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Konzepte

der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Klaus Baumgärtner


Kreatives Schreiben an Hochschulen

Berichte, Funktionen, Perspektiven

Herausgegeben von Hans Arnold Rau

Max Niemeyer Verlag


Tübingen 1988
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Kreatives Schreiben an Hochschulen : Berichte, Funktionen, Perspektiven / hrsg.


von Hans Arnold Rau. — Tübingen : Niemeyer, 1988.
(Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 42)
NE: Rau, Hans Arnold [Hrsg.]; GT

ISBN 3-484-22042-2 ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988


Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet,
dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen.
Printed in Germany.
Satz: Susanne Mang, Tübingen
Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Tübingen 3
Vorwort des Herausgebers

Eine deutsche Tageszeitung berichtete im Sommer 1987 von der ge-


planten Einrichtung eines neuen Studiengangs an der Universität Es-
sen, in dem Studierende lernen können, Gedichte, Romane und Dra-
men zu verfassen.* Die Überschrift »Dichter oder nicht ganz dicht«
bestimmt den Tenor des Artikels, in dem es heißt, »daß Thomas Mann
seine >Buddenbrooks< mit knapp über zwanzig Jahren einfach konnte«,
und die Frage gestellt wird, »Wer hat Goethe Gretchen beigebracht?«.
Die Nachricht selbst wie ihre Kommentierung sind bezeichnend für die
derzeitige Situation kreativer Schreibseminare. Einem in den letzten
Jahren ständig anwachsenden Interesse auf der einen Seite stehen alte
Bedenken auf der anderen entgegen. Dabei verbindet sich die Einsicht,
daß es auch im künstlerischen und sprachlichen Bereich Begabungs-
unterschiede gibt, nur zu gern mit einer Mystifikation des literarischen
Schreibprozesses, die den Herstellungscharakter literarischer Texte
übersieht, um sich uneingeschränkt dem Geniekult einer Verehrerge-
meinde hingeben zu können.
In einer zunehmenden Zahl von Schreibgruppen in unterschiedli-
chen Gesellschaftsbereichen setzt man sich über Vorurteile dieser Art
hinweg, so daß die »Mitteilungen des deutschen Germanistenverban-
des« im Herbst 1986 eine bundesdeutsche »Schreibbewegung« konsta-
tieren. Z u m Thema »Kreatives Schreiben« erscheinen Hefte von Fach-
zeitschriften und werden Tagungen veranstaltet. Im »Segeberger
Kreis«, koordiniert von Prof. Dr. Joachim Fritzsche, gibt es einen er-
sten Zusammenschluß von Schreibseminarleitern. Auch in immer
mehr universitären Lehrveranstaltungen wird mit den Möglichkeiten
des kreativen Schreibens experimentiert. U m zu ermitteln, in welchem
Maße dies derzeit geschieht, führte der Herausgeber im Sommerseme-
ster 1986 unter den germanistischen Hochschulinstituten der Bundes-
republik Deutschland und West-Berlins eine Umfrage durch (siehe Ein-
leitung). Sie zeigte, daß an über dreißig Hochschulen kreatives Schrei-
ben praktiziert wird. Das mehrfach geäußerte Interesse an einem grö-
ßeren Erfahrungsaustausch veranlaßte den Herausgeber, zur Mitarbeit
am hier vorliegenden Sammelband einzuladen.
Mit diesem Buch soll f ü r alle, die an Schreibgruppen interessiert
sind, ein Einblick in derzeitige Zielsetzungen und Methoden literarisch

* Stadelmaier, Gerhard: Dichter oder nicht ganz dicht. Stuttgarter Zeitung vom
31.7.1987.
VI

orientierter Hochschul-Schreibseminare gegeben werden, sowie Hin-


weise auf damit verbundene Forschungsansätze. Natürlich wird weder
ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, noch sollen Rezepte ver-
abreicht werden. Entscheidungen über das jeweilige Vorgehen können
sich immer nur aus dem konkreten Zusammenhang ergeben. Gedacht
ist an einen exemplarischen Bericht, an Anregung zur Diskussion und
Ermutigung zu eigenen Initiativen.
Der Band beginnt nach der Einleitung mit einem Beitrag von Walter
Hinck, der sich als Leiter des Kölner »Forums für schriftstellerische
Versuche von Studenten« auf seinen Lehrer Wolfgang Kayser beruft.
Ein Beitrag von Johanna Blömeke führt ein Produkt des »Forums« vor
und beschreibt, wie die Autorin die Bedingungen der Produktion erlebt
hat. Ekkehard Skoruppa berichtet über ein anders akzentuiertes Unter-
nehmen, ebenfalls an der Universität Köln. Albrecht Schau von der
Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg berichtet von unterschiedli-
chen Ansätzen bei der gemeinsamen Produktion von Kinderbüchern
und zieht Lehren aus den Schwierigkeiten, die sich bei dieser Arbeit
gezeigt haben. Otto Dörner hat mit seinen Studenten an der Universität
Osnabrück erprobt, wie mit Hilfe der japanischen Haiku-Kunst auch
deutsche Verse verdichtet und gesteigert werden können. Gisbert Ke-
seling stellt ein Forschungsunternehmen dar, das innere Prozesse wäh-
rend der Produktion fiktionaler Texte untersucht, um durch solche Ein-
sichten auch nicht-literarisch Schreibenden Hinweise auf zweckmäßi-
ges, die Flüssigkeit des Vorgangs förderndes Verhalten geben zu kön-
nen. Kaspar H. Spinner legt Verfahrensweisen dar, die dazu dienen,
kreatives Schreiben f ü r literaturwissenschaftliche Erkenntnis fruchtbar
zu machen. Gegen universitäre Schreibübungen, in denen sich die Sub-
jektivität der Autoren zu sehr entfalten kann, wendet sich Joachim
Dyck. Er fordert eine Orientierung von Schreibseminaren an klassi-
schen rhetorischen Maßstäben. Holger Rudioff findet bei Friedrich
Nietzsche Ansatzpunkte zu einer Theorie literarischen Schreibens, die
eine »Entlarvung des Geniekults« anstrebt. Der Band endet mit einem
Beitrag von Greg Divers, in dem ein Überblick über verschiedenste
Studiengänge für kreatives Schreiben an US-amerikanischen Colleges
und Universitäten gegeben wird.
Wenn das kreative Schreiben an deutschen Hochschulen mehr sein
will als eine Modeerscheinung, dann muß es sich allerdings mit den
nationalspezifischen Traditionen literarischer Produktion und ihrer
akademischen Vermittlung kritisch auseinandersetzen. Angeregt durch
Erfahrungen in anderen Ländern, könnten sich eigenständige Formen
der Forschung und Lehre weiterentwickeln, um die entdeckten Mög-
lichkeiten gemeinsamer Textproduktion im Sinne einer neuen Schreib-
kultur zu fördern.
Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers V

Hans Arnold Rau


Einleitung: Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschu-
len 1

Walter Hinck
»Literatur lebendig« 16

Johanna Blömeke

Als Studentin im »Forum für schriftstellerische Versuche« . . 23

Ekkehard Skoruppa
»Wir haben die Schublade voll!« Ein Bericht über die Autoren-
werkstatt an der Universität Köln 25
Albrecht Schau
Kreatives Schreiben - Beschriebene Kreativität. Chancen und
Risiken von Schreibseminaren mit oder ohne vorgegebenen
Schreibimpuls 36

Otto Dörner
Texten von Kurzgedichten nach dem Vorbild des japanischen
Lyrik-Genres >Haiku< im studentischen Schreibseminar. Diskurs
und Bericht 44

Gisbert Keseling
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse und Bearbei-
tung von Schreibstörungen 59

Kaspar H. Spinner

Kreatives Schreiben und literaturwissenschaftliche Erkenntnis . 79

Joachim Dyck
Die antike Rhetorik in der modernen Schreibwerkstatt . . . . 88
VIII

Holger Rudioff
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens. Dargestellt an-
hand Friedrich Nietzsches »Menschliches, Allzumenschliches« . 97

Greg Divers
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben an ame-
rikanischen Colleges und Universitäten (Aus dem Amerikani-
schen übersetzt von Katrin Boeckel und Anna Rau) 112

Anschriften der Autoren 131


Hans Arnold Rau

Einleitung:
Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen

1. Vorbemerkung

Protokolle, Referate und Examensarbeiten sind an deutschen Univer-


sitäten seit jeher verfaßt worden. Daß dort auch Erzählungen, Gedich-
te, Hörspiele, Reden und Reportagen entstehen, ist dagegen neu. Seit
etwa zehn Jahren sind Studentinnen und Studenten zunehmend daran
interessiert, sich in Schreibseminaren Ausdruck zu verschaffen und
ihre Texte miteinander und mit ihrem Hochschullehrer, gelegentlich
unterstützt durch einen Schriftsteller oder Journalisten, zu diskutieren.
Nicht selten kommt es zur Veröffentlichung in Form von Lesungen,
broschierten Anthologien, Studentenzeitungen, Literaturzeitschriften
oder Rundfunksendungen.
Der deutliche Anstieg von Schreibseminaren fällt nicht zufällig in
eine Zeit berufsperspektivischer und fachwissenschaftlicher Neuori-
entierung in den Geisteswissenschaften. Er ist sowohl Reflex als auch
Chance akademischer Reflexion einer »Schreibbewegung«, deren Mit-
wirkende in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen neue Hoffnun-
gen auf das Schreiben setzen. Unter den Hochschullehrern sind es ne-
ben den nicht mehr allein auf die Schulen festgelegten Deutschdidak-
tikern und den Rhetorikern nun auch ehemals rein analytisch arbei-
tende Literatur- und Sprachwissenschaftler, die mit produktionsori-
entierten Elementen in ihren Lehrveranstaltungen experimentieren
oder spezielle Schreibseminare einrichten. Auch von Seiten der Krea-
tivitätsforschung, der Identitätsforschung, der Gruppentherapie und
der Erwachsenenpädagogik gibt es Zugänge zum kreativen Schreiben.
Dieser Vielfalt entsprechend, sind die bisherigen begrifflichen und me-
thodischen Absprachen gering. Nicht einmal die Bezeichnung »kreati-
ves Schreiben« ist unumstritten, obwohl sie sich in letzter Zeit gegen-
über »fiktionalem«, »expressivem« und »personalem Schreiben«
durchzusetzen scheint. 1 Sie berücksichtigt die subjektive wie die objek-
tive Seite der Textproduktion und hat den Vorteil, der Bildung creative

1
Vgl. ζ. B. Themenheft »Kreatives Schreiben«, Westermanns Pädagogische
Beiträge, 38. Jg., Februar 1986, und die von Prof. Dr. Gert Ueding geleitete
Tagung der Akademie Tutzing vom 16.-18. Juni 1987 zum gleichen Thema.
2 Hans Arnold Rau

writing2 zu entsprechen, einem bereits weit verzweigten Bereich ins-


besondere der amerikanischen Muttersprachen-Philologie. Unter »krea-
tivem Schreiben« soll hier der Selbstausdruck durch die Produktion
literarischer Texte verstanden werden, einschließlich der Produktion
autobiographischer, rhetorischer und journalistischer Formen.
Auf den folgenden Seiten möchte ich zunächst einen Überblick ge-
ben über die Praxis von Hochschul-Schreibseminaren in der Bundes-
republik Deutschland und in West-Berlin, wie ich sie 1986 durch eine
Umfrage ermittelt habe. Sodann möchte ich eine geistesgeschichtliche
Einordnung versuchen und die Widerstände erklären, die sich lange
Zeit dem kreativen Schreiben an deutschen Hochschulen entgegenge-
stellt haben. Anschließend soll eine kurze Untersuchung des Zusam-
menhangs zwischen den Kategorien biographischer und ästhetischer
Identität und Fiktionalität dazu beitragen, Elemente einer Theorie des
kreativen Schreibens bereitzustellen. In einem Schlußabschnitt wird
auf bei uns unaufgearbeitete Lehr- und Forschungserfahrungen des
amerikanischen creative writing hingewiesen.

2. Umfrage zu Schreibseminaren 3

2.1 Durchführung und Ergebnisübersicht

Um zu erfahren, wo und in welcher Form sich schreibinteressierte Stu-


dentinnen und Studenten in Seminaren treffen, sandte der Verfasser zu
Beginn des Sommersemesters 1986 Fragebögen an die germanistischen
Institute aller wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik
Deutschland und West-Berlins. Insgesamt wurden 86 germanistische
Institute an 61 Universitäten, Gesamthochschulen, Technischen und
Pädagogischen Hochschulen angeschrieben. 4 Es wurden 33 Fragen zum
2
Von der »Yale Conference on the Teaching of English« wurde creative writ-
ing wie folgt charakterisiert: »an act of composition in which the student
creates a controlled dramatic voice and an imagined world, without sacrifi-
cing the sense of logic and reality. The creation of this world is a process of
making concrete the personal experience of the student in the literary form -
prose or verse.« Morrill, Mabel, and the Commitee On Creative Writing:
Creative Writing. In: Gordon, Edward J. und Noyes, Edward S. (Eds.): Essays
o n the Teaching of English. New York: Appleton 1960, S.79-91.
3
Dieser zweite Abschnitt der Einleitung ist eine überarbeitete Fassung meines
Berichts »Kreatives Schreiben an deutschen Hochschulen. Eine Umfrage.«
Wirkendes Wort, 37. Jg., Heft 3, 1987, S. 228-235.
4
Grundlage war das Verzeichnis »Germanistik an deutschen Hochschulen.
Verzeichnis der Hochschullehrer in der Bundesrepublik Deutschland. Zu-
sammengestellt von F. W. Hellmann. Deutscher Akademischer Austausch-
dienst, Bonn 1982« sowie das Ergänzungsheft »Veränderungen und Ergän-
zungen, Stand SS 1985«.
Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen 3

Vorhandensein und zur Arbeitsweise von Schreibseminaren gestellt so-


wie zu ihren Teilnehmern und deren Intentionen. Es konnten
muItiple-choice-Vorgaben angekreuzt, aber auch individuelle Antwor-
ten gegeben werden. Beteiligt haben sich an der U m f r a g e 58 Institute
an 43 Hochschulen. Die Fragebögen wurden meist von den Seminar-
leitern selbst, in wenigen Fällen von wissenschaftlichen Hilfskräften
ausgefüllt.
Die Frage: »Gibt es an der genannten Hochschuleinrichtung ein
Schreibseminar oder ein Forum f ü r schreibende Studenten/innen, in
dem die Teilnehmer Texte verfassen u n d / o d e r selbstverfaßte Texte zur
gemeinsamen Besprechung vorlegen?« wurde von 38 Instituten positiv
beantwortet. In den weitaus meisten dieser in den Vorlesungsverzeich-
nissen aufgeführten Seminare steht das kreative Schreiben im Mittel-
punkt. Nur in sechs der gemeldeten Seminare geht es primär u m an-
deres: u m den angemessenen Gebrauch der Schriftsprache bei Deutsch
lernenden Ausländern, 5 um das Abfassen von Verwaltungstexten und
um die Übertragung mittelhochdeutscher Verse ins Neuhochdeutsche.
Zu den verbleibenden 32 Instituten mit Seminaren f ü r kreatives Schrei-
ben treten fünf weitere, an denen die Produktion eigener kreativer Tex-
te im R a h m e n einer anderen Lehrveranstaltung einen Schwerpunkt
bildet. So ergeben sich die 37 ζ. T. schon langjährig stattfindenden
Lehrveranstaltungen (siehe Tabelle), auf deren Basis die im folgenden
näher dargestellten Umfrageergebnisse ermittelt wurden. Eindeutig mit
»nein« beantwortet wurde die oben zitierte Frage von 12 Instituten.
Vereinzelte frühere Schreibseminare an der Universität Bayreuth, an
der Technischen Universität Braunschweig und an der Gesamthoch-
schule Kassel blieben wegen unvollständiger Angaben bei der Auswer-
tung unberücksichtigt.

2.2 Teilnehmer

Die »Schreibseminare«, wie die tabellarisch aufgeführten Lehrveran-


staltungen abkürzend genannt werden sollen, sind zum größten Teil in
den f r ü h e n achtziger Jahren entstanden. Die Zahl der Teilnehmer be-
trägt durchschnittlich 17 und ist bei etwa einem Drittel der Schreibse-

5
Im Seminar von Dr. Irmgard Ackermann am Institut für Deutsch als Fremd-
sprache an der Universität München spielt das kreative Schreiben eine wich-
tige Rolle. Auch dieses Seminar muß wegen der besonderen Voraussetzungen
im Bereich Deutsch als Fremdsprache hier unberücksichtigt bleiben. - Vgl.
Rau, Hans Arnold: Autobiographisches und fiktionales Schreiben im DaF-
Unterricht. In: Informationen Deutsch als Fremdsprache, 12. Jg., Heft 1,
1985, S. 68-71.
autobiographische Texte [
|
KREATIVES SCHREIBEN c Β

HS-L. = Schriftsteller
£

eig. Schreibseminar
i-a
1

Texte
an wissenschaftlichen Hochschulen
J Μ
= Ξ •Ε
der Bundesrepublik Deutschland veranstaltet Leiter/Leiterin
und West-Berlins
•o V)
X 3 a) ständig seit des Schreibseminars
c Ό

fiktionäle
Si i b) gelegentlich seit
Germanistische Institute * )
<A
* 3 S3 1 c) bish. einmalig

|
I
1 TH Aachen, Päd. FakVFIiil. Fak. X X X a) WS 83/84 Prof. Dr. Kaspar Heinrich Spinner

2 FU Berlm, Philosophische Fakultai X X X X a) WS 75/76 Prof. Dr. Hans Schumacher

3 Univ. Bochum, Abt. f. Philologie X X X X a) SS 83 Dr. Gerhanl Mensching, AkOR

4 Uoiv. Bonn, Pädagogische Fakultät X X X X a) WS 79/80 Prof. Dr. K. Daniels/Prof. Dr. W. Schemme

5 Univ. Bremen, Fachbereich 10 X X X X b) WS 83/84

6 Univ. Düsseldorf. Philosophische F a t X X X I I X a j SS 83 Prof. Dt, Wilhelm Gassniann


7 Univ./GHS Duisburg, FB. Spr. u. Lit. X X X X b) WS 84/85 Prof. Dr. Gerhard Köpf

8 Univ. Erlangen-Niimberg, En Fak. a) Jahren Prof. Dr. Otto Schober

9 Univ. Frankfurt, FB 10. Neuphil. X X X X X b) Jahren Ingeborg Drewitz (WS 85/86)

10 Univ. Freiburg. „Studium Generale" X X X X a) WS 85/86 Maria Bosse-Spwlcder, Dozentin

11 PH Freiburg X X X X b) SS 84 Prof. Dr. Karl Ono Frank


X X X c) SS 86 Prof Dr Gertrud Ril/ Fröhlich

12 Univ. Gießen, FB Genn., I. f. Did. X b) SS 83 Prof. Dr. Wolfhard Kluge

13 Univ. Göttingen. FB Hist Phil. W. X X X X X a) SS 77 Dr. Burckhard Garbe, AkOR


14 Univ. GSKingen.FB Era. W. X X b) SS 81 Wolfgang Wangerin, AkOR

15 Univ. Hamburg, FB Era. W. X X X X b) SS 84 Prof. Dr. Joachim Fritzsche

16 Univ. Hamburg, FB Sprachwrss. X X X X a) WS 83/84 Prof. Dr. Dieter RoB


17 Hochsch. Hildesheim, L f. Kulturpäd. X X X X a) 1980 Dr. Jürgen Fröchling

18 PH Kiel X X X X b) SS 82 Prof. Dr. Wolfgang Biesterfeld


19 Univ. Köln, Philosophische Fak. X X X a) SS 83 (nurSS) Prof. Dr. Walter Hinck

20 Univ. Köln, En. Fak. X X X X c) WS 82/83 Dr. Hoiger Rudioff. Wiss. Assist.

21 Univ. Köln, Studiobühne X X X a) SS 81 Ekkehard Skoruppa

22 Univ. Konstanz, Phil. Fak. X X X X - a) 1976 Dr. Hermann Kinder. AkR

23 Hochschule Lüneburg X X X X b) WS 84/85 Prof. Dr. W. Schlotthaus


24 PH Ludwigsburg, Arbeitsst. Kinderlit. X X X X X X b) SS 85 Prof. Dr. Albrecht Schau

25 Univ. Marburg, FB Germ. Ling. u. Ph. X X X X b) WS 84/85 Prof. Dr. Gisbert Kcseling

26 Univ. Münster, FB 23, Didaktik X X X a) S S 83 Prof. Dr. Winfried Pielow

27 Univ. Oldenburg, FB 2, Germanistik X X X a) WS 84/85 Prof. Dr. Joachim Dyck

28 Univ. Oldenburg. Z. f. Wiss. Weiterb. X X X b) WS 85/86 Dr. Ulrich Fischer/R. Hethev

29 Univ. Osnabrück. FB 7 X X X a) SS 84 Prof. Dr. Tilman Westphalen

30 Univ. Osnabrück. Abt. Vechta, FB 2 X X X b) W S 84/85 Prof. Dr. Otto H. Domer

31 Era. HS Rheinland-Pfalz, Landau X X X X X b) vor SS 83 Prof. Dr. Hein2-Jürgen Kliewer

32 Univ. Saarbrücken. FB 8 X X X X a) SS 83 Amfried Astel

33 PH Schwäbisch Gmünd. FB 2 X X X b) SS 84 Prof. Dr. Manfred Wespel


34 GSH Siegen, FB 3. Spr. u. Lit.Wiss. X X X X c) W S 85/86 Prof. Dr. Gerhard Äugst

35 Univ. Stungart, Fak. 1 1 . 1 f. Lit. X X X a) SS 83 (nur S S ) Dirk Mende

36 Univ. Tübingen, Sera, f Alig.Rhet. X X X X a) WS 79/80 Prof. Dr. W. Jens/Prof. Dr. G. Uedrog
37 PH Weingarten X X X X a) WS 85/86 Prof. Dr. Jörg Ehni

*) und verwandte Einrichtungen


Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen 5

minare steigend. Nur in zwei Fällen wird abnehmendes Interesse ge-


meldet. 6 Die meisten Teilnehmer studieren im Hauptfach Germanistik
bzw. Didaktik des Faches Deutsch (81%), 14% kommen aus anderen
Studienfächern, durchschnittlich 5% sind Hochschulexterne. Frauen
sind mit durchschnittlich 64% meist stärker vertreten als Männer, was
nur zum Teil auf den hohen Frauenanteil an den Pädagogischen Hoch-
schulen und Erziehungswissenschaftlichen Fakultäten zurückzuführen
ist. Es gibt aber auch drei Seminare, die zu 70% und mehr aus Männern
bestehen.
Geleitet werden die Seminare mehrheitlich von Professoren oder
Angehörigen des akademischen Mittelbaus, ζ. T. aber auch von Schrift-
stellern und Journalisten. Nur in drei Fällen werden Frauen als Semi-
narleiterinnen genannt.

2.3 Textsorten

Bis auf drei ausschließlich rhetorisch und journalistisch orientierte


Schreibseminare melden alle übrigen die Produktion fiktionaler Texte.
In der Skala der genannten Textsorten - meist sind es in einem Semi-
nar mehrere - erscheinen am häufigsten Lyrik (72%) und Erzählungen
(69%), gefolgt von tagebuchartigen, autobiographischen Texten (55%).
Dialogische und dramatische Texte (37%) sowie Medientexte wie Hör-
spiel und Drehbuch (27%) treten dagegen zurück. In 33% der Schreibse-
minare werden journalistische Texte (Literaturkritiken, Kommentare,
Reportagen u. a.) und rhetorische Texte (Reden, öffentliche Briefe,
Flugblätter u.a.) verfaßt.
Die tatsächliche Vielfalt der produzierten Textsorten, zu denen im
einzelnen ζ. B. Sprachspiele, Kinderlieder, Parodien, Aphorismen, Es-
says, Briefe und assoziativ verfaßte >freie Texte< gehören, kann hier nur
angedeutet werden.

2.4 Schreibbedingungen

In vielen Schreibseminaren entstehen die eingebrachten Teilneh-


mertexte sowohl während der Seminartreffen als auch zuhause (48%).
Zu 35% entstehen sie ausschließlich außerhalb der Seminarsitzungen,
während in 17% der Fälle die Teilnehmer allein im Verlauf ihrer ge-

6
D i e beiden Institute an den in Auflösung befindlichen Pädagogischen Fa-
kultäten in Aachen und Bonn bleiben bei dieser Frage unberücksichtigt, da
die Abnahme der Teilnehmerzahl hier andere Gründe hat.
6 Hans Arnold Rau

meinsamen Treffen an ihren Texten arbeiten. Die Schreibdauer für die


im Seminar verfaßten Texte ist unterschiedlich. Sie liegt im Durch-
schnitt bei 30 Minuten, kann sich in einigen Seminaren aber auch über
mehrere Sitzungen erstrecken.
Zum Entstehen der Texte tragen die meisten Seminarleiter u. a. da-
durch bei, daß sie Anregungen geben oder Aufgaben stellen (78%). Zu
diesen Schreibanregungen gehören, geordnet nach der Häufigkeit ihrer
Nennung: Themen, stilistische oder formale Regeln (ζ. T. mit Textvor-
lagen), Sprachmaterial und Spielregeln, Schreibsituationen und schließ-
lich non-verbale Impulse wie Bilder oder Musik. Die Rollenverteilung:
hier anregender Seminarleiter - dort ausführende Studenten gibt es in
dieser Klarheit jedoch meist nicht. Denn 65% der Leiter schreiben
selbst mit. Auch werden die Schreibanlässe nicht selten gemeinsam
ausgewählt.

2.5 Textbesprechung

In fast allen Schreibseminaren werden die Teilnehmertexte sowohl


vorgelesen als auch schriftlich vervielfältigt. Letzteres geschieht zum
Teil zeitversetzt. Im Anschluß an die erste Textpräsentation in der
Gruppe kommt es häufig zu Diskussionen über Einzelheiten (90%).
Diese führen nicht selten zu Diskussionen über allgemeine stilistische
und literarische Kriterien (65%). Absicht und Wirkung werden mitein-
ander verglichen, und sofern sich die Texte auf eine Schreibaufgabe
beziehen, werden sie an dieser gemessen. Bei den Besprechungen wer-
den die Textinhalte einbezogen, was bei einzelnen Gruppen auch unter
psychologischen und persönlichen Gesichtspunkten erfolgt. Auf eine
Beurteilung der selbstverfaßten Texte wird von etwa der Hälfte der
Seminarleiter (47%) weitgehend verzichtet. Einige heben hervor, daß
ihr Urteil nicht mehr gelten soll als das jedes anderen Seminarmit-
glieds.

2.6 Veröffentlichung

Bei den meisten Schreibseminaren bleibt es nicht bei der Präsentation


der Texte vor den Teilnehmern selbst. 68% wenden sich auch an ein
größeres Publikum. Die häufigsten Formen der Veröffentlichung sind
der Druck von Broschüren (57%) und die Veranstaltung von Lesungen
(43%), meist am Semesterende vor Studenten und Hochschullehrern.
Diese Publikationen werden nicht selten von der Lokalpresse aufge-
griffen, und dadurch wird über die Hochschulöffentlichkeit hinaus auf
Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen 7

sie aufmerksam gemacht. An einzelnen Hochschulen werden Lesungen


gemeinsam mit außeruniversitären Schreibgruppen veranstaltet. In
etwa einem Drittel der Schreibseminare entstanden Texte, die in Zei-
tungen, Literaturzeitschriften oder Anthologien abgedruckt wurden.
Aus einzelnen Schreibseminaren gingen eigene Literaturzeitschriften
und Anthologien-Reihen hervor. 7 In Bonn, Vechta und Münster wur-
den dramatische Texte aufgeführt. In Hamburg (Prof. Roß), Köln
(Prof. Hinck), Konstanz, Landau, Oldenburg (Dr. Fischer), Saarbrük-
ken und Tübingen kam es zu Rundfunk- beziehungsweise Fernsehsen-
dungen.
Für die Verbindung der Schreibseminare zur literarischen und publi-
zistischen Öffentlichkeit ist es nicht unerheblich, daß zum Teil die Lei-
tung in Kooperation mit einem hochschulexternen Schriftsteller oder
Journalisten erfolgt und daß vier der Hochschullehrer, die die Semi-
nare leiten, selbst auch Schriftsteller sind (siehe Tabelle). Im Zusam-
menhang damit steht, daß in manchen Seminarsitzungen auch über
Erfahrungen mit Redaktionen, Schriftstellerverbänden und literari-
schen Preisausschreiben gesprochen wird.

2.7 Teilnahmegründe

Die Motivation der Studentinnen und Studenten, an einem Schreibse-


minar teilzunehmen, würde nicht zureichend beschrieben, wenn man
sie nur in Verbindung mit dem Wunsch sähe, sich das Handwerkszeug
eines Schriftstellers zuzulegen. Zwar wird die Aneignungsmöglichkeit
schriftstellerischer Techniken in 57% der Fälle als ein Teilnahmegrund
angegeben, aber es gibt drei weitere Motivationen, die ebenso häufig
und häufiger genannt werden: literarische Geselligkeit (57%), Kreati-
vitätstrainig (65%) und Selbstausdruck beziehungsweise Identitätssuche
(68%). Die Motivationen »erwartete Verwendungsmöglichkeiten im
Lehrberuf« (24%) und/oder »erwartete Verwendungsmöglichkeiten in
sonstigen Berufen« (24%) werden insgesamt von nur 38% genannt, ha-
ben aber bei didaktisch und journalistisch orientierten Seminaren be-
sonderes Gewicht. Vor allem zur Frage der Teilnahmemotivation wäre
eine ergänzende Befragung unter den Seminarteilnehmern interessant.
Auf seiten der Seminarleiter und -leiterinnen werden als Begrün-
dung für die Durchführung der Seminare zum Teil andere Gesichts-

7
A u s dem »Lyrikworkshop Göttingen« gingen die Zeitschriften »Literatte«
und »Blattlaus« hervor. In Osnabrück geben Studenten die Literaturzeit-
schrift »Größenwahn« heraus. An der FU Berlin erschienen zwischen 1978
u n d 1984 fünf Bände der Anthologie »Erfahrungen« mit je ca. 300 Seiten.
8 Hans Arnold Rau

punkte hervorgehoben. Sie wollen den Stil ihrer Studenten und Stu-
dentinnen verbessern (49%), schriftstellerische Talente fördern (49%)
und vor allem die Voraussetzungen für die Rezeption und Interpreta-
tion von Literatur verbessern (65%). Auch den psychischen und sozia-
len Bedürfnissen der Studierenden scheint ein großer Teil der Se-
minarleiter entgegenkommen zu wollen.

2.8 Der besondere Charakter der Schreibseminare

Die Frage nach der Zielsetzung, die die Seminarleiter mit dem Seminar
verbinden, ist in vielen Fällen zu individuellen Ergänzungen genutzt
worden. Aus ihnen geht hervor, daß die meisten Seminarleiter das Be-
dürfnis der Studenten nach Selbstausdruck und Identitätsfindung nicht
nur kennen, sondern auch anerkennen. So werden als Zielsetzung auch
»Gegengewicht zu rezeptivem Studiengang«, »psychische Stabilisie-
rung«, »Lebenshilfe«, »Freiraum zur Entfaltung eigener Bedürfnisse«,
»Förderung literarischer Selbstexploration« und »Förderung der Em-
pathiefähigkeit« genannt. Den bewußt subjektiven, vom wissenschaft-
lichen Lehrbetrieb abweichenden Erwartungen der Teilnehmer versu-
chen die Seminarleiter sowohl durch die äußere Organisation ihrer Se-
minare als auch durch gruppenpädagogische Vorgehensweisen zu ent-
sprechen. Zwar beträgt die offizielle Dauer der meisten Schreibsemi-
nare nur zwei Wochenstunden (bei 22% sind es drei und mehr Stun-
den), aber es kommt nicht selten zu »Nachseminaren« im Cafe und
privaten Treffen. Die Schreibseminare in Berlin, Bonn, Köln (Studio-
bühne), Konstanz und Hildesheim haben schon Wochenendseminare
und mehrtägige Exkursionen durchgeführt. In Aachen, Frankfurt und
Marburg werden Schreibseminare als zwei- bzw. dreitägige Blockveran-
staltungen angeboten.
Im Unterschied zu anderen Seminaren werden die Leistungen in den
Schreibseminaren in keinem Fall benotet. Auch Teilnahmebescheini-
gungen werden nur an wenigen Instituten ausgestellt. Sicher ist das eine
wichtige Voraussetzung für die zwanglose Arbeitsatmosphäre und die
Bereitschaft zur kreativen Kooperation. Das wissen auch die Semi-
narleiter. Zwei Drittel beantworteten die Frage »Wurden der Gruppen-
prozeß und die Vertrauensbildung von Seiten des Dozenten gezielt ge-
fördert?« mit »ja«. Aus den individuell beigefügten Anmerkungen er-
gibt sich folgendes Bild:
Zwanglosigkeit: Man spricht und arbeitet in entspannter Atmosphäre, ζ. B.
wird in einigen Seminaren während der Treffen Kaffee getrunken. Niemand
wird gezwungen, sich zu produzieren, andererseits wird den Texten aller Teil-
nehmer Aufmerksamkeit entgegengebracht. Wenn in Einzelfällen nötig, hält
der Seminarleiter zur Freundlichkeit an.
Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen 9

Einbringen von Subjektivität: Wie schon bemerkt, schreibt meist auch der
Leiter mit, oder, wie es in einer Formulierung heißt, er »gibt Texte aus der
Vergangenheit preis«. In nicht wenigen Seminaren duzen sich Leiter und
Studenten. Beide sprechen »in verschiedenen Formen der Ich-Botschaften«
von ihrem Leben.
Kooperation: In einigen Gruppen wird bisweilen mit Rollenspielen und Er-
zählspielen (ζ. B. Reihumgeschichten) gearbeitet (19% bzw. 17%). Bei 39%
sind Formen kollektiven Schreibens erprobt worden, meist so, daß Partner-
oder Kleingruppen gemeinsam einen Text ausformulierten, manchmal als
Abschnitt eines im Plenum konzipierten Handlungsgerüsts. Auch das ge-
meinsame Herantreten an die Öffentlichkeit wirkt darauf hin, daß sich die
Teilnehmer als »Wir-Gruppe« empfinden.

3. Regelpoetik - Geniekult - kreatives Schreiben:


Die Demokratisierung des Originalitätsgedankens

Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, das kreative Schreiben,


wie es nach den Umfrage-Ergebnissen derzeit an den deutschen wissen-
schaftlichen Hochschulen in Erscheinung tritt, vor geistesgeschichtli-
chem Hintergrund zu deuten. Eine der negativen Antworten auf die
Schreibseminar-Umfrage wurde von einem habilitierten Germanisten
mit dem Zusatz versehen: »Schreiben lernt man im Aufsatzunterricht
des Gymnasiums und während der Vorlesungsmitschriften, so daß
»Schreibseminare« als eine Art Nachhilfeunterricht angesehen werden
müssen.« Noch ist es keineswegs selbstverständlich, daß an deutschen
Hochschulen zum Schreiben oder gar Dichten angeleitet wird. Man
muß bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückblicken, um
eine Zeit zu entdecken, in der dies einmal der Fall gewesen ist. Die
Rhetorik- und Poetikprofessoren der Zeit vor Gottsched sahen ihre
Aufgabe darin, die Distanz zwischen Leser und Autor dadurch aufzu-
heben, daß sie den Leser in die Lage versetzten, zum Autor zu werden.
Mit ihren Schülern und Studenten lasen sie die antiken Autoren, um
ihnen die Regeln literarischer Produktion abzuschauen. Textverständ-
nis war keine Endstufe, sondern Vor- und Durchgangsstufe zum eige-
nen Schreiben.
Solange der akademische Umgang mit Literatur noch zu den »freien
Künsten« und später zu den »schönen Wissenschaften« gehörte, wurde
studiert, als komme es darauf an, Redner und Dichter zu werden. Jo-
hann Christoph Gottsched, »der Weltweisheit und Dichtkunst Pro-
fessor in Leipzig«, schreibt in seinen »Vorübungen der lateinischen
und deutschen Dichtkunst«: »Endlich kann man, unter neuern und
guten Dichtern in seiner eigenen Muttersprache gewisse Stücke aussu-
chen, und sich bemühen, eben das, was dieselben gesagt haben, auf eine
ganz andere Art, mit anderen Worten, aber in einerlei Versen vor-
10 Hans Arnold Rau

zutragen, um gleichsam mit ihnen zu kämpfen, wer es besser machen


kann.« 8 Die nach solchen Übungen an Schulen hervorgebrachten Texte
waren nicht allein für den beurteilenden Lehrer bestimmt, sondern sie
wurden im sogenannten »Schul-Aktus« veröffentlicht, d. h. in festli-
chen Schaustellungen von selbstverfaßten Reden, Gedichten und Dra-
men. 9
Bekanntlicherweise wurden die aus der Antike übernommenen Re-
geln, nach denen die dichterischen Übungen durchgeführt wurden, spä-
testens in der Mitte des 18. Jahrhunderts in ihrer Vorbildfunktion frag-
lich. Die neue Lage spiegelt sich auch im Streit zwischen Gottsched auf
der einen sowie Bodmer und Breitinger auf der anderen Seite. Gott-
sched warnt vor dem Kauf der 1740 von Breitinger veröffentlichten
»Critischen Dichtkunst« im Vorwort zur dritten Auflage seiner eige-
nen »Critischen Dichtkunst« von 1742: »Man wird daraus weder eine
Ode, noch eine Cantate; weder ein Schäfergedicht, noch eine Elegie;
weder ein poetisches Schreiben, noch eine Satire; weder ein Sinnge-
dicht, noch ein Lobgedicht; weder eine Epopoee, noch ein Trauerspiel;
weder eine Komödie noch eine Oper, machen lernen [...] Wer also
dieselbe in der Absicht kaufen wollte, diese Arten der Gedichte daraus
abfassen zu lernen, der würde sich sehr betrügen, und sein Geld her-
nach zu spät bereuen.« 10
Doch solche Warnungen schlagen fehl. Die sich auf Shakespeare
berufenden Kritiker der Regelpoetik stoßen mit dieser bald auch den
deutschen Literatur-Papst Gottsched vom Thron. Nicht auf die Nach-
ahmung der Antike und die an den Höfen gepflegten literarischen Ri-
tuale kommt es ihnen mehr an, sondern auf die Autonomie naturge-
wachsener Originalgenies. Ihre erfolgreichen Genie-Proklamationen
»sind Manifestationen des unabhängig gewordenen, oft genug auch nur
Unabhängigkeit ersehnenden, auf seine eigenen produktiven Energien
stolzen bürgerlichen Menschen, der keine andere Autorität mehr aner-
kennt.« 11 Aus der problematisch gewordenen Verbindung von Gelehr-
tentum und Dichtung gehen nun Abhandlungen über Dichtkunst her-
vor, die ihre Legitimation darin suchen, einer Verehrergemeinde das

8
Gottsched, Johann Christoph: Vorübungen der lateinischen und deutschen
Dichtkunst zum Gebrauch der Schulen. Leipzig 1756, S. 220.
9
Vgl. Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtli-
chen Grundlagen. Tübingen 1970, insb. S. 290ff., S. 343ff.
10
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Darm-
stadt 1977. Unveränderter reprographischer Nachdruck der 4., vermehrten
Auflage, Leipzig 1751, S. XX.
" Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Li-
teratur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 1: Von der Aufklärung bis
zum Idealismus. Darmstadt 1985, S. 4.
Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen 11

Wesen genialer Schöpfung auszulegen. Literatur wird in Hinsicht auf


ihre Produktion exklusiv. Nicht zufällig erhält ihr Begriff in dieser Zeit
seine sich auf Schöngeistiges verengende, gehobene Bedeutung. 12 Der
Gymnasialrektor und spätere Universitätsprofessor Köster schreibt
1763 in seinem Buch »Anweisung die Sprachen und Wissenschaften
vernünftig zu erlernen und ordentlich zu studieren«: »Man muntert
den Schüler auf, die Zeit für die Dichtkunst zu verschwenden, und eine
Arbeit zu unternehmen, dazu unter tausenden nicht einer Genie und
Wissenschaft genug hat.« 13 Dichten, so stellt sich die Alternative in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und nachwirkend bis in unsere
Gegenwart, ist entweder geniale Großtat oder peinliche Zeitverschwen-
dung.
Seitdem lernen Schüler und Studenten Literatur fast nur aus der
Perspektive des Lesers und Interpreten kennen, kaum mehr aus der des
Autors. Parallel zur Entwicklung der lateinischen und muttersprachli-
chen Schulpoesie verläuft der Niedergang der Redeübungen. Einer der
Gründe dafür ist Kants moralische Abwertung der »Rednerkunst«, die
für ihn »als Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Ab-
sichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint, oder auch
wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner A c h t u n g würdig« ist.14
Zwar werden noch Texte verfaßt, aber die Schreibenden verlassen die
Rolle des Rezipienten dabei nur bedingt. Im fortgeschrittenen Deutsch-
unterricht wie im Germanistikstudium werden sie fast ausschließlich
in das Abfassen analysierender »Sekundärliteratur« eingeübt. Ein
praktizierender Umgang mit dichterischer Sprache scheint für das Li-
teratur· und Sprachstudium irrelevant, wenn nicht gar störend zu sein.

