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* Stadelmaier, Gerhard: Dichter oder nicht ganz dicht. Stuttgarter Zeitung vom
31.7.1987.
VI
Walter Hinck
»Literatur lebendig« 16
Johanna Blömeke
Ekkehard Skoruppa
»Wir haben die Schublade voll!« Ein Bericht über die Autoren-
werkstatt an der Universität Köln 25
Albrecht Schau
Kreatives Schreiben - Beschriebene Kreativität. Chancen und
Risiken von Schreibseminaren mit oder ohne vorgegebenen
Schreibimpuls 36
Otto Dörner
Texten von Kurzgedichten nach dem Vorbild des japanischen
Lyrik-Genres >Haiku< im studentischen Schreibseminar. Diskurs
und Bericht 44
Gisbert Keseling
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse und Bearbei-
tung von Schreibstörungen 59
Kaspar H. Spinner
Joachim Dyck
Die antike Rhetorik in der modernen Schreibwerkstatt . . . . 88
VIII
Holger Rudioff
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens. Dargestellt an-
hand Friedrich Nietzsches »Menschliches, Allzumenschliches« . 97
Greg Divers
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben an ame-
rikanischen Colleges und Universitäten (Aus dem Amerikani-
schen übersetzt von Katrin Boeckel und Anna Rau) 112
Einleitung:
Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen
1. Vorbemerkung
1
Vgl. ζ. B. Themenheft »Kreatives Schreiben«, Westermanns Pädagogische
Beiträge, 38. Jg., Februar 1986, und die von Prof. Dr. Gert Ueding geleitete
Tagung der Akademie Tutzing vom 16.-18. Juni 1987 zum gleichen Thema.
2 Hans Arnold Rau
2. Umfrage zu Schreibseminaren 3
2.2 Teilnehmer
5
Im Seminar von Dr. Irmgard Ackermann am Institut für Deutsch als Fremd-
sprache an der Universität München spielt das kreative Schreiben eine wich-
tige Rolle. Auch dieses Seminar muß wegen der besonderen Voraussetzungen
im Bereich Deutsch als Fremdsprache hier unberücksichtigt bleiben. - Vgl.
Rau, Hans Arnold: Autobiographisches und fiktionales Schreiben im DaF-
Unterricht. In: Informationen Deutsch als Fremdsprache, 12. Jg., Heft 1,
1985, S. 68-71.
autobiographische Texte [
|
KREATIVES SCHREIBEN c Β
HS-L. = Schriftsteller
£
eig. Schreibseminar
i-a
1
Texte
an wissenschaftlichen Hochschulen
J Μ
= Ξ •Ε
der Bundesrepublik Deutschland veranstaltet Leiter/Leiterin
und West-Berlins
•o V)
X 3 a) ständig seit des Schreibseminars
c Ό
fiktionäle
Si i b) gelegentlich seit
Germanistische Institute * )
<A
* 3 S3 1 c) bish. einmalig
|
I
1 TH Aachen, Päd. FakVFIiil. Fak. X X X a) WS 83/84 Prof. Dr. Kaspar Heinrich Spinner
4 Uoiv. Bonn, Pädagogische Fakultät X X X X a) WS 79/80 Prof. Dr. K. Daniels/Prof. Dr. W. Schemme
20 Univ. Köln, En. Fak. X X X X c) WS 82/83 Dr. Hoiger Rudioff. Wiss. Assist.
25 Univ. Marburg, FB Germ. Ling. u. Ph. X X X X b) WS 84/85 Prof. Dr. Gisbert Kcseling
36 Univ. Tübingen, Sera, f Alig.Rhet. X X X X a) WS 79/80 Prof. Dr. W. Jens/Prof. Dr. G. Uedrog
37 PH Weingarten X X X X a) WS 85/86 Prof. Dr. Jörg Ehni
2.3 Textsorten
2.4 Schreibbedingungen
6
D i e beiden Institute an den in Auflösung befindlichen Pädagogischen Fa-
kultäten in Aachen und Bonn bleiben bei dieser Frage unberücksichtigt, da
die Abnahme der Teilnehmerzahl hier andere Gründe hat.
6 Hans Arnold Rau
2.5 Textbesprechung
2.6 Veröffentlichung
2.7 Teilnahmegründe
7
A u s dem »Lyrikworkshop Göttingen« gingen die Zeitschriften »Literatte«
und »Blattlaus« hervor. In Osnabrück geben Studenten die Literaturzeit-
schrift »Größenwahn« heraus. An der FU Berlin erschienen zwischen 1978
u n d 1984 fünf Bände der Anthologie »Erfahrungen« mit je ca. 300 Seiten.
8 Hans Arnold Rau
punkte hervorgehoben. Sie wollen den Stil ihrer Studenten und Stu-
dentinnen verbessern (49%), schriftstellerische Talente fördern (49%)
und vor allem die Voraussetzungen für die Rezeption und Interpreta-
tion von Literatur verbessern (65%). Auch den psychischen und sozia-
len Bedürfnissen der Studierenden scheint ein großer Teil der Se-
minarleiter entgegenkommen zu wollen.
Die Frage nach der Zielsetzung, die die Seminarleiter mit dem Seminar
verbinden, ist in vielen Fällen zu individuellen Ergänzungen genutzt
worden. Aus ihnen geht hervor, daß die meisten Seminarleiter das Be-
dürfnis der Studenten nach Selbstausdruck und Identitätsfindung nicht
nur kennen, sondern auch anerkennen. So werden als Zielsetzung auch
»Gegengewicht zu rezeptivem Studiengang«, »psychische Stabilisie-
rung«, »Lebenshilfe«, »Freiraum zur Entfaltung eigener Bedürfnisse«,
»Förderung literarischer Selbstexploration« und »Förderung der Em-
pathiefähigkeit« genannt. Den bewußt subjektiven, vom wissenschaft-
lichen Lehrbetrieb abweichenden Erwartungen der Teilnehmer versu-
chen die Seminarleiter sowohl durch die äußere Organisation ihrer Se-
minare als auch durch gruppenpädagogische Vorgehensweisen zu ent-
sprechen. Zwar beträgt die offizielle Dauer der meisten Schreibsemi-
nare nur zwei Wochenstunden (bei 22% sind es drei und mehr Stun-
den), aber es kommt nicht selten zu »Nachseminaren« im Cafe und
privaten Treffen. Die Schreibseminare in Berlin, Bonn, Köln (Studio-
bühne), Konstanz und Hildesheim haben schon Wochenendseminare
und mehrtägige Exkursionen durchgeführt. In Aachen, Frankfurt und
Marburg werden Schreibseminare als zwei- bzw. dreitägige Blockveran-
staltungen angeboten.
Im Unterschied zu anderen Seminaren werden die Leistungen in den
Schreibseminaren in keinem Fall benotet. Auch Teilnahmebescheini-
gungen werden nur an wenigen Instituten ausgestellt. Sicher ist das eine
wichtige Voraussetzung für die zwanglose Arbeitsatmosphäre und die
Bereitschaft zur kreativen Kooperation. Das wissen auch die Semi-
narleiter. Zwei Drittel beantworteten die Frage »Wurden der Gruppen-
prozeß und die Vertrauensbildung von Seiten des Dozenten gezielt ge-
fördert?« mit »ja«. Aus den individuell beigefügten Anmerkungen er-
gibt sich folgendes Bild:
Zwanglosigkeit: Man spricht und arbeitet in entspannter Atmosphäre, ζ. B.
wird in einigen Seminaren während der Treffen Kaffee getrunken. Niemand
wird gezwungen, sich zu produzieren, andererseits wird den Texten aller Teil-
nehmer Aufmerksamkeit entgegengebracht. Wenn in Einzelfällen nötig, hält
der Seminarleiter zur Freundlichkeit an.
Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen 9
Einbringen von Subjektivität: Wie schon bemerkt, schreibt meist auch der
Leiter mit, oder, wie es in einer Formulierung heißt, er »gibt Texte aus der
Vergangenheit preis«. In nicht wenigen Seminaren duzen sich Leiter und
Studenten. Beide sprechen »in verschiedenen Formen der Ich-Botschaften«
von ihrem Leben.
Kooperation: In einigen Gruppen wird bisweilen mit Rollenspielen und Er-
zählspielen (ζ. B. Reihumgeschichten) gearbeitet (19% bzw. 17%). Bei 39%
sind Formen kollektiven Schreibens erprobt worden, meist so, daß Partner-
oder Kleingruppen gemeinsam einen Text ausformulierten, manchmal als
Abschnitt eines im Plenum konzipierten Handlungsgerüsts. Auch das ge-
meinsame Herantreten an die Öffentlichkeit wirkt darauf hin, daß sich die
Teilnehmer als »Wir-Gruppe« empfinden.
8
Gottsched, Johann Christoph: Vorübungen der lateinischen und deutschen
Dichtkunst zum Gebrauch der Schulen. Leipzig 1756, S. 220.
9
Vgl. Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtli-
chen Grundlagen. Tübingen 1970, insb. S. 290ff., S. 343ff.
10
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Darm-
stadt 1977. Unveränderter reprographischer Nachdruck der 4., vermehrten
Auflage, Leipzig 1751, S. XX.
" Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Li-
teratur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 1: Von der Aufklärung bis
zum Idealismus. Darmstadt 1985, S. 4.
Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen 11
So zumindest war der vorletzte Stand der Dinge, etwa bis zur Mitte der
siebziger Jahre: vor der Verbreitung des kreativen Schreibens in ver-
schiedensten »Literaturwerkstätten«, gymnasialen Literaturkursen 15
und universitären Schreibseminaren. Wie ist dieses erhöhte Interesse
und auch der neue Mut zur eigenen Literaturproduktion erklärbar
angesichts der tradierten, durch Romantik und Faschismus noch ver-
tieften Kluft zwischen künstlerischem Genie und Verehrergemeinde?
Wie konnte das kreative Schreiben an Hochschulen Fuß fassen, an de-
12
Vgl. Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. 6. Aufl., Tübingen 1966.
13
Köster, H. M. G.: Anweisung die Sprachen und Wissenschaften vernünftig zu
erlernen und ordentlich zu studieren. Frankfurt und Leipzig 1763, S. 259f.
14
Kant, Imanuel: Kritik der Urteilkraft § 53, Fußnote. Darmstadt 1986, S. 431.
Bd. 8 der »Werke in zehn Bänden«, hg. von Wilhelm Weischedel.
15
Vgl. ζ. B. Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen.
Literaturkurse. Hg. vom Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen.
Köln 1981.
12 Hans Arnold Rau
16
»Sie denken auch im Politischen künstlerisch«, läßt Joseph Goebbels einen
der fiktiven Dialogpartner in seinem Roman »Michael« sagen. Auf den Ein-
wand, der kommende Führer werde »die letzte Blüte unserer Jugend zum
Opfer bringen«, lautet die Antwort: »Genies verbrauchen Menschen. Das ist
nun einmal so.« Joseph Goebbels: Michael. Ein deutsches Schicksal in Ta-
gebuchblättern, 2. Aufl., München 1931, S. 60 und 62. Zitiert nach Schmidt,
Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens (siehe Fußnote 11). Bd. 2: Von
der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, S. 207.
17
Wolf, Christa: Lesen und Schreiben. In: Wolf, Christa: Lesen und Schreiben.
Neue Sammlung. Essays, Aufsätze, Reden. Darmstadt und Neuwied 1981, S.
9-46. Zitat S. 46.
18
Young, Edward: Gedanken über die Original-Werke. Aus dem Englischen
von Η. E. Teubern. Heidelberg 1977. Deutsche Neudrucke, Reihe: Goethe-
zeit, hg. von Arthur Henkel. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1760, S.
40.
Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen 13
Das individuelle Ich ist ein lebendiger Prozeß, der sich selbst zu bestim-
men sucht. Die Beantwortung der Frage, wer dieses Ich ist, durch die
Zeiten und durch die jeweils zu spielenden Rollen hindurch, verlangt
eine von jedem selbst zu vollbringende Anstrengung. Mit der Entwick-
lung unserer arbeitsteiligen und auf technische Effizienz ausgerichte-
ten Industriekultur wird die Lösung dieser Aufgabe schwerer. An-
dererseits wächst der Wunsch der in Funktionen aufgeteilten Men-
schen, »sich noch als Ganze irgendwo wiederzufinden.« 20 Angesichts
dieses Dilemmas gewinnt die Entdeckung Max Frischs neue Bedeu-
tung, »daß jedes Ich, auch das Ich, das wir leben und sterben, eine
Erfindung ist [...] Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine
Geschichte, die er, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält.« 21
Ohne eine solche Geschichte ist die Beantwortung der brennenden Fra-
ge nach dem, was man ist oder sein will, offenbar nicht zu beantworten.
19
Wolf, Christa: Lesen und Schreiben (siehe Fußnote 17), S. 43-44.
20
Ziehe, Thomas: Lebensgeschichte und politisches Bewußtsein. In: Maurer,
Friedemann (Hg.): Lebensgeschichte und Identität. Beiträge zu einer biogra-
phischen Anthropologie. Frankfurt 1981, S. 133-149. Zitat S. 135-136.
21
Bienek, Horst: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München 1965, S. 28
und S. 27.
14 Hans Arnold Rau
22
David Kirby von der Florida State University schreibt rückblickend auf die
letzten zwanzig Jahre: »On campus the disaffected young showed less interest
in traditional literature and politics and more interest in creative writing,
women's studies, and minority studies. Of these three [. . .] only creative writ-
ing seems to have continued to grow.« Kirby, David: Two and Two Make
More Than Four. In: College English, Volume 46, Number 3, March 1984, S.
248-253. Zitat S. 249.
23
Vgl. Kirby, David: Two and Two (siehe Fußnote 22). Es handelt sich um eine
Sammelrezension zu acht Lehrbüchern und einer kommentierten Bibliogra-
phie. - Vgl. auch Woods, William F.: Composition Textbooks and Pedagogical
Theory 1960-80. A Review-Essay. College English, Volume 43, Number 4,
April 1981, S. 393-409.
24
Vgl. Connors, Robert J.: Journals in Composition Studies. In: College Eng-
lish, Volume 46, Number 4, April 1984, S. 348-365. Es handelt sich um eine
kritische Würdigung von 15 Fachzeitschriften für Schreibdidaktik.
25
Vgl. Dissertation Abstracts International. A: The Humanities and Social
Sciences. Insb. II A: Education, General; Education, Psychology; Education,
Theory and Practice, und III A: Literature, General. - Ζ. B. Ferrill, June
Olivia, Ph.D.: Self-Exploration Through Creative Writing. An Experiment in
College Composition. The University of Michigan 1977. In: DAI 38,3 (Sep-
tember 1977). - Kramer, Howard William, Ph.D.: The Relationship Between
Personality Type and Achievement in Expository and Creative Writing. The
University of Michigan 1977. In DAI 38, 6 (December 1977). - Caruso, Do-
menick, Ph.D.: A Contemporary Re-Creation of Moby Dick. An Approach to
Creative Writing. New York University 1975. In: DAI 36, 12 (June 1976).
26
Umfangreiche Literaturangaben zum kreativen Schreiben und zum Stand der
Schreibdidaktik im deutschsprachigen Bereich geben u. a.: Rudioff, Holger:
Über rezeptions- und produktionsästhetische Konzeptionen von Literatur-
unterricht. Wirkendes Wort, 34. Jg., Heft 3, 1984, S. 216-227, insbesondere
S. 226-227; Gössmann, Wilhelm: Theorie und Praxis des Schreibens. Wege zu
einer neuen Schreibkultur. Düsseldorf 1987, insbesondere S. 170-176.
Walter Hinck
»Literatur lebendig«
- nicht nur, aber besonders bei uns - zählebig und hat dem Dichten
oder Schreiben eine religiöse oder zumindest magische Aura gegeben,
so daß jegliches Reden über das Verfertigen eines Gedichts oder Pro-
sastücks in den Ruch der Dichtergotteslästerung k o m m e n mußte. Sol-
c h e m Literaturverständnis angemessen war und ist der Vortrag von
Gedichten bei Kerzenschein, in einer Weihestunde.
Gegen die Mystifizierung sprachen Äußerungen wie Gottfried
Benns Diktum v o m »Laboratorium der Worte«. Aber stammte von
demselben Benn nicht auch der Satz » D i e Dinge mystisch bannen
durch das Wort«? Ich m u ß gestehen, daß für mein Verhältnis zur Lyrik
ein Bericht mitentscheidend geworden ist, den ich als Student in Max
Frischs »Tagebuch 1946-1949« las. Frisch beschreibt, wie Bertholt
Brecht, während seines Zwischenaufenthalts in der Schweiz nach seiner
Rückkehr aus den USA, sein Gedicht » A n die Nachgeborenen« vor-
liest:
Worte zeigend, wie man Kieselsteine zeigt [. ..] Und es stört nicht, wenn es
klingelt, wenn ein weitrer Besuch kommt oder wenn die Tochter, da es kei-
nen andern Weg gibt, durchs Zimmer geht. [. . .] Die übliche Pause, die nach
Vorlesung eines Gedichts einzutreten pflegt, da wir, sozusagen aus der Kirche
tretend und plötzlich ohne Orgel, etwas geblendet in die Welt zurückkehren
müssen, die halt sehr anders ist als die Poesie - diese Pause ist nicht nötig; das
Gedicht, das wirkliche, hat die wirkliche Welt nicht zu scheuen; es hält stand,
auch wenn es klingelt und ein unvermuteter Gast kommt [. . .]
Später las ich Brechts eigenen Aufsatz »Über das Zerpflücken v o n Ge-
dichten« :
Der Laie hat für gewöhnlich, sofern er ein Liebhaber von Gedichten ist,
einen lebhaften Widerwillen gegen das, was man das Zerpflücken von Ge-
dichten nennt, ein Heranführen kalter Logik, Herausreißen von Wörtern und
Bildern aus diesen zarten blütenhaften Gebilden. Demgegenüber muß gesagt
werden, daß nicht einmal Blumen verwelken, wenn man in sie hineinsticht.
