologie
jedoch schleichend immer schlechter. Die Ätiologie ist uneinheitlich: Im Alter entstehen
In der neuropsychologischen Testung sie am häufigsten durch körperliche Erkrankungen
erreichte die Patientin 16 von 30 Punkten im (Infektionen, Exsikkose, Alkoholentzug). Weiterhin
Mini-Mental-State-Test. Insbesondere hatte spielen medikamentös induzierte Delire (v. a. bei
sie Schwierigkeiten bei der Wiedergabe von anticholinergen Substanzen) und Delire im Rahmen
Wörtern und im Uhrentest. Sowohl die körperli- ärztlicher Interventionen (z. B. OP oder diagnosti-
che Untersuchung als auch die Laborparameter sche Eingriffe) eine Rolle.
waren unauffällig. In den meisten Fällen klingt das Delir innerhalb
von 1–2 Wochen ab. Ein Delir gilt als häufigste Kom-
24.2 · Affektive Erkrankungen
329 24

plikation bei hospitalisierten Menschen (Inzidenz deutlich über das gewöhnliche Maß hinausgehen,
20–40 %). Die Angaben zur Prävalenz schwanken die Betroffenen in ihrem Lebensalltag Wochen und
zwischen 10 und 50 %. Monate beeinträchtigt sind und sie die depressive
Verstimmung nicht mehr aus eigener Kraft und
! Beim Delir handelt es sich um einen Notfall,
nicht mehr durch Zuwendung anderer überwinden
der eine unverzügliche Therapie erfordert.
können, ist das Vorliegen einer behandlungsbedürf-
Etwa ¼ aller alten stationären Delirpatienten
tigen Depression anzunehmen.
stirbt innerhalb von 3–4 Monaten.
! Häufig steht bei Patienten mit Depressionen
im Alter die typische depressive Symptomatik
24.2 Affektive Erkrankungen (depressive Stimmung, Interessen- und Freud-
verlust, Antriebsstörung) nicht im Vorder-
24.2.1 Depression grund. Oft präsentieren sich die Betroffenen
mit körperlichen Symptomen und diffusen
Schmerzen (somatisches Syndrom) sowie mit
Depressive Störungen gehören zu den häufigsten
kognitiven Störungen, wie Vergesslichkeit
psychiatrischen Erkrankungen im höheren Lebens-
und Konzentrationsstörungen. Die Phasen
alter. 15 % der über 65-Jährigen haben ein depressi-
sind länger, aber weniger ausgeprägt. Auch
ves Syndrom, 3 % eine schwere depressive Störung.
bei bipolar Erkrankten sind die Phasen pro-
Bei Multimorbidität und Verwitwet-Sein liegt eine
longiert und nivelliert.
höhere Prävalenz vor. 40 % der Depressionen im
Alter werden nicht korrekt diagnostiziert und be- Die Prognose ist im Alter schlechter als bei Jünge-
handelt. Frauen erkranken doppelt so häufig an uni- ren. Eine schlechte Prognose ist ferner assoziiert
polaren Depressionen, während bei den bipolaren mit dem Schweregrad (schlecht bei wahnhaften
Erkrankungen das Geschlechtsverhältnis gleich ist. Depressionen), kognitiven Beeinträchtigungen und
In 25 % der Fälle kommt nur eine depressive Phase schwerwiegenden Lebensereignissen. Auch körper-
vor, 75 % jedoch rezidivieren. 65 % der Depressionen liche Erkrankungen können Therapie und Verlauf
verlaufen unipolar, 30 % bipolar, 10 % haben eine negativ beeinflussen.
submanische Nachschwankung.
! Altersunabhängig begehen 10–15 % aller
Die unipolare depressive Erkrankung kann bei
depressiv Erkrankten Suizid.
Älteren als Ersterkrankung oder wiederholte Phase
auftreten. Bipolar-I- oder -II-Störungen beginnen 75 % der Suizidhandlungen werden angekündigt,
nur sehr selten im Alter. Entsprechende Patienten 50 % suchen innerhalb des letzten Monats einen
sind meist schon vorbehandelt. Bei den anhaltenden Arzt auf und 25 % noch in der letzten Woche. Wäh-
affektiven Störungen können sich Dysthymien im rend die Suizidrate mit dem Alter kontinuierlich
Alter verstärken und haben ein fast 8faches Risiko, in zunimmt, nehmen Suizidversuche ab. Suizidversu-
eine schwere depressive Episode zu münden. Liegen che Älterer sind in der Regel viel ernster zu beurtei-
eine majore Depression und eine Dysthymie gleich- len. 2 von 3 Suiziden im Alter enden tödlich. Eine
zeitig vor, spricht man von einer Double-Depression. besondere Risikogruppe stellen verwitwete Männer
Zyklothymien mit subdepressiven und submanischen über 65 Jahren dar. Als weitere Motive, sich selbst zu
Symptomen kommen in jedem Lebensalter vor. töten, gelten körperliche Erkrankungen (mit chroni-
Depressive Störungen im höheren Lebensalter schem Verlauf, starken Schmerzen und geringen
unterscheiden sich nicht kategorial von jenen im jün- Heilungsaussichten), Vereinsamung, soziale Isolati-
geren Lebensalter (diagnostische Leitlinien 7 ICD 10 on und erzwungene Untätigkeit. Die häufigsten Sui-
und DSM IV). Stimmungsschwankungen und traurige zidmethoden sind Erhängen, Erschießen (Männer),
Verstimmungen gehören zu jedem menschlichen Einnahme von Arzneimittel oder Drogen (Frauen)
Leben, ebenso wie Phasen der Trauer, in denen und Sprung in die Tiefe.
Schicksalsschläge verarbeitet werden. Wenn jedoch
Intensität und Dauer der seelischen Verstimmung
330 Kapitel 24 · Gerontopsychiatrie

Ätiologie azepine wegen Kumulation, Sturzgefahr, Sedierung


Man geht von einer multifaktoriellen Genese der und Abhängigkeit vermieden werden. Die Elektro-
Depression aus. Es liegt eine Imbalance verschiede- krampftherapie ist als sichere und sehr effektive Be-
ner Botenstoffe vor (Noradrenalin- und Serotonin- handlungsmethode eine Therapiealternative. Unter
mangel im synaptischen Spalt, Störung der Hypo- Kurznarkose und Muskelrelaxation wird ein wenige
thalamus-Hypophysen- und Nebennierenrinden- Sekunden dauernder Krampfanfall ausgelöst. Als
achse). Weiterhin spielen die genetische Disposition Nebenwirkung können Kurzzeitgedächtnisstörun-
sowie körperliche und hirnorganische Faktoren, bio- gen auftreten. Kontraindikationen sind Herzinfarkt,
24 graphische Belastungen und aktuelle psychosoziale Aneurysma, zerebrales Angiom und erhöhter Hirn-
Belastungen eine Rolle. Kumuliertes Verlusterleben druck. Etwa 60 % aller depressiven Patienten pro-
(Verlust des Partners, Austritt aus dem Berufsleben, fitieren von einem partiellen Schlafentzug in der
Umzug ins Heim) und soziale Isolierung sowie fi- zweiten Nachthälfte (ab 1:30 Uhr) im Sinne einer
nanzielle Probleme sind alterstypische Auslöser für Stimmungsaufhellung und Antriebssteigerung. Die
depressive Störungen. Weitere Risikofaktoren für die Wirkdauer von 1–2 Tagen ist kurz. Eine Lichtthera-
Entwicklung eines depressiven Syndroms sind eine pie wird v. a. bei atypischen Depressionen mit saiso-
positive Familienanamnese, weibliches Geschlecht nalem Verlauf durchgeführt.
und Familienstand (höheres Risiko für Verwitwete, Die Psychotherapie beschränkt sich in der Akut-
Geschiedene). Zerebrale Erkrankungen, bei denen phase auf Unterstützung, Beruhigung und geduldi-
häufig Depressionen auftreten, sind: Schädelhirn- ge Begleitung. Im subakuten Stadium kann verhal-
trauma, Hirninfarkt, Morbus Parkinson, Alzheimer- tenstherapeutisch und psychoedukativ gearbeitet
Krankheit, Chorea Huntington und Multiple Sklero- werden. Es muss berücksichtigt werden, dass die
se. Eine wichtige Differenzialdiagnose der Depressi- Fähigkeit bei älteren Menschen, sich an Neues an-
on ist die Demenz. zupassen, geringer ist. Die Therapieziele sollten be-
grenzt gehalten werden. Mögliche Ziele sind neben
Therapie einer Linderung der Symptome eine Anpassung an
Auch bei Älteren ist heute als optimale Therapie die die Veränderungen im Leben, das Akzeptieren eines
Kombination von Pharmakotherapie und Psycho- gewissen Grades von Abhängigkeit und die Förde-
therapie etabliert. Bei der Pharmakotherapie unter- rung positiv empfundener Aktivität. Es wird ver-
scheidet man die Akuttherapie von der (3-)6-mona- sucht passives Verhalten abzubauen und durch ak-
tigen Erhaltungstherapie. Danach schließt sich bei tiveres zu ersetzen sowie resignative Kognitionen
rezidivierenden und bipolaren Erkrankungen eine durch neue zu ersetzen. Zudem gibt es gute Erfolge
prophylaktische Therapie mit einem Antidepressi- mit stimulationsorientierenden Therapien, wie Mu-
vum oder Phasenprophylaktikum (Lithium, Carba- siktherapie und Bewegungstherapien. In der Psy-
mazepin, Valproat) über mehrere Monate bis Jahre choedukation soll die Symptomwahrnehmung ge-
an. Es ist zu beachten, dass der Wirkungseintritt schult werden, um neue depressive Phasen schneller
eines Antidepressivums erst nach 10–14 Tagen er- zu erkennen und anzugehen. Sozialpartner werden
folgt. Sofern die eine Gruppe der Antidepressiva – in das Programm miteinbezogen. In den Angehöri-
ausreichend lang (4 Wochen) und in ausreichender gengruppen steht neben der Aufklärungsarbeit die
Dosierung gegeben – nicht wirkt, wird auf Antide- Entlastung im Mittelpunkt. Sozialtherapeutisch
pressiva einer anderen Gruppe umgestellt. Wenn sollte das Ziel die Wiederherstellung sozialer Kon-
immer noch keine Wirkung zu erzielen ist, werden takte sein.
Kombinationen mit Lithium, Schilddrüsenhormo-
nen oder Amphetaminen versucht. Selektive Sero-
toninwiederaufnahmehemmer (SSRI) werden bes- 24.2.2 Manie und bipolare
ser vertragen als trizyklische Antidepressiva. Erkrankungen
Weiterhin sind die neuen Medikamente Mir-
tazapin, Venlafaxin, Nefazodon gut für alte Men- Während Depressionen im Alter häufig sind, treten
schen verträglich. Wenn möglich sollten Benzodi- Manien oder Mischzustände deutlich seltener auf.
24.2 · Affektive Erkrankungen
331 24

Bipolare und primär maniforme Erkrankungen ma-


nifestieren sich meist zwischen dem 20. und 30. Le- Kasuistik
bensjahr. Im Alter auftretende isolierte manische Fallbeispiel: Ein 65-jähriger, berenteter Lehrer
Störungen sind extrem selten. Symptomatische ma- stellt sich in der Sprechstunde vor. Er berichtet,
niforme Störungen können bei körperlichen Er- sich schlecht konzentrieren zu können. Er habe
krankungen, wie z. B. Frontalhirntumoren, Multipler Angst, eine Demenz zu entwickeln. Sein Ge-
Sklerose, Epilepsien, Lues, Alkoholismus, Thyreo- dächtnis sei schon immer schlecht gewesen.
toxikose, Morbus Cushing, oder pharmakogen nach Neulich sei ihm der Name eines entfernten
Stimulanzien, Kortison, ACE-Hemmern, L-Dopa, Bekannten nicht mehr eingefallen. Er wache
Antidepressiva-Therapie auftreten. sehr früh morgens auf und könne nicht mehr
Die Symptomatologie entspricht der in jüngeren einschlafen, da er sich so große Sorgen mache.
Jahren. Zusätzlich zur Kernsymptomatik von geho- Auch der Appetit sei ihm schon vergangen.
bener Stimmung, Denkbeschleunigung, Enthem- Ferner berichtet der Mann, sich nicht mehr zu
mung und Selbstüberschätzung mit Größenideen Unternehmungen aufraffen zu können. Ohne-
bis hin zu psychotischen Symptomen kommen Hy- hin verspüre er keine Freude mehr bei Hobbys,
peraktivität, Logorrhö, vermindertes Schlafbedürf- wie z. B. Angeln, was ihm früher großen Spaß
nis, erhöhte Reizbarkeit, Ablenkbarkeit und meist gemacht habe. Der ständige Kopfdruck und die
Fehlen von Krankheitseinsicht vor. Im Alter ist statt Gliederschmerzen beinträchtigen ihn sehr. Er
der Euphorie manchmal eher eine Dysphorie und sei selber schuld, wisse jedoch nicht, was er ver-
aggressive Erregtheit festzustellen. ändern könne, da er so einen Zustand noch nie
gehabt habe. Am liebsten würde er einschlafen
Praxisbox und nie mehr aufwachen. Sich selber töten
Die Phasen werden seltener, stereotyper und würde er jedoch nicht.
weniger intensiv.
Im Vergleich zu rezidivierenden unipolaren
Depressionen weisen bipolare Störungen des
höheren Lebensalters einen schlechteren Ver- Fragen zum Fallbeispiel:
lauf und Ausgang (stärkerer kognitiver Abbau, 1. Was ist die Verdachtsdiagnose?
höhere Mortalität, höhere Komorbidität mit 2. Welche Symptome sprechen für die Diagnose?
neurologischen und anderen somatischen 3. Welche Angabe fehlt im Fallbeispiel? Und war-
Erkrankungen) auf. um wäre sie wichtig?
4. Was ist eine wichtige Differenzialdiagnose und
warum ist sie unwahrscheinlich?
Neben der Reizabschirmung in einem geschützten
stationären Raum steht die pharmakologische Be- Antworten
handlung, die häufig im Interesse der Patienten auch 1. Erste depressive Episode.
gegen ihren Willen erfolgen muss, im Vordergrund. 2. Depressive Verstimmung, Verlust von Freude
Zur Akutbehandlung hat sich, auch beim älteren und Interesse, Konzentrationsstörung, Antriebs-
Patienten, eine Kombination eines hoch potenten, minderung, leibliche Missempfindungen, Schuld-
antipsychotisch wirksamen (z. B. Haloperidol) mit gefühl, Morgentief mit Früherwachen, Appetit-
einem niedrig potenten, sedierenden Neurolepti- verlust, passiver Todeswunsch.
kum (z. B. Melperon, Pipamperon) bewährt. Zur 3. Angaben über (hypo-)manische Episode. Wich-
Phasenprophylaxe sind Lithium, Carbamazepin und tig zur Klassifikation: unipolar versus bipolar.
Valproinsäure indiziert. 4. Demenz. Während bei dementen Patienten das
Gedächtnisdefizit eher bagatellisiert wird, klagen
depressive Patienten sich selber an und übertrei-
ben ihre Fehler und den Gedächtnisschwund.
Häufig ist das Klagen begleitet von Angst und
332 Kapitel 24 · Gerontopsychiatrie

Traurigkeit, Pessimismus und Verzweifelung. Die Symptomatik chronischer und residualer For-
Depressive Patienten erscheinen nur ratlos, fin- men der Schizophrenie ist auch im Alter sehr hete-
den sich aber zurecht, während demente Patien- rogen.
ten Orientierungsstörungen aufweisen. Ferner
! Die klassischen Subtypen der paranoid-hallu-
werden Demenzpatienten häufig von der Familie
zinatorischen, katatonen und hebephrenen
oder Freunden beim Arzt vorgestellt, während
Schizophrenie treten nach langjährigem Ver-
depressive Patienten dies aus Eigeninitiative tun.
lauf gegenüber der Residualsymptomatik in
24 den Hintergrund.
24.3 Schizophrenie Die 3 Grunddimensionen negativ, desorganisiert
und paranoid-halluzinatorisch bleiben erhalten.
Trotz einer erhöhten Mortalität aufgrund von Sui- Wahn und Halluzinationen im Alter sind spezifisch,
zidalität erreicht die Mehrzahl der Patienten mit meist sehr stabil und wenig beeinflussbar, zugleich
Schizophrenie das Senium. aber auch weniger handlungsbestimmend. Zusam-
men mit einer geringeren emotionalen Anspannung
Definition
führt dies zu einer besseren sozialen Anpassung.
Persistieren Wahnsymptome und Halluzina- Viele Patienten lernen, nicht über Wahn oder Hallu-
tionen wird dies als chronische Schizophrenie zinationen zu sprechen.
bezeichnet.
Praxisbox
Bei Patienten, die dissimulieren, sind Halluzinati-
Bei einem schizophrenen Residuum gab es in der onen häufig aus der Verhaltensbeobachtung zu
Vorgeschichte mindestens eine akute schizophrene erkennen. Beispielsweise drehen sich Patienten
Episode, in deren Anschluss Störungen des Antriebs, mitten im Gespräch um, da sie eine Stimme hin-
Affekts, Sozialverhaltens oder der Informationsver- ter sich vernehmen, oder sie bewegen die Lip-
arbeitung fortbestanden (v. a. Negativsymptomatik: pen als Antwort auf die Stimme.
Indifferenz, Willensschwäche, verarmte Gefühlswelt
und Sprache, Anhedonie, Apathie, Kontaktarmut).
Für Residualzustände und chronische Schizophre- Die Schizophrenie zeigt einen heterogenen Krank-
nie fanden epidemiologische Studien in der älteren heitsverlauf. Im Zuge des Älterwerdens kommt es
Bevölkerung eine Prävalenz um 1 %. In Heimen und bei mehr als der Hälfte der Patienten zu einer Re-
betreuten Wohnformen machen sie oft mehr als die mission oder Verbesserung der Erkrankung. Bricht
Hälfte der Bewohner aus. die Schizophrenie erst nach dem 40. Lebensjahr aus,
Hinsichtlich des Manifestationsalters werden steigt das Risiko für einen chronischen Verlauf.
Early- und Late-onset-Schizophrenien unterschie- Trotzdem ist der Verlauf der Spätschizophrenien
den. Beim größten Teil der Patienten tritt die Psy- unter sozialen Aspekten günstiger: Während die
chose erstmals vor dem 40. Lebensjahr auf, bei Krankheit bei Erstmanifestation im jugendlichen
13 % beginnt die Erkrankung zwischen dem 40. und oder frühen Erwachsenenalter zur Stagnation der
49. Lebensjahr und bei 7 % zwischen dem 50. und sozialen Entwicklung führt, erleiden Späterkrankte
59. Lebensjahr. Nur ein sehr kleiner Anteil (3 %) der einen sozialen Abstieg von ihrem vergleichsweise
Schizophrenien manifestiert sich erstmals nach dem hohen Status (bessere berufliche Vorgeschichte und
60. Lebensjahr. Partneranamnese). Versteht man Schizophrenie
als Störung der Informationsverarbeitung, so liegt
! Die sog. Late-onset-Schizophrenien weisen nahe, dass ältere, chronisch kranke Patienten in De-
eine geringere genetische Belastung, einen menztests pathologisch abschneiden. Die kogniti-
höheren Frauenanteil, mehr Wahnideen und ven Defizite älterer Patienten mit Schizophrenie
Halluzinationen sowie weniger Denkstörun- betreffen vor allem Initiation, Flexibilität und Ge-
gen und Negativsymptomatik auf. dächtnis.
24.4 · Weitere psychische Erkrankungen im Senium
333 24
Therapie 24.4 Weitere psychische
Die Behandlung schizophrener Psychosen im Alter Erkrankungen im Senium
entspricht im Wesentlichen der bei Patienten im
jüngeren Lebensalter. Die Datenlage ist allerdings 24.4.1 Sucht
wesentlich schlechter. Dem multifaktoriellen ätiopa-
thogenetischen Bedingungsgefüge der Schizophre- Psychopharmakagebrauch
nie entspricht ein mehrdimensionaler Therapie- und -missbrauch im Alter
ansatz, der psychopharmakologische und psycho- Psychopharmaka werden nach Herz-Kreislauf-Me-
sowie soziotherapeutische Maßnahmen verbindet. dikamenten bei über 60-jährigen Patienten am häu-
In der akuten Krankheitsphase hat die Psychophar- figsten verordnet. Die größte Bedeutung bei Psycho-
makotherapie mit Neuroleptika Vorrang. In der Re- pharmakagebrauch, -missbrauch und -abhängigkeit
gel wird eine Monotherapie durchgeführt werden. kommt den Benzodiazepinen zu. Die Langzeitein-
Wenn nach 4–6 Wochen kein Therapieerfolg er- nahme kann zu Nebenwirkungen, wie Gedächtnis-
reicht wird, sollte auf eine Substanz einer anderen störungen, Beeinträchtigung der Motorik und Ko-
Klasse umgesetzt werden. Da alle klassischen Neu- ordination sowie, beim plötzlichen Absetzen des
roleptika in der Akutbehandlung älterer schizo- Präparates, zu einem Entzugssyndrom führen, das
phrener Patienten ähnlich wirksam sind, basiert die sich in Form von Unruhe, Dysphorie, Angst- und
Auswahl primär auf dem Nebenwirkungsprofil. Schlafstörung äußert. Dies veranlasst den Patienten,
Atypische Neuroleptika haben bei vergleichbarer die Medikation weiter fortzusetzen. Alte Menschen
antipsychotischer Wirkung, nur geringe extrapyra- mit einem dauerhaften Benzodiazepingebrauch
midalmotorische Nebenwirkungen sowie eine bes- kommen oft nicht auf die Idee, dass sie eine vom
sere Wirksamkeit auf die Negativsymptomatik und Arzt verordnete Substanz mit Suchtpotenzial ein-
möglicherweise auch auf kognitive und depressive nehmen. Da sich eine Abhängigkeit von Benzodia-
Symptomatik. Bei wiederholten Rezidiven ist für zepinen bereits nach einigen Wochen Einnahme
einen Zeitraum von 3–5 Jahren eine Rezidivprophy- einstellen kann, sollten Benzodiazepine nicht länger
laxe indiziert. als 4 Wochen kontinuierlich verordnet werden.
Mit dem Zurückdrängen der psychotischen
Symptome des Patienten gewinnen psycho- und so- Alkoholabhängigkeit
ziotherapeutische Maßnahmen an Bedeutung. Ge- Rund 2–3 % der Männer über 60 Jahren und 0,5–1 %
rade die häufig kontaktarmen, sozial isolierten und der Frauen über 60 Jahren sind alkoholabhängig. Ein
in ihrer Identität extrem verunsicherten Patienten Alkoholmissbrauch liegt bei 10–20 % der Männer
brauchen empathische Gesprächspartner. Informa- und 1–10 % der Frauen über 60 Jahren vor. In psy-
tionen über die Erkrankung und ihre Behandlungs- chiatrischen Krankenhäusern ist bei bis zu 45 % der
möglichkeiten sowie pathogenetischen Einflussfak- älteren Patienten von einem überhöhten Alkohol-
toren sind von großer Wichtigkeit. Probleme des konsum auszugehen. Patienten mit Alkoholabhän-
täglichen Lebens sowie schwierige Lebensentschei- gigkeit und einem Krankheitsbeginn vor dem 60.
dungen müssen besprochen und Lösungsalternati- Lebensjahr haben häufig einen schwereren Krank-
ven diskutiert werden. Eine Überstimulation birgt heitsverlauf mit mehreren Vorbehandlungen, so-
die Gefahr produktiver schizophrener Rezidive, zialen und familiären Problemen, einem höheren
eine Unterstimulation die Gefahr der Negativsymp- Alkoholkonsum und gehäuft Intoxikationen. Die
tomatik. Zu den soziotherapeutischen Maßnahmen Familienanamnese für Alkohol ist oft positiv. Pati-
gehören Beschäftigungstherapie, Modifikation von enten mit spätem Krankheitsbeginn zeigen hinge-
Milieufaktoren und Strukturierung des Tagesab- gen im sozialen und familiären Bereich eine größere
laufs. Stabilität. Behandlungen werden häufiger angetre-
ten und abgeschlossen und die Prognose ist insge-
samt günstiger.
Bei der Entstehung der Alkoholabhängigkeit
spielen bei Patienten mit einem späten Krankheits-
334 Kapitel 24 · Gerontopsychiatrie

beginn soziale Faktoren, wie das Ausscheiden aus und Verhaltenstraining. Werden schlafstörende Sub-
dem Arbeitsleben oder der Verlust eines Lebenspart- stanzen, wie z. B. Nikotin, Koffein oder Alkohol, ein-
ners oder eines gewachsenen Freundeskreises, eine genommen, sind diese abzusetzen. Ist der nichter-
Rolle. Grundsätzlich sind bei älteren Alkoholabhän- holsame Schlaf Symptom einer psychiatrischen oder
gigen ähnliche klinische Symptome zu erwarten wie anderen organischen Erkrankung, sollte die Grund-
bei jüngeren Patienten. Die Symptome entstehen je- erkrankung behandelt werden. Alle weiteren Fälle
doch häufig schon bei niedrigen Trinkmengen und von Schlafstörungen sind in ein schlafmedizinisches
einer geringen Trinkdauer. Ältere Patienten weisen Zentrum zur Polysomnographie zu verlegen.
24 bei Zufuhr der gleichen Alkoholmenge höhere Blut-
alkoholspiegel auf. Im Alter sind Entzugssymptome
häufig schwerwiegender und dauern länger. Verläu- 24.4.3 Angst- und Zwangsstörungen
fe von 1–2 Wochen sind nicht selten. Zusätzlich be-
stehen vermehrt kognitive Defizite. Therapeutisch Angststörungen stellen auch bei älteren Menschen
werden, wie bei jüngeren Patienten, zunächst eine häufige und beeinträchtigende Erkrankungen dar.
Entgiftung und danach eine Entwöhnung zur Festi- Bei älteren Menschen können sie in 2 Gruppen ein-
gung des Abstinenzwunsches durchgeführt. geteilt werden. Die eine betrifft schon seit langem
bestehende, meist spezifische Phobien, um die her-
um diese Menschen ihr Leben organisiert haben und
24.4.2 Schlafstörungen daher kaum mit Ängsten konfrontiert werden. Die
andere Gruppe entwickelt ihre Phobie (meist agora-
Der Schlaf verändert sich mit zunehmendem Alter phobe Symptome) erst im späteren Lebensalter im
des Menschen. In Deutschland klagen 35 % der über Anschluss an ein traumatisches Erlebnis, etwa eine
65-Jährigen über Schwierigkeiten, ein- und durch- körperliche Erkrankung. Die Lebenszeitprävalenz
zuschlafen. 54 % nehmen zumindest manchmal im von Angststörungen liegt bei 15 %. Phobische Stö-
Jahr und 19 % mehrmals in der Woche Schlafmittel rungen stellen bei alten Menschen die häufigste
ein. Angststörung dar. Sowohl die soziale Phobie als
Wichtig ist zu wissen, dass sich die Qualität und auch spezifische, einfache Phobien können in jedem
Quantität des Schlafes im Laufe des Lebens ändert Lebensalter neu auftreten (Lebenszeitprävalenz 10–
und auch die moderne Medizin diese Veränderungen 14 % bzw. 10–20 %). Auch die generalisierte Angst-
nicht aufhalten kann. Alte Menschen schlafen früher störung kommt in jedem Alter vor (Lebenszeitprä-
ein und wachen früher auf (Schlafperiodenvorverla- valenz 4,5 %). Panikstörungen nehmen im Alter ab.
gerung). Der Schlaf wird leichter und häufiger unter- Das Geschlechtsverhältnis bleibt offenbar auch im
brochen. Hierdurch vermindern sich der Erholungs- Alter zuungunsten der Frauen verschoben.
wert des Schlafes und seine Stabilität. Der Nucleus Der Erkrankungsbeginn von Zwangsstörungen
suprachiasmaticus setzt im Alter weniger Melatonin liegt nur sehr selten jenseits des 40. Lebensjahres. In
frei (interne Rhythmusverflachung). Zusätzlich tre- diesen Fällen sollte eine intensive organische Abklä-
ten spezifische, körperlich begründbare Schlafstö- rung erfolgen (Ausschluss Enzephalitis, Traumata,
rungen (Restless-Leg-Syndrom, periodische Bein- Epilepsien).
bewegungen im Schlaf, Schlafapnoe) und körperli-
che Erkrankungen (Schmerzsyndrome, nächtlicher Überprüfen Sie Ihr Wissen!
Harndrang, schlafbeeinflussende Medikamente) auf, 4 Welche Demenzursachen kennen Sie? 7 Kap.
welche die Qualität und Quantität des Nachtschlafes 24.1.1
vermindern und die Tagesschläfrigkeit erhöhen. Be- 4 Welche Hilfen sind für Demenzkranke bzw. An-
steht eine erhebliche Leistungsminderung durch gehörige wichtig? 7 Kap. 24.1.1
nichterholsamen Schlaf, sollte zunächst überprüft 4 Wieviel Prozent aller depressiv Erkrankten be-
werden, ob ein adäquater Umgang mit dem Schlaf gehen Suizid? 7 Kap. 24.2.1
(Schlafhygiene) besteht und ob der zirkadiane Rhyth- 4 Welche Patienten sind besonders gefährdet,
mus gestört ist. In diesen Fällen helfen Information einen Suizid zu begehen? 7 Kap. 24.2.1
Literatur
335 24

4 Welche Symptome sind typisch für eine Depres-


sion im Alter? 7 Kap. 24.2.1
4 Welche Behandlungsmethoden stehen für dep-
ressiv erkrankte Patienten zur Verfügung? 7 Kap.
24.2.1
4 Wie verändert sich der Schlaf im Alter? 7 Kap.
24.4.2

Literatur
Helmchen H, Baltes MM, Geiselmann B et al (1996) Psychische
Erkrankungen im Alter. In: Mayer KU, Baltes PB (Hrsg) Die
Berliner Altersstudie. Akademie Verlag, Berlin 185
Petersen RC, Doodey R, Kurtz A et al (2001) Current concepts in
MCI. Neurology 58: 1985
Roman GC, Tatemichi TK, Erkinjutti T et al (1993) Vascular de-
mentia: diagnostic criteria for research studies. Neurology
43: 250
Selkoe DJ (2001) Alzheimer`s disease: genes, proteins and ther-
apy. Physiol Rev 81: 741
Förstl H (Hrsg) Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und -psycho-
therapie. Grundlagen – Klinik – Therapie. 2. Aufl Thieme,
Stuttgart
Bergener M, Hampel H, Möller H-J, Zaudig M (Hrsg) Geronto-
psychiatrie. Grundlagen, Klinik und Praxis. Wissenschaftli-
che Verlagsgesellschaft, Stuttgart
25

25 Kinder- und Jugendpsychiatrie


Günter Koch, Christoph Kussmaul, Wolf-Rüdiger Naussed

25.1 Psychische Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen –


gesunde und gestörte Prozesse – 338
25.1.1 Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung – 338
25.1.2 Mechanismen des Lernens – 339
25.1.3 Emotionale und geistige Entwicklung – 340

25.2 Ausgewählte Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen – 340


25.2.1 Aggressionen – 340
25.2.2 Depression – 344
25.2.3 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) – 345

25.3 Suizidalität im Kindes- und Jugendalter – 349

25.4 Intelligenzminderung, geistige und psychische Behinderung – 349

25.5 Anfallsleiden – 350

25.6 Heil- und Sonderpädagogik, Verhaltensauffälligenpädagogik – 351

25.7 Elternarbeit – 351

Literatur – 352
338 Kapitel 25 · Kinder- und Jugendpsychiatrie

) ) In Kürze Pflege bei aggressiven, depressiven und ADHS-


Kindern und -Jugendlichen
Die Behandlung von und die Pflege bei psychi- 7 einen Einblick in wichtige pflegerische Kompe-
schen Störungen im Kindes- und Jugendalter be- tenzen, die bei der Arbeit mit Kindern und Ju-
darf einer komplexen Kompetenz. Dem Behand- gendlichen mit psychischen Störungen im
lungs- und Pflegepersonal soll es gelingen, die dia- Schnittpunkt psychotherapeutischer und päda-
gnostische Beurteilung von krankem und gesundem gogischer Aufgaben stehen
Verhalten als Kontinuum zu begreifen. Eine solche 7 grundlegendes Wissen über die Bedeutung der
Haltung erhöht das Verständnis für abweichendes Elternarbeit bei betroffenen Kindern und Ju-
Verhalten: Abweichendes Verhalten wird nicht als gendlichen
25 völlig fremd vom eigenen Erlebnisspektrum er-
kannt. Dies schafft die Voraussetzung für ein heilen-
des, gesundheitsförderndes Beziehungsgesche- 25.1 Psychische Entwicklung
hen, das sowohl Empathie als auch orientierende bei Kindern und
Vorgaben und Grenzsetzungen ermöglicht. Jugendlichen – gesunde
In diesem Kapitel werden die Grundzüge psy- und gestörte Prozesse
chischer Entwicklung im Kindes- und Jugendalter
vorgestellt und exemplarisch drei große Störungs- 25.1.1 Voraussetzungen für eine
bilder, nämlich aggressives, depressives und auf- gesunde Entwicklung
merksamkeitsdefizitär-hyperaktives Verhalten, mit
Erklärungsmodellen und psychotherapeutischen Als Erwachsene erleben wir, dass sich unsere Psyche
Behandlungsansätzen beschrieben. Hinweise für auf der Beziehungsebene zwischen den beiden Polen
Pflegekräfte zum Umgang mit betroffenen Kindern Sympathie und Antipathie, Zuwendung und Ab-
und Jugendlichen ergänzen diese Abschnitte je- wendung bewegt. Menschen wenden sich sie inte-
weils. ressierenden Situationen, Objekten und Personen zu
Im Überblick werden weitere wichtige Stö- oder empfinden sie als abstoßend und meiden sie.
rungsbilder des Kindes- und Jugendalters beschrie- Als Kind erlebten wir diese Polarität des Psychischen
ben und Suizidalität als existenzielle Entwicklungs- auch, aber enger mit unseren primären Bedürfnissen
krise verständlich gemacht. Pflegerisches Handeln verknüpft. Schlüssel zum Verständnis und damit
mit Kindern und Jugendlichen bewegt sich an der zum Beziehungsaufbau zu Kindern und Jugendli-
Schnittstelle jener psychotherapeutischer und pä- chen ist die Rückerinnerung und das Wiedervorstel-
dagogischer Aufgaben, die hier skizziert werden. len dessen, wie ich war, als ich das jeweilige Alter
Ein Abschnitt über die fundamentale Bedeutung erreicht hatte.
der Arbeit mit den Eltern schließt dieses Kapitel ab.
! Für eine gesunde psychische Entwicklung
Wissensinhalte ist neben grundlegenden biologischen Bedin-
gungen v. a. die förderliche psychosoziale
Nach dem Studium dieses Kapitels haben Sie:
Umgebung von Bedeutung.
7 ein Verständnis von pflegerischem Handeln bei
Kindern und Jugendlichen mit psychischen Stö- Ihr kommt für die Psychotherapie und der damit
rungen, das die Beziehungsfähigkeit und die zusammenhängenden Pflegeaufgabe auch bei der
Aktivierung gesunden Erlebens betont Heilung die größte Bedeutung zu. Denn jegliche
7 Kenntnisse über die psychische Entwicklung Entwicklung zum Gesunden muss beim Aufbau von
von Kindern und Jugendlichen vertrauensvollen sozialen Beziehungen beginnen.
7 einen Überblick über wichtige psychische Stö- Die soziale Beziehung, und damit Vertrauen, Einfüh-
rungsbilder bei Kindern und Jugendlichen lungsvermögen (Empathie) und die Fähigkeit, zur
7 vertiefte Kenntnisse über psychologische Erklä- Gesellschaft eine positive Lebenseinstellung heraus-
rungsmodelle und psychotherapeutische Be- zubilden, hat ihre Grundlage in den primären sozia-
handlungsansätze und deren Bedeutung für die len Bindungen, die innerhalb der Familie und zu den
25.1 · Psychische Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen
339 25

ersten Bezugspersonen aufgebaut werden. Zur He- te Unterstützung. Die Entwicklung des Menschen
rausbildung einer ausgeglichenen Persönlichkeit kann im Allgemeinen als Erweiterung seiner Fähig-
gibt ein selbstachtendes, empathisches und unterstüt- keiten und damit seiner Selbstwirksamkeit angesehen
zendes Erziehungsverhalten den nötigen Freiraum werden. Erlangte Fähigkeiten regen weitere Entwick-
und fördert Selbstbestimmung, positive Identifika- lungen an, während sie aufeinander aufbauen. Vo-
tion und Lernmotivation. An diesen Grundbedin- raussetzungen gelingender Entwicklung sind die bio-
gungen muss ein förderliches Erziehungsverhalten logische Anlage sowie die soziale und die materielle
anknüpfen. Umwelt. Grundlegende Triebfedern der Entwicklung
In einem relativ breiten Konsens kann man als sind Handeln, Motivation und Lernen. Lernen basiert
»gesund« ein Erleben der Erziehung bezeichnen, das erstens auf der respondenten Konditionierung, dem
an der Entwicklung des Kindes orientiert die Über- Lernen durch Verstärker, zweitens auf der Nachah-
tragung grundlegender gesellschaftlicher Werte von mung und drittens auf dem operanten Lernen (re-
der Elterngeneration auf die Kinder ermöglicht. In spondere = antworten; operare = handeln).
diesem Sinne sollte primäres Erziehungsverhalten Respondente Konditionierung bezieht sich auf
gewährend und grenzsetzend, unterstützend und eine erlernte regelhafte Verbindung zwischen Reiz
kritisch sein. Es integriert das Kind in die Gemein- und Reaktion, die ähnlich automatisch werden kann
schaft und führt zu ganzheitlicher psychischer und wie ein angeborener Reflex. So kann z. B. das visuel-
psychosomatischer Gesundheit (7 Kap. 25.2.2). le Wahrnehmen von leckeren Brötchen hinter der
Schaufensterscheibe eines Bäckerladens den Be-
! Erziehende und betreuende Personen sollten
trachter bereits den Duft ahnen lassen. Verstärkungs-
sich in das Lebensalter ihrer Kinder hineinver-
lernen funktioniert über das Bemerken angenehmer
setzen und mit ihnen altersentsprechend um-
Konsequenzen; z. B. strampelt ein Säugling, um die
gehen. Sie sollten eindeutig und konsequent
am Bett angebrachten Glöckchen, deren Klang es
sein, ein Gleichgewicht zwischen Selbststän-
mag, zum Klingen zu bringen. Lernen durch Nach-
digkeit und Einmischung/Fürsorglichkeit wie
ahmung ist Modell-Lernen, Nachahmen eines Vor-
auch zwischen direktiven und nicht direktiven
bildes. Voraussetzung dafür ist, dass das Modell Fä-
Phasen ihres Erziehens anstreben.
higkeiten und Eigenschaften besitzt, die dem nach-
So können die Grundlagen für eine stabile Bezie- ahmenden Kind wertvoll erscheinen. Operantes
hungsfähigkeit und gesunde Entwicklung gelegt wer- Lernen ist Lernen, das auf der Aktivität, dem Han-
den, die dann auch wieder eine gelingende Ablösung deln des Individuums basiert. Es setzt sich mit seiner
von den Erziehungspersonen in Richtung Selbststän- Umwelt handelnd auseinander und lernt aus den
digkeit, Verantwortlichkeit und Gemeinschaftlich- Erfahrungen, die es dabei macht (Lernen nach dem
keit einschließt. Anregungen zum kreativen Gestal- Prinzip von Versuch und Irrtum). Eine Erweiterung
ten, Gemeinschaftsaktivitäten, wie Sport und Musik, des operanten Lernen ist es, sich Handlungen probe-
sind für soziale Kompetenzen sehr förderlich. Mit weise vorher vorzustellen, sich vor dem Tun ein Bild
der geschilderten lebensförderlichen Erziehungswei- vom Wie und Was zu machen. Es geht über das Han-
se steigt die Selbstwirksamkeitserwartung, aber auch deln nach der Versuch-und-Irrtum-Methode weit
der tatsächliche Einfluss auf die Umwelt. Es entsteht hinaus. Der Drang, unmittelbar Handeln zu wollen,
somit eine bessere Ausgangsposition zur Bewälti- muss dann jedoch aufgehalten werden (Prinzip der
gung der Umwelt. Hemmung).
Wie oben bereits gesagt, basiert die psychische
Entwicklung im Säuglingsalter auf den Polaritäten
25.1.2 Mechanismen des Lernens Zuwendung und Abwendung. Im Vordergrund steht
die gesamte sensomotorische Erfahrung der Welt,
Um den Schlüssel zum Verständnis von Kindern, also die Reaktion des Individuums durch Zuwendung
die Erinnerung an das eigene jeweilige Lebensalter und Abwendung auf emotionaler, kognitiver und
mit dessen jeweiliger Art des Erlebens, zu aktualisie- motorischer Ebene, sichtbar durch Lautäußerun-
ren, bietet die Entwicklungspsychologie differenzier- gen, Mimik und körperliche Bewegungen.
340 Kapitel 25 · Kinder- und Jugendpsychiatrie