So zumindest war der vorletzte Stand der Dinge, etwa bis zur Mitte der
siebziger Jahre: vor der Verbreitung des kreativen Schreibens in ver-
schiedensten »Literaturwerkstätten«, gymnasialen Literaturkursen 15
und universitären Schreibseminaren. Wie ist dieses erhöhte Interesse
und auch der neue Mut zur eigenen Literaturproduktion erklärbar
angesichts der tradierten, durch Romantik und Faschismus noch ver-
tieften Kluft zwischen künstlerischem Genie und Verehrergemeinde?
Wie konnte das kreative Schreiben an Hochschulen Fuß fassen, an de-

12
Vgl. Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. 6. Aufl., Tübingen 1966.
13
Köster, H. M. G.: Anweisung die Sprachen und Wissenschaften vernünftig zu
erlernen und ordentlich zu studieren. Frankfurt und Leipzig 1763, S. 259f.
14
Kant, Imanuel: Kritik der Urteilkraft § 53, Fußnote. Darmstadt 1986, S. 431.
Bd. 8 der »Werke in zehn Bänden«, hg. von Wilhelm Weischedel.
15
Vgl. ζ. B. Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen.
Literaturkurse. Hg. vom Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen.
Köln 1981.
12 Hans Arnold Rau

nen sich Forschung und Lehre als wissenschaftlich auszuweisen haben?


Sollte sich etwa im Zuge einer Gottsched-Renaissance die Vorstellung
aufs neue verbreitet haben, Dichten sei im Rückgriff auf einen be-
stimmbaren Regelkanon lehrbar?
Nach der Übersteigerung des Genie-Gedankens durch Nietzsches
Vorstellung vom »Künstler-Tyrannen« und nach seiner Diskreditie-
rung durch die nationalsozialistische Führer-Ideologie 16 ist Ernüchte-
rung eingekehrt. Die Erfahrung des Faschismus wird vielfach als War-
nung davor verstanden, noch einmal hinter die bürgerlich-revolutio-
näre Voraussetzung zurückzufallen, daß es das Individuum selbst sein
muß, das die Regeln festlegt. »Man möge sich daran erinnern«,
schreibt Christa Wolf, »daß jede faschistische Ordnung damit beginnt,
das Individuum auszulöschen.« 17 Ohne den Einzelnen und die Entfal-
tung seiner Individualität gibt es keine Demokratie und kein öffentli-
ches Leben. Edward Youngs »Gedanken über die Originalwerke« von
1759, die in Deutschland wohl einflußreichste Genie-Proklamation,
sind insofern aktuell geblieben. Sie werfen die Frage auf: »Da wir nun
als Originale gebohren werden, wie kömmt es doch, daß wir als Copien
sterben?« 18 Nur wird heute eine andere Antwort gegeben als in der
Genie-Ära. Die Bewahrung und Entfaltung selbstbestimmter Indivi-
dualität wird nicht mehr allein dem genialen Menschen zugestanden,
mit dessen Hilfe sich eine identifizierende Gefolgschaft Omnipo-
tenzsehnsüchte erfüllt. Das Angebot, die eigene Originalität zu realisie-
ren, besteht in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft für jeden.
In den späten sechziger Jahren wurde in der Bundesrepublik
Deutschland verstärkt der Versuch unternommen, die Demokratie be-
wußt zu ergreifen und in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinzutra-
gen. Damit verbunden war eine Kritik an allen Autoritäten. Auch die
Entmythologisierung des dichterischen Schöpfertums kam dadurch ei-

16
»Sie denken auch im Politischen künstlerisch«, läßt Joseph Goebbels einen
der fiktiven Dialogpartner in seinem Roman »Michael« sagen. Auf den Ein-
wand, der kommende Führer werde »die letzte Blüte unserer Jugend zum
Opfer bringen«, lautet die Antwort: »Genies verbrauchen Menschen. Das ist
nun einmal so.« Joseph Goebbels: Michael. Ein deutsches Schicksal in Ta-
gebuchblättern, 2. Aufl., München 1931, S. 60 und 62. Zitiert nach Schmidt,
Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens (siehe Fußnote 11). Bd. 2: Von
der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, S. 207.
17
Wolf, Christa: Lesen und Schreiben. In: Wolf, Christa: Lesen und Schreiben.
Neue Sammlung. Essays, Aufsätze, Reden. Darmstadt und Neuwied 1981, S.
9-46. Zitat S. 46.
18
Young, Edward: Gedanken über die Original-Werke. Aus dem Englischen
von Η. E. Teubern. Heidelberg 1977. Deutsche Neudrucke, Reihe: Goethe-
zeit, hg. von Arthur Henkel. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1760, S.
40.
Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen 13

nen entscheidenden Schritt voran. Für die Schriftsteller selbst schien


die Räumung der Genie-Position zumindest teilweise mit Erleichterung
verbunden gewesen zu sein. Christa Wolf schreibt 1968: »Der Autor
[...] ist nichts anderes und will nichts anderes sein als ein normales,
engagiertes Mitglied der Gesellschaft.« 19 Die post-geniale Position des
kreativen Schreibens geht davon aus, daß es in einer auf die Selbstver-
wirklichung ihrer Mitglieder angelegten Gesellschaft möglich ist, auch
ohne die legitimierende Konstruktion des Genies schöpferisch und wir-
kungsvoll zu schreiben. Qualitäts- und Begabungsunterschiede brau-
chen deshalb nicht geleugnet zu werden. Aber Qualitätsunterschiede
werden auch nicht mehr dadurch erzeugt, daß die Angst vor der Pein-
lichkeit ungenialen Schreibens die Entwicklung des literarischen
Selbstausdrucks hemmt. Nur wenn selbstproduzierte Texte frei ausge-
tauscht, nicht wenn sie in tiefen Schubladen gelagert werden, kann sich
ihre Qualität steigern und kann ihr Autor die ihm und seinem Gegen-
stand gemäße Sprache finden. Nur wenn Subjektivität offen zur Spra-
che kommt, nicht wenn sie sich privatistisch zurückzieht, kann sie zum
kulturellen Leben einer demokratischen Gesellschaft beitragen.

4. Identität, Fiktionalität und Originalität als biographische


und ästhetische Kategorien

Das individuelle Ich ist ein lebendiger Prozeß, der sich selbst zu bestim-
men sucht. Die Beantwortung der Frage, wer dieses Ich ist, durch die
Zeiten und durch die jeweils zu spielenden Rollen hindurch, verlangt
eine von jedem selbst zu vollbringende Anstrengung. Mit der Entwick-
lung unserer arbeitsteiligen und auf technische Effizienz ausgerichte-
ten Industriekultur wird die Lösung dieser Aufgabe schwerer. An-
dererseits wächst der Wunsch der in Funktionen aufgeteilten Men-
schen, »sich noch als Ganze irgendwo wiederzufinden.« 20 Angesichts
dieses Dilemmas gewinnt die Entdeckung Max Frischs neue Bedeu-
tung, »daß jedes Ich, auch das Ich, das wir leben und sterben, eine
Erfindung ist [...] Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine
Geschichte, die er, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält.« 21
Ohne eine solche Geschichte ist die Beantwortung der brennenden Fra-
ge nach dem, was man ist oder sein will, offenbar nicht zu beantworten.

19
Wolf, Christa: Lesen und Schreiben (siehe Fußnote 17), S. 43-44.
20
Ziehe, Thomas: Lebensgeschichte und politisches Bewußtsein. In: Maurer,
Friedemann (Hg.): Lebensgeschichte und Identität. Beiträge zu einer biogra-
phischen Anthropologie. Frankfurt 1981, S. 133-149. Zitat S. 135-136.
21
Bienek, Horst: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München 1965, S. 28
und S. 27.
14 Hans Arnold Rau

Werden n u n Selbstfindung und »Selbst-Erfindung« in einer tradi-


tionsentkleideten Zeit schwieriger, k a n n die Produktion und Bespre-
chung eigener fiktionaler Texte an Attraktivität gewinnen. In einer
Geschichte oder mit einem Gedicht lassen sich auf sehr geschützte
Weise neue Seh- und Handlungsweisen durchspielen u n d zur Diskus-
sion stellen. Erfahrungen können versuchsweise auf einen Sinn hin
geordnet u n d in Worte gefaßt werden. Das Experimentieren mit Rollen
und Identitäten kann dabei helfen, eine eigene Identität zu finden. Es
kann aber auch ein bewußteres und freieres Verhältnis gegenüber einer
eingeredeten und aufgezwungenen Identität ermöglichen.
A u c h die Schreibseminare an wissenschaftlichen Hochschulen wer-
den von vielen Teilnehmern zur Identitätsfindung genutzt. Für die äs-
thetische Qualität der Texte braucht dies nicht von Nachteil zu sein.
Auch sie hängt davon ab, ob ein Text durch alle seine Elemente hin-
durch eine Einheit gewinnt, ob er konsequent auf ein Sinnzentrum
durchgearbeitet ist. Eine weitere auffällige Strukturgleichheit zeigt sich
beim subjektiven wie ästhetischen Bemühen, Neues oder Bekanntes
auf eine eigene und einmalige Weise auszudrücken. Identität und Ori-
ginalität sind nicht n u r biographische, sondern auch ästhetische Kate-
gorien, so wie Fiktionalität nicht nur eine ästhetische, sondern auch
eine biographische Kategorie ist.
Die Besprechung selbstverfaßter Texte mit anderen Autoren zeigt
dem Schreibenden, wie weit es ihm gelungen ist, eigene Sinnzusam-
menhänge zu entwerfen und auf eigene Weise zur Sprache zu bringen.
Sie k a n n eine Überarbeitung der Texte und eine Steigerung des
Schreibvermögens bewirken. Im Vergleich mit den Texten der anderen,
die ζ. T. auf die gleiche Schreibanregung hin entstanden sind, wird es
möglich, die eigene Leistung besser einzuschätzen und sich der Cha-
rakteristika der eigenen Schreibweise bewußt zu werden. Die Doppel-
rolle als Autor und Kritiker verlangt von den Seminarteilnehmern die
Reflexion von Bewertungsmaßstäben und erlaubt ihnen, auch fremde
Texte unter Einbeziehung der Produktionsperspektive wahrzunehmen.

5. Creative Writing an amerikanischen Universitäten

Es bleibt die Frage, ob kreatives Schreiben an wissenschaftlichen Hoch-


schulen Bestand haben kann. Ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse
amerikanischer Universitäten zeigt, wie die Entwicklung verlaufen
könnte. Dort findet sich »Creative Writing« zum Teil schon seit Jahr-
zehnten unter der Rubrik »English Department« gleichbereichtigt ne-
ben Literaturwissenschaft und Linguistik. Unterschiedliche Seminare
werden angeboten, in denen Essays, Gedichte, Geschichten und Szenen
Kreatives Schreiben an bundesdeutschen Hochschulen 15

geschrieben werden. Lesungen und Aufführungen, universitätseigene


Zeitungen und Rundfunksender verschaffen den Arbeitsergebnissen
Öffentlichkeit. Unter den Studierenden nimmt das Interesse an creative
writing weiter zu. 22 Ein reiches Angebot an Lehrmaterialien 23 und
Fachzeitschriften 24 steht zur Verfügung sowie eine Fülle von Mo-
nographien und Dissertationen. 25 Es wäre zu hoffen, daß solche nie-
dergelegten creative writing-Erfahrungen für den deutschsprachigen
Bereich aufgearbeitet würden, um die in Gang gekommene eigenstän-
dige Lehre und Erforschung des kreativen Schreibens zu inspirieren. 26

22
David Kirby von der Florida State University schreibt rückblickend auf die
letzten zwanzig Jahre: »On campus the disaffected young showed less interest
in traditional literature and politics and more interest in creative writing,
women's studies, and minority studies. Of these three [. . .] only creative writ-
ing seems to have continued to grow.« Kirby, David: Two and Two Make
More Than Four. In: College English, Volume 46, Number 3, March 1984, S.
248-253. Zitat S. 249.
23
Vgl. Kirby, David: Two and Two (siehe Fußnote 22). Es handelt sich um eine
Sammelrezension zu acht Lehrbüchern und einer kommentierten Bibliogra-
phie. - Vgl. auch Woods, William F.: Composition Textbooks and Pedagogical
Theory 1960-80. A Review-Essay. College English, Volume 43, Number 4,
April 1981, S. 393-409.
24
Vgl. Connors, Robert J.: Journals in Composition Studies. In: College Eng-
lish, Volume 46, Number 4, April 1984, S. 348-365. Es handelt sich um eine
kritische Würdigung von 15 Fachzeitschriften für Schreibdidaktik.
25
Vgl. Dissertation Abstracts International. A: The Humanities and Social
Sciences. Insb. II A: Education, General; Education, Psychology; Education,
Theory and Practice, und III A: Literature, General. - Ζ. B. Ferrill, June
Olivia, Ph.D.: Self-Exploration Through Creative Writing. An Experiment in
College Composition. The University of Michigan 1977. In: DAI 38,3 (Sep-
tember 1977). - Kramer, Howard William, Ph.D.: The Relationship Between
Personality Type and Achievement in Expository and Creative Writing. The
University of Michigan 1977. In DAI 38, 6 (December 1977). - Caruso, Do-
menick, Ph.D.: A Contemporary Re-Creation of Moby Dick. An Approach to
Creative Writing. New York University 1975. In: DAI 36, 12 (June 1976).
26
Umfangreiche Literaturangaben zum kreativen Schreiben und zum Stand der
Schreibdidaktik im deutschsprachigen Bereich geben u. a.: Rudioff, Holger:
Über rezeptions- und produktionsästhetische Konzeptionen von Literatur-
unterricht. Wirkendes Wort, 34. Jg., Heft 3, 1984, S. 216-227, insbesondere
S. 226-227; Gössmann, Wilhelm: Theorie und Praxis des Schreibens. Wege zu
einer neuen Schreibkultur. Düsseldorf 1987, insbesondere S. 170-176.
Walter Hinck

»Literatur lebendig«

Meine erste Reaktion war Widerstand, Abwehr. Überlaßt den Ameri-


kanern den Glauben, daß man literarisches Schreiben erlernen kann
wie einen technischen Beruf! So dachte ich, als zu Anfang der fünfziger
Jahre Wolfgang Kayser, neu berufener Ordinarius für Neuere Germa-
nistik in Göttingen, zu einem Arbeitskreis schriftstellerisch interessier-
ter Studenten einlud. Über die Sitzungen dieses, wie es bald hieß, »Dich-
terkreises« drang manches nach draußen. In einer Gruppe von Freun-
den, die sich lieber - und das nicht ohne Erfolg - an Zeitungs- und
Rundfunkredaktionen hielten, lösten diese Berichte allenfalls ironische
Kommentare aus. Was freilich nicht ausschloß, daß wir uns dann an
einem frei ausgeschriebenen Wettbewerb für den »Göttinger Musenal-
manach« - den letzten überhaupt erschienenen - mit Einsendungen
beteiligten. Ein bißchen wollte man denn doch dabei gewesen sein.
Aus dem skeptischen Freundeskreis haben alle früher oder später
Berufe und Tätigkeiten ergriffen, die mit der lebendigen Literatur und
ihrer Vermittlung unmittelbar zu tun haben. Eine Freundin von da-
mals ist inzwischen Romanautorin mit hohen Auflagen und guten Ta-
schenbuchverträgen, Autorin erfolgreicher Fernsehspiele. Es hat ihr
wahrlich nicht geschadet, daß sie dem »Dichterkreis« Göttinger Stu-
denten fernblieb.
Von der Skepsis abzugehen, besteht kein Grund. Es gibt aber auch
keinen, an der früheren ironischen Überheblichkeit festzuhalten. Auch
die berühmten amerikanischen Kronzeugen, die ihr erstes erzähleri-
sches oder dramatisches Handwerk in praktischen Universitätssemi-
naren lernten, haben die Voraussetzungen für dessen fruchtbare An-
wendung schon in die Seminare mitbringen müssen: Schreibtalent,
Phantasie, Produktivität; Seminare sind keine Pflanzstätten für Dichter
- wohl aber können sie Trainigsstätten sein.
Die Analogie zum Sport ist beabsichtigt, so unvergleichbar auch phy-
sische und geistige Leistungen sein mögen. Sie kann nämlich helfen,
Abschied von einer Mystifikation der literarischen Tätigkeit zu neh-
men - einer Mystifikation, gegen die wir selbst nicht ganz gefeit waren,
die wir uns ironisch über Wolfgang Kaysers Initiative erhoben. Die
Vorstellung, daß Dichtung das Geschenk numinoser Kräfte sei, daß sie
sich allein der Inspiration und Intuition verdanke, war in Deutschland
»Literatur lebendig« 17

- nicht nur, aber besonders bei uns - zählebig und hat dem Dichten
oder Schreiben eine religiöse oder zumindest magische Aura gegeben,
so daß jegliches Reden über das Verfertigen eines Gedichts oder Pro-
sastücks in den Ruch der Dichtergotteslästerung k o m m e n mußte. Sol-
c h e m Literaturverständnis angemessen war und ist der Vortrag von
Gedichten bei Kerzenschein, in einer Weihestunde.
Gegen die Mystifizierung sprachen Äußerungen wie Gottfried
Benns Diktum v o m »Laboratorium der Worte«. Aber stammte von
demselben Benn nicht auch der Satz » D i e Dinge mystisch bannen
durch das Wort«? Ich m u ß gestehen, daß für mein Verhältnis zur Lyrik
ein Bericht mitentscheidend geworden ist, den ich als Student in Max
Frischs »Tagebuch 1946-1949« las. Frisch beschreibt, wie Bertholt
Brecht, während seines Zwischenaufenthalts in der Schweiz nach seiner
Rückkehr aus den USA, sein Gedicht » A n die Nachgeborenen« vor-
liest:

Worte zeigend, wie man Kieselsteine zeigt [. ..] Und es stört nicht, wenn es
klingelt, wenn ein weitrer Besuch kommt oder wenn die Tochter, da es kei-
nen andern Weg gibt, durchs Zimmer geht. [. . .] Die übliche Pause, die nach
Vorlesung eines Gedichts einzutreten pflegt, da wir, sozusagen aus der Kirche
tretend und plötzlich ohne Orgel, etwas geblendet in die Welt zurückkehren
müssen, die halt sehr anders ist als die Poesie - diese Pause ist nicht nötig; das
Gedicht, das wirkliche, hat die wirkliche Welt nicht zu scheuen; es hält stand,
auch wenn es klingelt und ein unvermuteter Gast kommt [. . .]

Später las ich Brechts eigenen Aufsatz »Über das Zerpflücken v o n Ge-
dichten« :
Der Laie hat für gewöhnlich, sofern er ein Liebhaber von Gedichten ist,
einen lebhaften Widerwillen gegen das, was man das Zerpflücken von Ge-
dichten nennt, ein Heranführen kalter Logik, Herausreißen von Wörtern und
Bildern aus diesen zarten blütenhaften Gebilden. Demgegenüber muß gesagt
werden, daß nicht einmal Blumen verwelken, wenn man in sie hineinsticht.
Gedichte sind, wenn sie überhaupt lebensfähig sind, ganz besonders lebens-
fähig und können die eingreifendsten Operationen überstehen. Ein schlech-
ter Vers zerstört ein Gedicht noch keineswegs ganz und gar, so wie ein guter
es noch nicht rettet. Das Herausspüren schlechter Verse ist die Kehrseite
einer Fähigkeit, ohne die von wirklicher Genußfähigkeit an Gedichten über-
haupt nicht gesprochen werden kann, nämlich der Fähigkeit, gute Verse her-
auszuspüren. ...Wer das Gedicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich
nicht nahe. In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genus-
ses. Zerpflücke eine Rose und jedes Blatt ist schön.

A n diesen Aufsatz Brechts habe ich gern erinnert, w e n n ich später als
Universitätslehrer in Lyrikseminaren mit den Studenten Gedichte ana-
lysierte, auf ihn habe ich mich aber auch berufen, als ich zu Anfang der
achtziger Jahre begann, jeweils im Sommersemester Übungen unter
dem Titel »Forum für schriftstellerische Versuche von Studenten« ab-
zuhalten.
18 Walter Hinck

D e r Entschluß, Germanistik nicht nur als Beschäftigung mit dem


Werk toter oder allgemein anerkannter Autoren zu verstehen, sondern
auch als Förderung produktiver Schreiblust und -kunst zu praktizieren,
entsprang nicht etwa dem Wunsch, es Wolfgang Kayser, dessen letzter
Assistent ich war, gleichzutun. Als eine späte Rehabilitierung seiner
frühen, einst belächelten Initiative empfand ich aber doch meinen Ver-
such. Den eigentlichen Anstoß für das Forum gab die Hoffnung, etwas
von den vieljährigen Erfahrungen weitervermitteln zu können, die ich
mittlerweile als Literaturkritiker in der »Frankfurter Allgemeinen Zei-
tung« gesammelt hatte. Die Mitarbeit in der Jury des Klagenfurter In-
geborg-Bachmann-Preises war ein weiterer Anlaß und verschaffte mir
wohl auch eine zusätzliche Legitimation. Stellen sich doch dem Kla-
genfurter Wettbewerb jeweils zwanzig bis dreißig Autoren aus den
deutschsprachigen Ländern, zur Mehrzahl unbekannte Schriftsteller
oder sogar Debütanten. Der unmittelbare Kontakt mit Autoren, Ver-
legern, Lektoren und Kritikern, zumal während der Klagenfurter Li-
teraturtage, war eine gute Voraussetzung, dem » F o r u m « nichtakade-
mische Luft zuzuführen.
Denn von Anfang an ging es mir darum, jeglichen Anschein der
Rolle eines dozierenden und Zensuren verteilenden Professors zu ver-
meiden, gerade weil mich immer ein erheblicher Teil der Forumsmit-
glieder bereits aus Vorlesungen und Seminaren kannte. Ohne Locker-
heit war das freie Reden über Texte, in denen mehr oder weniger Per-
sönliches preisgegeben wird, nicht denkbar.
Ich komme noch einmal auf die Analogie zum Sport zurück. G a n z
bewußt waren einige Stunden als >Trainigsstunden< angelegt. Eine Auf-
gabe wurde gestellt, ein Text zu einem bestimmten T h e m a war nach
anderthalb Stunden abzugeben. Ich habe diese Programmform mei-
stens für die erste oder eine der ersten Übungen des Semesters gewählt,
wenn die Zahl der Teilnehmer noch sehr groß war (vierzig oder mehr)
und sich darunter noch viele bloß Neugierige befanden. Da entschied
sich rasch, wer an wirklicher Mitarbeit interessiert war und wer nicht.
Es wurden aber auch Themen zur Wahl gestellt, die in der anschlie-
ßenden W o c h e zu bearbeiten waren (Haustrainingsaufgaben sozusa-
gen). Alle so entstandenen Texte sind von mir durchgesehen und den
Verfassern mit einem Kurzurteil - entweder in der öffentlichen Runde
oder im Einzelgespräch - zurückgegeben worden. Was wie >Trainigs-
kontrolle< anmuten mochte, gab doch den Teilnehmern zugleich das
Gefühl, ernstgenommen zu werden.
Das Problem bei solcher Beurteilung ist, daß - in entschiedenerer
Weise als in wissenschaftlichen Seminaren - die Unbegabtesten oft die
Uneinsichtigsten sind. Andererseits kann der Sinn der Übungen nicht
darin bestehen, so radikal zu sieben, daß sich schon nach der ersten
»Literatur l e b e n d i g « 19

Semesterhälfte nur ein kleiner Kreis als passend am Orte fühlt, jene
kleine >Elite<, der man tatsächlich einige Chancen für die Zukunft ein-
räumt. Man sollte auch denen nicht den Mut nehmen, die als >Durch-
schnitt< guten Willens sind. Schreibübungen, Möglichkeiten zur Selbst-
überprüfung und Gelegenheiten, andere Lösungsversuche kennen zu
lernen, boten diese Aufgaben allemal und für alle.
Aufgaben zu stellen, war auch nötig, um von vornherein klarzustel-
len, daß dieses »Forum« kein Ort sei, wofür man nur Texte aus der
Schublade zu holen brauchte. Teilnehmer, die nur gekommen waren,
um entdeckt zu werden, die sich rasch einmal in Szene setzten, um bald
wieder zu verschwinden, gab es immer genug. Doch es blieben nach
einer gewissen Zeit auch die allzu Sensiblen aus, die das Gefühl hatten,
im »Forum« ihre Texte >auf den Markt< tragen zu müssen.
Welcher Art nun waren die Übungsaufgaben und Themen? Auf
dreierlei Weise versuchte ich, die Phantasie und die Schreiblust der
Teilnehmer zu mobilisieren. Es gab Themen allgemeiner Art, Rahmen-
themen, die von den Erfahrungen der Teilnehmer her sehr unterschied-
lich konkretisiert werden konnten. Zum Beispiel: Heutige Erschei-
nungsformen des Generationengegensatzes, oder: Anbahnung, Beginn
einer zwischenmenschlichen Beziehung. Das Thema einer anschließen-
den >Hausaufgabe< lautete dann: Das Ende dieser (einer) Beziehung.
Ein anderer Themenkreis suchte neue Antworten auf überlieferte Stof-
fe und Bilder herauszufordern. Etwa: Abbreviatur einer bekannten
Dramen- oder Romanfigur in einem Gedicht, oder: Neue Deutung und
Darstellung einer in der Literatur überlieferten mythischen Gestalt
(Prometheus, Sisyphos, Iphigenie usw.), oder: Neufassung einer Tier-
fabel aus dem 18. Jahrhundert. Dieses Thema steht bereits auf der
Grenze zu einer anderen Gruppe, bei der gedruckte Texte oder Text-
fragmente zugrunde lagen. Zum Beispiel: Fortsetzung eines Erzählan-
fangs, oder: Erfindung einer Handlung zu einem schon feststehenden
Schluß, oder: Parodie eines vorgelegten (oder auszuwählenden) Textes.
Ziehe ich Bilanz, so kann kein Zweifel sein, daß bei der neuen In-
terpretation mythischer Gestalten und der Neufassung von Fabeln die
besten Ergebnisse zustandekamen, zum Teil beachtliche, nicht selten
außerordentlich witzige Texte. Die Beurteilung der Parodien bot will-
kommene Gelegenheit, wirkliches literarisches Niveau gegen bloßes
>Bierzeitungs<-Niveau abzugrenzen. Bei vielen Aufgaben wurde die
Wahl der literarischen Gattung freigestellt. In solchen Fällen entschied
sich die Mehrzahl für die lyrische Form, ein großer Teil auch für Prosa,
während die Form der dramatischen oder der Hörspielszene nur aus-
nahmsweise benutzt wurde. Die geringere Eignung solcher Texte für
den Übungszweck hängt natürlich damit zusammen, daß Dialoge fast
immer als Bestandteil eines größeren Zusammenhangs gedacht werden
20 Walter Hinck

müssen und daß es grundsätzlich weitaus schwerer ist, eine aus sich
verständliche Szene oder gar ein Kurzdrama als eine Kurzgeschichte
oder ein Prosastück zu schreiben.
Natürlich sollte das »Forum für schriftstellerische Versuche« den
Teilnehmern auch die Möglichkeit bieten, eigene, unabhängig von den
Übungsanforderungen entstandene Texte vorzustellen und ihre Wir-
kung zu testen, sich auf den Prüfstand einer Öffentlichkeit >im klei-
nen< zu stellen. So hatte jeder Teilnehmer die Gelegenheit, drei Ge-
dichte oder zwei kürzere Prosa- oder Dialogtexte einzureichen, von de-
nen ich f ü r die Besprechung in den Übungssitzungen nicht nur die
mehr oder weniger gelungenen, sondern vor allem jene auswählte, die
für das Gespräch am ergiebigsten erschienen. Es war zunächst nicht
ganz leicht, wirkliche Gesprächsoffenheit herzustellen, weil sich die
Teilnehmer anfangs Solidarität untereinander, das heißt gegen den
Übungsleiter, schuldig zu sein glaubten. Schon vom zweiten Semester
an, als bereits ein >Stamm< vom Vorjahr den Kern des Seminars bilde-
te, war von solchem >Klassendenken< nur noch wenig zu spüren. Den-
noch empfahl es sich, immer neu darauf hinzuweisen, daß das »Forum«
kein Schonraum für Eitelkeiten oder Empfindlichkeiten sein und die
Mitarbeit nur bei Ehrlichkeit aller gegen alle lohnend sein könne.
Denn ein weiterer Übungszweck bestand darin, neben der Schreib-
auch die Kritikfähigkeit zu fördern. Und das nicht nur, weil ein gewis-
ses Maß an Selbstkritik bei literarischer Tätigkeit unerläßlich ist, son-
dern weil ein Forum für schriftstellerische Versuche immer auch an
Literaturkritik Interessierte anzieht. Überhaupt ging ich davon aus,
daß sich die Teilnehmer von dem Großteil der Philologen durch eine
besondere Anteilnahme am literarischen Leben der Gegenwart und an
seiner Widerspiegelung in den Medien der Presse, des Rundfunks und
des Fernsehens unterschieden. Nicht nur Literatur zu verfertigen, son-
dern auch über Literatur sachkundig zu urteilen, konnte geübt werden.
Der bequeme Einwand, daß sich der Kritiker gefälligst einmal selbst an
dem versuchen solle, was er kritisiere, entfiel hier, weil alle Teilnehmer
Autoren und Kritiker zugleich waren.
Die G e f a h r bei einem von Professoren oder Dozenten geleiteten Fo-
rum ist immer, daß die Urteile des Leiters leicht wie ex cathedra ge-
sprochen wirken. Oft war geradezu spürbar, wie die Forumsmitglieder
abwarteten, welche Tonlage der Kritik oder der Zustimmung der Leiter
angeben würde. Ich habe immer nur zur Verhinderung peinlicher Pau-
sen das Wort zuerst ergriffen und mich oft auch darauf beschränkt, die
Urteile zusammenzufassen. Das mag von machem als ein Ausweichen
vor dem klaren Wort mißverstanden worden sein. Gegen den Verdacht
ließ sich einwenden, daß ich sowohl als Literaturkritiker oft genug kla-
re Stellung bezogen hatte wie auch als Mitglied der Klagenfurter Jury,
»Literatur lebendig« 21

wo die Juroren bei laufenden Fernsehkameras sofort nach der Lesung


der Autoren eine Einschätzung des Textes geben müssen, zu der sie
auch später bei der Entscheidung über die Preise und Stipendien zu
stehen haben. Vielleicht habe ich mich aber auch gerade auf Grund der
Klagenfurter Erfahrungen, auf Grund meiner heimlichen Bedenken
gegen Urteile, die sozusagen im Schnellverfahren >aus der Hüfte ge-
schossen< werden, zurückgehalten. Wie auch immer: es kam mir darauf
an, daß die Urteilsbildung ganz wesentlich von den Forumsteilneh-
mern selbst bestimmt wurde. Das hatte auch den Vorteil größerer
Überzeugungskraft, weil nichts auf ein Vorurteil oder die besondere
Sympathie des Übungsleiters geschoben werden konnte. Es hat freilich
Fälle gegeben, wo ich Zuflucht zu einem apodiktischen Wort nahm,
Fälle auch, wo der Schlagabtausch zwischen meiner und der einhelli-
gen Meinung der Forumsteilnehmer offen ausging. Selbst dieser Dis-
sens hatte noch Erkenntniswert, er könnt beispielsweise generations-
bedingt erklärt werden. Im übrigen zeigt sich hier etwas von der Frag-
würdigkeit sowohl allzu spontaner wie endgültiger Urteile in einem
Verstehensprozeß, der bei der Literatur und der Kunst in besonderem
Maße durch individuelle und geschichtliche Vorgaben gelenkt wird.
Ich verschiebe den Akzent vom anfangs gewählten Vergleichswort
>Sport< zu >Spiel<, wenn ich von dem Wettbewerb rede, von dem ich
mir eine Verlebendigung der Übungen versprach, nachdem bei den
ersten Versuchen zum Semesterende hin die Freude der Studenten an
der Mitarbeit im »Forum« merklich abgefallen war. Natürlich schafft
jeder Wettbewerb auch eine Konkurrenzsituation, doch erhoffte ich
mir andererseits eine entkrampfende Wirkung. Es sollte deutlich wer-
den, daß in einem solchen »Forum« nicht über Sinn oder Unangemes-
senheit individuell-existentieller >Anliegen< zu urteilen war (sofern sie
nicht, wie in manchen Gedichten, in allzu angestrengter Metaphorik
vorgetragen wurden). Ein spielerisches Element schafft zum Gegen-
stand >Literatur< und >Dichtung< eine Distanz, die um so nötiger ist in
einem Kreis, in dem die heimlichen Blütenträume von einer späteren
Schriftstellerkarriere noch allzu üppig wuchern.
So wurden denn von mir Bücherpreise auf die besten Gedichte und
Prosastücke ausgesetzt. Jeder konnte eine begrenzte Anzahl von Texten
abgeben; drei Jurygruppen trafen eine Vorauswahl von zwei Texten
und hatten ihre Entscheidung zu begründen. Eine Diskussion im »Fo-
rum« schloß sich an, die Texte wurden ein zweites Mal vorgelesen,
bevor in geheimer Abstimmung aller Teilnehmer jeweils die beiden zu
prämierenden Gedichte und Prosastücke ermittelt wurden.
Ich gebe zu, daß ein solches Verfahren die Zusammenarbeit aller
stören kann, wenn es nicht gelingt, den Spielcharakter des Wettbewerbs
bewuß zu halten. Ich habe deshalb immer auch, und zwar mit wech-
22 Walter Hinck

selnden Begründungen, Buch-Sonderpreise vergeben, um die Wett-


kampfsituation zu entspannen. Nur in einem einzigen Fall sind einem
Teilnehmer die Nerven durchgegangen, so daß er unter Protest gegen
vermeintliche Benachteiligung und Ranküne den Raum verließ. Das
aber geschah im Zusammenhang mit der Veranstaltung, mit der das
Forum jeweils am Semesterende an eine größere Öffentlichkeit in der
Universität trat.
Jeder Teilnehmer konnte noch einmal einige Texte vorlegen für die-
se öffentliche Lesung. Die endgültige Auswahl und Anordnung der
Texte für das Programm behielt ich mir selbst vor. Gelesen wurden sie
beim erstenmal von jungen Schauspielern, später auf Wunsch des Fo-
rums von einer Teilnehmergruppe. Die Besucherzahlen dieser Veran-
staltung erhöhten sich von Mal zu Mal, weil das »Forum« mittlerweile
zu einer bekannten Einrichtung geworden war. Die Diskussion im An-
schluß an die Lesung verlief kaum anders als bei Schriftstellerlesungen
bekannter Veranstaltungsreihen; die Forumsteilnehmer hatten keinen
Grund zur Klage, nicht ernstgenommen zu sein. Die Kritiker unter den
Gästen konnten ihr Urteil noch einmal überprüfen oder auch sich be-
stätigt sehen bei nachträglicher Lektüre - in jedem Jahr wurde eine
Broschüre mit den Texten der Programme hergestellt und verteilt. »Li-
teratur lebendig« fand als Titel dieses Heftes ein für allemal Zustim-
mung.
Dieser Titel faßt 'in der Tat die Absichten und den Sinn des »Forums
für schriftstellerische Versuche von Studenten« in optimaler Weise zu-
sammen. Ob aus Schreibseminaren wie diesen bedeutende Schriftstel-
ler hervorgehen, ist vorläufig unwichtig. Ich bleibe auch nach mehr-
jähriger Praxis, die mir selbst ein ungewöhnliches Vergnügen gemacht
hat, bei meiner Skepsis. Nicht wenige der Teilnehmer können inzwi-
schen Veröffentlichungen vorweisen und auszuschließen ist nicht, daß
der einen oder dem anderen einmal der >Durchbruch< gelingt. Ich hoffe
es, zu prophezeien wage ich es nicht.
Die >Literatur lebendig< machten unsere Übungen dadurch, daß sie
inmitten einer Stätte der Wissenschaft den Versuchen literarischer Pro-
duktivität ein Forum gaben. Was da auch gelernt werden konnte, war
Selbstkritik. Es ist kein Zufall, daß Studenten, die ins »Forum« zu
kommen sich scheuten oder zu gut sich fühlten, mir aber ihre Gedichte
und Romane zur Beurteilung andienten, weitaus weniger zu angemes-
sener Selbsteinschätzung bereit waren als diejenigen, die sich in den
Gesprächen des Forums hatten überzeugen lassen. Nichts kann für
den, der literarischen Ehrgeiz hat, nützlicher sein als eine kleine Öf-
fentlichkeitsprobe.
Johanna Blömeke