Gedichte sind, wenn sie überhaupt lebensfähig sind, ganz besonders lebens-
fähig und können die eingreifendsten Operationen überstehen. Ein schlech-
ter Vers zerstört ein Gedicht noch keineswegs ganz und gar, so wie ein guter
es noch nicht rettet. Das Herausspüren schlechter Verse ist die Kehrseite
einer Fähigkeit, ohne die von wirklicher Genußfähigkeit an Gedichten über-
haupt nicht gesprochen werden kann, nämlich der Fähigkeit, gute Verse her-
auszuspüren. ...Wer das Gedicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich
nicht nahe. In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genus-
ses. Zerpflücke eine Rose und jedes Blatt ist schön.
A n diesen Aufsatz Brechts habe ich gern erinnert, w e n n ich später als
Universitätslehrer in Lyrikseminaren mit den Studenten Gedichte ana-
lysierte, auf ihn habe ich mich aber auch berufen, als ich zu Anfang der
achtziger Jahre begann, jeweils im Sommersemester Übungen unter
dem Titel »Forum für schriftstellerische Versuche von Studenten« ab-
zuhalten.
18 Walter Hinck
Semesterhälfte nur ein kleiner Kreis als passend am Orte fühlt, jene
kleine >Elite<, der man tatsächlich einige Chancen für die Zukunft ein-
räumt. Man sollte auch denen nicht den Mut nehmen, die als >Durch-
schnitt< guten Willens sind. Schreibübungen, Möglichkeiten zur Selbst-
überprüfung und Gelegenheiten, andere Lösungsversuche kennen zu
lernen, boten diese Aufgaben allemal und für alle.
Aufgaben zu stellen, war auch nötig, um von vornherein klarzustel-
len, daß dieses »Forum« kein Ort sei, wofür man nur Texte aus der
Schublade zu holen brauchte. Teilnehmer, die nur gekommen waren,
um entdeckt zu werden, die sich rasch einmal in Szene setzten, um bald
wieder zu verschwinden, gab es immer genug. Doch es blieben nach
einer gewissen Zeit auch die allzu Sensiblen aus, die das Gefühl hatten,
im »Forum« ihre Texte >auf den Markt< tragen zu müssen.
Welcher Art nun waren die Übungsaufgaben und Themen? Auf
dreierlei Weise versuchte ich, die Phantasie und die Schreiblust der
Teilnehmer zu mobilisieren. Es gab Themen allgemeiner Art, Rahmen-
themen, die von den Erfahrungen der Teilnehmer her sehr unterschied-
lich konkretisiert werden konnten. Zum Beispiel: Heutige Erschei-
nungsformen des Generationengegensatzes, oder: Anbahnung, Beginn
einer zwischenmenschlichen Beziehung. Das Thema einer anschließen-
den >Hausaufgabe< lautete dann: Das Ende dieser (einer) Beziehung.
Ein anderer Themenkreis suchte neue Antworten auf überlieferte Stof-
fe und Bilder herauszufordern. Etwa: Abbreviatur einer bekannten
Dramen- oder Romanfigur in einem Gedicht, oder: Neue Deutung und
Darstellung einer in der Literatur überlieferten mythischen Gestalt
(Prometheus, Sisyphos, Iphigenie usw.), oder: Neufassung einer Tier-
fabel aus dem 18. Jahrhundert. Dieses Thema steht bereits auf der
Grenze zu einer anderen Gruppe, bei der gedruckte Texte oder Text-
fragmente zugrunde lagen. Zum Beispiel: Fortsetzung eines Erzählan-
fangs, oder: Erfindung einer Handlung zu einem schon feststehenden
Schluß, oder: Parodie eines vorgelegten (oder auszuwählenden) Textes.
Ziehe ich Bilanz, so kann kein Zweifel sein, daß bei der neuen In-
terpretation mythischer Gestalten und der Neufassung von Fabeln die
besten Ergebnisse zustandekamen, zum Teil beachtliche, nicht selten
außerordentlich witzige Texte. Die Beurteilung der Parodien bot will-
kommene Gelegenheit, wirkliches literarisches Niveau gegen bloßes
>Bierzeitungs<-Niveau abzugrenzen. Bei vielen Aufgaben wurde die
Wahl der literarischen Gattung freigestellt. In solchen Fällen entschied
sich die Mehrzahl für die lyrische Form, ein großer Teil auch für Prosa,
während die Form der dramatischen oder der Hörspielszene nur aus-
nahmsweise benutzt wurde. Die geringere Eignung solcher Texte für
den Übungszweck hängt natürlich damit zusammen, daß Dialoge fast
immer als Bestandteil eines größeren Zusammenhangs gedacht werden
20 Walter Hinck
müssen und daß es grundsätzlich weitaus schwerer ist, eine aus sich
verständliche Szene oder gar ein Kurzdrama als eine Kurzgeschichte
oder ein Prosastück zu schreiben.
Natürlich sollte das »Forum für schriftstellerische Versuche« den
Teilnehmern auch die Möglichkeit bieten, eigene, unabhängig von den
Übungsanforderungen entstandene Texte vorzustellen und ihre Wir-
kung zu testen, sich auf den Prüfstand einer Öffentlichkeit >im klei-
nen< zu stellen. So hatte jeder Teilnehmer die Gelegenheit, drei Ge-
dichte oder zwei kürzere Prosa- oder Dialogtexte einzureichen, von de-
nen ich f ü r die Besprechung in den Übungssitzungen nicht nur die
mehr oder weniger gelungenen, sondern vor allem jene auswählte, die
für das Gespräch am ergiebigsten erschienen. Es war zunächst nicht
ganz leicht, wirkliche Gesprächsoffenheit herzustellen, weil sich die
Teilnehmer anfangs Solidarität untereinander, das heißt gegen den
Übungsleiter, schuldig zu sein glaubten. Schon vom zweiten Semester
an, als bereits ein >Stamm< vom Vorjahr den Kern des Seminars bilde-
te, war von solchem >Klassendenken< nur noch wenig zu spüren. Den-
noch empfahl es sich, immer neu darauf hinzuweisen, daß das »Forum«
kein Schonraum für Eitelkeiten oder Empfindlichkeiten sein und die
Mitarbeit nur bei Ehrlichkeit aller gegen alle lohnend sein könne.
Denn ein weiterer Übungszweck bestand darin, neben der Schreib-
auch die Kritikfähigkeit zu fördern. Und das nicht nur, weil ein gewis-
ses Maß an Selbstkritik bei literarischer Tätigkeit unerläßlich ist, son-
dern weil ein Forum für schriftstellerische Versuche immer auch an
Literaturkritik Interessierte anzieht. Überhaupt ging ich davon aus,
daß sich die Teilnehmer von dem Großteil der Philologen durch eine
besondere Anteilnahme am literarischen Leben der Gegenwart und an
seiner Widerspiegelung in den Medien der Presse, des Rundfunks und
des Fernsehens unterschieden. Nicht nur Literatur zu verfertigen, son-
dern auch über Literatur sachkundig zu urteilen, konnte geübt werden.
Der bequeme Einwand, daß sich der Kritiker gefälligst einmal selbst an
dem versuchen solle, was er kritisiere, entfiel hier, weil alle Teilnehmer
Autoren und Kritiker zugleich waren.
Die G e f a h r bei einem von Professoren oder Dozenten geleiteten Fo-
rum ist immer, daß die Urteile des Leiters leicht wie ex cathedra ge-
sprochen wirken. Oft war geradezu spürbar, wie die Forumsmitglieder
abwarteten, welche Tonlage der Kritik oder der Zustimmung der Leiter
angeben würde. Ich habe immer nur zur Verhinderung peinlicher Pau-
sen das Wort zuerst ergriffen und mich oft auch darauf beschränkt, die
Urteile zusammenzufassen. Das mag von machem als ein Ausweichen
vor dem klaren Wort mißverstanden worden sein. Gegen den Verdacht
ließ sich einwenden, daß ich sowohl als Literaturkritiker oft genug kla-
re Stellung bezogen hatte wie auch als Mitglied der Klagenfurter Jury,
»Literatur lebendig« 21
Pandora, Süße
mit offenen Armen nehm
ich dich auf
und entzücke mich mit dir
ich glaube nicht
daß man dich vorher so liebte
Ich glaube nicht
daß der Zorn des Prometheus
- und anderer -
gerechtfertigt war
deren schönes Übel
mit der üblen Büchse du
hießest
Pandora
die Unheilsbringerin
mit Seuchen, Krankheiten und
dir Frau
als Geschenk
Die Götter dachten als Strafe
der Männer dich
- die weisen hatten ihre Gründe
Ich bin froh, daß du kamst
ich nehm dich mit offenen Armen auf
und glaube an dich
Pandora, Süße
Der Mythos von Pandora, die mit ihrer unheilvollen Büchse als »Göt-
tergeißel« über die Menschen kommt, ist ein von Goethe bis Wedekind
beliebtes literarisches Thema. Alte Mythen bieten Berührungs- und
Reibungspunkte, die sich aus der Entfernung zwischen archaischem
Stoff und neuzeitlicher Perspektive natürlich ergeben. Das obenstehen-
de Gedicht entstand aus einer Aufgabe, die sich diese Tatsache zunutze
machte: sie forderte die literarische Bearbeitung einer Figur aus der
Mythologie. Außer mir haben sich noch ungefähr vierzig Studenten
damit beschäftigt, im »Forum für schriftstellerische Versuche von Stu-
denten«, geleitet von Walter Hinck, aus dem Thema einen literarischen
Text zu machen.
Es war nicht die einzige Aufgabe dieser Art; auch die Neufassung
von Fabeln wurde verlangt und die Ausführung eines gegebenen Er-
24 Johanna Blömeke
Am Anfang war ein Flugblatt: »Wir haben die Schublade voll!« Das
Papier machte die Runde unter Studenten an der Universität Köln,
sorgte für erstaunliche Resonanz. Beim annoncierten Treffen in der
Privatwohnung des Unterzeichners Karl Karst zählte man die Köpfe
der Interessierten zwar nicht nach Dutzenden, doch es kamen etliche
Schreiber >mit vollen Schubladen< und andere zumindest voller Ent-
husiasmus.
Das war 1979, und eine Zeitschrift für Literatur, Kunst und wissen-
schaftliche Beiträge sollte gegründet werden. »Hier und da dies und
jenes mit Für und Wider durch Verbindung zu trennen und durch
Trennung zu verbinden«, hieß es einige Monate später im Editorial der
ersten Nummer. Die vielleicht etwas verkrampft wirkende Kopf- und
Feuilletonlastigkeit, die im Rückblick scheinbar herauszulesende Belie-
bigkeit war gewiß keine Ungewißheit des Anspruchs und sollte erst
noch verschwinden. Aber am Anfang glich die Privatinitiative tatsäch-
lich einem Sprung ins kalte Wasser, bei dem man sich manchmal mit
Formulierungen wärmt: Denn weder das Zeitschriftenmachen, weder
redaktionelle, organisatorische, technische, noch verlegerische Belange
waren hinlänglich erprobt, und nicht viel besser stand es um die Erfah-
rungslage mit publikationszentrierter Arbeit beim Umgang mit Texten.
Die Zeitschrift, die sich auszeichnen sollte durch »formale und the-
matische Offenheit«, war aus dem Stand zu konzipieren, zu gestalten,
herzustellen und zu füllen - von jenen mit Engagement und Idealis-
mus, mit Mut zum Risiko und eben den vollen Schubladen, dabei zu-
meist aber nur kläglich gefüllten Portemonnaies.
Um Geschichte und Entwicklung der »Autorenwerkstatt« an der
Universität aufzurollen, ist etwas weiter auszuholen. Denn die anfäng-
liche Privatinitiative hat einen merkwürdigen Weg zur Institutionali-
sierung im Übungsprogramm an der Studiobühne der Universität ge-
nommen. Der Aufruf zum Zeitungsmachen, das Publikationsangebot,
stand wie geschildert am Beginn. Karl Karst, damals Student der Ger-
manistik und Theaterwissenschaften und freier Hörfunk- und Fernseh-
kritiker bei verschiedenen Zeitungen, heute Hörspiel-Redakteur, hatte
nicht zu Unrecht darauf gesetzt, daß verstreut unter Studenten und
Nicht-Studenten - denn auch an letztere ging der Aufruf - schriftstel-
26 Ekkehard Skoruppa
forderten die einen, während andere - und dazu gehörte auch ein Teil
des mittlerweile 6-8-köpfigen festeren Stamms der »heft«-Mitarbeiter -
auf schnellere Wertung und Entscheidung, auf publikationszentrierte
und die Zeitungsbelange bedenkenden Diskussionen bestand. Zwi-
schenzeitlich wurde eine Umlaufmappe mit den zu besprechenden Tex-
ten angelegt, und erneut saß man im Einzelstübchen, sichtete und be-
wertete Texte wie vorher. Besonders aus den Arealen der Autoren, die
als Gäste zuweilen nur ein- oder zweimal zur Gruppe stießen, wurde
Unmut an endlosen Diskussionen laut: Ein fast professionelles Interes-
se an Veröffentlichung herrschte hier nicht selten vor, die Autoren
wollten schlicht wissen, ob ihr Text nun angenommen werde oder
nicht. An Diskussionen, an Analysen und Interpretationen, kurz - an
einem Gespräch über Literatur, bestand weit geringeres Interesse.
U m die Geschichte des »kölner hefts« abzukürzen: Nach den vier
Jahren waren zwar nicht die idealistischen, wohl aber die finanziellen
Ressourcen restlos erschöpft. Das aufwendig gemachte 100-Seiten-Heft,
das in Qualität und Ausstattung, vor allem aber in seiner Resonanz
weit über das, was ursprünglich gedacht war, hinausgekommen war,
mußte sich mit einer zwar vollständig gestalteten, dann aber doch un-
veröffentlichten letzten Nummer verabschieden. Signale des Kultur-
amts der Stadt Köln, auch des Instituts für deutsche Sprache und Li-
teratur, unterstützend einzugreifen, kamen zu spät. Die Manuskripte
verschwanden wieder in der Schublade. Fast wie am Anfang.
Mit einem Unterschied: Die »Autorenwerkstatt«, die sich bald nach
den Schwierigkeiten im »offenen Lektorat« gegründet hatte, blieb be-
stehen. Hier sollte jene ausführliche Diskussion weiter ermöglicht wer-
den, die das Lektorat auf die Dauer - gegen die Ausgangsidee - über-
fordert hatten, so erzählte mir Karl Karst, der die Werkstatt bis 1985
leitete. Der auf Veröffentlichung ausgerichteten Lektorats-Diskussion
sollte schon zur Heft-Gründerzeit eine >Voröffentlichkeit< an die Seite
gestellt werden, in der nicht zuletzt auch solche Gespräche geplant wa-
ren, die auf »Verbesserung«, auf »Änderung«, auf ein »Überarbeiten«
der gelesenen Texte zielten. Autoren, die ihre Texte von Anfang an zur
Publikation anboten, hatten verständlicherweise wenig Interesse, sich
in ihre Zeilen hereinreden zu lassen.
Für Karl Karst, der damals beide Gruppen leitete, bedeutete dies
einen Mehraufwand an Zeit und Arbeit. Daher wurde der Plan über-
dacht, die »Autorenwerkstatt«, noch immer privat organisiert und in-
itiiert, zu institutionalisieren, um zumindest einen kleinen organisato-
rischen Teil abzugeben und den Zeitaufwand zu entschädigen. Ein wei-
terer Grund: Sie sollte zur regelmäßigen Einrichtung werden, unab-
hängig vom Initiator Karl Karst. Die Studiobühne der Universität, die
von ihren Mitgliedern selbstverwaltet wird, bot sich dazu an - zumin-
28 Ekkehard Skoruppa
stellen. Zum anderen wollen sich die meisten Autoren nicht an ein
Thema halten, wollen keine auf Vergleich angelegte Textproduktion,
keine Eingrenzung ihrer Freiheit. Der Tenor, daß die Werkstatt keine
Kreativitätsschmiede oder Lehrveranstaltung, eher ein auf Selbstinitia-
tive und Kritik abzielendes Lernforum für alle Beteiligten ist, hat sich
durchgesetzt. Bestünde indes einmal der dringende Wunsch, andere
Verfahren als die bisherigen auszuprobieren, nichts stünde dem im
Wege.
Oder doch? Aus den Ankündigungen in der Studiobühnenzeitung ist
zumindest Skepsis herauszulesen, wenn es um Schreiben nach Spiel-
und Lehrplan geht:
So ist die Werkstatt erneut offen für Leute, die mit und an ihren Texten
arbeiten wollen. >Fertige< oder >abgeschlossene< Texte sind nicht unbedingt
Voraussetzung in dieser >Voröffentlichkeit<, in der nicht abgeurteilt, sondern
kontrovers diskutiert wird. Die »Werkstatt« - ganz wörtlich zu nehmen - will
wiederum versuchen, produktiv zu helfen, vielleicht auf >Fehler< auf-
merksam zu machen, auf Unstimmigkeiten oder Brüche im Text hinzuwei-
sen, und - was nicht selten geschieht - Zustimmung zu bekunden. Freilich
sind Patentrezepte für >richtiges< Schreiben nicht zu erwarten, auch thema-
tische Schreibübungen haben sich als wenig sinnvoll erwiesen. Daher ist Vor-
aussetzung für die Arbeit der Werkstatt das Engagement ihrer Mitglieder.