25.1.3 Emotionale und geistige kationsbasis des Erwachsenen ist. Auffälligerweise


Entwicklung finden sich bei einer Reihe von psychopathologi-
schen Störungsbildern, wie Identitätsstörungen, Ess-
Für die weitere psychische Entwicklung prädis- störungen und Schizophrenien deutliche Defizite in
ponierend ist ein »stimmiges« Verhältnis zwischen der Fähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme.
erfolgreichen Zuwendungshandlungen und gelun-
genen Abwendungshandlungen. Gelingt die Zuwen-
dung auf der Ebene der ersten sozialen Bindungen 25.2 Ausgewählte Krankheits-
zu Eltern, Geschwistern und/oder anderen wichti- bilder bei Kindern
gen Bezugspersonen nicht, sind die Folgen für das und Jugendlichen
25 weitere Leben massiv (Bowlby, 1969). Ebenso pro-
blematisch sind Erfahrungen von Säuglingen und 25.2.1 Aggressionen
Kleinkindern, sich nicht von aversiven Reizen, vor
ängstigenden Objekten, gegen Hunger oder soziale Aggressive Verhaltensweisen bei Kindern und Ju-
Deprivation schützen zu können (z. B. durch Schrei- gendlichen sind in den letzten Jahren immer stärker
en, Fortkriechen, Herbeirufen der Mutter o. ä.). in den Blickpunkt psychotherapeutischer, psychia-
Störungen und Abbrüche der ersten engen Be- trischer, pflegerischer, aber auch sozial- und heilpä-
ziehungen können Vertrauens- und Bindungsstö- dagogischer Aufmerksamkeit gerückt. Unter dem
rungen bewirken. Die Betroffenen sind kommuni- Eindruck zunehmender Gewalt bzw. Gewaltbereit-
kativ oft nur äußerst schwer zu erreichen, haben oft schaft v. a. bei Jugendlichen werden Konzepte zur
Störungen der Impulskontrolle und können nur Behandlung und Prävention von aggressivem Ver-
unzureichend Bedürfnisse aufschieben. halten entwickelt und erprobt. Diese Sichtweise be-
Nach Piaget (1974, vgl. auch Kesselring, 1988) tont die klinisch relevante, weniger die »normale«,
beginnt sich die Welt des Kleinkindes im Alter zeitlich begrenzte, entwicklungsbedingte Verhal-
von 1,5–7 Jahren von sensorischen Einzelheiten zu tensdimension aggressiven Verhaltens. Diagnosti-
Bedeutungen in Sprache und Bildern zusammen- sche Abgrenzung und Einordnung von störungsrele-
zuschließen. Über die zunehmende Beherrschung vanten und gesunden Verhaltensäußerungen und
der Sprache und das nachahmende Spiel wird die daraus abgeleitete Behandlungs- und Interventions-
Vorstellungstätigkeit und damit das präoperative, ansätze sind daher gleichermaßen wichtig.
vorbegriffliche Denken in Bildern ausgebildet. Das Scheithauer u. Petermann (2002) beschreiben
2- bis 3-jährige Kind kann sich Gegenstände vorstel- nach Eron (1997) aggressive Verhaltensweisen als
len, es behält sie im Gedächtnis, kann sie also reprä- auf jemanden ausgerichtet, um diesen indirekt oder
sentieren, aber noch nicht durchgängig in eine rich- direkt zu schädigen. Aggressives Verhalten kann aber
tige raum-zeitliche und kausale Beziehung bringen. auch personenunabhängig gegen Sachen und Objek-
Das können erst Kinder im Alter von 4–7 Jahren. Ist te gerichtet sein, um diese zu beschädigen und/oder
das Vertrauen in die eigene Repräsentationsfähig- sie ihrer Funktion zu berauben. Sowohl personen-
keit gestört, kann das der Grund für Trennungs- und als auch sachorientierte aggressive Affekte und Ver-
Versagensängste oder Depressivität sein. (Beispiel: haltensweisen besitzen eine intersubjektive und eine
die im Nachbarzimmer lesende Mutter wird dann als intrasubjektive Dimension. Wenn Raubüberfälle,
verloren erlebt; das Kind reagiert mit Weinen und Brandstiftung, Zerstörung fremden Eigentums, phy-
versucht, die Mutter wieder herbeizuholen.) sische Gewalt, Verletzung sozialer Normen und Re-
Moralische Werte und Normen bilden Kinder, geln, allgemein delinquentes Verhalten als aggressi-
so Piaget (1974), ca. ab dem 7.–11. Lebensjahr zu- ve Verhaltensreaktionen bezeichnet werden (vgl.
sammen mit dem konkret-operationalen Denken Stattin u. Magnusson, 1996), so wird hiermit vorwie-
aus, indem sie die Fähigkeit zur sozialen Perspekti- gend die intersubjektive Dimension betont. Intra-
venübernahme entwickeln. Hierauf baut das ab ca. subjektiv wird aggressives Verhalten dann bedeut-
12 Jahren zur Verfügung stehende formal-operatio- sam, wenn selbstschädigendes, selbstverletzendes
nale Denken auf, welches die bevorzugte Kommuni- Verhalten bis hin zu Suizidalität vorliegt. In jedem
25.2 · Ausgewählte Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen
341 25

Fall hat diagnostisch eine Unterscheidung von pa- Klassifikation


thologisch aggressivem Verhalten zu normalem, Im Diagnostischen und Statistischen Manual Psy-
»gesundem« Verhalten stattzufinden, die auch be- chischer Störungen (DSM IV) werden zwei Störun-
rücksichtigt, dass Aggressivität auch eine häufige Be- gen aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugend-
gleiterscheinung entwicklungsbedingter Umbrüche alter unterschieden:
sein kann (z. B. »Trotzköpfe« und »Halbstarke«). 4 die Störung des Sozialverhaltens und
Erst von einer Person über einen längeren Zeitraum 4 die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten.
immer wieder und/oder mit hoher Intensität prak-
tizierte aggressive Verhaltensweisen deuten auf Auf der Symptomebene gehören zur Störung des
behandlungsrelevante pathologische Muster hin. Sozialverhaltens: aggressives Verhalten gegenüber
Differenzialdiagnostisch können unbeabsichtigte Menschen und Tieren, Zerstörung von Eigentum,
schädigende, impulsive, störende Verhaltensweisen Betrug oder Diebstahl sowie schwere Regelverstöße.
aber auch auf eine hyperaktive Störung hinweisen Bei der Störung mit oppositionellem Trotzverhalten
(Kazdin, 1995). treten folgende Symptome auf: Die Person wird u. a.
Betrachtet man die übersetzten lateinischen schnell ärgerlich, streitet sich häufig mit Erwachse-
Wortbedeutungen, die im Wort »Aggression« enthal- nen, verärgert andere häufig absichtlich, ist häufig
ten sind (aggredi: angreifen, in Angriff nehmen, da- wütend und beleidigt, ist häufig boshaft und nach-
rangehen; aggredior: sich an jemanden wenden, an- tragend. Bei der Störung des Sozialverhaltens liegen
greifen, anklagen, etwas unternehmen; aggressio: grundsätzliche Verletzungen der Rechte anderer vor
Anlauf, Angriff), so wird auch die gesunde, aktive, sowie die Missachtung gesellschaftlicher Normen
nicht schädigende Komponente aggressiven Verhal- und Regeln. Bei der Störung mit oppositionellem
tens beleuchtet. In Aggressionen als Affekt und Ver- Trotzverhalten handelt es sich um weniger schwer-
halten ist ein Moment von Bereitstellung von Energi- wiegende Symptome und der Übergang zu norma-
en für Handlungen enthalten, das auf der entgegen- lem Trotzverhalten ist gleitend.
gesetzten Seite pathologisch relevant wird, nämlich In der Internationalen Klassifikation Psychi-
dann, wenn Aggressionen fast völlig fehlen (z. B. Ag- scher Störungen (ICD 10) werden sechs Typen der
gressionshemmungen bei Depressiven). Also erst Störung des Sozialverhaltens unterschieden:
ab einem bestimmten Ausmaß (in Häufigkeit und 1. auf den familiären Rahmen beschränkte Störung
Intensität) kippt gerichtete (aggressive) Energie in des Sozialverhaltens,
schädigendes Verhalten, in Destruktivität. 2. Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden so-
zialen Bindungen,
! Diese Grenze zu pathologisch aggressivem
3. Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen
Verhalten ist nicht absolut, sondern wird
sozialen Bindungen,
räumlich, zeitlich, gesellschaftlich stetig neu
4. Störung des Sozialverhaltens mit oppositionel-
gezogen.
lem, aufsässigem Verhalten,
Die Äußerung aggressiven Verhaltens ist alters- und 5. andere bzw. nicht näher bezeichnete Störung
geschlechtsabhängig. Während Jungen eher direkte des Sozialverhaltens,
und physische Formen zeigen, verwenden Mädchen 6. kombinierte Störung des Sozialverhaltens und
eher indirekte, verbale Formen aggressiven Verhal- der Emotion.
tens. Personen im Kindesalter zeigen vorwiegend
oppositionelles und trotziges, Personen im Schul- Ätiologie
und Jugendalter mehr bedrohendes, schlagendes Hypothetisches Entwicklungsmodell
und sozial-normverletzendes Verhalten. Jugendliche aggressiven und delinquenten Verhaltens
sind in Gleichaltrigengruppen nur wenig integriert Scheithauer u. Petermann (2002, modifiziert nach
und beziehen sich vorwiegend auf gleichgesinnte, Loeber, 1990) stellen den pathologischen, über den
soziale Normen verletzende Personen. Lebenslauf stabilen Entwicklungspfad aggressiven
und delinquenten Verhaltens hypothetisch als Stu-
fenfolge dar, wobei auf jeder Entwicklungsstufe ein
342 Kapitel 25 · Kinder- und Jugendpsychiatrie

Beginn als auch eine Stagnation oder ein Ende Lerntheoretische Erklärungsansätze
dieses negativen Entwicklungsverlaufes möglich ist. Lerntheoretische Erklärungsansätze gehen davon
. Abb. 25.1 soll dies verdeutlichen. aus, dass aggressives und delinquentes Verhalten
durch eine Reihe von Lernprozessen, die schon früh
Genetische Erklärungsansätze in der Kindheit beginnen, entwickelt und aufrecht
Aufgrund der Heterogenität aggressiver Verhaltens- erhalten werden. Vier grundsätzliche Lernmechanis-
weisen konnten molekulargenetische Studien keinen men spielen dabei eine zentrale Rolle:
Nachweis isolierter genetischer Faktoren erbringen. 4 positive Verstärkung (ein Kind/Jugendlicher er-
Unzweifelhaft sind eine Reihe von neuromolekula- reicht durch aggressives Verhalten einen ge-
ren Erregungsmustern bei der Entwicklung von ag- wünschten Gegenstand, eine gewünschte Beloh-
25 gressivem Verhalten und einer Disposition zu im- nung und/oder Zuwendung),
pulsiven Aktivitätsmustern beteiligt. 4 negative Verstärkung (ein Kind/Jugendlicher ver-
hindert durch aggressives Verhalten, dass er sich
! Insgesamt kann man sagen, dass genetisch- unangenehmen Situationen und Ereignissen
biologische Vulnerabilitäten die Wahrschein- stellen muss),
lichkeit für das Auftreten aggressiver Verhal- 4 Duldung (dem aggressiven Verhalten des Kin-
tensweisen erhöhen. des/Jugendlichen wird reaktionslos zugesehen,

Jugendalter
Delinquenz Bündnis mit
dissozialen
Jugendlichen

Schulprobleme Aggressionen Soziale


Defizite

oppositionelles Probleme mit soziale


Trotzverhalten Gleichaltrigen Isolation

Kindheit
hyperkinetische
Störung

schwieriges
Temperament

prä- und
perinatale
Geburt Faktoren

pathologischer Entwicklungsverlauf

. Abb. 25.1. Hypothetische Entwicklungsstufen aggressiven Verhaltens (vereinfacht nach Scheithauer u. Petermann, 2002;
modifiziert nach Loeber, 1990)
25.2 · Ausgewählte Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen
343 25

sodass es vom Kind/Jugendlichen als Zustim- dem können Konflikte der Eltern und Scheidung
mung gewertet wird), v. a. bis zum sechsten Lebensjahr das Auftreten von
4 Lernen am Modell (aggressives Verhalten wird aggressivem Verhalten fördern. Insgesamt ist die
durch vorbildartige andere Personen präsentiert mangelnde familiäre Unterstützung und Kompetenz
und von den Kindern/Jugendlichen übernom- ein Faktor, der aggressives Problemverhalten ver-
men). stärkt (Scheithauer u. Petermann, 2002).

Diese Mechanismen regulieren den Lernprozess und Behandlungsansätze


das Aufrechterhalten von aggressiven Verhaltens- Präventionsansätze
reaktionen in der familiären Lernumgebung, z. B. Mit Präventionsprogrammen, die sich an werdende
durch den Faktor inkonsequentes Erziehungsverhal- Mütter mit erhöhten Risikofaktoren (alleinstehend,
ten, sowie in der direkten Eltern-Kind-Interaktion, jung) richten, konnten gute Erfolge erzielt werden.
z. B. durch unsicheres Bindungsverhalten, schließ- Ein weiteres Beispiel für ein erfolgreiches Präven-
lich auch im weiteren sozialen Umfeld, z. B. Zurück- tionsangebot für Kinder in der Schuleingangsstufe
weisung durch Gleichaltrige. ist das Verhaltenstraining für Schulanfänger (Peter-
mann et al., 2002). In einem vierstufigen Programm
Psychodynamische Erklärungsansätze werden den Kindern Verhaltensstrategien zur Stei-
(Bindungstheorien) gerung der auditiven und visuellen Aufmerksamkeit,
Bei den psychodynamischen Erklärungsansätzen zur Steigerung emotionaler und sozial-emotionaler
zur Entwicklung aggressiven Verhaltens kommen Kompetenzen (Aufbau prosozialen Verhaltens), zur
die Studien zum Bindungsverhalten zwischen Mut- Vermittlung sozialer Basiskompetenzen und ange-
ter bzw. Eltern und Kind (Bowlby, 1969; Ainsworth, messenen Problemlöseverhaltens angeboten. Diese
1978; Van Ijzendoorn, 1992) zu dem Ergebnis, dass werden geübt und in Rollenspielen gefestigt.
unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent gebun-
dene Kinder und desorganisiert Gebundene im grö- Multimodale Psychotherapieansätze
ßeren Ausmaß aggressive Verhaltensweisen zeigen Es liegt eine Reihe von Psychotherapieansätzen vor,
als sicher gebundene Kinder. Die zentrale Aussage die auf unterschiedlichen Ebenen Interventionen
von Ainsworth, dass mütterliche Feinfühligkeit im anbieten:
ersten Lebensjahr über Bindungsmuster des Klein- 4 soziales und kognitives Fertigkeits- und Pro-
kindes entscheidet, konnte allerdings nur teilweise blemlösetraining,
bestätigt werden. Es besteht ein Zusammenhang zwi- 4 Elterntraining,
schen mütterlicher Feinfühligkeit im ersten Lebens- 4 Familientherapie,
jahr und sicher gebundenen Kindern mit 12 Mona- 4 Training mit aggressiven Kindern,
ten. Es besteht auch ein Zusammenhang zwischen 4 Training mit aggressiven Jugendlichen in Ein-
einem eher zurückweisenden Interaktionsstil und zel- und Gruppensitzungen und begleitenden
unsicher vermeidender Bindung bzw. einem inkon- Elternsitzungen.
sequenten Interaktionsstil und unsicher-ambivalen-
! Als wirksam haben sich dabei multimodale
ter Bindung, der allerdings nicht so deutlich ausge-
Therapieansätze erwiesen, die unterschied-
prägt ist (Dornes, 2002).
liche Umgebungsbedingungen (Schule,
Systemische Erklärungsansätze Elternhaus) und Personen (Eltern und Kind)
umfassen.
Bei den systemischen Erklärungsansätzen wird da-
von ausgegangen, dass eine Reihe von familiären und Der Therapeut übernimmt beim Fertigkeits- und
sozialräumlichen Faktoren das Auftreten und Auf- Problemlösetraining eine aktive Rolle beim Erken-
rechterhalten aggressiven Verhaltens begünstigen. nen und Verstärken prosozialer Verhaltensweisen
Zum Beispiel erhöhen körperliche und psychische und dem Strukturieren begleitender kognitiver Pro-
Erkrankungen sowie dissoziales Verhalten der Eltern zesse, z. B. durch Lenkung von Selbstinstruktionen.
das Risiko für aggressives Verhalten der Kinder. Zu- Beim Elterntraining liegt ein Hauptbestandteil im
344 Kapitel 25 · Kinder- und Jugendpsychiatrie

genauen Erkennen der negativen Verhaltensweisen Die Pflegekräfte sollen überlegt, konsequent und
des Kindes, der Analyse der zentralen »Erpresser- frühzeitig reagieren, damit ihr Erregungslevel mög-
spiele« in der Interaktion zwischen Eltern und Kind lichst nicht in schwerer zu regulierende Höhen gerät.
und im Erlernen effektiver Grenzsetzungen gegen- Festigkeit und Gelassenheit im Umgang mit aggres-
über dem Kind. Petermann u. Petermann (2001 u. siven Kindern und Jugendlichen zeigen zu können,
2000) haben multimodale Trainings für aggressive erhöht die Glaubwürdigkeit des Betreuungs- und
Kinder und Jugendliche entwickelt, die folgende Behandlungspersonals und verstärkt die latente Be-
Standards enthalten: reitschaft der Betroffenen Stressbelastungen wieder
4 Durchführung einer Verhaltensanalyse zur Er- abzubauen (Unterbrechen der Eskalationsspirale).
mittlung der auslösenden und aufrechterhalten-
25 den Bedingungen aggressiven Verhaltens,
4 Auswahl der Trainingseinheiten nach einem 25.2.2 Depression
Baukastensystem und Zuordnung zu den ver-
schiedenen Interventionsebenen (Eltern, Kind, Erst mit der Pubertät tritt der vom Erwachsenen
Familie), bekannte klassische dreifache Symptomenkomplex
4 systematischer und gleichbleibender Aufbau der der depressiven Erkrankung vollständig auf:
Trainingseinheiten, 4 negatives selbstentwertendes Denken, Sorgen-
4 Einführung von Einstiegs- und Sitzungsritualen grübeln, Denkhemmung,
und 4 depressiv niedergedrücktes Gefühl, Traurigkeit,
4 Aufbau einer Hierarchie der Therapieziele. Verlassenheitsgefühl,
4 reduzierte Aktivität, sozialer Rückzug.
Pflegerischer Umgang mit aggressiven
Kindern und Jugendlichen Die Trauer gehört wie die Freude zum gesunden
Aggressive Kinder und Jugendliche provozieren. Sie menschlichen Leben, während wir uns freuen, sind
verleiten die Betreuungspersonen dazu, je nach in- wir weltzugewandt mit der Tendenz, uns selbst in
dividuellen Bewältigungsstilen mehr überrascht und unserem Umkreis, in der sozialen und auch in der
konsterniert zurückzuweichen oder unter Mobilisie- Objektwelt zu verlieren. Durch die Trauer hingegen
rung vielfältiger Energiereserven die Provokation tritt die Gegenbewegung, die Besinnung auf uns
zurückzudrängen. In starker Ausprägung sind beide selbst, auf unser Subjekt in Kraft. Trauer bringt eine
Verhaltensreaktionen weder für das Kind oder den Tendenz zur Passivität mit sich, Freude die Tendenz
Jugendlichen noch für das Pflegepersonal hilfreich, zur Aktivität.
weil eine Eskalationsspirale mit unterschiedlich do-
! Im gesunden Wechsel der psychischen
minanten Akteuren in Gang gesetzt wird. Wie ist ein
Zustände schwingen wir zwischen nachdenk-
Entkommen aus dieser Spirale möglich? Zwei Reak-
lichen und handelnden Phasen, zwischen
tionsprinzipien sollen genannt werden:
Freude und Trauer hin und her. Übersteigert
4 Verlangsamung des Interaktionstempos (nicht
aber führen beide Tendenzen ins Krankhafte.
unmittelbare verbale oder motorische Verhal-
tensreaktion) und Wird der Prozess des Schwingens gestört, kommt es
4 Fokussierung der Interaktion (Auswählen eines zu einer Fixierung auf dem einen oder anderen Pol,
Auseinandersetzungaspektes und bei diesem dann entstehen pathologische Zustände. Das Grüb-
bleiben). lerische, Zurückgezogene und Traurige ist Kennzei-
chen der Depression, das nach außen gerichtete,
Daneben ist es stets wichtig, sich zu überlegen, was unüberlegte Handeln ist Kennzeichen der Manie.
das Kind/der Jugendliche mit seinem Verhalten Auf der Gefühlsebene ist die Erste häufig mit nega-
eigentlich zu erreichen versucht und ihm alternative tiven Affekten, die Letztere mit grundlosen Hoch-
Wege aufzeigen, die hinter dem aggressiven Verhal- gefühlen verbunden. Krankhaft werden affektive
ten liegen, Ziele (z. B. Anerkennung in der Gruppe, Seelenzustände auch durch ihr situationsunange-
Durchsetzung von Wünschen) zu erreichen. messenes Auftreten, ihre relative Häufigkeit und
25.2 · Ausgewählte Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen
345 25

ihre ungewöhnliche Intensität. Verstärkt wird dies Faktor (Myschker, 2002). Jedenfalls ist die Beteili-
noch durch ihre Automatisierung und die damit ein- gung des Hormonstoffwechsels und die Beteiligung
hergehende Unmöglichkeit der Selbstkontrolle. erblicher und anderer biologischer Faktoren unstrit-
Man unterscheidet 4 Arten von Depressionen tig. Ebenso unstrittig sind psychosoziale Faktoren,
(lat.: niedergedrückter Zustand): wie Traumata, Trennungserfahrungen, Bindungs-
1. depressive Episoden: diese sind mehrwöchige störungen, fehlende Handlungskompetenz im sozi-
depressive Phasen, je nach der Schwere der Er- alen wie auch individuellen Bereich. Etwa 3 % aller
krankung teilt man sie in leichte, mittelgradige Kinder leiden unter schweren depressiven Episoden,
und schwere Episoden ein, häufig ist die depressive Störung bei Kindern mit
2. reaktive Depressionen: diese sind depressive Re- einer Angststörung verbunden. Der Verlauf bei de-
aktionen auf Lebensereignisse, z. B. den Tod pressiven Verstimmungen und depressiven Reaktio-
eines Angehörigen, nen ist insofern positiv, als sie gut auf therapeutische
3. Disthymie oder Disthymia (griech.: Gemütsstö- Maßnahmen ansprechen. Bei schweren depressiven
rung): diese ist eine chronische, über Jahre an- Episoden ist die Prognose nicht günstig. Insgesamt
dauernde depressive Verstimmung, muss bei Auftreten von Depressionen in der Kind-
4. die bipolare Störung (manisch-depressive Er- heit und Jugend mit einem erhöhten Risiko auch für
krankung), bei der depressive und manische Epi- das Erwachsenenalter gerechnet werden.
soden, also zwei Pole, abwechseln.
Pflegerisches Handeln
Bis zum Schuleintrittsalter macht die Depression Pflegepersonen sollen für das depressive Kind posi-
sich eher durch Gehemmtheit, Inaktivität und sozi- tive soziale Lebensbezüge sein. Verstimmungen,
alen Rückzug im Handlungsbereich (Motivation) Trauer, auch wenn sie aufgrund von Wahrnehmungs-
sowie Klagen über körperliche Beeinträchtigungen, verzerrungen zustande kommen, sollen ernstge-
Müdigkeit, besonders Bauchschmerzen und Kopf- nommen werden. Pflegepersonen sollen also nicht
schmerzen bemerkbar. Im Schulalter tritt neben den versuchen, den Betroffenen durch Argumente um-
genannten körperlichen und handlungsnahen Ele- zustimmen. Stattdessen sollte der Schwerpunkt auf
menten, die jetzt v. a. in Form von Lernstörungen der Aktivierung des Kindes liegen. Verhalten und
auftreten, das Gefühl (Emotion) deutlicher hervor Sprache müssen gut beobachtet werden (verlang-
durch In-sich-gekehrt-sein und Ängste, z. B. Versa- samtes Verhalten, Zurückgezogenheit, übersteigerte
gensangst und Schulangst. Das gedankliche Element Euphorie). Das Kind muss auf evtl. vorhandene
(Kognition) wird immer wichtiger, niedriger Selbst- Suizidabsichten und parasuizidale Handlungen ange-
wert, Sinnlosigkeitsempfindungen, auch Suizidge- sprochen werden. Bei einem begründeten Verdacht
danken kommen hinzu. Die Jugendlichen sind jetzt sollten sofort die fachlich zuständigen Personen bzw.
in der Lage, die Depression in Vorstellen, Fühlen Stellen (Arzt, Psychotherapeut, Klinik) eingeschaltet
und Handeln differenziert wahrzunehmen und zu werden.
beschreiben. Dabei ist die niedergedrückte Stim-
mung der vorliegende problematische psychische
Zustand, der therapeutisch von der Motivation und 25.2.3 Aufmerksamkeitsdefizit-
Kognition ausgehend positiv beeinflussbar ist. Hyperaktivitäts-Störung
(ADHS)
Ätiologie, Epidemiologie und Prognose
Die eigentlichen Ursachen von depressiven Erkran- Bedeutung
kungen sind bisher nicht geklärt. Physikalische und Ein Störungsbereich, der in den letzten Jahren immer
physiologische Ursachen können Lichtmangel und mehr an Beachtung gewonnen hat, ist der Bereich
körperliche Erschöpfung sein. Die neuerdings wie- der Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen, vielfach be-
der mehr diskutierte Temperamentenlehre spricht gleitet von Hyperaktivität. Die betroffenen Kinder
von einer körperlichen Disponierung durch das können sich schlecht für längere Zeit auf eine Sache
melancholische Temperament, also einem erblichen konzentrieren, sind meist impulsiv und unruhig.
346 Kapitel 25 · Kinder- und Jugendpsychiatrie

Mit zunehmendem Alter sind sie immer weniger tische Syndrom (HKS) legte nunmehr die Betonung
in Gruppen Gleichaltriger integriert. In den Familien auf die Unruhe, die viele Kinder mit Konzentrations-
der Kinder, aber auch in Kindergärten und Schulen störungen zeigen, gründete sich aber auf die im We-
führt dies oft zu großen Problemen, da solche Kinder sentlichen wieder gleiche Problematik. Nur dass nun
den betreuenden Personen erhebliche Schwierig- nicht mehr frühkindliche Hirnschädigungen, son-
keiten bereiten. So ist es ungleich schwieriger, Grup- dern eine genetische Disposition, entweder allein
penaktivitäten zu gestalten oder eine anregende oder in Verbindung mit einer Fehlernährung, verant-
und ruhige Lernatmosphäre aufrecht zu erhalten. wortlich gemacht wurde. Schon in den 70er Jahren
wurde das Hyperaktivitäts-Konzept erweitert und
Konzeptentwicklung letztlich durch den Begriff Aufmerksamkeitsdefizit-
25 Begonnen hat die Konzeptentwicklung zum Um- störung (ADS) mit und ohne Hyperaktivität ersetzt.
kreis der ADHS bereits vor langer Zeit. Archetypisch Wobei die ADS mit Hyperaktivität, auch als ADHS
wird hier häufig der »Zappelphilipp« aus den Struw- bezeichnet, die weitaus größere Bedeutung hat.
welpeter-Bildergeschichten von Heinrich Hoffmann Die ADHS ist gekennzeichnet durch folgende
um 1845 genannt. Der Zappelphilipp kann nicht 3 Störungsbereiche:
ruhig am Tisch sitzen, gehorcht nicht den Anwei- 4 Aufmerksamkeitsprobleme,
sungen der Eltern, kippelt mit dem Stuhl und fällt 4 mangelnde Impulskontrolle und
schließlich samt Stuhl, Tischdecke und Mittagessen 4 gesteigerte motorische Unruhe.
der gesamten Familie um.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Hiermit häufig verbunden aber nicht notwendiger-
Thema beginnt etwa mit dem 20. Jahrhundert. Im weise stets vorhanden sind:
Jahre 1902 beschrieb der englische Kinderarzt George 4 Teilleistungsstörungen (z. B. Legasthenie),
F. Still Kinder mit motorischer Unruhe, einer Beein- 4 motorische Koordinationsstörungen (Feinmo-
trächtigung der Aufmerksamkeit und aggressiven torik, Gleichgewicht, etc.),
Ausbrüchen. Still vermutete angeborene Schädigun- 4 unangemessenes Sozialverhalten (störendes Ver-
gen, die er aber nicht nachweisen konnte. Später kam halten, Aggressivität, Opposition, mangelnde
die Auffassung auf, die betroffenen Kinder litten unter Regelbefolgung, Delinquenz) und
einer leichten Hirnschädigung, hervorgerufen z. B. 4 emotionale Probleme (Stimmungsschwankun-
durch Sauerstoffmangel während der Geburt, der gen, niedrige Frustrationstoleranz, Jähzorn).
dann eine Funktionsbeeinträchtigung des Gehirns
nach sich ziehen sollte. Diese Ansätze gruppieren sich Die Häufigkeit des Auftretens von ADHS nach dem
um den Begriff leichte frühkindliche Hirnschädigung DSM IV in der Bevölkerung wird in Studien über-
bzw. minimale Cerebralparese. Jedoch auch mit der wiegend aus dem anglo-amerikanischen Raum mit
Verfeinerung der zur Verfügung stehenden Metho- Werten zwischen 4 % und 26 % angegeben. In
den zur Untersuchung des Hirnaufbaus zeigten sich Deutschland wurde bis Herbst 2004 im Rahmen des
keine Hinweise auf morphologische Besonderheiten, Kinder- und Jugendsurveys des Robert-Koch-Insti-
die typisch wären für Kinder mit ADHS. tutes ebenfalls eine großangelegte Prävalenzstudie
Daraufhin wurde die Begrifflichkeit verändert. durchgeführt. Diese ergab in einer ersten Schätzung
Es wurden nun keine morphologischen, sondern einen oberen Grenzwert von 3,9 %. Auffällig ist, dass
ähnlich wie bei endogenen Psychosen (Affektpsy- es erhebliche Unterschiede bei Mädchen und Jungen
chosen und Schizophrenien), funktionelle Störun- gibt. So sind wesentlich mehr Jungen als Mädchen
gen des Gehirns angenommen. Diese wurden unter betroffen. Das Verhältnis wird bei verschiedenen
dem Begriff minimale cerebrale Dysfunktion (MCD) Untersuchungen zwischen 3:1 und 9:1 angegeben
gefasst, der in Deutschland in den 70er Jahren auf- (7 auch Gershon, 2002).
kam und bis Ende der 80er Jahre Verwendung fand.
Aus den USA kommend, wanderte in den 80er Genetische Hypothesen
Jahren in Deutschland der Begriff der Hyperaktivität In den 60er und 70er Jahren wurde der Glaube an
ein, der zunehmend die MCD ablöste. Das hyperkine- die Formbarkeit des Individuums durch die Umwelt
25.2 · Ausgewählte Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen
347 25

erheblich größer – bis hin zu der extremen Vorstel- Doch ob diese Ergebnisse letztlich Bestand haben
lung, der Mensch komme als »tabula rasa« auf die werden, und was sie eigentlich besagen, ist noch
Welt und werde zu dem, was er ist, allein durch seine längst nicht abschließend geklärt.
Erfahrungen. Entsprechend suchte man auch für die Eine weitere Quelle möglicher Faktoren für
zuvor als angeboren betrachteten Störungen und die Entstehung von ADHS ist die Störung der Hirn-
Defizite pädagogische und psychotherapeutische entwicklung durch Stress, Krankheiten, Alkohol, Ni-
Behandlungsmöglichkeiten. Die Bedeutung der Pä- kotin oder medikamentöse Einflüsse während der
dagogik, der Psychologie und der Psychotherapie Schwangerschaft. Durch diese schädigenden Ein-
wuchs, sind sie doch Erklärungsrahmen und Inter- flüsse habe sich das Gehirn des Fötus nicht normal
ventionsinventar gleichermaßen und versprechen entwickeln können und weise daher die beobachte-
Hilfe bei Störungen der Aneignungsprozesse, der ten funktionalen Defizite auf. Auch hier gibt es Hin-
Affektivität oder des Verhaltens. weise, dass bei Auftreten dieser Faktoren, das Risiko
Diese veränderte Haltung schlug sich auch in der der Kinder, an ADHS zu leiden, sich erhöht.
Suche nach Ursachen für die heute unter dem ADHS- Schließlich gibt es nach wie vor Hypothesen
Begriff zusammengefassten Störungen nieder. So einer psychogenen Entwicklung der Störung. Die
sah man beispielsweise einen inkonsequenten, unsi- eher tiefenpsychologisch orientierten Theoretiker
cheren Bindungsstil der Bezugspersonen als Ursache gehen von einer Bindungsstörung zwischen Kind
an. Reizüberflutung durch extensives Fernsehen und und ersten Beziehungspersonen aus, die eher verhal-
ein Mangel an »Primärerfahrung«, also dem direk- tenstherapeutisch orientierten Wissenschaftler pos-
ten Umgang von Kindern mit der Natur, wurde tulieren, dass die Familie eines ADHS-Kindes eine
gleichfalls als Quelle für die zunehmend mehr Be- Lernumgebung darstelle, die Unruhe, Aggressivität
achtung findenden Probleme betrachtet. Für viele und regelverletzendes Verhalten verstärke.
Eltern und Pflegepersonen ergaben sich hieraus
schmerzhafte Gedanken über Schuld und Verant- Behandlungsansätze
wortung, was zu einer Verunsicherung in der Be- Seit etwa 15 Jahren wird auch in Deutschland ver-
ziehung zu den Kindern und Jugendlichen führte stärkt Ritalin (Methylphenidat) verschrieben. Dabei
und umgekehrt die Kinder und Jugendlichen in eine handelt es sich um eine Substanz aus der Gruppe der
Position der scheinbar gerechten Empörung über Amphetamine, die in der Regel anregend und appe-
die Erziehungsfehler der Eltern brachte. titreduzierend wirken.
Im Zuge des konservativen Wertewandels, der Die Verschreibung von Ritalin bei ADHS ge-
sich Anfang der 80er Jahre in Politik und Gesellschaft schah in der Vergangenheit oft durch Kinderärzte,
ankündigte, traten psychosoziale Erklärungsmodelle denen die entsprechende psychiatrische oder psy-
wieder zugunsten von naturwissenschaftlichen in chotherapeutische Fachkenntnis fehlte. Die Diagno-
den Hintergrund. Anders als in den Jahrzehnten se ADHS wurde umso bereitwilliger gestellt, als die
zuvor wurden die vorhandenen Unterschiede im Gabe von Ritalin, die schwer zu kontrollierenden
Verhalten, seien es die zwischen Mann und Frau, Kinder leichter handhabbar machte. Die oft damit
hochintelligent und minderbegabt, psychisch krank verbundene Hoffnung, dass mit der Reduktion der
und gesund, zunehmend als unveränderlich, natur- Unruhe auch die Konzentrations- und Lernfähigkeit
gegeben und genetisch disponiert betrachtet. Viele zunehmen würde, erfüllte sich aber nicht.
Male wurden genetische Marker für Schizophrenie Da auch die Fähigkeit der Kinder, sozialen Kon-
und Depression gemeldet, doch die meisten dieser takt zu Altersgenossen aufzunehmen hierdurch
Befunde hielten einer Überprüfung nicht stand. nicht steigt, sondern sie im Gegenteil eher zurück-
Dennoch gibt es Belege genug, die dafür sprechen, gezogener wirken, nützt die Gabe von Ritalin wohl
dass ein Teil der Problematik erblich angelegt ist. So letztlich mehr der Umwelt als den Kindern selbst.
auch bei ADHS. Der gegenwärtige Stand der For- Hinzu kommt, dass die verabreichten Medikamente
schung nimmt einen genetischen Anteil von 70 % keine Heilwirkung haben, sondern lediglich die un-
bis zu 95 % bei der Entstehung von ADHS an erwünschte Hyperaktivität reduzieren, solange die
(Sherman et al., 1997; vergl. auch Ding et al., 2002). Wirkung des Medikamentes anhält. Von Befürwor-
348 Kapitel 25 · Kinder- und Jugendpsychiatrie