Als Studentin im »Forum für schriftstellerische Versuche«

Pandora, Süße
mit offenen Armen nehm
ich dich auf
und entzücke mich mit dir
ich glaube nicht
daß man dich vorher so liebte
Ich glaube nicht
daß der Zorn des Prometheus
- und anderer -
gerechtfertigt war
deren schönes Übel
mit der üblen Büchse du
hießest
Pandora
die Unheilsbringerin
mit Seuchen, Krankheiten und
dir Frau
als Geschenk
Die Götter dachten als Strafe
der Männer dich
- die weisen hatten ihre Gründe
Ich bin froh, daß du kamst
ich nehm dich mit offenen Armen auf
und glaube an dich
Pandora, Süße
Der Mythos von Pandora, die mit ihrer unheilvollen Büchse als »Göt-
tergeißel« über die Menschen kommt, ist ein von Goethe bis Wedekind
beliebtes literarisches Thema. Alte Mythen bieten Berührungs- und
Reibungspunkte, die sich aus der Entfernung zwischen archaischem
Stoff und neuzeitlicher Perspektive natürlich ergeben. Das obenstehen-
de Gedicht entstand aus einer Aufgabe, die sich diese Tatsache zunutze
machte: sie forderte die literarische Bearbeitung einer Figur aus der
Mythologie. Außer mir haben sich noch ungefähr vierzig Studenten
damit beschäftigt, im »Forum für schriftstellerische Versuche von Stu-
denten«, geleitet von Walter Hinck, aus dem Thema einen literarischen
Text zu machen.
Es war nicht die einzige Aufgabe dieser Art; auch die Neufassung
von Fabeln wurde verlangt und die Ausführung eines gegebenen Er-
24 Johanna Blömeke

zählanfangs. Die Ergebnisse waren - vor allen Dingen im Vergleich -


interessant. Vergleich ist hier ein wichtiges Stichwort, denn darin liegen
viele der Möglichkeiten und Ziele eines solchen Schreibseminars zu-
tage. Die Vorlage eines Textes im Forum zwingt zur Selbstdisziplin, zur
gründlichen, aufmerksamen Überarbeitung einfach dadurch, daß man
sich einer kleinen, aber kundigen Öffentlichkeit stellt. Man lernt, sach-
liche Kritik zu üben - und sie zu ertragen.
Durch die Konfrontation mit den unterschiedlichsten literarischen
Techniken und das Kennenlernen verschiedener Schreibstile wurde
mir die Abgrenzung von anderen A u t o r / i n n / e n erheblich erleichtert -
selbst wenn man noch nicht genau weiß, was man will, ist es schon sehr
gut, zu wissen, was man (und wie man es) auf keinen Fall machen
möchte. Natürlich führt diese Abgrenzung schnell zu einer Rivalitäts-
situation; ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, daß eine solche
Rivalität sehr produktiv sein kann. Als ein seminarinterner Literatur-
wettbewerb angekündigt wurde, kam es jedoch zu ernsthaften Span-
nungen: Viele der Teilnehmer waren der Ansicht, daß es unnötig sei,
die Rivalitätssituation noch zu verschärfen. Leider kommt kaum ein/e
j u n g e / r Schriftsteller/in heute lange um einen Wettbewerb herum; er
bietet die oft einzige Möglichkeit, bekannt zu werden. Insofern war die
>Trockenübung< im Seminar vielleicht ganz sinnvoll.
Übrigens habe ich gemeinsam mit einigen anderen Teilnehmern des
Seminars mehrmals den Versuch unternommen, einen privaten Auto-
renkreis, der ohne Leiter auskommen sollte, zu gründen. Das Unter-
nehmen wurde kein Erfolg. Uns fehlte ein Verbindungsglied und, vor
allem, ein moderierendes Element. Mittlerweile bin ich der Meinung,
daß ein Schriftstellerseminar einen Leiter braucht. Einen möglichst un-
aufdringlichen, versteht sich, der keine falsche Entscheidung trifft -
weil er überhaupt keine trifft; und der dafür sorgt, daß nicht er der
Dreh- und Angelpunkt der Veranstaltung ist, sondern die Texte.
Daß Seminare, die zum Schreiben anregen, immer populärer wer-
den, zeigte sich auch im Interesse des Deutschlandfunks für das Schrift-
stellerforum. Er brachte eine Sendung mit Interviews von Walter
Hinck und gab mir die Gelegenheit, mein erstes Gedicht zu veröffent-
lichen. Mir hat das Forum also auch ganz unmittelbar weitergeholfen.
Aber auch ohne das: Drei Jahre in Walter Hincks Forum gehen nicht
spurlos an einem vorüber.
Ekkehard Skoruppa

»Wir haben die Schublade voll!«


Ein Bericht über die Autorenwerkstatt an der Universität Köln

Am Anfang war ein Flugblatt: »Wir haben die Schublade voll!« Das
Papier machte die Runde unter Studenten an der Universität Köln,
sorgte für erstaunliche Resonanz. Beim annoncierten Treffen in der
Privatwohnung des Unterzeichners Karl Karst zählte man die Köpfe
der Interessierten zwar nicht nach Dutzenden, doch es kamen etliche
Schreiber >mit vollen Schubladen< und andere zumindest voller Ent-
husiasmus.
Das war 1979, und eine Zeitschrift für Literatur, Kunst und wissen-
schaftliche Beiträge sollte gegründet werden. »Hier und da dies und
jenes mit Für und Wider durch Verbindung zu trennen und durch
Trennung zu verbinden«, hieß es einige Monate später im Editorial der
ersten Nummer. Die vielleicht etwas verkrampft wirkende Kopf- und
Feuilletonlastigkeit, die im Rückblick scheinbar herauszulesende Belie-
bigkeit war gewiß keine Ungewißheit des Anspruchs und sollte erst
noch verschwinden. Aber am Anfang glich die Privatinitiative tatsäch-
lich einem Sprung ins kalte Wasser, bei dem man sich manchmal mit
Formulierungen wärmt: Denn weder das Zeitschriftenmachen, weder
redaktionelle, organisatorische, technische, noch verlegerische Belange
waren hinlänglich erprobt, und nicht viel besser stand es um die Erfah-
rungslage mit publikationszentrierter Arbeit beim Umgang mit Texten.
Die Zeitschrift, die sich auszeichnen sollte durch »formale und the-
matische Offenheit«, war aus dem Stand zu konzipieren, zu gestalten,
herzustellen und zu füllen - von jenen mit Engagement und Idealis-
mus, mit Mut zum Risiko und eben den vollen Schubladen, dabei zu-
meist aber nur kläglich gefüllten Portemonnaies.
Um Geschichte und Entwicklung der »Autorenwerkstatt« an der
Universität aufzurollen, ist etwas weiter auszuholen. Denn die anfäng-
liche Privatinitiative hat einen merkwürdigen Weg zur Institutionali-
sierung im Übungsprogramm an der Studiobühne der Universität ge-
nommen. Der Aufruf zum Zeitungsmachen, das Publikationsangebot,
stand wie geschildert am Beginn. Karl Karst, damals Student der Ger-
manistik und Theaterwissenschaften und freier Hörfunk- und Fernseh-
kritiker bei verschiedenen Zeitungen, heute Hörspiel-Redakteur, hatte
nicht zu Unrecht darauf gesetzt, daß verstreut unter Studenten und
Nicht-Studenten - denn auch an letztere ging der Aufruf - schriftstel-
26 Ekkehard Skoruppa

lerische Blütenträume reifen und möglicherweise Talente verborgen


sind, die es zu finden und zu fördern lohnt. Aber ein Treffen fehlte, ein
Treffpunkt, ein offenes Forum zur breiteren Diskussion, eine selbst-
geschaffene Möglichkeit zur Publikation. Die Wirkung des Flugblattes
bewies in der Tat dann zweierlei: Es wird viel und intensiv geschrieben
im Umfeld der Universität und - das, was geschrieben wird, ist nicht
allein für den Eigengebrauch gedacht, zur Selbstvergewisserung notiert
und als Tagebucheintrag zu werten. Der Wunsch, Öffentlichkeit zu er-
reichen, zeigt sich zunächst ineinem mit dem Wunsch, Erfahrungen
auszutauschen. Während des fast vierjährigen intensiven, aber den-
noch recht kurzen Lebens der Zeitschrift, sammelten sich weit über 150
zum Teil sehr umfangreiche Manuskripteinsendungen an. Allerdings -
nach der ersten Nummer - nicht nur aus Kölner (Studenten-)Kreisen.
Wider eigenes Erwarten sorgte »das kölner heft«, bis zum Streit mit
einer ähnlich titulierten Schweizer Zeitschrift kurz »das heft« genannt,
f ü r Rascheln im Medienwald. Der Norddeutsche Rundfunk lobte, Ta-
geszeitungen munterten auf, »Die Zeit« berichtete, wog und befand als
zu schwer, als zu anstrengend-theoretisch im germanistischen Jargon.
Ein Urteil aus einem Mißverständnis: Der Rezensent hatte den Redak-
tionssitz »Universität Köln, Institut für deutsche Sprache und Litera-
tur« mit dem Herausgeber Karl Helmut Karst verwechselt. Und wohl
zu recht sah sich der geschäftsführende Direktor des Instituts zu einer
Korrektur im Hamburger Wochenblatt genötigt: Das »heft« war in der
Tat keine Publikation des Instituts, es war eine Privatinitiative, die viel-
leicht nicht sorgsam genug das Impressum gestaltet hatte. Zwar stimm-
te der Ort, er gab gleichwohl zu Verwechslungen Anlaß.
Als der Berichterstatter nach der ersten Nummer zur Redaktions-
gruppe stieß, war man bereits umgezogen: In einem Raum der Studio-
bühne der Universität Köln fanden fortan mindestens einmal wöchent-
lich Redaktions- und Lektoratssitzungen statt. Letztere waren jeweils
>offene< Veranstaltungen, zugänglich für jedermann, denn die Idee
war, Autoren, Zeitschriftenmacher und Interessierte an einen Tisch zu
bringen und diskutieren zu lassen über Texte und ihre Publikations-
möglichkeit. Der feste Stamm von Zeitschriftenmachern, die gleichzei-
tig auch Autoren sein konnten, wurde in den Lektoratssitzungen im-
mer wieder von Neuzugängen ergänzt. In manchmal mehrstündigen
Treffen konnten die vortragenden Autoren (Kopien ihrer Texte lagen
aus) direkte Auseinandersetzung, Kritik, unmittelbare Bewertung und
eine fast ebenso schnelle Entscheidung erfahren.
Im Laufe der Zeit aber erwies sich, daß zwei grundsätzlich verschie-
dene Bedürfnisse die zuweilen hitzigen Gespräche prägten: Möglichst
breite, ausführliche und bis zur Literatur- und Gesellschaftstheorie
reichende Diskussionen, auch Austausch von Schreiberfahrungen, dies
»Wir haben die Schublade voll!« 27

forderten die einen, während andere - und dazu gehörte auch ein Teil
des mittlerweile 6-8-köpfigen festeren Stamms der »heft«-Mitarbeiter -
auf schnellere Wertung und Entscheidung, auf publikationszentrierte
und die Zeitungsbelange bedenkenden Diskussionen bestand. Zwi-
schenzeitlich wurde eine Umlaufmappe mit den zu besprechenden Tex-
ten angelegt, und erneut saß man im Einzelstübchen, sichtete und be-
wertete Texte wie vorher. Besonders aus den Arealen der Autoren, die
als Gäste zuweilen nur ein- oder zweimal zur Gruppe stießen, wurde
Unmut an endlosen Diskussionen laut: Ein fast professionelles Interes-
se an Veröffentlichung herrschte hier nicht selten vor, die Autoren
wollten schlicht wissen, ob ihr Text nun angenommen werde oder
nicht. An Diskussionen, an Analysen und Interpretationen, kurz - an
einem Gespräch über Literatur, bestand weit geringeres Interesse.
U m die Geschichte des »kölner hefts« abzukürzen: Nach den vier
Jahren waren zwar nicht die idealistischen, wohl aber die finanziellen
Ressourcen restlos erschöpft. Das aufwendig gemachte 100-Seiten-Heft,
das in Qualität und Ausstattung, vor allem aber in seiner Resonanz
weit über das, was ursprünglich gedacht war, hinausgekommen war,
mußte sich mit einer zwar vollständig gestalteten, dann aber doch un-
veröffentlichten letzten Nummer verabschieden. Signale des Kultur-
amts der Stadt Köln, auch des Instituts für deutsche Sprache und Li-
teratur, unterstützend einzugreifen, kamen zu spät. Die Manuskripte
verschwanden wieder in der Schublade. Fast wie am Anfang.
Mit einem Unterschied: Die »Autorenwerkstatt«, die sich bald nach
den Schwierigkeiten im »offenen Lektorat« gegründet hatte, blieb be-
stehen. Hier sollte jene ausführliche Diskussion weiter ermöglicht wer-
den, die das Lektorat auf die Dauer - gegen die Ausgangsidee - über-
fordert hatten, so erzählte mir Karl Karst, der die Werkstatt bis 1985
leitete. Der auf Veröffentlichung ausgerichteten Lektorats-Diskussion
sollte schon zur Heft-Gründerzeit eine >Voröffentlichkeit< an die Seite
gestellt werden, in der nicht zuletzt auch solche Gespräche geplant wa-
ren, die auf »Verbesserung«, auf »Änderung«, auf ein »Überarbeiten«
der gelesenen Texte zielten. Autoren, die ihre Texte von Anfang an zur
Publikation anboten, hatten verständlicherweise wenig Interesse, sich
in ihre Zeilen hereinreden zu lassen.
Für Karl Karst, der damals beide Gruppen leitete, bedeutete dies
einen Mehraufwand an Zeit und Arbeit. Daher wurde der Plan über-
dacht, die »Autorenwerkstatt«, noch immer privat organisiert und in-
itiiert, zu institutionalisieren, um zumindest einen kleinen organisato-
rischen Teil abzugeben und den Zeitaufwand zu entschädigen. Ein wei-
terer Grund: Sie sollte zur regelmäßigen Einrichtung werden, unab-
hängig vom Initiator Karl Karst. Die Studiobühne der Universität, die
von ihren Mitgliedern selbstverwaltet wird, bot sich dazu an - zumin-
28 Ekkehard Skoruppa

dest A n k ü n d i g u n g und Werbung wurden von ihr übernommen. Seither


findet sich die Autorenwerkstatt im Übungsprogramm der Studiobüh-
ne, und damit auch im Vorlesungsverzeichnis der Universität im Rah-
men des Studium generale f ü r Hörer aller Fakultäten. Z u d e m gibt es
Ankündigungen in einem Semesterfaltblatt. Und auch ein Honorar,
wenngleich ein eher symbolisches, steht dem Gruppenleiter seither zu.
Das Programm der Studiobühne ist breitgefächert: Außer der Auto-
renwerkstatt finden sich im Vorlesungsverzeichnis der Act Shop
(Übungen zur praktischen Theaterarbeit), Bühnentanz, Bühnentech-
nik, Filmwerkstatt, Videogruppe und Fotogruppe. In der Hauptsache
macht die Studiobühne natürlich Theater: eigene Produktionen, Gast-
spiele, Festivals. Mitglied in der zentralen Universitätseinrichtung
kann jeder werden, gleichgültig ob er Universitätsangehöriger oder Ex-
terner ist. Entscheidungen über Grundsätzliches, das Übungspro-
g r a m m und die Theaterprojekte, fällt die Mitgliederversammlung,
stimmberechtigt sind hier allerdings nur die Angehörigen der Univer-
sität Köln.
F ü r die Autorenwerkstatt bedeutete (und bedeutet) der neue orga-
nisatorische R a h m e n eine größtmögliche Freiheit: R ä u m e werden be-
reitgestellt, Unterstützung für Projekte, von denen noch berichtet wer-
den soll, wird im Rahmen des Möglichen geleistet, das Übungspro-
g r a m m selbst, die Arbeit der Werkstatt, ist ihr völlig selbst überlassen.
Seit G r ü n d u n g der Werkstatt 1980 gab es keinerlei Probleme in der
Mitgliederversammlung. Freilich haben die »Autoren« bis ins Jahr
1986 ein wenig beachtetes Schattendasein gefristet. Kontakt zu anderen
Gruppen, Zusammenarbeit mit der Bühne bestand kaum, ganz anders
als in den sechziger Jahren, als bereits eine Art dramatische Werkstatt
an der Studiobühne existierte. Unter der Leitung des heute emeritierten
Theaterwissenschaftlers Professor O.C.A. zur Nedden wurden damals
Texte speziell f ü r die Bühne und die A u f f ü h r u n g geschrieben, so be-
richtete mir Georg Franke, der Leiter der Studiobühne.
Entsprechend den Regularien der Einrichtung ist auch der Teilneh-
merkreis der Autorenwerkstatt nicht auf Studenten beschränkt. Von
derzeit rund 25 Teilnehmern (bei relativ großer Fluktuation) k o m m e n
sieben aus dem nicht-universitären Bereich. Die Tendenz zeigt sogar
nach oben: I m m e r häufiger meldeten sich in jüngster Zeit Interessen-
ten, die nicht studieren oder ihre Studienzeit längst hinter sich haben,
die von der Werkstatt bei Lesungen, aus dem »Kölner Stadtbuch« (eine
Adressen-Sammlung mit Tips und Hinweisen) oder über die Kölner
Zentralbibliothek erfahren haben. Eine begrüßenswerte Entwicklung:
Die Struktur der Autorenwerkstatt wird aufgelockert und die Werkstatt
verknöchert nicht zu einem germanistischen Zirkel, denn wie sich
leicht vorstellen läßt, kommen die meisten Teilnehmer aus den geistes-
»Wir haben die Schublade voll!« 29

wissenschaftlichen Fächern, besonders aus der Germanistik. Die Uni-


versität ist jedoch tatsächlich nur ein Treffpunkt und kein program-
matischer Ort, seminar-vergleichbar geht es bei uns in kaum einer Hin-
sicht zu.
Daß geraucht werden darf oder Kaffee getrunken in den Sitzungen,
geht auf Absprache zurück und mag eine Äußerlichkeit sein. Daß man
sich duzt, macht älteren Neuankömmlingen manchmal Schwierigkei-
ten, ist aber zumeist gewünscht. Daß kein eigentlicher Dozent die Sit-
zungen leitet, verwundert manchen, fällt aber kaum auf, sobald die
Gespräche begonnen haben. Die Atmosphäre ist gelöst, das Interesse
führt die Mitglieder zusammen, regelmäßige Teilnahme ist keine
Pflicht. Weder werden Teilnehmerlisten geführt, noch ist Anmeldung
erforderlich, ein einziges Mal nur werden Adressen ausgetauscht, um
Kontakte zu ermöglichen und der Studiobühne Adressaten für ihre
Programme und Einladungen mitzuteilen. Im Anschluß an die Sitzun-
gen hat sich ein »Nachseminar« etabliert - in einem kleinen Cafe nahe
der Universität. Ein Stammtisch nun seit Jahren, doch sicher keine
Stammtischgespräche: nicht selten werden dort die Diskussionen wei-
tergeführt, und schon einige Male haben sich öffentlich spontane Le-
sungen ergeben - zum Schrecken oder zum Vergnügen anderer Cafe-
Besucher. Daß literarische Geselligkeit, Gespräche über eigene und
fremde Texte, Kontakte zu anderen Autoren eine wichtige Funktion in
der Werkstatt haben, wurde mir mehrfach mitgeteilt. Daß ein unge-
zwungenes Treffen nicht mit der Absicht, aber doch mit der Möglich-
keit, Kontakte persönlich zu vertiefen, Seltenheitswert hat an einer
Massenuniversität, mag eine zusätzliche Attraktivität für manche Stu-
dent(inn)en bedeuten.
Vor allem anderen aber herrscht das Interesse an Literatur vor: Viele
Gruppenmitglieder schreiben seit längerer Zeit, es gibt aber auch A n -
fängen und Teilnehmer, die nur als kritische Diskutanten mitwirken
wollen. Von Zweigleisigkeit könnte man also auch in der Autorenwerk-
statt sprechen, anders als beim »heft«-Lektorat jedoch behindert sie
hier nicht. Die Vorstellung, literarisches Schreiben zu >erlernen<,
schwingt bei manchem, der zur Gruppe stößt, wohl mit: Die Gruppe
soll Anregungen geben, vielleicht Themen stellen, Schreibübungen ver-
anstalten. Vereinzelt zumindest ist solches Bedürfnis geäußert worden,
dennoch ist es bislang nie zu thematischem Schreiben, zu Schreibspie-
len oder zu vom Gruppenleiter oder einem Mitglied initiierten Übun-
gen gekommen in der Doppelstunde, die jeden Mittwoch von 19 bis 21
Uhr stattfindet. Entsprechende Vorschläge wurden letztlich immer
ausgeschlagen, aus zwei Gründen: Zum einen sind die Schubladen des
aktiven Teils der Gruppe nach wie vor gut gefüllt, und es besteht be-
sonders am Semesteranfang ein regelrechter Druck, neue Texte vorzu-
30 Ekkehard Skoruppa

stellen. Zum anderen wollen sich die meisten Autoren nicht an ein
Thema halten, wollen keine auf Vergleich angelegte Textproduktion,
keine Eingrenzung ihrer Freiheit. Der Tenor, daß die Werkstatt keine
Kreativitätsschmiede oder Lehrveranstaltung, eher ein auf Selbstinitia-
tive und Kritik abzielendes Lernforum für alle Beteiligten ist, hat sich
durchgesetzt. Bestünde indes einmal der dringende Wunsch, andere
Verfahren als die bisherigen auszuprobieren, nichts stünde dem im
Wege.
Oder doch? Aus den Ankündigungen in der Studiobühnenzeitung ist
zumindest Skepsis herauszulesen, wenn es um Schreiben nach Spiel-
und Lehrplan geht:

So ist die Werkstatt erneut offen für Leute, die mit und an ihren Texten
arbeiten wollen. >Fertige< oder >abgeschlossene< Texte sind nicht unbedingt
Voraussetzung in dieser >Voröffentlichkeit<, in der nicht abgeurteilt, sondern
kontrovers diskutiert wird. Die »Werkstatt« - ganz wörtlich zu nehmen - will
wiederum versuchen, produktiv zu helfen, vielleicht auf >Fehler< auf-
merksam zu machen, auf Unstimmigkeiten oder Brüche im Text hinzuwei-
sen, und - was nicht selten geschieht - Zustimmung zu bekunden. Freilich
sind Patentrezepte für >richtiges< Schreiben nicht zu erwarten, auch thema-
tische Schreibübungen haben sich als wenig sinnvoll erwiesen. Daher ist Vor-
aussetzung für die Arbeit der Werkstatt das Engagement ihrer Mitglieder.

Mit anderen Worten: Sollten die Schubladen einmal leer sein, hätte
sich die Autorenwerkstatt erübrigt. Sie spricht in erster Linie Interes-
sierte an, die bereits Schreiberfahrungen mitbringen und nicht erst auf
den Weg gebracht sein wollen. Nur mit einem schriftstellerisch aktiven
Teil ist es in dieser Gruppe möglich, auch Anfängern etwas zu bieten:
an der Reibfläche gelesener und diskutierter Texte entzündet sich man-
ches Mal ein eigener Versuch.
Die Spielregeln der Werkstatt sind schnell geschildert: Von Mal zu
Mal wird vereinbart, wer Texte und in genügender Anzahl Kopien mit-
bringt. Nachdem der Autor seinen Text gelesen hat, entwickelt sich die
Diskussion - zunächst oftmals schleppend, in Halbsätzen, mit ersten
vorläufigen Anmerkungen. Prinzipiell ist dem Hörer-Forum alles er-
laubt: direkte, unmittelbare Ablehnung wie spontane Zustimmung.
Schweigepausen nach der Lektüre gehören in den Bereich des Norma-
len: Halten sie länger als gewöhnlich an, betätigt sich der Gruppenlei-
ter manchmal als überbrückender Moderator. Daneben hat er kaum
eine andere Funktion als alle anderen. Hier und da vielleicht versucht
er, Argumente zu sortieren, den Gang der Diskussion zu vergegenwär-
tigen; aber auch dies übernehmen zuweilen andere Gruppenteilneh-
mer. An wenigen Stellen nur ist mit dem Hinweis auf Erfahrungen
einzugreifen: So hat es sich etwa erwiesen, daß die Befragung des Au-
tors kein probates Mittel ist, einen Text zu verstehen, zu interpretieren
» W i r h a b e n die S c h u b l a d e v o l l ! « 31

und zu werten. Ohne ihn muß das Gespräch in Gang kommen, der
Text selbst muß es erzeugen können. Die Gruppe nimmt in der Regel
die Position eines normalen Lesers ein, dem ebenfalls kein Autor auf
die Sprünge hilft. Gegen Ende der Besprechung freilich kommt es fast
stets zur Einbeziehung des Autors, zur Rückfrage an ihn. Bis dahin
kann die Autorenwerkstatt jenes Test- und Resonanzfeld sein, das er
häufig wünscht.
Manchmal laut werdende Mutmaßungen, in Schreib- und Literatur-
gruppen würden bloß höfliche Nettigkeiten ausgetauscht, treffen auf
die Autorenwerkstatt nicht zu. Es wird hart diskutiert, entschiedener
und auch spontaner als es manchem lieb ist. Zu Beginn des Semesters
versucht der Gruppenleiter daher stets deutlich zu machen, daß eine
gewisse Distanz von den eigenen Arbeiten wünschenswert ist. W e r mit
frischem Herzblut geschrieben hat und persönliche Dinge verhandelt,
wer in Gedichten etwa eben noch empfundene eigene und sehr wahr-
haftige, aber deshalb noch lange nicht literarisch gelungen dargestellte
Gefühle ausbreitet, der kann harte Kritik in der Regel schlecht ver-
tragen. Kritik in dieser Voröffentlichkeit aber muß vertragen können,
wer sich den Diskussionen stellt. Und so bleiben Gratwanderungen
nicht aus: Selbst wenn Polemik und hämische Verrisse nie vorgekom-
men sind, ernsthafte, sachliche und textzentrierte, aber sehr deutliche
Kritik vorherrscht - manchmal scheuen sich die Gruppenmitglieder,
ihr Urteil unverblümt zu äußern. Das häufig bei Texten, die nieman-
dem gefallen wollen, die jeder gern vom Tisch hätte. Da die Gruppe
sich ständig ändert, gibt es zwar keinen verbindlichen Gruppengeist,
keine allmählich entwickelten Kriterien (so es sie, was zu bezweifeln
ist, überhaupt geben kann), wohl aber wiederkehrende Fragen. Lauter
alte Kritikerfragen: was hat der Autor sich vorgenommen, ist das An-
liegen sinnvoll, wie hat er es durchgeführt, umgesetzt, thematisch und
sprachlich bewältigt? Auch ohne Leitung eines Dozenten tauchen in
fast jeder Diskussion solche Fragen auf, wird beschrieben und inter-
pretiert, schließlich gewertet - freilich selten unisono. Und doch glei-
chen sich oft die Eindrücke; beständiges Schweigen, Verlegenheitssätze
sind äußere Zeichen für schwierige Situationen: Wie sagt man einem
Schreiber, daß sein Text nicht nur » F e h l e r « , »Brüche« und »Unstim-
migkeiten« aufweist, daß nicht nur Sprache, Metaphern und Bilder
nicht stimmen, sondern daß an all dem mit Überzeugung Vorgetrage-
nen überhaupt nichts literarisch Diskutables zu entdecken ist. Hier ist
Fingerspitzengefühl vonnöten.

Es kommt zu Verwechslungen in der Autorenwerkstatt; es gibt G ä -


ste, deren Texte Signale sind in einem gänzlich anderen Sinne als dem
literarischen. Da werden Kommunikationsbedürfnisse deutlich, da su-
chen Schreiber manchmal Rat und Hilfe - für bestimmte Lebenssitua-
32 Ekkehard Skoruppa

tionen, nicht für Probleme mit dem eigenen Schreiben. Da ist das un-
beholfene Schreiben ein Vehikel der Kontaktsuche, und die Veröffent-
lichung, selbst in dieser Voröffentlichkeit, entspricht einem höchst pri-
vaten Mitteilungsbedüfnis. Da texten sich die Autoren ihre Probleme
von der Seele - auf schiefer Ebene, denn das Gewicht liegt auf der
Problemseite. Das hört sich herablassend an, soll es aber nicht. Schrei-
ben als Selbstvergewisserung, Literatur als Therapie hat ihre Berechti-
gung, aber die Gruppe als Therapeutengemeinschaft wäre schlicht
überfordert.
Daß die Texte, die bei uns vorgestellt , kritisiert oder auch >verris-
sen< werden, in manchen Fällen nicht zuletzt von den Schreibern selbst
handeln, macht sie freilich noch nicht alle zu öffentlichen Tage-
bucheintragungen, zu >Objektivierungen< bloß privater Lebensproble-
me. Die literarische Ambition rangiert in den Diskussionen immer
ganz oben - und das soll auch so bleiben. Daß literarisch unverarbei-
teten Verletzungen und Erschütterungen nicht weitere von der Kritik
hinzugefügt werden, dazu ist die Gruppe sensibel genug. Freilich hält
es Schreiber, die wahrhaftig empfinden, aber wahrhaft schlecht schrei-
ben, auch nicht lange bei uns.
Die Unterschiede der vorgelesenen und vorgelegten Arbeiten sind
ebenso gewaltig wie die Voraussetzungen und Fertigkeiten der Auto-
ren: Literarische Talente, die zum Teil mehrfach bereits veröffentlicht
haben, die als freie Autoren zu leben versuchen und täglich Stunden
am Schreibtisch verbringen, treffen im Extremfall auf Gelegenheits-
schreiber, für die das Schreiben eher ein Hobby ist. Das schafft natür-
lich ein Qualitätsgefälle, kann zu Konflikten führen, wenngleich letz-
teres bisher nur selten der Fall war. Im Sommersemester 1987 aller-
dings taten sich zum ersten Mal Gräben auf. Der Zulauf neuer Mit-
glieder überwog den älteren Stamm bei weitem. Und Gebrauchslyrik ä
la Allert-Wybranietz stieß bei den Neuen überraschend auf großen Bei-
fall. Das wiederum verprellte manchen Alt-Werkstättler, der sich vom
Niveau der Gespräche enttäuscht sah. Das Prinzip der offenen Gruppe
aufrecht zu erhalten und dennoch nicht immer völlig von vorn anfan-
gen zu müssen, etwa mit Diskussionen um literarische Qualität, dies
macht in der Tat die meisten Probleme. Was langjährigen Gruppen-
mitgliedern längst abgehandelt scheint, kann für Neuzugänge noch völ-
lig unentschieden sein. Was an Texteigenheiten der häufig Vortragen-
den dem Stamm der Werkstatt-Mitglieder bekannt ist, das ist für jene
Neuland. Und da die Gruppe nicht von gemeinschaftlichen Übungen,
nicht von Gruppen-Spielen und -Aufgaben, sondern eher von der li-
terarischen Weiterentwicklung der einzelnen Autoren lebt, ist es stets
eine schwierige Frage, wie sich Neuzugänge integrieren lassen. Dem
Gruppenleiter bleibt als Moderator des Gesprächs zuweilen nichts an-
»Wir haben die Schublade voll!« 33

deres übrig, als Diskussionen abzukürzen, Zurückliegendes zu referie-


ren, derart einen Ausgleich zu versuchen.
Daß dennoch nicht alle Interessierten zu halten sind, scheint mir
ganz natürlich und überdies notwendig, damit die Gruppe nicht allzu
groß und die Gespräche nicht allzu vielstimmig werden. Anfänger mö-
gen nach den ersten literarisch ausgefeilteren Texten eine Schwellen-
angst aufbauen und daher nicht mehr kommen, bei literarisch Fort-
geschritteneren könnte es ein vielleicht notwendiger Abnabelungspro-
zeß sein. Die junge Autorin Liane Dirks erzählte mir während eines
Seminars über Schreibgruppen an Volkshochschulen einmal von ihrer
generellen Skepsis gegenüber solchen Gruppen. Das Schreiben sei halt
ein individueller Prozeß, ein recht einsamer am Schreibtisch zumeist,
den sie sich kaum in einer Gruppe vorstellen könne. Autorengruppen,
so Liane Dirks, könnten vielleicht zeitweise eine Begleit- und Kontroll-
funkton übernehmen, danach aber sei eine Lösung von der Gruppe
wohl unumgänglich.
In etwa das will die Autorenwerkstatt auch sein: Kontroll- und Be-
gleitinstrument. Sie sieht sich darüber hinaus freilich nicht zuletzt auch
als kleine Kontakt- und Informationsbörse: So ist es über berufliche
und persönliche Verbindungen etwa zur Stadtbibliothek Köln, zum
Westdeutschen Rundfunk, zum »Kölner Stadtanzeiger« und zu ein
paar Veranstaltern von Lesungen ab und an möglich, Kontakte und
Lesungen zu vermitteln, Tips und Publikationshinweise zu geben. In
einer Kölner Stadtzeitung ist erst vor kurzem von einem Mitglied der
Werkstatt eine Rubrik eingerichtet worden, die monatlich bislang un-
veröffentlichte Lyrik druckt. Auch mit der Kölner Literaturzeitschrift
»Zeilensprung« besteht über Mitglieder eine, wenn auch lockere, Zu-
sammenarbeit.
Obschon dies alles eher den einzelnen Autoren zugute kommen soll,
gibt es dennoch auch gemeinsame Initiativen: Im Herbst 1985 beispiels-
weise veranstaltete die Werkstatt einen ersten Hörspiel-Workshop auf
einem kleinen Weingut in der Toskana. Vorausgegangen waren Über-
legungen, einmal ein gemeinsames literarisches Projekt zu versuchen,
(die gemeinsame Textproduktion erwies sich freilich als äußerordent-
lich problematisch). Der eigentliche Auslöser für die Hörspiel-Idee war
schließlich ein Stück, das der Westdeutsche Rundfunk ausstrahlte: Die
»Robinsonate« von Götz Naleppa, der sich mit einer Gruppe von Mu-
sikern und zahlreichen Robinson-Crusoe-Büchern zwei Wochen lang
auf eine einsame Öl-Mühle zurückgezogen hatte, um vor Ort ein Hör-
spiel aufzunehmen. Eine musikalisch-sprachliche Umsetzung des Ro-
binson, eine Sonate eben, entstanden aus der konzentrierten Stimmung
und Spannung an abgeschiedenem Ort. Wie sich beim Hören erwies -
ein reizvolles Experiment.
34 Ekkehard Skoruppa

Vom Prinzip her ähnliches wollten auch wir versuchen; die Voraus-
setzungen f ü r eine gemeinsame Hörspielerkundung waren zudem gün-
stig daher, daß kaum einer der Beteiligten je mit diesem Medium in-
tensiver gearbeitet hatte. Anders als beim Schreiben mußten hier also
keine unterschiedlichen Entwicklungsstufen und individuellen Eigen-
heiten berücksichtigt werden, anders als beim Schreiben wollten sich
alle Schreiber dem Gemeinschaftsprojekt unterordnen. In der damali-
gen Einladung an Karl Karst, der bereits seine Dramaturgenstelle in
der Hörspielabteilung des Bayerischen Rundfunks übernommen hatte
und das Projekt mit Interesse und Unterstützung verfolgte, hieß es:

Geplant sind Erkundungen auf einem für viele Autoren neuen medialen Ge-
biet. Bislang >nur< mit dem Medium der Sprache in schriftlich fixierter Li-
teratur vertraut, wollen sich neun >Schrift-Steller< mit den Möglichkeiten der
akustischen Kunst auseinandersetzen und in gemeinsamer Arbeit ein »Hör-
Spiel«, ein Spiel mit Hörbarem produzieren. Bewußt ist in Vorgesprächen
nicht der Weg eines starren Manuskriptstücks eingeschlagen worden, sondern
der einer ad-hoc-Produktion, die aus bereits gesammeltem Sprach- und Spiel-
material erst vor Ort entstehen soll. Die Dokumentation der Annäherung an
das akustische Medium gehört ebenso zu den Zielen der Arbeitswoche wie
die Notation der akustischen Spiele dieses in seiner Art erstmaligen Grup-
penstücks der Autorenwerkstatt.

Der Versuch schlug, nimmt man nur das nie fertig gewordene End-
produkt, letztlich zwar fehl, aber dies lag allein an der Nachbearbeitung
des aufgenommenen, vielversprechenden Materials, das in Köln colla-
giert und montiert werden sollte. Die im besten Fall semi-professionel-
len Geräte, mit denen die Studiobühne dienen konnte, reichten für den
schwierigen Schnittplan bei weitem nicht aus. Gleichwohl war das pri-
vat organisierte Seminar ein Erfolg: Das Interesse für Hörspiele war
geweckt worden und hält bis heute an.
Generell bedauerlich ist, daß selbst ein Versuchsstadium, für das die
Rundfunkanstalten verständlicherweise nur schwer zu begeistern sind,
an einer deutschen Universität kaum durchzuhalten ist. Es fehlen die
technischen Voraussetzungen: Hörspielstudios, die den praktischen Zu-
gang zum Medium sichern könnten, sind Mangelware. Und so bleibt
diese eigenständige akustische Kunstform zwischen Literatur und Mu-
sik, die sich anböte zur Gruppenarbeit in entsprechenden Werkstätten,
fast stets verschlossen für experimentelle Erkundungen. Natürlich bie-
ten sich auch andere Gruppen-Aktivitäten an, die weniger Aufwand
erfordern. Auch die Autorenwerkstatt nutzt sie. Neben Bühnentexten
für die Studiobühne, an der mehrere Werkstättler schreiben wollen,
neben einer anderen Gruppe innerhalb der Werkstatt, die daran denkt,
eine regelmäßig erscheinende Theater-Zeitschrift in Zusammenarbeit
mit der Studiobühne aufzubauen, sind es vor allem Lesungen, die ge-
meinschaftlich gestaltet werden können. Schon 1984, noch unter der
»Wir haben die Schublade voll!« 35

Leitung von Karl Karst, trat die Werkstatt gleichsam als Veranstalter in
der Reihe »Lektionen»auf: Bei den groß angelegten Abenden lasen
vornehmlich bekannte Autoren, Bodo Morshäuser etwa oder Erich
Fried. In Absprache mit Fried, der ein großes Publikum lockte, wurde
aber auch Unbekannten die Chance der Lesung eingeräumt: während
der Veranstaltung, so war es angekündigt, konnten Interessierte eigene
Texte »spontan« lesen. Allerdings ging ein (ebenso spontanes) Lektorat
voraus, die Veranstaltung hätte sonst kein Ende gefunden. Die Idee der
>Spontanlesung< stieß durchaus auf Zuspruch und hatte Erfolg bei Au-
toren und Publikum.
Seit 1986 veranstaltet die Werkstatt in einer neuen Reihe, nun aber
in kleinerem, intimerem Rahmen, eigene Lesungen, die bislang nur
Werkstatt-Mitglieder präsentierte. Die alte »Lektionen«-Idee, eine
Mischform zu versuchen, ist zwar noch nicht aufgegeben, aber nach
einer Neuorientierung schien es zunächst wichtig, in ausschließlich ei-
gener Sache den Bereich der »Voröffentlichkeit« zu verlassen. Immer
häufiger wünschten Mitglieder ihre Texte in einer Gruppenlesung ei-
nem größeren Publikum vorzustellen. Nicht jeder Text hat dabei be-
sondere literarische Güte, aber es gibt, so bestätigt zumindest die Pres-
se, lohnenswerte Entdeckungen. Ein Textheft soll der Flüchtigkeit des
Hör-Eindrucks begegnen, die Lesungen sind künftig für jedes Seme-
sterende geplant. Daß die Werkstatt zudem eine kleine Anthologie vor-
bereitet, zeigt nicht nur, daß mittlerweile auch Aktenordner mit Ar-
beiten gefüllt sind, es zeigt auch, daß die schnelle, unbedingte Publi-
kation nicht das Ziel der Arbeit sein soll. Denn es hat Jahre des Sam-
meins gebraucht, bis eine kleine, kritisch ausgewählte Sammlung ent-
stehen konnte.
Albrecht Schau

Kreatives Schreiben - Beschriebene Kreativität.