Mit anderen Worten: Sollten die Schubladen einmal leer sein, hätte
sich die Autorenwerkstatt erübrigt. Sie spricht in erster Linie Interes-
sierte an, die bereits Schreiberfahrungen mitbringen und nicht erst auf
den Weg gebracht sein wollen. Nur mit einem schriftstellerisch aktiven
Teil ist es in dieser Gruppe möglich, auch Anfängern etwas zu bieten:
an der Reibfläche gelesener und diskutierter Texte entzündet sich man-
ches Mal ein eigener Versuch.
Die Spielregeln der Werkstatt sind schnell geschildert: Von Mal zu
Mal wird vereinbart, wer Texte und in genügender Anzahl Kopien mit-
bringt. Nachdem der Autor seinen Text gelesen hat, entwickelt sich die
Diskussion - zunächst oftmals schleppend, in Halbsätzen, mit ersten
vorläufigen Anmerkungen. Prinzipiell ist dem Hörer-Forum alles er-
laubt: direkte, unmittelbare Ablehnung wie spontane Zustimmung.
Schweigepausen nach der Lektüre gehören in den Bereich des Norma-
len: Halten sie länger als gewöhnlich an, betätigt sich der Gruppenlei-
ter manchmal als überbrückender Moderator. Daneben hat er kaum
eine andere Funktion als alle anderen. Hier und da vielleicht versucht
er, Argumente zu sortieren, den Gang der Diskussion zu vergegenwär-
tigen; aber auch dies übernehmen zuweilen andere Gruppenteilneh-
mer. An wenigen Stellen nur ist mit dem Hinweis auf Erfahrungen
einzugreifen: So hat es sich etwa erwiesen, daß die Befragung des Au-
tors kein probates Mittel ist, einen Text zu verstehen, zu interpretieren
» W i r h a b e n die S c h u b l a d e v o l l ! « 31
und zu werten. Ohne ihn muß das Gespräch in Gang kommen, der
Text selbst muß es erzeugen können. Die Gruppe nimmt in der Regel
die Position eines normalen Lesers ein, dem ebenfalls kein Autor auf
die Sprünge hilft. Gegen Ende der Besprechung freilich kommt es fast
stets zur Einbeziehung des Autors, zur Rückfrage an ihn. Bis dahin
kann die Autorenwerkstatt jenes Test- und Resonanzfeld sein, das er
häufig wünscht.
Manchmal laut werdende Mutmaßungen, in Schreib- und Literatur-
gruppen würden bloß höfliche Nettigkeiten ausgetauscht, treffen auf
die Autorenwerkstatt nicht zu. Es wird hart diskutiert, entschiedener
und auch spontaner als es manchem lieb ist. Zu Beginn des Semesters
versucht der Gruppenleiter daher stets deutlich zu machen, daß eine
gewisse Distanz von den eigenen Arbeiten wünschenswert ist. W e r mit
frischem Herzblut geschrieben hat und persönliche Dinge verhandelt,
wer in Gedichten etwa eben noch empfundene eigene und sehr wahr-
haftige, aber deshalb noch lange nicht literarisch gelungen dargestellte
Gefühle ausbreitet, der kann harte Kritik in der Regel schlecht ver-
tragen. Kritik in dieser Voröffentlichkeit aber muß vertragen können,
wer sich den Diskussionen stellt. Und so bleiben Gratwanderungen
nicht aus: Selbst wenn Polemik und hämische Verrisse nie vorgekom-
men sind, ernsthafte, sachliche und textzentrierte, aber sehr deutliche
Kritik vorherrscht - manchmal scheuen sich die Gruppenmitglieder,
ihr Urteil unverblümt zu äußern. Das häufig bei Texten, die nieman-
dem gefallen wollen, die jeder gern vom Tisch hätte. Da die Gruppe
sich ständig ändert, gibt es zwar keinen verbindlichen Gruppengeist,
keine allmählich entwickelten Kriterien (so es sie, was zu bezweifeln
ist, überhaupt geben kann), wohl aber wiederkehrende Fragen. Lauter
alte Kritikerfragen: was hat der Autor sich vorgenommen, ist das An-
liegen sinnvoll, wie hat er es durchgeführt, umgesetzt, thematisch und
sprachlich bewältigt? Auch ohne Leitung eines Dozenten tauchen in
fast jeder Diskussion solche Fragen auf, wird beschrieben und inter-
pretiert, schließlich gewertet - freilich selten unisono. Und doch glei-
chen sich oft die Eindrücke; beständiges Schweigen, Verlegenheitssätze
sind äußere Zeichen für schwierige Situationen: Wie sagt man einem
Schreiber, daß sein Text nicht nur » F e h l e r « , »Brüche« und »Unstim-
migkeiten« aufweist, daß nicht nur Sprache, Metaphern und Bilder
nicht stimmen, sondern daß an all dem mit Überzeugung Vorgetrage-
nen überhaupt nichts literarisch Diskutables zu entdecken ist. Hier ist
Fingerspitzengefühl vonnöten.
tionen, nicht für Probleme mit dem eigenen Schreiben. Da ist das un-
beholfene Schreiben ein Vehikel der Kontaktsuche, und die Veröffent-
lichung, selbst in dieser Voröffentlichkeit, entspricht einem höchst pri-
vaten Mitteilungsbedüfnis. Da texten sich die Autoren ihre Probleme
von der Seele - auf schiefer Ebene, denn das Gewicht liegt auf der
Problemseite. Das hört sich herablassend an, soll es aber nicht. Schrei-
ben als Selbstvergewisserung, Literatur als Therapie hat ihre Berechti-
gung, aber die Gruppe als Therapeutengemeinschaft wäre schlicht
überfordert.
Daß die Texte, die bei uns vorgestellt , kritisiert oder auch >verris-
sen< werden, in manchen Fällen nicht zuletzt von den Schreibern selbst
handeln, macht sie freilich noch nicht alle zu öffentlichen Tage-
bucheintragungen, zu >Objektivierungen< bloß privater Lebensproble-
me. Die literarische Ambition rangiert in den Diskussionen immer
ganz oben - und das soll auch so bleiben. Daß literarisch unverarbei-
teten Verletzungen und Erschütterungen nicht weitere von der Kritik
hinzugefügt werden, dazu ist die Gruppe sensibel genug. Freilich hält
es Schreiber, die wahrhaftig empfinden, aber wahrhaft schlecht schrei-
ben, auch nicht lange bei uns.
Die Unterschiede der vorgelesenen und vorgelegten Arbeiten sind
ebenso gewaltig wie die Voraussetzungen und Fertigkeiten der Auto-
ren: Literarische Talente, die zum Teil mehrfach bereits veröffentlicht
haben, die als freie Autoren zu leben versuchen und täglich Stunden
am Schreibtisch verbringen, treffen im Extremfall auf Gelegenheits-
schreiber, für die das Schreiben eher ein Hobby ist. Das schafft natür-
lich ein Qualitätsgefälle, kann zu Konflikten führen, wenngleich letz-
teres bisher nur selten der Fall war. Im Sommersemester 1987 aller-
dings taten sich zum ersten Mal Gräben auf. Der Zulauf neuer Mit-
glieder überwog den älteren Stamm bei weitem. Und Gebrauchslyrik ä
la Allert-Wybranietz stieß bei den Neuen überraschend auf großen Bei-
fall. Das wiederum verprellte manchen Alt-Werkstättler, der sich vom
Niveau der Gespräche enttäuscht sah. Das Prinzip der offenen Gruppe
aufrecht zu erhalten und dennoch nicht immer völlig von vorn anfan-
gen zu müssen, etwa mit Diskussionen um literarische Qualität, dies
macht in der Tat die meisten Probleme. Was langjährigen Gruppen-
mitgliedern längst abgehandelt scheint, kann für Neuzugänge noch völ-
lig unentschieden sein. Was an Texteigenheiten der häufig Vortragen-
den dem Stamm der Werkstatt-Mitglieder bekannt ist, das ist für jene
Neuland. Und da die Gruppe nicht von gemeinschaftlichen Übungen,
nicht von Gruppen-Spielen und -Aufgaben, sondern eher von der li-
terarischen Weiterentwicklung der einzelnen Autoren lebt, ist es stets
eine schwierige Frage, wie sich Neuzugänge integrieren lassen. Dem
Gruppenleiter bleibt als Moderator des Gesprächs zuweilen nichts an-
»Wir haben die Schublade voll!« 33
Vom Prinzip her ähnliches wollten auch wir versuchen; die Voraus-
setzungen f ü r eine gemeinsame Hörspielerkundung waren zudem gün-
stig daher, daß kaum einer der Beteiligten je mit diesem Medium in-
tensiver gearbeitet hatte. Anders als beim Schreiben mußten hier also
keine unterschiedlichen Entwicklungsstufen und individuellen Eigen-
heiten berücksichtigt werden, anders als beim Schreiben wollten sich
alle Schreiber dem Gemeinschaftsprojekt unterordnen. In der damali-
gen Einladung an Karl Karst, der bereits seine Dramaturgenstelle in
der Hörspielabteilung des Bayerischen Rundfunks übernommen hatte
und das Projekt mit Interesse und Unterstützung verfolgte, hieß es:
Geplant sind Erkundungen auf einem für viele Autoren neuen medialen Ge-
biet. Bislang >nur< mit dem Medium der Sprache in schriftlich fixierter Li-
teratur vertraut, wollen sich neun >Schrift-Steller< mit den Möglichkeiten der
akustischen Kunst auseinandersetzen und in gemeinsamer Arbeit ein »Hör-
Spiel«, ein Spiel mit Hörbarem produzieren. Bewußt ist in Vorgesprächen
nicht der Weg eines starren Manuskriptstücks eingeschlagen worden, sondern
der einer ad-hoc-Produktion, die aus bereits gesammeltem Sprach- und Spiel-
material erst vor Ort entstehen soll. Die Dokumentation der Annäherung an
das akustische Medium gehört ebenso zu den Zielen der Arbeitswoche wie
die Notation der akustischen Spiele dieses in seiner Art erstmaligen Grup-
penstücks der Autorenwerkstatt.
Der Versuch schlug, nimmt man nur das nie fertig gewordene End-
produkt, letztlich zwar fehl, aber dies lag allein an der Nachbearbeitung
des aufgenommenen, vielversprechenden Materials, das in Köln colla-
giert und montiert werden sollte. Die im besten Fall semi-professionel-
len Geräte, mit denen die Studiobühne dienen konnte, reichten für den
schwierigen Schnittplan bei weitem nicht aus. Gleichwohl war das pri-
vat organisierte Seminar ein Erfolg: Das Interesse für Hörspiele war
geweckt worden und hält bis heute an.
Generell bedauerlich ist, daß selbst ein Versuchsstadium, für das die
Rundfunkanstalten verständlicherweise nur schwer zu begeistern sind,
an einer deutschen Universität kaum durchzuhalten ist. Es fehlen die
technischen Voraussetzungen: Hörspielstudios, die den praktischen Zu-
gang zum Medium sichern könnten, sind Mangelware. Und so bleibt
diese eigenständige akustische Kunstform zwischen Literatur und Mu-
sik, die sich anböte zur Gruppenarbeit in entsprechenden Werkstätten,
fast stets verschlossen für experimentelle Erkundungen. Natürlich bie-
ten sich auch andere Gruppen-Aktivitäten an, die weniger Aufwand
erfordern. Auch die Autorenwerkstatt nutzt sie. Neben Bühnentexten
für die Studiobühne, an der mehrere Werkstättler schreiben wollen,
neben einer anderen Gruppe innerhalb der Werkstatt, die daran denkt,
eine regelmäßig erscheinende Theater-Zeitschrift in Zusammenarbeit
mit der Studiobühne aufzubauen, sind es vor allem Lesungen, die ge-
meinschaftlich gestaltet werden können. Schon 1984, noch unter der
»Wir haben die Schublade voll!« 35
Leitung von Karl Karst, trat die Werkstatt gleichsam als Veranstalter in
der Reihe »Lektionen»auf: Bei den groß angelegten Abenden lasen
vornehmlich bekannte Autoren, Bodo Morshäuser etwa oder Erich
Fried. In Absprache mit Fried, der ein großes Publikum lockte, wurde
aber auch Unbekannten die Chance der Lesung eingeräumt: während
der Veranstaltung, so war es angekündigt, konnten Interessierte eigene
Texte »spontan« lesen. Allerdings ging ein (ebenso spontanes) Lektorat
voraus, die Veranstaltung hätte sonst kein Ende gefunden. Die Idee der
>Spontanlesung< stieß durchaus auf Zuspruch und hatte Erfolg bei Au-
toren und Publikum.
Seit 1986 veranstaltet die Werkstatt in einer neuen Reihe, nun aber
in kleinerem, intimerem Rahmen, eigene Lesungen, die bislang nur
Werkstatt-Mitglieder präsentierte. Die alte »Lektionen«-Idee, eine
Mischform zu versuchen, ist zwar noch nicht aufgegeben, aber nach
einer Neuorientierung schien es zunächst wichtig, in ausschließlich ei-
gener Sache den Bereich der »Voröffentlichkeit« zu verlassen. Immer
häufiger wünschten Mitglieder ihre Texte in einer Gruppenlesung ei-
nem größeren Publikum vorzustellen. Nicht jeder Text hat dabei be-
sondere literarische Güte, aber es gibt, so bestätigt zumindest die Pres-
se, lohnenswerte Entdeckungen. Ein Textheft soll der Flüchtigkeit des
Hör-Eindrucks begegnen, die Lesungen sind künftig für jedes Seme-
sterende geplant. Daß die Werkstatt zudem eine kleine Anthologie vor-
bereitet, zeigt nicht nur, daß mittlerweile auch Aktenordner mit Ar-
beiten gefüllt sind, es zeigt auch, daß die schnelle, unbedingte Publi-
kation nicht das Ziel der Arbeit sein soll. Denn es hat Jahre des Sam-
meins gebraucht, bis eine kleine, kritisch ausgewählte Sammlung ent-
stehen konnte.
Albrecht Schau
3: Modell 1
4: Modell 2
Anders als der Schreibkurs nach Modell 1 lief Modell 2 während des
Semesters als >normale< Seminarveranstaltung. Wieder nahmen mehr-
heitlich Studenten mit der Fächerverbindung Deutsch/Kunst teil.
Auf eine Themenvorgabe wurde verzichtet, auch auf eine Festlegung
des Adressatenkreises. In der ersten Sitzung wurden die Interessen der
19 Teilnehmer erhoben und diskutiert, desgleichen die der >Experten<.
Erste Probleme ergaben sich, als Jugendbuchautor und Lektorin erken-
nen ließen, daß sie nicht an allen Sitzungen teilnehmen könnten. Das
Interesse der Lektorin war ohnehin auf die Lektorierung des fertigen
Manuskriptes verkürzt. Der Jugendbuchautor war durch seine Tätig-
keit als Lehrer gebunden. Auch er beteuerte, nur an drei Sitzungen
teilnehmen zu können. Doch sein Interesse an dem Schreibseminar
war deutlich weiter gesteckt. Zunächst versuchte er - belegend durch
Buchbeispiele vor der Reproduktion von Klischees zu warnen. An-
dererseits war er bereit mitzuhelfen, eine »Schreibbewegung« vorsich-
tig in Gang zu bringen und in Stilfragen mit Rat und Tat beizustehen.
Eine Abstimmung vor Semesterbeginn unter den Supervisoren gab es
insofern, als man sich aus didaktischen und praktischen Erwägungen
auf ein »offenes Vorgehen« verständigte. Während des Semesters litt
die Seminararbeit u. a. dadurch, daß Lektorin und Jugendbuchautor zu
sehr in ihre berufliche Tätigkeit eingebunden waren. Erstaunlich rasch
erfolgte bereits in der dritten Sitzung eine Einigung auf Thema, Genre
und Adressatenkreis, der etwas weit auf 8 bis 12 Jahre gefaßt wurde,
was wiederum mit der Seminarankündigung als auch dem gewählten
Stufenschwerpunkt der Teilnehmer zusammenhing.
Da sich auch die verbliebenen Experten bereiterklärten, an der Text-
produktion teilzunehmen, war die Idee f ü r eine Anthologie rasch ge-
boren. Einig war man sich auch darin, daß das Thema möglichst weit
gefaßt werden sollte. Es sollte alles gestatten und nichts ausgrenzen.
Der Vorschlag »Die Schublade« wurde nach eingehender Diskussion
akzeptiert.
Auch dieses Schreibseminar wurde nicht empirisch begleitet. Wieder
war es ausdrücklicher Wunsch der Studenten, die Selbstregulation
mündlich in den Plenumssitzungen vorzunehmen, aber nicht zu do-
kumentieren, man fürchtete um die Spontaneität der Arbeit.
Neben Prosatexten kamen Gedichte zustande, aber auch Cartoons
sowie Illustrationen zu den Texten.
Der Seminarablauf wurde wie folgt festgelegt: die Texte sollten ein-
zeln oder in Gruppenarbeit zu Hause fertiggestellt, kopiert und dann
im Seminar diskutiert werden. Theoretisches Wissen sollte nur gezielt
dort herangezogen werden, wo dies auch tatsächlich nötig war. Nötig
war es nur in einem Fall.
Kreatives Schreiben - Beschriebene Kreativität 41
HAIKU
In siebzehn Silben
gleitet über drei Zeilen
eine Strophe aus
(Carl Heinz Kurz (1983))
E : Und verwehrt nicht auch die doch sicher ganz andersartige japani-
sche Prosodie eine solche Transposition?
chen, auch der horazischen Ode 1 - müßte umgekehrt auch eine Rezep-
tion fernöstlicher Kunst bei uns gelingen.