tern der Ritalingabe wird das Medikament mit In- In der Interaktion wechseln ADHS-Kinder oft
sulin verglichen, das gleichfalls keinen heilenden ihren Fokus und ihre Haltung. Was jetzt gerade noch
Nutzen habe, für Diabetiker jedoch lebenswichtig wichtig war, ist im nächsten Moment schon durch
sei. etwas neues verdrängt, das die volle Aufmerksam-
keit und Beachtung verlangt. Zur Unterstützung der
! Hoffnung auf eine Verbesserung der Sympto-
Entwicklung des Kindes können die Pflegepersonen
matik ohne permanente Medikamentengabe
den Aufmerksamkeitswechsel verlangsamen, indem
bietet augenblicklich nur eine Psychotherapie.
sie ein vom Kind geäußertes Thema freundlich und
Diese sollte dort, wo es die Umstände erfor-
ruhig aufrechterhalten und selbst weiterverfolgen,
dern, durch eine medikamentöse Behandlung
wenn das Kind schon beim nächsten oder über-
begleitet werden.
25 nächsten Thema angelangt ist. Das darf natürlich
Im Rahmen einer Psychotherapie geht es darum, nicht den Charakter eines Kampfes annehmen. Viel-
zusammen mit dem Kind und seiner Familie Ver- mehr sollte man irgendwann wieder zum dann ak-
hältnisse herzustellen, die optimal dafür geeignet tuellen Thema des Kindes aufschließen. Dort sollte
sind, Lernen und soziale Integration zu fördern. Das man wieder verweilen und vielleicht die nächsten
kann zum einen durch klar strukturierte Zuwen- beiden Sprünge auslassen. Mit der Zeit wird sich
dung, konsequenten doch liebevollen Erziehungsstil der Themenwechsel mehr und mehr verlangsamen
der Eltern, Erzieher, Lehrer und sonstigen erwachse- und ein tieferes Eindringen und Durchdringen eines
nen Bezugspersonen erreicht werden. Zum anderen Zusammenhanges wird möglich.
kann in der Therapie daran gearbeitet werden, die
! So schwer es auch oft fallen mag, ist der
Konzentrationsspannen des Kindes zu verlängern
Schlüssel zum richtigen Umgang mit ADHS-
und seine permanente Aufgeregtheit zu reduzieren,
Kindern, Ruhe auszustrahlen.
indem der Therapeut ihm Möglichkeiten zeigt, wie
es seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse durch Wenn Interventionen nötig sind, gilt es freundliche
Methoden der Selbststeuerung und sozial angemes- Konsequenz zu zeigen und immer wieder Grenzen
sene Formen der Durchsetzung von Interessen bes- aufzuzeigen. Regeln sollten nicht nur formuliert,
ser erreichen kann. sondern schnell und konsequent durchgesetzt wer-
den. Da die Kinder oft in kurzer Zeit sehr viele Re-
Pflegerischer Umgang mit ADHS-Kindern geln verletzen, ist es entscheidend, sich darüber klar
ADHS-Kinder sind schwierig. Sie sind unruhig, hal- zu werden, welche wichtig und welche weniger wich-
ten sich nicht an Regeln, provozieren, erzeugen Cha- tig sind und sich dann zunächst auf die Durchset-
os. Unternehmungen in einer Gruppe mit ADHS- zung der wichtigsten zu beschränken.
Kindern sind doppelt anstrengend. Umso wichtiger Es dauert lange, bis grundlegende Regeln von
ist, dass die betreuenden Personen sich immer ADHS-Kindern wirklich verinnerlicht sind und dann
wieder vor Augen halten, dass ADHS-Kinder nicht auch zuverlässig eingehalten werden. Erst wenn das
bösartig sind. Dies kann man in all der Hektik und geschehen ist, sollte man sich mit den weniger wich-
all dem Chaos, das diese Kinder umgibt, allzu leicht tigen Problemen beschäftigen. Dabei gilt es immer
vergessen. Für Betreuungspersonen ist es wichtig, darauf zu achten, dass das Kind mit aggressiven und
ihre eigene Toleranz und Leidensfähigkeit nicht regelverletzenden Verhaltensweisen keinen Erfolg
überzustrapazieren. Sie sollten störendes, aggressi- hat, der es in seinem Verhalten bestärken könnte.
ves und regelverletzendes Verhalten eines ADHS-
! Wichtig ist vielmehr, dass die erwünschten,
Kindes frühzeitig unterbinden, noch bevor sie selbst
sozial angemessenen Verhaltensweisen be-
ärgerlich geworden sind. Der eigene Ärger der Be-
lohnt und damit verstärkt werden.
treuungsperson macht es ihr schwieriger, rational
und angemessen zu reagieren. Die Aggressivität und Auch der Erfolg dieser Erziehungshaltung vollzieht
das chaotische Verhalten eines oder gar mehrerer sich bei ADHS-Kindern viel langsamer und von
ADHS-Kinder drohen auch die Betreuungsperso- mehr Widerstand begleitet als bei den meisten ande-
nen zu beeinflussen. ren Kindern.
25.4 · Intelligenzminderung, geistige und psychische Behinderung
349 25
25.3 Suizidalität im Kindes- nügender Kompetenzen zur Regulierung von Affek-
und Jugendalter ten auf. Diagnose und Therapie suizidalen Verhal-
tens hat die psychologischen Grunderkrankungen
Der vollendete Suizid im Jugendalter ist nach Schulz zu berücksichtigen (z. B. depressive Syndrome, aku-
(2000) die dritthäufigste Todesursache nach Ver- te Belastungsreaktionen, schizophrene Psychosen,
kehrsunfällen und Krebserkrankungen. Im Kindes- drogeninduzierte Psychosen, Essstörungen, Störun-
alter steht der Suizid statistisch gesehen an 10. Stelle gen des Sozialverhaltens), um die Komplexität der
der Todesursachen. Die Dunkelziffer ist jedoch hoch. Entstehungsbedingungen zu erfassen.
Vor allem im Jugendalter stellt die suizidale Krise Suizidalität wird im Allgemeinen stationär be-
also ein häufig gezeigtes Problemverhalten dar, das handelt und orientiert sich an der Grunderkrankung
alle Behandlergruppen mit schwierigsten therapeu- und weiteren Belastungsfaktoren. So muss z. B. ein
tischen Aufgaben konfrontiert. Suizide werden an- Selbstmordversuch bei einem Essgestörten spezi-
gedroht, versucht und vollendet. Etwa 70–80 % aller fisch anders behandelt werden als Suizidalität bei
Versuche werden von den Betroffenen vorher an- Substanzmittelmissbrauch, bei schweren depressi-
gekündigt und häufig mit gesteigertem selbstver- ven Syndromen oder bei einem Psychotiker. Die Be-
letzendem Verhalten eingeleitet. Ankündigungen handlungsformen müssen der Vielfalt der Ursachen
haben Appellcharakter, sollten ernst genommen Rechnung tragen. Demzufolge kommen auch eine
werden und bieten einen Ansatz zu vorsorgender Reihe von auf den Einzelfall abgestimmten Behand-
Behandlung. Weitere Merkmale präsuizidaler Symp- lungsansätzen (gesprächspsychotherapeutische, ko-
tomatik sind verarmte zwischenmenschliche Bezie- gnitive, familienzentrierte, verhaltenstherapeutische
hungen und Wertvorstellungen sowie insgesamt eine u. a. Methoden) zum Einsatz.
Einengung situativen und dynamischen Erlebens
(z. B. generell negativ getönte emotionale Wahrneh-
mung, Verlust der emotionalen Schwingungsfähig- 25.4 Intelligenzminderung,
keit). Bei Verdacht auf Selbstmordgefährdung muss geistige und psychische
exploriert werden, ob genauere und schon länger Behinderung
andauernde Selbstmordgedanken und -vorstellun-
gen über den Ablauf existieren. Bei einem begründe- Das Konzept der Intelligenzbestimmung beruht da-
ten Verdacht sollten sofort die fachlich zuständigen rauf, eine Auswahl von Aufgaben vorzugeben, die
Personen bzw. Stellen (Arzt, Psychotherapeut, Kli- die kognitive Leistungsfähigkeit einer Testperson
nik) eingeschaltet werden. abbilden können. Die Testperson bringt davon einen
Risikofaktoren für suizidales Verhalten im Ju- Teil oder alle in einen inhaltlich sinnvollen Zusam-
gendalter (ergänzt nach Schulz, 2000): menhang. Der Anteil der richtigen Aufgaben an der
4 Verlust einer bedeutungsvollen Bezugsperson, Gesamtmenge wird bestimmt und in Beziehung
4 Broken-Home-Situation, zum Lebensalter gesetzt. Der so errechnete Wert
4 Suizid in der Familie, wird als Intelligenzquotient (IQ) bezeichnet. Den
4 soziale Isolation, hierbei ermittelten Durchschnittswert der Bevölke-
4 Probleme im Sexualbereich/auch sexueller Miss- rung, den Wert, um den die meisten liegen, setzt
brauch, man mit 100 an. Je weiter man sich von diesem
4 aggressives und/oder delinquentes Verhalten, Durchschnitt nach oben oder unten entfernt, umso
4 Traumatisierung (z. B. Gewalterfahrungen, Ka- mehr nimmt die Zahl der Personen mit diesem IQ
tastrophen, Folter), ab. Mehr als 2/3 der Bevölkerung haben (Wechsler)
4 Alkohol- und Drogenmissbrauch, einen Wert zwischen 85 und 115.
4 hoher Leistungsdruck (Überforderung), In einem Bereich von IQ 85–70 spricht man im
4 Nachahmungssuizid. Allgemeinen von Intelligenzminderung (Steinhau-
sen, 2000), unter 70 von geistiger Behinderung. In-
Suizidales Verhalten tritt auch im Zusammenhang telligenzminderungen von geistigen Behinderun-
von Störungen der Impulskontrolle sowie nur unge- gen zu unterscheiden ist nicht einfach, da man in
350 Kapitel 25 · Kinder- und Jugendpsychiatrie

der Kommunikation gewohntermaßen das Schwer- Frühkindlicher Autismus kommt sehr selten vor,
gewicht auf die verbale Sprachfähigkeit legt. Bei der bei ca. 0,05 % der Kinder. Man geht hier heute von
Testkonstruktion versucht man, nonverbale kogni- einer hirnorganischen Ursache aus, v. a., weil bei
tive Fähigkeiten durch bildhafte und manuelle An- etwa der Hälfte der Betroffenen somatische Verän-
teile in den Tests zu erfassen. Intelligenzmessungen derungen des Gehirns nachweisbar sind.
sind neben vielen anderen Faktoren erheblich vom Alle Kinder mit Intelligenzminderungen und
Selbstbewusstsein, der Konzentrationsfähigkeit, der Autismus machen durch Heilpädagogik und Thera-
Umgebung und der Tagesform der Probanden ab- pie Fortschritte, ein großer Teil von ihnen bleibt je-
hängig. Daher sind sie, auch weil sie sich im we- doch auf Sonderschulen und Behinderteneinrich-
sentlichen auf kognitive Fähigkeiten beziehen und tungen angewiesen.
25 damit nur einen Ausschnitt der gesamten Fähigkei-
ten darstellen, bedingt aussagefähig für das geistige Pflegerische Maßnahmen
Leistungsvermögen eines Menschen. Personen mit In jedem Fall sollte das Kind mit einer Störung der
Intelligenzminderungen brauchen zur optimalen Intelligenz oder mit Autismus als individuelle Per-
Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten besondere, sönlichkeit angesehen werden, die hochwahrschein-
auf den Einzelfall bezogene heilpädagogische und lich in ihrem Innenleben, was sie ja nicht angemes-
sonderpädagogische Förderung sowie ggf. Psycho- sen mitteilen kann, sich sehr bewusst mit ihrer Be-
therapie. Außerordentlich wichtig ist es, den Grad hinderung und ihrem Anderssein auseinandersetzt.
der Bewusstheit der Behinderung bei den Betroffe- So ergibt sich aus der Störung oft aggressives Verhal-
nen richtig einzuschätzen. In der Regel leiden diese ten, auf das gleichmütig, konsequent und selbst-
schon lange unter sozialer Stigmatisierung, wo- schützend reagiert werden sollte (7 Kap. 25.2.1). Eine
durch sich verschlimmernde psychopathologische konsequente und strukturierte Umgebung, die die
Anteile zusätzlich auflagern und oft zu Hoffnungs- Aktivität der Kinder fordert, unterstützt am ehesten
losigkeit und destruktiven Selbstkonzepten geführt den Entwicklungsfortschritt.
haben.
Intelligenzminderung tritt auch bei ca. 95 % der
Menschen mit frühkindlichem Autismus auf. 60 % 25.5 Anfallsleiden
von ihnen haben eine geistige Behinderung. Men-
schen mit frühkindlichem Autismus fallen schon Unter Anfallsleiden wird im Allgemeinen die Epi-
früh durch eingeschränkte soziale Aktivität auf, z. B. lepsie (griech.: epilepsis = Anfall) verstanden. Sie
als Säuglinge, die nicht lächeln, als Kleinkinder, die steht im Zusammenhang mit einer Hirnfunktions-
Blickkontakt vermeiden. Die Sprache kann meist störung. Etwa 25 % der von Epilepsie Betroffenen
nicht sozial angewendet werden. Andere Menschen haben zusätzlich zum Anfallsleiden psychische
rufen keine emotionale Resonanz hervor. Oft be- Störungen. Hier kommen besonders Störungen
stehen eingeschränkte und stereotype Verhaltens- der Aufmerksamkeit mit Verbindungen zu ADHS
muster, Aggressionen, Selbstverletzungen, Ess- und (7 Kap. 25.2.3) vor, Ängste und Depressionen. Bei
Schlafstörungen sowie Phobien. schwereren Fällen und längeren Krankheitsdauern
treten auch Psychosen auf. Epilepsie ist seit Jahrtau-
Ätiologie, Epidemiologie und Prognose senden bekannt. Im Altertum galt sie als heilige
Intelligenzminderungen und geistige Behinderun- Krankheit. Bei den Anfällen werden Petit-Mal-An-
gen treten bei ca. 10 % der Bevölkerung auf. Schwers- fälle und Grand-Mal-Anfälle (petit mal = kleines
te geistige Behinderungen sind meistens durch Übel, grand mal = großes Übel) unterschieden. Der
Hirnverletzungen, fetale Schädigungen (z. B. Alko- Petit-Mal äußert sich durch Muskelzuckungen be-
holmissbrauch der Mutter), Geburtsschädigungen, sonders der Gliedmaßen und oft Zuckungen der
Erkrankungen und Schädigungen in der frühen Schultern, die die Betroffenen wie elektrische Schlä-
Kindheit verursacht. Psychogene Intelligenzminde- ge empfinden. Der Petit-Mal kann auch als Absence
rungen entstehen v. a. durch Traumatisierung und (Bewusstseinspause) auftreten. Der Grand-Mal ist
negative Erfahrungen bei Lernprozessen. durch Bewusstlosigkeit, durch Krampfen der gesam-
25.7 · Elternarbeit
351 25

ten Körpermuskulatur sowie nachfolgende Glieder- auffälligkeiten. In der Regel liegt beides vor. Der
zuckungen, verstärkten Speichelfluss und oft Ein- Schwerpunkt befindet sich mal mehr auf der Seite
nässen und Einkoten gekennzeichnet. Nach einigen der Behinderung, mal mehr auf der Seite der Verhal-
Minuten tritt Entspannung ein. Dem Grand-Mal wie tensauffälligkeit.
dem Petit-Mal geht meistens eine einleitende Aura
! Psychotherapie muss hingegen erst die Vo-
voraus. Geschulte Betroffene können sich beim
raussetzungen für das Lernen schaffen, diese
Grand-Mal noch hinlegen und damit den sonst
bestehen v. a. in den psychischen Grundlagen
unausweichlichen Fall vermeiden.
für eine situations- und altersgerechte Bezie-
Pflegerische Maßnahmen hungsfähigkeit.

Genaues Beobachten und Beschreiben des Verhal- Sie kann daher nicht wie die Pädagogik von zu errei-
tens und aufmerksames Miterleben der momenta- chenden Lernzielen, die eingefordert werden können,
nen Lebenssituation der von Anfallsleiden Betroffe- ausgehen, sondern muss bei der abweichenden Ent-
nen ist unverzichtbar für eine erfolgreiche Therapie. wicklung ansetzen und von hier aus die bisher nicht
Schon die Medikamentenwahl und -dosierung muss realisierten Entwicklungsprozesse in Gang bringen.
durch ständige Rückmeldung mit Verhaltensbeo-
bachtungen und der Beobachtung des Wachheits-
grades, der Aktivität und der Sprache der Patienten 25.7 Elternarbeit
bestimmt werden. Die notwendige Selbstbeobach-
tung der Betroffenen wird sehr dadurch gefördert, Die Zusammenarbeit von Ärzten, Psychotherapeu-
dass sie angeregt werden, ihre Befindlichkeit aus- ten und Pflegepersonen mit den Eltern stellt bei allen
zusprechen. Angemessene Anforderungen, v. a. im psychischen Problemen von Kindern und Jugendli-
Alltag bereiten für ein unabhängiges und selbstbe- chen einen tragenden Pfeiler dar. Niemand kennt die
stimmtes Leben vor, auch wenn die Leistungsfähig- Kinder und Jugendlichen so gut wie deren Eltern.
keit durch das Leiden reduziert ist. Es ist unbedingt Keiner hat, gerade bei jüngeren Kindern, einen so
darauf zu achten, dass die Betroffenen keine Außen- großen Einfluss auf sie. Gewinnt man die Eltern für
seiterposition in Gruppen einnehmen. eine gemeinsame Zielsetzung, so steht die Hilfemaß-
nahme unter einem günstigen Stern.
In diesem Zusammenhang ist nicht Raum genug,
25.6 Heil- und Sonder- alle Bereiche der Elternarbeit zu nennen. Konzentrie-
pädagogik, Verhaltens- ren wir uns daher auf einige wesentliche Aspekte. Zu-
auffälligenpädagogik nächst einmal ist es wichtig zu sehen, dass oftmals
auch die Eltern unter den Problemen ihrer Kinder lei-
Psychotherapie und Pädagogik können gut in die den. Umgekehrt zeigen sich Probleme der Eltern auch
folgende Relation gesetzt werden: Psychotherapie an den Auffälligkeiten der Kinder. Dies gilt umso
wird dann notwendig, wenn die Pädagogik, verstan- stärker, je einschneidender diese Probleme und je
den als Angebot an alle, nicht greift. Psychotherapie jünger die Kinder sind. Zu nennen sind hier psychi-
ist Leid mindernd, entlastend und wiederherstel- sche Störungen der Eltern, wie Depressionen oder
lend, und damit nur im Einzelfall notwendig, wäh- Suchtverhalten (Alkoholismus). Konflikte zwischen
rend Pädagogik für alle notwendig ist. den Eltern spielen gleichfalls eine wichtige Rolle. Das
Heil- und Sonderpädagogik sind bestrebt, bei gilt bei den unterschiedlichen Formen von familiärer
Defiziten durch pädagogische Maßnahmen, v. a. Gewalt ebenso wie bei Trennung und Scheidung.
durch an die jeweiligen Defizite angepasste Lern- Die Auswirkungen der elterlichen Probleme auf
schritte und Vermittlungstechniken letzten Endes die Kinder sind oftmals nicht spezifisch, d. h. man
die allgemeinen Lernziele zu erreichen. Dabei wid- kann aus ihnen nicht leicht auf die Art der Ursache
met sich die Heilpädagogik mehr dem Ausgleich der schließen. So kann ein sozialer Rückzug und nieder-
schwerer veränderlichen, v. a. organischen Behinde- gedrückte Stimmung eines Kindes sowohl eine Folge
rungen, die Sonderpädagogik mehr den Verhaltens- der Trennung seiner Eltern sein, als auch die Folge
352 Kapitel 25 · Kinder- und Jugendpsychiatrie

eines sexuellen Missbrauchs. Gerade die »Aufde- für alle Beteiligten hilfreich. Weder sollte man versu-
ckung« vieler vermeintlicher Fälle von sexuellem chen, ein besserer Elternteil zu sein, noch ist es gut,
Missbrauch, die Erzieher nach entsprechenden Fort- sich als verlängerter Arm der Eltern bei der Durch-
bildungen aus den Zeichnungen von Kindern he- setzung ihrer Erziehungswünsche zu versuchen. Er-
rauslesen zu können glaubten, mahnen zur Vorsicht kannte Probleme sollten ruhig und sachlich mit
und zur Sorgfalt bei der Mutmaßung über Hinter- Kindern und Jugendlichen angesprochen werden.
gründe. Diagnostik und Anamnese psychischer Pro- Wo dies aus welchen Gründen auch immer nicht
bleme sollte nur durch geschultes und erfahrenes möglich ist, sollten wichtige Beobachtungen und In-
Personal erfolgen. formationen – z. B. im Rahmen von Fallkonferenzen
Besonders schwierig für Pflegepersonen ist der – an die behandelnden Psychotherapeuten weiterge-
25 Umgang mit Problemen, denen verborgene Kon- geben werden.
flikte zugrunde liegen, die einzelnen Mitgliedern
oder der ganzen Familie gar nicht bewusst sind. Aus Überprüfen Sie Ihr Wissen!
ihnen ergeben sich oft heftige Auseinandersetzun- 4 Wie bringen Sie gestörte Lernprozesse mit psy-
gen zwischen Familienmitgliedern, die sich in den chischen Störungen in Zusammenhang? 7 Kap.
Augen von Außenstehenden um Kleinigkeiten dre- 25.1
hen. Pflegepersonen, denen solche Konflikte auf- 4 Welche Behandlungsansätze kennen Sie für
fallen, können ihre Sichtweise freundlich und klar aggressives Verhalten? 7 Kap. 25.2.1
aussprechen. Sie müssen aber mit heftigen Abwehr- 4 Was versteht man unter positiver und negativer
reaktionen rechnen. Nicht selten fühlen sich Eltern Verstärkung? 7 Kap. 25.2.1
im Stillen schuldig für die Probleme ihrer Kinder. 4 Welche Merkmale sind kennzeichnend für
Ein Hinweis auf die möglichen eigenen Anteile am ADHS? 7 Kap. 25.2.3
problematischen Verhalten ihrer Kinder, der von 4 Welcher genetische Anteil wird gegenwärtig bei
außen kommt, kann diese unterschwelligen Schuld- der Entstehung von ADHS vermutet? 7 Kap.
gefühle aktualisieren und beispielsweise zu einem 25.2.3
emotionalen Zusammenbruch oder zu einer aggres- 4 Welche Bedeutung hat die Elternarbeit in der
siven Zurückweisung führen. Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit
psychischen Störungen? 7 Kap. 25.7
! Bei der Zusammenarbeit mit Eltern ist es
wichtig, sich stets darüber klar zu sein, dass
die Eltern ihre Kinder in aller Regel nach Literatur
Ainsworth M et al (1978) Patterns of attachment. A psycho-
bestem Wissen und Gewissen erziehen.
logical study of the strange situation. Erlbaum, Hillsdale
Auch wenn man als Außenstehender vielleicht an- (N.J.)
dere Werte hat, Dinge erkennt, die vermeintlich Bowlby J (1969) Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Bezie-
hung. Kindler, München
schlecht laufen, oder mutmaßliche Erziehungsfehler Ding Y C, Chi H et al (2002) Evidence of positive selection acting
entdeckt hat, sollte man nicht der Versuchung er- at the human dopamine receptor D4 gene locus. Proc Natl
liegen, in den Eltern die Schuldigen am Übel des Acad Sci U S A 99 (1): 309
Kindes zu sehen. Die Schuldfrage, sofern es sich bei- Dornes M (2002) Die emotionale Welt des Kindes. Fischer,
spielsweise um strafrechtlich relevante Handlungen Frankfurt aM
Eron L (1997) The development of antisocial behavior from a
handelt, muss ggf. vor Gericht geklärt werden, für
learning perspective. In: Stoff D, Breiling J, Maser J (Hrsg)
das Handeln der Helfer im Rahmen ihrer Betreu- Handbook of antisocial behavior. Wiley, New York
ungsaufgabe ist die Beschäftigung mit dieser Frage Gershon J (2002) A meta-analytic review of gender differences
von der seltenen Ausnahme strafrechtlich relevanter in ADHD. J Atten Disord 5: 143
Vorkommnisse abgesehen, nicht hilfreich. Für sie Kazdin A (1995) Conduct disorders in childhood and adoles-
cence. Sage, Thousand Oaks
geht es v. a. darum, jene Faktoren zu finden, die aus
Kesselring T (1988) Jean Piaget. Beck, München
den Schwierigkeiten herausführen. Loeber R (1990) Development and risk factors of juvenile
Will man als Pflegeperson Kindern und Jugend- antisocial behavior and delinquency. Clinical Psychology
lichen helfen, ist ein gutes Verhältnis zu den Eltern Review 10: 1
Literatur
353 25

Myschker N (2002) Verhaltensstörungen bei Kindern und Ju-


gendlichen. Kohlhammer, Stuttgart
Petermann F, Petermann U (2000) Training mit Jugendlichen.
Förderung von Arbeits- und Sozialverhalten. Hogrefe,
Göttingen
Petermann F, Petermann U (2001) Training mit aggressiven
Kindern. Beltz, Weinheim
Petermann F et al (2002) Verhaltenstraining für Schulanfänger.
Schöningh, Paderborn
Piaget J (1974) Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde. Klett,
Stuttgart
Remschmidt H (2000) (Hrsg) Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Thieme, Stuttgart
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F (Hrsg) Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie und
-psychotherapie. Hogrefe, Göttingen
Schulz E (2000) Selbstverletzung und suizidales Verhalten. In:
Remschmidt H (2000) (Hrsg) Kinder- und Jugendpsychia-
trie. Thieme, Stuttgart
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Steinhausen H-C (2000) Seelische Störungen im Kindes- und
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and child problems on the quality of attachment in clinical
samples. Child development 63: 840
Wechsler D (1964) Messung der Intelligenz Erwachsener. Hans
Huber, Bern
26

26 Forensische Psychiatrie
Michael Hülsen

26.1 Gesetzliche Grundlagen – 356


26.1.1 Maßregelvollzug – 357

26.2 Krankheitsbilder – 358

26.3 Straftaten – 359

26.4 Besonderheiten der forensischen Pflege – 359

Literatur – 360
356 Kapitel 26 · Forensische Psychiatrie

) ) In Kürze führte. Hier kommen § 20 und § 21 des StGB zur


Anwendung:
Einrichtungen des Maßregelvollzugs befinden sich
an fast jeder psychiatrischen Klinik als Fachabtei- § 20 StGB: Schuldunfähigkeit
lungen oder als eigenständige Kliniken. Der Maß- > Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung einer Tat wegen
einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tief
regelvollzug ist Aufgabe der Länder. Er wird durch
greifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwach-
das jeweilige Maßregelvollzugsgesetz (MRVG) sinns oder einer anderen seelischen Abartigkeit unfähig
eines Bundeslandes geregelt. Forensische Kliniken ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser
sind Hochsicherheitsbereiche. Sie sind abgesichert Einsicht zu handeln.
durch hohe Mauern oder Zäune, Schleusensysteme
und Videoüberwachungsanlagen. In der Öffentlich- § 21 StGB: Verminderte Schuldfähigkeit
keit ist immer noch eine ablehnende Haltung ge- > Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzuse-
hen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der
genüber der Behandlung von Straftätern spürbar,
26 die in forensischen Kliniken untergebracht sind.
in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Straftat
erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 (1)
Dies mag daran liegen, dass das Bild des forensi- gemildert werden.
schen Patienten gemeinhin das des Sexualstraf-
täters ist. Aber auch die Öffentlichkeitsarbeit von Schuldunfähigkeit bzw. verminderte Schuldfähigkeit
den Kliniken selbst ist noch sehr zurückhaltend und werden durch einen vom Gericht zugelassenen sach-
bietet nur wenig Transparenz, um ein stimmiges verständigen psychiatrischen Gutachter, der den De-
Bild von der Arbeit herzustellen. Die Arbeit in der linquenten eingehend untersucht hat, festgestellt.
forensischen Psychiatrie erfordert ein Höchstmaß Psychiatrische Begutachtungen können im Rahmen
an Professionalität, um den Anforderungen, die der Strafprozessordnung (StPO) auch nach § 81
an die Beschäftigten gestellt werden, gerecht zu StPO (Begutachtung in einem psychiatrischen Kran-
werden. kenhaus) auf Anordnung des Gerichts und nach Ein-
Im folgenden Kapitel wird auf die gesetzlichen vernahme des Gutachters sowie seines Verteidigers
Besonderheiten der forensischen Psychiatrie einge- auch in einem psychiatrischen Krankenhaus erfol-
gangen. Dies sind hier insbesondere die Einwei- gen. Die Begutachtung darf aber nicht länger als
sungsmodalitäten in eine forensische Klinik, die 6 Wochen dauern. Der Grundsatz der Verhältnismä-
Strafprozessordnung (StPO), die gesetzlichen Grund- ßigkeit ist bei dieser Maßnahme zu beachten, außer-
lagen nach dem Strafgesetzbuch (StGB) sowie die dem kann der Beschuldigte gegen den Beschluss des
Maßregelvollzugsgesetze der Bundesländer. Gerichts Beschwerde einlegen.
Häufiger ist die Anwendung des § 126a StPO.
Wissensinhalte
Nach dem Studium dieses Kapitels haben Sie: § 126a StPO: Einstweilige Unterbringung
7 einen Überblick über die relevanten gesetzli- > (1) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden,
dass jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der
chen Bestimmungen, die im Maßregelvollzug
Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit
am häufigsten vorkommen (§§ 20, 21 des Strafgesetzbuches) begangen hat und
7 Kenntnis über die wichtigsten Krankheits- und dass seine Unterbringung in einem psychiatrischen Kran-
Störungsbilder im Maßregelvollzug kenhaus oder in einer Entziehungsanstalt angeordnet
7 Einblick in die Besonderheiten der psychiatri- werden wird, so kann das Gericht durch Unterbringungs-
befehl die einstweilige Unterbringung in einer dieser
schen Krankenpflege in der Forensik
Anstalten anordnen, wenn die öffentliche Sicherheit
dies erfordert.

26.1 Gesetzliche Grundlagen Grundlage für den Haftrichter, der die Unterbringung
nach § 126a StPO anordnet, ist ein psychiatrisches
Voraussetzung für die Unterbringung eines Patien- Gutachten. Ziel der Unterbringung ist es unter ande-
ten in der Forensischen Psychiatrie ist eine begange- rem, bei dem Untergebrachten eine psychiatrische
ne Straftat, die zur Verurteilung durch ein Gericht Behandlung beginnen zu können oder zumindest die
26.1 · Gesetzliche Grundlagen
357 26

Einsicht des Untergebrachten zu wecken, dass bei ihm Eine Strafvollstreckungsumkehr, d. h. eine Rückfüh-
eine psychiatrische Behandlung sinnvoll ist. Häufig rung in eine Justizvollzugsanstalt ist möglich. Von
sind die Patienten jedoch eher skeptisch einer psy- ihr wird jedoch wenig Gebrauch gemacht.
chiatrischen Behandlung gegenüber eingestellt.
Die Patienten können jede medikamentöse Be-
handlung ablehnen. Nur im Notfall (Fremd- oder 26.1.1 Maßregelvollzug
Eigengefährdung) ist es möglich, Zwangsmaßnah-
men einzuleiten .–. und dies auch nur nach einge- Wie eingangs bereits erwähnt, ist der Maßregelvoll-
hender Überprüfung und nach Rücksprache mit zug Aufgabe der Bundesländer. Daher kommt es,
dem zuständigen Haftrichter. Zu berücksichtigen ist, dass jedes Bundesland sein eigenes Maßregelvoll-
dass der Untergebrachte hier noch kein verurteilter zugsgesetz formuliert hat und in diesem auch eigene
Straftäter ist und bei ihm wie bei jedem anderen die Vorgaben und Vorstellungen zur Durchführung des
Unschuldsvermutung gilt. Bei einer Verurteilung MRV zum Ausdruck kommen. Es ist so zu einer
werden die §§ 63 oder 64 StGB angewendet. gewissen Heterogenität in der Maßregelvollzugs-
landschaft gekommen. Gibt es z. B. in einigen Bun-
§ 63 StGB: Unterbringung in einem desländern besonderes Sicherheitspersonal (Wach-
psychiatrischen Krankenhaus dienste) in den Einrichtungen, wird in anderen
> Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Ländern diese Aufgabe überwiegend durch den
Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten
Pflegedienst übernommen. Da hier nicht alle MRVG
Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen, so ordnet das
Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen
der Länder vorgestellt werden können, bleibt die
Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters Darstellung auf das Maßregelvollzugsgesetz des
und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zu- Landes Nordrhein-Westfalen (MRVG-NW) in der
standes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten Fassung vom 01.07.1999 beschränkt. Eine genaue
sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Übersicht aller MRVG findet sich in entsprechender
Literatur (Volckart, 1999).
§ 64 StGB: Unterbringung in einer Im I. Abschnitt des MRVG-NW werden in § 1
Entziehungsanstalt die Ziele die beschrieben:
> (1) Hat jemand den Hang, alkoholische Getränke oder
andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu neh- > (1) Maßregeln der Besserung und Sicherung in einem psy-
men, und wird er wegen einer rechtswidrigen Tat, die chiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt
er im Rausch begangen hat oder sie auf seinen Hang zu- sollen die betroffenen Patientinnen und Patienten durch
rückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, Behandlung und Betreuung (Therapie) befähigen, ein in
weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszu- die Gemeinschaft eingegliedertes Leben zu führen. Die
schließen ist, so ordnet das Gericht die Unterbringung Sicherheit und der Schutz der Allgemeinheit und des Per-
in einer Entziehungsanstalt an, wenn die Gefahr besteht, sonals der Einrichtungen vor weiteren erheblichen rechts-
dass er infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige widrigen Taten sollen gewährleistet werden. Therapie
Taten begehen wird. und Unterbringung haben auch pädagogischen Erforder-
nissen Rechnung zu tragen und sollen unter größtmögli-
(2) Die Anordnung unterbleibt, wenn eine Entziehungs- cher Annäherung an allgemeine Lebens- und Arbeitsver-
kur von vornherein aussichtslos ist. hältnisse Mitarbeit und Verantwortungsbewusstsein der
Patientinnen und Patienten wecken und fördern.
Bevor es jedoch zu einer Verurteilung nach §§ 63
oder 64 kommt, muss das Gericht überprüfen, ob der Man beachte die Formulierung »Sicherheit und
Verurteilte auf Grund seiner psychischen Erkran- Schutz der Allgemeinheit und des Personals der Ein-
kung oder Störung oder auf Grund seines Hanges zu richtungen«. In der kritischen Auseinandersetzung
Suchtmitteln eine erhebliche Gefahr für die Allge- mit der täglichen Arbeit sollte man diese wichtige
meinheit darstellt und von ihm weiterhin erhebliche Formulierung verinnerlichen. Natürlich muss man
Straftaten ausgehen können. Die Unterbringung im Sinne der Gesetze dafür Sorge tragen, dass es
nach § 63 StGB ist ohne zeitliche Begrenzung, die auch zum Auftrag der MRV-Kliniken gehört, die
Unterbringung nach § 64 ist auf 2 Jahre begrenzt. Gesellschaft vor den strafgerichtlich untergebrach-
358 Kapitel 26 · Forensische Psychiatrie

ten Patienten zu schützen. Der Fürsorge gegenüber Patienten mit Psychosen


den Beschäftigten im MRV wird hier vom Gesetzge- Die Behandlung von psychosekranken Patienten in
ber ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Viel- der Forensik gestaltet sich nicht wesentlich anders
leicht wird in der näheren Zukunft der Hinweis auf als in der Allgemeinpsychiatrie. Wichtigste Unter-
§ 1 besonders wichtig, wenn man in die bereits lau- stützung gibt hier die Psychopharmakotherapie. In
fenden Diskussionen um Stellenstreichungen und psychoedukativen Gruppen sollen die Patienten ler-
Arbeitsverdichtungen vehementer eingreifen muss. nen, eine Compliance zur Medikation herzustellen
§ 1 (3) MRVG-NW beschreibt die Verpflichtung sowie erste Anzeichen einer eventuellen Exazerbati-
der Einrichtungen, für die Nachsorge der beurlaub- on ihrer psychotischen Erkrankung zu deuten. Bei
ten Patienten geeignete Angebote vorzuhalten sowie Patienten, die schon jahrelang untergebracht sind,
eine enge Zusammenarbeit mit extramuralen Ein- ist dennoch zu beobachten, dass sie trotz regelmäßi-
richtungen zu pflegen. Weiterhin werden die Ein- ger Medikation immer wieder psychotisch dekom-
richtungen verpflichtet, Patienten in Krisensituatio- pensieren können. Auslöser sind hier sicherlich per-
26 nen jederzeit wieder aufzunehmen und sicher unter- sönliche Ereignisse (Tod eines Angehörigen, Verle-
zubringen. In § 2 wird auch auf die Gestaltung der gung eines Mitpatienten auf eine andere Station)
klinischen Einrichtung Bezug genommen. Hierzu aber auch Reizüberflutung, die Überschätzung von
zählen die Räumlichkeiten für die Patienten selbst, eigenen Fähigkeiten und nicht selten eine Erhöhung
aber auch die Gestaltung und das Bereitstellen von der Lockerungsstufe. Problematisch sind Patienten
geeigneten Therapieräumen (Arbeitstherapie, Schu- mit einer sekundären Suchterkrankung. Häufige
le etc.). In § 3 MRVG-NW wird auf die Qualitätssi- Delikte von psychosekranken Menschen sind Bezie-
cherung und die Sicherheitsstandards eingegangen. hungstaten, also schwere Straftaten in ihrer nächsten
Umgebung.
> (1) Die Qualität insbesondere der Behandlung, der Be-
handlungsergebnisse und der Versorgungsabläufe ist Patienten mit Minderbegabung
zu gewährleisten. Die Träger der Einrichtungen führen
regelmäßig Qualitätssichernde Maßnahmen durch.
Minderbegabte Patienten machen einen großen Teil
der Untergebrachten aus. Viele von ihnen sind schon
[…] von Kindesbeinen an durch die verschiedensten
staatlichen Institutionen gegangen. Die Arbeit mit
(3) Zur qualitativen Weiterentwicklung des Maßregelvoll-
Minderbegabten und Lernbehinderten sollte durch
zugs, insbesondere hinsichtlich der Personalausstattung,
werden Vereinbarungen zwischen dem Land und den
Fachpersonal aus den erzieherisch-pädagogischen
Trägern der Einrichtungen […] getroffen, soweit nicht die Berufsgruppen ergänzt werden. Das Üben und Er-
Rechtsverordnung […] abschließende Regelungen trifft. lernen von Alltagskompetenz steht für diese Gruppe
im Mittelpunkt. Aber auch auf die Einhaltung von
Absatz 3 ist hier von besonderer Bedeutung. In Zei- Werten und Normen müssen die Behandler achten
ten leerer Kassen erlebt man es schon täglich vor Ort, und diese konsequent durchsetzen. Viele der verur-
wie die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche teilten Patienten sind wegen pädosexueller Delikte
Arbeit mit den Maßregelvollzugs-Patienten per Ver- untergebracht.
ordnungen und Regelungen behindert werden.
Patienten mit Persönlichkeitsstörungen
Die wohl problematischsten Patienten in der Fo-
26.2 Krankheitsbilder rensik sind Menschen mit Persönlichkeitsstörung.
Es sind die Menschen, die mit sich selbst und ihrer
In den Kliniken werden behandelt: Umgebung nicht zufrieden sind. Wir haben es hier
4 Patienten mit Psychosen (schizophrene Psycho- mit dissozialen oder impulsiven, affektiv unaus-
sen, affektive Psychosen), geglichenen oder aber mit narzisstischen Persön-
4 Patienten mit Minderbegabung, lichkeiten zu tun. Bei einem großen Teil dieser
4 Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, Patienten war die Anlassstraftat ein Sexualverbre-
4 Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen. chen.
26.4 · Besonderheiten der forensischen Pflege
359 26

Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen nal nach eingehender Durchsuchung eingelassen.