Chancen und Risiken von Schreibseminaren mit oder ohne
vorgegebenen Schreibimpuls

Die Notwendigkeit kreativer Schreibseminare ergibt sich für die Pä-


dagogischen Hochschulen gleichermaßen aus dem Lehrplan für die
Grund-, Haupt- und Realschulen sowie der Studienordnung, die sich
daran orientiert. Kreatives Schreiben erscheint in diesen Dokumenten
als die Tätigkeit des »Texte Verfassens«, die pragmatische sowie schöp-
ferisch-freie Textsorten umfaßt. Dominiert wird allerdings der Lehr-
und Lernbetrieb an Pädagogischen Hochschulen nach wie vor von für
das wissenschaftliche Arbeiten notwendigen Formen schriftlichen
Sprachhandelns wie Protokoll, Referat, Exzerpt und wissenschaftlichen
Prüfungsarbeiten.
Es liegt in der Logik einer handlungsbezogenen Lehrerausbildung,
daß angehende Lehrer nicht nur theoretisch beherrschen sollten, was
später Schülern nahezubringen ihre Aufgabe sein soll. Über diese spe-
zifisch berufsbezogene Motivation hinaus gibt es eine umfassendere
pädagogische Absichtserklärung für kreatives Schreiben, die sich aus
dem humanistischen Erziehungsziel der allseitigen Persönlichkeitsent-
faltung ableiten läßt. Und da ist nach wie vor das schriftliche Sprach-
handeln eine Tätigkeitsform, die einer ganzheitlichen Erziehensforde-
rung gut ansteht. Denn niemand wird bestreiten können, daß Schrei-
ben in allen seinen Schattierungen ein integrales Moment der Sprach-
beherrschung darstellt. Dieses Desiderat gilt in besonderem Maße für
Deutschlehrer.
Neben dem Schreiben und stets darauf bezogen gehört das Lesen wie
endlich auch die Reflexion über Sprache zu jenen Operationen, die zur
Entfaltung zunächst der Sprachpersönlichkeit wie dann der umfassen-
den Persönlichkeitsentfaltung entscheidend beitragen. Neben dem
Normverständnis und dem historischen Verstehen sprachlichen Han-
delns war Kreativität stets ein Begleiter aller sprachgebundenen Äu-
ßerungsformen. Wobei noch unzulänglich geklärt zu sein scheint, daß
Sprachnorm und kreative Entgrenzung und Erweiterung der Sprache
ein spannungsvolles dialektisches Verhältnis miteinander eingehen und
wie dieses Verhältnis in jeder Epoche aussieht.
Kreatives Schreiben - Beschriebene Kreativität 37

Als eine Tätigkeit, die >Kreationen< hervorbringt, gehört Kreativität


zur >Kreatur< Mensch als etwas Wesentliches, das Entwicklung garan-
tiert und zuläßt. Mithilfe des schöpferischen Tuns vermag sich der
Mensch seiner Fesseln zu entledigen. Insofern ist Kreativität immer
schon eine auf Befreiung gerichtete Tätigkeit gewesen. Kreatives
Schreiben wäre demnach ein auf Befreiung gerichtetes Handeln.
Nun sieht es ganz so aus, als könnte sich kreatives, auf Befreiung des
Menschen aus seiner unverschuldeten U n f r e i h e i t gerichtetes Schrei-
ben im institutionellen Rahmen einer Hochschule kaum entfalten.
Das, was man Verschulung nennt, steht quer zu schöpferischer Tätig-
keit. Es sei denn, kreatives Schreiben richtet sich just gegen jene Zwän-
ge, die es nicht zulassen wollen. Es war dies in der Tat eine heimlich
gehegte Erwartung des Verfassers, die er sich als Realist allerdings nicht
zulassen wollte. Und die Realität gab ihm recht.
Kreatives Schreiben an einer Hochschule stößt zunächst an das Pro-
blem der knapp verwalteten, gegängelten Zeit: Kreativität will sich aus-
dehnen, Effizienzdenken schränkt aber gerade ein. So werden der
Kreativität bereits die Flügel gestutzt, ehe sie überhaupt abheben kann.

Ausgehend von einem offenen, studentenorientierten, theoretisch aber


noch nicht festgelegten didaktischen Konzept sollten zwei Modelle von
Schreibseminaren einmal durchgespielt werden, um einerseits festzu-
stellen, welche Voraussetzungen Studenten mitbringen, und um an-
dererseits zu testen, was Studenten in kurzer Zeit zu leisten in der Lage
sind. Es war beide Male daran gedacht, die Schreibseminare empirisch
mit Fragebögen, Tonband und Video zu begleiten, um zu verläßlichen
Erkenntnissen zu gelangen. Modell 1 wurde kurz vor Semesterbeginn
als einwöchige Kompaktveranstaltung angeboten und hatte von den
Teilnehmern erarbeitete »Vorlagen« zum Ausgangspunkt. Modell 2
wurde im >normalen< Semesterbetrieb als Seminar ohne jede Vorgabe,
aber dafür mit >Supervision<, mit Experten angeboten.
Die Herstellung eines Kinderbuchs für 7 - bis 12-Jährige war jeweils
das Ziel des Schreibseminars.
38 Albrecht Schau

3: Modell 1

F ü r die Arbeit im Seminar war Kleingruppen-Organisation vorgesehen,


die die 15 Teilnehmer auch gern akzeptierten. Die Studenten hatten in
3er-Gruppen eine Aufgabe f ü r eine »Korrespondenzgruppe« zu kon-
kretisieren, die so präzis sein sollte, daß danach ein Kinderbuch für 7 -
bis 9-Jährige hergestellt werden konnte. Die Konkretisierungen betra-
fen T h e m a , Methoden und Materialien usw. Die Beschränkung auf die-
sen Adressatenkreis ergab sich aus der Seminarankündigung (Herstel-
len eines Kinderbuches). Die Teilnehmer besaßen denn auch prompt
die Orientierung auf den Stufenschwerpunkt Primarstufe. Der A u f b a u
des Studiums ist so angelegt, d a ß Kenntnisse über Entwicklungs-
psychologie, Sprachentwicklung sowie Lesealter-Stufen bei den Studen-
ten vorausgesetzt werden konnten, was das Einführungsgespräch auch
bestätigte. Die Entscheidung für die Formulierung einer »Arbeitsan-
weisung« ergab sich aus didaktischer Theorie und schulischer Praxis:
die »Arbeitsanweisung« ist nach wie vor ein didaktisches Regulativ par
excellence. Wie die Erfahrung zeigt, hängt der Lernprozeß nicht un-
wesentlich von der Präzisheit der Arbeitsanweisung ab. Exakte »Ar-
beitsanweisungen« sollten eingeübt werden. Das war eine didaktische
Absicht.
N a c h d e m in e i n e m Exkurs noch einmal kurz die Lehrplansituation
herausgearbeitet worden war, so daß alle Teilnehmer den gleichen In-
formationsstand besaßen, wurde mit der Arbeit begonnen. Es war ein
Glücksfall, daß die Mehrheit der Teilnehmer Studenten waren, die die
Fächerverbindung Deutsch/Kunst gewählt hatten und f ü r die Herstel-
lung von Kinderbüchern gute handwerkliche Voraussetzungen mit-
brachten. Diese Beobachtung war auch in dem Seminar nach Modell 2
zu machen. Wie es scheint, ziehen Schreibseminare Studenten, die das
Fach Kunst studieren, besonders stark an.
Die Seminarteilnehmer sollten sich darüber hinaus auf Verhältnisse
einstellen, die sie an >normalen< G r u n d s c h u l e n a n t r e f f e n : ein relativ
niedriger Standard an sächlicher Ausstattung. Diese Voraussetzungen
sollten simuliert werden.
Die Gruppen-Anweisungen wurden sodann >über Kreuz< ausge-
tauscht und ein Diskurs in Gang gebracht. Zunächst diskutierten die
G r u p p e n isoliert, ehe die »Anweisergruppe« mit einbezogen wurde. A n
eine empirische Unterstützung des Schreibseminars war nicht mehr zu
denken, nachdem sich die Studenten ζ. T. vehement gegen diese Kon-
trolle zur Wehr setzten. Die hier festgehaltenen Ergebnisse sind Pro-
dukte von Protokollen des Seminarleiters.
Anders als Modell 2 wurde dieses Schreibseminar vom Verfasser al-
lein geleitet. Sowohl in den einzelnen G r u p p e n als auch den G r u p p e n
Kreatives Schreiben - Beschriebene Kreativität 39

untereinander herrschte ein lebhafter Kontakt während der gesamten


Woche. Die Arbeitsmoral war gut, die Arbeitsatmosphäre entspannt.
Die Teilnehmer bekundeten immer wieder spontan, wie wohl sie sich
fühlten. Der Seminarleiter fühlte sich ebenfalls wohl und in die Ge-
samtgruppe integriert. Er brachte sich auf Wunsch einer Gruppe mit
einigen kreativen Fingerübungen selbst in die Arbeit ein. Bemerkens-
wert war auch, daß die festgesetzten Seminarzeiten nicht selten über-
schritten wurden. Die Motivation hielt unter den Teilnehmern wäh-
rend der 5 Tage konstant an, steigerte sich am letzten Arbeitstag (Frei-
tag) nochmals, als es an die Fertigstellung und die Vorstellung der ein-
zelnen Kinderbücher ging. Die Teilnehmer führten diese Euphorie auf
die tagtäglich sichtbaren Arbeitserfolge zurück. Der Stolz auf das ei-
gene Kunstprodukt äußerte sich u. a. auch darin, daß die Teilnehmer
die Kinderbücher nach einem vorher ausgemachten Auswahlverfahren
mit nach Hause nahmen, um sie der Familie oder Freunden vorzufüh-
ren.
Vorgelegt wurden entweder reine Bilderbücher oder Kinderbücher
mit zahlreichen Illustrationen. Themenwahl, Themenausgestaltung
und Illustration bewegten sich in konventionellen Bahnen. Ehe die
>Exponate< in eine Vitrine wanderten und in einer kleinen Feier der
Hochschulöffentlichkeit vorgestellt wurden, konnten in zwei Grund-
schulklassen Erfahrungen mit den Bilderbüchern gesammelt werden.
Die Kommentare waren interessante Rückmeldungen an die Adresse
der Studenten (und den Seminarleiter). Sie konnten überprüfen, in-
wieweit sie den Erfahrungshorizont der Schüler erreicht oder verfehlt
hatten. Von kleinen Abweichungen abgesehen, wurden die Kinderbü-
cher von den Schülern >angenommen<. Interessantes Nebenprodukt:
die Vorstellung der studentischen Kinderbücher animierte eine 3. Klas-
se, ebenfalls die Herstellung eines Kinderbuches zu versuchen.

4: Modell 2

Das zweite Modell kreativen Schreibens sollte Aufschluß darüber ge-


ben, ob es möglich sei, über eine Kooperation mit Experten - einem
Jugendbuchautor, einer Lektorin, einem Kunstdidaktiker und einem
Deutschdidaktiker - die studentischen Teilnehmer zu bewegen, ein
professionell gemachtes Buch (eigener Druck, Hardcover, eigene Illu-
strationen, eigener Vertrieb, 500-Stück-Auflage) in eigener Regie zu
verlegen. Dieser Versuch schien auch insofern verheißungsvoll, als die
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg sowohl über eine eigene Druk-
kerei mit einem Stehsatz als auch eine moderne Textverarbeitungsan-
lage verfügt und der Kunstdidaktiker eigene Erfahrungen in der Buch-
herstellung mitbrachte.
40 Albrecht Schau

Anders als der Schreibkurs nach Modell 1 lief Modell 2 während des
Semesters als >normale< Seminarveranstaltung. Wieder nahmen mehr-
heitlich Studenten mit der Fächerverbindung Deutsch/Kunst teil.
Auf eine Themenvorgabe wurde verzichtet, auch auf eine Festlegung
des Adressatenkreises. In der ersten Sitzung wurden die Interessen der
19 Teilnehmer erhoben und diskutiert, desgleichen die der >Experten<.
Erste Probleme ergaben sich, als Jugendbuchautor und Lektorin erken-
nen ließen, daß sie nicht an allen Sitzungen teilnehmen könnten. Das
Interesse der Lektorin war ohnehin auf die Lektorierung des fertigen
Manuskriptes verkürzt. Der Jugendbuchautor war durch seine Tätig-
keit als Lehrer gebunden. Auch er beteuerte, nur an drei Sitzungen
teilnehmen zu können. Doch sein Interesse an dem Schreibseminar
war deutlich weiter gesteckt. Zunächst versuchte er - belegend durch
Buchbeispiele vor der Reproduktion von Klischees zu warnen. An-
dererseits war er bereit mitzuhelfen, eine »Schreibbewegung« vorsich-
tig in Gang zu bringen und in Stilfragen mit Rat und Tat beizustehen.
Eine Abstimmung vor Semesterbeginn unter den Supervisoren gab es
insofern, als man sich aus didaktischen und praktischen Erwägungen
auf ein »offenes Vorgehen« verständigte. Während des Semesters litt
die Seminararbeit u. a. dadurch, daß Lektorin und Jugendbuchautor zu
sehr in ihre berufliche Tätigkeit eingebunden waren. Erstaunlich rasch
erfolgte bereits in der dritten Sitzung eine Einigung auf Thema, Genre
und Adressatenkreis, der etwas weit auf 8 bis 12 Jahre gefaßt wurde,
was wiederum mit der Seminarankündigung als auch dem gewählten
Stufenschwerpunkt der Teilnehmer zusammenhing.
Da sich auch die verbliebenen Experten bereiterklärten, an der Text-
produktion teilzunehmen, war die Idee f ü r eine Anthologie rasch ge-
boren. Einig war man sich auch darin, daß das Thema möglichst weit
gefaßt werden sollte. Es sollte alles gestatten und nichts ausgrenzen.
Der Vorschlag »Die Schublade« wurde nach eingehender Diskussion
akzeptiert.
Auch dieses Schreibseminar wurde nicht empirisch begleitet. Wieder
war es ausdrücklicher Wunsch der Studenten, die Selbstregulation
mündlich in den Plenumssitzungen vorzunehmen, aber nicht zu do-
kumentieren, man fürchtete um die Spontaneität der Arbeit.
Neben Prosatexten kamen Gedichte zustande, aber auch Cartoons
sowie Illustrationen zu den Texten.
Der Seminarablauf wurde wie folgt festgelegt: die Texte sollten ein-
zeln oder in Gruppenarbeit zu Hause fertiggestellt, kopiert und dann
im Seminar diskutiert werden. Theoretisches Wissen sollte nur gezielt
dort herangezogen werden, wo dies auch tatsächlich nötig war. Nötig
war es nur in einem Fall.
Kreatives Schreiben - Beschriebene Kreativität 41

Zu Semesterende lagen 19 Beiträge vor. Jeder Teilnehmer hatte sich


also eingebracht. Die letzten beiden Sitzungen dienten der abschließen-
den Diskussion der Einzelbeiträge und deren Zusammenstellung. Bei
der Mischung wurde auf Proporz von Text und Illustration bzw. Car-
toon Wert gelegt. Ähnliche Texte sollten nicht in unmittelbarer Nach-
barschaft stehen.
Die Schreibmotivation erhielt ihren ersten Dämpfer, als die Lektorin
das Manuskript >verriß<, ihr Interesse verlor und ihre ohnedies be-
schränkte Mitarbeit endgültig aufkündigte. Wenn auch das Urteil im
großen und ganzen berechtigt sein mochte, so vermißten die Teilneh-
mer didaktisches Verständnis sowie eine konkrete Hilfestellung eines
Profis. Die Lektorin klammerte sich an ihren >professionellen< An-
spruch, der freilich auch intendiert war. Andererseits beflügelte das
Verhalten der Lektorin die Arbeit: es stellte sich eine Trotzreaktion ein.
Als die Beiträge termingerecht fertiggestellt waren, zeigte sich, daß
der Umfang solche Ausmaße angenommen hatte, daß an einen Druck
im Stehsatz nicht mehr zu denken war. Nicht minder problematisch
war die rasche Umstellung auf das moderne Textverarbeitungssystem.
Denn außer einem Seminarleiter verfügte niemand über entsprechende
Kenntnisse. Fünf Teilnehmer erklärten sich schließlich bereit, an einer
Einführung in die Textverarbeitung, die gerade lief, teilzunehmen und
das Manuskript auf Diskette zu schreiben. Das Schreib-Projekt schien
gerettet. Doch die Arbeit zog sich nicht nur in die Semesterferien hin-
ein, sondern sogar in das nachfolgende Semester. Und dort kollidierte
sie mit neuen Verpflichtungen der Studenten. Als schließlich der erste
Ausdruck vorlag, waren nur mehr wenige Studenten zu einem Be-
sprechungstermin erschienen. Das Interesse war erlahmt, der Lernbe-
trieb forderte seinen Tribut!

Mit aller Vorsicht lassen sich aus den abgehaltenen Schreibseminaren


folgende Schlußfolgerungen ziehen:
1. Nach unseren Erfahrungen wurden die Schreibseminare von den
Studenten aus folgenden Gründen aufgesucht. Mehrheitlich verspra-
chen sich die Lernenden von ihnen eine persönlichkeitsaufbauende
oder -unterstützende Wirkung, die mit einer Entlastung vom ent-
fremdeten Lernen einherging. Eindeutig unterrepräsentiert war die
Motivation, etwa das Schreiben zu lernen, um eventuell ein Alternative
zum Lehrberuf, genauer: zur Lehrerarbeitslosigkeit aufzubauen (ζ. B.
als Journalist, Schriftsteller, PR-Mitarbeiter usw.). Denkbar ist aller-
dings, daß dieser Wunsch unterschwellig durchaus präsent war, aus
42 Albrecht Schau

Furcht zu versagen, aber nicht artikuliert wurde. Deutlich ausgeprägt


war wiederum der Unterhaltungswert, die Möglichkeit zur ungestörten
Kommunikation, gemischt mit dem nicht minder starken Bedürfnis
nach Spontaneität.
2. Kreativität erschöpft sich nicht im raschen Fixieren eines Einfalls.
Dessen Ausgestaltung, Umformulierung, Anreicherung, Formulierung,
kurz: der mitunter auch quälende >Arbeitsprozeß< der Formgebung be-
reitet im Schreiben ungeübten Studenten große Schwierigkeiten, auf
die eine Didaktik des Schreibens Rücksicht zu nehmen hat.
3. In der Regel brachten die im Schreiben noch nicht stabilisierten
Lernenden selten jene Ausdauer mit, die der künstlerische Arbeits-
prozeß erheischt.
4. Die literarischen, speziell sprachlichen Voraussetzungen der Teilneh-
mer waren zwar unterschiedlich. Insgesamt gesehen ist jedoch das Ni-
veau als eher niedrig einzustufen (Sprachrepertoire, Flüssigkeit usw.).
Deutlich besser waren hingegen die praktisch-gestalterischen Kompe-
tenzen sowie grafisch-malerischen Fähigkeiten ausgeprägt.
5. Für eine Didaktik des kreativen Schreibens ist die Bereitstellung
nicht nur von Materialien von Belang. Vielmehr sollte, sofern man
computergesteuerte Textverarbeitungssysteme einbezieht, vorher
ausgemacht sein, ob die Teilnehmer die Textverarbeitung beherrschen.
Nachträglich lassen sich diese Schreibkenntnisse kaum einholen.
6. Ist ein Schreibseminar produktorientiert angelegt, ist Zeitkalkulation
höchstes Gebot: es sollte vorher eingeschätzt werden, ob die vor-
handene Zeit zur Fertigstellung der Produkts ausreicht.
7. Nicht jedes Schreibseminar eignet sich für die Gruppenarbeit. Kol-
lektives Arbeiten hängt von verschiedenen Faktoren ab: von der Fä-
higkeit zur Kooperation, vom Thema, vom Genre sowie von indivi-
duellen Dispositionen. In vielen Fällen ist kollektives Arbeiten nur in
der Phase der Themenfindung, Themendiskussion, Informationsbe-
schaffung, der wissenschaftlichen Durchdringung des Themas, der ab-
schließenden Diskussion der einzelnen Beiträge im Plenum sinnvoll.
Der eigentliche Schreibvorgang dürfte vor allem bei fiktionalen Tex-
ten, aber nicht nur diesen, nach unseren Erfahrungen immer noch der
privaten Tätigkeit vorbehalten bleiben.
8. Anders als in den romanischen und angelsächsischen Ländern ist die
Schreibkultur an den Schulen und Hochschulen der Bundesrepublik
verödet. Die G r ü n d e liegen in einer verfehlten Bildungspolitik, was
hier als These so stehen bleiben muß. Kein Wunder, daß eine theore-
tisch fundierte Kunst des Schreibens nicht existiert. Die Bemühungen
um eine Konzeption kreativen Schreibens sollten von einer fortschritt-
lichen Tätigkeitsorientierung aus erfolgen. Die Vertreter der kulturhi-
storischen Schule haben hier Schrittmacherdienste geleistet.
Kreatives Schreiben - Beschriebene Kreativität 43

Ein Schreib-Symposium könnte Aufschluß darüber geben, wie weit


die Ansätze zu einer handlungsbezogenen Schreibkultur heute bereits
gediehen sind.
Und auch dies sollte deutlich geworden sein: von den Einzeldis-
ziplinen aus lassen sich allenfalls erste Schritte entwickeln. Es gilt aber,
das Ganze in den Blick zu nehmen. Und das heißt: fächerübergreifen-
des Projektdenken ist gefragt.
Otto Dörner

Texten von Kurzgedichten nach dem Vorbild des japanischen


Lyrik-Genres >Haiku< im studentischen Schreibseminar

Diskurs und Bericht

Entsprechend einer heute wieder stärker produktionsästhetisch orien-


tierten Poetik, hat sich aus dem Bedürfnis, mit Literatur nicht nur re-
zeptiv umzugehen, an der Abteilung Vechta der Universität Osnabrück
ein Arbeitskreis schriftstellernder Germanistikstudenten gebildet. Die
Schreibversuche sind meist lyrischer Art. Werden sie für bündig befun-
den, können sie in der von vier unserer Studenten herausgegebenen
Literaturzeitschrift, der man - in schöner ironischer Brechung - den
Titel »Größenwahn« gegeben hat, publiziert werden. Drei Hefte liegen
inzwischen vor.
Die Kritik an den vorgestellten Textproduktionen führt mitunter zu
langen Erörterungen, wie man den immer wieder benannten
Schwachstellen begegnen könnte, besonders dem Mangel an Gestal-
tungskraft. Blenden wir uns in ein solches Werkstattgespräch ein, in
dem der Seminarleiter (SL) ermuntern möchte, einen gangbaren neuen
Weg zu erproben, sich nämlich an der japanischen Kurzgedichtform
>Haiku< zu orientieren.

HAIKU
In siebzehn Silben
gleitet über drei Zeilen
eine Strophe aus
(Carl Heinz Kurz (1983))

SL: Bei unseren letzten Zusammenkünften hat die berechtigte Kritik


an den vorgestellten gereimten konventionellen Strophenmustern alle
überzeugt. Das Endreimgedicht ist sicher nach wie vor in der deutschen
Lyrik möglich - gelungene Beispiele von Ulla Hahn oder Günter Ku-
nert belegen es - aber es bedarf dazu eben der Meisterschaft solcher
Könner. Doch auch an den ungereimten freirhythmischen Versen gab
es genug zu kritisieren: Mangel an Präzision und Konzentration, Re-
Texten von Kurzgedichten 45

dundanzen, Verschwommenheit, weitschweifige, willkürliche Assozia-


tionen, die es dem Leser verwehren, eigenständig Assoziationsketten zu
bilden, fragwürdige »flatness«, willkürliches Ausufern eines guten Ein-
falls.
Um einigen der benannten Mängel zu begegnen, möchte ich Sie heu-
te auf einen mir gangbar erscheinenden Weg führen. Wagen wir beim
Texten den Versuch, uns am Stilmuster der wohl kürzesten Ge-
dichtform der Weltliteratur zu orientieren: dem japanischen Haiku. Es
ist dem Umfang nach nur dreizeilig und zwingt somit zu größtmögli-
cher Konzentration. Ich plädiere für die Beachtung dieses Genres nicht
nur seiner Kürze wegen, sondern weil es - als echte Gesellschaftskunst
- so außerordentlich populär ist. Haiku-Kunst wird in Japan von allen
Bevölkerungsschichten gleichermaßen betrieben. Man könnte meinen,
hier bewahrheitet sich Goethes Wort: »Das poetische Talent ist dem
Bauer so gut gegeben wie dem Ritter; es kommt nur darauf an, daß
jeder seinen Zustand ergreife und ihn nach Würde behandle.« Keine
andere Gedichtform hat ähnlich hohe Distributionsgrade erreicht. In
Japan existieren gegenwärtig etwa 700 Haiku-Zeitschriften. Das Hai-
ku-Museum Tokyo meldet, daß es etwa eine Million Haiku-Autoren
gebe und an die 1000 neue Haiku-Monographien jährlich.

A : Nachahmung fernöstlicher Stilmuster? Führt das nicht zu fragwür-


digem epigonenhaften Japonisieren?

C : Sollen wir Lotusblumen-Lyrik produzieren?

S L : Die Bedenken erscheinen berechtigt. Nachahmung fremder Mu-


ster ist immer fragwürdig. Natürlich soll nicht ein japonisierendes Su-
j e t mit Lotusblumen, Tempelgärten, Reisfeldern, Teehügeln, Kimonos
und Seidenfächern gezeichnet werden, sondern das fremde Muster
wäre zu transportieren und bei uns zu naturalisieren. Andere Gedicht-
formen haben j a solche Transpositionen auch gut überstanden. D e n k e n
wir an das ursprünglich sizilianische Sonett, das heute weltweit ver-
breitet und allen Kultursprachen einverleibt ist. Oder an die antiken
Odenstrophen. Sehr lange hat es gedauert, bis diese älteste abendlän-
dische Gedichtgattung - dank der Erneuerung der deutschen Dichter-
sprache durch Klopstock - der deutschen Literatur gewonnen wurde
und in Hölderlin zur Hochblüte kam.

D : Aber hier handelt es sich um abendländische Gedichtformen.

E : Und verwehrt nicht auch die doch sicher ganz andersartige japani-
sche Prosodie eine solche Transposition?

S L : Wenn abendländische Kunst im Fernen Osten vollgültig integriert


werden konnte - dem Sonett begegnen Sie auch in fernöstlichen Spra-
46 Otto Dörner

chen, auch der horazischen Ode 1 - müßte umgekehrt auch eine Rezep-
tion fernöstlicher Kunst bei uns gelingen.
Im übrigen dauert dieser Integrationsprozeß des japanischen Haiku
schon lange an, er fällt zeitlich zusammen mit dem Beginn der euro-
päischen Lyrik der Moderne. Spätestens seit Georg Trakl ist die deut-
sche Lyrik der Moderne eine ichlose Lyrik, das Ich bringt sich nicht
mehr selbst explizit in den lyrischen Vorgang ein. Ähnlich ist es im
Haiku, wo das Ich anonym bleibt, sich zurücknimmt und sich auch
nicht versteckt in Personal- und Possessivpronomina. Vermutlich we-
gen dieser Affinität erwachte bei den modernen europäischen Lyrikern
das Interesse am Haiku, zuerst in Frankreich um die Jahrhundertwen-
de, dann in Deutschland bei Arno Holz, Paul Ernst und besonders bei
Rilke. Während des Ersten Weltkriegs wurde es besonders in Frank-
reich populär.
Die zweite große Rezeptionswelle ist nach dem Zweiten Weltkrieg zu
beobachten. Besonders seit den 60er Jahren verbreitet es sich rasch -
außer in Frankreich - vor allem in Jugoslawien, dann in Übersee in
Mexiko und den USA. Dort gibt es inzwischen fünf Haiku-Zeitschrif-
ten und eine Fülle entsprechender Forschungsliteratur.
Einflüsse des Haiku sind nachgewiesen im Werk von Paul Eluard
und Ezra Pound, beim Griechen Seferis; Brecht hat sich zu seinen
Kurzgedichten der Spätphase von dieser fernöstlichen Form anregen
lassen (wie vom Nö-Spiel in seinen Lehrstücken). Zu Rilkes Begegnung
mit dem Haiku lesen Sie bitte den Beitrag des Amsterdamer Germa-
nisten Herman Meyer in der Zeitschrift »Euphorion« von 1980.2 Rilke
lernte das Haiku ab 1920 in französischer Übersetzung kennen. Meyer
zeigt auf, wie anregend die japanische Haiku-Dichtkunst auf Rilkes
poetologisches Selbstverständnis und auf seine Formulierungskunst in
seinen letzten Lebensjahren, vorrangig in seinen französischsprachigen
Gedichten, gewesen ist. Meyer belegt auch, daß beim späten Rilke von
klassischer Geniepoetik mit ihrer vermeintlich spontanen Schaffens-
kraft nicht die Rede sein kann, auch Rilkes Gedichte sind in langen
Schaffensprozessen erarbeitet. Auch seine Gedichte sind, im Sinne der
von Benn formulierten neuen Schaffenspoetik, »gemacht«. Bewußt ge-
macht von einem modernen Künstler, der das von der technischen
Welt dem heutigen Menschen aufgezwungene bloße rezeptive Verhal-
ten durch Kunstproduktion beenden, zumindest zeitweilig durchbre-
chen will.
1
Ich verweise auf die chinesische Festschrift »Ho-la-tz'u-chi-rien-t'e-paän«
( D e m Andenken des Horaz), Tientsin Peiping 1935. Man könnte an solchen
Integrationsversuchen die tragende Qualität des Gattungshaften und seine
ethnische Ubiquität studieren.
2
Herman Meyer: »Rilkes Begegnung mit dem Haiku«. In: Euphorion 1980,
S. 134-168.
Texten von Kurzgedichten 47

Und damit sind wir ja wohl beim Hauptanliegen, das Sie letztlich in
ein solches Schreibseminar führt. Ihre Abwehr bloßer Rezeptionsäs-
thetik verstehe ich als Abwehrhaltung einem Dasein gegenüber, das
lediglich in einem rezeptiven Funktionieren auf die Signalelemente der
Umwelt bestimmt ist. Als »Gegengewicht zu einer allgegenwärtigen
Trockenheit unseres Nützlichkeitsdenkens« könne das Haiku-Dichten
wirken, heißt es in einer neuen Publikation von Haiku-Texten. 3

A: Meines Wissens ist das japanische Haiku mit einer ganz bestimm-
ten, religiösen Vorstellungswelt verbunden, dem Zen-Buddhismus, der
uns fremd ist und den meisten auch fremd bleiben wird. Ist da noch ein
Texten in Mustern, denen diese religiöse Vorstellung zugrundeliegt,
möglich?
SL: Soweit wir uns nicht auf den Zen-Buddhismus persönlich einlas-
sen, m u ß uns diese religiöse Vorstellungswelt sicher verschlossen blei-
ben. Der neueste Haiku-Forschungsbeitrag in Europa stammt von Yo-
riko Yamada-Bochynek. 4 Er hat die Affinität zwischen dem spezifi-
schen religiösen Erfahrungsmodus und dem Haiku aufgezeigt und sie
aus vorlogischen Erkenntnisprozessen erklärt, auf die beide zurück-
griffen.
Was den spezifisch religiösen Erfahrungsmodus anbelangt: in dieser
Hinsicht kann die Integration echter Haiku-Vorstellungswelt in unsere
Haiku-Versuche nicht geplant sein. Eine solche Affinität, wie sie für
das Haiku East gilt, braucht ja auch nicht für eine neue Gattung Haiku
West zu gelten. Hinsichtlich der religiösen Vorstellungswelt wollen wir
das Haiku nicht nachahmen, aber wir können uns auf das fremde Stil-
muster einlassen, um zu prüfen, was uns daran anzusprechen vermag.
Dazu sollten wir über die innere Gattungsgesetzlichkeit des Haiku
mehr wissen. Wie bei jeder Gattung ergeben sich letztlich erst aus dem
Studium der Gattungsgeschichte vertiefte Einsichten. Wir müßten also
die große Fülle der Gattungsbeispiele von den Anfängen bis heute stu-
dieren.
Das kann hier nicht unsere Aufgabe sein. Im Handapparat steht eine
Menge Literatur bereit, um sich darüber informieren zu können. 5 Die
3
Hans und Hilde Kasdorff: Augenblick und Ewigkeit. Haiku. Bonn: Bouvier
1986 (mit Rezension in der FAZ, 7.3.1987, 26).
4
Yoriko Yamada-Bochynek: Haiku East and West: A Semiogenetic Approach.
(Bochum Publications in Evolutionary Cultural Semiotics, Vol 1), Bochum
1986.
5
In Auswahl (soweit nicht bereits vermerkt): Kenneth Yasuda: The Japanese
Haiku. Its essential nature, history, and possibilities in English, with selected
examples. Tokyo: Rutland, 7th pr. 1985. Dietrich Krusche: Haiku. Bedingun-
gen einer lyrischen Gattung. Übersetzungen und ein Essay. Tübingen, 41982.
Keiji Kato: Deutsche Haiku. Ein kurzer Beitrag zur vergleichenden Litera-
turgeschichte. Tokyo: Nagata 1986. Jürgen Berndt: »Japanische Literatur«.
48 Otto Dörner

beste Kennerin des Haiku aus unserem Kreis ist Frau Buerschaper. Sie
hat sich intensiv mit der Gattungsgeschichte und der Baugesetzlichkeit
des Haiku befaßt und selbst schon zahlreiche Haiku veröffentlicht. 6 Ich
habe sie gebeten, uns kurz mit den wichtigsten literarästhetischen Ei-
genheiten der Haiku vertraut zu machen, auf daß wir versuchen kön-
nen, uns selbst auch an die Erprobung des fernöstlichen Stilmusters zu
begeben, um eine mögliche Vorbildhaftigkeit für unser Texten zu er-
kennen.

Frau B: Der Name Haiku ist zusammengezogen aus //a/kai no Hok&w,


was soviel bedeutet wie humoristischer Anfangsvers. Er leitet ur-
sprünglich eine partnerschaftliche Gemeinschaftsdichtung offensicht-
lich auf humorvolle Art ein. Das Bemühen um einen inhaltlich und
sprachlich brillianten Start führt dazu, daß die Eingangsverse, die Hok-
ku, dank ihrer Vollendung keiner Ergänzung bedurften und für sich
allein als Kurzgedicht bestehen konnten. Das trug zur Entwicklung des
Haiku als selbständiger Gedichtform bei. Die humoristische Sinn- und
Inhaltsdeutung, die der Name aufzwingt, verlor sich schon zur Zeit des
großen Haiku-Dichters Matsuo Basho (1644-1694). Er und die an-
spruchsvolle Basho-Schule nach ihm widmete sich den jahreszeitlich-
naturverbundenen, transzendenten Inhalten und strebte durch sprach-
liche Ausdruckskunst und inhaltliche Perfektion den sinnreichen Hai-
kustil an. Anderen Dichtern lag daran, dem Humor und der schlichten
volkstümlichen Aussage einen Weg offenzuhalten. Die aus diesem Be-
streben erwachsene Gattung ist heute unter dem Namen Senryu in Ja-
pan bekannt.
Formal sind Haiku und Senryu gleich, je dreizeilig mit 17 Silben in
der Aufteilung 5 - 7 - 5 . Abweichende Silbengruppierungen kommen
vor: 5 - 5 - 7 oder 7 - 5 - 5 oder 5 - 9 - 5 . Die Silben sind im Durch-
schnitt auf 12 Wörter verteilt.
Während das Haiku sich zu einer hochgeistigen Gedichtform ent-
wickelt hat, blieb das Senryu populär. Es bot jedem die Möglichkeit
literarischer Betätigung, da der formalen Begrenztheit keine Einschrän-
kung auferlegt war.

In: Berndt, J. (Hg.): Bi-Lexikon Ostasiatische Literaturen. Leipzig: VEB


Bibliographisches Institut 1985. Geza S. Dombrädy: »Formen der japani-
schen Lyrik«. In: See, Klaus von (Hg.): Neues Handbuch der Literaturwis-
senschaft. Bd. 23. Wiesbaden 1984.
6
Margret Buerschaper: Zwischen allen Ufern. Gedichte. Haiku. Bovenden:
Verlag Graphikum 1985. Dies.: Freude auf das Mögliche. Gedichte/Hai-
ku/Senryu. Bovenden: Graphikum, 2 1985. Dies.: Atemholzeiten. Gedichte.
Vechta 1983.
Texten von Kurzgedichten 49

SL: Im Deutschen wird die Unterscheidung zwischen Haiku und Sen-


ryu terminologisch bislang kaum gemacht, beide firmieren unter der
Bezeichnung »Haiku«. Auch wir wollen bei unserer praktischen Arbeit
auf die namentliche Differenzierung verzichten, aber bei unseren ei-
genen Versuchen beide Arten, vor allem auch die volkstümlich heitere
berücksichtigen. Bitten wir noch Frau B., uns an einem Textbeispiel die
innere Baugesetzlichkeit aufzuzeigen.

Frau B: Das Haiku geht vom Bild aus, von der Impression. Dieses Bild
ist mit wenigen Worten in der treffendsten Weise darzustellen. Der
lyrische Vorgang des Haiku ist bestimmt durch Bewegung und Zwei-
poligkeit. Als Pole gelten im Haiku Begriffe, die eine Kontraststellung
ermöglichen: Himmel - Erde, Stille - Sturm, See - Wolken. Eine Be-
wegung zwischen den Polen kann aus jeder Empfindung entstehen
durch Geräusch, Geruch oder unsichtbare Wahrnehmungen. Ein Bei-
spiel - es stammt von Hans Stilett - möge verdeutlichen:

Der Stubenfliege
schwarze Lebenskraft verzuckt
im Netz der Spinne
Die beiden Pole werden in diesem Gedicht durch die beiden Insekten
angedeutet. Sie können als Einfachheit und Raffinesse, als Dummheit
und Klugheit gedeutet werden. Die Bewegung fließt von dem Zappeln
der Fliege, das nicht ausgesprochen wird, weil das Bild diese Assozia-
tion von selbst auslöst, durch das Netz zur starr lauernden Spinne. Fest-
gehalten ist nur der Augenblick, in dem die Bewegung endet, bildkräf-
tig dargestellt in dem Verb »verzuckt«.
Das Verb stellt in diesem Haiku auch gleichzeitig die W e n d u n g
dar, vom Zappeln zum Stillwerden, vom Kämpfen zum Aufgeben, vom
Leben zum Tod. Bild, Bewegung und Wendung sind die notwendigen
handwerklichen Elemente des inneren Aufbaus. Das Entscheidende ist
der im Haiku verborgene Sinn, verborgen, weil unausgesprochen, zwi-
schen den Zeilen: »Der ästhetische Reiz einer Impression, der nicht
geringere einer polar bestimmten Bewegung auf kleinstem Raum, dies
alles soll dem verborgenen Sinn nur dienen.« 7

S L : Wir danken Frau Buerschaper für ihren Beitrag. Von ihren eigenen
Haiku wird sie uns in der nächsten Sitzung zwei vorstellen und erläu-
tern. Und alle anderen sollen sich nun erstmals an die praktische Hai-
ku-Textarbeit wagen und ihre Texte das nächstemal vorstellen.