Im übrigen dauert dieser Integrationsprozeß des japanischen Haiku
schon lange an, er fällt zeitlich zusammen mit dem Beginn der euro-
päischen Lyrik der Moderne. Spätestens seit Georg Trakl ist die deut-
sche Lyrik der Moderne eine ichlose Lyrik, das Ich bringt sich nicht
mehr selbst explizit in den lyrischen Vorgang ein. Ähnlich ist es im
Haiku, wo das Ich anonym bleibt, sich zurücknimmt und sich auch
nicht versteckt in Personal- und Possessivpronomina. Vermutlich we-
gen dieser Affinität erwachte bei den modernen europäischen Lyrikern
das Interesse am Haiku, zuerst in Frankreich um die Jahrhundertwen-
de, dann in Deutschland bei Arno Holz, Paul Ernst und besonders bei
Rilke. Während des Ersten Weltkriegs wurde es besonders in Frank-
reich populär.
Die zweite große Rezeptionswelle ist nach dem Zweiten Weltkrieg zu
beobachten. Besonders seit den 60er Jahren verbreitet es sich rasch -
außer in Frankreich - vor allem in Jugoslawien, dann in Übersee in
Mexiko und den USA. Dort gibt es inzwischen fünf Haiku-Zeitschrif-
ten und eine Fülle entsprechender Forschungsliteratur.
Einflüsse des Haiku sind nachgewiesen im Werk von Paul Eluard
und Ezra Pound, beim Griechen Seferis; Brecht hat sich zu seinen
Kurzgedichten der Spätphase von dieser fernöstlichen Form anregen
lassen (wie vom Nö-Spiel in seinen Lehrstücken). Zu Rilkes Begegnung
mit dem Haiku lesen Sie bitte den Beitrag des Amsterdamer Germa-
nisten Herman Meyer in der Zeitschrift »Euphorion« von 1980.2 Rilke
lernte das Haiku ab 1920 in französischer Übersetzung kennen. Meyer
zeigt auf, wie anregend die japanische Haiku-Dichtkunst auf Rilkes
poetologisches Selbstverständnis und auf seine Formulierungskunst in
seinen letzten Lebensjahren, vorrangig in seinen französischsprachigen
Gedichten, gewesen ist. Meyer belegt auch, daß beim späten Rilke von
klassischer Geniepoetik mit ihrer vermeintlich spontanen Schaffens-
kraft nicht die Rede sein kann, auch Rilkes Gedichte sind in langen
Schaffensprozessen erarbeitet. Auch seine Gedichte sind, im Sinne der
von Benn formulierten neuen Schaffenspoetik, »gemacht«. Bewußt ge-
macht von einem modernen Künstler, der das von der technischen
Welt dem heutigen Menschen aufgezwungene bloße rezeptive Verhal-
ten durch Kunstproduktion beenden, zumindest zeitweilig durchbre-
chen will.
1
Ich verweise auf die chinesische Festschrift »Ho-la-tz'u-chi-rien-t'e-paän«
( D e m Andenken des Horaz), Tientsin Peiping 1935. Man könnte an solchen
Integrationsversuchen die tragende Qualität des Gattungshaften und seine
ethnische Ubiquität studieren.
2
Herman Meyer: »Rilkes Begegnung mit dem Haiku«. In: Euphorion 1980,
S. 134-168.
Texten von Kurzgedichten 47
Und damit sind wir ja wohl beim Hauptanliegen, das Sie letztlich in
ein solches Schreibseminar führt. Ihre Abwehr bloßer Rezeptionsäs-
thetik verstehe ich als Abwehrhaltung einem Dasein gegenüber, das
lediglich in einem rezeptiven Funktionieren auf die Signalelemente der
Umwelt bestimmt ist. Als »Gegengewicht zu einer allgegenwärtigen
Trockenheit unseres Nützlichkeitsdenkens« könne das Haiku-Dichten
wirken, heißt es in einer neuen Publikation von Haiku-Texten. 3
A: Meines Wissens ist das japanische Haiku mit einer ganz bestimm-
ten, religiösen Vorstellungswelt verbunden, dem Zen-Buddhismus, der
uns fremd ist und den meisten auch fremd bleiben wird. Ist da noch ein
Texten in Mustern, denen diese religiöse Vorstellung zugrundeliegt,
möglich?
SL: Soweit wir uns nicht auf den Zen-Buddhismus persönlich einlas-
sen, m u ß uns diese religiöse Vorstellungswelt sicher verschlossen blei-
ben. Der neueste Haiku-Forschungsbeitrag in Europa stammt von Yo-
riko Yamada-Bochynek. 4 Er hat die Affinität zwischen dem spezifi-
schen religiösen Erfahrungsmodus und dem Haiku aufgezeigt und sie
aus vorlogischen Erkenntnisprozessen erklärt, auf die beide zurück-
griffen.
Was den spezifisch religiösen Erfahrungsmodus anbelangt: in dieser
Hinsicht kann die Integration echter Haiku-Vorstellungswelt in unsere
Haiku-Versuche nicht geplant sein. Eine solche Affinität, wie sie für
das Haiku East gilt, braucht ja auch nicht für eine neue Gattung Haiku
West zu gelten. Hinsichtlich der religiösen Vorstellungswelt wollen wir
das Haiku nicht nachahmen, aber wir können uns auf das fremde Stil-
muster einlassen, um zu prüfen, was uns daran anzusprechen vermag.
Dazu sollten wir über die innere Gattungsgesetzlichkeit des Haiku
mehr wissen. Wie bei jeder Gattung ergeben sich letztlich erst aus dem
Studium der Gattungsgeschichte vertiefte Einsichten. Wir müßten also
die große Fülle der Gattungsbeispiele von den Anfängen bis heute stu-
dieren.
Das kann hier nicht unsere Aufgabe sein. Im Handapparat steht eine
Menge Literatur bereit, um sich darüber informieren zu können. 5 Die
3
Hans und Hilde Kasdorff: Augenblick und Ewigkeit. Haiku. Bonn: Bouvier
1986 (mit Rezension in der FAZ, 7.3.1987, 26).
4
Yoriko Yamada-Bochynek: Haiku East and West: A Semiogenetic Approach.
(Bochum Publications in Evolutionary Cultural Semiotics, Vol 1), Bochum
1986.
5
In Auswahl (soweit nicht bereits vermerkt): Kenneth Yasuda: The Japanese
Haiku. Its essential nature, history, and possibilities in English, with selected
examples. Tokyo: Rutland, 7th pr. 1985. Dietrich Krusche: Haiku. Bedingun-
gen einer lyrischen Gattung. Übersetzungen und ein Essay. Tübingen, 41982.
Keiji Kato: Deutsche Haiku. Ein kurzer Beitrag zur vergleichenden Litera-
turgeschichte. Tokyo: Nagata 1986. Jürgen Berndt: »Japanische Literatur«.
48 Otto Dörner
beste Kennerin des Haiku aus unserem Kreis ist Frau Buerschaper. Sie
hat sich intensiv mit der Gattungsgeschichte und der Baugesetzlichkeit
des Haiku befaßt und selbst schon zahlreiche Haiku veröffentlicht. 6 Ich
habe sie gebeten, uns kurz mit den wichtigsten literarästhetischen Ei-
genheiten der Haiku vertraut zu machen, auf daß wir versuchen kön-
nen, uns selbst auch an die Erprobung des fernöstlichen Stilmusters zu
begeben, um eine mögliche Vorbildhaftigkeit für unser Texten zu er-
kennen.
Frau B: Das Haiku geht vom Bild aus, von der Impression. Dieses Bild
ist mit wenigen Worten in der treffendsten Weise darzustellen. Der
lyrische Vorgang des Haiku ist bestimmt durch Bewegung und Zwei-
poligkeit. Als Pole gelten im Haiku Begriffe, die eine Kontraststellung
ermöglichen: Himmel - Erde, Stille - Sturm, See - Wolken. Eine Be-
wegung zwischen den Polen kann aus jeder Empfindung entstehen
durch Geräusch, Geruch oder unsichtbare Wahrnehmungen. Ein Bei-
spiel - es stammt von Hans Stilett - möge verdeutlichen:
Der Stubenfliege
schwarze Lebenskraft verzuckt
im Netz der Spinne
Die beiden Pole werden in diesem Gedicht durch die beiden Insekten
angedeutet. Sie können als Einfachheit und Raffinesse, als Dummheit
und Klugheit gedeutet werden. Die Bewegung fließt von dem Zappeln
der Fliege, das nicht ausgesprochen wird, weil das Bild diese Assozia-
tion von selbst auslöst, durch das Netz zur starr lauernden Spinne. Fest-
gehalten ist nur der Augenblick, in dem die Bewegung endet, bildkräf-
tig dargestellt in dem Verb »verzuckt«.
Das Verb stellt in diesem Haiku auch gleichzeitig die W e n d u n g
dar, vom Zappeln zum Stillwerden, vom Kämpfen zum Aufgeben, vom
Leben zum Tod. Bild, Bewegung und Wendung sind die notwendigen
handwerklichen Elemente des inneren Aufbaus. Das Entscheidende ist
der im Haiku verborgene Sinn, verborgen, weil unausgesprochen, zwi-
schen den Zeilen: »Der ästhetische Reiz einer Impression, der nicht
geringere einer polar bestimmten Bewegung auf kleinstem Raum, dies
alles soll dem verborgenen Sinn nur dienen.« 7
S L : Wir danken Frau Buerschaper für ihren Beitrag. Von ihren eigenen
Haiku wird sie uns in der nächsten Sitzung zwei vorstellen und erläu-
tern. Und alle anderen sollen sich nun erstmals an die praktische Hai-
ku-Textarbeit wagen und ihre Texte das nächstemal vorstellen.
7
Wilhelm von Bodmershof: »Studie über das Haiku«. In: I. v. Bodmershof: Im
fremden Garten. Zürich: Arche 1980.
50 Otto Dörner
M:
Ganz
anders wird mir
ganz anders
w e n n ich dich seh
D u Frau
wunderbare Frau
tolle Frau
T a n z e n wir
tanzen den R a u s c h
den Rausch aus
den g a n z e n
den g a n z e n b e t r u n k e n e n
Tag mal wieder
ganz anders mal wieder
ganz anders
den R a u s c h den
betrunkenen T a g
M : Ja, u n d ich betone erneut: Ich will nicht ambitioniert texten und
elitär, sondern anti-ambitioniert und anti-elitär. Ich habe den T e x t be-
w u ß t » f l a t « gehalten, bewußt antihermetisch und unbebildert im Sinne
einer postmodernen »Ästhetik der O b e r f l ä c h e « , und ich zitiere A n d y
W a r h o l : » A l l is pretty«.
den, wie es H. Härtung formuliert hat, sondern sie will dem Leser »zu
einem Trip ins Unbekannte verhelfen«. 8
[Bald sind die ersten Umformungsversuche fertig und werden vorge-
stellt]
SL: Hier haben wir schon einige Reduktionsvorschläge von Marcos
Gedicht, alle ranken sich um die geglückte Wendung vom »betrunke-
nen Tag«. Marco möge die beste davon benennen:
Wir tanzen den Rausch
den betrunkenen Tag aus
tanzen wir tanzen
Komm, tanze den Tag,
den betrunkenen Tag aus,
der zärtlich sich neigt.
Komm, tanze den Tag
mit mir, den trunkenen Tag,
der rauschhaft sich neigt.
M : Die letzte Version gefällt mir schon ganz gut. Aber damit Teil I
meines Gedichtes nicht ganz herausfällt, soll er wenigstens im persön-
lichen Anruf, im Imperativ, erhalten bleiben und in den Eingangsvers
eingehen, etwa so:
Komm tanze mit mir
den betrunkenen Tag aus
der rauschhaft sich neigt.
[Beifällige Anerkennung]
Auch euer Beifall wird mich nicht veranlassen, fortan das Haiku als
heilige Kuh anzubeten. Und damit niemand haiku-süchtig wird: Lest
mal Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht in »Westwärts 1 & 2«, betitelt
»Highkuh, West«. 9
SL: Das ist ein schöner Hinweis am Schluß unseres heutigen Ge-
sprächs. Aber Brinkmanns Gedicht stellt einen Gegenpol zu seinen
Pop-Art-Texten dar. Die Titulierung zeigt deutlich, daß er das fernöst-
liche Haiku kannte. Er hat sich in seinen letzten Schaffensjahren mit
dem Zen-Buddhismus beschäftigt und auch die berühmten Zen-Koans,
8
Harald Härtung: »Lyrik der >Postmoderne<. Vier Beispiele zu einer Ästhetik
der Oberfläche«. In: Abhandlungen aus der Pädagogischen Hochschule Ber-
lin, Bd. I, Berlin: ColloquiumVerlag 1974, S. 303-328.
9
Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Reinbek: Rowohlt 1975,
S. 26.
52 Otto Dörner
II
Ο diese Haiku!
Wollte abends eins nachsehen -
schon naht der Morgen.
(I. v. Bodmershof)
Spätsommerabend.
Im Schilf singt der Wind. Gilt es
den Wasserjungfern?"
In der Tat ist die zweite Fassung viel besser. Als mögliche Variante wird
noch ein kräftigeres, transitives Verb für den Schlußsatz vorgeschlagen
und der Singular beim Objekt:
Spätsommerabend.
Im Schilf singt der Wind. Lockt er
die Wasserjungfer?
Auch mit den geänderten Fassungen ist Frau B. nicht zufrieden. Sie
bemängelt, daß die Umstellung das Naturbild verallgemeinere, es wür-
de noch weniger Momentaufnahme und sei auch rhythmisch nicht ge-
nügend markant.
Die Zuhörer teilen diese Selbstkritik nicht und meinen, wobei ihnen
der SL beipflichtet, es komme nicht darauf an, eine echte Haiku-
Momentaufnahme zu gestalten, sondern ein gelungenes deutsches
Kurzgedicht.
Auch das zweite Beispiel legt Frau B. in doppelter Fassung vor:
Schweigender Abend Still ist der Abend
Zitternd ahnen die Pappeln Nur das Pappellaub zittert
aufkommenden Wind ahnt den leisen Wind.
Die Auflösung der Partizipien in der zweiten Fassung erzwinge zwar
die Verwendung des Hilfsverbs und zweier zusätzlicher Artikel, erfülle
jedoch die Forderung nach schlichter, motivbezogener Aussage in ein-
facher Sprache. Wieder wird deutlich, daß sich Frau B. streng am ori-
ginären Vorbild orientiert und die Vorschriften japanischer Haiku-
Lehrer nicht nur hinsichtlich der 17-Silbigkeit und ihrer Verteilung
auf drei Verse beachtet wissen will.
" Margret Buerschaper wird hier - wie auch im Diskurs-Teil - zitiert nach ihrer
Magisterarbeit: Das deutsche Kurzgedicht in der Tradition japanischer Ge-
dichtformen (Haiku, Senryu, Tanka und Renga). Geschichtliche und gat-
tungstheoretische Darstellung. Vechta (masch.) 1986.
54 Otto Dörner
Stürzende Tanne
Bald hat der Kupferstecher
lautlos das Schlußwort.
Jetzt stellt sich auch der SL mit einem Waldsterben-Gedicht der Kritik.
Es ist dreistrophig. Er möchte damit einer allzu engen prosodischen
Nachahmung des japanischen Haiku entgegensteuern, indem er ein
dreistrophiges Gedicht vorlegt, in dem die Silbenzahl in den einzelnen
Versen variiert und der längere Vers nicht - wie im >echten< Haiku - an
zweiter Stelle erscheint, sondern an erster. Sicher sei damit kein Haiku
getextet worden, aber ein mögliches deutsches Kurzgedicht, das das
japanische Vorbild noch durchscheinen lasse:
W o r t e schmieren
polstern die spitzen K a n t e n
dichten die Fugen.
Worte gleißen.
Sie gaukeln dir G l ü c k vor
und spielen dir mit.
Bei der Frage nach dem Produktionsprozeß ergibt sich wie selbstver-
ständlich die Lektüre des ganzen Gedichts von Platen, aus dem ein-
gangs zitiert wird, und des Venedig-Gedichts von Nietzsche: » A n der
Brücke stand / Jüngst ich in brauner Nacht [...]« und führt zu Über-
legungen, wieweit Platen und Nietzsche für Thomas Manns Novelle
bedeutsam waren.
Die angehenden Deutschlehrer unseres Arbeitskreises wollen die li-
teraturdidaktische Anregung für ihren künftigen Deutschunterricht in
der gymnasialen Oberstufe aufgreifen. Sie erkennen die geglückte Ver-
bindung v o n Literaturrezeption und kreativer Textproduktion: das in
den Fragehorizont gestellte Werk muß zunächst gründlich gelesen wer-
den; das rezeptiv Angeeignete wird dann z u m Material der kreativen
Eigenleistung umgewandelt und kann in einem dreizeiligen Kurzge-
dicht eine bündige Gestalt finden. Der Literaturlernende kann auf die-
se Weise die Verquickung von bloßer interpretatorischer Literaturbe-
trachtung mit produktivem Eigenschaffen erfahren.
1. Grundlagen
1
Um Schreibpausen, Körperpostitionen, Blick etc. festzuhalten, werden die
Autoren mit zwei Kameras gefilmt und die Manuskripte anschließend nach
einem speziellen Verfahren transkribiert. Außerdem werden in einigen Ver-
suchsserien die Autoren dazu aufgefordert, den Schreibvorgang durch sog.
lautes Denken (laute Kommentare) zu begleiten. - Bislang wurden die Text-
sorten Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Textes (summary), Weg-
beschreibung, geschäftlicher Brief, Gebrauchsanweisung untersucht.
60 Gisbert Keseling
2
Unter konditioneller Relevanz (conditional relevance) wird in der Konver-
sationsanalyse eine spezielle Beziehung zwischen den beiden Teilen einer
Paarsequenz (ζ. B. Frage - Antwort, Gruß - Gegengruß) verstanden, derart,
daß durch die Realisierung eines Paar-Teils das zweite Paar-Teil für einen
nächsten Sprecher relevant wird (ζ. B. Sacks 1972).