Patienten, die dazu neigen, im Übermaß Alkohol Das Pflegepersonal ist für die sichere Begleitung
oder andere (insbesondere illegale) Drogen zu sich eines Patienten, z. B. zum Konsiliararzt, verantwort-
nehmen und im Verlaufe ihrer Abhängigkeitserkran- lich. Die Durchführung von Zimmerkontrollen so-
kung Straftaten begehen, können nach § 64 StGB in wie die Kontrolle von Fenstern, Gittern und Türen,
einer Entziehungsanstalt untergebracht werden. Die das Herausgeben von »gefährlichen Gegenständen«,
Straftaten können bei Drogenabhängigen in der Be- wie einem Messer zum Kochtraining, und die ent-
schaffungskriminalität liegen. Es können aber auch sprechende Dokumentation gehören ebenfalls zum
andere Straftaten, wie z. B. Körperverletzungen vor- Tätigkeitsbereich. In den Kliniken arbeiten Sicher-
kommen. Bei Alkoholabhängigen können impuls- heitsfachkräfte, die diese Tätigkeiten kontrollieren
artige Gewalttaten, z. B. gegen das sexuelle Selbst- und ständig überarbeiten.
bestimmungsrecht vorkommen. Die Unterbringung
ist auf maximal 2 Jahre begrenzt und muss Aussicht Innere Sicherheit
auf Erfolg der Behandlung haben. Arbeitet der Un- Hauptmerkmal für die Innere Sicherheit ist die
tergebrachte nicht am Therapieziel mit (Abstinenz!), Arbeit mit dem Patienten. Die Pflege hat als größte
so kann die Unterbringung abgebrochen werden Berufsgruppe maßgeblichen Anteil an der Behand-
und die weitere Verbüßung der Strafe in einer JVA lung. Das Pflegepersonal bildet sich entsprechend
angeordnet werden. fort und kooperiert mit den anderen Berufsgruppen.
Es ist zuständig für das soziotherapeutische Milieu
auf der Station. Mit dem Patienten wird eine Bezugs-
26.3 Straftaten pflegevereinbarung getroffen. Wesentliche Aufgabe
ist die Förderung der Alltagskompetenz des Patien-
Patienten, die in den MRV eingewiesen werden, ha- ten. Im Rahmen der Pflegeplanung muss nicht nur
ben schwere Straftaten begangen. Es handelt sich die übliche Pflegeanamnese erhoben werden; hier
hier um schwere Eigentumsdelikte, räuberische sollte die Pflegekraft zusätzlich Daten über die Kri-
Erpressung, Brandstiftung, Tötungsdelikte, wie Tot- minalgeschichte des Patienten erfahren.
schlag und Mord. Hinzu kommen Delikte gegen das Pflege in der Forensik bedeutet »professionelle
sexuelle Selbstbestimmungsrecht eines Menschen, Beziehungsgestaltung« über einen langen Zeitraum.
also Vergewaltigung, oder anderes abweichendes Die Bezugspflegekraft nimmt an jeder Fallkonferenz
Sexualverhalten, wie z. B. Pädophilie. ihres Patienten teil und stimmt dort mit den anderen
Berufsgruppen die weiteren Vorgehensweisen ab.
Wesentlicher Bestandteil des Behandlungsplans ist
26.4 Besonderheiten die Pflegeplanung.
der forensischen Pflege
Praxisbox
Die Besonderheiten der forensischen Pflege ergeben Die Pflegeplanung wird regelmäßig mit dem Pa-
sich aus dem gesetzlichen Auftrag und den jeweils tienten besprochen. In kollegialen Pflegevisiten
gültigen Durchführungsbestimmungen des Trägers. wird die Pflegeplanung regelmäßig aktualisiert
Das Pflegepersonal ist nicht nur für die eigentliche und die Arbeit mit dem Patienten reflektiert.
psychiatrische Krankenpflege, sondern auch für die
Sicherheit nach außen und innen verantwortlich.
Wichtige Erkenntnisse aus der Pflege finden sich
Äußere Sicherheit schon längst in Stellungnahmen für die Gerichte und
Forensische Kliniken sind Hochsicherheitsbereiche. in psychiatrisch-psychologischen Gutachten wieder.
Sie sind abgesichert durch hohe Mauern oder Zäune, Besonders bei Prognosegutachten wird die fachliche
Schleusensysteme und Videoüberwachungsanlagen. Meinung der Pflegenden verlangt. Hier geht es meist
Ankommende Besucher müssen sich auf der um die Gefährlichkeit im Stationsalltag sowie um
Station melden und werden durch das Pflegeperso- eine prognostische Einschätzung. Um alle diese zu-
360 Kapitel 26 · Forensische Psychiatrie

sätzlichen Aufgaben erfüllen zu können, braucht


man gut ausgebildetes und in genügender Zahl vor-
handenes Pflegepersonal.
! Klare Regelungen und verbindliche Abspra-
chen fördern die Zusammenarbeit im multi-
professionellen Team und spiegeln den uns
zugewiesenen Patienten das Bild wider, das
sie für ihre Behandlung im Maßregelvollzug
brauchen.

Überprüfen Sie Ihr Wissen!


4 Nach welchen Einweisungskriterien kann man
26 in einer forensischen Klinik untergebracht wer-
den? 7 Kap. 26.1
4 Wer ist für den MRV hoheitlich zuständig?
7 Kap. 26.1.1
4 Was ist der Unterschied zwischen der Sicherheit
nach außen und der Sicherheit nach innen?
7 Kap. 26.4
4 Welche besonderen Aufgaben hat der Pflege-
dienst in der forensischen Klinik? 7 Kap. 26.4

Literatur
Hax-Schappenhorst T, Schmidt-Quernheim F (2003) Professio-
nelle Forensische Psychiatrie. Das Arbeitsbuch für Pflege-
und Sozialberufe. Hans Huber, Bern
Kistner W (2002) Der Pflegeprozess in der Psychiatrie. Bezie-
hungsgestaltung und Problemlösung in der psychiatri-
schen Pflege. 4. Aufl Urban & Fischer, München
Strafgesetzbuch (StGB) (2002) 38. Aufl DTV – Beck, München
Strafprozessordnung (StPO) (2003) 36. Aufl DTV– Beck, Mün-
chen
Volckart B (1999) Maßregelvollzug: Das Recht des Vollzuges der
Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB in einem psychiatri-
schen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt. 5. Aufl
Luchterhand, München
VI

Rechtliche Grundlagen
und Rehabilitation
27 Rechtliche Grundlagen in der Versorgung
und Behandlung – 361
Elke Bachstein

28 Netzwerke und Modelle der Behandlung


und Versorgung – 381
Jörg Utschakowski

Glossar – 395
27

27 Rechtliche Grundlagen in der


Versorgung und Behandlung
Elke Bachstein

27.1 SGB II – Grundsicherung für Arbeitssuchende – 364

27.2 SGB III – Arbeitsförderung – 365

27.3 SGB V – Krankenversicherung – 366

27.4 SGB IX – Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe – 368

27.5 SGB XII – Sozialhilfe – 370

27.6 Rechtliche Aspekte in der psychiatrischen Arbeit – 372

27.7 Unterbringungsrecht – 373

27.8 Betreuungsrecht – 375

27.9 Berufsbildung und Berufsförderung – 378

Literatur – 379
364 Kapitel 27 · Rechtliche Grundlagen in der Versorgung und Behandlungen

) ) In Kürze unterhalt gesichert werden, soweit sie ihn nicht auf


andere Weise bestreiten können.
Bei der Behandlung von psychiatrisch erkrankten
Menschen müssen eine Vielzahl an Gesetzen und Berechtigte
Rechtsvorschriften beachtet werden, die zum einen Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der
dem Schutz der Patienten dienen, zum anderen Bundesrepublik Deutschland haben, das 15. Lebens-
aber auch deren Leistungsansprüche gegenüber jahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht
Sozialversicherungsträgern begründen. vollendet haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig
Mit den Änderungen im Sozialrecht sind zum sind, sind anspruchsberechtigt und können Leistun-
1.1.2005 etliche neue Regelungen eingeführt wor- gen nach SGB II erhalten. Ebenso erhalten auch Per-
den. So wurden die bisherige Arbeitslosen hilfe sonen, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in
(SGB III) sowie die Sozialhilfe (BSHG) zu einer ein- einer Bedarfsgemeinschaft (z. B. im Haushalt leben-
heitlichen Leistung, dem Arbeitslosengeld II im SGB de Eltern oder minderjährige Kinder) leben, Leis-
II Grundsicherung für Arbeitssuchende zusammen- tungen nach diesem Gesetz.
geführt. Sozialhilfe nach SGB XII erhält nur noch,
27 wer bedürftig ist und sich nicht aus eigener Kraft Träger
unterhalten kann. Träger der Leistungen sind die Bundesagentur für
In diesem Kapitel sollen die wichtigsten Vor- Arbeit bzw. die kreisfreien Städte und Kreise (kom-
schriften leistungsrechtlicher Art, aber auch die munale Träger).
Rechte und Pflichten während der Behandlung
dargestellt werden. Finanzierung
Die Kosten für das Arbeitslosengeld II werden vom
Wissensinhalte Bund aus Steuermitteln aufgebracht.
Nach dem Studium dieses Kapitel haben Sie einen
Überblick über: Leistungen
7 die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen Die Leistungen der Grundsicherung werden in Form
bei der Versorgung und Behandlung in der von Dienstleistungen, wie Information, Beratung
psychiatrischen Pflege und umfassende Unterstützung durch persönliche
7 die zum 01.01.2005 geänderten Sozial- Ansprechpartner mit dem Ziel der Eingliederung
gesetze in Arbeit sowie Geldleistungen und Sachleistungen
7 das Unterbringungs- und Betreuungsrecht erbracht.
7 die Rechte der Patienten während der Unter-
bringung Leistungen zur Eingliederung in Arbeit
Nach § 15 soll die Agentur für Arbeit mit jedem
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen die für seine Ein-
27.1 SGB II – Grundsicherung gliederung erforderlichen Leistungen vereinbaren
für Arbeitssuchende (Eingliederungsvereinbarung). Diese soll enthal-
ten:
Aufgaben 4 Angaben über die Leistungen, die der Erwerbs-
Aufgabe und Ziel der Grundsicherung für Arbeits- fähige zur Eingliederung in Arbeit erhält,
suchende ist die Stärkung der Eigenverantwortung 4 Angaben über die Bemühungen, die der er-
von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und Perso- werbsfähige Hilfebedürftige in welcher Häufig-
nen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft keit zur Eingliederung in Arbeit mindestens
leben, ihren Lebensunterhalt unabhängig von der unternehmen muss und in welcher Form er die-
Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften ses nachzuweisen hat.
zu bestreiten. Erwerbsfähige Hilfebedürftige sollen
bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Er- Weitere Leistungen zur Eingliederung sind nach
werbstätigkeit unterstützt werden und ihr Lebens- § 16 Abs. 2 möglich, z. B.:
27.2 · SGB III – Arbeitsförderung
365 27

4 Betreuung minderjähriger oder behinderter Leistungen für Unterkunft und Heizung


Kinder, Soweit angemessen, werden Leistungen für Unter-
4 häusliche Pflege von Angehörigen, kunft und Heizung (§ 22) in Höhe der tatsächlichen
4 Schuldnerberatung, Aufwendungen erbracht.
4 psychosoziale Betreuung,
4 Suchtberatung. Sozialgeld
Sozialgeld nach § 28 erhalten nicht erwerbsfähige
Arbeitslosengeld II Angehörige, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürfti-
Seit 1.1.2005 werden Arbeitslosenhilfe und Sozial- gen in Bedarfsgemeinschaft leben, soweit sie keinen
hilfe zur Grundsicherung für Arbeitssuchende zu- Anspruch auf Leistungen nach SGB XII haben. Die
sammengefasst. Erwerbsfähigen Arbeitslosen wird Regelleistung beträgt bis zur Vollendung des 14. Le-
im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld bensjahres 60 % und im 15. Lebensjahr 80 % der
anstatt der bisherigen Arbeitslosenhilfe (bis Ende Regelleistung nach § 20.
2004) das Arbeitslosengeld II gezahlt. Der Anspruch
auf ALG II orientiert sich an der Bedürftigkeit des
Einzelnen und ist zeitlich unbegrenzt. Er umfasst 27.2 SGB III – Arbeitsförderung
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes
einschließlich der angemessenen Kosten für Unter- Trotz vielfältiger Maßnahmen ist die Zahl der Ar-
kunft und Heizung. beitlosen in Deutschland stetig gestiegen. Für die
Betroffenen ist dies eine große finanzielle, aber auch
Regelleistung psychische Belastung mit dem Gefühl, nicht ge-
Die Regelleistung (§ 20) zur Sicherung des Lebens- braucht zu werden. Aufgrund der daraus resultie-
unterhaltes umfasst Ernährung, Kleidung, Körper- renden steigenden Ausgaben für den Staat, wurden
pflege, Hausrat, Bedarfe des täglichen Lebens, Teil- in der Vergangenheit schon viele Leistungen ein-
nahme am kulturellen Leben. Sie ist pauschaliert geschränkt. Die zurzeit letzten Änderungen sind
und beträgt für Alleinstehende oder Alleinerziehen- zum 1.1.2005 (»Hartz IV« Gesetz für Moderne
de in den alten Bundesländern 345,- € und in den Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) in Kraft getre-
neuen zur Zeit 331,- € (eine Anpassung ist spätestens ten.
bis zum Juli 2006 vorgesehen). Zu berücksichtigen-
des Einkommen und Vermögen mindert die Leis- Aufgaben
tungen der Agentur für Arbeit. Ziel der Arbeitsförderung ist es, mit vorbeugenden
Maßnahmen Arbeitslosigkeit zu verhindern, zu
Leistungen für Mehrbedarfe verkürzen bzw. zu beseitigen und einen hohen Be-
beim Lebensunterhalt schäftigungsstand zu erreichen.
Diese Leistungen umfassen Bedarfe, die durch die
Regelleistungen nicht abgedeckt sind. So können Träger
nach § 21 werdende Mütter, die erwerbsfähig und Träger der Maßnahmen zur Arbeitsförderung sind
hilfebedürftig sind, nach der 12. Schwangerschafts- die Bundesagentur für Arbeit mit Sitz in Nürnberg,
woche 17 % , Personen, die mit einem oder mehre- sowie die regionalen und örtlichen Agenturen für
ren minderjährigen Kindern zusammenleben und Arbeit.
allein für deren Pflege und Erziehung sorgen, je nach
Alter und Anzahl der Kinder zwischen 36 % und Versicherte
maximal 60 % geltend machen. Erwerbsfähige be- Versicherungspflichtig Beschäftigte
hinderte Hilfsbedürftige erhalten bei Leistungen zur Alle Personen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen
Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX einen oder sich in Berufsausbildung befinden, sind pflicht-
Mehrbedarf von 35 %. versichert.
Zu den sonstigen Versicherungspflichtigen ge-
hören z. B.:
366 Kapitel 27 · Rechtliche Grundlagen in der Versorgung und Behandlungen

4 Jugendliche, die in Einrichtungen der berufli- lich unverzüglich bei der Agentur für Arbeit ar-
chen Rehabilitation Leistungen zur Teilhabe am beitslos gemeldet und die Anwartschaftszeit erfüllt
Arbeitsleben erhalten, hat (in der Rahmenfrist von 2 Jahren muss das Ver-
4 Personen, die Krankengeld, Verletztengeld oder sicherungsverhältnis mindestens 12 Monate be-
Übergangsgeld beziehen, standen haben). Die Höhe des Arbeitslosengeldes
4 Personen, die Wehr- oder Zivildienst leisten. beträgt 60 % bzw. 67 % bei Arbeitslosen mit min-
destens einem Kind des früheren Nettoverdiens-
Versicherungsfreie Personen tes. Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosen-
Zu diesem Personenkreis gehören Selbstständige, geld ist abhängig von der Beschäftigungsdauer in
Beamte, Richter, Berufssoldaten, Personen über 65 den letzten 3 Jahren vor der Arbeitslosmeldung
Jahre, Rentner wegen Erwerbsunfähigkeit, gering- und vom Alter. Bei mindestens 12 Monaten Dauer
fügig Beschäftigte. der Versicherungspflicht wird das Arbeitslosengeld
für 6 Monate gezahlt. Bei längerer versicherungs-
Finanzierung pflichtiger Beschäftigungsdauer kann es bis max.
Der Beitrag zur Arbeitsförderung wird nach der 12 Monate gezahlt werden. Für ältere Arbeitslose
27 Höhe des Bruttoarbeitsverdienstes des Versiche- (ab 55 Jahre) beträgt die Höchstdauer des Anspruchs
rungspflichtigen berechnet. Es ist bis zur Beitragsbe- auf Arbeitslosengeld 18 Monate, wenn 36 Monate
messungsgrenze der Rentenversicherung für Arbei- eines Versicherungspflichtverhältnisses nachgewie-
ter und Angestellte zu berücksichtigen. Der Beitrags- sen werden.
satz liegt momentan bei 6,5 %. Arbeitnehmer und
Arbeitgeber tragen jeweils zur Hälfte die Kosten.
27.3 SGB V – Krankenversicherung
Leistungen
Von den Agenturen für Arbeit werden in Zusam- Aufgaben
menwirken von Arbeitgebern und Arbeitnehmern Aufgabe der Krankenversicherung ist es, die Ge-
die folgenden Leistungen erbracht. sundheit der Versicherten zu erhalten, die Ge-
sundheit der Versicherten wiederherzustellen bzw.
Dienstleistungen den Gesundheitszustand der Versicherten zu bes-
Berufsberatung, Maßnahmen zur Eignungsfeststel- sern.
lung, Trainingsmaßnahmen zur Verbesserung der
Eingliederungsaussichten, Arbeitsvermittlung, För- Träger
derung der beruflichen Bildung, Förderung der Ar- Träger sind die Krankenkassen: Ortskrankenkassen,
beitsaufnahme, berufliche Rehabilitation, Mobili- Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen, See-
tätshilfen zur Aufnahme einer Beschäftigung, Über- krankenkasse, Landwirtschaftliche Krankenkassen,
brückungsgeld zur Aufnahme einer selbstständigen Bundesknappschaft, Ersatzkassen.
Tätigkeit.
Versicherungspflicht
Entgeltersatzleistungen In der gesetzlichen Krankenversicherung sind die
Als Entgeltersatzleistungen kommen bei Vorliegen meisten Bürger Deutschlands gemäß § 5 SGB V
der Anspruchsvoraussetzungen in Betracht: Arbeits- pflichtversichert. Zu den versicherungspflichtigen
losengeld, Teilarbeitslosengeld bei Teilarbeitslosig- Personen gehören alle Arbeiter und Angestellten, die
keit, Übergangsgeld bei Teilnahme an Leistungen gegen Arbeitsentgelt beschäftigt werden und die
zur Teilhabe am Arbeitsleben, Kurzarbeitergeld, In- Pflichtversicherungsgrenze von derzeit 47 250,- €
solvenzgeld, Winterausfallgeld. (Jahresarbeitsentgeltgrenze 2006) oder 3937,50 €
monatlich nicht überschreiten. Zum weiteren Perso-
Arbeitslosengeld nenkreis gehören Auszubildende, Studenten, Prakti-
Arbeitslosengeld erhält, wer arbeitslos ist, der Ar- kanten, Bezieher von Arbeitslosengeld, Rentner,
beitsvermittlung zur Verfügung steht, sich persön- Rehabilitanden in berufsfördernden Werken, Behin-
27.3 · SGB V – Krankenversicherung
367 27

derte in anerkannten Behindertenwerkstätten und Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen den allge-
Scheinselbstständige. meinen Beitrag je zur Hälfte (der Arbeitnehmeran-
Versicherungsfreiheit besteht u. a. für Personen, teil wird vom Gehalt/Lohn sofort abgezogen), der
deren Einkommen über der Bemessungsgrenze liegt zusätzliche Beitragssatz wird allein vom Arbeit-
oder aber geringfügig (400,- € im Monat) beschäftigt nehmer getragen. Bei versicherungsfreien gering-
sind. Im Rahmen der Familienversicherung können fügigen Beschäftigungen mit einem Verdienst bis
der Ehegatte oder Lebenspartner, soweit sie nicht zu monatlich 400,- € (sog. Mini-Jobs) muss der
über eigenes Einkommen verfügen oder anderweitig Arbeitgeber allein einen Beitrag in Höhe von 11 %
versichert sind, beim Versicherten mitversichert des Arbeitsentgelts für die Krankenversicherung
sein. Dies trifft auch für die Kinder des Versicherten zahlen.
zu. Mitversichert sind Kinder bis zum vollendeten
18. Lebensjahr bzw. bis zum 25. Lebensjahr, wenn sie Leistungen
sich noch in Schul- oder Berufsausbildung befinden Die Leistungen der Krankenversicherung müssen
und nicht selber Mitglied einer Krankenversiche- ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein.
rung geworden sind. Altersmäßig unbeschränkt sind
Personen familienversichert, so sie aufgrund einer Leistung zur Verhütung von Krankheiten
Behinderung nicht in der Lage sind, sich selber zu Um den allgemeinen Gesundheitszustand der Versi-
unterhalten. cherten zu verbessern und die Gesundheitschancen
zu erhöhen, sollen die Krankenkassen Leistungen
Finanzierung zur primären Prävention erbringen. Dazu gehören
Die Finanzierung basiert auf Beiträgen, welche die die Förderung von Selbsthilfegruppen, Verhütung
Ausgaben eines Haushaltsjahres decken, ein jährli- von Zahnerkrankungen, allgemeine medizinische
cher Risikostrukturausgleich zwischen den Kran- Vorsorgeleistungen, soweit diese notwendig sind;
kenversicherungen gleicht Unterschiede in der Höhe dazu zählen:
der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder, 4 Maßnahmen zur Verhütung von Krankheiten,
der Zahl der Familienversicherten und der Vertei- um deren Verschlimmerung zu vermeiden, Maß-
lung der Versicherten auf nach Alter und Geschlecht nahmen zur Vermeidung von Pflegebedürftig-
getrennte Versichertengruppen aus. keit sowie der Anspruch auf ärztliche Beratung
Die Beitragshöhe richtet sich nach den beitrags- zur Empfängnisregelung, bei Schwangerschafts-
pflichtigen Einnahmen der Mitglieder und nach abbruch und Sterilisation.
dem Beitragssatz. Angewendet auf die Einnahmen 4 Vorsorgeleistungen sind hauptsächlich die ärzt-
ergibt er den prozentualen Beitrag zur Krankenver- liche Behandlung und die Versorgung mit Arz-
sicherung. nei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln.
Beitragspflichtige Einnahmen sind das Arbeits-
entgelt aus der versicherungspflichtigen Beschäfti- Leistungen zur Früherkennung
gung, die Rente aus der Rentenversicherung sowie Anspruch auf eine Untersuchung zur Früherken-
vergleichbare Versorgungsbezüge. nung von Krebserkrankungen einmal jährlich haben
Es gibt folgende Beitragssätze: Frauen ab dem 20. Lebensjahr und Männer ab dem
4 den allgemeinen Beitragssatz, 45. Lebensjahr.
4 den erhöhten Beitragssatz, bei dem kein An- Alle 2 Jahre haben alle Versicherten ab 35 Jahre
spruch auf Lohn-/Gehaltsfortzahlung im Krank- Anspruch auf Untersuchungen zur Früherkennung
heitsfall besteht, sondern eine sofortige Kran- von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie
kengeldzahlung in Betracht kommt, auf Diabetes. Bis zum 6. Lebensjahr haben Kinder
4 den ermäßigten Beitragssatz, der den Anspruch Anspruch auf Untersuchungen zur Früherkennung
auf Krankengeld ausschließt, von Krankheiten, die ihre körperliche oder geistige
4 ab 1.1.2006 den zusätzlichen Beitragssatz von Entwicklung gefährden.
0,5 %, der von den Mitgliedern allein zu tragen
ist.
368 Kapitel 27 · Rechtliche Grundlagen in der Versorgung und Behandlungen

Leistungen bei Krankheit Träger


Die Leistungen bei Krankheit beinhalten einerseits Gesetzliche Krankenkassen, Bundesanstalt für Ar-
die Krankenbehandlung, andererseits die Zahlung beit, Gesetzliche Unfallversicherung, Gesetzliche
von Krankengeld. Rentenversicherung, Träger der Kriegsopferversor-
gung, Träger der öffentlichen Jugendhilfe, Träger der
Krankenbehandlung Sozialhilfe.
Anspruch auf Krankenbehandlung besteht, wenn sie
notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu Anspruchsberechtigte
heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Be- Leistungen nach diesem Buche erhalten Behinderte
schwerden zu lindern; dazu gehören: oder von Behinderung bedrohte Menschen, um ihre
4 ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe
4 Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachtei-
Hilfsmitteln, ligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzu-
4 häusliche Krankenpflege und Versorgung mit wirken. Insbesondere wird dabei besonderen Be-
Haushaltshilfe, dürfnissen behinderter und der von Behinderung
27 4 Soziotherapie, bedrohte Frauen und Kinder Rechnung getragen.
4 Krankenhausbehandlung, Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche
4 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Funktion, geistige Fähigkeit oder seelisch Gesund-
heit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Mo-
Krankengeld nate von dem für das Lebensalter typischen Zustand
Bei Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheit abweichen und daher Ihre Teilhabe am Leben in der
erhalten Versicherte Krankengeld in Höhe von Gesellschaft beeinträchtigt ist; sie sind von Behin-
70 % von dem zuletzt erzielten regelmäßigen Ar- derung bedroht, wenn die Behinderung zu erwar-
beitsentgeltes ohne zeitliche Begrenzung (Regel- ten ist.
entgelt). In den ersten 6 Wochen der Krankheit
wird nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz vom Ar- Finanzierung
beitgeber Lohnfortzahlung in Höhe von 100 % er- Die Finanzierung erfolgt über die jeweiligen Träger
bracht. der Rehabilitationsleistungen.

Leistungen
27.4 SGB IX – Leistungen zur Die Leistungen zur Teilhabe gemäß § 4 umfassen
Rehabilitation und Teilhabe die notwendigen Sozialleistungen, um unabhängig
von der Ursache der Behinderung die Behinderung
Das Gesetz ist am 1.6.2001 in Kraft getreten (geän- abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Ver-
dert 2004) und hat zum Ziel, die Rahmenbedingun- schlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mil-
gen zur Sicherung der selbst bestimmten Teilhabe dern, Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder
behinderter Menschen am Arbeitsleben und deren Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden,
Umsetzung zu schaffen. zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhü-
ten sowie den vorzeitigen Bezug einer Sozialleistung
Aufgaben zu vermeiden, die Teilhabe am Arbeitsleben ent-
4 Förderung der Ausbildung behinderter und sprechend den Neigungen und Fähigkeiten dauer-
schwer behinderter Jugendlicher, haft zu sichern oder die persönliche Entwicklung
4 Verbesserung der Rahmenbedingungen für die ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben
Beschäftigung schwer behinderter Menschen, in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbstbe-
insbesondere in kleinen und mittleren Betrie- stimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu
ben, erleichtern.
4 Einführung eines betrieblichen Eingliederungs-
managements.
27.4 · SGB IX – Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe
369 27
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation cherung des Erfolges die besonderen Hilfen dieser
Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Einrichtung erforderlich machen.
umfassen u. a.: Behandlung durch Ärzte, Zahnärzte
und anderer Heilberufe, soweit deren Leistungen Dauer von Leistungen
unter ärztlicher Aufsicht oder auf ärztliche Anord- Die Leistungen werden für die Zeiten erbracht, die
nung ausgeführt werden, einschließlich der Anlei- vorgeschrieben oder allgemein üblich sind, um das
tung, eigene Heilungskräfte zu entwickeln. angestrebte Teilhabeziel zu erreichen; unter Um-
Arznei- und Verbandsmittel, Heil-, und Hilfs- ständen kann eine längere Förderung erfolgen. Bei
mitteln, einschließlich physikalischer, Sprach- und ganztägigem Unterricht sollen die Leistungen zur
Beschäftigungstherapie, Psychotherapie als ärzt- beruflichen Weiterbildung 2 Jahre nicht überstei-
liche und psychotherapeutische Behandlung, Be- gen.
lastungserprobung und Arbeitstherapie, stufenwei-
se Wiedereingliederung und Förderung der Selbst- Leistungen in Werkstätten für Behinderte
hilfe. In anerkannten Werkstätten für behinderte Men-
schen werden Leistungen erbracht, um die Leistung
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder Erwerbsfähigkeit der behinderten Menschen
Um behinderte Menschen wieder in das Arbeitsle- zu erhalten, zu entwickeln, zu verbessern oder wie-
ben integrieren zu können, können sowohl vom Be- derherzustellen, die Persönlichkeit dieser Menschen
troffenen als auch von Arbeitgebern Leistungen gel- weiterzuentwickeln und ihre Beschäftigung zu er-
tend gemacht werden. Dazu gehören insbesondere: möglichen oder zu sichern.
Leistungen zur Erhaltung oder Erlangung eines Ar-
beitsplatzes, Beratung und Vermittlung, Trainings- Unterhaltssichernde und andere
maßnahmen und Mobilitätshilfen, Berufsvorberei- ergänzende Leistungen
tung einschließlich einer wegen der Behinderung Ergänzende Leistungen
erforderlichen Grundausbildung, berufliche Anpas- Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und
sung und Weiterbildung, auch soweit die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden ergänzt
einen zur Teilnahme erforderlichen schulischen Ab- durch:
schluss einschließen, Überbrückungsgeld, Kraftfahr- 4 Krankengeld, Versorgungskrankengeld, Verletz-
zeughilfe, die Kosten einer notwendigen Arbeits- tengeld, Übergangsgeld, Ausbildungsgeld oder
assistenz u. a. Unterhaltsbeihilfe,
4 Beträge und Zuschüsse zur Krankenversiche-
Leistungen an Arbeitgeber rung, Unfallversicherung, Rentenversicherung,
Damit Arbeitgebern die Einstellung von Schwer- Beiträge für die Bundesagentur für Arbeit, zur
behinderten erleichtert wird, können die Rehabi- Pflegeversicherung,
litationsträger auch Leistungen an Arbeitgeber er- 4 Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher
bringen, insbesondere: Ausbildungszuschüsse zur Kontrolle und Überwachung,
betrieblichen Ausführung von Bildungsleistungen, 4 ärztlich verordnetes Funktionstraining unter
Eingliederungszuschüsse, Zuschüsse für Arbeits- fachkundiger Anleitung und Überwachung,
hilfen im Betrieb, der teilweise oder volle Kostener- 4 Reisekosten,
stattung für eine befristete Probebeschäftigung. Die 4 Betriebs oder Haushaltshilfe und Kinderbetreu-
Leistungen können unter Bedingungen und Aufla- ungskosten.
gen erbracht werden.
Leistungen zum Lebensunterhalt
Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation Im Zusammenhang mit Leistung zur medizinischen
Die Leistungen werden durch Berufsbildungswerke, Rehabilitation zahlen:
Berufsförderungswerke und vergleichbare Einrich- 4 die gesetzlichen Krankenkassen Krankengeld,
tungen der beruflichen Rehabilitation ausgeführt, 4 die Träger der Unfallversicherung Verletzten-
soweit Art und Schwere der Behinderung oder Si- geld,
370 Kapitel 27 · Rechtliche Grundlagen in der Versorgung und Behandlungen

4 die Träger der Rentenversicherung Übergangs- 4 Hilfen zur Teilnahme am gemeinschaftlichen


geld, und kulturellen Leben,
4 die Träger der Kriegsopferversorgung Versor- 4 Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Ar-
gungskrankengeld. beitsplatzes,
4 Trainingsmaßnahmen,
Übergangsgeld im Zusammenhang mit Leistungen 4 Mobilitätshilfen.
zur Teilhabe am Arbeitsleben zahlen:
4 die Träger der Unfallversicherung,
4 die Träger der Rentenversicherung, 27.5 SGB XII – Sozialhilfe
4 die Bundesagentur für Arbeit,
4 die Träger der Kriegsopferversorgung. Seit der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Ar-
beitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II am 1.1.2005,
Höhe und Berechnung des Übergangsgelds hat sich die Zahl der anspruchsberechtigten Sozial-
Das Übergangsgeld beträgt in der Regel 68 % des hilfeempfänger erheblich reduziert. Sozialhilfe erhal-
Regelentgeltes (80 % des erzielten regelmäßigen Ar- ten nur noch diejenigen, die dauerhaft oder vorüber-
27 beitsentgeltes, maximal jedoch das letzte Nettoent- gehend keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können
gelt). Es erhöht sich auf 75 %, wenn der Leistungs- und hilfebedürftig sind. Personen, die einer Erwerbs-
empfänger mindestens ein Kind im Sinne des § 32 tätigkeit nachgehen können, aber zurzeit arbeitslos
Absatz 1, 3 bis 5 des Einkommensteuergesetzes hat sind und keine Ansprüche nach dem SGB III haben,
oder deren Ehegatten, mit denen sie in häuslicher unterliegen dem SGB II.
Gemeinschaft leben, eine Erwerbstätigkeit nicht
ausüben können, weil sie die Leistungsempfänger Ziel und Aufgabe
pflegen oder selbst pflegebedürftig sind und keinen Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen
Anspruch auf Leistung aus der Pflegeversicherung Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen
haben. Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von
anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat
Leistungen zur Teilhabe am Leben ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hil-
in der Gemeinschaft fe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn
Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemein- zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben
schaft sind insbesondere: in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung
4 Versorgung mit anderen als den in § 31 genann- eines menschenwürdigen Lebens sichert. Hierbei
ten Hilfsmitteln oder den in § 33 genannten müssen Leistungsberechtigte nach ihren Kräften
Hilfen, mitwirken.
4 heilpädagogische Leistungen für Kinder, die
noch nicht eingeschult sind, Subsidiarität der Sozialhilfe
4 Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Sozialhilfe soll nur gewährt werden, wenn der An-
Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, tragsteller sich nicht selbst helfen und die Hilfe auch
behinderten Menschen die für sie erreichbare nicht von Angehörigen oder von Trägern anderer
Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu Sozialleistungen erhalten kann (sog. Subsidiarität
ermöglichen, oder Nachrangigkeit der Sozialhilfe).
4 Hilfen zur Förderung der Verständigung mit
der Umwelt, Träger
4 Hilfen bei der Beschaffung, dem Umbau, der Sozialhilfe wird von örtlichen und überörtlichen
Ausstattung und der Erhaltung einer Wohnung, Trägern gewährt. Örtliche Träger sind die die kreis-
die den besonderen Bedürfnissen der behinder- freien Städte und Landkreise, überörtliche Träger
ten Menschen entspricht, werden vom Land bestimmt.
4 Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten
Wohnmöglichkeiten,
27.5 · SGB XII – Sozialhilfe
371 27
Leistungsberechtigte insbesondere den durch ihre Entwicklung und ihr
Gemäß § 19 haben Personen, die ihren notwen- Heranwachsen bedingten Bedarf.
digen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend Außerhalb von Einrichtungen wird der gesamte
aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts mit Aus-
ihrem Einkommen und Vermögen, beschaffen kön- nahme von Leistungen für Unterkunft und Heizung
nen, Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt. und der Sonderbedarfe nach den §§ 30 bis 34 nach
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsmin- Regelsätzen erbracht. Diese werden jeweils zum
derung wird Personen gewährt, die das 65. Lebens- 1. Juli eines jeden Jahres durch Rechtsverordnung
jahr oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und der Landesregierungen festgesetzt. Leistungen für
dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sofern sie ih- Unterkunft und Heizung werden nach § 29 in Höhe
ren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit
ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln be- sie angemessen sind.
schaffen können. Dabei ist das Einkommen und Ver-
mögen des nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Mehrbedarf
Lebenspartners die dessen notwendigen Lebensun- Einen Mehrbedarf nach § 30 können Personen gel-
terhalt übersteigen, zu berücksichtigen. Die Leistun- tend machen, die das 65. Lebensjahr vollendet haben
gen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs- oder unter 65 Jahre alt und voll erwerbsgemindert
minderung gehen der Hilfe zum Lebensunterhalt sind und einen Ausweis nach § 69 Absatz 5 SGB IX
vor. mit dem Merkzeichen G besitzen. Ihnen wird einen
Mehrbedarf von 17 % des maßgebenden Regelsatzes
Finanzierung anerkannt, soweit nicht im Einzelfall ein abweichen-
Die Finanzierung der SGB XII erfolgt über die Kom- der Bedarf besteht.
munen. Dasselbe gilt für werdende Mütter nach der
12. Schwangerschaftswoche.
Leistungen
Nach § 8 SGB XII umfasst die Sozialhilfe folgende Einmalige Bedarfe
Leistungen: Einmalige Bedarfe können nach § 31 geltend ge-
4 Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 bis 40), macht werden für:
4 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsmin- 4 Erstausstattung für die Wohnung einschließlich
derung (§§ 41 bis 46), Haushaltsgeräten,
4 Hilfen zur Gesundheit (§§ 47 bis 52), 4 Erstausstattung für Bekleidung einschließlich
4 Eingliederungshilfe für behinderte Menschen bei Schwangerschaft und Geburt,
(§§ 53 bis 60), 4 mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der
4 Hilfe zur Pflege (§§ 61 bis 66), schulrechtlichen Bestimmungen.
4 Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer
Schwierigkeiten (§§ 67 bis 69), Weitere Leistungen: für Weiterversicherte können
4 Hilfen in anderen Lebenslagen (§§ 70 bis 74), Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung
4 Beratung und Unterstützung. übernommen werden, ebenso Beiträge für Vorsor-
ge, und Hilfen zum Lebensunterhalt in Sonder-
Hilfe zum Lebensunterhalt fällen.
Zum notwendigen Lebensunterhalt zählen insbe-
sondere Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körper- Notwendiger Lebensunterhalt
pflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnis- in Einrichtungen
se des täglichen Lebens. Dazu gehört auch, in vertret- In Einrichtungen umfasst der notwendige Lebens-
barem Umfang Beziehungen zur Umwelt aufnehmen unterhalt gem. § 35 den darin erbrachten sowie in
zu können und eine Teilnahme am kulturellen Le- stationären Einrichtungen zusätzlichen weiteren
ben. Bei Kindern und Jugendlichen umfasst der notwendigen Lebensunterhalt. Dazu gehören insbe-
notwendige Lebensunterhalt auch den besonderen, sondere Kleidung und ein angemessener Barbetrag
372 Kapitel 27 · Rechtliche Grundlagen in der Versorgung und Behandlungen

zur persönlichen Verfügung. Leistungsberechtigte ! Viele Leistungen im Sozialrecht sind verän-