7
Wilhelm von Bodmershof: »Studie über das Haiku«. In: I. v. Bodmershof: Im
fremden Garten. Zürich: Arche 1980.
50 Otto Dörner

F ü r heute bliebe noch Zeit, das beim letztenmal begutachtete G e -


dicht wieder v o r z u h o l e n und z u überlegen, ob es durch R e d u k t i o n auf
eine H a i k u - L ä n g e gewinnen könnte. W i r bitten M a r c o u m erneute Lek-
türe seines Gedichts.

M:
Ganz
anders wird mir
ganz anders
w e n n ich dich seh
D u Frau
wunderbare Frau
tolle Frau

T a n z e n wir
tanzen den R a u s c h
den Rausch aus
den g a n z e n
den g a n z e n b e t r u n k e n e n
Tag mal wieder
ganz anders mal wieder
ganz anders
den R a u s c h den
betrunkenen T a g

S L : D a n k e M a r c o . D a s letztemal wurde j a schon gesagt, die Selbstbe-


trachtung v o n Teil I wirkt matt, sei zu vordergründig und trivial in der
A u s f o r m u l i e r u n g , während der zweite T e i l f ü r sich allein bestehen
könnte als r h y t h m i s c h bewegte Sequenz und mit dem g e l u n g e n e n Bild
v o m » b e t r u n k e n e n Tag«. M a r c o hat sein G e d i c h t verteidigt als im
T r e n d der Postmoderne liegend und sich b e r u f e n auf sein literarisches
Vorbild R o l f Dieter B r i n k m a n n .

M : Ja, u n d ich betone erneut: Ich will nicht ambitioniert texten und
elitär, sondern anti-ambitioniert und anti-elitär. Ich habe den T e x t be-
w u ß t » f l a t « gehalten, bewußt antihermetisch und unbebildert im Sinne
einer postmodernen »Ästhetik der O b e r f l ä c h e « , und ich zitiere A n d y
W a r h o l : » A l l is pretty«.

Β : A b e r d o c h gerade erst bei der Bildvorstellung v o m » b e t r u n k e n e n


T a g « h a b e n w i r aufgehorcht, und durch besondere Ausgestaltung die-
ser Bildvorstellung könnte ein K u r z g e d i c h t in der A r t eines H a i k u wer-
den.

D: Ich b i n auch der M e i n u n g , an Pop-art orientierte sogenannte post-


moderne Literatur darf kein » A u s f l u g ins A l l b e k a n n t - T r i v i a l e « wer-
Texten von Kurzgedichten 51

den, wie es H. Härtung formuliert hat, sondern sie will dem Leser »zu
einem Trip ins Unbekannte verhelfen«. 8
[Bald sind die ersten Umformungsversuche fertig und werden vorge-
stellt]
SL: Hier haben wir schon einige Reduktionsvorschläge von Marcos
Gedicht, alle ranken sich um die geglückte Wendung vom »betrunke-
nen Tag«. Marco möge die beste davon benennen:
Wir tanzen den Rausch
den betrunkenen Tag aus
tanzen wir tanzen
Komm, tanze den Tag,
den betrunkenen Tag aus,
der zärtlich sich neigt.
Komm, tanze den Tag
mit mir, den trunkenen Tag,
der rauschhaft sich neigt.
M : Die letzte Version gefällt mir schon ganz gut. Aber damit Teil I
meines Gedichtes nicht ganz herausfällt, soll er wenigstens im persön-
lichen Anruf, im Imperativ, erhalten bleiben und in den Eingangsvers
eingehen, etwa so:
Komm tanze mit mir
den betrunkenen Tag aus
der rauschhaft sich neigt.
[Beifällige Anerkennung]
Auch euer Beifall wird mich nicht veranlassen, fortan das Haiku als
heilige Kuh anzubeten. Und damit niemand haiku-süchtig wird: Lest
mal Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht in »Westwärts 1 & 2«, betitelt
»Highkuh, West«. 9
SL: Das ist ein schöner Hinweis am Schluß unseres heutigen Ge-
sprächs. Aber Brinkmanns Gedicht stellt einen Gegenpol zu seinen
Pop-Art-Texten dar. Die Titulierung zeigt deutlich, daß er das fernöst-
liche Haiku kannte. Er hat sich in seinen letzten Schaffensjahren mit
dem Zen-Buddhismus beschäftigt und auch die berühmten Zen-Koans,

8
Harald Härtung: »Lyrik der >Postmoderne<. Vier Beispiele zu einer Ästhetik
der Oberfläche«. In: Abhandlungen aus der Pädagogischen Hochschule Ber-
lin, Bd. I, Berlin: ColloquiumVerlag 1974, S. 303-328.
9
Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Reinbek: Rowohlt 1975,
S. 26.
52 Otto Dörner

die fernöstlichen Rätselaufgaben, beachtet und geschätzt. 10 Mit der hei-


ligen Kuh, die Marco aus dem Titel herausliest, ist bei Brinkmann nicht
das Haiku Ost gemeint, sondern die heilige Kuh des Westens, das golde-
ne Kalb, das Geld.
Mit diesem Wort »Das Geld« beginnt sein Gedicht und tritt damit
an die Stelle des Naturvorgangs, der ein traditionelles Haiku meist er-
öffnet. Wir sehen, Rolf Dieter Brinkmann, unser Dichter aus Vechta,
für manche unter uns das schriftstellerische Vorbild, hat mit der japa-
nischen Haiku-Form experimentiert. Und das wollen wir bis zum
nächstenmal alle versuchen.

II

Ο diese Haiku!
Wollte abends eins nachsehen -
schon naht der Morgen.
(I. v. Bodmershof)

In der nächsten Seminarsitzung werden erfreulich viele und thematisch


mannigfaltige Texte nach Art des Haiku vorgestellt. Manche haben
sich in der im Handapparat bereitgestellten Literatur umgesehen und
auch Brinkmanns Gedicht nachgelesen. Haikusüchtig ist niemand ge-
worden, aber E. berichtet, es sei ihr ähnlich ergangen wie dem lyrischen
Ich im Gedicht der Imma von Bodmershof, das unseren Bericht eröff-
net.
Viele japanische Haiku in deutscher und englischer Übersetzung
sind in den bereitgestellten Anthologien gelesen worden. Dabei ist
manchem, bei aller sonstigen Fremdartigkeit der fernöstlichen Stil-
muster, doch auch aufgefallen, wie viele Gemeinsamkeiten im Lyrik-
Schaffen von Fernost und West zu erkennen sind, besonders die Vor-
liebe für die Jahreszeitenmetaphorik, speziell f ü r die Herbst-Metapher,
für die Abend- oder die Windmetaphorik.
Mit der Vorstellung eigener Haiku bekommt die Erfahrenste aus
unserem Kreis zunächst das Wort, Frau Buerschaper. Sie erläutert ihre
Texte selbst und gewährt Einblick in den Schaffensprozeß, indem sie
den ersten Entwurf kommentiert und die Variante erläutert:
Im Schilf singt der Wind.
Der Wasserjungfer gilt es.
Spätsommerabend.
(Buerschaper (unveröffentlicht))
10
Vgl. Burglind Urbe: Lyrik, Fotografie und Massenkultur bei Rolf Dieter
Brinkmann. Frankfurt/Bern/New York: Lang 1985.
Texten von Kurzgedichten 53

Ein schönes, friedliches Naturbild, ein schilfumstandener See an einem


Sommerabend. An den Schilfblättern hängen die kleinen blauen Was-
serjungfern. Die Pole sind in Wind und Abend zu sehen, die Bewegung
ist schwach angedeutet, kommt aber kaum zum Tragen, da sich in dem
Gegenüber der Pole keine Spannung aufbaut. Die Staupause fehlt ganz.
Die dritte Zeile verhindert jedes Weiterdenken, sie ist zu kompakt und
verschließt das Gedicht. Schon die Umstellung der Zeilen würde eine
gewisse Öffnung des Gedichtes ermöglichen.

Spätsommerabend.
Im Schilf singt der Wind. Gilt es
den Wasserjungfern?"
In der Tat ist die zweite Fassung viel besser. Als mögliche Variante wird
noch ein kräftigeres, transitives Verb für den Schlußsatz vorgeschlagen
und der Singular beim Objekt:
Spätsommerabend.
Im Schilf singt der Wind. Lockt er
die Wasserjungfer?
Auch mit den geänderten Fassungen ist Frau B. nicht zufrieden. Sie
bemängelt, daß die Umstellung das Naturbild verallgemeinere, es wür-
de noch weniger Momentaufnahme und sei auch rhythmisch nicht ge-
nügend markant.
Die Zuhörer teilen diese Selbstkritik nicht und meinen, wobei ihnen
der SL beipflichtet, es komme nicht darauf an, eine echte Haiku-
Momentaufnahme zu gestalten, sondern ein gelungenes deutsches
Kurzgedicht.
Auch das zweite Beispiel legt Frau B. in doppelter Fassung vor:
Schweigender Abend Still ist der Abend
Zitternd ahnen die Pappeln Nur das Pappellaub zittert
aufkommenden Wind ahnt den leisen Wind.
Die Auflösung der Partizipien in der zweiten Fassung erzwinge zwar
die Verwendung des Hilfsverbs und zweier zusätzlicher Artikel, erfülle
jedoch die Forderung nach schlichter, motivbezogener Aussage in ein-
facher Sprache. Wieder wird deutlich, daß sich Frau B. streng am ori-
ginären Vorbild orientiert und die Vorschriften japanischer Haiku-
Lehrer nicht nur hinsichtlich der 17-Silbigkeit und ihrer Verteilung
auf drei Verse beachtet wissen will.

" Margret Buerschaper wird hier - wie auch im Diskurs-Teil - zitiert nach ihrer
Magisterarbeit: Das deutsche Kurzgedicht in der Tradition japanischer Ge-
dichtformen (Haiku, Senryu, Tanka und Renga). Geschichtliche und gat-
tungstheoretische Darstellung. Vechta (masch.) 1986.
54 Otto Dörner

Reihum stellen die übrigen Seminarmitglieder nun ihre Texte vor.


Dem Genre nach sind es vorrangig naturlyrische Gedichte, meist orien-
tiert an traditioneller deutscher Naturlyrik des 19. und 20. Jahrhun-
derts, teils als Umweltschutzgedichte gedacht. Thematisch reichen sie -
wie häufig in studentischer Gegenwartslyrik - bis zur Warnung vor
einer Nuklearkatastrophe.
Von naturlyrischen Haiku, streng in der 17-Silbigkeit, seien folgende
Beispiele zitiert:
Weit in den Abend
Schwingt sich ein Schmetterlingspaar
Niemand verfolgt es
Goldener Ginster!
Vor deinem stolzen Erblühn
verstummt die Klage.
Der SL m u ß zwar kritisierend einwenden, daß die Evokation »Goldener
Ginster« einem meisterhaften Gedicht von Ernst Meister - bewußt
oder unbewußt - entlehnt ist, aber das soll anerkennendes Lob nicht
schmälern. In der Graphematik haben sich die Texter, wie man sieht,
an vorgegebenen Mustern orientiert, sie schreiben entweder linksbün-
dig oder rechtsbündig oder ordnen - wie seinerzeit Arno Holz - spiegel-
symmetrisch um eine Mittelachse. Aber die beiden Gedichte gewinnen
durch den lauten sprecherischen Vortrag sicher mehr an Ausdrucks-
qualität als an der Art der Verschriftlichung.
Zwei Strophen braucht D. für sein Waldsterben-Gedicht:
Im Bayrischen Wald
stürzen die Edeltannen
drunter und drüber.
Im nächsten Frühjahr
haben die Borkenkäfer
lautlos das Schlußwort.
Frau B. fordert die Reduktion auf eine Haiku-Strophe (»Haiku sind
nur dreizeilig«). Andere empfehlen nicht deswegen eine Änderung,
aber aus anderen Gründen: Nicht nur »Edeltannen« stürben. Und war-
um werde so eng lokalisiert und »auf das nächste Frühjahr« verzeit-
licht? Statt des Plurals »Borkenkäfer« wird ein markanterer Singular
gefordert und die Borkenkäferart »Kupferstecher« vorgeschlagen.
Wir versuchen gemeinsam, den Einwänden zu entsprechen und
durch Weglaßproben auf eine Strophe zu reduzieren. Was erscheint
entbehrlich? Sicher nicht der markante paradoxe Schlußvers, der müs-
se bleiben. Schließlich ist man zufrieden mit der gemeinsam gefunde-
nen 17-silbigen Haiku-Strophe:
Texten von Kurzgedichten 55

Stürzende Tanne
Bald hat der Kupferstecher
lautlos das Schlußwort.
Jetzt stellt sich auch der SL mit einem Waldsterben-Gedicht der Kritik.
Es ist dreistrophig. Er möchte damit einer allzu engen prosodischen
Nachahmung des japanischen Haiku entgegensteuern, indem er ein
dreistrophiges Gedicht vorlegt, in dem die Silbenzahl in den einzelnen
Versen variiert und der längere Vers nicht - wie im >echten< Haiku - an
zweiter Stelle erscheint, sondern an erster. Sicher sei damit kein Haiku
getextet worden, aber ein mögliches deutsches Kurzgedicht, das das
japanische Vorbild noch durchscheinen lasse:

Wer hat dich, du schöner Wald...


kahlgeschoren
hoch dort oben?
Tief die Welt verworren schilt
die Scherer
vom Fließband.
Buchdrucker und Kupferstecher
tanzen genüßlich
ums Tischleindeckdich.
Die Seminarteilnehmer erkennen die Eichendorff-Zitate und benennen
ihre Kontrastwirkung. Sie lassen auch das danse macabre-Motiv gelten,
fragen aber, sicher zurecht, ob dem Ernst der Thematik die ironisieren-
de sprachliche Gestaltung angemessen sei. Sie sehen offensichtlich das
Komische oder Ironische des japanischen Senryu-Genres durchschei-
nen.
Die gleiche Frage stellt der SL an das Folgebeispiel:
Du blauer Planet!
wie lange noch bewohnbar
ohne Karate?
Das Schlußwort führt zu der Fragestellung zurück, von der im Dis-
kurs-Teil schon die Rede war. Provoziere die japanische Genre-Form
nicht solche Lexeme, die dann im deutschen Kontext eine komische
Wirkung haben? Der Texter versteht es, seine »schlagkräftige« Schluß-
wendung gegenüber solchen Einwendungen zu verteidigen.
Befreiende Heiterkeit löst das einzige beigesteuerte Liebesgedicht
aus:
Geliebtes Wesen!
Laß mich dein Lindenblatt sein
und mit dir sterben!
56 Otto Dörner

Die Heiterkeit versteht M a r c o f u l m i n a n t zu steigern, indem er das


»Lindenblatt« d u r c h ein »Feigenblatt« ersetzt sehen möchte.
N a c h d e m der Bann gebrochen ist, r ü c k e n auch die Verschlosseneren,
die m a n gerade in Lyrik-Seminaren a n t r e f f e n kann, mit ihren T e x t e n
heraus. D e r S L ermutigt besonders jene, die sich nicht an die strenge
j a p a n i s c h e O r i g i n a l f o r m gehalten haben, sondern die Verse abwei-
c h e n d gestalten, ζ. B. mit K u r z v e r s im Inneren, u m a r m t von z w e i län-
geren Versen, w i e in d e n folgenen Beispielen:

Frühling und S o m m e r und Herbst


Leuchtende A s t e r
Sind deine T a g e g e z ä h l t ?

W u n d e r der heiligen Nacht


Friede auf Erden
Dauerten W u n d e r doch an

K u r z g e d i c h t e mit der Evokation von G e d a n k e n d i n g w ö r t e r n hat k a u m


einer beigesteuert. D i e wenigen Beispiele r u f e n - typisch f ü r philolo-
gische T e x t e r - meist die Sprache als thematischen V o r w u r f a u f :

W o r t e schmieren
polstern die spitzen K a n t e n
dichten die Fugen.

»Sprache macht's möglich« hat der T e x t e r dem G e d i c h t als Ü b e r s c h r i f t


vorgestellt; er akzeptiert aber schnell den A l t e r n a t i v v o r s c h l a g »Fugen
dichten« als Titel. H a i k u haben ja im a l l g e m e i n e n keine Überschrift.
W i r fragen, was sie in diesem Falle zusätzlich leistet. D i e Ü b e r s c h r i f t
und der Eingangsvers werden b e i m ersten Lesen mit B e t o n u n g auf d e m
Substantiv gelesen. Erst beim zweiten V e r s stellt der Leser auf die in-
tendierte A k z e n t u i e r u n g der Verben um. D a d u r c h b e k o m m t das G e -
dicht s c h w e b e n d e Syntax und damit sicher einen zusätzlichen ästheti-
schen Reiz.
E i n thematisch ähnliches H a i k u v o m gleichen T e x t e r lautet:

Worte gleißen.
Sie gaukeln dir G l ü c k vor
und spielen dir mit.

Im Unterschied zu obigem »Lesegedicht« e r k e n n e n wir, d a ß das G e -


dicht, o b w o h l thematisch und formal d e m v o r h e r g e h e n d e n so ähnlich,
insofern wesentlich anders ist, als es laut gelesen werden will, auf d a ß
die r h y t h m i s c h e n Ausdrucksqualitäten (vor allem die Alliterationen,
aber a u c h der W e c h s e l v o m trochäischen R h y t h m u s z u m daktylischen)
sich e n t f a l t e n k ö n n e n .
Texten von Kurzgedichten 57

Unser Anglist behauptet, daß Haiku englischsprachig besser möglich


seien, da man in der englischen Sprache in 17 Silben mehr bedeutungs-
tragende Morpheme unterbringen könne als in der deutschen mit ihren
vielen »toten« Endungen oder Vorsilben. Hier sein Beispiel:
The moon is red.
But no future, no stiff for
the trip, for god's sake.
»Typische Studentenlyrik mit no-future-Zitierung und Trip-Suche«,
wendet einer kräftig ein. Die Überlegung, daß die englische Sprache für
die japanische Haiku-Form geeigneter sei als die deutsche, mag richtig
sein. Aber dafür ist die Gefahr für den Deutschen, der englisch textet -
wenn er in der Fremdsprache nicht so behaust ist wie es etwa Rilke im
Französischen war - zu groß, zu bequemen griffigen Zitaten zu greifen
und abgegriffene Worthülsen zu verwenden. Deswegen erntet unser
Anglist auch mehr Beifall für sein deutschsprachiges Beispiel:
Keiner von uns blick zurück
Reich mir die Hände
Nimmermehr scheid ich im Zorn
Das Gedicht gefällt, weil hier geschickt auf den Titel des den meisten
bekannten Stückes »Blick zurück im Zorn« von Osborne aludiert wird.
Der SL ermuntert zu ähnlichen Literatur-Gedichten, die auf bedeu-
tende Werke anspielen. Er schlägt als Terminus >Literatur-Haiku< vor
und meint, es solle erprobt werden, inwieweit die Quintessenz von li-
terarischen Werken auf wenige Verse komprimiert werden könne. Er
empfiehlt, sich auf das eine oder andere Werk der Weltliteratur zu
einigen und darüber bis zur nächsten Seminarsitzung ein Kurzgedicht
zu versuchen. Die Überlegung wird aufgegriffen, schnell einigt man
sich auf Thomas Manns »Der Tod in Venedig« (die Verfilmung war
gerade zu sehen), und zur nächsten Sitzung liegen mehrere Fassungen
vor, von denen zwei zitiert seien:
Dank lächelnder Jugend
findet der Tod in Venedig
sein Opfer.
Nicht wegen der unorthodoxen Verteilung der Silben auf die drei Verse
wird das Gedicht kritisiert, aber die wörtliche Erscheinung des Novel-
lentitels wird als störend empfunden. Reizvoller sei der andere Vor-
schlag, auch deswegen, weil der nicht mit den Spielregeln vertraute
Leser oder Hörer selbst rätseln könne, auf welches Werk angespielt
werde:
58 Otto Dörner

Wer die Schönheit angeschaut...


in blauer Lagune
kennt die Verwirrungen brauner Nächte.

Bei der Frage nach dem Produktionsprozeß ergibt sich wie selbstver-
ständlich die Lektüre des ganzen Gedichts von Platen, aus dem ein-
gangs zitiert wird, und des Venedig-Gedichts von Nietzsche: » A n der
Brücke stand / Jüngst ich in brauner Nacht [...]« und führt zu Über-
legungen, wieweit Platen und Nietzsche für Thomas Manns Novelle
bedeutsam waren.
Die angehenden Deutschlehrer unseres Arbeitskreises wollen die li-
teraturdidaktische Anregung für ihren künftigen Deutschunterricht in
der gymnasialen Oberstufe aufgreifen. Sie erkennen die geglückte Ver-
bindung v o n Literaturrezeption und kreativer Textproduktion: das in
den Fragehorizont gestellte Werk muß zunächst gründlich gelesen wer-
den; das rezeptiv Angeeignete wird dann z u m Material der kreativen
Eigenleistung umgewandelt und kann in einem dreizeiligen Kurzge-
dicht eine bündige Gestalt finden. Der Literaturlernende kann auf die-
se Weise die Verquickung von bloßer interpretatorischer Literaturbe-
trachtung mit produktivem Eigenschaffen erfahren.

Als Fazit unserer Beschäftigung mit der japanischen Kurzgedichtform


Haiku, zunächst diskursiv auf theoretische, dann auf praktische Art,
können wir festhalten:
Wir haben eingesehen, wie ergiebig es sein kann, wenn wir stärker
komparatistisch arbeiten und dabei nicht nur abendländisches Geistes-
schaffen beachten, sondern mundiales. W i r haben uns auf radikale
Fremdheitserfahrungen eingelassen, um von etwas ergriffen werden zu
können, was uns bislang fremd war. Dabei haben wir auch weltweite
Gemeinsamkeiten im poetischen Schaffen erkennen können. W i r sind
durch Orientierung an der fernöstlichen Reduktionsform veranlaßt
worden, bündiger und konzentrierter und gestalthafter zu texten. Und
wir haben schließlich durch das Texten von Literatur-Kurzgedichten
die beglückende Koinzidenz von Literaturrezeption und kreativer Ei-
genproduktion erfahren können.
Gisbert Keseling

Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse und


Bearbeitung von Schreibstörungen

1. Grundlagen

Zu meinem Lehrveranstaltungsrepertoire im Rahmen des Fachgebiets


Germanistische Linguistik gehören unter anderem auch Schreibsemi-
nare, in denen den Teilnehmern die Möglichkeit geboten wird, ihre
Schwierigkeiten beim Schreiben zu bearbeiten. Das Schreiben literari-
scher Texte ist dabei nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, die Teil-
nehmer relativ schnell und ohne längere Vorbereitung zum Schreiben
zu bringen und sich mit den dabei auftauchenden Problemen ausein-
anderzusetzen.
Die als dreitägige Kompaktseminare durchgeführten Veranstaltun-
gen sind ein Nebenprodukt eines von der Deutschen Forschungsge-
meinschaft geförderten Forschungsprojekts »Textproduktion«, in dem
es um die Erforschung der aktionalen und mentalen Prozesse beim
Verfassen von Sachtexten geht.1 Wir gingen dabei von der Hypothese
aus, daß Schreiben als innerer Dialog organisiert ist und daß die von
Sacks, Schegloff und Jefferson beschriebenen Mechanismen mündli-
cher Kommunikation wie Orientierung am Rezipienten, Sprecher-
wechsel, Sequenzierung und das organisierte Vorkommen von Repa-
raturen in verkappter Form auch in schriftlicher Textproduktion auf-
findbar sind, jedoch so, daß diese Prinzipien an dem fertigen, in Rein-
schrift geschriebenen Text nicht mehr ohne weiteres erkennbar sind.
Die Orientierung am Rezipienten, so unsere Annahme, zeigt sich beim
Schreiben in der Weise, daß sich Autoren einen idealisierten Rezipien-
ten konstruieren, der ihnen vorgibt, was und wie sie zu schreiben ha-
ben. Sprecherwechsel und sequentielle Organisation müßten sich unter
anderem im Pausenverhalten aufzeigen lassen, derart, daß die Autoren
ihren Text in Segmenten produzieren, die durch Pausen voneinander

1
Um Schreibpausen, Körperpostitionen, Blick etc. festzuhalten, werden die
Autoren mit zwei Kameras gefilmt und die Manuskripte anschließend nach
einem speziellen Verfahren transkribiert. Außerdem werden in einigen Ver-
suchsserien die Autoren dazu aufgefordert, den Schreibvorgang durch sog.
lautes Denken (laute Kommentare) zu begleiten. - Bislang wurden die Text-
sorten Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Textes (summary), Weg-
beschreibung, geschäftlicher Brief, Gebrauchsanweisung untersucht.
60 Gisbert Keseling

abgetrennt sind, ähnlich wie die konversationeilen Einheiten durch po-


tentielle oder tatsächliche Übergangsorte mit Pausen usw. gegliedert
sind. Die Produktion eines mehrere oder viele Segmente umfassenden
Textes könnte man sich dann als Herstellung einer Folge sequentiell
organisierter Einheiten vorstellen, wobei der Autor in ständigem Wech-
sel die Sprecherrolle und die Rezipientenrolle einnimmt und dabei suk-
zessive als Sprecher eine Schreibeinheit (einen Satz oder Teilsatz) pro-
duziert, konditionelle Relevanzen aufbaut 2 und als Rezipient darauf
reagiert und/oder antwortet. Das würde bedeuten, daß auch die Pro-
duktion fortlaufender Texte lokal organisiert ist. Zugleich würde dieses
Prinzip eine Erklärung für die Tatsache abgeben können, daß Autoren
in der Lage sind, Texte zu verfassen, ohne vorher zu wissen, was diese
im einzelnen enthalten werden, welchen Umfang sie haben und wie sie
aufgebaut sein werden. Soweit in verkürzter Form die Hypothesen, mit
denen wir unsere Arbeit begannen.
Die Untersuchung der Schreibaufnahmen, der nachträglichen Inter-
views und insbesondere der lauten Kommentare, mit denen unsere Ver-
suchspersonen ihren Schreibprozeß begleiteten, ergab allerdings, daß
wir die Komplexität der den Schreibvorgang organisierenden Prinzi-
pien unterschätzt hatten. Zwar ließ sich zeigen, daß die Versuchs-
personen auch bei flüssiger Textproduktion nach Sätzen zumeist Pau-
sen einlegen und daß sie, wenn man sich auf die lauten Kommentare
verlassen kann, während dieser Pausen die nächsten und vor allem das
unmittelbar nächste Textsegment vorplanen, daß es also in der Tat so
etwas wie eine lokale Planung gibt; es konnten darüber hinaus jedoch
auch mentale Prozesse aufgezeigt werden, die nur für schriftliche Text-
produktion einen Sinn ergeben.
Aus den lauten Kommentaren ergab sich, daß sich die meisten
Schreiber die Zeit nehmen, vor Schreibbeginn Überlegungen darüber
anzustellen, was ihr Text enthalten soll und wie er aufgebaut sein soll.
Auch während des Schreibens werden zuweilen sehr lange Denkpausen
eingelegt, die unter anderem der globalen Vorausplanung dienen. In-
teressant sind in diesem Zusammenhang die Stichworte, Skizzen, Glie-
derungen und Markierungen in den Primärtexten. Deren Analyse er-
gab, daß die Prozesse der globalen Planung zum Teil zwei- oder (selte-
ner) dreidimensional organisiert sind und daß die Randnotizen Mar-
kierungen enthalten, die die spätere Transformation in eine lineare
Kette erleichtern sollen (Keseling/Wrobel/Rau 1987). Außerdem gibt

2
Unter konditioneller Relevanz (conditional relevance) wird in der Konver-
sationsanalyse eine spezielle Beziehung zwischen den beiden Teilen einer
Paarsequenz (ζ. B. Frage - Antwort, Gruß - Gegengruß) verstanden, derart,
daß durch die Realisierung eines Paar-Teils das zweite Paar-Teil für einen
nächsten Sprecher relevant wird (ζ. B. Sacks 1972).
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse 61

es nach und zum Teil auch während des Schreibprozesses sog. Kon-
trollphasen, in denen das zuvor Geschriebene noch einmal gelesen und
gegebenenfalls geändert wird. Die Makrostruktur des Schreibprozesses
läßt sich also als Folge von drei Makro-Phasen darstellen: globale Pla-
nung, Formulieren, Kontrollieren, wobei die mittlere Phase in unre-
gelmäßigen Abständen durch Phasen globaler Planung u n d / o d e r Kon-
trolle unterbrochen sein kann. In etwa entspricht dies dem von Gal-
perin (1969, 1973), Α. N. Leontjew (1971), Α. A. Leont'ev (1975) im
Rahmen der Wygotskischule entwickelten Tätigkeitsmodell mit den
Phasen Orientierung, Ausführung, Kontrolle. Demgegenüber scheint
der Formulierungsprozeß zumindest in Phasen flüssiger Produktion
weitgehend lokal organisiert zu sein. Der Schreibfluß wird hier mehr
oder weniger regelmäßig durch Satzpausen von mittlerer Länge unter-
brochen. Die während dieser Pausen ausgeführten Aktivitäten schei-
nen geordnet zu sein: Wenn Autoren sich Gedanken über den Inhalt
ihres nächsten zu schreibenden Satzes machen (Reflexionen), dann er-
scheinen diese in den lauten Kommentaren zuerst. Diese Phase wird
dann abgelöst von sogenannten lauten Vorformulierungen, die der an-
schließenden Niederschrift vorausgehen und mit dieser im Großen und
Ganzen, aber nicht immer vollständig übereinstimmen. Wichtig für
den Schreibprozeß ist nun das Verhältnis von Reflexionsphase und
Vorformulierungsphase: in den lauten Kommentaren zu den Wegbe-
schreibungen enthalten die Reflexionen und die Vorformulierungen
ein gemeinsames Wort, in der Regel eine Ortsbezeichnung oder einen
Orientierungspunkt. Abgesehen von diesem einen Wort (in selteneren
Fällen ist es auch eine Phrase) sind Reflexion und Vorformulierung
sprachlich jedoch in keiner Weise identisch. Erstere sind metasprach-
liche Ausdrücke vom Typ »jetzt schreibe ich am besten über X«, wäh-
rend die letzteren der Objektsprache angehören. Das gemeinsame Wort
X scheint den Anstoß zur Formulierungsphase zu geben,· denn die
Reflexionen werden häufig mit dem Auftauchen des Wortes X abrupt
abgebrochen. Ebenso abrupt taucht jetzt eine erste Vorformulierung
auf; aus dem Wort X wird ein Satz oder ein Teilsatz, der plötzlich als
Einheit da ist. D. h. eine Vorformulierung wird nicht Wort für Wort zu
dem »Anstoßwort« X hinzukonstruiert, sondern sie taucht als Ganz-
heit im Bewußtsein auf.
Vorformulierungen scheinen nun der »Ort« zu sein, an dem der
Autor seinen Satz oder seinen Teilsatz evaluiert. Das geschieht in der
Weise, daß in kritischen Situationen, d. i. insbesondere bei nicht flüs-
siger Produktion, der Satz oder Teilsatz oft mehrmals verbal modifi-
ziert wird, in der Regel jedoch so, daß der Satzrahmen, die syntaktische
Struktur und größere Teile der lexikalischen Füllung beibehalten und
nur einzelne Wörter ausgetauscht werden. Manchmal wird in solchen
62 Gisbert Keseling

Fällen der Rahmen viele Male hintereinander wiederholt, wobei es


nicht selten bei der ersten Formulierung bleibt. Dieser ganze Prozeß
scheint auf eine Art von Probehandeln hinauszulaufen. Explizite Be-
wertungen (»das ist nicht gut«, »das klingt holprig« oder ähnlich) kom-
men zwar ebenfalls vor, sind aber weitaus seltener als die Probehand-
lungen mit der Reparatur einzelner Wörter. - Kommentare und Vor-
formulierungen werden in anderer Stimmlage gesprochen. Letztere
klingen wie Diktate, erstere wie ein Stück Gespräch oder Selbstge-
spräch.
Unsere Annahme, daß die schriftliche Textproduktion nach der Art
eines inneren Dialogs mit innerem Rollenwechsel zwischen Produzen-
ten und Rezipienten in einer Person organisiert ist, erwies sich also als
zu einfach. Zwar ließ sich zeigen, daß Autoren auf ihren aktuell letzten
Satz nach der Art einer Antwort reagieren, indem sie Fortsetzungen
ausprobieren und gegebenenfalls verwerfen, jedoch ließ sich nicht
nachweisen, daß den Schreibern dabei ein Rollenwechsel bewußt ist. Es
scheint eher so zu sein, daß die Autoren ihre Textproduktion durch
Aktivitäten begleiten, die auf einen Wechsel von selbstgesprächsähnli-
chem Kommentar und Probeformulierung mit regelmäßigem Ebe-
nenwechsel hinauslaufen. Ob sich hier die aus Konversationen bekann-
ten Paarsequenzen abbilden, mag dahingestellt bleiben. Die Untersu-
chungen hierzu sind noch lange nicht abgeschlossen (vgl. Rau).
Unabhängig von den obigen Hypothesen ergab sich, daß Autoren,
wenn sie flüssig schreiben, ein Textmuster abarbeiten, wobei für die
Textproduktion die im Muster enthaltenen formelhaften oder einför-
migen Ausdrücke wichtig sind. Routinierte Schreiber übernehmen die-
se Ausdrücke mehr oder weniger automatisch und bringen sie in eine
von den Erfordernissen ihres individuellen Textes abhängende Ord-
nung, wobei die ihnen bewußte Arbeit vor allem darin besteht, die in
den formelhaften Ausdrücken enthaltenen Leerstellen mit inhaltlich
relevanten Ausdrücken zu füllen. So bestehen Wegauskünfte ζ. B. zum
einen Teil aus formelhaftem Material wie »dann gehst Du -«, »danach
überquerst Du - « und zum anderen Teil aus den in die Leerstellen
einzusetzenden Ortsbezeichnungen usw. Es zeigt sich, daß die Fähig-
keit, einen Text flüssig und sachgerecht zu schreiben, weitgehend vom
Grad der Kenntnis und der Beherrschung des Textmusters abhängt
(Einzelheiten s. Keseling 1984, 1987a, 1987b, Keseling/Wrobel/Rau
1987, Wrobel/Steuble 1983, Wrobel 1986, Wrobel/Rau 1986).
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse 63

2. Organisation der Schreibseminare

Die Idee, Hypothesen oder Ergebnisse unseres Forschungsprojekts für


ein Seminarkonzept zu verwenden, entstand zu einem Zeitpunkt, als
die zuletzt erzielten Ergebnisse noch nicht vorlagen. Die für den Leser
leicht feststellbaren Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis erklä-
ren sich allerdings nicht nur hieraus, sondern außerdem aus dem spe-
ziellen Zweck der Seminare. Deren Ziel ist nicht die Vermittlung einer
Theorie oder deren Umsetzung in die Praxis, sondern die Bearbeitung
aktuell auftretender Schreibschwierigkeiten. Die Frage, ob diese immer
mit den im Projekt beschriebenen Prozessen zusammenhängen, schien
dem gegenüber von zweitrangiger Wichtigkeit zu sein.
Es bot sich an, die Veranstaltung nach der Art einer mit Gestaltprin-
zipien arbeitenden Balint-Gruppe zu organisieren. Für die konkrete
Durchführung bedeutete dies, die Teilnehmer dazu anzuhalten, wäh-
rend des Seminars zu schreiben und im Anschluß an jede Schreibü-
bung die aufgetretenen Probleme nicht nur anzusprechen, sondern ge-
gebenenfalls auch in Szene zu setzen, um auf diese Weise auch die
emotionalen Anteile bearbeitbar zu machen.
Die Schreibübungen sind so angelegt, daß zu ihrer Ausführung be-
stimmte Probleme gelöst werden müssen, bei denen Schwierigkeiten
voraussehbar sind. Wenn irgend möglich, werden diese im anschließen-
den Gespräch nicht generell, sondern als Problem eines einzelnen Teil-
nehmers bearbeitet, der der Gruppe sein Schreibproblem nach der Art
eines >Falles< vorträgt. Erst in einer späteren Phase versuche ich, das
Problem zu verallgemeinern. Es gibt keinen vorausgeplanten Ablauf
mit einer im vorhinein festgelegten Reihenfolge von Übungen, sondern
ich wähle aus einem Grundrepertoire jeweils diejenige Übung aus, von
der ich glaube, daß sie dem aktuellen Entwicklungsstand der Gruppe
oder einzelner Teilnehmer angemessen ist oder daß sie das Gruppen-
geschehen in einer bestimmten Richtung beeinflussen kann. Zum
Grundrepertoire gehören unter anderem die folgenden Übungen:

(1) Zehn Minuten lang ohne Pause schreiben mit vorgegebenen oder frei zu
wählendem Thema ( = sich warm schreiben).
(2) Variation von (1): 10 Minuten ohne Pausen schreiben, in den nächsten 10
Minuten Pausen einlegen, wenn es notwendig ist.
(3) In dem ohne Pausen geschriebenen Text nach einem Muster oder einer
Struktur suchen. Was ist neu oder was ist altbekannt?
(4) Einen vorgegebenen Textanfang mustergerecht fortsetzen.
(5) In einem zuvor geschriebenen Text nach Stellen suchen, an denen sich der
Autor »O. K.« bzw. nicht »O. K.« fühlte, die entsprechenden Stellen verschie-
denfarbig unterstreichen.
(6) Einen Text oder Textteil auf zwei nebeneinanderliegenden verschieden-
farbigen Blättern schreiben, einem Reinschriftblatt und einem Kladdenblatt.
64 Gisbert Keseling

(7) Zwei Teilnehmer schreiben gemeinsam einen Text.