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse 61
es nach und zum Teil auch während des Schreibprozesses sog. Kon-
trollphasen, in denen das zuvor Geschriebene noch einmal gelesen und
gegebenenfalls geändert wird. Die Makrostruktur des Schreibprozesses
läßt sich also als Folge von drei Makro-Phasen darstellen: globale Pla-
nung, Formulieren, Kontrollieren, wobei die mittlere Phase in unre-
gelmäßigen Abständen durch Phasen globaler Planung u n d / o d e r Kon-
trolle unterbrochen sein kann. In etwa entspricht dies dem von Gal-
perin (1969, 1973), Α. N. Leontjew (1971), Α. A. Leont'ev (1975) im
Rahmen der Wygotskischule entwickelten Tätigkeitsmodell mit den
Phasen Orientierung, Ausführung, Kontrolle. Demgegenüber scheint
der Formulierungsprozeß zumindest in Phasen flüssiger Produktion
weitgehend lokal organisiert zu sein. Der Schreibfluß wird hier mehr
oder weniger regelmäßig durch Satzpausen von mittlerer Länge unter-
brochen. Die während dieser Pausen ausgeführten Aktivitäten schei-
nen geordnet zu sein: Wenn Autoren sich Gedanken über den Inhalt
ihres nächsten zu schreibenden Satzes machen (Reflexionen), dann er-
scheinen diese in den lauten Kommentaren zuerst. Diese Phase wird
dann abgelöst von sogenannten lauten Vorformulierungen, die der an-
schließenden Niederschrift vorausgehen und mit dieser im Großen und
Ganzen, aber nicht immer vollständig übereinstimmen. Wichtig für
den Schreibprozeß ist nun das Verhältnis von Reflexionsphase und
Vorformulierungsphase: in den lauten Kommentaren zu den Wegbe-
schreibungen enthalten die Reflexionen und die Vorformulierungen
ein gemeinsames Wort, in der Regel eine Ortsbezeichnung oder einen
Orientierungspunkt. Abgesehen von diesem einen Wort (in selteneren
Fällen ist es auch eine Phrase) sind Reflexion und Vorformulierung
sprachlich jedoch in keiner Weise identisch. Erstere sind metasprach-
liche Ausdrücke vom Typ »jetzt schreibe ich am besten über X«, wäh-
rend die letzteren der Objektsprache angehören. Das gemeinsame Wort
X scheint den Anstoß zur Formulierungsphase zu geben,· denn die
Reflexionen werden häufig mit dem Auftauchen des Wortes X abrupt
abgebrochen. Ebenso abrupt taucht jetzt eine erste Vorformulierung
auf; aus dem Wort X wird ein Satz oder ein Teilsatz, der plötzlich als
Einheit da ist. D. h. eine Vorformulierung wird nicht Wort für Wort zu
dem »Anstoßwort« X hinzukonstruiert, sondern sie taucht als Ganz-
heit im Bewußtsein auf.
Vorformulierungen scheinen nun der »Ort« zu sein, an dem der
Autor seinen Satz oder seinen Teilsatz evaluiert. Das geschieht in der
Weise, daß in kritischen Situationen, d. i. insbesondere bei nicht flüs-
siger Produktion, der Satz oder Teilsatz oft mehrmals verbal modifi-
ziert wird, in der Regel jedoch so, daß der Satzrahmen, die syntaktische
Struktur und größere Teile der lexikalischen Füllung beibehalten und
nur einzelne Wörter ausgetauscht werden. Manchmal wird in solchen
62 Gisbert Keseling
(1) Zehn Minuten lang ohne Pause schreiben mit vorgegebenen oder frei zu
wählendem Thema ( = sich warm schreiben).
(2) Variation von (1): 10 Minuten ohne Pausen schreiben, in den nächsten 10
Minuten Pausen einlegen, wenn es notwendig ist.
(3) In dem ohne Pausen geschriebenen Text nach einem Muster oder einer
Struktur suchen. Was ist neu oder was ist altbekannt?
(4) Einen vorgegebenen Textanfang mustergerecht fortsetzen.
(5) In einem zuvor geschriebenen Text nach Stellen suchen, an denen sich der
Autor »O. K.« bzw. nicht »O. K.« fühlte, die entsprechenden Stellen verschie-
denfarbig unterstreichen.
(6) Einen Text oder Textteil auf zwei nebeneinanderliegenden verschieden-
farbigen Blättern schreiben, einem Reinschriftblatt und einem Kladdenblatt.
64 Gisbert Keseling
ren Übungen überwiegt dagegen der kreative Aspekt: die Dialoge zwi-
schen Körperteilen, mit dem unsympathischen oder >ekligen< Men-
schen usw. sollen die Teilnehmer dazu bringen, beim Schreiben nicht
nur >sich selbst< zu gestalten, sondern Rollen anzunehmen und verin-
nerlichte >Stimmen< von Eltern, Freunden, Partnern usw. lebendig wer-
den zu lassen und diese unter Umständen auch beim Schreiben aus-
zuleben, d. i. den inneren Dialog mit einem Widersacher o. ä. nicht nur
als technisches Schreibproblem, sondern als (nicht immer bewußtes)
Problem der eigenen Lebensgeschichte anzusehen. Wie sich in allen
bisher durchgeführten Schreibseminaren zeigte, wirken sich solche dia-
logischen Schreibübungen auch auf den Gruppenprozeß aus, derart,
daß in den szenischen Darstellungen Übertragungen auf andere Grup-
penmitglieder deutlich werden. Wenn sich beim Vorlesen oder in den
Gesprächseinheiten Präferenzen für ganz bestimmte Themen u n d /
oder Charaktere zeigen, werte ich dies als mögliches Indiz für die
Wirksamkeit aktueller Übertragungen, auf die ich in der Regel jedoch
nicht verbal, sondern durch die Auswahl bestimmter Schreibthemen
reagiere, um auf diese Weise - mehr oder weniger stumm - einen be-
gonnenen Gruppenprozeß voranzutreiben und, wichtiger noch, um da-
durch für eine latente Verzahnung von Schreib- und Gesprächssitzun-
gen zu sorgen. - Es ist mir wichtig, daß den Teilnehmern diese innere
Verbindung deutlich wird und daß sie lernen herauszuspüren, wann in
ihren Texten Elemente aus dem Hier und Jetzt auftauchen. Nur letz-
teres thematisiere ich explizit, manchmal verwende ich dazu auch
Wahrnehmungs- und Meditationsübungen nach dem Vorbild von
Perls/Hefferline/Goodman und Stevens, die ich in der Regel allerdings
so modifiziere, daß der Schreibprozeß und dessen Produkte im Mittel-
punkt stehen. Manche dieser Übungen beziehen sich ausschließlich auf
die materielle Seite des Schreibens, die verwendeten Materialien, die
Schrift, den Raum, die Tische und die mitanwesenden anderen Teil-
nehmer (z.B. wer sitzt mit wem an einem Tisch, wer bevorzugt einen
Tisch für sich allein, welchen Blickkontakt, welchen Austausch von
Schreibmaterialien gibt es usw.).
Ich merke an, daß diese gestalttherapeutischen oder -pädagogischen
Elemente meiner Seminare nicht nur eine äußere Zutat sind und auch
nicht nur der praktischen Ausgestaltung der Seminare geschuldet sind,
sondern daß sich hier gewisse Übereinstimmungen in der gemeinsa-
men theoretischen Grundlage von Gestalttherapie und Psychodrama
auf der einen Seite und unserem auf Konversationsanalyse und Tätig-
keitstheorie gründenden Forschungsprojekt auf der anderen Seite ab-
zeichnen. Ich denke dabei insbesondere an das Rollenkonzept, an die
in der kulturhistorischen Schule entwickelte Theorie der inneren Spra-
che bzw. des inneren Sprechens und die von Wygotski vertretene Auf-
66 Gisbert Keseling
Eine weitere Ursache für stockenden Schreibfluß, die mit den in 3.1
angesprochenen Gründen häufig einhergeht, ist fehlendes oder nicht
aktualisiertes Textmuster-Wissen: Bei der Aufgabe (12), nacheinander
ein und dasselbe Thema als Tagebucheintragung, Brief, Erzählung, Dia-
log und Gedicht zu schreiben, scheiterten die meisten Autoren derart,
daß sie mindestens mit einer dieser Formen Schwierigkeiten hatten. In
dem anschließenden Gespräch zeigte sich, daß die meisten Teilnehmer
mehr oder weniger an ihrem Muster klebten. Tagebuch und Brief wa-
ren die beliebtesten Formen, erst dann kamen Gedicht, Dialog und
Erzählung. Ein eigentümlicher Widerspruch stellte sich heraus: Schrei-
ben geht uns auf der einen Seite nur dann von der Hand, wenn wir
unser Muster gefunden haben und dieses in irgend einer Form abar-
beiten; andererseits empfinden wir aber die Muster häufig als Klischees
und stellen den Anspruch, originell zu sein. Auf solche Widersprüche
reagiere ich als Seminarleiter gelegentlich mit paradoxen Anweisun-
gen, indem ich dazu auffordere, von einem vorgegebenen Muster auf
keinen Fall abzuweichen oder indem ich eine Liste phraseologischer
Ausdrücke vorgebe und auffordere, daraus einen sinnvollen Text zu
kombinieren, dabei aber auf keinen Fall etwas Eigenes hinzuzufügen.
Der (vergebliche) Versuch, solche Texte ohne Verstoß gegen diese An-
weisung zu verfassen, führt zu absurden und oft komischen Resultaten,
über deren Analyse es manchmal gelingt, eine Diskussion über das
Verhältnis von Muster und persönlicher Aussage in Gang zu setzen
und die Einsicht zu vermitteln, daß beides notwendig ist und daß wir
Originalität nicht dadurch erreichen können, daß wir jegliches Muster
verwerfen.
In anderen Fällen versuche ich, den (in der Regel hinderlichen) Ori-
ginalitätsanspruch dadurch aufzubrechen, daß ich im Gespräch den
Begriffskomplex >originell< usw. umdefiniere und als Vorbereitung
dazu die Teilnehmer auffordere, in ihren bereits geschriebenen Texten
nach Passagen zu suchen, die ihnen so vorkommen, als habe sie je-
mand anderes geschrieben oder die ihnen in irgendeiner Form als »für
sie neu« erscheinen. Dazu erweisen sich besonders die Dialoge zwi-
schen Körperteilen und andere aus der Gestalttherapie und -pädagogik
adaptierte Übungen als geeignet. Manche Teilnehmer entdeckten im
Anschluß an solche Übungen, daß sie bestimmte Wendungen aus
mündlichen Alltagsdialogen übernommen hatten und daß sie es ge-
schafft hatten, dafür eine bestimmte Form zu finden, die sie bislang
noch nie verwendet hatten. Solche Passagen empfanden sie als origi-
nell, und sie erinnerten sich, daß es ihnen bei deren Niederschrift oder
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse 69
beim späteren Lesen dieser Stellen »recht gut ging«. Sie hatten das
Gefühl, für sich etwas Neues entdeckt zu haben, Teile eines Musters,
das sie sich im Moment des Schreibens selbst geschaffen hatten. Die
Originalität bestand jedoch in erster Linie aus der von den Schreibern
selbst gefundenen (und nicht übernommenen) Anpassung alltagsdia-
logischer Momente an die schriftliche Form oder, wie man es auch
ausdrücken könnte, in der Übernahme und Verkörperung einer Rolle,
was mit Petzold/Mathias einen aktiven und schöpferischen Prozeß er-
fordert und nicht nur die Realisation einer unterstellten Erwartung
seitens eines tatsächlichen oder vorgestellten Partners. 3
Insgesamt gehören allerdings die mit Originalität, Muster, eigenem
Stil usw. zusammenhängenden Phänomene zu den am schwersten zu
bearbeitenden Problemen. Autoren entwickeln offenbar einen schwer
erklärbaren Widerstand, sich intensiv und im Detail mit ihren eigenen
Produkten auseinanderzusetzen und scheinen eher pauschale (negative
oder positive) Urteile vorzuziehen.
3
Petzold/Mathias, S. 149ff. (Kap. 3.3.2 »Zum Modell einer integrativen Rol-
le«.)
70 Gisbert Keseling
es kam so. Ich war so glücklich, daß mir überhaupt etwas eingefallen
war.« - Bei weiterem Nachfragen stellt sich heraus, daß der Teilneh-
merin genau dies zum Verhängnis geworden war. Sie bemerkte ziem-
lich bald, daß sie sich beim Schreiben verrannt hatte und machte dann
einen neuen Anfang, um beim dritten Versuch endgültig aufzugeben.
-»Sie wollten zwei, vielleicht sogar drei Probleme gleichzeitig lösen«,
kommentierte ich später, »und daran sind Sie gescheitert. Stichwort
und endgültiger Text sind zwei verschiedene Textsorten, die Sie nicht
gleichzeitig verfassen können; das eine erfordert Distanz und einen
klaren Kopf, beim anderen müssen Sie sich - zumindests bei Ihrem
Thema - auch emotional einbringen.« - Bei späterer Gelegenheit
fordere ich die Teilnehmer explizit dazu auf, für einen Text zunächst
Stichworte zu schreiben und diese anschließend zu analysieren. Es stellt
sich heraus, daß ein Drittel der Teilnehmer niemals gelernt hat, Stich-
worte oder Gliederungen zu schreiben, obwohl mir alle darin zustim-
men, daß diese für bestimmte Schreibaufgaben eigentlich unentbehr-
lich sind. Die linguistische Struktur von Stichworten war den meisten
neu.
Die Tatsache, daß es einen inneren Kritiker gibt, der den Schreibpro-
zeß begleitet und steuert, ist den meisten Teilnehmern bewußt, noch
ehe dessen Existenz im Seminar thematisiert wird. Zweck der Schreib-
aufgabe (17) ist daher nicht so sehr, diesen Kritiker aufzuzeigen, als auf
die produktiven oder zerstörerischen Potentiale hinzuweisen und letz-
tere gegebenenfalls zu bearbeiten. Ich benutze die Dialoge mit dem
inneren Kritiker dazu, herauszufinden, wann und an welchen Phasen
des Schreibprozesses sich der Kritiker hauptsächlich bemerkbar macht.
Aus den Antworten ergibt sich, daß er im Prinzip zwar immer da ist,
daß er bei flüssigem Schreiben jedoch in den Formulierungsphasen
und in den (mittellangen) Pausen während des Formulierens zu-
rücktritt. Aber sobald der Schreibfluß stockt, so versichern mir die Teil-
nehmer, trete der Kritiker hervor, und Schreiben werde häufig zur
Qual. Es stimmt dann auf einmal nichts mehr, und plötzlich wimmele
der zuvor geschriebene Absatz von Unzulänglichkeiten oder Fehlern.
Auch beim späteren Durchlesen sei dies häufig so.
Meine Bearbeitungsstrategien laufen in solchen Fällen auf dreierlei
hinaus: ich versuche einerseits durch weitere Fragen oder kleinere Zu-
satzübungen den Teilnehmern bewußt zu machen, was beim Ausden-
ken von Formulierungen in ihnen vorgeht, daß sie in den (mittellan-
gen) Pausen ununterbrochem damit beschäftigt sind, sich Formulierun-
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse 71
Das Thema Identifikation mit dem Text kommt häufig auch in Zusam-
menhang mit anderen Übungen zur Sprache: Nach der Übungsfolge (8)
und (9) (Diktieren und Handführen lassen) sagt der Teilnehmer K, es
sei ihm und seiner Partnerin nicht gelungen, zu diktieren. Auf die Fra-
ge, warum diese Schwierigkeiten gerade beim Diktieren aufgetreten
seien, aber nicht bei der Zeichenübung, bei der doch wegen des Kör-
perkontakts und des Verbots zu sprechen wesentlich größere Schwie-
rigkeiten zu erwarten gewesen seien, reagiert Κ mit Betroffenheit: Er
könne die Schwierigkeit nur konstatieren, habe aber keinerlei Erklä-
rung dafür. - Was Diktieren für ihn bedeute, ob es ihn an etwas anderes
erinnere, frage ich. - Er könne eine Antwort nur in Form eines Bildes
geben. Schreiben sei für ihn wie Verstecken. - Aber er wolle doch, daß
seine Stücke gelesen und aufgeführt würden, »warum dann dieses Ver-
stecken?«, fragt ein Teilnehmer. - Darum gehe es nicht. Wenn ein Text
oder ein Teil daraus erst einmal fertig sei, könne jeder ihn lesen; selbst
die härteste Kritik störe ihn dann nicht mehr, er suche sie sogar. Aber
beim Schreiben selbst sei er außerordentlich störbar; auch daheim zie-
he er sich dabei zurück, und es störe ihn schon, wenn seine Frau nur
vorübergehend ins Zimmer komme. - Ob ich ihn richtig verstanden
hätte, frage ich, wenn er damit sagen wolle, daß es nicht so sehr seine
Gedanken oder Formulierungen seien, die er verstecken wolle, sondern
daß er sich beim Niederschreiben selbst verstecke. - Ja, dies sei es. Beim
Diktieren habe er ständig Angst gehabt, seine Partnerin würde ihm ins
Kreative S c h r e i b s e m i n a r e als Mittel zur A n a l y s e 75
Wort fallen, sich einmischen, es besser wissen als er, »das wollte ich
nicht, ich hätte sonst den Faden verloren, alles wäre in mir verstummt,
und deswegen habe ich meine Diktierversuche schließlich aufgegeben«.
- »Aber indem Sie es aufgegeben haben, sind sie tatsächlich ver-
stummt«, ergänze ich und schließe die Frage an: »Warum sind wir
beim Schreiben so verwundbar, daß wir manchmal verstummen, noch
ehe ein anderer sich einmischt? Könnte es sein, daß Schreiben eine
Methode ist, die dazu dient, Einmischungen von außen zu entgehen?«
An diesem Punkt schaltet sich die ganze Gruppe ein: Das gemeinsame
Thema ist jetzt die Frage, warum wir überhaupt schreiben und wo-
durch sich schriftliche von mündlicher Kommunikation unterscheidet.