über 18 Jahren erhalten einen Barbetrag in Höhe dert bzw. verlagert worden. Es empfiehlt sich,
von 26 % des Eckregelsatzes (26 % von 345,- € = die jeweiligen, umfassenden Broschüren bei
89,70 €). den Sozialversicherungsträgern anzufordern
oder sich dort beraten zu lassen damit be-
Einschränkung der Leistung rechtigte Ansprüche geltend gemacht werden
Leistungen können nach § 39 in einer ersten Stufe können.
bis zu 25 %, in weiteren Stufen jeweils bis zu 25 %
gemindert werden, wenn Leistungsberechtigte ent-
gegen ihrer Verpflichtung die Aufnahme einer Tä- 27.6 Rechtliche Aspekte
tigkeit oder die Teilnahme an einer erforderlichen in der psychiatrischen Arbeit
Vorbereitung ablehnen.
§ 223 StGB – Körperverletzung
Hilfe zur Grundsicherung > (1) Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder
an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe
Hilfen zur Grundsicherung nach § 41 erhalten Leis-
27 tungsberechtigte, die das 65. Lebensjahr vollendet
bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der
Versuch ist strafbar.
haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und
unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage Jeder ärztliche Heileingriff, aber auch jede pflegeri-
voll erwerbsgemindert sind und bei denen unwahr- sche Maßnahme gegen den Willen des Patienten ist
scheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung be- als Körperverletzungsdelikt zu werten, auch wenn
hoben werden kann. mit der Maßnahme beste Absichten verfolgt werden.
Der Umfang der Leistung nach § 42 umfasst den Nach herrschender Rechtsprechung zählen hierzu
für den Antragsberechtigten maßgebenden Regel- nicht nur operative Eingriffe und sonstige invasive
satz und die angemessenen tatsächlichen Aufwen- Behandlungen, sondern auch Körperpflegemaßnah-
dungen für Unterkunft und Heizung, Mehrbedarfe, men und die Vergabe von Medikamenten gegen den
Übernahme von Kranken- und Pflegeversicherungs- Willen des Patienten. Es liegt jedoch keine strafbare
beiträgen, Hilfe zum Lebensunterhalt in Sonder- Körperverletzung vor, wenn der Patient oder sein
fällen. gesetzlicher Vertreter in diesen Eingriff wirksam
eingewilligt hat.
Anrechnung von Einkommen
und Vermögen Einwilligung
Voraussetzung für Hilfe zum Lebensunterhalt ist die Eine wirksame Einwilligung liegt vor, wenn der
Bedürftigkeit des Leistungsberechtigten. Patient zuvor über die beabsichtigte Maßnahme in-
Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB XII sind dafür das formiert wurde bzw. bei operativen Eingriffen ord-
eigene Einkommen und Vermögen maßgebend. Bei nungsgemäß von dem behandelnden Arzt aufgeklärt
nicht getrennt lebenden Ehegatten richtet sich die wurde und er sich mit der Durchführung des Ein-
Bedürftigkeit nach dem Einkommen und Vermögen griffs einverstanden erklärt hat. Die Einwilligung ist
beider Ehegatten, § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB XII, die nur dann rechtswirksam, wenn die Tat gem. § 228
somit eine Bedarfsgemeinschaft bilden. Auch die StGB nicht sittenwidrig ist. Zudem muss der Betrof-
eheähnliche Gemeinschaft wird in die Bedarfsge- fene einwilligungsfähig sein. Das bedeutet, dass der
meinschaft einbezogen, § 20 SGB XII. Im Fall einer Einwilligende die Bedeutung und die Tragweite des
Bedarfsgemeinschaft wird Bedarfsdeckung vermu- Eingriffs erkennen kann.
tet, dabei bleiben Unterhaltsansprüche der Leis- Bei volljährigen Patienten wird von der Einwilli-
tungsberechtigten unberücksichtigt, sofern deren gungsfähigkeit regelmäßig auszugehen sein, es sei
jährliches Gesamteinkommen unter einem Betrag denn, dass aufgrund von psychiatrischen Erkran-
von 100 000 € liegt. kungen, demenziellen Veränderungen, unter Dro-
geneinfluss oder im Zustand der Bewusstlosigkeit
keine Einwilligung erteilt werden kann.
27.7 · Unterbringungsrecht
373 27

Bei Bewusstlosen wird der mutmaßliche Wille 27.7 Unterbringungsrecht


des Patienten angenommen, der einen nicht auf-
schiebbaren Eingriff zulässt. Können Personen über Bei verschiedenen psychiatrischen Krankheitsbil-
längere Zeit ihre Einwilligung nicht erteilen, muss dern ist es manchmal nicht zu umgehen, dass die
für sie ein gesetzlicher Vertreter (Betreuer) vom Vor- betroffenen Personen ohne oder auch gegen ihren
mundschaftsgericht bestellt werden, der die Belange Willen in eine geschlossene Einrichtung eingewie-
des nicht Einwilligungsfähigen regelt. sen werden müssen. Dies soll jedoch nur in den Fäl-
len geschehen, bei denen es nicht anders möglich ist.
! Eine zuvor erteilte Einwilligung kann jeder-
Grundsätzlich gilt, dass die freiwillige Behandlung
zeit vom Patienten widerrufen werden.
einer Unterbringung immer vorzuziehen ist. Um in
Auch ein psychisch Kranker kann bei gege-
die Freiheit eines Menschen eingreifen zu können,
bener Einwilligungsfähigkeit, Maßnahmen,
bedarf es einer gesetzlichen Rechtfertigung. In je-
wie z. B. die Einnahme von Medikamenten,
dem Bundesland gibt es ein Gesetz, das die Unter-
ablehnen
bringung von psychisch Kranken ermöglicht, weil
sie sich selbst oder andere in erheblichem Maße
§ 239 StGB – Freiheitsberaubung gefährden oder eine Gefahr für die öffentliche Si-
> (1) Wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise cherheit und Ordnung darstellen.
der Freiheit beraubt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf
Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist
Unterbringung nach Unterbringungs-
strafbar. (3) Auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn
Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter 1 das Opfer länger
gesetz oder PsychKG
als eine Woche der Freiheit beraubt oder 2. durch die Tat Die zwangsweise Unterbringung eines Menschen ist
oder eine während der Tat begangene Handlung eine in den Unterbringungsgesetzen bzw. in den Geset-
schwere Gesundheitsschädigung des Opfers verursacht.
zen für psychisch Kranke geregelt. Diese Gesetze
sehen Maßnahmen vor, Menschen ohne oder auch
Freiheitsentziehung gegen ihren Willen zu schützen und zu behandeln.
Die Freiheit eines Menschen ist ein verfassungs- Dazu zählen:
rechtlich geschütztes Rechtsgut, in diese Rechte darf 4 vorsorgende Hilfe zur Vermeidung einer Unter-
nur in besonderen Fällen eingegriffen werden. So bringung und rechtzeitige ärztliche Behandlung
können diese Rechte unter Beachtung der Verhält- einer Störung oder beginnenden Krankheit,
nismäßigkeit der Mittel unter Umständen entzogen 4 nachsorgende Hilfe nach Abschluss stationärer
bzw. eingeschränkt werden. Das Nähere regeln Ge- Behandlung in Gestalt individueller Beratung
setze, wie z. B. die Unterbringungsgesetze der einzel- und Betreuung, Auflagen und Weisungen des
nen Bundesländer. Gesundheitsamtes,
Eine freiheitsentziehende Maßnahme liegt vor, 4 zwangsweise Unterbringung in eine geschlosse-
wenn ein Mensch seinen Willen, sich frei zu be- ne Einrichtung.
wegen, für längere Zeit oder regelmäßig nicht ver-
wirklichen kann. Dies kann geschehen durch das Voraussetzungen für eine zwangsweise
Anbringen von Bettgittern, Bettseitenteilen, Ein- Unterbringung
schließen oder auch Fixieren von Patienten. Auch Ein Mensch darf nur dann zwangsweise unterge-
wenn der Betroffene nicht freiheitsfähig sein sollte, bracht werden, wenn folgende Voraussetzungen vor-
so wäre dennoch eine Freiheitsentziehung anzuneh- liegen: Vorliegen einer psychischen Krankheit, die
men, wenn der Betroffene daran gehindert werden im Gesetz aufgezählt ist (z. B. Psychose, Suchtkrank-
würde, seinem natürlichen Fortbewegungsdrang zu heit); von dieser Krankheit muss eine erhebliche
folgen. Deshalb muss nach Ablauf einer Frist gemäß Gefahr für Leben oder Gesundheit für den Kranken
Artikel 104 GG »bis zum Ablauf des folgenden Ta- selbst bestehen oder eine nicht unerhebliche Gefahr
ges«, ein Richter über den weiteren Verlauf der Frei- für andere ausgehen und darf nicht anders als durch
heitsentziehung entscheiden oder die Maßnahme eine zwangsweise Unterbringung abgewendet wer-
ist sofort zu beenden. den können.
374 Kapitel 27 · Rechtliche Grundlagen in der Versorgung und Behandlungen

Das Verfahren zur Unterbringung Beschwerde


Zuständigkeit Gegen die Entscheidung des Gerichts ist die soforti-
In allen Bundesländern ist das Vormundschaftsge- ge Beschwerde innerhalb von 14 Tagen möglich.
richt für die zwangsweise Unterbringung zuständig.
Den Antrag auf Unterbringung kann in der Regel Vorläufige/einstweilige Unterbringung
nur eine bestimmte Behörde (z. B. Polizei oder Ord- Nach allen Landesgesetzen kann ein Arzt die Not-
nungsamt) stellen, die auf Hinweis von Ärzten, wendigkeit einer sofortigen Unterbringung darlegen.
Heim oder Angehörigen tätig wird. Dem Antrag Eine nach Landesrecht zuständige Behörde ordnet
soll in der Regel ein ärztliches Zeugnis beigefügt dann die sofortige geschlossene Unterbringung an.
werden. Voraussetzung ist vielfach, dass ein ärztlicher Befund
vorliegt, der nicht älter als vom Vortage ist. Ein rich-
Sachverständigengutachten terlicher Beschluss ist unverzüglich nachzuholen.
Das Gericht darf die Unterbringung nur anordnen, Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden,
wenn zuvor ein Sachverständigengutachten durch dass die Voraussetzungen für die Unterbringung vor-
einen Arzt für Psychiatrie eingeholt wurde, aus dem liegen, so kann das Gericht die einstweilige Unter-
27 die Erforderlichkeit der geschlossenen Unterbrin- bringung bis zu einer Dauer von 6 Wochen (max.
gung hervorgehen muss. verlängerbar bis 3 Monate) anordnen, wenn be-
stimmte, in den Landesgesetzen näher geregelte Vor-
Anhörung aussetzungen vorliegen. Dies wird dann der Fall sein,
Das Gericht hat sich einen persönlichen Eindruck wenn ein ärztliches Gutachten noch nicht erstellt ist,
von der Person, deren Unterbringung beantragt ist, die Notwendigkeit der geschlossenen Unterbringung
zu verschaffen und sie grundsätzlich vor einer rich- aber schon besteht. Gegen diese Entscheidung ist die
terlichen Entscheidung anzuhören. Die Anhörung Beschwerde möglich. Nach Ablauf der vom Gericht
wird in aller Regel am Aufenthaltsort des Betroffe- bestimmten Frist ist der Betroffene zu entlassen, so-
nen durchzuführen sein. fern nicht bis dahin eine wirksame Anordnung über
Bei der Anhörung kann der Betroffene eine die endgültige Unterbringung vorliegt.
Person seines Vertrauens hinzuziehen. Die Anhö-
rung kann unterbleiben, wenn eine Verständigung Beendigung der Unterbringung
mit dem Betroffenen wegen seines Geisteszustandes Die Unterbringung endet mit Ablauf der Frist des
nicht möglich oder wenn sie nach ärztlicher Begut- richterlichen Beschlusses oder durch Beschluss des
achtung nicht ohne erhebliche Nachteile für den Gerichts, wenn die Unterbringung nicht mehr erfor-
Gesundheitszustand des Betroffenen ist. derlich ist. Der Betroffene kann jederzeit eine Auf-
hebung beantragen.
Bestellung eines Verfahrenspflegers
Soweit für Interessenwahrung erforderlich, ist ein Rechte des Betroffenen
Verfahrenspfleger zu bestellen. Durch die Psychisch-Krankengesetze werden die
Grundrechte des Betroffenen eingeschränkt und
Ort und Dauer der Unterbringung zwar gemäß Art. 2 II GG das Recht auf körperliche
Das Gericht kann je nach Bundesland für 1 bis ma- Unversehrtheit und Freiheit der Person, Art. 10 GG
ximal 2 Jahre die Unterbringung anordnen. Spätes- das Recht auf Unverletzlichkeit des Brief-, Post- und
tens bis zum Ablauf dieser Fristen ist über die Fort- Fernmeldegeheimnisses, Art. 13 GG das Recht auf
dauer der Unterbringung zu entscheiden. Wird eine Unverletzlichkeit der Wohnung.
richterliche Anordnung der weiteren Fortdauer nicht Die Unterbringung soll so gestaltet sein, dass un-
getroffen, ist der Untergebrachte zu entlassen. Als ter Berücksichtigung therapeutischer Gesichtspunk-
Ort der Unterbringung kommen psychiatrische te, diese den allgemeinen Lebensverhältnissen so
Krankenhäuser oder Krankenhäuser mit einer psy- weit wie möglich angeglichen wird. Dazu gehört
chiatrischen Abteilung, teilweise auch Heime in Be- auch der regelmäßige Aufenthalt im Freien, das
tracht. Recht persönliche Kleidung zu tragen, persönliche
27.8 · Betreuungsrecht
375 27

Gegenstände in seinem Zimmer aufzubewahren, So behalten die Betroffenen grundsätzlich ihre


Religionsausübung, Besuche zu empfangen sowie Geschäftsfähigkeit und können bis auf die Fälle, in
das Recht auf Schriftwechsel und Telefongespräche. denen ein Einwilligungsvorbehalt für bestimmte
Untergebrachte haben Anspruch auf die notwendi- Aufgabenkreise vom Gericht angeordnet wurde,
gen Behandlungen; diese bedürfen der Einwilligung rechtswirksam in Heilbehandlungen einwilligen
des Betroffenen oder seines gesetzlichen Vertreters. oder diese ablehnen sowie Verträge schließen und
Diese Rechte können jedoch eingeschränkt werden, andere Rechtsgeschäfte tätigen. Die Betroffenen
wenn die Gesundheit des Patienten oder die Sicher- können in allen die Betreuung betreffenden Verfah-
heit der Einrichtung erheblich gefährdet sind. Unter ren selbst Anträge stellen, unbeachtlich, ob sie ge-
bestimmten Voraussetzungen sind besondere Siche- schäftsfähig sind oder nicht. Sie haben das Recht,
rungsmaßnahmen zulässig, wenn die erhebliche Ge- eine Ehe einzugehen und Testamente zu errichten,
fahr besteht, dass der Untergebrachte sich selbst tötet sie behalten das Wahlrecht, das nur dann entzogen
oder ernsthaft verletzt oder gewalttätig wird oder die werden kann, wenn eine Betreuung für alle Aufga-
Einrichtung ohne Erlaubnis verlassen wird und benbereiche angeordnet wurde.
dieser Gefahr nicht anders begegnet werden kann. Der Betreuer ist verpflichtet, den Wünschen
Besondere Sicherungsmaßnahmen sind: des Betreuten zu entsprechen, wenn es dem Wohl
4 Beschränkung des Aufenthalts im Freien, des Betreuten entspricht und dem Betreuer zuzu-
4 Wegnahme von Gegenständen, muten ist.
4 Absonderung in einem besonderen Raum,
4 Fixierung. Einrichten einer Betreuung
Eine Betreuung muss in den Fällen für den Betroffe-
Jede besondere Sicherungsmaßnahme ist befristet nen eingerichtet werden, wenn er allein nicht mehr
anzuordnen, ärztlich zu überwachen und unverzüg- in der Lage ist, seine Angelegenheiten ordnungsge-
lich aufzuheben, wenn die Voraussetzungen für ihre mäß zu besorgen und wenn keine anderen Hilfen
Anordnung weggefallen sind. Sowohl die Anord- vorhanden oder diese unzureichend sind.
nung als auch die Aufhebung der besonderen Siche-
rungsmaßnahmen sind zu dokumentieren. Vor je- § 1896 BGB – Voraussetzungen
der Anordnung sind der Rechtsanwalt des Patienten Das Einrichten einer gesetzlichen Betreuung soll nur
und/oder sein gesetzlicher Vertreter unverzüglich zu dann erfolgen, wenn es eine andere Möglichkeit der
benachrichtigen. rechtlichen Vertretung (Bevollmächtigung) des Be-
troffenen nicht gibt. Unter folgenden Voraussetzun-
! Die Freiheit eines Menschen ist ein verfas-
gen kann ein Betreuer vom Vormundschaftsgericht
sungsrechtlich geschütztes Rechtsgut, in die-
bestellt werden:
se Rechte darf nur in besonderen Fällen ein-
4 Vorliegen einer psychischen Krankheit, kör-
gegriffen werden. Der Eingriff in die Freiheit
perliche, geistige oder seelische Behinderung;
eines Menschen bedarf daher besonders
infolge der Erkrankung oder Behinderung ist
sorgfältiger Abwägung unter Beachtung der
die Fähigkeit zur Besorgung der eigenen An-
gesetzlichen Vorschriften.
gelegenheiten ganz oder teilweise beeinträch-
tigt.
4 Die Bestellung des Betreuers ist erforderlich, da
27.8 Betreuungsrecht die Angelegenheiten nicht anderweitig durch
Bevollmächtigte oder soziale Hilfen ebenso er-
Betreuungsgesetz füllt werden könnten.
Das Betreuungsgesetz löste 1992 das nicht mehr
zeitgemäße Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht Das Fehlen von Fähigkeiten, bestimmte Aufgaben
über Volljährige ab. Durch die Reform des Vor- selbst zu besorgen oder eine vorliegende psychische
mundschaftsrechts wurden die Rechte der Betroffe- Erkrankung rechtfertigen für sich allein noch keine
nen gestärkt. Betreuerbestellung.
376 Kapitel 27 · Rechtliche Grundlagen in der Versorgung und Behandlungen

Verfahren zur Bestellung eines Betreuers eignet sind, in dem vom Gericht bestimmten Auf-
Den Antrag auf Betreuung kann die betroffene Per- gabenkreis die Angelegenheiten des Betreuten zu
son beim Vormundschaftsgericht des örtlichen besorgen.
Amtsgerichtes stellen. Zuständig ist das Vormund-
schaftsgericht, in dessen Bezirk der Betroffene zur- Vereinsbetreuer
zeit seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 65 Abs. 1 Dies sind Mitarbeiter eines anerkannten Betreu-
FGG). Dabei kann vom Betroffenen auf die Erstel- ungsvereins. Obwohl grundsätzlich nur natürliche
lung eines ärztlichen Gutachtens verzichtet werden Personen zu Betreuern bestimmt werden sollen,
und stattdessen ein eigenes ärztliches Attest vorge- kann ausnahmsweise wegen fachlich besserer Be-
legt werden, das die Notwendigkeit zum Einrichten treuungsmöglichkeiten auch ein Betreuungsverein
einer Betreuung bestätigt. selbst zum Betreuer bestellt werden.
Die Einrichtung einer Betreuung kann auch von
anderen Personen, wie Angehörige oder Pflegekräf- Behördenbetreuer
te, beim zuständigen Vormundschaftsgericht ange- Behördenbetreuer hingegen müssen konkrete Ein-
regt werden. Bei körperlicher Behinderung kann die zelpersonen der Behörde sein.
27 Bestellung des Betreuers nur auf Antrag des Betrof-
fenen erfolgen, es sei denn, dass dieser seinen Willen Umfang der Betreuerbestellung und
nicht kundtun kann (§ 1896 Abs. 1 Satz 3 BGB). mögliche Aufgabenkreise des Betreuers
Der Wirkungskreis des Betreuers richtet sich vor-
Anhörung nehmlich danach, in welchem Umfang der Betreute
Das Gericht hat sich vor der Bestellung eines Be- der Betreuung bedarf. Dies sollte den Bedürfnissen
treuers einen eigenen Eindruck in der gewöhnlichen des Betroffenen entsprechen und möglichst konkret
Umgebung des Betroffenen zu verschaffen und ihn festgelegt werden. Als mögliche Aufgabenkreise
persönlich anzuhören (§ 68 FGG). Die persönliche kommen die in . Tabelle 27.1 dargestellten Bereiche
Anhörung kann unterbleiben, wenn nach ärztli- in Betracht.
chem Gutachten erhebliche Nachteile für den Ber-
toffenen zu erwarten sind oder er nicht in der Lage Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
ist, seinen Willen zu äußern. Den nächsten Angehö- Bei der Errichtung der Betreuung ist der Verhältnis-
rigen, wie Ehegatten, eingetragene Lebenspartnern, mäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die Betreuung
Eltern, Kindern, soll Gelegenheit zur Äußerung ge- dem Grunde nach und auch dem Umfang nach
geben werden, vorausgesetzt, dass sie Kontakt mit darf nur erfolgen, soweit sie erforderlich ist (§ 1896
dem Betroffenen haben und dieser nicht wider- Abs. 2 Satz 1 BGB). Die Betreuung ist nicht erfor-
spricht. Weiterhin kann der Betroffene in der Anhö- derlich, soweit die Angelegenheiten des Betroffenen
rung die Anwesenheit einer Vertrauensperson ver- durch einen Bevollmächtigten oder durch andere
langen. Hilfen ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt
werden können. Damit soll verhindert werden, dass
Beschwerde ausreichend versorgte Menschen mit dem gerichtli-
Gegen die Entscheidung des Vormundschaftsge- chen Betreuungsverfahren belastet werden. Der Be-
richtes ist die Beschwerde innerhalb von 14 Tagen treute bleibt, anders als im früheren Vormund-
zulässig. schaftsrecht, grundsätzlich geschäftsfähig und kann
trotz Betreuung in Behandlungen einwilligen oder
Betreuer auch diese ablehnen, es sei denn, er ist einwilli-
Als Betreuer kommen unterschiedliche Personen in gungsfähig.
Betracht.
Einwilligungsvorbehalt
Natürliche Personen In besonderen Fällen ordnet das Vormundschafts-
Nach § 1897 Abs. 1 BGB bestellt das Vormund- gericht an, dass der Betreute zu einer Willenser-
schaftsgericht nur Personen zum Betreuer, die ge- klärung, die den Aufgabenkreis des Betreuers be-
27.8 · Betreuungsrecht
377 27

. Tabelle 27.1. Betreuungsbereiche


Gesundheits- Aufenthalt- Vermögen Postkontrolle Sterilisation
fürsorge bestimmung
§ 1904 BGB § 1906 BGB Regelung aller finanzi- § 1896 Abs. 4 BGB § 1905 BGB
Medizinische Unterbringung mit ellen Angelegenheiten, Entgegennahme, für die Einwilligung des
Maßnahmen Freiheitsentziehung Geltendmachung von Öffnen und Bearbei- Betreuers in eine Steri-
Geldansprüchen aller tung der Post ist lisation des Betreuten
Art, Verwaltung von neben allen anderen gelten besondere Vor-
Immobilien, Vertretung Aufgabenkreisen ge- aussetzungen
gegenüber Sozialleis- sondert zu beschlie-
tungsträgern und an- ßen
deren Behörden
Heilbehandlung, § 1908 BGB Aufgabe § 1896 Abs. 3 BGB
ärztliche Eingriffe, der Wohnung und Geltendmachung von
Untersuchungen, Auflösung des Haus- Rechten des Betreuten
Entscheidung halts, Unterbrin- gegenüber seinem
über die Verabrei- gung in einem Heim Bevollmächtigten
chung von Medi- und Abschluss eines
kamenten Heimvertrages

trifft, dessen Einwilligung bedarf (Einwilligungs- Betreuungsverfügung


vorbehalt nach § 1903 Abs. 1 BGB), wenn dies Nach § 1901a BGB kann jeder in einem Schriftstück
zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die für den Fall einer Betreuung vorsorglich festlegen,
Person oder das Vermögen des Betreuten erforder- wer Betreuer für ihn werden soll und was bei der
lich ist. Wahrnehmung der Betreuung zu beachten ist.
Dieser kann sich jedoch nicht darauf erstre- Schlägt der Betroffene vor, eine bestimmte Person
cken, ein auf Eingehung einer Ehe oder Lebenspart- nicht zu bestellen, so soll auch hierauf Rücksicht
nerschaft, auf Verfügungen von Todes wegen und genommen werden (§ 1897 Abs. 4 Satz 2 BGB).
auf Willenserklärungen, zu denen ein beschränkt
Geschäftsfähiger nicht der Zustimmung des gesetz- Aufhebung oder Änderung der Betreuung
lichen Vertreters bedarf (Taschengeld zur freien Ver- Die Betreuung ist aufzuheben bzw. zu ändern, wenn
fügung), ebenso wenn die Willenserklärung dem die Voraussetzungen weggefallen sind. Falls dies
Betreuten ausschließlich rechtlichen Vorteil bringt erforderlich wird, ist der Aufgabenkreis des Betreu-
(Geschenke, aber kein Haustier oder Immobilien). ers zu erweitern. Entsprechendes gilt auch für den
Einwilligungsvorbehalt.
Pflichten des Betreuers
Die Betreuung umfasst alle Tätigkeiten, die not- Entlassung des Betreuers
wendig sind, um die Angelegenheiten des Betreu- Kommt der Betreuer seinen Aufgaben nicht ausrei-
ten rechtlich zu besorgen. Der Betreuer hat die Ange- chend nach, so hat das Vormundschaftsgericht ihn
legenheiten des Betroffenen so zu besorgen, wie es zu entlassen und einen neuen Betreuer zu bestellen.
dessen Wohl entspricht (§ 1901 BGB). Dabei sind Der Betreuer seinerseits kann bei Vorliegen von
die bisherigen Lebensgewohnheiten sowie die Wert- wichtigen Gründen gemäß § 1908d BGB seine Ent-
und Normvorstellungen des Betreuten zu berück- lassung verlangen.
sichtigen. Der Betreuer hat den Wünschen des Be-
treuten nachzukommen, wenn es dessen wohl nicht ! Eine Betreuung soll nur dann eingerichtet
zuwiderläuft und dies dem Betreuer zumutbar ist. werden, wenn es keine andere Möglichkeit
der rechtlichen Vertretung für den Betroffe-
nen gibt.
378 Kapitel 27 · Rechtliche Grundlagen in der Versorgung und Behandlungen

27.9 Berufsbildung und Berufs- Bei Begründung des Ausbildungsverhältnisses


förderung müssen Personen, die Auszubildende einstellen
(Ausbildende), mit diesem einen Berufsausbildungs-
Mit in Kraft treten des neuen Berufsbildungsge- vertrag schließen. Dabei gelten die für den Arbeits-
setzes BBiG am 1.4.2005 wurden das Berufsbil- vertrag geltenden Rechtsvorschriften. Ausbildende
dungsgesetz von 1969 und das Berufsbildungsför- haben unverzüglich nach Abschluss des Berufsaus-
derungsgesetz von 1981 umfassend novelliert und bildungsvertrages, spätestens vor Beginn der Berufs-
zusammengeführt. Durch die Reform soll es jungen ausbildung, den wesentlichen Inhalt des Vertrages
Menschen beim Einstieg in die Berufswelt die volle schriftlich niederzulegen. Darin sind mindestens
berufliche Handlungsfähigkeit in einem breit ange- aufzunehmen:
legten Tätigkeitsbereich für qualifizierte Fachkräfte 4 Art, sachliche und zeitliche Gliederung sowie
vermitteln und sie befähigen, den sich stetig wan- des Ziel der Berufsausbildung,
delnden Anforderungen der Arbeitswelt gerecht zu 4 Beginn und Dauer der Berufsausbildung,
werden und damit den Grundstein für ein selbstbe- 4 Ausbildungsmaßnahmen außerhalb der Ausbil-
stimmtes Leben zu legen. Das Berufsbildungsgesetz dungsstätte,
27 regelt insbesondere die Berufsausbildungsvorberei- 4 Dauer der regelmäßigen täglichen Ausbildungs-
tung, die Berufsausbildung, die berufliche Fortbil- zeit,
dung sowie die berufliche Umschulung. Berufsaus- 4 Dauer der Probezeit,
bildungsvorbereitung hat das Ziel, durch die Ver- 4 Zahlung und Höhe der Vergütung,
mittlung von Grundlagen für den Erwerb berufliche 4 Dauer des Urlaubs,
Handlungsfähigkeit an eine Berufsausbildung in 4 Voraussetzungen, unter denen der Berufsausbil-
einem anerkannten Ausbildungsberuf heranzufüh- dungsvertrag gekündigt werden kann,
ren. Die Berufsausbildung vermittelt die notwen- 4 ein in allgemeiner Form gehaltene Hinweis auf
digen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und die Tarifverträge, Betriebs- oder Dienstvereinba-
Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit), die rungen, die auf das Berufsausbildungsverhältnis
notwendig sind, eine qualifizierte berufliche Tätig- anzuwenden sind.
keit auszuüben. Um in einer sich stets wandelnden
Arbeitswelt bestehen zu können, bedarf es der be- Das Gesetz regelt ferner die Pflichten des Auszubil-
ruflichen Fortbildung, die berufliche Handlungsfä- denden während der Berufsausbildung, Eignung
higkeit zu erhalten, anzupassen, zu erweitern und von Ausbildungsstätten und Ausbildungspersonal
beruflich aufzusteigen. Eine berufliche Umschu- sowie Prüfungswesen.
lung soll zu einer andern beruflichen Tätigkeit be-
fähigen. ! Durch die Änderung des BBiG ist die Mög-
Nach § 5 hat die Ausbildungsordnung Folgendes lichkeit gegeben zur Erprobung neuer Aus-
festzulegen: die Bezeichnung des Ausbildungsberu- bildungsberufe, sowie Ausbildungs- und
fes, die Ausbildungsdauer, die nicht mehr als 3 und Prüfungsformen und die Möglichkeit von
nicht weniger als 2 Jahre betragen soll, die berufli- Auslandsaufenthalten. Schwerbehinderten
chen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten (Aus- Auszubildenden ist besonders Rechnung
bildungsberufsbild), Ausbildungsrahmenlehrplan zu tragen.
und die Prüfungsanforderungen.
Das Gesetz sieht die Erprobung neuer Ausbil-
dungsberufe, Ausbildungs- und Prüfungsformen,
Möglichkeiten von Auslandsaufenthalten, sowie die
Regelung zur Anrechnung beruflicher Vorbildung
auf die Ausbildungszeit und Abkürzung beziehungs-
weise Verlängerung der Ausbildungszeit vor. Schwer-
behinderten Auszubildenden ist gem. §§ 48, 49 be-
sonders Rechnung zu tragen.
Literatur
379 27
Abkürzungen
Abs.: Absatz
ALG II: Arbeitslosengeld 2
BBiG: Berufsbildungsgesetz
BGB: Bürgerliches Gesetzbuch
FGG: Freiwillige Gerichtsbarkeit
GG: Grundgesetz
PsychKG: Psychisch Krankengesetze
SGB: Sozialgesetzbuch
StGB: Strafgesetzbuch

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4 Welche Leistungen können Versicherte nach
SGB V erhalten? 7 Kap. 27.3
4 Unter welchen Voraussetzungen wird Sozialhilfe
gewährt? 7 Kap. 27.5
4 Welche Voraussetzungen müssen vorliegen, um
einen Menschen gegen oder ohne seinen Willen
öffentlich-rechtlich unterzubringen? 7 Kap. 27.7
4 Wann kann eine Betreuung vom Vormund-
schaftsgericht angeordnet werden? 7 Kap. 27.8
4 Was regelt das Berufsbildungsgesetz? 7 Kap.
27.9

Literatur
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Hannover
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Verlag, Bonn
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4. Aufl Thieme, Stuttgart
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desanzeigerverlag, Köln
Renn H, Schoch D (2002) Die neue Grundsicherung. Nomos,
Baden-Baden
28

28 Netzwerke und Modelle


der Behandlung und Versorgung
Jörg Utschakowski

28.1 Versorgungsmodelle – 382

28.2 Elemente der Behandlung – 384


28.2.1 Stationäre Behandlung – 385
28.2.2 Teilstationäre Behandlung – 385
28.2.3 Ambulante Behandlung – 386

28.3 Rehabilitation – 388


28.3.1 Wohnen – 389
28.3.2 Tagesstruktur – 390
28.3.3 Arbeit – 390

28.4 Selbstorganisation – 391


28.4.1 Organisation der Psychiatrieerfahrenen – 391
28.4.2 Angehörigenorganisation – 392
28.4.3 Trialog – 392

28.5 Kooperation – 392

Literatur – 393
382 Kapitel 28 · Netzwerke und Modelle der Behandlung und Versorgung

) ) In Kürze Wissensinhalte
Nach dem Studium dieses Kapitels haben Sie:
Psychiatrie als Wissenschaft und als Hilfesystem 7 einen Überblick über die Erfordernisse an
war in den letzten 30 Jahren starken Wandlungen ein modernes psychiatrisches Versorgungs-
unterworfen. Die traditionelle, rein krankenhaus- system
zentrierte Psychiatrie ist zunehmend durch eine 7 Kenntnisse über die spezifischen Behand-
gemeindeorientierte, personzentrierte Behand- lungs und Versorgungsbausteine und ihre Auf-
lung, Versorgung und Betreuung abgelöst worden. gaben
Psychiatrische Krankenpflege bewegt sich 7 ein Verständnis von der erforderlichen Koor-
von je her in einem Raum, der stark von anderen dination und Kooperation innerhalb eines
Berufsgruppen definiert wird. Die Konzepte zu Ur- Behandlungs- und Versorgungsnetzwerks
sachen, Verlauf und Behandlung der geistigen Er- 7 ein Verständnis von den spezifischen Aufgaben
krankung entstammt größtenteils der Psychiatrie der Pflege in diesem Kontext
als medizinische Disziplin und zunehmend auch
der Psychologie. Es sind komplexe Praxismodelle
entstanden, die den Rahmen prägen, in dem psy- 28.1 Versorgungsmodelle
chiatrische Krankenpflege stattfindet. Insbesonde-
28 re im stationären Setting findet sie dort statt, wo Seit der Psychiatrieenquete 1975 wird in Deutsch-
andere Berufe bereits gehandelt oder eine Hand- land offiziell die Umstrukturierung der Psychiatrie
lungsausrichtung festgelegt haben. Dies ist einer- zur gemeindeorientierten Versorgung mit dem
seits eine einschränkende, aber gleichzeitig auch Grundsatz »ambulant vor stationär« angestrebt. Fle-
eine herausfordernde Position, denn die Pflege xiblen, bedarfsgerechten, nutzerorientierten Hilfen,
schafft in der Psychiatrie einen Ausgleich zwischen die den Verbleib des Patienten im Lebensumfeld ga-
den institutionellen Anforderungen, den Erwartun- rantieren, soll der Vorrang vor Krankenhaus- oder
gen der beteiligten Personen (Patient, Angehörige, Heimunterbringungen gegeben werden.
Arzt) und den situativen Erfordernissen (Morris, Nichtsdestotrotz war die erste Phase der Psychi-
2004). atriereform von einem krankenhauszentrierten Sys-
Im Gegensatz zu stark institutionalisierten tem bestimmt. Im Zentrum der Versorgung stand
und strukturierten Settings, die Delegation, Zentra- die psychiatrische Klinik, die von »extramuralen«
lisierung und komplexe Regeln nach sich ziehen, (außerhalb der Krankenhausmauern gelegenen)
ist die gemeindeorientierte Arbeit für alle Berufs- und »komplementären« (ergänzenden) Diensten
gruppen und insbesondere für die Pflege mit einer flankiert wurde.
Erweiterung der Kompetenz- und Verantwortungs- Die Gemeindepsychiatrie hat sich weiterent-
bereiche verbunden. Die Neuorientierung der Psy- wickelt. Da die krankenhauszentrierte Gemein-
chiatrie bietet den Raum für die Entwicklung einer depsychiatrie zwar ihre Angebote in die Gemeinde
eigenständigen psychiatrischen Pflegeidentität erweitert hat, jedoch nach wie vor die Institution und
mit spezifischen professionellen Handlungsberei- ihre Interessen im Vordergrund stehen, bleiben viele
chen. Pflege wird zu einer zentralen Berufsgruppe Interessen und Ressourcen der Nutzer unberück-
in multiprofessionellen Teams bzw. im Zusammen- sichtigt. Ausgangspunkt der Neuorientierung ist der
spiel diverser Dienstleister im gemeindepsychiat- aktuelle, individuelle Hilfebedarf des Klienten, wie er
rischen Verbund. Dieser Wandel erfordert eine sich konkret in seiner Wohnung, seinem sozialen
fundierte Kenntnis der Kooperationspartner und Kontext zeigt. Das Lebensfeld des Hilfesuchenden ist
des psychosozialen Versorgungssystems, in dem Ort und Mittelpunkt (»locus« und »focus«) von Be-
psychiatrische Pflege wirksam wird, um für den handlung und Versorgung. Das bedeutet, dass sich
Klienten die bestmögliche Hilfe zu organisieren. nicht der Klient den Angeboten anpasst, sondern die
Angebote dem Klienten. Häufig kann dabei nicht
eine Institution allein die notwendigen Hilfen für
einen Klienten bereitstellen, verschiedene Träger
28.1 · Versorgungsmodelle
383 28