(8) Einem anderen einen Text diktieren.
(9) Als Ergänzung im Anschluß an (8): dem Partner bei einem zu zeichnen-
den Bild die Hand führen. - Erschwerender Zusatz: der andere hat die Mög-
lichkeit durch passiven Widerstand bestimmte Striche, Figuren etc. zu verhin-
dern.
(10) Erschwerung von (8): Der ganzen Gruppe einen Text diktieren.
(11) Einen im Rollenspiel geführten Dialog oder einen natürlichen Dialog
als: (a) Szene für ein Theaterstück, (b) Hörspielszene, (c) Teil eines Filmdreh-
buchs, (d) Dialog in einer Erzählung schreiben.
(12) Ein vorgegebenes oder selbst auszuwählendes Thema nacheinander als
Tagebucheintragung, Brief, Erzählung, Dialog, Gedicht usw. bearbeiten.
(13) Im Anschluß an Übung (1): Nur in Hauptsätzen schreiben und/oder den
ganzen Text oder einen größeren Textteil in einem einzigen beliebig langen Satz
schreiben. Anschließende Frage: »Finden Sie in diesen Texten Ihr Muster wie-
der, oder haben Sie unfreiwillig für sich etwas Neues entdeckt?«
(14) Dialog schreiben, den die rechte Hand mit der linken Hand führt.
(15) Variationen von (14): Vorher die Hände betrachten, aufschreiben, was
die linke Hand kann; dann mit der linken Hand ein Bild malen. Erst danach
den Dialog zwischen den beiden Händen.
(16) Dialog zwischen dem Kopf und einem (zu wählenden) anderen Körper-
teil schreiben.
(17) Innerhalb einer bestimmten Zeit zu einem vorgegebenen oder frei zu
wählenden Thema einen Text schreiben. Danach den inneren Kritiker zu Wort
kommen lassen und zum Schluß mit diesem einen schriftlichen Dialog führen.
(18) Sich einen unsympathischen, verhaßten, gefürchteten und/oder als >ek-
lig< empfundenen Menschen vorstellen und anschließend möglichst ohne vor-
heriges Überlegen und ohne Schreibpausen diesen Menschen darstellen.
(19) Den Stift, das Blatt Papier, die Schreibunterlage usw. sprechen lassen
und einen schriftlichen Dialog mit ihnen führen. ,
(20) Zu einer geplanten größeren Arbeit Stichworte und eine Gliederung
schreiben.
(21) Einen Text unter erschwerten Bedingungen schreiben, indem der Semi-
narleiter in bestimmten Abständen Erläuterungen zu dem vorgegebenen Thema
abgibt und auf diese Weise den Formulierungsprozeß immer wieder unterbricht.
(22) In einem bereits geschriebenen Text nachträglich etwas einfügen.
(23) Zu einer größeren Arbeit, die bereits ganz oder zu größeren Teilen fertig-
gestellt ist, eine halb- Oder ganzseitige Zusammenfassung schreiben.
(24) Variation zu (23): Zuefst zu einer noch nicht fertiggestellten größeren
Arbeit eine Zusammenfassung schreiben, danach die Fortsetzung ebenfalls als
Zusammenfassung, Projektskizze o. ä. schreiben.
(25) Einen zu Anfang des Seminars geschriebenen Text zwei Tage später noch
einmal lesen: was hat sich in der Einschätzung jetzt geändert? Worauf haben Sie
beim Lesen hauptsächlich geachtet, was würden Sie jetzt gern noch ändern?
(26) Wahrnehmungs- und Meditationsübungen (s. dazu unten).

Wie leicht zu sehen ist, dienen diese Übungen verschiedenen Zwecken.


Zum Teil haben sie einen mehr technischen Charakter und dienen da-
zu, neue Formen und neue Schreibtechniken auszuprobieren öder be-
stimmte Phasen bzw. Komponenten des Schreibprozesses zu isolieren,
um diese anschließend den Teilnehmern bewußt zu machen. In ande-
Kreative Schreibseminare als Mittel zur A n a l y s e 65

ren Übungen überwiegt dagegen der kreative Aspekt: die Dialoge zwi-
schen Körperteilen, mit dem unsympathischen oder >ekligen< Men-
schen usw. sollen die Teilnehmer dazu bringen, beim Schreiben nicht
nur >sich selbst< zu gestalten, sondern Rollen anzunehmen und verin-
nerlichte >Stimmen< von Eltern, Freunden, Partnern usw. lebendig wer-
den zu lassen und diese unter Umständen auch beim Schreiben aus-
zuleben, d. i. den inneren Dialog mit einem Widersacher o. ä. nicht nur
als technisches Schreibproblem, sondern als (nicht immer bewußtes)
Problem der eigenen Lebensgeschichte anzusehen. Wie sich in allen
bisher durchgeführten Schreibseminaren zeigte, wirken sich solche dia-
logischen Schreibübungen auch auf den Gruppenprozeß aus, derart,
daß in den szenischen Darstellungen Übertragungen auf andere Grup-
penmitglieder deutlich werden. Wenn sich beim Vorlesen oder in den
Gesprächseinheiten Präferenzen für ganz bestimmte Themen u n d /
oder Charaktere zeigen, werte ich dies als mögliches Indiz für die
Wirksamkeit aktueller Übertragungen, auf die ich in der Regel jedoch
nicht verbal, sondern durch die Auswahl bestimmter Schreibthemen
reagiere, um auf diese Weise - mehr oder weniger stumm - einen be-
gonnenen Gruppenprozeß voranzutreiben und, wichtiger noch, um da-
durch für eine latente Verzahnung von Schreib- und Gesprächssitzun-
gen zu sorgen. - Es ist mir wichtig, daß den Teilnehmern diese innere
Verbindung deutlich wird und daß sie lernen herauszuspüren, wann in
ihren Texten Elemente aus dem Hier und Jetzt auftauchen. Nur letz-
teres thematisiere ich explizit, manchmal verwende ich dazu auch
Wahrnehmungs- und Meditationsübungen nach dem Vorbild von
Perls/Hefferline/Goodman und Stevens, die ich in der Regel allerdings
so modifiziere, daß der Schreibprozeß und dessen Produkte im Mittel-
punkt stehen. Manche dieser Übungen beziehen sich ausschließlich auf
die materielle Seite des Schreibens, die verwendeten Materialien, die
Schrift, den Raum, die Tische und die mitanwesenden anderen Teil-
nehmer (z.B. wer sitzt mit wem an einem Tisch, wer bevorzugt einen
Tisch für sich allein, welchen Blickkontakt, welchen Austausch von
Schreibmaterialien gibt es usw.).
Ich merke an, daß diese gestalttherapeutischen oder -pädagogischen
Elemente meiner Seminare nicht nur eine äußere Zutat sind und auch
nicht nur der praktischen Ausgestaltung der Seminare geschuldet sind,
sondern daß sich hier gewisse Übereinstimmungen in der gemeinsa-
men theoretischen Grundlage von Gestalttherapie und Psychodrama
auf der einen Seite und unserem auf Konversationsanalyse und Tätig-
keitstheorie gründenden Forschungsprojekt auf der anderen Seite ab-
zeichnen. Ich denke dabei insbesondere an das Rollenkonzept, an die
in der kulturhistorischen Schule entwickelte Theorie der inneren Spra-
che bzw. des inneren Sprechens und die von Wygotski vertretene Auf-
66 Gisbert Keseling

fassung von der dialogischen Organisation des Denkens sowie an be-


stimmte Ideen der Gestaltpsychologie, weniger jedoch an die psycho-
analytischen Grundlagen der Gestalttherapie Perls'. Auf diesen Punkt
kann ich hier nicht weiter eingehen. Für die psychologisch-therapeu-
tisch-pädagogische Seite verweise ich auf Arbeiten von Brown, Petzold,
Petzold/Orth sowie auf den ebenso übersichtlichen wie informativen
Handbuchartikel von L. Hartmann-Kottek-Schroeder; für die Tätig-
keitstheorie auf Galperin (1969 und 1973), Keseling (1979), Α. N.
Leontjew (1971), Α. A. Leont'ev (1975), Wygotski (1969); für unseren
eigenen Ansatz auf Keseling, Keseling/Rau/Wrobel, Wrobel und Wro-
bel/Rau.
Das Seminar ist als dreitägige Kompaktveranstaltung konzipiert und
wurde bislang viermal durchgeführt.

3. Beispiele für Schreibstörungen und deren Bearbeitung


in dem Seminar

3.1 Schwierigkeiten, den Schreibfluß aufrechtzuerhalten oder ihn


in Gang zu setzen

Immer wieder beklagen sich Teilnehmer darüber, daß sie bestimmte


Schreibübungen nicht ausführen oder nicht abschließen können, weil
ihnen keine passenden Formulierungen einfallen. Mitten im Schreiben
stockt ζ. B. der Schreibfluß oder eine Formulierung wird nicht als gut
befunden, und es geht nicht mehr weiter. Dafür gibt es verschiedene
Gründe. Einer davon ist der folgende: Es gibt Zeiten und Situationen,
in denen uns Formulierungen leicht fallen, und es gibt umgekehrt Si-
tuationen, in denen wir uns damit schwer tun. D. h. wir können das
Hervorbringen von Formulierungen nicht erzwingen oder mit dem
Verstand steuern, sondern Formulierungen fallen uns ein, tauchen
spontan in unserem Bewußtsein auf, und zwar nicht nur in Form ein-
zelner Wörter, die wir um ein zweites, drittes und viertes Wort ergän-
zen, wie im Dominospiel, sondern in Form von Wortketten, syntakti-
schen Konstruktionen, Phrasen, Sätzen oder Teilsätzen usw. Wir haben
die Absicht über etwas Bestimmtes zu schreiben, wissen aber noch
nicht, mit welchen Worten wir es ausdrücken, und plötzlich ist eine
Formulierung da. D. h. der Übergang vom Denken über eine Sache zur
Formulierung ist abrupt. Wir können uns zwar vornehmen, jetzt nach
Möglichkeit mit der Formulierung zu beginnen, wir können aber nicht
eine bestimmte Formulierung planen. Dieser zerebral ablaufende Pro-
zeß entzieht sich unserem Bewußtsein.
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse 67

Damit hängt ein weiteres z u s a m m e n : Eine erste Formulierung zieht


oft mehr oder weniger automatisch einen zweiten, dritten und nächsten
Satz oder Teilsatz nach sich; plötzlich >sind wir mitten drin< und unser
Text schreibt sich d a n n gleichsam von selbst. Da Schreibern diese Tat-
sachen nicht bewußt sind, versuchen sie immer wieder, Formulierun-
gen und Formulierungsphasen zu erzwingen. Gelingt ihnen dies nicht,
suchen sie nach Ursachen, versäumen aber, ihre Hypothesen, die ihnen
in diesem Z u s a m m e n h a n g einfallen, ernsthaft zu überprüfen. Eines der
Hauptziele der Schreibseminare besteht daher darin, solche falschen
G r ü n d e zurückzuweisen und die Autoren immer wieder auf die
Spontaneität ihrer Formulierungseinfälle hinzuweisen. Zwar ist bislang
wenig über die Bedingungen bekannt, die flüssiges Formulieren för-
dern oder h e m m e n , jedoch ist sicher, daß das Nachdenken über For-
mulierungen oder gar über deren G r a m m a t i k die Intuition eher
hemmt. Dies ist der Hintergrund der Übung (1): Schreiben ohne Pau-
sen. Die Aufforderung, irgendetwas schriftlich zu formulieren und da-
bei das bewußte Planen und Formulieren zwangsläufig zurückzustellen
(Vorausplanungen und Überlegungen zur G r a m m a t i k usw. werden
normalerweise in den Schreibpausen angestellt), setzt mehr oder we-
niger automatisch einen Formulierungsprozeß in G a n g ; oft werden
nicht nur unerwartet neue Muster, sondern auch neue Ideen produ-
ziert. Übung (1) wird daher im Verlauf des Seminars mehrfach wieder-
holt und bei Auftreten von sogenannten Schreibhemmungen gezielt
eingesetzt. - Eine andere Strategie ist die Empfehlung, beim Auftreten
von Formulierungsstörungen den Schreibprozeß zunächst zu unter-
brechen, im Z i m m e r herumzulaufen oder gegebenenfalls mit einem
Notizblock eine Weile spazierenzugehen.
Die Störung, um die es hier geht, ist, wenn man so will, eine Rhyth-
musstörung. Der rhythmische Wechsel von Nachdenken über das zu
Schreibende u n d A u s f ü h r u n g (d. i. das Hervorbringen von Formulie-
rungen) ist gestört; letzteres erhält ein Übergewicht, so daß der (rhyth-
mische) Ebenenwechsel (s. Kap. 2) nicht mehr regelmäßig vollzogen
werden kann. Die Strategien zur Behebung dieser Störung laufen dar-
auf hinaus, die Phasen des bewußten Nachdenkens vorübergehend aus-
zuschalten oder zu reduzieren und den Schreiber auf diese Weise in die
Lage zu versetzten, ein G e f ü h l f ü r seinen Rhythmus zu gewinnen. Im
Anschluß an Ü b u n g (1), die ich manchmal kombiniert mit Übung (3)
anwende, spreche ich dieses G e f ü h l an und versuche, zusammen mit
den Teilnehmern geeignete Ausdrücke zu finden.
68 Gisbert Keseling

3.2 Probleme mit dem Textmuster.


Wie originell sollten oder können Texte sein?

Eine weitere Ursache für stockenden Schreibfluß, die mit den in 3.1
angesprochenen Gründen häufig einhergeht, ist fehlendes oder nicht
aktualisiertes Textmuster-Wissen: Bei der Aufgabe (12), nacheinander
ein und dasselbe Thema als Tagebucheintragung, Brief, Erzählung, Dia-
log und Gedicht zu schreiben, scheiterten die meisten Autoren derart,
daß sie mindestens mit einer dieser Formen Schwierigkeiten hatten. In
dem anschließenden Gespräch zeigte sich, daß die meisten Teilnehmer
mehr oder weniger an ihrem Muster klebten. Tagebuch und Brief wa-
ren die beliebtesten Formen, erst dann kamen Gedicht, Dialog und
Erzählung. Ein eigentümlicher Widerspruch stellte sich heraus: Schrei-
ben geht uns auf der einen Seite nur dann von der Hand, wenn wir
unser Muster gefunden haben und dieses in irgend einer Form abar-
beiten; andererseits empfinden wir aber die Muster häufig als Klischees
und stellen den Anspruch, originell zu sein. Auf solche Widersprüche
reagiere ich als Seminarleiter gelegentlich mit paradoxen Anweisun-
gen, indem ich dazu auffordere, von einem vorgegebenen Muster auf
keinen Fall abzuweichen oder indem ich eine Liste phraseologischer
Ausdrücke vorgebe und auffordere, daraus einen sinnvollen Text zu
kombinieren, dabei aber auf keinen Fall etwas Eigenes hinzuzufügen.
Der (vergebliche) Versuch, solche Texte ohne Verstoß gegen diese An-
weisung zu verfassen, führt zu absurden und oft komischen Resultaten,
über deren Analyse es manchmal gelingt, eine Diskussion über das
Verhältnis von Muster und persönlicher Aussage in Gang zu setzen
und die Einsicht zu vermitteln, daß beides notwendig ist und daß wir
Originalität nicht dadurch erreichen können, daß wir jegliches Muster
verwerfen.
In anderen Fällen versuche ich, den (in der Regel hinderlichen) Ori-
ginalitätsanspruch dadurch aufzubrechen, daß ich im Gespräch den
Begriffskomplex >originell< usw. umdefiniere und als Vorbereitung
dazu die Teilnehmer auffordere, in ihren bereits geschriebenen Texten
nach Passagen zu suchen, die ihnen so vorkommen, als habe sie je-
mand anderes geschrieben oder die ihnen in irgendeiner Form als »für
sie neu« erscheinen. Dazu erweisen sich besonders die Dialoge zwi-
schen Körperteilen und andere aus der Gestalttherapie und -pädagogik
adaptierte Übungen als geeignet. Manche Teilnehmer entdeckten im
Anschluß an solche Übungen, daß sie bestimmte Wendungen aus
mündlichen Alltagsdialogen übernommen hatten und daß sie es ge-
schafft hatten, dafür eine bestimmte Form zu finden, die sie bislang
noch nie verwendet hatten. Solche Passagen empfanden sie als origi-
nell, und sie erinnerten sich, daß es ihnen bei deren Niederschrift oder
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse 69

beim späteren Lesen dieser Stellen »recht gut ging«. Sie hatten das
Gefühl, für sich etwas Neues entdeckt zu haben, Teile eines Musters,
das sie sich im Moment des Schreibens selbst geschaffen hatten. Die
Originalität bestand jedoch in erster Linie aus der von den Schreibern
selbst gefundenen (und nicht übernommenen) Anpassung alltagsdia-
logischer Momente an die schriftliche Form oder, wie man es auch
ausdrücken könnte, in der Übernahme und Verkörperung einer Rolle,
was mit Petzold/Mathias einen aktiven und schöpferischen Prozeß er-
fordert und nicht nur die Realisation einer unterstellten Erwartung
seitens eines tatsächlichen oder vorgestellten Partners. 3
Insgesamt gehören allerdings die mit Originalität, Muster, eigenem
Stil usw. zusammenhängenden Phänomene zu den am schwersten zu
bearbeitenden Problemen. Autoren entwickeln offenbar einen schwer
erklärbaren Widerstand, sich intensiv und im Detail mit ihren eigenen
Produkten auseinanderzusetzen und scheinen eher pauschale (negative
oder positive) Urteile vorzuziehen.

3.3 Probleme mit Stichworten und Gliederungen

Von der Aufgabe, unter Termindruck ein vorgegebenes oder frei zu


wählendes Thema zu bearbeiten und abzuschließen, fühlten sich einige
Seminarteilnehmer beflügelt, andere dagegen gelähmt. Schon in der
Schule, sagen die letzteren, hätten sie gelernt, daß es unter Druck nicht
geht und daß sie dementsprechend auch nichts zustandebringen.
»Schreiben kann ich nur für mich allein, am besten abends, wenn ich
weiß, daß ich so lange weiterschreiben kann, wie ich will, und daß mich
niemand stört«, sagt eine Teilnehmerin. Andere stimmen ihr zu: »Be-
sonders die Anwesenheit anderer stört mich; deswegen bringe ich auch
in Klausuren nicht das zustande, wozu ich eigentlich in der Lage wäre«.
- »Woran sind Sie nun wirklich gescheitert?« frage ich, »ich halte es
für unwahrscheinlich, daß wir Menschen so verschieden veranlagt
sind, daß die einen nur unter Druck, die anderen nur ohne jeden
Druck schreiben können«, entgegne ich und fordere dazu auf, den
Schreibprozeß so genau wie möglich zu rekonstruieren. »Ich habe
zuerst Stichworte gemacht und hatte vor, daraus als nächstes eine Glie-
derung zu machen. Aber schon nach dem dritten oder vierten Stich-
punkt fiel mir plötzlich eine Einleitung ein, ein erster Satz. Ich habe
ihn hingeschrieben, und plötzlich war ich mitten im Schreiben meines
endgültigen Textes.« - Ich: »Wollten Sie das?« - Teilnehmerin: »Nein,

3
Petzold/Mathias, S. 149ff. (Kap. 3.3.2 »Zum Modell einer integrativen Rol-
le«.)
70 Gisbert Keseling

es kam so. Ich war so glücklich, daß mir überhaupt etwas eingefallen
war.« - Bei weiterem Nachfragen stellt sich heraus, daß der Teilneh-
merin genau dies zum Verhängnis geworden war. Sie bemerkte ziem-
lich bald, daß sie sich beim Schreiben verrannt hatte und machte dann
einen neuen Anfang, um beim dritten Versuch endgültig aufzugeben.
-»Sie wollten zwei, vielleicht sogar drei Probleme gleichzeitig lösen«,
kommentierte ich später, »und daran sind Sie gescheitert. Stichwort
und endgültiger Text sind zwei verschiedene Textsorten, die Sie nicht
gleichzeitig verfassen können; das eine erfordert Distanz und einen
klaren Kopf, beim anderen müssen Sie sich - zumindests bei Ihrem
Thema - auch emotional einbringen.« - Bei späterer Gelegenheit
fordere ich die Teilnehmer explizit dazu auf, für einen Text zunächst
Stichworte zu schreiben und diese anschließend zu analysieren. Es stellt
sich heraus, daß ein Drittel der Teilnehmer niemals gelernt hat, Stich-
worte oder Gliederungen zu schreiben, obwohl mir alle darin zustim-
men, daß diese für bestimmte Schreibaufgaben eigentlich unentbehr-
lich sind. Die linguistische Struktur von Stichworten war den meisten
neu.

3.4 Der innere Kritiker

Die Tatsache, daß es einen inneren Kritiker gibt, der den Schreibpro-
zeß begleitet und steuert, ist den meisten Teilnehmern bewußt, noch
ehe dessen Existenz im Seminar thematisiert wird. Zweck der Schreib-
aufgabe (17) ist daher nicht so sehr, diesen Kritiker aufzuzeigen, als auf
die produktiven oder zerstörerischen Potentiale hinzuweisen und letz-
tere gegebenenfalls zu bearbeiten. Ich benutze die Dialoge mit dem
inneren Kritiker dazu, herauszufinden, wann und an welchen Phasen
des Schreibprozesses sich der Kritiker hauptsächlich bemerkbar macht.
Aus den Antworten ergibt sich, daß er im Prinzip zwar immer da ist,
daß er bei flüssigem Schreiben jedoch in den Formulierungsphasen
und in den (mittellangen) Pausen während des Formulierens zu-
rücktritt. Aber sobald der Schreibfluß stockt, so versichern mir die Teil-
nehmer, trete der Kritiker hervor, und Schreiben werde häufig zur
Qual. Es stimmt dann auf einmal nichts mehr, und plötzlich wimmele
der zuvor geschriebene Absatz von Unzulänglichkeiten oder Fehlern.
Auch beim späteren Durchlesen sei dies häufig so.
Meine Bearbeitungsstrategien laufen in solchen Fällen auf dreierlei
hinaus: ich versuche einerseits durch weitere Fragen oder kleinere Zu-
satzübungen den Teilnehmern bewußt zu machen, was beim Ausden-
ken von Formulierungen in ihnen vorgeht, daß sie in den (mittellan-
gen) Pausen ununterbrochem damit beschäftigt sind, sich Formulierun-
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse 71

gen einfallen zu lassen und diese gegebenenfalls so lange zu modifizie-


ren, bis sie >passen< und hingeschrieben werden können. Dieses ge-
dankliche Ändern, so versuche ich zu zeigen, ist im Prinzip aber schon
eine Art von Kritik, d. i. ein Verwerfen von zuvor Ausgedachtem, eine
Kritik, die jedoch deswegen konstruktiv ist, weil sie in eine sofortige
>Reparatur< des kritisierten Ausdrucks ausmündet. - Die zweite Stra-
tegie zielt darauf ab, die Schreiber für Stockungen zu sensibilisieren:
Wenn Reparaturen mehrfach nicht mehr auf Anhieb gelingen und For-
mulierungen nicht mehr wie von selbst kommen, kann dies ein Zei-
chen dafür sein, daß etwas nicht stimmt, daß sich der Schreiber ζ. B. im
Muster >vergriffen< hat oder daß er nicht weiß, worüber er als nächstes
überhaupt schreiben will; und daß er deshalb die Formulierungsphase
besser für eine Weile unterbricht bzw. sie durch eine Kontroll-
und/oder Planungsphase ablöst. - Eine dritte Strategie wende ich vor
allem an, wenn die Kritik selbstzerstörerische Züge annimmt und die
Autoren - häufig bei späterem Lesen - nicht mehr fähig sind, die Kri-
tik zu lokalisieren und stattdessen alles Geschriebene pauschal ver-
urteilen. Hier kommt es in der Bearbeitung vor allem darauf an, die
Autoren von ihrer >alles oder nichts<-Einstellung abzubringen und sie
davon zu überzeugen, daß es sich lohnt, das Geschriebene noch einmal
genau bis zu Ende zu lesen und dabei so etwas wie eine Entdeckerpo-
sition einzunehmen, d. i. zu versuchen, den Text ganz oder teilweise
mit fremden Augen zu lesen.
Die drei Strategien haben im Bearbeitungsprozeß einen unterschied-
lichen Stellenwert: Die beiden ersten sind im Prinzip nichts anderes als
Exteriorisationen mentaler Vorgänge, wobei im ersten Fall flüssiges
Schreiben und im zweiten Fall der (manchmal plötzliche und manch-
mal mehr allmähliche) Übergang zu unflüssiger Produktion bewußt
gemacht wird. Beides spiegelt einen Normalfall wider, jedoch mit dem
Unterschied, daß Schreiber häufig nur den ersten Fall als normal, den
zweiten dagegen häufig als Störung erleben. Die Bearbeitung hat zum
Ziel, den Schreibern zu vermitteln, daß es sich auch im zweiten Fall
nicht um Störungen handelt, sondern um normale Krisen, die dem
Autor anzeigen, daß sich in seinen mentalen Aktivitäten etwas ge-
ändert hat und es deswegen angezeigt sein kann, seine Schreibstrategie
vorübergehend zu ändern. Die Exteriorisation des als normal erlebten
Schreibprozesses ist dann lediglich Mittel zum Zweck; sie dient dazu,
den Schreiber für die Unterschiede zwischen flüssigem und unflüssi-
gem Formulieren zu sensibilisieren, um negative Bewertungen des letz-
teren und die damit verbundenen Störungen im Erleben bearbeiten zu
können. - Demgegenüber zielt die dritte Strategie sowohl auf unfunk-
tionales Erleben wie auch auf unfunktionales Verhalten ab, und zwar
nicht so sehr in Bezug auf die Produktion als auf die Schreibprodukte
72 Gisbert Keseling

und deren negative Bewertung seitens des Autors. Bearbeitungsziel ist


hier die Reduktion negativer Werturteile auf ein realistisches Maß und
eine Veränderung im Verhalten während der abschließenden Makro-
kontrollphase. - Die beiden folgenden Beispiele mögen die Strategien
(1/2) und (3) veranschaulichen. (1/2) bezieht sich also auf unfunk-
tionale Kritik während des Formulierens, (3) dagegen auf Kritik wäh-
rend der Kontrollphase.

3.4.1 Erstes Beispiel


Im Anschluß an die Schreibübung (17), die unter verschärften Bedin-
gungen durchgeführt wurde (Termindruck, Unterbrechungen durch
den Seminarleiter, Mahnungen sich Mühe zu geben, an richtigen Stel-
len Pausen einzulegen, von Zeit zu Zeit das Geschriebene zu lesen
usw.), war die Stimmung der Teilnehmer aggressiv aufgeladen: »Ob-
wohl ich vom Verstand her schnell durchschaut hatte, daß dies nur eine
Übung ist und daß Sie Ihre Drohungen mit Vorlesen usw. nicht wahr
machen würden, fühlte ich mich eingeschränkt«, sagte die Teilneh-
merin A. »Ich war schlechter als sonst und ärgerlich darüber.« - »Es
war schlimm«, ergänzte die Teilnehmerin B, »ich mußte einsehen, daß
mein Kritiker recht hatte. Ich konnte ihm nichts entgegnen. Ich habe
mich geschämt.« Andere stimmen zu; es sei ihnen ähnlich gegangen.
Teilnehmer Κ dagegen meint, er habe sich seine Wut auf den Kritiker
und auf die Situation von der Seele geschrieben und dabei sei es ihm
zusehends besser gegangen und auch sein Text sei dadurch besser, le-
bendiger und kraftvoller geworden, was sich selbst an der Handschrift
gezeigt habe. »Und das ist nicht eine Sache des Rechthabens«, sage ich,
»sondern es ist Ihnen gelungen, ein momentanes Gefühl und vielleicht
auch momentane Phantasien in ihren Text einfließen zu lassen. Sie
waren beim Schreiben so sehr in Fahrt, daß es Ihnen gelungen ist,
Ihren Kritiker in Schach zu halten!« - Aber wie sich denn der innere
Kritiker sonst noch bemerkbar gemacht habe, frage ich die Gruppe. -
Teilnehmerin Β und andere: Der Kritiker sei so mächtig geworden, daß
sie nicht mehr hätten weiterschreiben können. - »Waren Sie ebenfalls
wütend?« frage ich, und nachdem beide dies bejahen, möchte ich wis-
sen, was sie mit ihrer Wut angefangen hätten. - Sie sei gelähmt gewe-
sen, wiederholt A, und vorübergehend habe sie sich dann weder mit
dem Kritiker auseinandersetzen können, noch überhaupt schreiben
können. - Die innerliche Flucht, die Α hier ausdrückt, kommentiere
ich mit der Frage, was der Kritiker denn an ihrem Text kritisiert habe,
ob es mehr um einzelne Formulierungen oder um den Text als Ganzes
gegangen sei. - Um einzelne Details, entgegnet sie, und darüber habe
sie sich dann auch mit dem Kritiker in ihrem Dialog gestritten, ohne
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse 73

allerdings zu einer Einigung zu kommen. Es sei kein richtiger Streit


gewesen, sondern eher ein gegenseitiges Anmeckern, ohne viel Energie.
- Ob es sein könne, daß sie beim Schreiben die Lust verloren hätte und
ob sie solche Situationen kenne, frage ich. - Nicht nur B, sondern auch
andere bejahen diese Frage, meinen aber, das sei normal und es kom-
me darauf an, sich in solchen Fällen wieder »warm« zu schreiben, um
in Stimmung zu kommen. - »Oder aber die Anzeichen von Unlust
ernst zu nehmen und nach den Gründen zu fragen«, entgegne ich und
schließe die Frage an, ob sie dem Kritiker denn immer glaube, dieser
könne sich doch auch irren, und um welchen Textinhalt es denn hier
gegangen sei und ob sie die fraglichen Stellen vorlesen wolle. - Α willigt
ein, und ziemlich bald stellt sich heraus, daß die Autorin hier in Wirk-
lichkeit innerlich unsicher war, daß sich ihre Unsicherheit in ab-
nehmendem Schreib- und Formulierungstempo, häufigerem Durchle-
sen der zuletzt geschriebenen Sätze und Unzufriedenheit über einzelne
Formulierungen geäußert hat, was der Kritiker dann zum alleinigen
Kritikpunkt gemacht habe, obwohl es faktisch um mehr gegangen sei. -
»So daß es also tatsächlich an der Zeit gewesen wäre, mit dem For-
mulieren erstmal aufzuhören und eine Denkpause einzulegen«, schlie-
ße ich ab.

3.4.2 Zweites Beispiel


Im Anschluß an meine Aufforderung an die Gruppe, die während des
Seminars geschriebenen Texte vor sich auf den Boden zu legen, gesteht
B, sie habe ihre Texte gestern abend vernichtet. Sie habe sie nochmal
gelesen und dann eingesehen, daß sie schlecht seien, die Vernichtung
sei wichtig gewesen, auch für sie. Diesmal bearbeite ich das Ergebnis
mit einem Gestalt-Spiel und fordere Β auf, sich vorzustellen, ihre zer-
rissenen Blätter lägen vor ihr auf einem leeren Stuhl und sie möge sie
ansprechen. »Ihr wart miserabel und hattet es verdient, kaputtgerissen
zu werden. Auch daß ich zum Schluß noch ein Glas über euch zer-
schmettert habe, geschah euch recht. Denn lange genug habt ihr mich
geärgert. Das Maß war voll.« Dann wechselt sie den Platz, um die be-
schriebenen Papierfetzen sprechen zu lassen: »Warum hast Du das ge-
tan? Wir wären gern noch am Leben, um Dir noch etwas Wichtiges zu
erzählen. Das können wir jetzt nicht mehr.« - Ich: »Wähl mal ein
Stück aus und laß dieses eine Stück sprechen!« - Β (als kleiner Papier-
fetzen): »Sieh mich mal genau an. Ich bestehe nur aus zwei Wörtern.
Bin ich wirklich so schlecht und häßlich? Ich möchte, daß Du uns
aufbewahrst.« Jetzt lächelt Β zum ersten Mal und schließt von sich aus
das Spiel ab. - Um die Szene nicht zu zerreden, frage ich zum Abschluß
nur noch nach Unterschieden in der Stimme. Die Stimme als Papier-
74 Gisbert Keseling

fetzen habe kindlicher geklungen, meinen mehrere Gruppenmitglie-


der: »Dein Text ist wie ein Kind von Dir!«. - Die hier deutlich ge-
wordene Identifikation mit dem eigenen Text thematisiere ich erst
nach der Pause: Es sei normal, daß Autoren sich mit ihrem Text identi-
fizieren, besonders unmittelbar oder kurz nach der Niederschrift hät-
ten Autoren noch kaum Abstand zu ihrem Text, und oft komme es vor,
daß sie ihn dann in der Tat wie ein Stück von sich behandelten, »wie
ein Kind, das sie geboren haben«. Aber es sei wichtig, die Mutter-
Kind-Symbiose aufzulösen, um im Bild zu bleiben, denn der Text sei
nicht ein Kind und schon gar nicht das eigene, sondern beschriebenes
Papier, das erst dadurch wieder lebendig werde, daß es andere lesen.
Für den Autor aber komme es darauf an, den Text als ein »Ding«
sehen zu können, das man verändern, umgestalten, zerteilen, weglegen
und schlimmstenfalls auch wegwerfen könne, was ohne Groll und
Trauer allerdings nur möglich sei, nachdem wir Abstand zu unserem
Text gewonnen hätten. Dazu aber brauche es Zeit.

3.5 Die Einsamkeit des Autors

Das Thema Identifikation mit dem Text kommt häufig auch in Zusam-
menhang mit anderen Übungen zur Sprache: Nach der Übungsfolge (8)
und (9) (Diktieren und Handführen lassen) sagt der Teilnehmer K, es
sei ihm und seiner Partnerin nicht gelungen, zu diktieren. Auf die Fra-
ge, warum diese Schwierigkeiten gerade beim Diktieren aufgetreten
seien, aber nicht bei der Zeichenübung, bei der doch wegen des Kör-
perkontakts und des Verbots zu sprechen wesentlich größere Schwie-
rigkeiten zu erwarten gewesen seien, reagiert Κ mit Betroffenheit: Er
könne die Schwierigkeit nur konstatieren, habe aber keinerlei Erklä-
rung dafür. - Was Diktieren für ihn bedeute, ob es ihn an etwas anderes
erinnere, frage ich. - Er könne eine Antwort nur in Form eines Bildes
geben. Schreiben sei für ihn wie Verstecken. - Aber er wolle doch, daß
seine Stücke gelesen und aufgeführt würden, »warum dann dieses Ver-
stecken?«, fragt ein Teilnehmer. - Darum gehe es nicht. Wenn ein Text
oder ein Teil daraus erst einmal fertig sei, könne jeder ihn lesen; selbst
die härteste Kritik störe ihn dann nicht mehr, er suche sie sogar. Aber
beim Schreiben selbst sei er außerordentlich störbar; auch daheim zie-
he er sich dabei zurück, und es störe ihn schon, wenn seine Frau nur
vorübergehend ins Zimmer komme. - Ob ich ihn richtig verstanden
hätte, frage ich, wenn er damit sagen wolle, daß es nicht so sehr seine
Gedanken oder Formulierungen seien, die er verstecken wolle, sondern
daß er sich beim Niederschreiben selbst verstecke. - Ja, dies sei es. Beim
Diktieren habe er ständig Angst gehabt, seine Partnerin würde ihm ins
Kreative S c h r e i b s e m i n a r e als Mittel zur A n a l y s e 75

Wort fallen, sich einmischen, es besser wissen als er, »das wollte ich
nicht, ich hätte sonst den Faden verloren, alles wäre in mir verstummt,
und deswegen habe ich meine Diktierversuche schließlich aufgegeben«.
- »Aber indem Sie es aufgegeben haben, sind sie tatsächlich ver-
stummt«, ergänze ich und schließe die Frage an: »Warum sind wir
beim Schreiben so verwundbar, daß wir manchmal verstummen, noch
ehe ein anderer sich einmischt? Könnte es sein, daß Schreiben eine
Methode ist, die dazu dient, Einmischungen von außen zu entgehen?«
An diesem Punkt schaltet sich die ganze Gruppe ein: Das gemeinsame
Thema ist jetzt die Frage, warum wir überhaupt schreiben und wo-
durch sich schriftliche von mündlicher Kommunikation unterscheidet.
Jemand verweist auf die Einsamkeit des Autors, der Rückmeldung,
wenn überhaupt, oft erst zu einem Zeitpunkt erhält, wenn er sich in-
nerlich von seinem Text schon lange gelöst hat, wenn er den Dialog,
den er beim Schreiben mit sich selbst führte, schon abgeschlossen hat.
Diesen Gedanken benutze ich, um abschließend noch einmal auf K's
Problem zurückzukommen: »Wenn wir schreiben, führen wir in der
Tat einen Dialog mit uns selbst, oder genauer gesagt mit einem Leser,
den wir uns selbst geschaffen haben und der gleichzeitig ein Stück von
uns ist. Wir schlüpfen abwechselnd in die Rolle des Lesers, der den
zuletzt hingeschriebenen Satz liest und wahrnimmt, und in die Rolle
des Schreibers, der auf diesen Satz mit einem nächsten Satz antwortet
oder ihn ergänzt. Wir sind Sprecher und Hörer in einer Person. Eine
real anwesende Person, von der wir fürchten, sie könnte den einen Part
unseres Dialogs übernehmen, würde dabei stören. Genau dies war das
Problem beim Diktieren. Und der Widerspruch, daß Sie beim Schrei-
ben selbst Rückmeldungen usw. verhindern wollen, daß sie aber da-
nach den lesenden Partner suchen, dieser Widerspruch löst sich dahin-
gehend auf, daß im Moment des Formulierens ihr Text ein Dialog ist,
den Sie mit sich als Leser führen, daß sich später jedoch dieser dialo-
gische Charakter verliert.«
Wie meistens greife ich auch in diesem Fall einen Gedanken bei
späterer Gelegenheit noch einmal auf, um auf den technischen Aspekt
hinzuweisen und Gegen-Strategien zu entwickeln: »Die Störbarkeit
während des Schreibens hat ihren guten Grund; alle unsere Kräfte sind
in diesem Moment durch das innere Rollenspiel voll absorbiert. Aber
wir sollten uns davor hüten, aus der Einsamkeit des Autors eine Reli-
gion zu machen. Es mag zwar sein, daß manche Autoren deswegen
schreiben, weil sie mit dem Leben nicht zurechtzukommen scheinen
oder weil sie mit mündlicher Kommunikation Schwierigkeiten haben.
Aber dazu gibt es auch Gegenbeispiele. Der Punkt ist, daß sie Formu-
lierungen nicht ohne das Innere-Dialog-Prinzip zu Papier bringen kön-
nen. Diese Technik erfordert eine einzelne Person, ähnlich wie eine
76 Gisbert Keseling

Gitarre oder eine Geige normalerweise nur von einer Person gespielt
wird und nicht von mehreren. Formulieren zu zweit oder zu mehreren
ist bis heute ein Sonderfall geblieben. Es ist deswegen wichtig, daß wir
uns beim Formulieren die Bedingungen schaffen, die für ungestörtes
Arbeiten erforderlich sind, und ζ. B. auch dafür sorgen, daß sich beim
Diktat der Schreiber nicht einmischt, was seiner tatsächlichen Rolle
nicht entspricht; auch ein Mikrophon wäre dazu nicht in der Lage.«

4. Prinzipien der Bearbeitung von Schreibstörungen

Das Gemeinsame dieser Beispiele ist u. a. der folgende Punkt: Be-


stimmte Textsorten oder bestimmte Phasen innerhalb der Textproduk-
tion erfordern ganz bestimmte Techniken, während andere Techniken
hier weniger geeignet sind. Da vieles beim Schreiben qua Routine ab-
läuft, können auch die entsprechenden Techniken und deren Adäquat-
heit oder Inadäquatheit nicht bewußt wahrgenommen werden. Schrei-
bern unterlaufen daher immer wieder Irrtümer hinsichtlich der von
ihnen gewählten Verfahren: Wo ζ. B. vorherige Stichworte, anschlie-
ßende Umorganisation der Stichworte zu einer Gliederung nützlich ge-
wesen wären, lassen die Schreiber sich vorzeitig zu endgültigen For-
mulierungen verleiten, merken dies aber entweder gar nicht oder erst,
nachdem sie viel vergebliche Zeit verloren haben; oder sie wählen un-
bewußt ein ungeeignetes Textmuster, so daß ihr Text unbeabsichtigter
Weise ζ. B. zu konkret gerät, zu umfangreich wird und in der vorgese-
henen Zeit nicht abgeschlossen werden kann.
Als besonders störanfällig erweist sich der Prozeß des Formulierens,
die Niederschrift. Obwohl viele Autoren theoretisch wissen, daß sie
ihren Text in Form eines inneren Dialogs hervorbringen, und daß diese
Tätigkeit keine Störungen verträgt, ziehen sie daraus nicht die richtigen
Konsequenzen und mystifizieren die sich daraus ergebenden Probleme,
indem sie sich, wie die Teilnehmerin B, mit ihrem Text auch noch zu
einem Zeitpunkt identifizieren, wo der Text lange abgeschlossen ist
und wo vielleicht nachträgliche Änderungen des inzwischen zur >Sa-
che< gewordenen Textes angebracht gewesen wären. Oder sie akzeptie-
ren nicht, daß sich Formulierungen nicht erzwingen lassen und daß es
sinnvoll ist, den Moment abzuwarten, an dem gute Formulierungen
wie von selbst im Bewußtsein auftauchen, um solche Momente, viel-
leicht auch zur Unzeit, auszunutzen.
Der in solchen Fällen aufkommende Ärger wird wegen des Routine-
Charakters der technisch-organisatorischen Prozesse in der Regel auf
Aspekte des Inhalts oder des guten oder schlechten Ausdrucks um-
geleitet, oder er mündet in eine diffuse Unzufriedenheit aus, die im
Kreative Schreibseminare als Mittel zur Analyse 77

Falle der Teilnehmerin Β zur Vernichtung aller im Verlauf des Se-


minars geschriebenen Texte führt, begleitet v o n weiteren Mystifikatio-
nen und falschen Verallgemeinerungen in Bezug auf die Fähigkeit oder
Unfähigkeit zu schreiben. D i e Bearbeitung solcher Probleme enthält
dann im wesentlichen zwei oder drei Phasen: In einer Anfangsphase
kommt es darauf an, das Problem aus der Sichtweise des Autors bewußt
zu machen und den Autor darin zu bestärken,diese Probleme und den
damit verbundenen Leidensdruck überhaupt für sich anzunehmen,
während die zweite Phase dazu dient, das Problem so umzudefinieren,
daß es auf die technisch-organisatorische Seite des Schreibprozesses be-
zogen werden kann. Erst dann sind - als dritte Phase - technische
Übungen sinnvoll, die dazu dienen, unzweckmäßiges Verhalten durch
zweckmäßigeres zu ersetzen und letzteres einzuüben.