Jemand verweist auf die Einsamkeit des Autors, der Rückmeldung,
wenn überhaupt, oft erst zu einem Zeitpunkt erhält, wenn er sich in-
nerlich von seinem Text schon lange gelöst hat, wenn er den Dialog,
den er beim Schreiben mit sich selbst führte, schon abgeschlossen hat.
Diesen Gedanken benutze ich, um abschließend noch einmal auf K's
Problem zurückzukommen: »Wenn wir schreiben, führen wir in der
Tat einen Dialog mit uns selbst, oder genauer gesagt mit einem Leser,
den wir uns selbst geschaffen haben und der gleichzeitig ein Stück von
uns ist. Wir schlüpfen abwechselnd in die Rolle des Lesers, der den
zuletzt hingeschriebenen Satz liest und wahrnimmt, und in die Rolle
des Schreibers, der auf diesen Satz mit einem nächsten Satz antwortet
oder ihn ergänzt. Wir sind Sprecher und Hörer in einer Person. Eine
real anwesende Person, von der wir fürchten, sie könnte den einen Part
unseres Dialogs übernehmen, würde dabei stören. Genau dies war das
Problem beim Diktieren. Und der Widerspruch, daß Sie beim Schrei-
ben selbst Rückmeldungen usw. verhindern wollen, daß sie aber da-
nach den lesenden Partner suchen, dieser Widerspruch löst sich dahin-
gehend auf, daß im Moment des Formulierens ihr Text ein Dialog ist,
den Sie mit sich als Leser führen, daß sich später jedoch dieser dialo-
gische Charakter verliert.«
Wie meistens greife ich auch in diesem Fall einen Gedanken bei
späterer Gelegenheit noch einmal auf, um auf den technischen Aspekt
hinzuweisen und Gegen-Strategien zu entwickeln: »Die Störbarkeit
während des Schreibens hat ihren guten Grund; alle unsere Kräfte sind
in diesem Moment durch das innere Rollenspiel voll absorbiert. Aber
wir sollten uns davor hüten, aus der Einsamkeit des Autors eine Reli-
gion zu machen. Es mag zwar sein, daß manche Autoren deswegen
schreiben, weil sie mit dem Leben nicht zurechtzukommen scheinen
oder weil sie mit mündlicher Kommunikation Schwierigkeiten haben.
Aber dazu gibt es auch Gegenbeispiele. Der Punkt ist, daß sie Formu-
lierungen nicht ohne das Innere-Dialog-Prinzip zu Papier bringen kön-
nen. Diese Technik erfordert eine einzelne Person, ähnlich wie eine
76 Gisbert Keseling
Gitarre oder eine Geige normalerweise nur von einer Person gespielt
wird und nicht von mehreren. Formulieren zu zweit oder zu mehreren
ist bis heute ein Sonderfall geblieben. Es ist deswegen wichtig, daß wir
uns beim Formulieren die Bedingungen schaffen, die für ungestörtes
Arbeiten erforderlich sind, und ζ. B. auch dafür sorgen, daß sich beim
Diktat der Schreiber nicht einmischt, was seiner tatsächlichen Rolle
nicht entspricht; auch ein Mikrophon wäre dazu nicht in der Lage.«
Literatur
1. Operative Verfahren
2. Antizipierende Verfahren
1
Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1975, S. 25.
82 Kaspar Η. Spinner
Wer mit moderner Alltagslyrik nicht vertraut ist, wird kaum auf eine
Gliederung kommen, die der Brinkmanns nahesteht. Dessen extreme
Verwendung des Zeilensprungs kontrastiert in der Regel mit den selbst
erstellten Vorschlägen, die in ihrer Weise durchaus ebenfalls reizvoll
und überzeugend sein können. Ein Gespräch über die Funktion und
Wirkung verschiedener Zeilengestaltungen ist jedenfalls unmittelbar
gegeben.
3. Nachahmende Verfahren
Nachahmende Verfahren haben eine lange Tradition: Bis ins 19. Jahr-
hundert hinein lernte man bei den Professoren für Poetik und Rhetorik
nicht nur das Analysieren, sondern auch das Verfassen von Texten
nach Mustern. Unter dem Einfluß der Genieästhetik ist jedoch seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts das Schreiben literarischer Texte zu-
nehmend vom wissenschaftlichen Umgang mit ihnen abgekoppelt und
damit die Unterweisung im Dichten aus den Hochschulen (zumindest
Europas - in den USA sind die Verhältnisse bekanntlich anders) hin-
ausgedrängt worden. Erst heute besinnt man sich wieder auf die da-
durch verschütteten Traditionen. Allerdings erheben wir nicht mehr
den Anspruch, in unseren Universitäten Poeten heranzubilden; das
nachahmende Verfahren wird eher als methodischer Zugang zum ana-
lytischen Umgang mit Texten verstanden, weil es zu einer besonders
genauen und intensiven Beachtung von Stil und Struktur der Vorlagen
anhält. Nun eignen sich allerdings keineswegs alle Texte für das nach-
ahmende Verfahren. Gerade bei besonders eigenständigen, individuell
geprägten Texten ist es problematisch, nachahmend zu verfahren; denn
was die Qualität einer solchen Vorlage ausmacht, ihre Originalität und
Authentizität, kann in der Nachahmung gerade per definitionem nicht
eingeholt werden. Deshalb eignen sich jene Texte besser, bei denen ein
Kreatives Schreiben und literaturwiss. Erkenntnis 83
4. Verfremdende Verfahren
Man kann schon die Parodie als ein verfremdendes Verfahren be-
zeichnen, sofern nicht nur die Vorlage nachgeahmt, sondern durch
Übertreibung der Stileigentümlichkeiten oder durch Unterlegung eines
unpassenden Inhalts eine kritische und zugleich komische Distanz zum
Ausgangstext geschaffen wird. Es gibt aber viele weitere Möglichkeiten
der Verfremdung. Die wichtigste Methode ist die Montage: In einen
Text werden Sätze oder auch nur einzelne Formulierungen aus anderen
Texten (oder auch selbst formulierte Sätze) einmontiert. So kann man
ζ. B. in ein traditionelles Naturgedicht ökologische Aussagen ein-
montieren. Bewußtmachen von historischer Distanz und Ideologiekri-
tik sind die Hauptintentionen, die mit solcher Verfremdung verfolgt
werden können.
84 Kaspar Η. Spinner
5. Erweiterndes Schreiben
Ich erfuhr ferner, daß Herr L..., nach vorhergegangenem eintägigen Fasten,
Bestreichung des Gesichts mit Asche, Begehrung eines alten Sacks, den 3.
Hornung ein zu Fouday so eben verstorbenes Kind, das Friedericke hieß,
aufwecken wollte, welches ihm aber fehlgeschlagen.
Ich erfuhr ferner, daß R. B. gegen Nachmittag das Heim verließ und sich auf
den Weg zum Bahnhof machte. Unterwegs kaufte er in der Apotheke eine
Schachtel Schlaftabletten. Der Erzieher E. griff ihn um 2.00 nachts in H. auf.
Ich erfuhr ferner, daß er seinen Entschluß, nach Australien auszuwandern,
nach langem Zögern und Abwägen doch in die Tat umgesetzt hat.
6. Freies Schreiben
Vom erweiternden Schreiben ist es kein großer Schritt mehr zum freien
Schreiben. Dieses ist nun nicht mehr auf einen bestimmten vorliegen-
den Text bezogen und kann deshalb nicht als direktes Mittel für Text-
analyse und -interpretation eingesetzt werden. Wohl aber ermöglicht
das freie Schreiben grundsätzliche Einsichten in den literarischen Pro-
duktionsprozeß. Wer ζ. B. selbst Gedichte macht und mit anderen dar-
über diskutiert hat, wird aufmerksamer für poetische Ausdrucksmög-
lichkeiten (ζ. B. für metaphorische Prozesse, Klangbeziehungen, rhyth-
mische Gestaltung usw.), und wer beim Schreiben von Prosa einmal
erfahren hat, wie eine Geschichte sich während des Schreibprozesses
entfaltet und so dem Schreibenden ihr eigenes Gesetz aufzwingt, der
wird nicht mehr der Ansicht sein, beim literarischen Produktionspro-
zeß werde zuerst eine Aussageabsicht gefaßt und diese anschließend in
literarische Gestaltung umgesetzt, wie es die verkürzte Frage »Was will
der Autor sagen« nahelegt. Auch für das freie Schreiben können Ar-
rangements und methodische Hilfen vermittelt werden, ζ. B. das Clu-
stering-^ erfahren nach Gabriele L. Rico oder mehr spielerische Va-
rianten wie das Schreiben zu Reizwörtern oder das Schreiben zu Fotos,
Bildern und Musik.
Aber nicht nur Einsichten in den Produktionsprozeß von Literatur
und Sensibilität für Ausdrucksformen vermag das freie Schreiben zu
vermitteln. Es kann ebenso der Vertiefung und Differenzierung theo-
retisch erarbeiteter Erkenntnisse dienen. So habe ich ζ. B. im Anschluß
an die Erörterung von Lesertypologien in einem Seminar den kurzen
satirischen Text »Der Papiersäufer« von Elias Canetti 3 ausgegeben und
die Seminarteilnehmer aufgefordert, nun selbst eine satirische Charak-
teristik eines Lesertyps zu schreiben, wobei den Teilnehmern völlig
freigestellt war, ob und in welchem Maße sie dabei eigene Leseerfah-
rungen, Beobachtungen an anderen Menschen, Erkenntnisse aus der
Beschäftigung mit theoretischer Literatur oder einfach eigene Phanta-
sien einbringen wollten. Die Schreibergebnisse zeigten eine erstaunli-
che Vielfalt von Aspekten, wobei gleichermaßen im Seminar Erarbei-
tetes wie eigene weiterführende Überlegungen literarisch zum Aus-
druck kamen. Stärker als das sonst im Seminarbetrieb der Fall ist, wur-
de deutlich, auf welche Weise die einzelnen Teilnehmer die Diskus-
sionsanregungen verarbeitet hatten. So können kreative Verfahren
nicht nur als Hinführung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, son-
dern auch als zusammenfassender Abschluß analytisch-theoretischer
Phasen eingesetzt werden.
3
Elias Canetti: Der Ohrenzeuge. Frankfurt/M.: Ullstein 1977, S. 72-73.
Kreatives Schreiben und literaturwiss. Erkenntnis 87
Literaturhinweise
Schriftsteller wissen zwar nicht, warum sie schreiben, aber sie tun es.
Diese Einsicht vermittelt uns eine Umfrage der französischen Zeitung
»Liberation«, die vierhundert Autoren dieser Erde die Frage stellte:
»Warum schreiben Sie?«. Den meisten Autoren bleibt ihr Bedürfnis
selbst dunkel. Margaret Atwood beruft sich zwar auf Sartre, mit dem
sie sagt: »Ich definiere mich durch das Schreiben«, gibt aber zu: »Ich
weiß nicht, warum ich schreibe«.' Die Antwort Ernst Jüngers besteht
aus dem Satz: »Ich weiß es selbst nicht«, und auch Botho Strauß beläßt
es bei einer knappen Sentenz: »Ich habe keine Ahnung. Wenn ich ei-
nen Schimmer hätte, würde ich keine Zeile mehr schreiben«.
Offenbar folgen die Schriftsteller einem Zwang als Triebkraft ihrer
Produktivität, ohne den es nicht geht: »Ich muß zugeben, daß ich ohne
Schreiben nicht leben könnte. Es ist das einzige Mittel, das ich habe,
um die Bedeutung einer verworrenen Welt zu entdecken. Schreiben ist
für mich das Leben selbst«, antwortet der südafrikanische Schriftsteller
Andre Brink. »Schreiben ist die Antwort auf ein drängendes Bedürfnis,
eine innere Notwendigkeit«, sagt der Argentinier Jorge Luis Borges.
Schriftsteller brauchen keine Seminare über das Schreiben, sie fol-
gen ihrem »Ausdruckszwang«, wie Gottfried Benn diese unerklärliche
Bewegung nennt, 2 in der sich für manche der Sinn des Lebens konzen-
triert. Schreiben als Katharsis, als Therapie? Ja, meint der Ungar Mik-
los Meszoly, »ich will weder amüsieren noch die Welt verändern. Es
handelt sich vielmehr um meine seelische Gesundheit«.
Damit ist das Stichwort gegeben, auf Grund dessen sich die
Schreibseminare in der Institution Universität füllen, die am großen
Therapiekonzept dieser Jahre nach der Devise teilnimmt: Jeder thera-
piert jeden mit allen Mitteln.
»Schreiben oder der Schreibwunsch«, so berichtet Hermann Kinder
über seine Erfahrungen mit einer Schreibgruppe an der Universität, »ist
Teil einer krisenhaften Persönlichkeitssituation. Deshalb ist in der uni-
gnügen liest, nicht sehr entwickelt ist, werden die Kollegen gerne be-
stätigen.
Bei Lichte besehen ist das auch kein Wunder. Denn wie soll ein
Student Einsicht in die Kunst der Schreibens und Respekt vor der ge-
lungenen Formulierung entwickeln, wenn gutes Schreiben in der ger-
manistischen Zunft selbst k a u m besondere Achtung genießt und eher
als quantite negligable behandelt wird, wenn der Student im Laufe sei-
nes Studiums nicht ein einziges Mal den Satz hört: »Ihre Arbeit ist
schlecht geschrieben«, oder präziser: »Ihre Arbeit ist schlecht geschrie-
ben und deswegen auch schlecht gedacht. Ihr Wortschatz ist gering,
ihre Ausdrucksfähigkeit spartanisch«. D e n n geben wir es doch zu: Die
deutsche Universitätsgermanistik hat schriftstellerische Eleganz, essay-
istische Pointierung, Klarheit in der Darstellung, überzeugende Argu-
mentation und Lesegenuß nicht gerade auf ihre Fahnen geschrieben.
Das deutsche Mißtrauen gegenüber der geschliffenen Form und der
Glaube an die Unvereinbarkeit von spielerischer Darstellung und ge-
danklicher Tiefe wird sonst nirgends in Europa oder den USA geteilt.
Und schon vor einhundert Jahren beklagte H e r m a n n G r i m m , »daß vor
nicht zu langer Zeit noch die Anschauung Vertreter gehabt, ein Buch,
das mit Rücksicht auf den Deutschen Stil gut geschrieben sei, erscheine
als unwissenschaftlich«. 5 Im gleichen Sinne urteilt Victor H e h n 1887:
»Die schöne Form hat sich in Deutschland immer verdächtig gemacht«,
und Joseph Roth stellt fest: »Bei uns ist es schon ein Vorzug, nicht
schreiben zu können. W e n n einer stottert, so sagt m a n : er schreibe
u n v e r m i t t e l t und u n g e k ü n s t e l t « . »Das ist nicht Wissenschaft, sondern
ein Essay«: An diesem Urteil zerschlug sich Hofmansthals Habilitation
über den Dichter Victor Hugo.
Wir brauchen die Kette einsichtsvoller Urteile nicht zu verlängern
und k ö n n e n die Studenten exkulpieren. Schreibkurse stehen quer zur
deutschen Tradition, wenn sie den handwerklichen Charakter der
Wortproduktion betonen, den Nietzsche als Vorstufe der Kunst ansieht:
»In der Nähe gesehen, soll auch der beste Künstler sich nicht vom
Handwerker unterscheiden. Ich hasse das Lumpengesindel, das kein
Handwerk haben will und den Geist nur als eine Feinschmeckerei gel-
ten läßt«.
D e n n selbstverständlich benutzen etwa französische Schriftsteller
Hilfsmittel, Synonymen- und Homonymenlexika, Stilwörterbücher,
dazu den Littre und den »Kleinen Robert«. Diese Arbeitsmittel wider-
sprechen der geläufigen Ansicht der Deutschen von Genie, das alles
»aus sich selbst« herausholen soll: Wenn schlecht geschrieben wird,
5
Vgl. Ludwig Rohner, Der deutsche Essay, Neuwied und Berlin 1966, S. 122ff.
Dort auch die folgenden Zitate.
92 Joachim Dyck
dann meistens, weil man die Mühe scheut. Die Berufung auf den Vor-
rang des Inhalts vor der Form dient nur der Legitimation schriftstel-
lerischer Unfähigkeit.
Wir können also nicht einmal voraussetzen, daß Studenten im Be-
wußtsein dieser Unfähigkeit lebten. Die Germanistik setzt für gutes
Schreiben keinen Maßstab, und sie kritisiert die wenigen Produkte stu-
dentischen Fleißes nicht einmal mit Rücksicht auf die sprachliche
Form. Deswegen sind Schreibseminare, solange sie mit transzendenta-
ler Meditation oder mit Photokursen konkurrieren, auch nichts weiter
als Angebote auf einem großen Therapiemarkt mit dem Unterschied,
daß die Sehnsucht nach Erlösung hier kostenlos zu bekommen ist oder
doch nicht teurer wird als die Studiengebühr, die das Semester sowieso
kostet. Hermann Kinder hat recht, wenn er für diese Misere auch eine
Ästhetik verantwortlich macht, die von Herder, Schiller und Schelling
über Engels und Lukäcs bis zu Adorno und Bloch der Kunst zutraut,
»auch unter den herrschenden Entfremdungsverhältnissen eine Ver-
söhnung von Subjekt und Objekt, Schein und Sein, Wesen und Er-
scheinung, Ich und Allen, von Reflexion und Sinnlichkeit zu leisten
und damit Vorschein einer wünschbaren Totalität zu werden«. 6 Eine
solche Ästhetik ist eine Werkästhetik. »Sie beschreibt das Wesen des
Kunstwerks in systematischer Absicht und postuliert hieraus dessen
Funktion. Auf gar keinen Fall aber ist sie eine Produktionsästhetik.