Arbeit Betr. Wohnen Tagesstruktur Heim komplementär

Tages- SPSD Nerven-


klinik arzt extramural

stationäre
Behandlung
Krankenhaus als Ausgangs-
punkt

. Abb. 28.1. Krankenhauszentrierte Organisation gemeindepsychiatrischer Hilfen

müssen zur Deckung des Hilfebedarfs kooperieren. rekt auf die psychosoziale Lebenssituation des
Dies erfordert eine strukturelle und individuelle Ko- Patienten beziehen,
ordination der Angebote. 4 Normalisierung, d. h. »normale« Angebote ha-
Die notwendigen Hilfen für eine gemeindenahe, ben Vorrang vor Spezialangeboten,
personzentrierte integrierte Behandlung und Ver- 4 gemeindenahe Versorgungssysteme, Aufhebung
sorgung werden im Rahmen eines gemeindepsy- der Grenzen zwischen ambulant und stationär,
chiatrischen Verbunds organisiert, in dem alle reha- z. B. stationäre und aufsuchende Hilfen von ei-
bilitativen, behandelnden, beratenden stationären, nem Dienst,
teilstationären und ambulanten Dienste kooperieren. 4 Sektorisierung und Gleichverteilung der Diens-
Die integrierte, personzentrierte Gemeindepsychi- te, d. h. jedes Versorgungsgebiet (Sektor) soll
atrie orientiert sich an folgenden Prinzipien: über alle Grundbausteine psychiatrischer Hilfen
4 Lebensfeldorientierung, d. h. Durchführung von verfügen,
Interventionen und Organisationen, die sich di- 4 gemeinsame Koordination und Planung,

soziokulturelle Angebote Vermeidung stationärer


im Gemeinwesen Behandlung

Stationär Instituts- Tagesklinik B


ambulanz
E
H
A
Kirche
Sportverein
Kulturinitiative
Klient in niedergel.
Nervenarzt
Sozial-
psych.
N
D
Dienst
L
Soziale
Hilfen
seiner a mbulante
U
N
psych.
G
Gemeinde Pflege

Tages- Heim Sozio-


therapie
stätten R
E
H
Arbeit Betreutes A
Wohnen

. Abb. 28.2. Personenzentrierte Organisation der Gemeindepsychiatrie


384 Kapitel 28 · Netzwerke und Modelle der Behandlung und Versorgung

4 Reduzierung der stationären Behandlung zu- 4 Weniger Stigmatisierung. Größere psychiatrische


gunsten ambulanter und teilstationärer Ange- Einrichtungen haben häufig ein negatives gesell-
bote, schaftliches Ansehen, das auch auf die Patienten
4 kontinuierliche Verzahnung von Präventions-, übertragen wird.
Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen, 4 Weniger soziale Behinderung. Längere stationäre
4 Öffentlichkeitsarbeit (Bührig, 2002). Unterbringung ist häufig durch die institutio-
nellen Vorgaben mit Einschränkungen der in-
Die integrierte Gemeindepsychiatrie erfordert eine dividuellen Entfaltungsmöglichkeiten und der
Veränderung des Selbstverständnisses: Rollen, Auf- Verringerung sozialer Kompetenzen verbunden,
träge und Funktionen sind nicht länger in vor- oder die auch als Hospitalismus bezeichnet werden.
nachstationär und komplementär aufzuteilen. 4 Detaillierte Klärung der Ressourcen und Proble-
me. Durch die Kontaktaufnahme im Lebenskon-
! Arbeit im gemeindepsychiatrischen Verbund
text des Betroffenen und der Begegnung mit den
bedeutet gemeinsame Entwicklung und Aus-
Beteiligten vor Ort kann ein tiefgreifenderes
richtung der Angebote nach einem gemein-
Verständnis von der Komplexität der Problem-
samen Leitbild, auf Basis von einrichtungs-
lage entwickelt werden. Zudem besteht eine grö-
übergreifender Kooperation.
ßere Möglichkeit, die Ressourcen und Potenzia-
28 Die Reform der Psychiatrie ist ein lang andauernder le, die zur Problemlösung beitragen können, zu
Prozess. Das Ziel der Überwindung der Abschot- erkennen und einzubeziehen.
tung der einzelnen Behandlungs- und Versorgungs- 4 Individuelle Angebote. Die professionellen Inter-
angebote – insbesondere der Trennung zwischen ventionen können direkt auf den aktuellen, kon-
ambulant und stationär – steht immer noch im Vor- kreten Bedarf bezogen werden.
dergrund. In den letzten Jahren ist die stationäre 4 Bessere Basis für psychosoziale Intervention. Die
Behandlung zugunsten ambulanter Angebote im- Begegnung mit den Klienten in ihrem sozialen
mer weiter reduziert worden. Umfeld ermöglicht ein gutes Zusammenspiel
Kritiker dieser Entwicklung befürchten, dass bei unterschiedlicher Interventionsebenen, die nicht
einer zu starken Dezentralisierung der stationären nur auf die kranken Anteile, sondern auch auf
Versorgung und der Aufsplitterung in immer kleine- die realen Lebensbedingungen bezogen werden
re Behandlungseinheiten die Qualität der Akutbe- können.
handlung leidet. Da kleine Einrichtungen mit einem 4 Erhöhung der Compliance. Es hat sich gezeigt,
bestimmten Einzugsgebiet notwendigerweise Men- dass die Betroffenen im Rahmen ihres sozialen
schen mit den verschiedensten Problemlagen und Kontextes eher bereit sind, Unterstützung an-
Krankheitsbildern aufnehmen müssen, würde eine zunehmen und diese auch nachhaltiger wirkt
fachlich fundierte diagnosespezifische Behandlung (Brenner et al., 2000).
immer schwieriger. In größeren Einrichtungen mit
einer höheren Patientenzahl könnten ausreichend
differenzierte Spezialisten beschäftigt werden. 28.2 Elemente der Behandlung
Die Befürworter der zunehmenden Gemeinde-
orientierung und Dezentralisierung sehen die Mög- Um eine gemeindenahe psychiatrische Versorgung
lichkeiten der ambulanten Behandlung noch lange und Behandlung zu gewährleisten, ist es notwendig,
nicht ausgeschöpft. Sie sehen erhebliche Vorteile ge- dass in einem überschaubaren geographischen Be-
genüber der vollstationären Akutversorgung: reich ausreichend differenzierte Dienste zur Verfü-
4 Weniger tief greifende Einschnitte in das Alltagsle- gung stehen, die in einer sinnvollen Kooperation
ben. Der Betroffene kann, soweit es ihm möglich und Koordination miteinander verbunden sind. Ein
ist, seine sozialen Kontakte pflegen und alltägli- überschaubare Versorgungsregion (150 000–350 000
che Dinge verrichten. Krankenhausbehandlung Einwohner) sollte folgende Angebote vorhalten:
bedeutet oft unerfüllte Leerzeiten, die gesunde 4 stationäre Behandlung,
Persönlichkeit wird an der Tür abgegeben. 4 teilstationäre Behandlung,
28.2 · Elemente der Behandlung
385 28

4 ambulante Behandlungsangebote, 4 Auswirkungen einer Krise, die eine ausreichende


4 Sozialpsychiatrische Dienste, (Selbst-)Versorgung des Betroffenen in seiner
4 Wohnheimplätze, häuslichen Umgebung nicht mehr gewährleis-
4 Betreutes Wohnen, ten.
4 tagesstrukturierende Angebote,
4 Arbeitsangebote. Vollstationäre Behandlung sollte nur dann erfolgen,
wenn teilstationäre oder ambulante Behandlung
nicht ausreicht.
28.2.1 Stationäre Behandlung
! Um das Prinzip ambulant vor stationär zu
gewährleisten, muss sichergestellt sein, dass
Die Bedeutung der stationären Behandlung hat sich
bei der stationären Aufnahme eine mehrdi-
im Laufe der letzten 30 Jahre bedeutend verändert.
mensionale Situationsanalyse erfolgt, die
So sind z. B. die Krankenhausbetten stark abgebaut
bereits die Entlassungsvorbereitung mit-
worden – seit Mitte der 70er Jahre um über 50 %. Die
denkt (Kunze, 2002).
durchschnittliche Verweildauer, die Mitte der 70er
Jahre noch (abhängig von der Krankenhausgröße)
bei 100–200 Tagen lag, hat sich mittlerweile auf ca.
30 Tage reduziert. Am einschneidensten ist der 28.2.2 Teilstationäre Behandlung
Rückgang der Krankenhausbetten in der Langzeit-
psychiatrie, die allein in dem Zeitraum von 1990– Tagesklinik
2000 um 90 % (!) reduziert wurden (Saß, 2001; Ar- Ursprünglich wurde die Tagesklinik entwickelt, um
beitsgruppe Psychiatrie, 2003). die »Schwundquote« der Patienten zu verringern,
Während zu Enquete-Zeiten eine psychiatrische die zwischen der stationären und der ambulanten
Abteilung in einem Netz ambulanter Dienste noch Versorgung verloren gingen und um den Übergang
nicht gegenwärtig war, wird vermehrt langfristig die von der stationären Behandlung zurück in die Ge-
Zukunft der stationären Versorgung in Behand- meinde zu erleichtern (Dörner u. Plog, 1985).
lungszentren als Abteilung an Allgemeinkranken- Tagesklinische Einrichtungen sollen eine schritt-
häusern oder gar krankenhausunabhängigen »Rück- weise, wirkungsvolle Rehabilitation insbesondere für
zugsräumen« gesehen. diejenigen erreichen, denen eine ambulante Thera-
Das klinische Setting bietet eine Vielzahl an kom- pie (noch) nicht ausreicht. Die Anzahl der tageskli-
plexen Hilfeleistungen, dazu gehören medizinische, nischen Plätze nimmt weiter zu. Das tagesklinische
pflegerische, psychologische, sozialarbeiterische, er- Angebot ist in der Regel sehr strukturiert. Die Nutzer
gotherapeutische und bewegungstherapeutische An- stellen häufig am Anfang der Woche gemeinsam
gebote. mit dem Personal ihre Wochenstruktur zusammen,
Auch für die stationäre Versorgung gilt, dass sie die sich aus gruppenbezogenen alltagspraktischen
gemeindenah erfolgen sollte oder zumindest innen Übungen, gruppendynamischen Übungen, psycho-
sektorisiert (d. h. die Zuordnung von Patienten zu edukativen Gruppen oder Freizeitaktivitäten zu-
Stationen sollte nicht an Diagnosen, sondern an re- sammensetzt. Da die Nutzer abends nach Hause ge-
gionaler Zugehörigkeit der Patienten orientiert sein) hen, liegt ein Schwerpunkt der Tagesaktivitäten auf
und mit geeigneten Außenstellen (Institutsambu- der direkten Nutzbarkeit im unbegleiteten Alltag.
lanzen) ausgestattet sein. Zunehmend wird die Tagesklinik auch als Akut-
Indikationen für eine vollstationäre Behandlung tagesklinik genutzt, d. h. nicht als Nachsorgeange-
können sein: bot, sondern als Ersatz für stationäre Behandlung.
4 die Behandlung einer akuten Krise, die eine Be- Durch die Gemeindenähe vieler Tageskliniken kann
gleitung rund um die Uhr erfordert, in enger Kooperation mit den regionalen Strukturen
4 die Durchführung von Zwangsmaßnahmen, ein nicht unerheblicher Anteil stationärer Behand-
4 die Zuspitzung einer Krise durch ein überforder- lung durch Akuttageskliniken kompensiert werden.
tes, überlastetes soziales Umfeld, Dies erfordert jedoch eine gute personelle Ausstat-
386 Kapitel 28 · Netzwerke und Modelle der Behandlung und Versorgung

tung, die häufig einen höheren Pflegesatz notwendig zeiten etc.) oder starke Aversionen gegen das psy-
macht. chiatrische Krankenhaus haben.
In der ambulanten Arbeit verändern sich die
Nachtklinik Arbeitsinhalte und der Arbeitsrahmen gegenüber
Das nachtklinische Angebot richtet sich an Patien- der stationären Arbeit:
ten, die einer Arbeit nachgehen, in der Ausbildung 4 Hausrecht: Entgegengesetzt zum stationären Set-
sind oder in eine andere feste Tagesstruktur einge- ting, wo das Personal das Hausrecht hat und der
bunden sind. Die Patienten verbringen ihre abendli- Patient sich wie ein Gast verhalten muss, verhält
che Freizeit und oft auch die Wochenenden in der es sich im ambulanten Bereich genau umge-
Nachtklinik. Im Mittelpunkt der Behandlung stehen kehrt.
soziotherapeutische und psychotherapeutische An- 4 Nähe – Distanz: In der ambulanten Arbeit ist der
gebote. Insbesondere können hier arbeitsbedingte Helfer sehr viel enger an den Lebensbezügen des
Stresssituationen und Probleme im häuslichen Mi- Betroffenen. Das ist eine Chance zur Entdeckung
lieu bearbeitet werden. von Potenzialen, Ressourcen und zum Aufbau
von Beziehungen, gleichzeitig erfordert die Situ-
ation ein hohes Maß an Reflektion, um nicht
28.2.3 Ambulante Behandlung ungewollt in zu enge Beziehungssituationen zu
28 geraten.
Die wichtigsten ambulanten Behandlungsangebote 4 Aggression: Ambulante Arbeit kann u. U. bedeu-
sind: ten, sehr viel ungeschützter mit Aggressionen
4 der Sozialpsychiatrische Dienst, konfrontiert zu sein als im stationären Setting.
4 die Institutsambulanz, Auch hier ist eine gute Fremd- und Selbstein-
4 die ambulante psychiatrische Pflege, schätzung und gutes Urteilsvermögen gefragt.
4 die Soziotherapie, 4 Direkte Konfrontation: Ambulante Arbeit bedeu-
4 die niedergelassenen Nervenärzte. tet eine direkte Konfrontation mit der Lebenssi-
tuation des Betroffenen. Das erleichtert das Ver-
! Menschen mit schweren psychischen Störun-
ständnis für die individuelle Problemlage und
gen nehmen durch ambulante Behandlung
die Einbeziehung des sozialen Umfelds.
deutlich weniger stationäre Behandlung in
4 Flexibilität: Ambulante Arbeit erfordert und er-
Anspruch (Kruckenberg, 2002).
möglicht ein hohes Maß an Flexibilität. Durch
Ambulante Behandlung ist nicht nur geeignet, stati- den fehlenden institutionellen Rahmen gestalten
onäre Behandlung zu ersetzen, sondern auch ein sich die Begegnungsräume und die Anforderun-
Klientel zu erreichen, das bisher kaum oder nur un- gen immer wieder neu.
ter sehr erschwerten Bedingungen das ambulante 4 Verantwortung: Durch den fehlenden institutio-
Angebot nutzen konnte. Eine Indikation für eine am- nellen Hintergrund und durch ein umfassende-
bulante psychiatrische Akutbehandlung kann sein, res Aufgabenspektrum trägt die Pflegekraft auch
dass ein Mensch bisher nicht von dem psychiatri- mehr Verantwortung in der jeweiligen Situation.
schen Versorgungs- und Behandlungssystem erreicht Es muss in der Situation entschieden werden, ob
wurde. Das kann daran liegen, dass die Person auf- ein Problem gelöst wurde, denn oft steht kein
grund familiärer Verpflichtungen (Kinder etc.) bis- Kollege zur Verfügung, an den das weitere Vor-
her keine stationäre Hilfe in Anspruch genommen gehen direkt delegiert werden kann.
hat oder kulturelle Bedingungen (z. B. Migranten)
! Der Patient hat mehr Lebensqualität, der Profi
gegen einen Krankenhausaufenthalt sprachen. Diese
hat mehr Arbeitsqualität.
Situationen lassen sich mit weniger Widerständen
ambulant bewältigen. Ambulante Hilfe greift aber
auch da, wo stationäre Hilfe abgelehnt wird, z. B. Sozialpsychiatrischer Dienst
wenn Patienten sich nicht mit dem Setting im Kran- Die Sozialpsychiatrischen Dienste gehören zu den
kenhaus arrangieren können (Rauchverbot, Mahl- Standardeinrichtungen in der Gemeindepsychiatrie.
28.2 · Elemente der Behandlung
387 28

Die rechtliche Grundlage bieten die PsychKGs der kliniken angeboten. Die Institutsambulanz ist ein
Länder (vgl. Kap. 27), daher variieren die Aufgaben- Angebot für Menschen, die den stationären Rahmen
spektren etwas. nicht brauchen, aber aufgrund der Art, Schwere
Zu den Kernaufgaben der Sozialpsychiatrischen und Dauer der Erkrankung von niedergelassenen
Dienste gehört die Beratung von psychisch kranken Nervenärzten nicht angemessen versorgt werden
Menschen und ihren Angehörigen und das Angebot können. Der Zugang zur Institutsambulanz erfolgt
bzw. die Vermittlung der im Einzelfall erforderlichen über eine Überweisung von einem niedergelassenen
Hilfen. Der Sozialpsychiatrische Dienst als öffentli- Nervenarzt. Zu dem von den Psychiatrischen Insti-
cher Gemeindedienst soll auch dazu beitragen, bei tutsambulanzen versorgten Personenkreis gehören
Konflikten zwischen Betroffenen und ihrem persön- Menschen mit langwierigen und komplizierten
lichen Umfeld oder der Öffentlichkeit zu vermitteln, Krankheitsverläufen, Menschen in akuten Krisen
sodass sowohl den Interessen und dem Schutz der (z. B. Suizidalität) oder Menschen mit Erkrankun-
Betroffenen als auch den Belangen von anderen Be- gen des höheren Lebensalters.
teiligten Rechnung getragen wird. Das konkrete Behandlungsangebot einer Psy-
Die Begleitung von chronisch psychisch kranken chiatrischen Institutsambulanz richtet sich nach den
Menschen (z. B. die Kontaktaufnahme nach statio- individuellen Erfordernissen der jeweiligen Lebens-
närer Behandlung) und das Angebot von Gruppen situation des Patienten, es umfasst psychiatrische/
(Psychosegruppe, Angehörigengruppe etc.) sind psychotherapeutische Diagnostik und Therapie,
weitere Aufgaben, die von den Soziapsychiatrischen medikamentöse Therapie, Aufklärung und Infor-
Diensten häufig geleistet werden. mation des Patienten und seiner Angehörigen und
Im Sinne von Kontrolle und übergeordneter psychoedukative und psychotherapeutische Grup-
Organisation übernehmen die Sozialpsychiatrischen penangebote. Die individuellen (nicht gruppenbe-
Dienste die fallbezogene Steuerung von Hilfen, insbe- zogenen) Angebote können auch aufsuchend am Le-
sondere bei chronisch psychisch kranken Menschen, bensort des Patienten angeboten werden.
und Steuerungsaufgaben für die Versorgungsregion. Die psychiatrischen Institutsambulanzen sind
In den meisten Ländern übernehmen die Sozial- mit multiprofessionellen Teams besetzt, zu denen
psychiatrischen Dienste auch Gutachtertätigkeit für neben Fachkrankenpflegekräften und Ärzten auch
die Kostenträger (z. B. Hilfebedarf im Betreuten Sozialarbeiter, Psychologen und ggf. auch Ergothe-
Wohnen), sowie die Erstellung von Gutachten für rapeuten gehören.
Unterbringungsverfahren und deren Einleitung. Die Institutsambulanz soll ein Verbindungs-
Die personelle Ausstattung und die Multiprofessi- glied der unterschiedlichen psychiatrischen Versor-
onalität der Dienste variieren regional sehr. Es gibt Re- gungsangebote sein. Sie kooperiert mit den nieder-
gionen in denen zwei Sozialarbeiter als Sozialpsychi- gelassenen Nervenärzten und mit der Klinik, aber
atrischer Dienst ein Einzugsgebiet betreuen, das in ebenso mit den anderen Einrichtungen des gemein-
einer anderen Region von 8 Fachkräften (Fachpflege- depsychiatrischen Verbunds, wie Tagesstätten, Be-
kräfte, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter) versorgt treutes Wohnen etc.
wird. Entsprechend variieren auch die Kapazitäten für
ambulante Krisenintervention, die in manchen Re- Ambulante psychiatrische Pflege
gionen gar nicht, in anderen Regionen (z. B. Bremen) Die ambulante psychiatrische Pflege (APP) ist eine
24 Std. an 7 Tagen in der Woche angeboten wird. besondere Form häuslicher Krankenpflege, die spe-
ziell für psychisch kranke Menschen erbracht wird.
Institutsambulanzen APP ist Behandlungspflege nach SGB V und damit
Die Einrichtung psychiatrischer Institutsambulan- krankenkassenfinanziert. Im Vordergrund der APP
zen wurde bereits in der Psychiatrie-Enquete gefor- steht Beziehungsarbeit und Milieupflege und die Si-
dert. Während sie zunächst nur an psychiatrischen cherstellung der Versorgung der Patienten. Insofern
Fachkrankenhäusern eingerichtet werden durften, ist die Tätigkeit der Pflegekräfte in der APP ähnlich
werden sie nun auch von psychiatrischen Abteilun- wie die anderer Berufsgruppen in der Gemeindepsy-
gen an Allgemeinkrankenhäusern und von Tages- chiatrie. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch die
388 Kapitel 28 · Netzwerke und Modelle der Behandlung und Versorgung

spezifische Aufgabenstellung. APP soll stationäre Ambulante Soziotherapie wird für einen be-
Krankenhausbehandlung vermeiden bzw. verkürzen grenzten Zeitraum gewährt. Sie kann von Sozialpä-
und die ärztliche Weiterbehandlung in der Gemein- dagogen, Pädagogen oder Fachkrankenpflegekräften
de sicherstellen. durchgeführt werden. Die Erfahrungen belegen, dass
Die spezifischen Aufgaben der APP sind: soziotherapeutische Hilfen ein wirksames Mittel zur
4 kennen lernen des Patienten und des sozialen Stabilisierung im gemeindepsychiatrischen Kontext
Umfelds und Aufbau einer tragfähigen Bezie- und zur Rückfallprophylaxe sind (Thiede, 2004).
hung,
4 Pflegediagnostik und Pflegeplanung, Niedergelassene Nervenärzte
4 Durchführung ärztlich verordneter Behandlungs- Die Allgemeinärzte sind in der Regel kaum in die
maßnahmen (z. B. Medikamentenvergabe), psychiatrische Versorgung eingebunden, obwohl
4 Motivation zu notwendigen Arztbesuchen, viele Menschen mit psychischen Krankheiten von
4 Förderung besserer Bewältigungsfähigkeiten ihnen ausschließlich behandelt werden. Dies kann
(Coping), problematisch sein, weil oft psychische Störungen
4 Förderung von Erhalt oder Neuerwerb leben- nicht erkannt bzw. unangemessen behandelt werden
spraktischer Fähigkeiten, sowie einer stabilen (Mayer u. Baltes, 1996).
stützenden Tagesstruktur, Die Dichte der niedergelassenen Nervenärzte
28 4 Krisenintervention, d. h. das Erkennen von Kri- hat in den letzten Jahrzehnten permanent zuge-
sen und die Hilfe bei der Krisenbewältigung, die nommen. Trotzdem ist die Versorgung in ländlichen
Einschätzung von Suizidalität und die Einleitung Gebieten immer noch verbesserungswürdig. In den
und Durchführung notwendiger Maßnahmen, großen Städten ist die Dichte der Nervenärzte er-
sowie ggf. die Einleitung stationärer Behand- heblich höher als in ländlichen Gebieten.
lung. Die Behandlungsangebote in den Arztpraxen
reichen von medikamentöser Therapie bis hin zu
Ambulante Soziotherapie Psychotherapie. Über die Beteiligung an der Verord-
Ambulante Soziotherapie ist das jüngste Angebot in nung von Soziotherapie und ambulanter psychiatri-
der gemeindepsychiatrischen Versorgung. Ambulan- scher Pflege und der damit verbundenen Kooperati-
te Soziotherapie ist eine krankenkassenfinanzierte on integriert sich das Angebot der niedergelassenen
Leistung, die die Vermeidung von Krankenhausun- Nervenärzte stärker in den gemeindepsychiatri-
terbringung zum Ziel hat. Sie soll eine Brückenfunk- schen Verbund.
tion zwischen dem ärztlichen Behandlungsprogramm
und rehabilitativen Angeboten leisten. Hintergrund
ist, dass insbesondere schwer psychisch kranke Men- 28.3 Rehabilitation
schen viele vorhandene Angebote allein nicht nutzen,
weil sie Ängste haben, nur schwer Termine einhalten Der Bereich der Rehabilitation und Versorgung hat
können oder ähnliche Probleme haben (Melchinger, nach der Psychiatrie-Enquete stark an Bedeutung
1999). Soziotherapie soll der Stabilisierung im Alltag gewonnen. Eine zentrale Aussage der Enquete war,
und der wirksamen Entwicklung von Copingstruk- dass insbesondere Langzeitpatienten, die in den Kli-
turen dienen. Soziotherapie soll auch dazu beitragen, niken »unter elenden, menschenunwürdigen Um-
dass die Betroffenen eigenständig ärztliche Behand- ständen« untergebracht und von einem »erhöhten
lung wahrnehmen und soziale Kontakte aufnehmen. Risiko des Hospitalismus« bedroht waren, besser in
Insgesamt soll die Nutzung der vorhandenen An- der Gemeinde versorgt werden könnten (Deutscher
gebote verbessert werden, sodass die Betroffenen Bundestag, 1975). Hierzu sollten differenzierte reha-
im ambulanten Bereich versorgt werden können bilitative Angebote aufgebaut werden.
und stationäre Behandlung nicht oder seltener nötig
wird. Soziotherapie soll auch dazu beitragen, dass die ! Rehabilitative Angebote sollen Wohnen,
Kooperation und Koordination der psychiatrischen Arbeit, Tagesstruktur und soziale Kontakte im
Dienste verbessert wird. Lebensumfeld der Betroffenen ermöglichen.
28.3 · Rehabilitation
389 28

Die Aufgaben psychosozialer Rehabilitation erstre- während der neue zusätzliche Kosten zu tragen hat,
cken sich auf zwei Bereiche. Einerseits soll durch ohne sie erstattet zu bekommen. Daher besteht von
individuelle Förderung der psychisch kranke oder dem neuen Kostenträger häufig kaum Bereitschaft
behinderte Mensch dazu befähigt werden, am gesell- zu Veränderungen.
schaftlichen Leben teilzunehmen. Dazu können för-
! Bei der Betrachtung der psychiatrischen Be-
dernde Maßnahmen, wie z. B. lebenspraktisches
treuung im Bereich Wohnen darf nicht verges-
Training oder Heranführung an Arbeit, gehören.
sen werden: 60–80 % der chronisch psychisch
Aber auch kompensatorische Leistungen, die ein-
kranken Menschen leben außerhalb professi-
geschränkte Fähigkeiten ausgleichen, wie z. B. die
oneller Einrichtungen allein, bei Angehörigen
dauerhafte Begleitung zu Ärzten oder Behörden. Re-
oder Freunden oder mit deren Unterstützung
habilitation bedeutet aber auch, wie der eigentliche
(Heim, 2001).
Wortsinn verdeutlicht (aus dem Lateinischen »in
den früheren Stand, in die früheren Rechte wieder-
einsetzen«), dass nicht nur der psychisch kranke Heime
Mensch, sondern auch die Gesellschaft, das soziale Immer noch leben viele psychisch kranke Menschen
Umfeld zu der Integration beitragen muss. in sehr große Einrichtungen, die augrund ihrer
Struktur und Unüberschaubarkeit eine angemes-
! Rehabilitatives Arbeiten im Bereich Psychia-
sene, individuelle, personenzentrierte Hilfe kaum
trie bedeutet auch, Räume zu schaffen und
möglich machen. Daher soll weiterhin die Entwick-
Begegnungen herzustellen, in denen Men-
lung weg von großen Heimen hin zu kleinen, über-
schen, die anders sind, leben können.
schaubaren Wohneinheiten gefördert werden.
Die Arbeitsgruppe Psychiatrie der obersten Lan-
desgesundheitsministerien fordert Wohnheime, die
28.3.1 Wohnen folgenden Kriterien erfüllen:
4 kleinteilig,
Die Enthospitalisierung der Krankenhäuser hat da- 4 dezentral,
zu geführt, dass es mittlerweile mehr Plätze im Be- 4 nicht mehr als 20 Plätze,
treuten Wohnen und in Wohnheimen gibt als in den 4 Wohnen und Arbeit sollten getrennt sein (Ar-
Kliniken (Schernus, 2003), allerdings hat der Heim- beitsgruppe Psychiatrie, 2003).
bereich wesentlich stärker hinzugewonnen als das
Betreute Wohnen. Es ist davon auszugehen, dass die Wohnheime bieten Menschen, die aufgrund ihrer
Deinstitutionalisierung im Klinikbereich zu einer Beeinträchtigung einen hohen Unterstützungsbedarf
Institutionalisierung im Heimbereich geführt hat haben, einen sicheren Rahmen. Sie bieten Kontrolle
(Hopfmüller, 2003). Das Prinzip »ambulant vor sta- und Schutz für Menschen, die beim Leben allein oder
tionär« ist nicht ausreichend umgesetzt. 95 % aller mit geringer Betreuung immer wieder mit ihrem so-
Mittel für Wiedereingliederung werden im stationä- zialen Umfeld in Konflikt geraten. Heime können
ren Bereich ausgegeben, nur 5 % für ambulante einen dauerhaften Lebensort bieten, aber auch ein
Maßnahmen. Es befinden sich immer noch sehr vie- geschütztes Feld für langsame Lernprozesse. Trotz
le Langzeitpatienten in den Kliniken und auch aus des notwendigen Schutzraumes muss ein Wohnheim
den Heimen könnten mehr Menschen in das Betreu- auch mit den anderen Versorgungsangeboten in der
te Wohnen entlassen werden. Neben der mangeln- Region vernetzt sein und Anreize für die Außenori-
den Bereitschaft der Einrichtungen, Klienten in an- entierung (Arbeit, Beschäftigung, Freizeit) schaffen.
dere Behandlungs- und Wohnformen zu entlassen
(was oft mit einem Wechsel des Versorgungsträgers Betreutes Wohnen
verbunden ist), spielt auch die unterschiedliche Kos- Angebote des Betreuten Wohnens beinhalten häufig
tenträgerschaft für unterschiedliche Maßnahmen »eine Art universelle kontinuierliche Zuständigkeit
eine Rolle: bei einem Wechsel vom Heim in das Be- für alle möglichen Aufgaben und Probleme des – all-
treute Wohnen wird der eine Kostenträger entlastet, täglichen – Lebens« (Brill, 1992). Betreutes Wohnen
390 Kapitel 28 · Netzwerke und Modelle der Behandlung und Versorgung

hat ein Leistungsspektrum, das lebenspraktische Ein Teil der Tagesstätten ist eher als niedrig-
Unterstützung, Arbeitsvermittlung, Förderung der schwellige Anlaufstelle konzipiert, in deren Vorder-
Kontaktaufnahme, Gruppenarbeit und therapeuti- grund die Förderung sozialer Kontakte steht und
sche Gespräche bis hin zur Krisenintervention um- deren Arbeitsmöglichkeiten sehr flexibel und be-
fassen kann. Betreutes Wohnen kann im Gruppen- darfsorientiert wahrgenommen werden können.
wohnen oder im Einzelwohnen erfolgen. Die Be- Entsprechend können sie unverbindlich stunden-
treuung kann so sehr individuell auf den Betroffenen oder tageweise aufgesucht werden.
zugeschnitten werden. Die Betreuungsintensität und
Dauer wird von einem Gutachter (Klinik, Tageskli-
nik, SPSD, Institutsambulanz, z. T. auch niedergelas- 28.3.3 Arbeit
senen Nervenarzt) festgelegt.
Jeder Mensch will für die Allgemeinheit notwendig
! Das betreute Wohnen soll einer unabhängi-
sein, will Bedeutung für andere haben (Dörner,
gen Lebensform so nah wie möglich kommen,
1996). Mit Arbeit sind für jeden Menschen elemen-
daher gilt:
tare »Erlebniskategorien« verbunden:
4 die Trennung von Betreuungs- und Miet-
4 Arbeit schafft eine Zeitstruktur.
vertrag (der Mietvertrag bleibt bei der
4 Arbeit vermittelt soziale Kontakte.
Beendigung der Betreuung unberührt)
28 4 geteilter Pflegesatz (der Träger erhält ein
4 Durch Arbeit wird man Teil einer Gemeinschaft,
was zum Erhalt der Gesellschaft und ihres Wohl-
Leistungsentgelt vom Kostenträger, der
stands beiträgt.
Betreute behält sein eigenes Einkommen)
4 Arbeit bestimmt den Status und die Identität
Das Ziel des Betreuten Wohnens ist die Förderung eines Menschen.
einer weitgehend unabhängigen Lebensführung 4 Arbeit zwingt zur Aktivität (Jahoda, 1993).
der Betroffenen. Das kann bedeuten, dass Menschen
unabhängig von Betreuung werden oder geringfügig Formen der Integration in Arbeit
betreut werden. Betreutes Wohnen kann jedoch Allgemeiner Arbeitsmarkt
auch lebenslang gewährt werden. Das Angebot des Die Teilhabe von behinderten Menschen am Ar-
Betreuten Wohnens ist ein wichtiges Element der beitsleben ist im Sozialgesetzbuch (SGB) IX als kon-
Integration von psychisch kranken Menschen, das kretes Ziel formuliert. Die Flexibilisierung von Ar-
nicht nur nachsorgend und rehabilitativ wirkt, son- beitszeiten und die Förderung von Teilzeitbeschäfti-
dern auch präventiv Krisen und stationäre Behand- gung erleichtert es Menschen mit eingeschränktem
lung vermeiden kann. oder schwankendem Leistungsvermögen, einen Zu-
gang zum Arbeitsmarkt zu finden. Hier können ggf.
auch Eingliederungszuschüsse geleistet werden. Ins-
28.3.2 Tagesstruktur gesamt sind die Möglichkeiten der Beschäftigung
auf dem ersten Arbeitsmarkt jedoch für viele psy-
Besonders chronisch psychisch kranken Menschen chisch kranke Menschen nicht befriedigend. In den
brauchen häufig Unterstützung bei der Tagesstruk- letzten Jahren haben sich sehr vielfältige Angebote
turierung und bei der Alltagsbewältigung und bei im Bereich Arbeit und Beschäftigung entwickelt, die
Angeboten, die Kontaktmöglichkeiten bieten. Dafür Qualifizierung und Arbeitserprobung, aber auch
stehen Tagesstätten in den Versorgungsregionen an neue Beschäftigungsmöglichkeiten bieten.
jedem Wochentag zur Verfügung.
Ein großer Teil der Tagesstätten führt längerfris- Integrationsfirmen
tig angelegte arbeits- und beschäftigungstherapeuti- Integrationsfirmen bieten die Möglichkeit der Ar-
sche Programme mit jeweils fest zusammengesetzten beitserprobung, der stufenweisen Wiedereinglie-
Gruppen durch. In der Regel sind hier ein Gutachten derung in das Arbeitsleben und auch der dauerhaf-
und eine individuelle Kostenübernahme nötig, die ten Beschäftigung. Die Angebote sind in der Regel
Teilnahme ist verbindlich. auf die Bedürfnisse von psychisch kranken Men-
28.4 · Selbstorganisation
391 28

schen zugeschnitten. Dazu gehört eine überschau- Berufsbildungswerke


bare Zahl von Mitarbeitern, überschaubare Ar- Berufsbildungswerke sind Einrichtungen der beruf-
beitsprozesse und flexible Arbeitsbedingungen. Die lichen und gesellschaftlichen Rehabilitation, die der
Mehrzahl der Angebote liegt im Handwerksbereich, erstmaligen Berufsausbildung vornehmlich jugend-
gefolgt von Dienstleistungen und industrieller Fer- licher behinderter Menschen dienen.
tigung.