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Kaspar Η. Spinner

Kreatives Schreiben und literaturwissenschaftliche Erkenntnis

Schreibseminare, wie sie in Hochschulen heute immer häufiger ange-


boten werden, gelten in der Regel als Alternative zum traditionellen
Studienbetrieb: Statt des logischen Denkens, der Bemühung um Objek-
tivität, der rezeptiven Wissensaneignung sollen das Gefühl, der subjek-
tive Ausdruck, das produktive Selbermachen im Vordergrund stehen.
Mit den folgenden Hinweisen möchte ich zeigen, in welcher Weise die
kreativen Verfahren auch literaturwissenschaftliche Erkenntnisse zu
vermitteln vermögen, so daß nicht von einem notwendigen Wider-
spruch zwischen der Freude am Spielerischen, der Entfaltung von
Phantasie und der Kundgabe persönlicher Erlebnisse einerseits und der
theoretischen Reflexion und der Analyse und Interpretation von Tex-
ten andererseits ausgegangen werden muß.
Ich gehe so vor, daß ich die verschiedenen Möglichkeiten, wie krea-
tives Schreiben für literaturwissenschaftliche Einsichten fruchtbar ge-
macht werden kann, der Reihe nach skizziere. Dabei verfahre ich ty-
pisierend, indem ich die methodischen Verfahren, die in der Seminar-
arbeit meist in gemischter Form auftreten, auf ihre Grundmuster zu-
rückführe. Damit hoffe ich, Klarheit in die Vielfalt bringen zu können.
Grundlage meiner Ausführungen ist meine eigene Lehrerfahrung in
der Hochschule, die natürlich von mancherlei Anregungen aus der ein-
schlägigen Fachliteratur beeinflußt ist. Eine wichtige Rolle spielen die
kreativen Verfahren heute im Deutschunterricht der Schulen, so daß
insbesondere die neuere deutschdidaktische Literatur eine Fundgrube
für methodische Vorschläge ist. So ist auch meine Arbei in Hoch-
schulseminaren stark durch die Entwicklungen, die in der Deutschdi-
daktik stattgefunden haben, angeregt worden.
Die Verfahren, die ich im folgenden darstelle, schließen Vorstufen
des eigentlichen kreativen Schreibens ein. Kreativität muß nicht den
schöpferischen Genius voraussetzen, sondern beginnt eher beim
spielerischen Experiment. Mit solchen Möglichkeiten setze ich hier ein,
und man kann die Abfolge, in der ich die Verfahren nenne und cha-
rakterisiere, zugleich als ein Schreibcurriculum verstehen, mit dem
man Studierende, denen der Ansatz noch fremd ist, zum freien krea-
tiven Schreiben hinführen kann.
80 Kaspar Η. Spinner

1. Operative Verfahren

Operative Verfahren sind vor allem in der Sprachwissenschaft und -di-


daktik entwickelt worden. Mit sog. Proben wie Klang-, Verschiebe-,
Ersatz-, Umformungsprobe hat ζ. B. Hans Glinz ein Instrumentarium
geschaffen, mit dem linguistische Kategorien entdeckt werden können.
In modifizierter und erweiterter Form können solche Operationen
auch bei der Analyse von Texten eingesetzt werden. Dabei wird der
fertige Text sozusagen in den Zustand des Gemacht-Werdens zurück-
versetzt und der Produktionsprozeß vom Leser nachvollzogen. Als sol-
che operativen Verfahren kommen ζ. B. in Frage:
- Bei einem Text werden einzelne Wörter weggelassen; die Seminarteil-
nehmer setzen aus einem Wortangebot, das bereitgestellt wird, Wörter
ihrer Wahl in die Lücken ein. Mit diesem Vorgehen wird die Auf-
merksamkeit für den Bedeutungshorizont einzelner Wörter geschärft,
und je nach Text werden auch stilistische Aspekte ins Bewußtsein ge-
hoben (wenn ζ. B. eine Assonanz oder der Rhythmus die Wortwahl
bestimmen).
- Ein Text oder Textteil soll in veränderter Erzählperspektive umge-
schrieben (ζ. B. Ich-Form statt Er-Form) oder in ein anderes Tempus
gesetzt werden. Durch Vergleich der Textfassungen kann dann die Lei-
stung der Erzählperspektive bzw. der Tempuswahl erkannt und erörtert
werden.
- Ein Text soll in eine andere Textsorte umgewandelt werden, ζ. B. eine
Kurzgeschichte in eine Nachricht. Dadurch wird man auf Aspekte der
Textstruktur und der textsortenspezifischen Wirkung aufmerksam.
Bei solchen operativen Verfahren ist die Phantasie noch recht stark
gebunden, weil nach Regeln oder festen Anweisungen geschrieben
wird. Die geplante Gewinnung bestimmter Einsichten steht deutlich im
Vordergrund. Deshalb findet man solche Verfahren zuweilen in ein-
führenden literaturwissenschaftlichen Publikationen: Die »generativen
Übungen« ζ. B., die Jürgen Link in seinen »Literaturwissenschaftlichen
Grundbegriffen« anbietet, haben zu einem großen Teil operativen
Charakter; in verwandter Weise setzt Klaus Weimar in seiner »En-
zyklopädie der Literaturwissenschaft« (vor allem im Teil »Poetik«, die
er als »experimentelle Poetik« oder »Mitmachkabinett« bezeichnet)
operative Verfahren ein.
Kreatives Schreiben und literaturwiss. Erkenntnis 81

2. Antizipierende Verfahren

Größere Gestalungsfreiheiten eröffnen die antizipierenden Verfahren:


Texte oder Textteile werden von den Seminarteilnehmern geschrieben,
bevor der entsprechende originale Text oder Abschnitt bekanntgegeben
wird. Die einfachste Form dieses Verfahrens besteht darin, unvollstän-
dig ausgegebene Texte von den Seminarteilnehmern weiterschreiben zu
lassen. Dabei kann es ζ. B. um die letzte Zeile eines Gedichtes, den
Schluß einer Kurzgeschichte oder auch den Anfang eines Folgekapitels
in einem Roman gehen. Ziel ist nicht unbedingt, dem Originaltext
möglichst nahe zu kommen - das würde rasch zu einem Ratespiel aus-
arten. Gerade auch abweichende Eigengestaltungen können für die In-
terpretation fruchtbar werden, weil durch sie ζ. B. die historische Dis-
tanz zwischen heutiger Leseerwartung und originalem Text sichtbar
wird.
Eine andere Variante des Verfahrens besteht darin, daß zunächst nur
eine Inhaltsangabe des zu behandelnden Textes zur Verfügung gestellt
wird und die Teilnehmer nun versuchen, auf dieser Grundlage eine
Textfassung zu konzipieren. Einen spielerischen Charakter gewinnt
dieses Vorgehen, wenn bereits die Inhaltsangaben von den Teilneh-
mern selbst erstellt werden (wobei mehrere Texte zur Verfügung stehen
müssen); die Inhaltsangaben werden dann ausgetauscht, und jeder ent-
wirft zu einer Inhaltsangabe, deren Ausgangstext er nicht kennt, eine
Textfassung. - Es versteht sich, daß dieses antizipierende Schreiben nur
bei kürzeren Texten angewendet werden kann (ζ. B. bei Schwankerzäh-
lungen, Kurzgeschichten u. ä.).
Bei reimlosen Gedichten bietet sich als antizipierendes Verfahren
die Erstellung der Zeilengliederung an. Dazu wird der Gedichttext
ohne Zeilengliederung (also wie Prosa geschrieben) ausgegeben und
von den Seminarteilnehmern nun umgebrochen. Man lernt durch die-
ses Verfahren viel über die Funktion der Zeilengliederung: interessante
Erfahrungen habe ich ζ. B. mit dem Gedicht »Einen jener klassischen«
von Rolf Dieter Brinkmann 1 gemacht:

Einen jener klassischen

schwarzen Tangos in Köln, Ende des


Monats August, da der Sommer schon
ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer

1
Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1975, S. 25.
82 Kaspar Η. Spinner

dunklen Wirtschaft, die einem


Griechen gehört, hören, ist beinahe
ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment
Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,
die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich
schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten
dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.

Wer mit moderner Alltagslyrik nicht vertraut ist, wird kaum auf eine
Gliederung kommen, die der Brinkmanns nahesteht. Dessen extreme
Verwendung des Zeilensprungs kontrastiert in der Regel mit den selbst
erstellten Vorschlägen, die in ihrer Weise durchaus ebenfalls reizvoll
und überzeugend sein können. Ein Gespräch über die Funktion und
Wirkung verschiedener Zeilengestaltungen ist jedenfalls unmittelbar
gegeben.

3. Nachahmende Verfahren

Nachahmende Verfahren haben eine lange Tradition: Bis ins 19. Jahr-
hundert hinein lernte man bei den Professoren für Poetik und Rhetorik
nicht nur das Analysieren, sondern auch das Verfassen von Texten
nach Mustern. Unter dem Einfluß der Genieästhetik ist jedoch seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts das Schreiben literarischer Texte zu-
nehmend vom wissenschaftlichen Umgang mit ihnen abgekoppelt und
damit die Unterweisung im Dichten aus den Hochschulen (zumindest
Europas - in den USA sind die Verhältnisse bekanntlich anders) hin-
ausgedrängt worden. Erst heute besinnt man sich wieder auf die da-
durch verschütteten Traditionen. Allerdings erheben wir nicht mehr
den Anspruch, in unseren Universitäten Poeten heranzubilden; das
nachahmende Verfahren wird eher als methodischer Zugang zum ana-
lytischen Umgang mit Texten verstanden, weil es zu einer besonders
genauen und intensiven Beachtung von Stil und Struktur der Vorlagen
anhält. Nun eignen sich allerdings keineswegs alle Texte für das nach-
ahmende Verfahren. Gerade bei besonders eigenständigen, individuell
geprägten Texten ist es problematisch, nachahmend zu verfahren; denn
was die Qualität einer solchen Vorlage ausmacht, ihre Originalität und
Authentizität, kann in der Nachahmung gerade per definitionem nicht
eingeholt werden. Deshalb eignen sich jene Texte besser, bei denen ein
Kreatives Schreiben und literaturwiss. Erkenntnis 83

überindividuelles Muster deutlich greifbar ist. Das ist ζ. B. bei kon-


kreter Poesie der Fall, deren Autoren ja auch programmatisch von der
Genieästhetik Abschied genommen haben und die rationale Machbar-
keit von dichterischen Produkten proklamieren. Eine besonders gelun-
gene Anwendung des nachahmenden Verfahrens habe ich in einem
Seminar erlebt, in dem eine studentische Arbeitsgruppe den Dadaismus
vorstellen sollte. Statt nun über Dada theoretisch zu referieren, funk-
tionierte die Gruppe ohne jede Vorwarnung das Seminar in ein dada-
istisches Happening um. So erlebten wir - fast bis zum körperlichen
Unbehagen, aber auch als befreiende Belustigung - an uns selber die
irritierende, normendurchbrechende Wirkung des Dada, Inbegriffen
die Verunsicherung, der man sich ausgesetzt sieht, wenn auf ernstge-
meinte Fragen plötzlich nur noch mit dadaistischem Unsinn reagiert
wird...
Oft gleitet die Nachahmung in die Parodie über. Wer den Stil eines
Vorbildes in gekonnter Weise trifft, erzielt rasch eine belustigende Wir-
kung. Die eigentliche Parodie hat darüber hinaus eine gezielt demas-
kierende Funktion. Sie überspitzt die Stileigentümlichkeiten einer Vor-
lage und gibt sie so dem Gespött preis. Ebenso wird eine parodistische
Wirkung erzielt, wenn man der Nachahmung einen banalen oder sogar
grotesken Inhalt unterlegt, so daß Stilhaltung und Inhalt auseinander-
klaffen. Leicht fallen Parodien bei trivialen, kitschigen Texten, weil bei
ihnen die Stilmuster und die inhaltlichen Stereotypen penetrant in Er-
scheinung treten und ein uneingelöster ästhetischer Anspruch erhoben
wird. Das parodierende Verfahren ist bei der Beschäftigung mit solchen
Texten besonders angebracht, weil sich die demaskierende Wirkung der
Parodie mit der kritischen Intention deckt, die man in der Regel bei der
Behandlung von Trivialliteratur verfolgt.

4. Verfremdende Verfahren

Man kann schon die Parodie als ein verfremdendes Verfahren be-
zeichnen, sofern nicht nur die Vorlage nachgeahmt, sondern durch
Übertreibung der Stileigentümlichkeiten oder durch Unterlegung eines
unpassenden Inhalts eine kritische und zugleich komische Distanz zum
Ausgangstext geschaffen wird. Es gibt aber viele weitere Möglichkeiten
der Verfremdung. Die wichtigste Methode ist die Montage: In einen
Text werden Sätze oder auch nur einzelne Formulierungen aus anderen
Texten (oder auch selbst formulierte Sätze) einmontiert. So kann man
ζ. B. in ein traditionelles Naturgedicht ökologische Aussagen ein-
montieren. Bewußtmachen von historischer Distanz und Ideologiekri-
tik sind die Hauptintentionen, die mit solcher Verfremdung verfolgt
werden können.
84 Kaspar Η. Spinner

Größerer Einfallsreichtum ist gefordert, wenn man in einen Erzähl-


text sich selbst hineindichtet und darstellt, wie man selbst in der fikti-
ven Welt gehandelt hätte. Im übrigen kann man Verfremdungen im
Rahmen anderer Verfahren einsetzen, ζ. B. wenn man beim Weiter-
schreiben eines unvollständig ausgegebenen Textes die Fiktion durch-
bricht und den Autor kritisch-ironisch thematisiert oder auf aktuelle
Gegebenheiten der Schreibgruppe Bezug nimmt.

5. Erweiterndes Schreiben

Stärker herausgefordert ist die eigene Gestaltungsfähigkeit bei Schreib-


aufgaben, die zwar an Vorlagen anknüpfen, aber zum selbständigen
Weiterschreiben mit dem Ziel auffordern, den Ausgangstext weiter zu
entfalten. Die einfachste Variante besteht darin, bei Textstellen, die
sich dafür anbieten, einen inneren Monolog, ein Tagebuch oder einen
Brief einer Figur zu phantasieren und niederzuschreiben. Besonders
eindrückliche Ergebnisse zeitigte das erweiternde Verfahren, als wir in
einem Seminar die Kurzgeschichte »Flörli Ris« von Kurt Marti 2 zum
Ausgangspunkt fürs Schreiben machten. Die Kurzgeschichte erzählt
von einer Buchhalterin, die in einer Winternacht in den Tod geht. Wir
stellten uns die Aufgabe, über Flörli Ris aus der Sicht von Personen, die
sie gekannt haben, nachzudenken (etwa als Wiedergabe von Gedanken,
die der betreffenden Person während der Abdankung durch den Kopf
gehen). So entstand ein phantasiertes Bild vonFlörli Ris aus der Sicht
von Arbeitskollegen und Nachbarn - und auch ein langjähriger
Freund, dessen Heiratsangebot Flörli Ris aus Rücksicht auf ihre Mutter
abgelehnt hatte, tauchte in unseren Texten auf. Zwar führt die phanta-
sierende Auseinandersetzung bei solchen Arrangements ζ. T. weit über
den Ausgangstext hinaus (von einem Freund ist in Martis Text ζ. B.
überhaupt nicht die Rede), aber dennoch halten sie zur genauen Ver-
gegenwärtigung seines Inhalts an. Immer wieder werden in den selbst-
geschriebenen Texten unscheinbare Details der Vorlage reich entfaltet
und damit in den Vordergrund der Aufmerksamkeit gerückt. Insgesamt
liegt der Ertrag bei solchen Schreibaufgaben weniger auf der formalen
als auf der inhaltlichen Ebene: sie vertiefen die Auseinandersetzung
mit der Botschaft des Textes. Mit seiner Kurzgeschichte bringt Kurt
Marti in fragender Zurückhaltung dem Leser einen Menschen näher,
der im alltäglichen gesellschaftlichen Leben von den meisten überse-
hen wird - durch das Schreibarrangement wird dieses Anliegen Martis
weitergeführt.
2
Kurt Marti: Bürgerliche Geschichten. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand
1981, S. 64-69.
Kreatives Schreiben und literaturwiss. Erkenntnis 85

Ein komplizierteres Arrangement entfaltenden Schreibens spielten


wir - in einem anderen Seminar - in bezug auf Büchners »Lenz«
durch. Ausgangspunkt waren zunächst Oberlins Aufzeichnungen über
Lenz, also Büchners Vorlage. Wir vollzogen im Sinne antizipierenden
Schreibens in verkürzter Form das Vorgehen Büchners nach, indem
wir einen Ausschnitt aus Oberlins Tagebuch selbst erzählend entfalte-
ten. Ausgewählt hatte ich die folgende Stelle:

Ich erfuhr ferner, daß Herr L..., nach vorhergegangenem eintägigen Fasten,
Bestreichung des Gesichts mit Asche, Begehrung eines alten Sacks, den 3.
Hornung ein zu Fouday so eben verstorbenes Kind, das Friedericke hieß,
aufwecken wollte, welches ihm aber fehlgeschlagen.

An das Vorlesen der so entstandenen Texte und die darauffolgende


Lektüre der Büchnerschen Fassung schloß sich eine Art Schreibspiel
an: In Anlehnung an Oberlins Formulierung dachte sich jeder Teilneh-
mer eine Situation aus, die er mit den Worten »Ich erfuhr ferner, daß
...« als Einleitung knapp beschrieb. Es kam dabei zu Kurztexten wie

Ich erfuhr ferner, daß R. B. gegen Nachmittag das Heim verließ und sich auf
den Weg zum Bahnhof machte. Unterwegs kaufte er in der Apotheke eine
Schachtel Schlaftabletten. Der Erzieher E. griff ihn um 2.00 nachts in H. auf.
Ich erfuhr ferner, daß er seinen Entschluß, nach Australien auszuwandern,
nach langem Zögern und Abwägen doch in die Tat umgesetzt hat.

Die Blätter mit diesen Situationscharakterisierungen wurden ausge-


tauscht; jeder schilderte nun das Geschehen, das er auf dem ihm zuge-
kommenen Blatt genannt fand, aus der Perspektive eines Beteiligten,
Angehörigen oder Bekannten der Hauptfigur, und zwar in Ich-Form.
Nach dieser Schreibphase wurden die Blätter wieder weitergegeben, der
jeweils nächste Schreiber schilderte das Geschehen in Er-Form nun so,
daß die Erlebnisperspektive der Hauptfigur zum Ausdruck kam (per-
sonale Erzählform). Durch dieses Arrangement erfolgte eine schritt-
weise Annäherung an die jeweilige Hauptfigur, eine immer stärkere
Vergegenwärtigung der Innenperspektive des Betroffenen. Auf exem-
plarische Weise konnte so eine Hauptleistung der Erzählliteratur, die
Vergegenwärtigung fremder Erlebnisperspektiven, verdeutlicht werden
(gerade dafür kommt dem Text Büchners eine bahnbrechende Bedeu-
tung zu: Schilderung einer ausbrechenden Geisteskrankheit so, daß der
Leser das Geschehen erlebnismäßig nachvollziehen kann). Durch den
Wechsel der Erzählhaltung konnten zugleich grundlegende erzähltheo-
retische Einsichten gewonnen werden; die Vermittlung von Innenper-
spektive in Er-Form erforderte ζ. B. eine personale Erzählweise und
legte erzähltechnische Mittel wie die erlebte Rede nahe, die man in
Büchners »Lenz« sozusagen in statu nascendi beobachten kann.
86 Kaspar Η. Spinner

6. Freies Schreiben

Vom erweiternden Schreiben ist es kein großer Schritt mehr zum freien
Schreiben. Dieses ist nun nicht mehr auf einen bestimmten vorliegen-
den Text bezogen und kann deshalb nicht als direktes Mittel für Text-
analyse und -interpretation eingesetzt werden. Wohl aber ermöglicht
das freie Schreiben grundsätzliche Einsichten in den literarischen Pro-
duktionsprozeß. Wer ζ. B. selbst Gedichte macht und mit anderen dar-
über diskutiert hat, wird aufmerksamer für poetische Ausdrucksmög-
lichkeiten (ζ. B. für metaphorische Prozesse, Klangbeziehungen, rhyth-
mische Gestaltung usw.), und wer beim Schreiben von Prosa einmal
erfahren hat, wie eine Geschichte sich während des Schreibprozesses
entfaltet und so dem Schreibenden ihr eigenes Gesetz aufzwingt, der
wird nicht mehr der Ansicht sein, beim literarischen Produktionspro-
zeß werde zuerst eine Aussageabsicht gefaßt und diese anschließend in
literarische Gestaltung umgesetzt, wie es die verkürzte Frage »Was will
der Autor sagen« nahelegt. Auch für das freie Schreiben können Ar-
rangements und methodische Hilfen vermittelt werden, ζ. B. das Clu-
stering-^ erfahren nach Gabriele L. Rico oder mehr spielerische Va-
rianten wie das Schreiben zu Reizwörtern oder das Schreiben zu Fotos,
Bildern und Musik.
Aber nicht nur Einsichten in den Produktionsprozeß von Literatur
und Sensibilität für Ausdrucksformen vermag das freie Schreiben zu
vermitteln. Es kann ebenso der Vertiefung und Differenzierung theo-
retisch erarbeiteter Erkenntnisse dienen. So habe ich ζ. B. im Anschluß
an die Erörterung von Lesertypologien in einem Seminar den kurzen
satirischen Text »Der Papiersäufer« von Elias Canetti 3 ausgegeben und
die Seminarteilnehmer aufgefordert, nun selbst eine satirische Charak-
teristik eines Lesertyps zu schreiben, wobei den Teilnehmern völlig
freigestellt war, ob und in welchem Maße sie dabei eigene Leseerfah-
rungen, Beobachtungen an anderen Menschen, Erkenntnisse aus der
Beschäftigung mit theoretischer Literatur oder einfach eigene Phanta-
sien einbringen wollten. Die Schreibergebnisse zeigten eine erstaunli-
che Vielfalt von Aspekten, wobei gleichermaßen im Seminar Erarbei-
tetes wie eigene weiterführende Überlegungen literarisch zum Aus-
druck kamen. Stärker als das sonst im Seminarbetrieb der Fall ist, wur-
de deutlich, auf welche Weise die einzelnen Teilnehmer die Diskus-
sionsanregungen verarbeitet hatten. So können kreative Verfahren
nicht nur als Hinführung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, son-
dern auch als zusammenfassender Abschluß analytisch-theoretischer
Phasen eingesetzt werden.

3
Elias Canetti: Der Ohrenzeuge. Frankfurt/M.: Ullstein 1977, S. 72-73.
Kreatives Schreiben und literaturwiss. Erkenntnis 87

Zusammenfassung: Erkennen ist mehr als Wissensaneignung

Kreative Verfahren sind eine Möglichkeit, im Literaturstudium entdek-


kend zu lernen; sie erlauben es, literarische Strukturen und inhaltliche
Problemdimensionen durch eigene Gestaltung zu erkunden. Dieses
entdeckende Lernen bleibt nicht auf kognitive Einsicht beschränkt,
sondern schließt emotionale Erfahrung ein und ermöglicht neben dem
analytischen Vorgehen ein ganzheitliches Erfassen. Durch die Einbe-
ziehung kreativer Verfahren in die literaturwissenschaftliche Lehre
kann literarische Bildung wieder als etwas vermittelt werden, was
Geist, Gefühl und eigenes Tun in gleichem Maße anspricht und anregt.

Literaturhinweise

Karlheinz Daniels/Ingeborg Mehn: Konzepte emotionellen Lernens in der


Deutschdidaktik. Bonn-Bad Godesberg: Dürr 1985 (vor allem S. 154-173).
Jürgen Hein/Helmut Koch/Elke Liebs (Hg.): Das ICH als Schrift. Balt-
mannsweiler: Schneider 1984.
Jürgen Link: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. München: Fink 1974.
Gabriele L. Rico: Garantiert schreiben lernen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1984.
Klaus Weimar: Enzyklopädie der Literaturwissenschaft. München: Francke
1980.
Joachim Dyck

Die antike Rhetorik in der modernen Schreibwerkstatt

Schriftsteller wissen zwar nicht, warum sie schreiben, aber sie tun es.
Diese Einsicht vermittelt uns eine Umfrage der französischen Zeitung
»Liberation«, die vierhundert Autoren dieser Erde die Frage stellte:
»Warum schreiben Sie?«. Den meisten Autoren bleibt ihr Bedürfnis
selbst dunkel. Margaret Atwood beruft sich zwar auf Sartre, mit dem
sie sagt: »Ich definiere mich durch das Schreiben«, gibt aber zu: »Ich
weiß nicht, warum ich schreibe«.' Die Antwort Ernst Jüngers besteht
aus dem Satz: »Ich weiß es selbst nicht«, und auch Botho Strauß beläßt
es bei einer knappen Sentenz: »Ich habe keine Ahnung. Wenn ich ei-
nen Schimmer hätte, würde ich keine Zeile mehr schreiben«.
Offenbar folgen die Schriftsteller einem Zwang als Triebkraft ihrer
Produktivität, ohne den es nicht geht: »Ich muß zugeben, daß ich ohne
Schreiben nicht leben könnte. Es ist das einzige Mittel, das ich habe,
um die Bedeutung einer verworrenen Welt zu entdecken. Schreiben ist
für mich das Leben selbst«, antwortet der südafrikanische Schriftsteller
Andre Brink. »Schreiben ist die Antwort auf ein drängendes Bedürfnis,
eine innere Notwendigkeit«, sagt der Argentinier Jorge Luis Borges.
Schriftsteller brauchen keine Seminare über das Schreiben, sie fol-
gen ihrem »Ausdruckszwang«, wie Gottfried Benn diese unerklärliche
Bewegung nennt, 2 in der sich für manche der Sinn des Lebens konzen-
triert. Schreiben als Katharsis, als Therapie? Ja, meint der Ungar Mik-
los Meszoly, »ich will weder amüsieren noch die Welt verändern. Es
handelt sich vielmehr um meine seelische Gesundheit«.
Damit ist das Stichwort gegeben, auf Grund dessen sich die
Schreibseminare in der Institution Universität füllen, die am großen
Therapiekonzept dieser Jahre nach der Devise teilnimmt: Jeder thera-
piert jeden mit allen Mitteln.
»Schreiben oder der Schreibwunsch«, so berichtet Hermann Kinder
über seine Erfahrungen mit einer Schreibgruppe an der Universität, »ist
Teil einer krisenhaften Persönlichkeitssituation. Deshalb ist in der uni-

' Pourquoi ecrivez-vous? 400 ecrivains repondent, Liberation. Numero hors


serie, Mars 1985, S. 27. Dort auch die weiteren Zitate.
2
Gottfried Benn, Autobiographische und vermischte Schriften ( = Gesam-
melte Werke, ed. Wellershoff, Bd. IV), Wiesbaden 1961, S. 380.
Die antike Rhetorik in der modernen Schreibwerkstatt 89

versitären Schreibgruppe die Hauptaufgabe nicht, über literarische


Qualitäten zu reden, sondern sich gemeinsam anhand von Texten über
die verletzte Seele zu verständigen [.. .] In der universitären Schreib-
gruppe steht nicht das Produkt im Vordergrund, sondern die sich an
ihm artikulierenden Erlebnisse - dies nun nicht in psychiatrischer Ab-
sicht, sondern mit dem Augenmerkt auf die Differenz von persönli-
chem Befinden und Text. Schreiben als Relation von Personen und
Text macht den hauptsächlichen Bezugspunkt für die universitäre
Schreibgruppe aus. Also ist der Akt des Schreibens wichtiger als das
Geschriebene selbst. Daß nicht gezielt für andere geschrieben wird,
dies ist für diese biographische Kippsituation charakteristisch, und dem
hat sich die universitäre Schreibgruppe zu stellen. [...] Als Schreib-
unterricht, als ein Seitenpferd zum Literaturunterricht waren diese
Veranstaltungen von mir geplant. Mir ging es um sprachliche Kreati-
vität, Textsensibilität und um eine gemeinsame Schule des literarischen
Geschmacks. Genau das war nicht gefragt.« 3
Ganz anders in den USA, aus denen, wie so oft, die Anstöße kom-
men, und wo es an der University of California in Berkeley schon seit
1920 Seminare an der englischen Abteilung gibt, die für den Nachhol-
bedarf in englischer Stilistik eingerichtet wurden. Die jüngere Ge-
neration scheint die Fähigkeit zu verlieren, Gedanken sprachlich ange-
messen zu Papier zu bringen. Berufsfachverbände und Universitäten
beobachten diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. So ist etwa
die Association of American Medical Colleges dabei, einen Test zu ent-
wickeln, der bei der Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium auch
über Ausdrucksfähigkeit und Sprachvermögen der angehenden Medi-
ziner Auskunft gibt. »Die Dekane der medizinischen Fakultäten wol-
len bei der Eingangsprüfung auch die Fähigkeit der Kandidaten prüfen,
ihre Gedanken ordnen zu können«, sagt Dr. Robert Beran, ein Mit-
glied des Vorstandes der Gesellschaft. 4 Auch Harvard überlegt, ob nicht
vermehrt Schreibkurse angeboten werden sollen. »Wir bekommen An-
fänger, die keine Grundlagen mehr haben«, meint Richard Marius,
Harvards Direktor für Schreibkurse. Wenn die Fakultät zustimmt,
dann wird der geplante Kurs sich auf die einleuchtende, klare Darstel-
lung, die Logik der Argumente, auf den Stil und den allgemeinen Ge-
brauch von Wörtern konzentrieren.
Die Beschäftigung mit dem Schreibproblem begann in den USA
schon während der 70er Jahre, als Lehrer und Professoren an Schulen
3
Hermann Kinder, Die Schreibgruppe an der Universität, in: Gerd Haffmans
(Hg.), Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur, Nr. 4, 1983, S. 141-149.
Hier S. 142.
4
Diesen Hinweis und die folgenden Zitate vgl. The New York Times, Educa-
tion. Winter Survey, Section 12, January 8, 1984.
90 Joachim Dyck

und Universitäten merkten, daß die Schreibfähigkeit und damit auch


die Fähigkeit zu Argumentation und folgerichtigem Denken da-
hinsiechten. Dieses Defizit wurde gerade in dem Moment augenfällig,
als die Zugangszahlen zu den Universitäten explodierten und Pflicht-
kurse für Fremdsprachen im Zuge der Liberalisierung der undergra-
duatecurricula auf der Strecke blieben. Nicht nur strömten mehr un-
begabte Studenten an die Universitäten, sondern auch viele begabte
Studenten, die aber keine solide Ausbildung im Schreiben bekommen
hatten: Die City University of New York (CUNY) befragte 1269 Uni-
versitäten und Colleges und fand heraus, daß 31% über grundsätzliche
Schreibschwächen in weiten Teilen ihrer Studentenschaft klagten.
Dieses Problem scheint eine Gesellschaft zu spiegeln, die dem
Schreibprozeß immer weniger Aufmerksamkeit widmet. In den USA
dienen nur 3% der Arbeitszeit in der Schule und 3% der Zeit für die
Hausaufgaben dazu, mindestens einen Absatz eines in sich geschlosse-
nen Textes zu schreiben: Wenn Studenten überhaupt die Feder in die
Hand nehmen, machen sie sich kurze Notizen.
Außerdem legen die Bildungsinstitutionen mehr Wert auf Wissen
und weniger Wert auf Darstellungsfähigkeit und schriftliche Eleganz.
Die C U N Y versuchte als erste, diesem Problem zu begegnen, entwik-
kelte bereits 1974 Lehrpläne für Schreibkurse und machte mit dem
»Instructional Resource Center« den Schreibunterricht zu einem legi-
timen akademischen Fach und zum Gegenstand wissenschaftlicher Un-
tersuchung. Vor allem wurden Methoden entwickelt, die dem Schreib-
prozeß mehr Aufmerksamkeit schenken. »Die Korrektur des Selbst-
geschriebenen durch den Lehrer ist schön und gut«, sagt Dr. Sondra
Perl, Professor am Lehman College von CUNY, »unsere Unterrichts-
praxis sieht aber vor, den Studenten laut denken zu lassen, so daß man
sehen kann, was alles im Akt des Schreibens eine Rolle spielt, eine Art
geistiger Probevorstellung, bei der sich der Student fragen muß, was er
wirklich will«. Allerdings: Es gibt auch Stimmen, die behaupten, es sei
nicht schlimmer als früher auch. So Dean Richard Marius von Har-
vard: »Schreiben ist heute weder schlechter noch besser als früher. Un-
sere Anforderungen sind einfach gestiegen«. Ähnlich äußert sich die
Direktorin des Schreibprogramms an der Bucknell-University, Ca-
therine Smith. Sie glaubt nicht an eine »Schreibkrise«: »Die Professo-
ren können nicht einmal genau sagen, worin die Schwächen bestehen.
Die einen sagen, es fehle an Grammatik, die anderen meinen, die Stu-
denten benutzen zuviel Slang«.
Leider gibt es, soweit ich weiß, weder verläßliche Urteile noch wis-
senschaftliche Untersuchungen über das Schreibvermögen deutscher
Schüler und Studenten. Wie dem auch sei: Daß die Fähigkeit der Stu-
dentenschaft, so zu schreiben, daß man das Geschriebene mit Ver-
Die antike Rhetorik in der modernen Schreibwerkstatt 91

gnügen liest, nicht sehr entwickelt ist, werden die Kollegen gerne be-
stätigen.
Bei Lichte besehen ist das auch kein Wunder. Denn wie soll ein
Student Einsicht in die Kunst der Schreibens und Respekt vor der ge-
lungenen Formulierung entwickeln, wenn gutes Schreiben in der ger-
manistischen Zunft selbst k a u m besondere Achtung genießt und eher
als quantite negligable behandelt wird, wenn der Student im Laufe sei-
nes Studiums nicht ein einziges Mal den Satz hört: »Ihre Arbeit ist
schlecht geschrieben«, oder präziser: »Ihre Arbeit ist schlecht geschrie-
ben und deswegen auch schlecht gedacht. Ihr Wortschatz ist gering,
ihre Ausdrucksfähigkeit spartanisch«. D e n n geben wir es doch zu: Die
deutsche Universitätsgermanistik hat schriftstellerische Eleganz, essay-
istische Pointierung, Klarheit in der Darstellung, überzeugende Argu-
mentation und Lesegenuß nicht gerade auf ihre Fahnen geschrieben.
Das deutsche Mißtrauen gegenüber der geschliffenen Form und der
Glaube an die Unvereinbarkeit von spielerischer Darstellung und ge-
danklicher Tiefe wird sonst nirgends in Europa oder den USA geteilt.
Und schon vor einhundert Jahren beklagte H e r m a n n G r i m m , »daß vor
nicht zu langer Zeit noch die Anschauung Vertreter gehabt, ein Buch,
das mit Rücksicht auf den Deutschen Stil gut geschrieben sei, erscheine
als unwissenschaftlich«. 5 Im gleichen Sinne urteilt Victor H e h n 1887:
»Die schöne Form hat sich in Deutschland immer verdächtig gemacht«,
und Joseph Roth stellt fest: »Bei uns ist es schon ein Vorzug, nicht
schreiben zu können. W e n n einer stottert, so sagt m a n : er schreibe
u n v e r m i t t e l t und u n g e k ü n s t e l t « . »Das ist nicht Wissenschaft, sondern
ein Essay«: An diesem Urteil zerschlug sich Hofmansthals Habilitation
über den Dichter Victor Hugo.
Wir brauchen die Kette einsichtsvoller Urteile nicht zu verlängern
und k ö n n e n die Studenten exkulpieren. Schreibkurse stehen quer zur
deutschen Tradition, wenn sie den handwerklichen Charakter der
Wortproduktion betonen, den Nietzsche als Vorstufe der Kunst ansieht:
»In der Nähe gesehen, soll auch der beste Künstler sich nicht vom
Handwerker unterscheiden. Ich hasse das Lumpengesindel, das kein
Handwerk haben will und den Geist nur als eine Feinschmeckerei gel-
ten läßt«.
D e n n selbstverständlich benutzen etwa französische Schriftsteller
Hilfsmittel, Synonymen- und Homonymenlexika, Stilwörterbücher,
dazu den Littre und den »Kleinen Robert«. Diese Arbeitsmittel wider-
sprechen der geläufigen Ansicht der Deutschen von Genie, das alles
»aus sich selbst« herausholen soll: Wenn schlecht geschrieben wird,

5
Vgl. Ludwig Rohner, Der deutsche Essay, Neuwied und Berlin 1966, S. 122ff.
Dort auch die folgenden Zitate.
92 Joachim Dyck

dann meistens, weil man die Mühe scheut. Die Berufung auf den Vor-
rang des Inhalts vor der Form dient nur der Legitimation schriftstel-
lerischer Unfähigkeit.
Wir können also nicht einmal voraussetzen, daß Studenten im Be-
wußtsein dieser Unfähigkeit lebten. Die Germanistik setzt für gutes
Schreiben keinen Maßstab, und sie kritisiert die wenigen Produkte stu-
dentischen Fleißes nicht einmal mit Rücksicht auf die sprachliche
Form. Deswegen sind Schreibseminare, solange sie mit transzendenta-
ler Meditation oder mit Photokursen konkurrieren, auch nichts weiter
als Angebote auf einem großen Therapiemarkt mit dem Unterschied,
daß die Sehnsucht nach Erlösung hier kostenlos zu bekommen ist oder
doch nicht teurer wird als die Studiengebühr, die das Semester sowieso
kostet. Hermann Kinder hat recht, wenn er für diese Misere auch eine
Ästhetik verantwortlich macht, die von Herder, Schiller und Schelling
über Engels und Lukäcs bis zu Adorno und Bloch der Kunst zutraut,
»auch unter den herrschenden Entfremdungsverhältnissen eine Ver-
söhnung von Subjekt und Objekt, Schein und Sein, Wesen und Er-
scheinung, Ich und Allen, von Reflexion und Sinnlichkeit zu leisten
und damit Vorschein einer wünschbaren Totalität zu werden«. 6 Eine
solche Ästhetik ist eine Werkästhetik. »Sie beschreibt das Wesen des
Kunstwerks in systematischer Absicht und postuliert hieraus dessen
Funktion. Auf gar keinen Fall aber ist sie eine Produktionsästhetik.
Was immer Hohes sie auch der Kunst zuschreibt, so sagt sie doch nicht,
daß dies auch der subjektive Erfahrungsinhalt des Künstlers sei. Aus
ihr also abzuleiten, daß Schreiben Identität herstelle, die Widersprüche
aufzuheben ermögliche, daß Schreiben die einzige Form nicht ent-
fremdeter Arbeit sei, finde ich systematisch unredlich, psychoanaly-
tisch dumm, ignorant gegenüber Autobiographien. Sicher hat der
Schreiber auch sein Glück und seine Macherlust, auch wenn diese ma-
sochistisch ist. Doch Schreiben therapiert nicht, erlöst nicht aus Zwei-
fellagen, schafft Leiden nicht beiseite und Liebe herbei, Schreiben ist
eine für Selbstzerstörung höchst anfällige Tätigkeit, häufig genug latent
suizidal.«
Solange Schreibkurse daher Therapiekurse sind, stoßen sie zwar auf
Interesse wie alle Kurse und Angebote, die Flucht- und Beschäftigungs-
möglichkeiten angesichts der ausweglosen Berufssituation anbieten,
und die Studenten machen mit, soweit daraus keine Anstrengung wird.
Dieser Haltung müßte ein Schreibkurs aber gerade Widerstand entge-
gensetzen. Und es ist ganz und gar falsch, die Anstrengungen, die
Schreiben kostet, zu minimalisieren.