Was immer Hohes sie auch der Kunst zuschreibt, so sagt sie doch nicht,
daß dies auch der subjektive Erfahrungsinhalt des Künstlers sei. Aus
ihr also abzuleiten, daß Schreiben Identität herstelle, die Widersprüche
aufzuheben ermögliche, daß Schreiben die einzige Form nicht ent-
fremdeter Arbeit sei, finde ich systematisch unredlich, psychoanaly-
tisch dumm, ignorant gegenüber Autobiographien. Sicher hat der
Schreiber auch sein Glück und seine Macherlust, auch wenn diese ma-
sochistisch ist. Doch Schreiben therapiert nicht, erlöst nicht aus Zwei-
fellagen, schafft Leiden nicht beiseite und Liebe herbei, Schreiben ist
eine für Selbstzerstörung höchst anfällige Tätigkeit, häufig genug latent
suizidal.«
Solange Schreibkurse daher Therapiekurse sind, stoßen sie zwar auf
Interesse wie alle Kurse und Angebote, die Flucht- und Beschäftigungs-
möglichkeiten angesichts der ausweglosen Berufssituation anbieten,
und die Studenten machen mit, soweit daraus keine Anstrengung wird.
Dieser Haltung müßte ein Schreibkurs aber gerade Widerstand entge-
gensetzen. Und es ist ganz und gar falsch, die Anstrengungen, die
Schreiben kostet, zu minimalisieren.
6
Hermann Kinder, Die Schreibgruppe in der Universität, S. 144.
Die antike Rhetorik in der modernen Schreibwerkstatt 93
7
Vgl. Axel Hacke, Warten auf den Blitz, Süddeutsche Zeitung Nr. 203, 5./6.
September 1987, S. 131.
8
Quintilian, Institutio oratoria, hg. u. übers, von Helmut Rahn, 2 Bde., Darm-
stadt 1972, 10,1,1.
94 Joachim Dyck
9
Der Spiegel Nr. 28, 9. Juli 1984, S. 127.
10
Ebd., S. 132.
D i e antike Rhetorik in der m o d e r n e n Schreibwerkstatt 95
Gekürzte Fassung eines Vortrages, der am 17. Juni 1987 an der Akademie Tut-
zing gehalten wurde.
Holger Rudioff
Der Titel meines Beitrags könnte ebenso lauten: Wider die Einschüch-
terung, kreatives Schreiben zu praktizieren. Oder auch: Das Erfinden
von Geschichten als Vermögen der Erinnerung. Wider die Wahrneh-
mungstäuschung der exklusiven Dichterpersönlichkeit.
Kreatives Schreiben an Hochschulen, an Schulen, in privaten oder
öffentlichen Zirkeln sieht sich immer wieder mit populären Vorurtei-
len konfrontiert. Schulterklopfend attestiert man zwar die allemal zu
lobenden Versuche, literarisch produktiv zu werden, nicht zuletzt je-
doch augenzwinkernd mit dem mehr oder weniger versteckten Hinweis
auf die Untauglichkeit der Vorgehensweise. Wolle man allen Ernstes
die sog. Legende vom verkannten Genie wiederbeleben? Durch litera-
rische Geselligkeit sei noch kein Meister vom Himmel gefallen. Und
auch die Übung mache es nicht. Trotz aller Reminiszens an Übung,
Diskursivität oder Studium bilde die Unmittelbarkeit einer talentierten
Persönlichkeit die nicht hintergehbare Voraussetzung zum Schreiben.
Gegen eine derartige Vorurteilsstruktur hat bereits Friedrich Nietz-
sche entschiedenen Einspruch erhoben. Zwar ist sicher nicht von der
Hand zu weisen, wie sehr gerade Nietzsche in seinem Frühwerk der
romantischen Bewunderung und kultischen Verehrung des Künstlers
(man denke an seine Ausführungen zu Wagner und Schopenhauer)
Vorschub geleistet hat. Dennoch weist sein Spätwerk entscheidende
Passagen zur Entlarvung des Geniekults auf. Ebenso enthält es Ansatz-
punkte zu einer Theorie literarischen Schreibens. Die Rede ist von der
Aphorismen-Sammlung »Menschliches, Allzumenschliches«, die einen
einschneidenden Wendepunkt in der Entwicklung von Nietzsches Ge-
nie-Gedanken abgibt. Eine nähere Analyse der hier vorgenommenen
Argumentation kann zwei Gesichtspunkte eröffnen. Erstens ermög-
licht sie auf exemplarische Art und Weise, die aufgezeigten Vorurteile
in Frage zu stellen und eine Beziehung zu ihrer historischen Genese
herzustellen. Darüber hinaus erlaubt sie es, Kriterien zu benennen,
schriftstellerische Versuche von Studenten und Schülern (sog. Laien)
mit der Arbeit des gesellschaftlich anerkannten Schriftstellers (sog.
>Professioneller<) in Beziehung zu setzen. Die beiden genannten Ge-
sichtspunkte geben das Gliederungsprinzip der folgenden Ausführun-
gen ab.
98 Holger Rudioff
An der Oberfläche des Werkes muß die Leistung des Künstlers also als
Natur erscheinen; sie muß erscheinen, als ob keinerlei Absicht und
Regelbefolgung im Spiel sei.
Nun weist der Begriff der »Regeln« auf die Tätigkeit des Handwerks
zurück. Regeln sind erlernbar, zur Meisterschaft ausbildbar. Und wenn
- so ließe sich folgern - bestimmte Regeln des literarischen Produzie-
rens als erlernbar gelten, so stehen sie über den Prozeß der Bildung und
Ausbildung jedermann zum kreativen Schreiben zur Verfügung. Ein
kenntnisreicher Einblick in das »vorhergegangene innere Arbeiten«
(Nietzsche) stellt dann die Bedingung der Möglichkeit in Aussicht,
schriftstellerische Kompetenz zu erwerben.
Allerdings ist Kants Selbstverständnis von einer solchen Aussicht
weit entfernt. Ja, eher wird das gerade Gegenteil angenommen. »Schöne
Kunst«, daran läßt Kant keinen Zweifel, ist nur als »Kunst des Genies«
möglich. Allein ein »angeborenes produktives Vermögen« (§ 46, S.
405)7 gebe der Kunst die Regeln. Nur wer über eine derartige Gnade
der Geburt verfüge, könne Regeln und literarische Überlieferung
5
Dieser Zusammenhang kann hier nur skizziert werden. Vgl. dazu ausführ-
lich: Holger Rudloff, Produktionsästhetik und Produktionsdidaktik. Kunst-
theoretische Voraussetzungen literarischer Produktion (Habil.-Schrift, Köln
1987; Frankfurt 1988 in Vorbereitung).
6
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. In: Kant, Werke in zehn Bänden, hg.
v. Wilhelm Weischedel, Bd. 8, Darmstadt 1968.- Im Text beziehen sich die
Seitenzahlen auf diese Ausgabe; KdU = Kritik der Urteilskraft.
7
Zur Ingenium-Tradition vgl. zusammenfassend: Edgar Zilsel, Die Entstehung
des Geniebegriffs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Früh-
kapitalismus, Tübingen 1926.
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens 101
Also muß die Zweckmäßigkeit im Produkte der schönen Kunst, ob sie zwar
absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d. i. schöne Kunst muß als
Natur a n z u s e h e n sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewußt ist. Als
Natur aber erscheint ein Produkt der Kunst dadurch, daß zwar alle P ü n k t -
l i c h k e i t in der Übereinkunft mit Regeln, nach denen allein das Produkt das
werden kann, was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne P e i n l i c h k e i t ,
ohne daß die Schulform durchblickt, d. i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die
Regel dem Künstler vor Augen geschwebt, und seinen Gemütskräften Fes-
seln angelegt habe. (§ 45, S. 405)
Führt man sich die hier getroffenen Bestimmungen über den künst-
lerischen Arbeitsprozeß noch einmal dezidiert vor Augen, so lassen
sich aufschlußreiche Hypothesen entwickeln. Von der Tätigkeit des
Genies heißt es, sie sei
1.1 in der »Zweckmäßigkeit« »absichtlich«,
1.2 »alle Pünktlichkeit in der Übereinstimmung mit Regeln« werde
»angetroffen«,
1.3 »die Regel [habe] dem Künstler vor Augen geschwebt«.
Und über das abgeschlossene Werk erfährt man,
2.1 es dürfe »nicht absichtlich scheinen«,
2.2 »schöne Kunst muß als Natur anzusehen sein«,
2.3 »ohne daß die Schulform durchblickt«,
2.4 »ohne eine Spur zu zeigen«.
Die Gegenüberstellung macht transparent, was das Kunstwerk durch
den ästhetischen Schein verdeckt. Zum einen betrifft es die Regel, zum
102 Holger Rudioff
Und nur wo wir einem Ganzen einen Sinn, eine innere Form, ein geheimes
Gesetz anmerken, sprechen wir von Kunst. 12
Man erkennt deutlich, wie sehr die Überlieferung alle rational erkenn-
baren Teile des Produzierens zu nicht mehr herleitbaren Gegebenhei-
ten ummünzt. Geheime Mächte treten an die Stelle einstmals auf-
klärerischer Gedankengänge. Das betrifft mit der Problematik des Her-
stellens der Werke zugleich den abzubildenden Ideengehalt. Die Auf-
klärung bestimmt Schönheit eindeutig nach ihrem Beitrag zur Sittlich-
keit (vgl. KdU § 59).
In der Nachfolge Kants weist Friedrich Schiller auf ein durch Ver-
nunft und Humanität bestimmtes Ideal des ästhetischen Scheins hin. 13
8
Heinrich von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim
Reden. In: Heinrich von Kleist, dtv-Gesamtausgabe, Bd. 5, hg. v. Helmut
Sembdner, München 1964, S. 53-58.
'Vgl. dazu aus aktueller Sicht: Gert Ueding, Rhetorik des Schreibens. Eine
Einführung, Kronstein/Ts. 1985, S. 59ff.
10
Karl August Korff, Geist der Goethezeit, 2. Teil: Klassik, Leipzig 1930,
S. 471.
11
Ebd., S. 472.
12
Ebd., S. 471.
13
Vgl. dazu ausführlich: Peter Bürger, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik,
Frankfurt 1983, S. 57ff.
104 Holger Rudioff
Obwohl hier der Dichter den Status des Verkünders von Wahrheit er-
hält (also unangreifbar, geradezu zu einer apodiktischen Gewißheit
verklärt), ist er jedoch eindeutig dem Ideal einer Humanisierung des
öffentlichen Lebens verpflichtet. Auch Schillers Bestimmung, das
Kunstwerk solle für den Rezipienten »regelfrei erscheinen«, 14 begreift
den humanen Auftrag des ästhetischen Scheins nachhaltig im Sinne
einer Erziehung zur Sittlichkeit. Besonders in den Briefen Ȇber die
ästhetische Erziehung des Menschen« wird dem ästhetischen Schein
die Möglichkeit zugesprochen, das durch die entfremdete gesellschaft-
liche Wirklichkeit zerrissene Zusammenspiel von Verstand, Vernunft
und Sinnlichkeit erneut zu re-synthetisieren. So wäre es ein einseitiger
Rückschritt hinter die durch Anschauung gewonnene Harmonisierung
der Gemütskräfte, wolle man die Regeln des Schönen analytisch erfas-
sen. Diese Position ist in Schillers Kallias-Briefen theoretisch vorberei-
tet. Hier heißt es zwar: »[...] jedes schöne Produkt muß sich vielmehr
Regeln unterwerfen«. 15 Allein in der Anschauung dürfen Zweck und
Regelverbindlichkeit nicht erscheinen. Als »frei« kann die Sinnlichkeit
nur gelten, wenn »das völlige Abstrahieren von einem Bestimmungs-
grund« gegeben ist und der Rezipient nicht veranlaßt wird, »außer dem
Dinge« danach zu suchen: »Das schöne Produkt darf und muß sogar
regelmäßig sein, aber es muß regelfrei erscheinen ,«16 Daß es sich um
einen Schein der Freiheit des Produzierens handelt, ist dem Theoreti-
ker Schiller nur zu bewußt:
Nun ist aber kein Gegenstand in der Natur und noch viel weniger in der
Kunst zweck- und regelfrei, keiner durch sich selbst bestimmt, sobald wir
über ihn nachdenken. Jeder ist durch einen anderen da, jeder um eines an-
deren willen da, keiner hat Autonomie.' 7
Selbstbestimmung des Schönen offenbart sich als eine Sache der An-
schauung; sie endet beim Nachdenken, beim verstandesgeleiteten Auf-
decken des zugrundeliegenden Arbeitscharakters. Die freie Produkti-
vität des Genies kann sich also nur solange behaupten, wie die ästhe-
tische Erfahrung des Rezipienten von einer rationalen Bestimmung des
Werksetzungsprozesses absieht. Im Sinne der ungebundenen Freiheit
der Einbildungskraft muß der Rezipient aber gerade von einer solchen
rationalen Bestimmung absehen. In den oben zitierten Textstellen wird
ersichtlich, daß »freie« ästhetische Betrachtung nur dann ihren Namen
verdient, wenn sie das Kunstwerk so ansieht, als ob es durch sich selbst
14
Friedrich Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: Schiller, Sämtliche
Werke, Bd. 5, hg. v. G. Fricke/H. G. Göpfert, München 4 1967, S. 402.
15
Ebd.
16
Ebd.
17
Ebd.
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens 105
18
Vgl. dazu Fußnote 2.
106 Holger Rudioff
II
In Wahrheit produziert die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers fort-
während, Gutes, Mittelmäßiges und Schlechtes, aber seine Urteilskraft,
höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt aus, knüpft zusammen; wie man
jetzt aus den Notizbüchern Beethovens ersieht, daß er die herrlichsten Me-
lodien allmählich zusammengetragen und aus vielfachen Ansätzen gewisser-
maßen ausgelesen hat. [ . . . ] Alle Großen waren große Arbeiter, unermüdlich
nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten,
Ordnen. (M,A, S. 549)
19
H. Bühl, D. Heinze, H. Koch u. a. (Hg.), Kulturpolitisches Wörterbuch, Arti-
kel: Schaffensprozeß, künstlerischer. Berlin 1970, S. 471-473; Zitat: S. 472.
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens 107
Auch hier verweisen die Aspekte des Vorbereitens, des Planens und
Zusammensetzens auf eine handwerkliche Tradition des Schreibens.
Sie stellen das Problem erlernbarer Schreibtechniken als Form subjek-
tiver Geschicklichkeit. Genau das entspricht Nietzsches Absicht, im
Herausarbeiten von Details, die erst sukzessive zum Ganzen zusam-
mengesetzt werden, der Literaturproduktion einen »Ernst des Hand-
werks« zu bescheinigen. Im Handwerk des Schreibens finden die ge-
sellschaftlich anerkannten Kunstwerke ihren gemeinsamen Nenner
mit Schreibversuchen sog. Laien. Die vergleichbaren Gemeinsamkei-
ten beziehen sich allerdings nicht nur auf gewisse Ausformulierungen
20
Uwe Johnson, Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M.
1980, S. 127.
21
Ebd., S. 428.
108 Holger Rudioff
25
Umberto Eco, Nachschrift zum >Namen der Rose<, München 1986, S. 18.
Greg Divers
der Überzeugung, daß Schreiben an sich nicht gelehrt werden kann, aber daß
Schreibende gefördert werden können. 1
Mitte der 60er Jahre waren Columbia und Iowa zwei von einer Hand-
voll Universitäten mit Magisterabschlüssen in kreativem Schreiben; zu
den anderen gehörten Stanford und Johns Hopkins. In den darauffol-
genden zehn Jahren kamen buchstäblich Dutzende neuer Schreibstu-
diengänge überall in Nordamerika dazu, nicht wenige von Absolventen
des »Iowa Writers' Workshop« gegründet. Der weitere Anstieg der
Schreibstudiengänge auf College-Ebene in den neun Jahren zwischen
1975 und 1984 wird aus einer inoffiziellen Erhebung des AWP Cata-
logue of Writing Programs ersichtlich:
1
The Writers' Workshop, Broschüre, gedruckt von »The Writers' Workshop«,
University of Iowa, Iowa City, IA 52242 - USA, S. 1. Fast die gesamte Infor-
mation über den »Writers' Workshop« in Iowa City in diesem Aufsatz
stammt aus dieser Broschüre.
2
A WP Catalogue of Writing Programs, 4. Auflage, zusammengestellt von Ka-
thy Hammer-Sarosdy (Norfolk, Virginia: Associated Writing Programs, 1984).
Associated Writing Programs {A WP) ist eine nationale, gemeinnützige Or-
ganisation von Schriftstellern und Veranstaltern von Schreibstudiengängen,
die sich durch Mitgliedsbeiträge, öffentliche Gelder und Schenkungen finan-
ziert. Neben dem Catalogue (die nächste durchgesehene Auflage erscheint
1988) veröffentlicht AWP auch sechs Mal im Jahr während der beiden
Hauptsemester den A WP Newsletter. Er enthält einige Primärliteratur (Ge-
dichte und Kurzgeschichten), ist aber besonders interessant wegen der Sparte
»Letters, Information and Services« und der Artikel über einzelne Studien-
gänge. Als Schirmorganisation für Schriftsteller und Veranstalter von Stu-
diengängen veröffentlicht A WP auch eine Liste mit Stellenangeboten. (As-
sociated Writing Programs, Old Dominion University, Norfolk, VA 23508-
8501, USA).