Zuverdienstfirmen 28.4 Selbstorganisation


Zuverdienstfirmen bieten insbesondere chronisch
psychisch kranken Menschen die Möglichkeit, stun- 28.4.1 Organisation der Psychiatrie-
denweise überschaubare Arbeitsaufträge zu über- erfahrenen
nehmen.
Die Behandlung und Versorgung in der Psychi-
Werkstätten für Behinderte atrie ist häufig von Faktoren begleitet oder be-
Werkstätten für Behinderte (WfB) kommen in Be- stimmt, die die Betroffenen nicht hinnehmen wol-
tracht, wenn aufgrund der Art und Schwere der len, wie Medikamente, Gewalt, Unverständnis etc.
Behinderung eine Beschäftigung auf dem ersten Aus diesem Grund haben sich eine Vielzahl von
Arbeitsmarkt (noch) nicht möglich ist. Psychisch Projekten gebildet, die versuchen, eine Alternative
kranke Menschen nehmen selten von der Möglich- zu den herkömmlichen Angeboten vorzuhalten.
keit der Beschäftigung in einer WfB Gebrauch, da Hierzu gehören Projekte wie das Weglaufhaus, ein
sie zusätzliche Stigmatisierung befürchten und die antipsychiatrisches Wohnprojekt in Berlin (Wehde,
Arbeitsinhalte und die mangelnde Flexibilität der 1991), oder die Nachtschwärmer, ein Nachtcafé
Arbeitszeitgestaltung als unpassend empfunden mit verschiedenen Einzel- und Gruppenangebo-
wird (Aktion Psychisch Kranke, 2004). ten für Psychiatriebetroffene in Bremen (Hellerich,
2003).
Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben Wenn Menschen als Betroffene in die Psychiatrie
Integrationsfachdienste geraten, ist es ihnen oftmals nicht möglich, ihre
Zu den Aufgaben gehören u. a. Beratung über Rechte, Interessen und Bedürfnisse gegenüber dem
Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, Beratung zum be- Personal, den sozialen Diensten, den Beratungsstel-
ruflichen Wiedereinstieg, sowie Beratung von Ar- len etc. in vollem Umfang zu vertreten. Daher be-
beitgebern und Vorgesetzten. steht in der Psychiatrie tendenziell eher die Gefahr
als in der somatischen Versorgung, dass Patienten
Berufliche Trainingszentren durch die Helfer bevormundet werden. Um diesem
Berufliche Trainingszentren sind Einrichtungen der Problem zu begegnen, wurden verschiedene Ange-
beruflichen Rehabilitation speziell für psychisch be- bote entwickelt.
hinderte Menschen. Sie richten sich an diejenigen,
die bereits eine Ausbildung bzw. Berufserfahrung Patientenfürsprecher und Beschwerde-
haben. Ziel ist die Abklärung einer realistischen be- stellen
ruflichen Perspektive und die Wiedereingliederung Patientenfürsprecher und Beschwerdestellen haben
in den allgemeinen Arbeitsmarkt. die Aufgabe, Anregungen und Beschwerden von Be-
troffenen und Angehörigen aufzunehmen, zu prü-
Berufsförderungswerke fen und zur Aufklärung oder Problemlösung beizu-
Berufsförderungswerke sind außerbetriebliche, tragen bzw. weiterführende Maßnahmen zu vermit-
überregionale Bildungseinrichtungen zur berufli- teln. Die Position der Patientenfürsprecher bzw.
chen Rehabilitation, die behinderte Menschen, die Beschwerdestellen ist z. T. gesetzlich vorgeschrieben
bereits berufstätig waren, aus- bzw. weiterbilden. und manchmal auch geringfügig entlohnt. Während
die Patientenfürsprecher oft Psychiatrieerfahrene
sind, sind die Beschwerdestellen häufig mit Be-
392 Kapitel 28 · Netzwerke und Modelle der Behandlung und Versorgung

troffenen, Angehörigen und Professionellen besetzt 28.4.3 Trialog


(Mayer, 2001).
Die Idee zu Trialoggruppen und Psychosesemina-
Arbeitskreise Nutzerinteressen/Nutzer- ren wurde von Dorothea Buck, einer Psychiatrie-
kontrolle erfahrenen und Überlebenden der Nazipsychiatrie,
Arbeitskreise Nutzerinteressen/Nutzerkontrolle und Thomas Bock, einem Psychologe an der Ham-
werden häufig im Zusammenhang mit dem Quali- burger Universitätsklinik, entwickelt.
tätsmanagement eingeführt. Sie sollen die Belange Die Grundidee ist die Begegnung von Psychi-
und Interessen der Nutzer einer Einrichtung auf- atrieerfahrenen, Angehörigen und Professionellen in
nehmen und an die Qualitätsbeauftragten oder einem hierarchiefreien Trialog. Hier können die je-
Entscheidungsträger weiterleiten. Die Arbeitskreise weiligen individuellen Erfahrungen der Beteiligten
haben in der Regel beratende Funktion. mit Psychosen in ihren unterschiedlichen Phasen,
mit ihren Begleiterscheinungen und mit ihrer Be-
Bundesverband Psychiatrieerfahrener handlung auszutauschen. Häufig haben die Psy-
Der Bundesverband Psychiatrieerfahrener ist eine choseseminare jeweils vorher festgelegte Schwer-
gemeinnützige Selbsthilfeorganisation, die zum Ziel punktthemen für die Sitzungen. Das Ziel des Trialogs
hat, Betroffene in jeder Hinsicht zu unterstützen, ist die Vermittlung eines tiefgreifenderen Verständ-
28 unabhängig davon, ob sie sich innerhalb oder außer- nisses des jeweiligen Erlebens und eine Verbesserung
halb von Institutionen befinden. Der Verband unter- der Nutzerorientierung in der Psychiatrie.
stützt Alternativen zur herkömmlichen Psychiat- Voraussetzungen für das Gelingen eines herr-
rie insbesondere Selbsthilfeprojekte und sieht seine schaftsfreien, offenen Austausches sind:
Hauptaufgabe in der Lobbyarbeit für Betroffene. Die 4 Erfahrungsaustausch an einem neutralen Ort
gleichen Anliegen werden auch von den Landesver- (Volkshochschule, Kirchengemeinde etc.).
bänden der Psychiatrieerfahrenen verfolgt. 4 Das Prinzip der »gleichen Augenhöhe« setzt vo-
raus, dass sich alle beteiligten Gruppen als Exper-
ten respektieren (Professionelle sind Experten
28.4.2 Angehörigenorganisation durch Ausbildung, Angehörige und Psychiatrie-
erfahrene sind Experten durch Erfahrung).
Die Angehörigen psychisch kranker Menschen sind 4 Alle Beteiligten sollten aus eigenem Interesse mit
auf Bundes- und Landesebene organisiert, um auf Neugier auf die Erfahrungen der anderen teil-
breiter Basis der Diskriminierung von Angehörigen nehmen.
und Patienten entgegenzuwirken, um Hoffnung und 4 Nicht nur die Betroffenen sind gefordert, von
Selbstvertrauen zu schaffen und Wege zu entwickeln, ihren Erfahrungen, Befürchtungen und Ängsten
mit einer seelischen Erkrankung besser leben zu zu berichten, sondern ebenso die Angehörigen
können. und Professionellen.
Zu den Aufgaben gehören: 4 Es muss gewährleistet sein, dass alles, was ge-
4 Einflussnahme auf relevante Gesetzgebung und sprochen wird, auch in dem Raum bleibt.
Politik,
4 Aufklärung der Gesellschaft,
4 Förderung der Vernetzung, 28.5 Kooperation
4 kritische Begleitung der Gemeindepsychiatrie,
4 Beratung von Einrichtungen und Institutionen In allen Bundesländern sind bei den Landesbehör-
zur Verbesserung der Familienorientierung in den Psychiatriereferate eingerichtet, die die Planung
der Gemeindepsychiatrie, und Koordination der Weiterentwicklung der psy-
4 Organisation von Tagungen, chiatrischen Versorgung (z. T. sind auch Suchtkran-
4 Veröffentlichungen. kenhilfe und Maßregelvollzug einbezogen) begleiten
und initiieren sollen. Auf kommunaler Ebene sind
hierfür häufig Psychiatriekoordinatoren eingesetzt.
Literatur
393 28

Zur Organisation der Kooperation und Koor- Literatur


dination sind Arbeitskreise eingerichtet. Dazu zäh- Aktion psychisch Kranke e.V. (Hrsg) (2004) Individuelle Wege
in das Arbeitsleben. Abschlussbericht zum Projekt »Be-
len:
standsaufnahme zur Rehabilitation psychisch Kranker.
4 Psychosoziale Arbeitskreise (PSAK), an denen alle Psychiatrie-Verlag, Bonn
psychiatrischen, psychotherapeutischen, psycho- Arbeitsgruppe Psychiatrie der obersten Landesbehörden (2003)
somatischen, psychologischen Beratungs-, Be- Bestandsaufnahme zu den Entwicklungen der Psychiatrie
handlungs- und Rehabilitationsdienste eines in den letzten 25 Jahren. Chemnitz [Download: www.berlin.
de/SenGesSozV/psych/doku/bericht25jpsychiatrie.pdf]
Standardversorgungsgebietes, sowie die am Ran-
Brenner HD, Jungjohan U, Pfamatter M (2000) Gemeindeinteg-
de und im Vorfeld tätigen sozialen Dienste betei- rierte Akutversorgung. Möglichkeiten und Grenzen. In: Der
ligt sind. Nervenarzt 71: 691
4 Der gemeindepsychiatrische Verbund als Zusam- Brill KE (1992) Grundrecht Wohnen – Ein Bett ist keine Woh-
menschluss von Leistungsanbietern, die für ei- nung. In: Bock T, Weigand H (Hrsg) Hand-werks-buch-Psy-
nen definierten räumlichen Sektor durch den chiatrie. Psychiatrie-Verlag, Bonn 101
Bührig M (2002) Zentralkrankenhaus Bremen-Ost: Vom Psychi-
Aufbau fachlich vernetzter Angebote die Versor- atrischen Zentrum zur Abteilungs- und Sektorversorgung.
gung psychisch kranker Menschen in allen Sta- In: Schmidt-Zadel R, Kunze H (Hrsg) Mit und ohne Bett:
dien der Erkrankung sicherstellen sollen. Mit- personenzentrierte Krankenhausbehandlung im Gemein-
glieder sind: depsychiatrischen Verbund/Aktion Psychisch Kranke. Psy-
5 das für die Region zuständige Krankenhaus/ chiatrie-Verlag, Bonn 124
Deutscher Bundestag (1975) Bericht über die Lage der Psychi-
Behandlungszentrum,
atrie in der Bundesrepublik Deutschland – Zur psychiat-
5 Träger der außerklinischen Eingliederungs- rischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen
hilfe, Versorgung der Bevölkerung. Drucksache 7/4200
5 die zuständigen Sozialpsychiatrischen Dien- Dörner K (1996) Kieselsteine, Ausgewählte Schriften. Jakob van
ste, Hoddis, Gütersloh
Dörner K, Plog U (1985) Irren ist menschlich oder Lehrbuch der
5 Betroffene und Angehörige,
Psychiatrie. Psychiatrie-Verlag, Bonn
5 ggf. öffentlicher Gesundheitsdienst, Heim S (2001) Öffnen, nicht abschaffen! Im Heim daheim sein
5 möglichst auch niedergelassene Nervenärz- (dürfen). In: Soziale Psychiatrie 93: 22
te, Pflegeeinrichtungen, Träger von berufli- Hellerich G (2003) Selbsthilfe Psychiatrie-Erfahrener. Potenziale
cher Rehabilitation. und Ressourcen. Psychiatrie-Verlag, Bonn
Hopfmüller E (2003) Das ganze System in Frage stellen … In:
Soziale Psychiatrie 100: 14
Die Kooperationspartner schließen verbindliche Jahoda M (1993) Wieviel Arbeit braucht der Mensch? Beltz,
Übereinkünfte über die Zusammenarbeit ab. Die Weinheim
erarbeiteten Ergebnisse werden regelmäßig den zu- Kruckenberg P (2002) Zielorientierte Behandlung und res-
ständigen kommunalen Gremien bzw. Landesbe- sourcenschonende Steuerung: Zum Potenzial von Steue-
hörden berichtet. rungsstandards auf der Grundlage der Psych-PV. In:
Schmidt-Zadel R, Kunze H (Hrsg) Mit und ohne Bett: perso-
nenzentrierte Krankenhausbehandlung im Gemeindepsy-
Überprüfen Sie Ihr Wissen!
chiatrischen Verbund/Aktion Psychisch Kranke. Psychia-
4 Beschreiben Sie die Prinzipien der Gemeinde- trie-Verlag, Bonn 46
psychiatrie! 7 Kap. 28.1 Kunze H (2002) Wandel durch Annäherung: Die Klinik auf dem
4 Stellen Sie die Vorteile und Probleme einer zu- Weg in die Gemeinde. In: Schmidt-Zadel R, Kunze H (Hrsg)
Mit und ohne Bett: personenzentrierte Krankenhausbe-
nehmenden Ambulantisierung der psychiatri-
handlung im Gemeindepsychiatrischen Verbund/Aktion
schen Versorgung dar! 7 Kap. 28.1 Psychisch Kranke. Psychiatrie-Verlag, Bonn 16
4 Beschreiben Sie die Kernbausteine gemein- Mayer E (2001) Nutzermitbestimmung in der psychiatrischen
depsychiatrischer Versorgung und deren wich- Arbeit – Patientenstärkung durch Teilhabe, in: Knuf A, Sei-
tigsten Aufgaben! 7 Kap. 28.2 bert U (Hrsg) Selbstbefähigung fördern. Empowerment
und psychiatrische Arbeit. Psychiatrie-Verlag, Bonn 228
4 Beschreiben Sie die verschiedenen Formen der
Mayer KU, Baltes PB (1996) Die Berliner Altersstudie. Akademie-
Nutzerbeteiligung in der Psychiatrie und verglei- Verlag, Berlin
chen Sie diese mit ihrer beruflichen Praxis! Melchinger H (1999) Ambulante Soziotherapie: Evaluation und
7 Kap. 28.4 analytische Auswertung des Modellprojektes »Ambulante
394 Kapitel 28 · Netzwerke und Modelle der Behandlung und Versorgung

Rehabilitation psychisch Kranker« der Spitzenverbände


der gesetzlichen Krankenkassen. Nomos, Baden-Baden
Morris M (2004) Modelle und Theorien der Pflege. In: Utscha-
kowski J (Hrsg) In der Gemeinde. Mit der Gemeinde! Ein
praktisch-theoretisches Handbuch, Initiative zur sozialen
Rehabilitation. Eigenverlag, Bremen
Saß H (2001) Entwicklung der psychisch-psychotherapeuti-
schen Versorgung aus der Sicht der Deutschen Gesell-
schaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie. In:
Aktion Psychisch Kranke (Hrsg) 25 Jahre Psychiatrie-En-
quete. Psychiatrie-Verlag, Bonn 69
Schernus R (2003) Barrieren überwinden. In: Soziale Psychiatrie
100: 8
Thiede H (2004) Es gilt einfallsreich, flexibel und ausdauernd
zu sein: Erste Erfahrungen bei der Umsetzung der Sozio-
therapie. In: Psychosoziale Umschau 2: 11
Wehde U (1991) Das Weglaufhaus: Zufluchtsort für Psychiatrie-
betroffene; Erfahrungen, Konzeptionen, Probleme. Leh-
mann Antipsychiatrieverlag, Berlin

28
Glossar
396 Glossar

Abhängigkeitserkrankungen charakteristisch für ambulante psychiatrische Pflege psychiatrische


eine Abhängigkeitserkrankung ist das Auftreten Pflegedienste, mit der Aufgabe stationäre Behand-
von Entzugssymptomen nach Absetzen der Sub- lung zu vermeiden oder zu verkürzen
stanz
Amnesie vollständiger oder teilweiser Gedächtnis-
Abhängigkeitspotenzial Risiko einer Abhängig- verlust, meist in Folge einer hirnorganischen Trau-
keitsentwicklung bei Substanzgebrauch bzw. Sub- matisierung oder im Rahmen einer abnormen Er-
stanzmissbrauch lebnisreaktion

Abstinenzentscheidung Entscheidung einer Per- Amygdala Mandelkern


son, zukünftig alkoholfrei zu leben
analoge Kommunikation unmittelbare Informa-
Abwehrmechanismen psychoanalytischer Begriff, tionsübermittlung
der unbewusst ablaufende Reaktionen bezeichnet,
die das »Ich« zur Abwehr unerwünschter Triebim- Angst Erregungszustand, der auf die Erwartung von
pulse des »Es« entwickelt physischer oder psychischer Bedrohung zurück-
geht
Acetylcholin ein enzymatisch reguliertes Gewebs-
hormon im menschlichen Körper Angsttraining auch Angstmanagementtraining;
Überbegriff für verschiedene verhaltenstherapeuti-
Acetylcholinesterase-Hemmer »Blocker« des Ace- sche Techniken, die zur Behandlung chronischer
tylcholinabbaus Angst eingesetzt werden

Affekt zeitlich begrenzter, mehr oder weniger span- Anpassungsprozess Prozess eines Vorgangs, der
nungsreicher, aus Einzelgefühlen zusammengesetz- als Herstellung des Gleichgewichts zwischen Indivi-
ter Zustand des Gefühlslebens duum und seiner sozialen und physikalischen Um-
welt gedeutet wird
affektive Störungen Störungen in der Stimmung;
die Betroffenen sind entweder übermäßig freudig Archetyp Urtyp
erregt oder übermäßig niedergeschlagen, ohne dass
eine organische Ursache erkennbar ist Ätiologie in der Medizin Begriff für die Ursache
einer Krankheit
Affektivität Gesamtheit der Gefühlsregungen, Stim-
mungen und des Selbstwertgefühls eines Men- Atypika Neuroleptika der zweiten Generation, die
schen praktisch kein Parkinsonid auslösen

agitiert unruhig Aufmerksamkeit Tatsache, dass Menschen Informa-


tionen gezielt auswählen, ihre geistige Anstrengung
Akathesie Bewegungsunruhe unter einer Zielsetzung bündeln und nicht Dazuge-
höriges außer Acht lassen
Aktionismus betriebsames, unreflektiertes, oft ziel-
loses Handeln ohne Konzept Aura von bestimmten Sinnesempfindungen beglei-
tetes Gefühl vor epileptischen Anfällen
Altruismus Eigenschaft der Uneigennützigkeit oder
Selbstlosigkeit Authentizität eine als authentisch bezeichnete Per-
son wirkt besonders echt, das heißt, sie vermittelt
Ambivalenz Unfähigkeit, sich zwischen zwei oder ein Bild von sich, das beim Betrachter als real, unver-
mehreren Möglichkeiten zu unterscheiden bogen, ungekünstelt wahrgenommen wird
397
Glossar

Autismus beeinträchtigte Entwicklung im Bereich Bewusstsein bezeichnet die Gesamtheit und den
der sozialen Interaktion Ausdruck aller unserer gegenwärtigen psychischen
Vorgänge; es beschreibt die Fähigkeit, sich mittels,
aversiv Abwehr hervorrufend Beobachtung, Urteil und Verhalten im Vergleich zu
seiner Umwelt zu erleben
Axiom eine eindeutige Aussage (als wahr angenom-
mener Grundsatz), der nicht gesondert begründet Bewusstseinseinengung bei der Bewusstseinsein-
werden muss bzw. kann engung ist das Denken und Handeln des Patienten
verlangsamt und die Orientierung eingeschränkt
Bedarfsgemeinschaft Gemeinschaft derer, deren
Bedarf gemeinsam ermittelt wird Bewusstseinskontext kann durch eine Kombination
dreier Sachverhalte beschrieben werden: 1. die Infor-
Bedeutsamkeit von Antonovsky definierte Teil- mation, die der Patient über die Möglichkeit seines
komponente des Konzepts Kohärenzgefühl bevorstehenden Todes vom Personal erhält, 2. das
Bewusstsein des Patienten darüber, dass er mögli-
Benchmarking Ergebnisse, Strukturen und Prozesse cherweise bald sterben wird, 3. die Tatsache, dass der
werden mit verwandten Unternehmen verglichen; Patient sein Wissen gegenüber dem Personal offen-
Ziel ist die Suche nach den besten Vorgehensweisen bart
und das Lernen daraus; beim internen Benchmar-
king findet der Vergleich unter Abteilungen einer Bewusstseinsstörungen, qualitative Veränderun-
Organisation statt gen der Bewusstseinsinhalte und der Art und Weise
des Erlebens
Benzodiazepine am weitesten verbreitete Substan-
zen aus der Wirkgruppe der Tranquilizer; Einsatz als Bewusstseinsstörungen, quantitative graduelle
Beruhigungsmittel, Ein- oder Durchschlafhilfe und Abstufung der Bewusstseinshelligkeit
Angstlöser; es besteht die Gefahr der Suchtbildung
Biographiearbeit das Sammeln und Zusammenfü-
Best Practices durch ausgesprochen bewährte Me- gen von Puzzleteilen aus dem sich allmählich auflö-
thoden und Verfahren (Managementverfahren, kos- senden Bild der Lebensgeschichte, sodass der Kran-
tengünstige Technologien u.a.) wird ein Unterneh- ke nicht mehr als unbeschriebenes Blatt erscheint
men für andere zum Musterbetrieb
Burn-out-Syndrom Zustände emotionaler, geistiger
Betreutes Wohnen rehabilitatives Angebot zur Ver- und körperlicher Erschöpfung als Folge von lang
meidung von Heimaufenthalten und Integration in anhaltendem Stress und Frustration, ohne dass
die Gemeinde Möglichkeiten erkannt werden, dazu auf Abstand
zu gehen
Betreuung gesetzliche Vertretung eines Volljähri-
gen, der aufgrund von Krankheit oder Behinderung Chronifizierung Bestehen leichter oder schwerer
seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht Symptome, eingeschränkte Kompetenzen
mehr besorgen kann
Co-Abhängigkeit Verhaltensweisen des Umfeldes
Bewältigungsstil Art der Krankheitsbewältigung (Familie, Kollegen, Helfer) die geeignet sind, die
Suchterkrankung eines Menschen zu stabilisieren
Bewusstlosigkeit Fortfall jeglicher Möglichkeiten bzw. zu verlängern
des Erlebens und Handelns im Umwelt-, Körper-
und Selbstbezug Compliance Absprachefähigkeit/Absprachebereit-
schaft, z. B. zuverlässige Medikamenteneinnahme,
Einhalten von Terminen zur Therapie
398 Glossar

Coping Bewältigungsmechanismen und Strategien dissoziativer Stupor psychischer und körperlicher


im Umgang mit Anforderungen, Belastung und Erstarrungszustand, bei dem jegliche psychische
Krankheit oder körperliche Aktivität fehlt

Déjà-vu-Erlebnisse Form der Erinnerungstäuschung, dissoziiert/dissoziativ Trennung von Bewusstsein


bei der die Überzeugung besteht, eine momentane und Denkfunktionen
Situation schon einmal gesehen oder erlebt zu haben
Doppelbindung die Doppelbindungstheorie wur-
delinquent verbrecherisch de im Zusammenhang mit der Erforschung schizo-
phrener Erkrankungen entwickelt; sie beschreibt
Delir unspezifische Funktionsstörung des Gehirns die lähmende, weil doppelte Bindung eines Men-
mit fluktuierender Bewusstseinslage, Desorientiert- schen an eine paradoxe Botschaft, die sich mit
heit und ggf. Wahrnehmungsstörungen widersprechenden Handlungsaufforderungen auf
unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation
demenzielles Syndrom erworbene Gedächtnis- (Inhaltsebene/Beziehungsebene) an ihn richtet
störung mit Beeinträchtigung der Aktivitäten des
täglichen Lebens (mindestens 6 Monate bestehend) Drehtürpsychiatrie wiederholte Aufenthalte in einer
psychiatrischen Klinik innerhalb kurzer Zeit
Denken geistige Tätigkeit, die darauf ausgerichtet ist,
Bedeutungen zu erkennen und Beziehungen herzu- DRGs Diagnosis related Groups/Fallpauschalen;
stellen; gemeint ist eine Form der Informationsver- jeder Patient wird genau einer DRG (Fallgruppe)
arbeitung, die alle Vorgänge zusammenfasst, die aus zugeordnet; wesentliche Faktoren zur Eingruppie-
einer aktiven inneren Beschäftigung mit Vorstellun- rung sind Alter, Geschlecht, Haupt- und Nebendia-
gen, Erinnerungen und Begriffen eine Erkenntnis zu gnose sowie durchgeführte Prozeduren
formen suchen
dysfunktionale Familie in ihrer Interaktion und
Depression gedrückte, pessimistische, hoffnungs- Kommunikation gestörte Familie
lose und niedergeschlagene Stimmungslage; hinzu
kommen häufig Antriebsminderung, Angst, Selbst- Eigenes eine Kultur oder Lebensweise wird dann als
tötungsneigung und ein vermindertes Selbstwertge- »eigene« bezeichnet, wenn die Kontextbedingungen
fühl; in seiner stärksten Ausprägung kommt es zu ein Routinehandeln im Alltag ermöglichen, das für
einem Gefühl der inneren Leere, einem Gefühl der alle beteiligten durch Plausibilität, Sinnhaftigkeit
»Gefühllosigkeit« und »Normalität« charakterisiert ist

Desorientiertheit Zustand, bei der ein Patient ver- Einwilligungsfähigkeit der Einwilligende muss auf-
wirrt ist hinsichtlich der Zeit, des Ortes und/oder grund seiner natürlichen Einsichts- und Urteils-
der eigenen Identität oder auch der Identität anderer fähigkeit die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs
Personen oder Objekte; kann vorübergehend oder in erkennen können
schweren Fällen permanent auftreten
Ejaculatio praecox Form der sexuellen Störung des
dialogisch in wechselseitiger Beziehung stehend Mannes, die zu einem vorzeitigen Samenerguss
während des Geschlechtsverkehrs führt
digitale Kommunikation Kommunikation über
»Symbole« (z. B. Sprache); der Sinn einer Mitteilung Elektrokrampftherapie Herbeiführen eines Krampf-
wird z. B. in Worte gefasst und bedarf zum Verständ- anfalles durch einen Stromstoß
nis einer Rückübersetzung
399
Glossar

Emotion Reaktion des gesamten Organismus, die Fassadenverhalten Versuche, durch bestimmte Ver-
bewusstes Erleben, Ausdrucksverhalten und die haltensweisen, psychische und physische Beein-
physiologische Erregung beinhaltet trächtigungen vor der Umwelt zu kaschieren

Empathie Einfühlungsvermögen; damit gemeint flash back traumabezogenes Erinnerungsbild, das


ist die Fähigkeit des sich Hineinversetzens (der Iden- als real empfunden wird
tifikation) in eine andere Person, deren Gefühle zu
teilen und ihr Verhalten nachzuvollziehen floride Phase akute, spezifisch psychotische Krank-
heitsphase
endogen von innen kommend und nicht von außen
zugeführt fokussieren Auswählen eines Aspektes und dabei
bleiben
Enkodieren Verarbeitung von Informationen zur
Eingabe in ein Gedächtnissystem Freiheitsberaubung einen Menschen daran hin-
dern, sich frei fortzubewegen
Entziehungsanstalt Einrichtung, in der suchtmittel-
abhängige Straftäter nach § 64 StGB untergebracht fremd die Bezeichnung weist auf den Bezug zum
werden Standpunkt des Betrachters hin, da ohne das Eigene
es auch das Fremde nicht geben würde
Enzephalopathie Sammelbegriff für krankhafte
Veränderungen des Gehirns Frühdyskinesie unwillkürliche Muskelbewegungen
zu Beginn der Medikamenteneinstellung, bei Abset-
Episode vorübergehende, völlig rückbildungsfähige zen der Medikamente reversibel
Phase einer psychischen Störung
GAF-Skala Skala zur Einschätzung des psychosozia-
Erstmanifestation Ersterkrankung/Erstdiagnose len Funktionsniveaus eines psychisch erkrankten
Menschen
Essstörungen Essstörungen lassen sich als Fehl-
regulationen der Impulskontrolle beschreiben; ent- Gamma-Alkoholismus Form der Alkoholkrankheit,
weder wird dem Essdrang zügel- und hilflos nachge- deren zentrales Merkmal der Kontrollverlust ist
geben oder durch ein Übermaß an Kontrolle werden
Gefühle von Euphorie und Macht erzeugt. Gedächtnis Fähigkeit des Menschen, Informatio-
nen aufzunehmen, zu speichern und wiederzu-
Evaluationsforschung Gegenstand definieren (was), geben
Bewertungskriterien identifizieren (was bewerten),
Akteure benennen (wer), Evaluationsdesign entwi- Gegenübertragung Form der Übertragung, bei
ckeln (wie bewerten) der eine Person auf die aus den Übertragungsphä-
nomenen einer anderen Person hervorgehenden
explizit ausdrücklich, deutlich, klar; ausführlich und Handlungen und Äußerungen reagiert und ihrer-
differenziert seits ihre eigenen Gefühle, Vorurteile, Erwartungen
und Wünsche auf diese lenkt und entsprechend
externale Kontrollüberzeugung Überzeugung, dass handelt
das eigene Schicksal vom Zufall oder von anderen
Personen bedingt ist generalisierte Widerstandsressourcen von Anto-
novsky beschriebenes allgemeines Repertoire an
extramural außerhalb stationärer psychiatrischer Strategien zur Bewältigung unterschiedlichster He-
Institutionen rausforderungen
400 Glossar

Gestaltpsychologie Gestaltpsychologie betrachtet Helfersyndrom schädliches und unprofessionelles


das Erleben (vor allem in der Wahrnehmung) als Helfen, das geprägt ist von Aufopferung für den Pa-
eine »Ganzheit«, die auf einer bestimmten Anord- tienten und von Vernachlässigung eigener Bedürf-
nung der ihr zugrunde liegenden Gegebenheiten nisse
beruht
Heterogenität Uneinheitlichkeit
Gesundheitsbewusstsein subjektive Vorstellungen
und Überzeugungen bezüglich Gesundheit, die das Hospitalismus körperliche und seelische Störungen,
gesundheitsbezogene Verhalten beeinflussen die durch einen längeren stationären Aufenthalt her-
vorgerufen werden
Gesundheitshandeln subjektives, bewusstes und
zielgerichtetes Handeln im Sinne eines fürsorglichen Humanistische Psychologie die Humanistische
Umgangs mit sich selbst und der eigenen Gesund- Psychologie versteht sich als dritte Kraft neben der
heit Psychoanalyse und dem Behaviorismus

Gesundheits-Krankheits-Kontinuum Gesundheit hyperarousal übermäßige Erregung


und Krankheit, verstanden als entgegengesetzte Pole
eines multidimensionalen Kontinuums Hypersensitivität Überempfindlichkeit

Grounded Theory gegenstandsbezogene Theorie- hyperventilieren gesteigerte Atmung im Verhältnis


generierung (das Prinzip des theoretischen Samp- zum eigentlich erforderlichen Gasaustausch des
lings), d. h. Entwicklung einer Theorie auf der Basis Körpers; kann psychogen verursacht sein
empirischer Daten; eine Methodologie und ein
Stil, analytisch über soziale Phänomene nachzu- Hypoxie Sauerstoffmangel im Blut oder im Gewebe
denken von Organismen

Grundsicherung für Arbeitssuchende Oberbegriff ICD internationales Klassifikationssystem für orga-


für alle Leistungen des SGB II nische Erkrankungen und psychische Störungen

Gruppe Anordnung von mehr als zwei Menschen, Ideenflucht starke Beschleunigung des Gedanken-
die miteinander interagieren, ein gemeinsames Ziel ablaufs; die Gedanken unterliegen keiner Kontrolle
verfolgen und sich als »Wir« wahrnehmen mehr; das Denken ist sprunghaft, flüchtig und dau-
ernd unterbrochen, es ist geprägt von Oberflächlich-
Gutachten wird von einem in der Psychiatrie erfah- keit und ständig wechselnder Zielrichtung
renen Arzt oder Psychologen erstellt
Identifikation Vorgang, sich in einen anderen Men-
Handhabbarkeit von Antonovsky definierte Teil- schen einzufühlen; es kommt zu einem Prozess, in
komponente des Konzepts Kohärenzgefühl dessen Verlauf sich ein Individuum durch emotiona-
le Bindung mehr oder weniger unbewusst in Men-
Handlungsautonomie Möglichkeit, innerhalb eines schen hineinversetzt, um deren Handeln oder Den-
vereinbarten Rahmens, nach eigenem Wunsch und ken in Teilen zu übernehmen oder sich vorzustellen
Ermessen, aufgrund seiner erworbenen Fähigkeiten,
eigenverantwortlich zu handeln Identifizierung sich mit einem anderen gleich set-
zen
Helferhaltung Haltung des Helfers die darauf ausge-
richtet ist, dem Hilfeempfänger zu Wachstum und Identität eine auf relative Konstanz von Einstellun-
Autonomie zu verhelfen gen und Verhaltenszielen beruhende, relativ über-
dauernde Einheit in der Betrachtung seiner selbst
401
Glossar

oder anderer; Bezeichnung für eine größtmögliche Interrollenkonflikte im Widerspruch befindliche


Übereinstimmung zweier unterscheidbarer Größen Erwartungen an eine unterschiedliche Rollen aus-
kleidende Person
Image das innere Bild, das sich eine Person z. B. von
einer Organisation macht; Synonyme sind das Anse- Katatonie ausgeprägte Störung der Willkürmotorik,
hen, das Renommee oder der Ruf im Sinne einer Bewegungsstarre als katatoner Stu-
por
implizit mit enthalten (ohne ausdrücklich gesagt zu
sein), logisch zu erschließen Kings Pflegemodell 1. die systemtheoretischen
Grundlagen und 2. die Theorie der Zielerreichung
inkohärent unzusammenhängend
Klassifikation psychische Phänomene werden in
inkongruent nicht übereinstimmend, sich nicht Klassen eingeteilt, um eine systematische und kom-
deckend munizierbare Ordnung zu schaffen; eine Klasse
bezeichnet die Gesamtheit von Elementen mit ge-
Institutsambulanz ambulantes Angebot psychiatri- meinsamen Merkmalen; eine Diagnose ist die Zu-
scher Kliniken für Menschen, die den stationären ordnung eines einzelnen Phänomens oder Falls zu
Rahmen nicht brauchen, aber aufgrund der Art, einer Klasse; Klassifikationssysteme sollten umfas-
Schwere und Dauer der Erkrankung von niederge- send, ökonomisch, reliabel und valide sein; gängige
lassenen Nervenärzten nicht angemessen versorgt Klassifikationssysteme sind z. B. ICD-10 oder das
werden können AMDP-System

Integrationsfachdienst Beratungsangebot zur be- Klassische Konditionierung von Pawlow beschrie-


ruflichen Integration bener Lernmechanismus, bei der ein Organismus
Reize koppelt; ein neutraler Reiz wird durch wieder-
integrierte Behandlung und Versorgung Koopera- holte Darbietung mit einem unkonditionierten Reiz,
tion und Verzahnung der unterschiedlichen ambu- auf den eine Reflexreaktion folgt, verbunden; da-
lanten, teilstationären und stationären Versorgungs- nach löst der ursprünglich neutrale Reiz allein die
angebote Reaktion (ursprünglich Reflexreaktion) aus

Interaktion das Handeln der Menschen untereinan- Kohärenzgefühl zentrales Konzept innerhalb des
der, z. B. miteinander sprechen Salutogenesemodells von Antonovsky: tief veran-
kerte Überzeugung, dem Leben und sich selbst ver-
interdependent voneinander abhängend trauen zu können

Interdisziplinarität gemeinsames Denken aller am Koma Zustand der tiefen Bewusstlosigkeit mit Er-
Team beteiligten Berufsgruppen, also das Entstehen löschen der Eigen- und Fremdreflexe
einer ganzheitlichen Anschauung durch die Ver-
schmelzung der verschiedenen Wahrnehmungsas- Komorbidität Begleiterkrankung, die zu einer hö-
pekte heren Fallschwere führen kann

internale Kontrollüberzeugung die Überzeugung, komplementär Verhältnis zweier sich gegenseitig


dass man das eigene Schicksal bestimmen kann ausschließender, sich aber ergänzender Begriffe
(z. B. männlich/weiblich); vollstationäre Angebote
interpersonal zwischen zwei od. mehreren Perso- ergänzende, in der Regel rehabilitative Angebote
nen (ablaufend)
Konditionierung Aufbau von psychischen und or-
ganischen Bedingungen für Reaktionen
402 Glossar

Konfabulation Bezeichnung für eine Variation der Krise besonderes Missverhältnis zwischen der äuße-
Unwahrheit, ohne die bewusste Absicht der Lüge ren Situation und den inneren Bewältigungsmög-
lichkeiten eines Menschen
Konflikt Folge von wahrgenommenen Differenzen,
die gegenseitig im Widerspruch stehen und eine Lö- Kultur es gibt keinen allgemein gültigen Kulturbe-
sung erfordern; intrapersoneller Zustand von nach griff; jede Beschreibung von Kultur ist stets auch
Lösung drängender Spannung, der durch gleichzei- selbst eine Beschreibung des gesellschaftlichen Kon-
tig auftretende sich widersprechende Bedürfnisse, textes, vor dem dieser begriff erklärt wird; Kultur
Absichten, Motive und Ereignisse ausgelöst wird wird von THOMAS verstanden als ein Orientie-
rungssystem, das aus spezifischen Symbolen wie
kongruent deckungsgleich; die Kongruenz ist eine Sprache, Gestik, Mimik, Kleidung, Ritualen usw. be-
strengere Form der Ähnlichkeit steht und in der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe
weitergegeben wird; das Orientierungssystem defi-
Kontinuum etwas Dauerndes, Durchgängiges, ohne niert für alle Mitglieder die Zugehörigkeit zur Grup-
Unterbrechung pe und beeinflusst das Wahrnehmen, Denken, Wer-
ten und Handeln aller
Konzentration Fähigkeit, eine Aufgabe über einen
definierten Zeitraum sorgfältig und zügig auszu- Kundenzufriedenheit sieht der Kunde seine Erwar-
führen tungen an eine Leistung als erfüllt, ist er zufrieden;
die Kundenzufriedenheit dient als Indikator für die
körperliche Misshandlung übles, unangemessenes Qualität von Kundenbindungsmaßnahmen und
Behandeln, durch die das Opfer in seinem körperli- Qualitätsmanagement.
chen Wohlbefinden nicht unerheblich beeinträch-
tigt wird Kurzzeitgedächtnis Gedächtnis, das Informationen
für kurze Zeit festhält, mit dem Zweck der späteren
Krankheitsbewältigung das Bemühen, Belastungen Speicherung oder des Vergessens
durch eine Krankheit innerpsychisch oder durch
zielgerichtetes Handeln aufzufangen, auszugleichen Langzeitgedächtnis relativ zeitüberdauernder Spei-
oder zu verarbeiten cher des Gedächtnissystems

Krankheitsmodell, biomedizinisches seit Beginn Legasthenie unterdurchschnittliche Fähigkeit, Le-


des 19. Jahrhunderts vorherrschendes, naturwissen- sen zu lernen bei mindestens durchschnittlicher
schaft lich geprägtes Modell, das Krankheit als Stö- Intelligenz
rung eines maschinell funktionierenden Organismus
beschreibt und entsprechend Defekte auf biologi- leichte kognitive Störung leichte Gedächtnisstö-
scher bzw. physikalischer Ebene zu beheben ver- rung ohne Beeinträchtigung der Aktivitäten des täg-
sucht lichen Lebens

Krankheitsmodell, biopsychosoziales Krankheits- Lern- und Konditionierungsprozess ein Lernpro-


modell des Sozialmediziners und Psychiaters G. L. zess bezeichnet eine relativ dauerhafte Veränderung
Engel, das neben biologischen auch psychologische von Reaktionen im Verhalten und Erleben; bei Kon-
und soziale Krankheitsfaktoren berücksichtigt ditionierungsprozessen handelt es sich um einen
bestimmten Lernprozess, bei dem erlernt wird, dass
Krankheitswert eine Störung erlangt Krankheits- bestimmte Reize verantwortlich sind für die Auslö-
wert, wenn die betroffene Person deutlich unter der sung bestimmter Verhaltensweisen
Symptomatik leidet und/oder durch die Symptoma-
tik eine Leistungseinschränkung in einem oder lern- und verhaltenspsychologische Theorie Grund-
mehreren Funktionsbereichen erfährt lage für die Verhaltenstherapie; sie erklären Lern-
403
Glossar

prozesse und Anpassungsprozesse des Menschen an Milieu Beschreibt die Umwelt, in der ein Individuum
seine soziale und materielle Umwelt; allen Lern- aufwächst; dazu gehören äußere Umgebungsfakto-
theorien ist gemein, dass sie die empirischen Zu- ren sowie Normen, Gesetze, Bildung und Wertvor-
sammenhänge zwischen Reizen und Reaktionen stellungen; Sinus Milieu: aus der Marktforschung
beschreiben kommender Begriff für die Zusammenfassung von
Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und
Lernen Erfahrungen führen zu dauerhaften Verän- Lebensweise ähneln
derungen im Wissen, dem Verhalten oder in den
Überzeugungen einer Person Milieugestaltung man unterscheidet zwischen ei-
nem globalen und einem individuellen Milieu; das
linear-deterministischer Prozess Prozess, der da- globale Milieu orientiert sich an den jeweiligen Zeit-
durch gekennzeichnet ist, dass alle Einflüsse in ein- umständen, das individuelle Milieu ist am Einzel-
deutigen und wechselseitigen Abhängigkeiten beste- schicksal des Bewohners orientiert; grundsätzlich
hen; im Gegensatz zu zirkulär-chaotischen Prozes- gilt für die Gestaltung beider Milieus das Normali-
sen erlauben linear-deterministische eindeutige sierungsprinzip
Vorhersagen
Modelllernen Beobachten und Nachahmen eines
Manie Bezeichnung für ein Zustandsbild, das durch Verhaltens von anderen Personen
das Vorherrschen einer unbegründet heiteren, Stim-
mungslage und einem gesteigerten körperlichen monoepisodisch einmaliges Auftreten einer psychi-
Antrieb gekennzeichnet ist; Steigerung bis hin zu schen Krankheit mit vollständiger Heilung
enthemmter Fröhlichkeit und raschem Wechsel zu
Zorn und Tobsucht ist möglich Motivation aktivierende Prozesse, die für ein Ver-
halten bestimmend sind
manifest eine Störung wird manifest, wenn sie er-
kennbar oder sichtbar wird motorisch zum Bewegungsapparat gehörig

Maßregelvollzugsgesetz (MRVG) ein Ländergesetz; Multidisziplinarität Beteiligung von Berufsgruppen


regelt die Unterbringung zur Besserung und Siche- verschiedener Fachrichtungen bei der Bewältigung
rung von Straftätern in einem psychiatrischen Kran- einer bestimmten Aufgabenstellung mit ihren jewei-
kenhaus oder einer Entziehungsanstalt ligen Methoden

MDC Major Diagnostic Category/Hauptdiagnose- multimodal viele Techniken gleichzeitig einsetzend


gruppe; eine grobe Einteilung einer Erkrankung, die
sich in der Regel an den Körperregionen orientiert multiple Situationsphobie andere Bezeichnung
für Agoraphobie; Ängste vor einer Vielzahl von Situ-
Mediation Verfahren zur Regelung von Konflikten ationen, die entweder vermieden oder nur mit gro-
in Familie, Partnerschaft, Schule, Politik und Um- ßem Unbehagen ertragen werden können
welt sowie in Wirtschaftsunternehmen bzw. Organi-
sationen narratives Interview Erfassung der Erfahrungsbil-
dung im Alltag geprägt durch den Einfluss der Phä-
Metaparadigma der Pflege Person, Umgebung, Ge- nomenologischen Soziologie sowie den Symboli-
sundheit und Pflege schen Interaktionismus

MI Motivation Interviewing (nach Miller/Rollnick); Narzisst Mensch, der nur auf sich selbst bezogen
direktives klientenzentriertes Beratungskonzept zur ist
Lösung ambivalenter Einstellungen gegenüber Ver-
haltensänderungen
404 Glossar

Neologismen Bezeichnung für Wortneuschöpfun- Personalentwicklung alle qualifizierenden Maß-


gen bzw. für den Gebrauch von Wörtern in nicht nahmen, mithilfe derer die individuellen Fähigkei-
üblichem Zustand ten der Mitarbeiter in ihrem derzeitigen oder zu-
künftigen Arbeitsbereich gefördert werden sollen
neurotische Störungen psychisch bedingte Störun-
gen, für die keine nachweisbare organische Verursa- Personen-Rollen-Konflikt diese Art von Konflikt
chung vorliegt und man vielmehr davon ausgeht, liegt dann vor, wenn die Aufgabe mit den Werten,
dass diese Störungen lebensgeschichtlich bedingt Motiven und Einstellungen des Rollenträgers unver-
sind einbar zu sein scheint; das heißt, dass die Rollener-
wartungen des Systems nicht mit den eigenen Wer-
Nootropika Arzneimittel, denen eine günstige Be- ten in Einklang zu bringen sind
einflussung auf die Hirnfunktionen zugeschrieben
wird Persönlichkeitsstörung tief verwurzeltes Fehlver-
halten mit entsprechenden zwischenmenschlichen
Nosologie Klassifizierung von Erkrankungen bzw. und gesellschaftlichen Konflikten; die – zumeist
Störungen auf der Grundlage systematischer Be- »unreifen« – Persönlichkeitszüge sind unflexibel
schreibungen von Symptomen und Verlaufsmerk- und unangepasst
malen
Perspektivenübernahme den Blickwinkel eines An-
Objektivität Ergebnis z. B. eines Tests ist unabhän- deren einnehmen können
gig vom Testanwender
Pflichtversicherungsgrenze Jahresarbeitsentgelt-
operante Konditionierung Lernmechanismus, nach grenze, wird jährlich neu festgelegt
dem ein Verhalten zunimmt, wenn es belohnt wird
und abnimmt, falls es bestraft oder nicht belohnt Phasenprophylaktika Medikamente, welche die
wird Stimmung stabil halten – manische und depressive
Phasen möglichst verhindern
oppositionell sich entgegenstellend; aufsässig
Phobie das Beziehen von Ängsten auf bestimmte
Orems Pflegemodell 1. die Theorie der Selbstpflege, Situationen oder Objekte
2. Theorie des Selbstpflege-Defizits und 3. das Pfle-
gesystem postakute Phase nach Abklingen der akuten Krank-
heitsphase, Weiterbestehen der Negativsymptome
Orientierung Wissen um die Zeit, den Ort, die Situ-
ation und die eigene Person posttraumatisch nach einem traumatischen Er-
lebnis
paranoid übertriebene Empfindlichkeit gegenüber
Zurückweisung, Nachtragen von Kränkungen, Pragmatik eine linguistische Disziplin, die sprach-
durch Misstrauen, sowie Neigung, Erlebtes zu ver- liches Handeln und die Verwendung von Sprache
drehen oder schicksalhafte Ereignisse persönlich zu erforscht; Sprache wird nicht als ein System von
nehmen; neutrale und freundliche Handlungen an- Zeichen verstanden, sondern es wird untersucht,
derer werden als feindlich oder verächtlich missdeu- wie und zu welchen Zwecken Sprache gebraucht
tet: auf unberechtigten Verdächtigungen und auf wird
eigenen Rechten wird starrsinnig und streitsüchtig
bestanden; Reaktionen reichen von hilfloser Resig- präoperativ vor der Handlung
nation bis hin zu kämpferischer Wut
Prodromalphase nicht psychotische Dekompensa-
pathologisch zum Leiden gehörig, krankhaft tionsphase
405
Glossar

Prognose Aussage über den wahrscheinlichen Ver- Psychologie Wissenschaft vom Erleben und Verhal-
lauf einer Störung ten des Menschen

Projektion gilt in der Psychoanalyse als Abwehrme- psychosomatisch bedeutet, dass unverarbeitete see-
chanismus; tabuisierte Gefühle und Triebimpulse lische Konflikte und psychische Belastungen, wie
werden, zur Abwehr eigener Schuldgefühle, auf an- z. B. längerfristige Auseinandersetzungen mit unlös-
dere Personen oder Dinge übertragen bar erscheinenden Konflikten oder Lebensfragen
sich in Form körperlicher Beeinträchtigungen oder
Projektionsfläche Person oder Gegenstand, in die Erkrankungen ausdrücken
Gefühle, Eigenschaften und Wünsche einer anderen
Person durch diese hineingelesen werden psychosoziale Funktionen erworbene und ange-
borene psychische und physische Fähigkeiten, mit
Pseudologia Phantastica Auffüllen von Erinnerun- seiner Umwelt in Beziehung zu treten
gen durch Hinzudichten und freies Erfinden; häufig
ist es so, dass die Grenze zwischen tatsächlich Erleb- psychotrop auf die Empfindungen und Gefühle
tem und Erfundenem sowohl für Außenstehende als wirkend
auch für den Patienten selber verschwimmt
Regressionen allgemeine Bezeichnung für Rückgriff
Psychiatrieenquete Bericht der Expertenkommis- auf ein früheres Entwicklungsstadium; in der Psy-
sion der Bundesregierung zur Lage der Psychiatrie choanalyse beschriebener Abwehrmechanismus,
in der Bundesrepublik Deutschland der das unbewusste Wiederauftreten von in der Ent-
wicklung bereits durchlaufener Phasen oder Stadien
psychodynamisch Auswirkungen innerseelischer meint, entweder um einer belastenden Situation
Prozesse auf das Erleben und Verhalten des Men- auszuweichen oder zwecks Schutz vor seelischen
schen; Psychodynamik beschreibt die Auswirkun- Konflikten
gen seelischer Prozesse auf das Bewusstsein und das
Unterbewusstsein Reiz Stimulus; ein Reiz löst nach dem Verständnis
klassischer Lern- und Konditionierungstheorien ein
psychodynamische und psychoanalytische Theori- Verhalten bzw. eine Reaktion aus
en befassen sich mit den Auswirkungen unbewuss-
ter psychischer Prozesse auf das Fühlen, Denken Relativgewicht das Relativgewicht drückt den
und Handeln; die Psychoanalyse ist eine durch Sig- Schweregrad der Erkrankung zu einem definierten
mund Freud begründete Methode für die Therapie Zustand aus
psychischer Störungen; im Rahmen der Therapie
wird versucht, Widerstände, Übertragungen sowie Reliabilität Maß für die Zuverlässigkeit von Daten
verdrängte Konflikte des Patienten durch Deutung bei Wiederholung eines Tests
offen zulegen und damit aufzulösen
Repräsentation (psychische) Vorstellung anstelle
Psychoedukation Informierung und Anleitung von eines wirklichen Ereignisses
Patienten und Angehörigen, um ein besseres Ver-
ständnis für die Krankheit, die Behandlung und den Resilienz Schutz-/Widerstandsfähigkeit
selbstverantwortlichen Umgang zu fördern und
Krankheitsbewältigung zu verbessern respondent direkt bewirkte Konditionierung durch
einen Reiz
Psycho-Instanzen-Modell Drei-Instanzen-Modell;
Freuds Theorie zufolge setzt sich die Struktur der Ressourcen körperliche/psychische Kräfte, die mo-
Psyche eines Menschen aus drei Teilen (Instanzen) bilisiert werden können, um den Genesungsprozess
zusammen, dem Es, dem Ich und dem Über-Ich zu fördern
406 Glossar

rigide rigides Verhalten bezeichnet auf wenige halten und in sich gekehrte Zurückhaltung auszeich-
Handlungsalternativen eingeengtes Verhalten mit net; Menschen mit dieser Persönlichkeitsstruktur
wenig oder keinen Freiheitsgraden verfügen nur über ein begrenztes Vermögen, Gefüh-
le auszudrücken und Freude zu erleben
Rolle Die Summe der Erwartungen und Ansprüche
einer Gruppe oder der gesamten Gesellschaft an das Schlafstörungen liegen dann vor, wenn die persön-
Verhalten und das äußere Erscheinungsbild eines liche Schlaf-Wach-Zeit nicht mit den sozialen Zeit-
Inhabers einer sozialen Position gebern übereinstimmt; dadurch ausgelöst werden
Befindlichkeitsstörungen und Übermüdung
Rollenambiguität liegt vor, wenn die Ausfüllung
der Arbeitsrolle nicht erfolgen kann, weil die not- Schritte der qualitativen Forschung es gilt das Prin-
wendigen Informationen zur Durchführung der zip der Abstraktion: von der sozialen Realität – All-
Tätigkeit nicht vorhanden sind oder unklar defi- tagsbegriff – Theorieentwicklung und -prüfung –
niert wurden zum theoretischen Begriff

Rollendistanz Fähigkeit, Normen oder Rollener- Schritte der quantitativen Forschung es gilt das
wartungen wahrzunehmen, sie zu interpretieren Prinzip der Konkretion: von der Theorie – Hypothe-
und mit ihnen reflektierend so umzugehen, dass die se – theoretischer Begriff – Operationalisierung –
eigenen Bedürfnisse in die Interaktion eingebracht zur sozialen Realität
werden können
Schub oftmals stufenförmig in ungleichmäßigen
Rollenidentifikation Bindung an eine Rolle durch Sprüngen fortschreitender Krankheitsverlauf
Verinnerlichung der Rollenerwartungen; dabei ent-
sprechen sich die vorgeschriebenen Verhaltensnor- Sektorisierung Organisation der gesamten psychia-
men und die eigene Bedürfnislage trischen Versorgung nach festgelegten Versorgungs-
regionen
Rollenkonflikt ein Rollenkonflikt liegt dann vor,
wenn sich die Erwartungen an den Rolleninhaber sensorisch zu den Sinnen gehörig
widersprechen oder nicht miteinander zu vereinba-
ren scheinen Sexualstörungen anhaltende und wiederkehrende
Beeinträchtigung des Sexualverhaltens sowie Stö-
Rückzugsräume Übernachtungsangebote für Klien- rung der Geschlechtsidentität mit der Verursachung
ten außerhalb von Krankenhäusern zur Kriseninter- von Leiden
vention, in denen nicht Behandlung, sondern sozia-
le Entlastung im Vordergrund steht Sicherheitsfachkräfte arbeiten in Maßregelvoll-
zugseinrichtungen; ihre Tätigkeit ergibt sich aus
Salutogenese wissenschaftliches Konzept des Me- dem MRVG
dizinsoziologen Aaron Antonovsky, das die Frage
nach den Wirkfaktoren für die Erhaltung von Ge- SOC-Skala von Antonovsky erarbeiteter Fragebogen
sundheit zu beantworten sucht zur Messung des Kohärenzgefühls

Schädigung an der Gesundheit Hervorrufen oder Somnolenz Zustand der Benommenheit; die Betrof-
Steigern eines krankhaften Zustandes fenen wirken apathisch und schläfrig

schizoid Charakterisierung eines bestimmten Per- Sopor tiefschlafähnlicher Zustand; eine Weckbar-
sönlichkeitstypus, der sich durch einen Rückzug von keit ist nicht mehr möglich
affektiven, sozialen und anderen Kontakten mit
übermäßiger Vorliebe für einzelgängerisches Ver-
407
Glossar

Soziales allgemeine Bezeichnung für alle Arten von Stupor ein Starrezustand des ganzen Körpers bei
Beziehungen, die zwei oder mehrere Individuen in wachem Bewusstsein, Bewegungen werden nicht
direkter oder indirekter Weise durch Interaktion oder nur sehr langsam ausgeführt; Nahrung und
verbinden Flüssigkeit werden nicht oder bestenfalls unter in-
tensiver pflegerischer Hilfe aufgenommen
Sozialisation Prozess, in dessen Verlauf ein Indivi-
duum durch Umgang mit seiner Umgebung die ihm Subsidiarität Nachrangigkeit der Leistung, Leis-
eigentümlichen sozial relevanten Erlebnis- und Ver- tungsansprüche aus anderen gesetzlichen Grundla-
haltensweisen entwickelt gen gehen vor

Sozialpsychiatrischer Dienst ambulanter psychia- Suizidalität Wunsch bzw. Absicht der Selbsttötung;
trischer Behandlungs- und Beratungsdienst, z.T. ein psychischer Zustand, in dem die Herbeiführung
auch Institutsambulanz psychiatrischer Kliniken des eigenen Todes alle bewussten und unbewussten
Gedanken, Phantasien, Impulse und Handlungen
Soziologie Wissenschaft von der Entwicklung und umfasst
den Prinzipien der sozialen Ordnung
Supervision mit Einzelpersonen, Teams oder Grup-
Soziotherapie Behandlung/Unterstützung im häus- pen durchgeführter Beratungsprozess, der berufli-
lichen Umfeld, z. B. betreute WG, berufliche Reha- ches Handeln reflektieren soll und sich mit konkre-
bilitation, Struktur des Alltags – evtl. tagesklinische ten Fragestellungen aus dem Berufsalltag der Super-
Behandlung visanden befasst; Ziel ist die Verbesserung der
Arbeitsatmosphäre, der Organisation und der aufga-
Spätdyskinesie unwillkürliche Muskelbewegungen benspezifischen Kompetenzen
nach jahrelanger Medikamenteneinnahme, die
meistens nicht reversibel sind symmetrisch spiegelungsgleich

Stagnation Stillstand Symptome physiologische oder psychologische


Krankheitszeichen
stereotyp unter stereotypem Verhalten versteht man
das gleichförmige Wiederholen von Bewegungen Synonym als Synonyme werden Wörter gleichen Be-
(Bewegungsstereotypien) oder das Wiederholen von deutungsinhalts bezeichnet
Lauten, Silben oder Wörtern (Sprachstereotypien)
System System bezeichnet ein Gebilde, dessen we-
Stigma Zuschreibung negativer Eigenschaften, die sentliche Teile so aufeinander bezogen sind, dass sie
bei den Betroffenen zu Diskriminierung führt eine Einheit abgeben; Systeme organisieren und er-
halten sich durch Strukturen; Struktur bezeichnet
Stimulus-Response-Modell basiert auf dem beha- die Form der Systemelemente und ihrer Beziehungs-
vioristischen Konzept der Verknüpfung von Stimu- geflechte, durch die ein System entsteht und sich
lus (Reiz) und Reaktion; die Unterschiedlichkeit in erhält
der menschlichen Wahrnehmung von Reizen und
ebenso menschlichen Reaktionen werden in diesem systemisch Sichtweise, die auf Konzepten system-
Ansatz ignoriert (Black Box) theoretischer Wissenschaft beruht; die systemische
Perspektive rückt die dynamische Wechselwirkung
Stress wahrgenommenes Ungleichgewicht zwischen zwischen den biologischen und psychischen Eigen-
Anforderungen und den zur Verfügung stehenden schaften einerseits und den sozialen Bedingungen
Bewältigungsmöglichkeiten einer Person des Lebens andererseits ins Zentrum der Betrach-
tung, um das Individuum und seine psychischen
Störungen angemessen verstehen zu können
408 Glossar

Team eine Einheit von Menschen, die sich gemein- Triangulation die Verquickung quantitativer und
samen Zielen verschrieben haben und deren Zu- qualitativer Designs bzw. Datenmaterials
sammenarbeit in der Regel längerfristig angelegt
ist Triebimpulse psychobiologische Prozesse, die auf
die Befriedigung starker, zum Teil lebensnotwendi-
Teamarbeit unter Teamarbeit wird eine Personen- ger Bedürfnisse (z. B. Nahrungsaufnahme) gerichtet
gruppe verstanden, die zur Erfüllung bestimmter sind
Aufgaben, projektbezogen oder dauerhaft partner-
schaftlich zusammenwirken Trigger Reiz, der eine Reaktion auslöst

Teilleistungsschwäche unterdurchschnittliche Fä- Überprotektion Form einer unangemessenen Erzie-


higkeit in einem kognitiven Bereich bei gleichzeiti- hung, die geprägt ist durch starke Kontrolle, häufig
ger Unauffälligkeit in den übrigen Bereichen verbunden mit Vernachlässigung, Ablehnung und
Überforderung; die Bezugsperson lässt sich nicht
teilnehmende Beobachtung die Erfassung der sozi- von den individuellen Bedürfnissen des Kindes lei-
alen Konstituierung von Wirklichkeit sowie die Er- ten, sondern von nicht kindgerechten Vorstellungen
fassung von Prozessen des Aushandelns von Situati- und eigenen Bedürfnissen, die sie zu befriedigen
onsdefinitionen sucht

teilremittierend schubweises Auftreten einer psy- Übertragungsphänomene zumeist unbewusst ver-


chischen Krankheit, leichte bis schwere Symptome laufender Transfer von bestimmten Einstellungen
in der Zwischenzeit und Gefühlen von einer Person auf die andere

themenzentrierte Interaktion von R. Cohn entwi- Unterbringung ein psychisch kranker Mensch wird
ckeltes Gruppenkonzept, das der Humanistischen gegen oder ohne seinen Willen in eine psychiatri-
Psychologie zuzuordnen ist und die Person, die sche Einrichtung eingewiesen
Gruppe und das Thema gleichwertig behandelt
Unzufriedenheitsdilemma schlechtes subjektives
therapeutisches Team sämtliche Berufsgruppen Wohlbefinden trotz objektiv guter Lebensbedin-
(Ärzte, Psychologen, Pflegepersonal, Sonderthera- gungen
peuten), die Kontakt zu einem Patienten haben, fü-
gen sich zum therapeutischen Team zusammen Vaginismus Form der sexuellen Störung der Frau,
bei der es zu einem Spasmus der die Vagina umge-
Tranquilizer Medikamente die über eine beruhigen- benden Beckenbodenmuskulatur kommt, wodurch
de und angstlösende oder schlaffördernde Wirkung das Eindringen des Penis unmöglich oder schmerz-
verfügen haft wird

Transmitterstörungen Störungen in der Informati- Validation bedeutet Wertschätzung; Validation wur-


onsübermittlung zwischen den Nervenzellen auf- de von der Sozialarbeiterin und Schauspielerin Na-
grund einer Veränderten Freisetzung von Neuro- omie Feil, 1990 von Cleveland (USA) nach Europa
transmittern getragen; Sie entwickelte diese Pflegetechnik aus
der klientenzentrierten Gesprächsführung des Psy-
Trialoggruppen themenbezogene Zusammenkünfte chologen Carl Rogers heraus
von Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Pro-
fessionellen in einem hierarchiefreien Rahmen, in Validität ein Test misst das, was er vorgibt zu
denen Erfahrungen, Wünsche, Ängste etc. mit psy- messen
chischen Krankheiten ausgetauscht werden
409
Glossar

Verhaltensstörungen Verhalten eines Menschen, zentrale Gütekriterien qualitativer Datenerhebung


das ihn selbst in der Entwicklung seiner Persönlich- Objektivität, Reliabilität und Validität
keit beeinträchtigt und ihn zugleich mit seiner Um-
welt in Konflikt bringt; Verhaltensstörungen können Zufriedenheitsparadox subjektiv zufriedene Indivi-
u.a. auftreten bei geistiger Behinderung, Demenz- duen trotz objektiv schlechter Lebensbedingungen
erkrankungen, Entwicklungsstörungen
zwanghaft bezeichnet eine in ihren Lebensbereichen
Verstärkung unter Verstärkung wird ein positives übergenaue, penible, pedantische Persönlichkeit;
oder befriedigendes Ereignis verstanden, das unmit- Kontrolle dient als Gegenmittel gegen Unordnung;
telbar auf ein Verhalten folgt und dieses belohnt und psychisch sind diese Menschen oft ausgeprägte Ge-
verstärkt; Verstärker können entweder positiv erlebt wissensmenschen, eine »Notlüge« kann zu tagelan-
werden (positive Verstärkung) oder sie wirken, in- gen Gewissensbissen führen; in stärkerer Ausprä-
dem sie einen negativen Zustand des Organismus gung besteht das Leben nur noch aus Routinen, der
beenden (negative Verstärkung); werden Verstärker Übergang zur Zwangsneurose ist dabei fließend
häufig eingesetzt, erhöht sich die Wahrscheinlich-
keit, dass ein bestimmtes Verhalten von einer Person
gezeigt wird

Verstehbarkeit von Antonovsky definierte Teilkom-


ponente des Konzepts Kohärenzgefühl

Vision Eine Vision ist eine weit in die Zukunft rei-


chende Zielvorstellung einer Organisation

vollremittierend phasenhaftes Auftreten einer psy-


chischen Krankheit mit symptomfreien Zwischen-
zeiten

Vulnerabilität Verletzlichkeit, Anfälligkeit für psy-


chische Störungen

Werte Übereinkünfte und Erwartungen, die das


Verhalten der Mitarbeiter einer Organisation be-
schreiben und auf denen alle Beziehungen innerhalb
der Organisation herrühren

Wertschöpfungskette die Wertschöpfungskette am


Kunden beinhaltet die ganzheitliche Prozesskette
von der Schnittstelle der Vorstufen über die Erbrin-
gung der Leistungen und Dienstleistungen bis hin zu
deren Steuerungsprozessen

Workshop eine Gruppe bearbeitet in der Regel unter


Anleitung eines Moderators eine komplexe Aufgabe;
gemeinsam werden Strategien entwickelt, Probleme
gelöst oder durch Erfahrungsaustausch voneinander
gelernt
Stichwortverzeichnis
412 Stichwortverzeichnis

ambulante psychiatrische Pflege Betreuer 376


A 68, 387–388 betreutes Wohnen 389
Amnesie 235, 277 Betreuungsgesetz 375
Abwehrmechanismus 286 Amygdalae 303 Bewältigung (7 Coping)
Acetylcholin 217 Anamnese, Sozialanamnese 117 Bewusstsein 232
Adrenalin 214 Anerkennung 96 – Einengung 233
Affekt 290 Angehörigenarbeit 163 – Eintrübung 233
– Inkontinenz 242 Angehörigenberatung 164 – Verschiebung 233
– Labilität 242 Angehörigenorganisation 392 Bewusstseinseinengung 277
– Verflachung 242 Angststörungen, im Alter 334 Bewusstseinskontext 33
Aggression 183–184 Anorexia Nervosa (7 Magersucht) Beziehung 28, 69, 117, 227
– Behandlungsansätze bei Antrieb, gesteigerter 295 – Behinderung 174
Kindern und Jugendlichen 343 Apathie 242 – Einfluss der Organisation 177
– bei Kindern und Jugendlichen Arbeit 390 – Erwartungen 173
340 Arbeitslosengeld 365 – Patient und Pflegekraft 172
– Erklärungsansätze 342 Arzt 120 – zu Kindern und Jugendlichen
– pathologische 341 Assessment 30–31, 111, 113 338
Aggressivität 24, 294 Asylierung 7 Beziehungsgestaltung 60
Agoraphobie 272 Ätiologie 220 – bei Depression 292
Akademisierung 25 Attribution 155 – bei Persönlichkeits- und
Akathesie 198 Atypika 198 Verhaltensstörungen 287
Akuttagesklinik 385 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper- Beziehungsangebot 134
Alkoholabhängigkeit 311 aktivitäts-Störung (ADHS) 345 Beziehungsarbeit 60, 178
– Abstinenz 318, 315 – Behandlungsansätze 347 Beziehungspflege 173 ff
– Abwehrmechanismus 316 – Pflegerischer Umgang 348 Bezugspflege 23, 109–110, 287,
– chronische 313 Aufnahme 112, 115 305
– Definition 312 – ambulant 116 – Aufgaben 117
– Diagnose 312 – stationär 116 – Kurzkonzept 118
– Entwöhnung 315 – Management 122 BGB 375
– Haltung des Pflegepersonals Ausbildung 13 Bindungsstörung 340
318 Biographie 258
– Hilfesystem 320 – arbeit 258
– im Alter 333 – forschung 21, 34
– Kurzinterventionen 319
B Blut-Hirn-Schranke 210
– Nachsorge 316 Broca-Zentrum 303
– Phasenmodell 312 Bedürfnispyramide (7 Maslows Bulimie 283
– Veränderungsbereitschaft 317 Bedürfnispyramide)
– Verhaltensänderung 149 Behandlungskonzept 197
Alzheimer Demenz 256, 257, Belastungsreaktion, akute 276
323 Beobachtung 116
C
– Ätiologie 324 Bericht 114
– Behandlung 324, 325 berufliche Identität 72 Case-Management 110
– Diagnose 324 berufliche Trainingszentren 391 chronisch psychisch krank 387
– Indikation 325 Berufsausbildung 378 Co-Abhängigkeit 314
– Pharmakotherapie 324 Berufsförderungswerke 391 – strukturelle 315
Ambivalenz 242 Berufsorganisation 6 Compliance 196
ambulant-komplementäre Beschwerdestelle 391 – bei Schizophrenie 266
Einrichtungen 186 Besprechung 99 f – bei wahnhaften Störungen 268
Stichwortverzeichnis
413 A–G

Coping 48–49, 160–162, 225 f, diagnoseorientierte Fallpauschale Flash back 300


299 247 Formatio reticularis 211–212
– Training 58 Diagnostik, Fehler 156 Forschung 18, 20, 22
– Phasen 160 Dissoziation 304 – Datensammlung 20
– Phasen 161 Distanz 73, 178 – empirische 22
Cortex 214 Dokumentation 114, 119 – qualitative 18
Chronizität 35 Dopamin 217 – quantitative 18
Doppelbindung 133 – Triangulation 20
Double-bind (7 Doppelbindung) Freiheitsberaubung 373
Dysphorie 241 Freiheitsentziehung 373
D Führungsinstrument 93
Führungskräfte 94
Decodieren 127
Degenerations-Hypothese 9
E
Déjà-vu-Erlebnis 236
Delinquentes Verhalten 340 Eigenverantwortung 267
G
Delir 261, 328 Einwilligung 372
– Ätiologie 328 Einwilligungsvorbehalt 376 GABA 216–217
– Einzelbetreuung 261 Einzelfallarbeit 318 Gedächtnisfunktionen 154
– Psychosoziale Faktoren 261 Elektrokrampftherapie 291, 330 Geduld 201
– Realitätsbezug 261 emotionale Intelligenz 151 Gefühle 150
Delirium tremens 315 Empathie 108, 135–136 Gefühlsverarmung 242
Demenz 256, 323 Empfehlung der Experten- Gegenübertragung 292
– Alzheimer (7 Alzheimer Demenz) kommission 187 Gehirn 210
– Ätiologie 323 Empowerment 59 gemeindenahe Psychiatrie 12
– Diagnose 322 Endhirnkerne 215 Gemeindepsychiatrie 382
– frontotemporale 327 Entgiftung 315 Gemeindepsychiatrischer
– Lewy-Körper Demenz 327 Entlassung 121 Verbund 393
– Medikamente 205 Entwicklung, gesunde 338 Genetische Belastung 221, 324
– Millieugestaltung 259 Entspannung 301 – bei Alzheimer 324
– primäre 256 Entwicklungspsychologie 152 – bei Schizophrenie 221
– sekundäre 256 Epilepsie, im Kinder- und Jugend- Gesprächsführung, motivierende
– vaskuläre 257, 326 alter 350 319
Depersonalisation 240, 302 Erstkontakt (7 Kontaktaufnahme) Gesprächspsychotherapie 10
Depotmedikament 200 ethnische Herkunft 141 Gesundheit 40
Depression 241, 290–291 Euphorie 241 – Dimensionen 42
– Aktivierung 293 Evaluation 22, 111 – Relativität 44
– Ätiologie 330 extrapyramidal-motorische Gesundheitsbewusstsein 54,
– bei Kindern und Jugendlichen Schranke 199 57–58
344 extrapyramidal-motorische Gesundheitshandeln 61
– im Alter 329 Symptome 198 Gesundheitsstrukturgesetz 188
– Risikofaktoren 330 Gewalt 10, 79
– Therapie 330 Gleichgewicht 211
Derealisation 240 Grenzen 197
Dezentralisierung 384
F Gruppe 179
Diagnose 247 – Dauer 181
– Hauptgruppen 247 Fallpauschale 247 – Regeln 181
– Leitlinien 247 Familienpflege 6–8 – therapeutische 83
414 Stichwortverzeichnis

Gruppenleitung 180 Integrationsfirma 390 Krankheitsverlaufskurve 33–34


Gruppenphasen 180 Integrierte Behandlung und Krisenintervention 162, 387
Gruppensitzung 182 Versorgung 383 Kultur 141–142
Großhirnrinde 214 Interdisziplinarität 81 Kulturdominanz 144
Grounded Theory 20 Intrusion 300 kulturelle Sensibilität 140
Grundemotionen 150 Kundenorientierung 90
Grundhaltung 108 Kurzzeitgedächtnis 153, 235

K
H Klassifikation 8
L
Kleinhirn 211
Habituation 275 Klientenzentrierung 108 Langzeitgedächtnis 153, 235
Halluzinationen 294 Koma 232 Langzeitpatient 388
Handlungskompetenz 100 Kommunikation 29, 115, 126–127 limbisches System 214, 303–304
Hauptdiagnose 248 – analoge 130 Lithiumprophylaxe 202
Hausrecht 386 – Axiome 129 Lobotomie 11
Heim 389 – Basisregeln 128
Hemisphäre 214 – Beziehungsaspekt 130, 132
Heterostase 47 – Inhaltsaspekt 130
Hierarchie 5 – komplementär 131
M
Hilfe zum Lebensunterhalt 371 – symmetrisch 131
Hippocampus 303 kommunikativer Prozess 127 Magersucht 282
Hirnhaut 210 Komorbidität 246 Manie, im Alter 330
Hirnnerven 212 Kompetenzerweiterung 101 Management 92
Hirnanhangdrüse (7 Hypophyse) Konditionierung 152 Maslows Bedürfnispyramide 149,
Homöostase 47 – respondente 339 256
Humanisierung 7, 12 Konfabulation 235 Millieugestaltung, bei Demenz
humanistische Psychologie 134 Konflikt 73 259
Hyperaousal 300–301 Kongruenz 109–110, 133, 136, Maßnahmeplanung 32
Hypochondrie 239, 278 173 Maßregelvollzugsgesetz 356
Hypophyse 213 Konsensfindung 29 Metakommunikation 142
Hypothalamus 213 Kontaktaufnahme 30, 56, 112–113 Misstrauen 267
– Hypothalamus-Hypophysen- Körperverletzung 372 Mitarbeiterorientierung 91
Nebennieren-Achse 300 Kortisol 301 Mittelhirn 211
Hysterie 9 Krankenhausbetten, Abbau 385 mnestische Lücken 300
Krankenpflege 6 Modellernen 152–153, 339
Krankenpflegegesetz 13, 112 Modellprojekt 14
Krankenversicherung 366 Moderation 99
I Krankheitsbewältigung (7 Coping) Motivation 148
Krankheitseinsicht Multidisziplinarität 81
Ideenflucht 237, 294–295 – bei Essstörungen 283
Infusionstherapie 202 – bei wahnhaften Störungen
Institutsambulanz 187 268
Institutsambulanz 387 – bei Schizophrenie 266
N
Institution 5 Krankheitskonzept 67
Insulinschock 11 Krankheitsmodelle 40 Nachtklinik 386
Integrationsfachdienst 391 Krankheitsphasen 34 Nähe 179
Stichwortverzeichnis
415 G–R

Nähe-Distanz-Problematik, der – Erwartungen 69 – verhaltens-therapeutische


Pflegenden 178 – Geschichte 13 165
Nahrungsaufnahme 212 – Identität 76 psychische Störungen, Verlauf
narratives Interview 21 – Maßnahme 113 f 224
Nebenwirkungen 199, 203 – Metaparadigma 26 pyramidales und extrapyramidales
Negativsymptomatik 224 – psychiatrische, Definition 30 System 216
Nervenarzt 388 – psychodynamische 68, 174 – pyramidal-extrapyramidal-
Nervenzellen 216 Pflegeanamnese 56 motorisches System 215
Neurasthenie 278 Pflegebericht 119 Pyramidenbahnkreuzung 211
Neuroleptika 197–205 Pflegediagnose 171, 249–250
– trizyklische 198 Pflegekonzept 71
– atypische 198 Pflegeleitbild 90
neuronale Plastizität 210 Pflegeplanung 113
Q
Neurosekrete 213 – in der Forensik 359
Neurotransmitter 216 Pflegeprozess 25, 28, 112 Qualitätssicherung 249
Nodranerges System 300 Pflegesystem 27 f
Noradrenalin 201, 214, 217 Pflegetheorie 32
Nutzerkontrolle 392 Pflegeüberleitung 121
Pflegeverständnis 91
R
Pharmaka 196
posttraumatische Belastungs- Re-traumatisierung 300, 304
O störung 221,277, 298 Reflexe 211
– Schutzfaktoren 299 Reform 12
Organisation 89 Problemlösungsprozess 101 – der Psychiatrie 384
– lernende 89 Professionalisierung 13–14, 25, Regression 283
– Lernstrategie 89 250 Rehabilitation 368, 388
operantes Lernen 339 Prognosekriterien 226 – berufliche 369
Projektleitung 101 – medizinische 369
protektive Faktoren 220 Relativgewicht 248
Prozessmanagement 89 Repräsentationsfähigkeit 340
P Pseudologia phantastica 235 Residualsymtome 224
Psychiatrie-Enquete 12, 382 Ressourcen 50–51, 225, 266,
Panikattacke 239, 274 Psychiatrieerfahrene, Bundes- 268
Panikstörungen 272 verband 392 rezidivierende Episode 224
Patientenfürsprecher 391 Psychoanalyse 8 Rindenfelder 215
Patientenklassifikations-System Psychoedukation 61, 164 Risikofaktoren 220
247 Psychologe 120 – bei Abhängigkeitserkrankungen
Patientenzufriedenheit 24 Psychologie 148 311
perseverierendes Denken 237 Psychopharmakamissbrauch – bei posttraumatischen
Personalpolitik 89, 94 333 Belastungsstörungen 299
Personalführung 94 f Psychoseseminar 392 Ritalin 347
personenzentrierter Ansatz psychosozialer Arbeitskreis Rodewischer Thesen 12
134–136 393 Rollen 80
Perspektivübernahme 340 Psychotherapie 165, 166 Rollendefinition 66
PES-Format 250 – humanistische 165 Rollendistanz 72
Pflege – körperorientierte 166 Rückfallprophlaxe 204
– Aufgaben 119 – systemische 166
– Belastung 78 – tiefenpsychologische 165
416 Stichwortverzeichnis

Stressreaktion 159 Übertragung 73


S Stupor, dissoziativer 277 unbewusst 232
Subjektives Kranksein 42 Unterbringung 373
Schizophrenie 264 Subsidiarität 370 Unternehmenskultur 91, 95
– Compliance 265 Suchtmittelabhängigkeit 310 Unternehmensphilosophie 90
– Erstmanifestation 264 Suizidalität 293 Unterstützungsnetzwerke 59
– im Alter 332 – im Alter 329
– Therapie 333 – im Kinder- und Jugendalter
Schlaf-Wach-Rhythmus 260 349
Schlafstörungen 202, 334 – Konfrontation 293
V
Schub 224 – Verhalten 163
Schutzfaktoren 220 Synapsen 216 Validation 258
Sektorisierung 383 vegetatives Nervensystem 212,
Selbstfürsorge 44 214
Selbstpflege 26 Veränderungsmanagement 95
Selbstpflegedefizit 27
T Verantwortung 117
Selbstwahrnehmung 115 Verantwortungsübernahme 110
Selbstwertgefühl 59 Tätigkeit, psychosoziale Funktion Verhaltensmuster 250
Serotonin 201, 217, 302 71 Versorgungsnetzwerk 188
Setting 55 Tagesklinik 385 Versorgungsprozess 111
– Grundaspekte 56 Taxonomiesystem 251 Vierhügelplatte 212
sexuelle Kontakte 295 Team 80–81, 88 Vorpostensymptome 228
SGB 364 f – Entwicklungsphasen 97 Vulnerabilität 220, 277, 298–299
Sicherheit, in forensischen Kliniken – Merkmale 98
359 – multiprofessionell 82
somatisches Syndrom 291 – Spielregeln 99
Somatisierungsstörungen 278 Teamarbeit 97
W
Somnolenz 232 teilnehmende Beobachtung 21
Sopor 232 Thalamus 213 Wahn 238
Sozialarbeiter 120 Therapeuten 120 Weiterbildung 14
soziale Phobie 273 Therapie Werkstätten für Behinderte 369,
Sozialgesetze 364 – antipsychotische 204 391
sozialpsychiatrischer Dienst 386 – hypnotische 8 Wertschätzung 136
Soziotherapeut 190 – medikamentöse 197 Wertschöpfungskette 88
Soziotherapie 188–193, 264, 268, Trauma 10, 221
388 – psychisches 298
Spannungszustände 306 traumatischer Stress 298
Spätdyskinesie 198 Trialog 164
Z
SSRI 200 Trialoggruppe 392
Stereotyp 155 Trigger 300 Zielerreichungstheorie 28
Sterilisierung 11 Zielüberprüfung 31
StGB 356 Zirbeldrüse 212
Stopp 356 Zwangsgedanken 237, 275
Störungsbilder 247
U zwangsweise Unterbringung 373
Stressbewältigung 159 – Rechte des Betroffenen 374
Stressforschung 45–46 Überforderung 75
Stressoren 46–48, 158, 299 Überleitungspflege 121 f

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