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 115
wert ist vor allem der Anstieg der Studiengänge mit B.A.-Abschluß,
deren Absolventen danach häufig bis zum M.A. weitermachen. Dar-
über hinaus zeigt der Gesamtanstieg einen natürlichen Wachstumszyk-
lus auf (Kritiker könnten sagen, einen circulus viciosus): Je m e h r M.A.-
und M.F.A.-Absolventen es gibt, desto größer das Angebot an qualifi-
zierten Lehrern f ü r kreatives Schreiben. Dies wiederum f ü h r t zur
G r ü n d u n g neuer und Erweiterung bestehender Studiengänge auf allen
akademischen Ebenen.
Wie schon erwähnt dient der »Iowa Writers' Workshop« seit langem
als Modell f ü r andere Studiengänge. Dies gilt vor allem im Hinblick
auf die Organisation der Seminare, d. h. ihrer einzelnen Sitzungen und
der darin angewandten Methoden. Im allgemeinen treffen sich die Se-
minarteilnehmer einmal wöchentlich im Semester, meist abends, für
mindestens drei Stunden. Einige Seminare sind gemischt, d.h. sie um-
fassen Lyrik und Prosa, während andere auf eine der beiden Formen
beschränkt sind. Manchmal wird bei der Diskussion ausgewählter Stük-
ke Anonymität gewahrt, jedoch steht normalerweise der N a m e der Stu-
denten auf den Manuskriptkopien. Der Schlüssel zum Erfolg eines je-
den Seminars liegt in der Vorbereitung. Mit anderen Worten: Die Stu-
denten erscheinen zu den wöchentlichen Sitzungen nicht einfach mit
Kopien ihrer Arbeit, u m sie den anderen auszuteilen. Gedichte und
Geschichten werden im voraus eingereicht und kopiert, so daß alle
Seminarteilnehmer, Lehrer wie Studenten, mindestens ein bis zwei
Tage Zeit haben, sich mit den zu diskutierenden Stücken vertraut zu
machen. Abgesehen von den Diskussionen über die Arbeiten wird oft
zusätzlicher Lesestoff aufgegeben, meist beispielhafte Gedichte, Ge-
schichten oder Romananfänge, um bestimmte Techniken deutlich zu
machen. Schließlich k ö n n e n diese Beispiele auch dazu dienen, daß Stu-
denten (und Lehrer) den jeweiligen Text zur Übung imitieren oder
vielleicht parodieren.
Es gibt keine Garantie, daß das Seminar dem schreibenden Studen-
ten das gewünschte Publikum oder Forum bietet. Die Entstehung eines
Anti-Seminars ist daher nicht ungewöhnlich. In solch einem Fall tref-
fen sich kleinere G r u p p e n ( 2 - 4 Studenten) auf eigene Initative zusätz-
lich zu den offiziellen Treffen, die im Idealfall 1 2 - 1 5 Teilnehmer ha-
ben. Die formalen Anforderungen sind verschieden, jedoch oft rein
quantitativ, ζ. B. ein Gedicht pro Woche (evtl. weniger bei >langen<
Gedichten), 30 - 40 Seiten Prosa in einem Semester von 1 0 - 1 3 Wo-
chen, oder eine Kombination von beidem. Natürlich k a n n nicht alles
diskutiert werden, was während eines Semesters geschrieben wird.
Folglich sind Kommunikation und Kooperation notwendig, u m sicher-
zustellen, daß die Studenten zu den Texten, f ü r die es ihnen wichtig ist,
Rückmeldung erhalten. Die Beurteilung der Qualität ist in erster Linie
116 Greg Divers
Der Studiengang, der zu einem Abschluß führt, ist sehr flexibel. Der Kandi-
dat muß vier Semester Hauptstudium zufriedenstellend vollenden, mit ins-
gesamt mindestens 48 SWS (Semesterwochenstunden). Ungefähr die Hälfte
davon muß in eigentlichen Schreibseminaren dieses Studiengangs bestehen,
während der Rest Hauptseminare anderer Abteilungen oder Studiengänge
einschließen kann. Der Studiengang schließt mit einer schriftlichen kreativen
Arbeit (äquivalent zu maximal 12 SWS) und mit einer Hausarbeit im letzten
Semester ab. Die angebotenen Seminare sind in Schreib- und Literatursemi-
nare unterteilt, die alle zweimal belegt werden können. Sie umfassen einen
Lyrik- und einen Prosa-Workshop für Fortgeschrittene, je ein Seminar über
Gedicht- bzw. Prosaformen sowie Seminare über moderne Prosa und moder-
ne Lyrik. 4
3
A WP Catalogue, 1984, S. vi.
4
Iowa Broschüre, S. 2, 4 (vgl. Fußnote 1).
118 Greg Divers
gen, und es wird erwartet, daß sie im Laufe ihres Studiums bei ver-
schiedenen Lehrkräften studieren.
Ein anderes Seminar an der University of Iowa ist der Überset-
zungs-Workshop, der in Verbindung mit dem Studiengang Vergleichen-
de Literaturwissenschaft angeboten wird. (Dieses Seminar könnte als
fakultatives neben den vier obligatorischen zu Schreibformen betrach-
tet werden.) Die meiste Zeit beanspruchen hier einzelne Projekte in
Prosa oder Lyrik, bei denen direkt aus einer Fremdsprache übersetzt
wird, neben einigen Gruppenübungen, um die Diskussionen zu fokus-
sieren und typische Übersetzungsprobleme identifizieren zu helfen. In
den Wintersemestern kann mit der Teilnahme von Gastschriftstellern
des Internationalen Schreibstudiengangs gerechnet werden. Neuere Se-
minararbeiten haben Übersetzungen aus dem Französischen, Spani-
schen, Niederländischen, Deutschen, Italienischen, Polnischen, Chi-
nesischen, Japanischen, Koreanischen, Tagalog, Äthiopischen, Pashto,
Türkischen, Suaheli und Urdu hervorgebracht. Im Wintersemester bie-
tet der Internationale Schreibstudiengang wöchentlich Seminare und
Podiumsdiskussionen zur Literaturszene in anderen Ländern an. Die
Podiumsteilnehmer schließen sowohl Lehrkräfte und Gastschriftsteller
des Internationalen Schreibstudiengangs als auch Lehrkräfte und Gäste
des »Writers' Workshop« ein.
Das Schlüsselwort in dieser Beschreibung der MFA-Anforderungen
an der University of Iowa ist »flexibel«. Der Schwerpunkt liegt deut-
lich auf dem Selber-Schreiben, insbesondere auf dem Schreiben inner-
halb des eigentlichen Schreibseminars. Die übrige Seminararbeit wird
im Idealfall aus einer passenden Gruppierung von Seminaren in Ein-
klang mit den Interessen des Studenten bestehen. Die Gesamtbewer-
tung basiert hauptsächlich auf dem fertigen Produkt, d. h. auf der Ma-
gisterarbeit. Diese Arbeit sollte eine »angemessene Länge« haben, mit
anderen Worten: eine Sammlung von Gedichten oder Kurzgeschichten
von Buchumfang, eine Novelle oder ein Roman. Die universitäre Ar-
beitsvermittlung hilft den Absolventen, eine Stelle als Lehrer zu fin-
den. Wenn es auch stimmt, daß der MFA-Titel von Iowa eine gute
Empfehlung darstellt, so ist der »Iowa Writers' Workshop« doch »nicht
in der Lage, Stellen für alle seine Absolventen zu finden. Der Studien-
gang ist in erster Linie eine Gemeinschaft von Schreibenden, die Zeit
zum Schreiben haben möchten, während sie gleichzeitig akademische
Zeugnisse dafür erhalten.« 5
Ein so flexibler Studiengang muß dem jungen aufstrebenden Schrift-
steller natürlich attraktiv erscheinen, der für seine oder ihre kreative
Leistung akademische Belege erhalten möchte. Folglich besteht um die
5
Iowa Broschüre, S. 10.
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 119
6
A WP Catalogue, S. 101 f.
122 Greg Divers
Man kann jemanden lehren, die Arbeit eines anderen zu lesen; man kann
ihn lehren, etwa eine Kurzgeschichte von Tschechow zum ersten Mal stil-
kritisch zu lesen, so daß er das erkennt, was die meisten normalerweise
überlesen, etwa die offensichtlichen Dinge - wie eine Person ein Zimmer
betritt und verläßt, welche kleinen Schwächen ihre Stimme verrät, welche
Nuancen sie von anderen Menschen unterscheiden!...] [ein Musikstudent
hört] Mozart anders, genauso verändert sich Literatur, wenn jemand erst ein-
mal diese Anfangsgründe gelernt hat. Was man lehren kann, ist, wie man
nicht schreiben sollte. 7
7
Craft So Hard To Learn. Conversations with Poets and Novelists About the
Teaching of Writing, Interviews von John Graham, herausgegeben von Geor-
ge Garrett (New York: Morrow, 1972), S. 37. Vgl. auch The Writers' Voice,
Graham/Garrett (New York: Morrow, 1973).
8
Craft, S. 7If.
9
Craft, S. 40.
,0
Craft, S. 76, 78.
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 123
Viele Μ FA- Absolventen wissen eine Menge über die aktuelle Marktlage,
können den neuesten Trend aus Zeitschriften herauswittern wie Hunde einen
Laternenpfahl, und sie wissen auch genau, wer gerade ein Buch veröffentlicht
hat. Aber ich kenne wenige, die nach den großen Klassikern dürsten oder die
auch nur irgend jemanden gelesen haben, der älter als Robert Lowell ist. Sie
lehnen leider gerade diejenigen Autoren ab, die im normalen Literaturunter-
richt gelesen werden.' 2
[.. .] ein junger Tlingit saß sehr still in meinen Seminaren am Sheldon Jack-
son College in Sitka, Alaska. Er traute sich kaum, etwas zu sagen, hat aber
seitdem ein Buch veröffentlicht, hat das Amt des Dorfschnitzers übernom-
men und ist im Grunde dafür verantwortlich, daß seine Kultur heute nicht
mehr nur mündlich überliefert wird. Ich als sein Lehrer habe das sicherlich
nicht initiiert, aber die Umgebung des Schreibseminars hat bestimmt dazu
beigetragen; dort hat der Junge erfahren, daß Wörter sowohl im gesellschaft-
lichen Rahmen als auch sonst einflußreich und mächtig sind.
Das Verhältnis zwischen Lehrern und Studenten, aber auch das der
Teilnehmer untereinander beeinflussen den Erfolg eines Schreib-
seminars wesentlich. John Morgan sagt dazu:
Ich habe des öfteren bemerkt, daß man einige der Stimmen aus den Kursen,
an denen man teilnimmt, in sich aufnimmt und daß sie einen als innere
Kritiker begleiten. Es ist ein psychologischer und ein literarischer Vorgang,
der einen bis zu einem gewissen Grad verändert. [. ..] Wenn der Lehrer gut
ist, wird seine Stimme auch dabei sein, aber nicht unbedingt die wichtigste
[. . .] Der Lehrer sollte die Meinung seiner Studenten unbedingt respektieren,
denn es wäre sicherlich falsch und wenig hilfreich, wenn er ihnen ihre Ar-
beitsweise genau vorschriebe. Die meisten der sehr guten Studenten reagieren
sowieso nicht darauf. Statt ihnen sein Wissen aufzudrängen, sollte der Lehrer
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 125
es mit ihnen >teilen<, damit sie das davon auswählen können, was sie brau-
chen. Mit anderen Worten, kreatives Schreiben wird nicht gelehrt, man lernt
es; es sollte immer deutlich sein, daß ein Student selber herausfinden kann,
was er oder sie braucht.
[Der Studiengang] bietet immer noch eine erstklassige Umgebung für Schrift-
steller, und man sollte bedenken, daß der Workshop in Iowa City unter an-
deren und schwierigeren Umständen ins Leben gerufen wurde als ähnliche
Studiengänge und sich deshalb auch heute noch davon in den meisten Fällen
deutlich unterscheidet. Er ist vor allen Dingen eine Rechtfertigung für die
Existenz einer Gemeinschaft von Schriftstellern, und er wird davon geprägt,
daß er in Iowa, ausgerechnet in Iowa City, im Mittleren Westen usw., liegt.
Ich glaube, einige Leute können schwer zugeben, daß der Writers' Workshop
gerade deshalb wertvoll ist und nicht trotz dieser Besonderheiten.
13
Alle Zitate von Marvin Bell stammen, wenn nicht anders angegeben, aus
einem unveröffentlichten Brief vom 5. März 1987.
126 Greg Divers
»sich ab und zu daran zu erinnern, daß Sprache selten das Vehikel für Wahr-
heit und Schönheit ist. Man braucht nur Zeitungen und Zeitschriften zu le-
sen, fernzusehen, Radio zu hören oder - leider - die meisten Gedichte zu
lesen, um zu erkennen, daß Sprache meist dazu dient, Lügen, Verzerrungen,
Übertreibungen und bloße Routine zu transportieren.
Ich vermute, daß solche falschen Wege in der Dichtung eingeschlagen wer-
den, wenn ein ästhetischer Ehrgeiz Druck erzeugt: wenn ich Dichtung für
eine universelle Kunst und objektive Schau der Dinge halte und nicht für
einen individuellen Ausdruck subjektiver Standpunkte.
Wir wissen, daß Lyrik als Selbstausdruck und/oder mit Sprachspielen be-
ginnt. Auden betonte, wie wichtig das Spielen mit der Sprache ist, als er sagte,
daß er dem Studenten, der Gedichte schreibe, um sich auszudrücken, denje-
nigen vorzöge, der sich mit Wörtern beschäftige, um zu sehen, was sie ihm zu
sagen hätten.' 4
Der Dichter muß sich seinem Thema unschuldig nähern, sonst wird seine
Kunst nur Kunsthandwerk. Ich glaube, es ist besser, zu naiv zu sein, als zu
vorbelastet. Besonders für den jungen Dichter, aber auch für ältere, kann ein
Weg dorthin sein, vorgegebene Formen, Übungen und feste Rollen zu über-
nehmen. Alles, was einem halbwegs hilft, von sich selbst abzusehen.
14
Marvin Bell, Old Snow Just Melting: Essays and Interviews (Ann Arbor: Uni-
versity of Michigan Press, 1983) S. 247, 249f.
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 127
15
Old Snow, S. 280ff.
128 Greg Divers
dies viel eher, wenn er sich beim Schreiben selbst überrascht. Ein gutes
Schreibseminar ermutigt diese Einstellung, und die »prüfenden und
kritischen Augen« der anderen Teilnehmer, von denen Hedin sprach,
wollen immer wieder überrascht werden. Vorhersehbare Gedichte oder
Erzählungen werden von der Gruppe selten akzeptiert.
Ich hoffe, daß die oben wiedergegebenen Meinungen von Lehrern, die
kreatives Schreiben unterrichten, die Schwächen und Stärken der
Schreibseminare erhellt haben. John Morgans Ansicht von der Bedeu-
tung des Lehrers als Vorbild sollten wir besondere Beachtung schen-
ken. Eine Lehrmethode wie die von Marvin Bell geht in dieser Hinsicht
noch weiter. Er meint, daß der Lehrer die Aufgaben, die er seinen
Studenten gibt, auch selber lösen sollte. Auf diese Art könne in einem
guten Schreibseminar die Distanz zwischen Lehrern und Studenten
manchmal überbrückt werden. Vielleicht ist dies auch der Grund da-
für, daß solche Kurse oft auf Widerstand stoßen, wenn sie in einer
akademischen Institution etabliert werden sollen. Autorität wird in ei-
nem Schreibseminar neu definiert, und die Gruppenprozesse (hier den-
ke ich an Hedins Vergleich mit Selbsterfahrungsgruppen) variieren un-
weigerlich je nach der jeweiligen Konzeption.
Obwohl Schreibseminare in Amerika normalerweise in Colleges und
Universitäten untergebracht sind, gibt es doch auch eine Reihe von
Aktivitäten außerhalb von Academia. Da sind ζ. B. die Künstlerkolo-
nien und Schriftstellerzentren, in denen Schriftsteller wohnen und an-
dere Annehmlichkeiten in Anspruch nehmen können. Nicht alle davon
stehen Studenten offen (obwohl es nicht unüblich ist, daß auch fortge-
schrittene Studenten aufgenommen werden). Schriftstellertagungen
sind ebenfalls weitverbreitet, und sie werden oft mit Hilfe öffentlicher
Mittel von den Studiengängen an den Universitäten ausgerichtet. In
jedem Mai kündigt der A WP Newsletter die Schriftstellertagungen für
das kommende Jahr an. Durch solche Veranstaltungen und auch durch
Gastvorlesungen und Lesungen haben die Studenten und Schriftsteller
die Chance, neue Texte und Ideen kennenzulernen. Oft arbeiten die
Schreibseminare isoliert, und der Einfluß solcher Besucher und Ta-
gungsgäste bringt unweigerlich neue Impulse.
Wir haben vom Entstehen und der Verbreitung der Schreibseminare
Mitte der 60er Jahre gesprochen, ein Phänomen, das mit einer anderen
amerikanischen Einrichtung zusammenhängt, dem »Dichter-in-der-
Schule«. Der Lyriker Kenneth Koch hat die Schüler in den öffentli-
chen Schulen New Yorks gelehrt, Lyrik zu analysieren und selber zu
verfassen. Seine Erfahrungen werden in zwei Büchern dokumentiert,
die bei Random House, New York erschienen sind: Wishes, Lies and
Dreams (1970) und Rose, Where Did You Get That Red (1973). In den
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 129
Die Idee der Schreibseminare ist großartig und ehrenvoll, und ihre praktische
Umsetzung, wo immer sie geschieht, ist weder anmaßend noch selbstgefällig,
und das gilt auch für die Leute, die daran teilnehmen. 16
16
Aus Marvin Bell, »A postscript to answers« für ein Projekt des Berufstennis-
spielers Hari Burrus, der ein Buch über das Lehren von Tennis und das
Schreiben von Lyrik zusammengestellt hat, Taking the Workshop to Court.
Anschriften der Autoren