6
Hermann Kinder, Die Schreibgruppe in der Universität, S. 144.
Die antike Rhetorik in der modernen Schreibwerkstatt 93

Schreibkurse sind Kurse, in denen Anstrengung und Arbeit nicht


n u r nicht verschwiegen werden, sondern es sind Kurse, in denen der
Arbeitsaspekt bewußt betont und als einzige Voraussetzung f ü r einen
Erfolg thematisiert werden sollte: »Das Talent sitzt nicht im Kopf, son-
dern im Arsch. Wenn du nicht sitzen kannst, kannst du auch nicht
schreiben. Man m u ß bereit sein, eine halbe Stunde an einem Satz zu
knobeln, um ihn dann wegzuwerfen«, so das drastische Urteil des Ber-
liner Schreiblehrers Paul Schuster. 7
Und er hat recht. Wer schreiben als Arbeit begreift, als einen mühse-
ligen Produktionsprozeß, wird bei der Beschäftigung mit den literari-
schen Produkten anderer auch seine Sensibilität f ü r die handwerkliche
Qualität der Texte erhöhen und seine Aufmerksamkeit f ü r die ästhe-
tischen Verfahren eines Textes steigern. Die Einsicht in den Produk-
tionsprozeß vermittelt gleichzeitig Erfahrung und kritische Distanz:
Auf diesen Prozeß der Erfahrung kommt es an und auf die Einsicht,
daß Kritik an der Sprache gleichzeitig auch Kritik am Denken ist.
Dabei möchte ich mit dem Begriff der >Arbeit< nicht falsch verstan-
den werden. Arbeit meine ich im Sinne der antiken Aufforderung zur
Übung (exercitatio) mit dem Ziel sicherer Geläufigkeit (firma facili-
tas).8 Voraussetzung dafür sind Sachkenntnisse und Wörter, G e d a n k e n
und sprachliche Formulierungen (copia rerum ac verborum 10,1,5),
aber auch Lesen, Schreiben und Reden (10,1,2): »Tatsächlich sind sie
aber so miteinander verknüpft und alle so unzertrennbar, daß, wenn es
auch nur an einer von ihnen fehlen sollte, auf die übrigen alle M ü h e
vergebens aufgewendet wäre. D e n n gediegen und immer bei frischer
Kraft kann die Redekunst n u r sein, wenn sie aus gründlicher schrift-
licher Übung ihre Kräfte gewonnen hat; ohne das Vorbild, das die Lek-
türe liefert, wird aber das Ziel dieser schriftlichen Arbeit, da der Weg-
weiser fehlt, unstet und verschwommen bleiben, und wer auch weiß,
was und wie er reden muß, wird doch, wenn ihn die Redekunst nicht
schlagfertig gemacht und f ü r alle Fälle gerüstet hat, gleichsam n u r über
verschlossenen Schatzkammern wachen.«
Daß das Schreiben Mühe {labor) verursacht und nicht dem Lust-
prinzip gehorcht, darüber war sich die antike Rhetorik einig. Als
Kunstlehre f ü r Gebrauchstexte ist sie eine Produktionsästhetik, die ihr
Ziel auf die Notwendigkeiten, aber auch die Banalitäten der Texther-
stellung unter alltäglichen Bedingungen richtet und gleichzeitig - das
macht ihre Aktualität aus - über die gesellschaftlichen und bildungs-

7
Vgl. Axel Hacke, Warten auf den Blitz, Süddeutsche Zeitung Nr. 203, 5./6.
September 1987, S. 131.
8
Quintilian, Institutio oratoria, hg. u. übers, von Helmut Rahn, 2 Bde., Darm-
stadt 1972, 10,1,1.
94 Joachim Dyck

philosophischen Voraussetzungen des Schreibens (oder Redens) nach-


dachte. Im Brennpunkt ihrer Überlegungen stand die Herstellung eines
Textes, der es immer mit der Überzeugung eines Gegenübers zu tun
hat. Der überwiegende Teil alltäglicher Literatur ist Zweckliteratur.
»Man will etwas anbieten oder verhindern, mitteilen oder in Frage
stellen, bewältigen oder in Gang setzen. Erläuterungen zu einer
Steuererklärung stehen in einem viel engeren Verwandtschaftsverhält-
nis zur Literatur als ein mit 1 benoteter Schulaufsatz«, so faßt Paul
Schuster alte rhetorische Weisheiten zusammen. Gefühle haben in sol-
chen Zusammenhängen nur funktionalen Wert, sie dienen der Glaub-
würdigkeit, der Eindringlichkeit und der Unterhaltung, denn »wer
gern etwas hört, glaubt es leichter« (8,3,5).
Begreift man Schreiben als einen Akt der Vermittlung von Ideen,
Ansichten, Argumenten, die überzeugend, anschaulich, verständlich
vorgetragen werden sollen, dann sind geschwätziger Bekennerfreude
und Entblößungslust enge Grenzen gesetzt: Das Reden über eigene Be-
findlichkeiten hilft da nicht viel, es interessiert allenfalls denjenigen,
der nach der Bestätigung seiner eigenen Stimmungen sucht und sie für
Therapie hält. Ein solcher Anspruch schiene einer Produktionsästhetik
dilettantisch, es sei denn, die Darstellung von Erlebnissen und Gefüh-
len ist Gegenstand der Schreibübung. Setzt man aber auf die Vermitt-
lung der Fähigkeit, einen Text einer bestimmten Gattung (Reportage,
Brief, Bericht, Beschreibung etc.) gut zu schreiben, dann ist die antike
Rhetorik noch immer eine Goldgrube, die trotz weitgehender Ver-
schüttung früherer Schächte mit ihren Regeln und Vorschlägen einen
ansehnlichen Gewinn abwirft.
Damit kommen wir zum Problem der Praxis von Schreibseminaren
an Universitäten. Sie setzen voraus, daß Studenten »kein genaues Wort-
bild mehr im Kopf haben« (Hentig) und stellen sich der Erkenntnis,
daß »die sprachliche Ausdrucksfähigkeit auf ein bislang unbekanntes
Minimum zusammengeschnurrt ist« (Glaser). 9 Sind solche Urteile viel-
leicht nur der Ausdruck einer Generation, die sprachlos vor den
Schreibkünsten ihrer Kinder steht, obwohl diese doch am Computer
mit der Welt sprachlicher Zeichen bestens zurechtkommen? Ich glaube
nicht. Denn schließlich wird in vielen Klassen »nur mehr das Aller-
nötigste geschrieben oder abgeschrieben. Arbeitsblätter und Merkblät-
ter und noch mehr Blätter sind bei der Hand, und schließlich gibt es
Kopiermaschinen«. 1 0
Im Schreibseminar an der Universität sollte deutlich sein, daß es
nicht um Therapiegewinn und Persönlichkeitswachstum geht, sondern

9
Der Spiegel Nr. 28, 9. Juli 1984, S. 127.
10
Ebd., S. 132.
D i e antike Rhetorik in der m o d e r n e n Schreibwerkstatt 95

um intellektuelle Anstrengung, um Sprach- und Bewußtseinserweite-


rung, um Produktion von Texten, die gesellschaftlicher Norm folgen.
Eine sehr vorläufige Definition. Denn die Norm wird durch den
Seminarleiter und dessen Vorstellung vom >guten Text< gegeben. Über
den Geschmack läßt sich streiten: Eine Maxime, die der Diskussion im
Vorfeld bedarf. Um jedoch im Seminar die Diskussion über die Qua-
lität sprachlicher Äußerungen auf ein Minimum einzuschränken,
scheint es das Beste, auf Schöngeistiges zu verzichten. Poetische Texte
erlauben zu viele Lizenzen, und es käme doch vorerst darauf an, mög-
lichst wenig Lizenzen zuzulassen: genaue Argumentation, Wortfülle,
syntaktische Präzision, um dem stimmungssatten Anfänger die Mög-
lichkeit seelischer Ausschweifung zu nehmen. Über die poetische Va-
leur eines Adjektives läßt sich streiten, über die sprachlich adäquate
Wiedergabe von Erlebnissen allemal. Dabei soll die Diskussion über
den Wert von Wörtern in einem genauen Zusammenhang keineswegs
ausgeschlossen werden. Aber zu Beginn geht es darum, dem Studenten
das Bewußtsein dafür zu schärfen, daß die Herstellung eines Satzes, der
dem Gedanken adäquat ist, eine beachtenswerte handwerkliche Lei-
stung darstellt.
Deswegen ist die Übung an persuasiven Gattungen (Leserbrief, Flug-
blatt, Buchkritik) besonders fruchtbar, da sie für alle Teilnehmer eine
vergleichbare Argumentation zulassen. Auch die genaue Begrenzung
des zu schreibenden Textes ist wichtig, weil ihr eine besondere Dialek-
tik innewohnt: Man schreibt bereits in Hinsicht auf die Grenze, muß
kürzen, den Platz mit in die Formulierung einkalkulieren.
An markanten Abschnitten der studentischen Arbeiten lassen sich
besondere Schwächen diskutieren: Unklarheiten, verwinkelte Satz-
konstruktionen, Überschüssiges, Verbmangel etc. Rhetorische Grund-
begriffe, sprachliche Figuren werden erklärt, an Beispielen aus der Li-
teratur verdeutlicht. Die Beschreibung des Raumes etwa, in dem die
Seminarsitzungen stattfinden, macht deutlich, wie leicht sich die Emo-
tion mit der Sache vermischt, wie schnell sich das Gefühl in den Vor-
dergrund schiebt und die Sicht auf den Gegenstand verstellt. Diese Tex-
te sind dann eine gute Gelegenheit, über das Problem der Sachange-
messenheit zu sprechen, über Fragen der Perspektive, des auktorialen
Erzählens. Fragen des Wortschatzes kommen ins Spiel, des expressio-
nistischen Ausdrucks, der Anschaulichkeit, nun möchten sie Dichter
werden, ihrer Abneigung über die kargen Bedingungen, unter denen sie
studieren müssen, Ausdruck verleihen: Manierismen und wortgewaltig
daherkommende Plattitüden sind an der Tagesordnung und können
bearbeitet werden.
Wenn ich gefragt würde, worin meine Leitlinie eines solchen Semi-
nars besteht, dann würde ich auf die antike Rhetorik und speziell auf
96 Joachim Dyck

das verweisen, was dort unter dem Kapitel »elocutio« abgehandelt


wird. D e n n es geht um die Lehre vom Ausdruck, von der Quintilian
sagt: »>Ausdrücken< heißt nämlich: alles, was m a n in G e d a n k e n erfaßt
hat, zum Vorschein bringen und es den Hörern übermitteln [ . . . ] dies
vermag keiner ohne Kunstlehre (ars) zu erreichen, hierauf ist der größ-
te Eifer zu verwenden, dies sucht die Übung, dies die Nachahmung,
hierin verzehrt man sich Zeit seines Lebens« (8, Pr.15).
Da die meisten Studenten ihre Einfälle aufs Papier bringen wollen
und die Bedeutung der Form nicht kennen, ist es sinnvoll, sie zu leh-
ren, so zu schreiben, daß ihr Text einleuchtet und gern gelesen wird.
Das wäre auch das quintilianische Ideal: »Eine große Leistung ist es,
die Dinge, von denen wir reden, klar und so darzustellen, daß es ist, als
sähe man sie deutlich vor sich« (8,3,62).
Für technische Details gibt es die entsprechenden Handbücher. Nur
eine Überlegung noch zum Schluß: Fast das Wichtigste ist die Auswei-
tung des meist dürftigen Wortschatzes. Und auch da halte ich mich an
Qintilian: » G ä b e es für die einzelnen sachlichen Gegebenheiten je-
weils nur einzelne Wörter, so erforderten die Worte geringe Sorgfalt;
denn alle böten sie sich gleich mit den Sachen selbst dar. Da nun aber
die einen eigentümlicher, schmuckvoller, wirkungsvoller oder wohl-
klingender sind als andere, müssen sie nicht nur alle bekannt sein,
sondern auch zur Hand und, sozusagen, im Blickfeld, damit, wenn sie
sich dem Urteil des Redenden zur Schau stellen, die Auswahl der Be-
sten unter ihnen leicht vonstatten geht« (10,1,6).
Quintilian legt Wert darauf, daß Wortfülle zugleich mit Urteilskraft
erworben wird und schlägt daher die Lektüre und N a c h a h m u n g der
besten Schriftsteller vor. Heute aber eine breite Belesenheit bei den
Studenten vorauszusetzen, wäre ein grundlegender Irrtum über die
Realität eines geisteswissenschaftlichen Studiums. Der abgekürzte Weg
über das Synonymenlexikon (etwa Textor), mit dessen Hilfe sich auch
Farbigkeit, Genauigkeit, Treffsicherheit erzielen läßt, ist daher der rea-
listische.
Vielleicht braucht man sich als Lehrer in Schreibseminaren nur ei-
nen einzigen Satz aus der Institutio oratoria zu eigen machen und ihn
der Arbeit zugrundelegen: »Schreiben m u ß man also möglichst sorg-
fältig und möglichst viel« (10,3,2).

Gekürzte Fassung eines Vortrages, der am 17. Juni 1987 an der Akademie Tut-
zing gehalten wurde.
Holger Rudioff

Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens.


Dargestellt anhand Friedrich Nietzsches »Menschliches,
Allzumenschliches«

Der Titel meines Beitrags könnte ebenso lauten: Wider die Einschüch-
terung, kreatives Schreiben zu praktizieren. Oder auch: Das Erfinden
von Geschichten als Vermögen der Erinnerung. Wider die Wahrneh-
mungstäuschung der exklusiven Dichterpersönlichkeit.
Kreatives Schreiben an Hochschulen, an Schulen, in privaten oder
öffentlichen Zirkeln sieht sich immer wieder mit populären Vorurtei-
len konfrontiert. Schulterklopfend attestiert man zwar die allemal zu
lobenden Versuche, literarisch produktiv zu werden, nicht zuletzt je-
doch augenzwinkernd mit dem mehr oder weniger versteckten Hinweis
auf die Untauglichkeit der Vorgehensweise. Wolle man allen Ernstes
die sog. Legende vom verkannten Genie wiederbeleben? Durch litera-
rische Geselligkeit sei noch kein Meister vom Himmel gefallen. Und
auch die Übung mache es nicht. Trotz aller Reminiszens an Übung,
Diskursivität oder Studium bilde die Unmittelbarkeit einer talentierten
Persönlichkeit die nicht hintergehbare Voraussetzung zum Schreiben.
Gegen eine derartige Vorurteilsstruktur hat bereits Friedrich Nietz-
sche entschiedenen Einspruch erhoben. Zwar ist sicher nicht von der
Hand zu weisen, wie sehr gerade Nietzsche in seinem Frühwerk der
romantischen Bewunderung und kultischen Verehrung des Künstlers
(man denke an seine Ausführungen zu Wagner und Schopenhauer)
Vorschub geleistet hat. Dennoch weist sein Spätwerk entscheidende
Passagen zur Entlarvung des Geniekults auf. Ebenso enthält es Ansatz-
punkte zu einer Theorie literarischen Schreibens. Die Rede ist von der
Aphorismen-Sammlung »Menschliches, Allzumenschliches«, die einen
einschneidenden Wendepunkt in der Entwicklung von Nietzsches Ge-
nie-Gedanken abgibt. Eine nähere Analyse der hier vorgenommenen
Argumentation kann zwei Gesichtspunkte eröffnen. Erstens ermög-
licht sie auf exemplarische Art und Weise, die aufgezeigten Vorurteile
in Frage zu stellen und eine Beziehung zu ihrer historischen Genese
herzustellen. Darüber hinaus erlaubt sie es, Kriterien zu benennen,
schriftstellerische Versuche von Studenten und Schülern (sog. Laien)
mit der Arbeit des gesellschaftlich anerkannten Schriftstellers (sog.
>Professioneller<) in Beziehung zu setzen. Die beiden genannten Ge-
sichtspunkte geben das Gliederungsprinzip der folgenden Ausführun-
gen ab.
98 Holger Rudioff

Nietzsche beginnt das »Vierte Hauptstück« seiner Schrift »Menschli-


ches, Allzumenschliches« mit einer Kritik des ästhetischen Erlebens
und Aneignens. Das Vollkommene der großen Werke beruhe auf ei-
nem resultathaften Einverständnis mit der Wirkung des schönen
Scheins:
Wir sind gewöhnt, bei allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu
unterlassen: sondern uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf
einen Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei. (M,A, S. 545)'

Im nächst folgenden Gedankenschritt verbindet Nietzsche die Bedin-


gungen der Wirkung mit Aussagen über den künstlerischen Schaffens-
prozeß. Er zeigt auf, daß das produzierende Subjekt an der blendenden
Unfaßlichkeit des »Zauberschlags« nicht unbeteiligt ist:
Der Künstler weiß, daß sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an
eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung er-
regt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene Elemente der
begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden
Träumens beim Beginn der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um
die Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, daß sie an das plötzliche
Hervorspringen des Vollkommenen glaubt. (M,A, S. 545)

Es wäre verfehlt, Nietzsches Ausführungen als eine Kritik am ästheti-


schen Genuß oder an besonders vollkommenen Kunstwerken und
Künstlern verstehen zu wollen. Sie richtet sich vielmehr gegen jene
Unzulänglichkeit von Kunstrezeption, die den Wert von Literatur al-
lein darin bestimmt, verzaubern zu können. Und sie zielt gegen das
Verehrungsbedürfnis seiner Zeitgenossenschaft, die Kunstwerk und
Künstler mit den Attributen des Zauberhaften und Göttlichen versieht.
Nietzsche stellt die dichterische Inspiration als einen Kult dar, den der
scheinbar ästhetische Mensch des 19. Jahrhunderts inszeniert, um die
eigene Person mystisch zu verklären. 2 Inspiration verkommt zum fal-
schen Bewußtsein einer unwillkürlich wirkenden Gemütsverfassung,
die die Aura des übermenschlichen Schöpfers stabilisiert. Kaum etwas
trifft diesen Sachverhalt genauer als eine Notiz Wilhelm Diltheys, der
zwei Jahrzehnte nach Nietzsches Schrift immer noch beschwörend vom
»unwillkürlichen Bautrieb« »dämonischer Naturen« spricht, die »von

' Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. In: Werke in 3 Bän-


den, Bd. 1, hg. v. Karl Schlechta, München 1966, S. 435-1008. Im Text bezie-
hen sich die Seitenzahlen auf diese Ausgabe; M,A = Menschliches, Allzu-
menschliches.
2
Vgl. dazu grundsätzlich Richard Hamann/Jost Hermand, Epochen deutscher
Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Bd. 1: Gründerzeit, Frankfurt/M. 1977,
S. 182ff.
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens 99

einem Durchschnittsmaß des normalen Menschen aus« nicht zu erfas-


sen seien. 3 Allein aus einer angenommenen »Ganzheit« ursprünglicher
Seelenverfassung sei Schöpfertum denkbar. Immer wieder ist dann
auch vom Dichter als Seher des Möglichen die Rede, was schließlich in
der Behauptung vom »direkte[n] Verhältnis zur Göttlichen Kraft« 4 gip-
felt. Da Nietzsches Kritik auf jenen Kult schöpferischer Kraft des
Dichters gerichtet ist, dem auch Dilthey verpflichtet ist, kann es nicht
verwundern, daß er sich direkt mit der Ideologie des göttlich-begnade-
ten Ursprungs der Dichtung auseinandersetzt. Lakonisch heißt es dazu:

Jemanden >göttlich< nennen heißt: , hier brauchen wir nicht zu wetteifern!'


Sodann: alles Fertige, Vollkommene wird angestaunt, alles Werdende unter-
schätzt. (M.A, S. 554)

Der Nachsatz gibt zu erkennen, daß Nietzsche sich keinesfalls aus-


schließlich mit der Vorstellung göttlichen Ursprungs literarischen
Schaffens auseinandersetzt. Jener Erklärung also, die von Piatons Ent-
husiasmus-Lehre ausgehend, immer wieder ins produktionsästhetische
Feld geführt wird. Als zentrale Polarisierung tauchen die Begriffe »alles
Fertige, Vollkommene« versus »alles Werdende« auf. Der Schein in-
tuitiv geleiteten Schaffens baut auf der abgeschlossenen Gestalt des
Kunstwerks auf. Da allein das fertige Werk das Licht der Öffentlichkeit
erblickt, wird jeder nachvollziehbaren Einsicht in sein Zustandekom-
men (»alles Werdende«) der Boden entzogen. Man könnte auch sagen,
das bereits abgeschlossene Produkt läßt über sich selbst hinaus keinen
Einblick in den Prozeß des Herstellens zu. Auf dieser Basis wirkt es,
wie bereits zitiert, »als ob es auf einen Zauberschlag aus dem Boden
aufgestiegen sei« (M,A, S. 545), oder, »als ob eine unmittelbare Inspi-
ration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten, also ein Wunder sich
vollziehe« (M,A, S. 550; Hervorhebungen H.R.).
Als Ergebnis können wir festhalten, daß die bezaubernde Wirkung
des vollkommenen Kunstwerks - und der künstlerischen Intuition -
auf einem Verdecken des Prozeßcharakters literarischen Produzierens
beruht. Dieser Prozeß wird als »vorhergegangenes inneres Arbeiten«
bestimmt. Verdeckt wird also die Arbeit; geniales Produzieren kann
sich nur durch den Weg einer mangelnden Einsicht in die eigene Werk-
statt behaupten. Der Schein intuitiv geleiteten künstlerischen Tuns, den
das abgeschlossene Werk erzeugt, reproduziert sich im Kopf der Rezi-
pienten. Da ihnen die näheren Bedingungen und Voraussetzungen je-
nes »vorhergegangene^] innere[n] Arbeiten[s]« nicht bekannt sind,
mischt sich in den ästhetischen Genuß das Gefühl des Wunderbaren,
des Unerklärbaren.
3
Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, Göttingen 1985, 16, S. 167.
4
Ebd., S. 9.
100 Holger Rudloff

Auf dem Hintergrund dieses Ergebnisses kann nach produktionsäs-


thetischen Traditionslinien gefragt werden, die den erkannten Wider-
spruch zwischen künstlerischem Tun als Arbeit und künstlerischem
Schein als »Zauberschlag« problematisiert haben. In der Autonomie-
Ästhetik des 18. Jahrhunderts soll (bes. bei Kant und später bei Schil-
ler) das Werden des Kunstwerks um einer besonderen Wirkung willen
verdeckt werden. 5 Unter dem Begriff des Werdens diskutiert man hier
primär das Abhängigkeitsverhältnis des Produzenten von literarischen
Regeln. Bezeichnenderweise bedient man sich bereits hier der Termi-
nologie des »als ob«, die, wie oben ersichtlich, Nietzsche ins Zentrum
seiner Kritik rückt. Bei Kant dient sie dazu, künstlerisches Vermögen
und Werk als Natur zu begründen:
A n einem Produkt der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es
Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form
desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es
ein Produkt der bloßen Natur sei.« (KdU § 45, S. 404). 6

An der Oberfläche des Werkes muß die Leistung des Künstlers also als
Natur erscheinen; sie muß erscheinen, als ob keinerlei Absicht und
Regelbefolgung im Spiel sei.
Nun weist der Begriff der »Regeln« auf die Tätigkeit des Handwerks
zurück. Regeln sind erlernbar, zur Meisterschaft ausbildbar. Und wenn
- so ließe sich folgern - bestimmte Regeln des literarischen Produzie-
rens als erlernbar gelten, so stehen sie über den Prozeß der Bildung und
Ausbildung jedermann zum kreativen Schreiben zur Verfügung. Ein
kenntnisreicher Einblick in das »vorhergegangene innere Arbeiten«
(Nietzsche) stellt dann die Bedingung der Möglichkeit in Aussicht,
schriftstellerische Kompetenz zu erwerben.
Allerdings ist Kants Selbstverständnis von einer solchen Aussicht
weit entfernt. Ja, eher wird das gerade Gegenteil angenommen. »Schöne
Kunst«, daran läßt Kant keinen Zweifel, ist nur als »Kunst des Genies«
möglich. Allein ein »angeborenes produktives Vermögen« (§ 46, S.
405)7 gebe der Kunst die Regeln. Nur wer über eine derartige Gnade
der Geburt verfüge, könne Regeln und literarische Überlieferung

5
Dieser Zusammenhang kann hier nur skizziert werden. Vgl. dazu ausführ-
lich: Holger Rudloff, Produktionsästhetik und Produktionsdidaktik. Kunst-
theoretische Voraussetzungen literarischer Produktion (Habil.-Schrift, Köln
1987; Frankfurt 1988 in Vorbereitung).
6
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. In: Kant, Werke in zehn Bänden, hg.
v. Wilhelm Weischedel, Bd. 8, Darmstadt 1968.- Im Text beziehen sich die
Seitenzahlen auf diese Ausgabe; KdU = Kritik der Urteilskraft.
7
Zur Ingenium-Tradition vgl. zusammenfassend: Edgar Zilsel, Die Entstehung
des Geniebegriffs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Früh-
kapitalismus, Tübingen 1926.
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens 101

scheinbar mühelos in die eigene Diktion einschmelzen. Es ist unschwer


ersichtlich, wie sehr Kants Annahme einer exklusiven Dichterpersön-
lichkeit mit den oben einleitend genannten aktuellen Vorurteilen gegen
kreatives Schreiben an Schulen und Hochschulen übereinstimmt. Aber
hier liegt nur eine halbe Wahrheit. Wer sich zur Abstützung der These
von den genialen Gemütsanlagen an Kant orientiert, ebnet die in der
KdU selbst vorgetragenen Widersprüche allzu vorschnell ein. Natürlich
ist hier durchgängig vom Genie und einer unbewußt schaffenden Na-
tur die Rede. Es gehört jedoch zu den Vorzügen von Kants Schrift, daß
sie, als eine der frühen Auseinandersetzungen mit den Bedingungen
literarischer Produktion und Rezeption in der bürgerlichen Gesell-
schaft, die Brüche und Geburtswehen ihrer Entstehung unverblümt
entfaltet. An ihnen kann sich eine kritische Analyse orientieren. So
drückt Kant in aller Deutlichkeit aus, daß der ästhetische Schein als
Schein hergestellt werden muß. Der Widerspruch des Kunstwerks, auf
Kriterien der zweckmäßigen und handwerklichen Planung aufzu-
bauen, diese jedoch durch den Schein zu verdecken, wird in der KdU
direkt angesprochen. Ein ausführliches Zitat mag das verdeutlichen:

Also muß die Zweckmäßigkeit im Produkte der schönen Kunst, ob sie zwar
absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d. i. schöne Kunst muß als
Natur a n z u s e h e n sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewußt ist. Als
Natur aber erscheint ein Produkt der Kunst dadurch, daß zwar alle P ü n k t -
l i c h k e i t in der Übereinkunft mit Regeln, nach denen allein das Produkt das
werden kann, was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne P e i n l i c h k e i t ,
ohne daß die Schulform durchblickt, d. i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die
Regel dem Künstler vor Augen geschwebt, und seinen Gemütskräften Fes-
seln angelegt habe. (§ 45, S. 405)

Führt man sich die hier getroffenen Bestimmungen über den künst-
lerischen Arbeitsprozeß noch einmal dezidiert vor Augen, so lassen
sich aufschlußreiche Hypothesen entwickeln. Von der Tätigkeit des
Genies heißt es, sie sei
1.1 in der »Zweckmäßigkeit« »absichtlich«,
1.2 »alle Pünktlichkeit in der Übereinstimmung mit Regeln« werde
»angetroffen«,
1.3 »die Regel [habe] dem Künstler vor Augen geschwebt«.
Und über das abgeschlossene Werk erfährt man,
2.1 es dürfe »nicht absichtlich scheinen«,
2.2 »schöne Kunst muß als Natur anzusehen sein«,
2.3 »ohne daß die Schulform durchblickt«,
2.4 »ohne eine Spur zu zeigen«.
Die Gegenüberstellung macht transparent, was das Kunstwerk durch
den ästhetischen Schein verdeckt. Zum einen betrifft es die Regel, zum
102 Holger Rudioff

anderen das Hergestelltsein überhaupt, die ausgeführte Arbeit. Indem


gerade die Arbeit verdeckt wird, treten jene entscheidenden Merkmale
in den Hintergrund, die den Menschen als Menschen kennzeichnen.
Dazu gehören vor allem die angesprochenen abbildenden und schöp-
ferischen Potenzen allgemeiner Arbeit, nicht zuletzt das direkt geltend
gemachte teleologische Prinzip (vgl. Punkt 1.3). Zur Exklusivität genia-
len Produzierens erhoben, verdeutlichen sie den zentralen produk-
tionsästhetischen Widerspruch. Wir formulieren ihn durch die folgen-
de Hypothese: Was potentiell allen Menschen zukommt, dürfen nur
wenige ausführen. Die Erscheinungsform des abgeschlossenen Kunst-
werks - vermittelt durch sinnliche Wahrnehmung - tilgt alle Spuren,
die einen möglichen Rückschluß - vermittelt durch rationale Erkennt-
nis - auf allgemeine Verfügbarkeit künstlerischer Tätigkeit als Arbeit
zulassen. So vermittelt der Schein des autonomen Kunstwerks ein
Herrschaftsverhältnis. Es kommt in der einschüchternden Formel zum
Ausdruck, produktive Einbildungskraft gehöre einer über-menschli-
chen Dimension an.
An dieser Stelle ist jedoch auf einen nicht zu unterschätzenden Ein-
wand einzugehen. Die bisherigen Ausführungen legen das Mißver-
ständnis nahe, künstlerische Tätigkeit solle um den Preis intrumentel-
ler Vernunft zur planbaren Arbeit eingeebnet werden. Schließlich ver-
fügt die KdU über die Kategorie »Geist«. Der »Geist« bringt die Ge-
mütskräfte »zweckmäßig in Schwung« und versetzt sie in ein »Spiel,
welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt« (§ 49,
S. 413). Sein besonderes Betätigungsfeld liegt in der Darstellung ästheti-
scher Ideen. Der »Geist« des Genies sei »in dem glücklichen Verhält-
nisse, welches keine Wissenschaft lehren und kein Fleiß erlernen
kann«. Über alle rationale Erkenntnis hinaus formuliere Geniekunst
das »Unnennbare in dem Gemütszustande« (§ 49, S. 417 f.).
Ein solcher Einwand bringt mit Hilfe der Bestimmungen Kants in
der Tat zum Ausdruck, daß kreatives Schreiben nicht durchgängig mit
Imperativen der Planbarkeit vereinbar ist. Künstlerisches Produzieren
treibt eine vorliegende Regel über sich selbst hinaus, die sich der Plan-
barkeit entzieht. Dem wird kaum zu widersprechen sein. Aber gerade
die Bestimmung des Geistes als Spiel der Gemütskräfte, das sich »von
selbst« erhält, kann auf der anderen Seite gerade einen Wahrheitsge-
halt im Sinne allgemeinverfügbarer Schreibkompetenzen für sich ver-
buchen. Denn sie verweist auf eine eigentümliche Dialektik in jedem
Schreib- und Denkprozeß. Schreiben und Erkennen gehen ineinander
über. Beim Schreiben entdeckt das Subjekt seine Interessen und Be-
dürfnisse und kommt so zu Ergebnissen, die einen vorher angelegten
Entwurf entscheidend modifizieren. Spätestens seit Kleists kleiner
Schrift »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Re-
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens 103

den« 8 sind derartige Zusammenhänge hinreichend bekannt. Sie betref-


fen Reden und Schreiben gleichermaßen. 9
Während Kants Kritik die immanenten Widersprüche des Genie-
Gedankens also deutlich formuliert, kleistert sie die literaturwissen-
schaftliche Überlieferung als einen nicht mehr preisgebbaren Sachver-
halt zu. Als ein Beispiel von vielen sei dafür die geistesgeschichtliche
Betrachtungsweise von Karl August Korff genannt. Korffs »Geist der
Goethezeit« (1923-1940 erstveröffentlicht) beschränkt sich bei der In-
terpretation des oben zitierten § 45 der KdU auf eine rein »psycholo-
gisch^]« 10 Auslegung. Gehört bei Kant der Widerspruch zwischen Ar-
beit und Zudecken von Arbeit durch den ästhetischen Schein zum fe-
sten Bestandteil des theoretischen Selbstverständnisses, so legt Korff
einseitig die Gewichte auf psychische Voraussetzungen. Kurzschlüssig
wird das »eigentümliche Geheimnis der schönen Kunst« aufgeworfen
und zugleich gelöst. Vom Genie als dem »gesetzmäßig fühlende[n]
Mensch[en]« erfährt man, dieser trage »die Regeln gleichsam im
Blut«. 11 Kants ausführlich problematisierte Gegenüberstellung von Re-
gelbefolgung / ästhetischem Schein und »Geist« wird durch eine Ver-
absolutierung seelischer Bedingtheiten zurückgenommen. Thematisiert
die KdU ausführlich die »Schulform« des Herstellens, deren durch
Arbeit bedingte Spuren nur nicht erscheinen dürfen, so mystifiziert die
Geistesgeschichte das zum »geheimen Gesetz«:

Und nur wo wir einem Ganzen einen Sinn, eine innere Form, ein geheimes
Gesetz anmerken, sprechen wir von Kunst. 12

Man erkennt deutlich, wie sehr die Überlieferung alle rational erkenn-
baren Teile des Produzierens zu nicht mehr herleitbaren Gegebenhei-
ten ummünzt. Geheime Mächte treten an die Stelle einstmals auf-
klärerischer Gedankengänge. Das betrifft mit der Problematik des Her-
stellens der Werke zugleich den abzubildenden Ideengehalt. Die Auf-
klärung bestimmt Schönheit eindeutig nach ihrem Beitrag zur Sittlich-
keit (vgl. KdU § 59).
In der Nachfolge Kants weist Friedrich Schiller auf ein durch Ver-
nunft und Humanität bestimmtes Ideal des ästhetischen Scheins hin. 13
8
Heinrich von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim
Reden. In: Heinrich von Kleist, dtv-Gesamtausgabe, Bd. 5, hg. v. Helmut
Sembdner, München 1964, S. 53-58.
'Vgl. dazu aus aktueller Sicht: Gert Ueding, Rhetorik des Schreibens. Eine
Einführung, Kronstein/Ts. 1985, S. 59ff.
10
Karl August Korff, Geist der Goethezeit, 2. Teil: Klassik, Leipzig 1930,
S. 471.
11
Ebd., S. 472.
12
Ebd., S. 471.
13
Vgl. dazu ausführlich: Peter Bürger, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik,
Frankfurt 1983, S. 57ff.
104 Holger Rudioff

Obwohl hier der Dichter den Status des Verkünders von Wahrheit er-
hält (also unangreifbar, geradezu zu einer apodiktischen Gewißheit
verklärt), ist er jedoch eindeutig dem Ideal einer Humanisierung des
öffentlichen Lebens verpflichtet. Auch Schillers Bestimmung, das
Kunstwerk solle für den Rezipienten »regelfrei erscheinen«, 14 begreift
den humanen Auftrag des ästhetischen Scheins nachhaltig im Sinne
einer Erziehung zur Sittlichkeit. Besonders in den Briefen Ȇber die
ästhetische Erziehung des Menschen« wird dem ästhetischen Schein
die Möglichkeit zugesprochen, das durch die entfremdete gesellschaft-
liche Wirklichkeit zerrissene Zusammenspiel von Verstand, Vernunft
und Sinnlichkeit erneut zu re-synthetisieren. So wäre es ein einseitiger
Rückschritt hinter die durch Anschauung gewonnene Harmonisierung
der Gemütskräfte, wolle man die Regeln des Schönen analytisch erfas-
sen. Diese Position ist in Schillers Kallias-Briefen theoretisch vorberei-
tet. Hier heißt es zwar: »[...] jedes schöne Produkt muß sich vielmehr
Regeln unterwerfen«. 15 Allein in der Anschauung dürfen Zweck und
Regelverbindlichkeit nicht erscheinen. Als »frei« kann die Sinnlichkeit
nur gelten, wenn »das völlige Abstrahieren von einem Bestimmungs-
grund« gegeben ist und der Rezipient nicht veranlaßt wird, »außer dem
Dinge« danach zu suchen: »Das schöne Produkt darf und muß sogar
regelmäßig sein, aber es muß regelfrei erscheinen ,«16 Daß es sich um
einen Schein der Freiheit des Produzierens handelt, ist dem Theoreti-
ker Schiller nur zu bewußt:

Nun ist aber kein Gegenstand in der Natur und noch viel weniger in der
Kunst zweck- und regelfrei, keiner durch sich selbst bestimmt, sobald wir
über ihn nachdenken. Jeder ist durch einen anderen da, jeder um eines an-
deren willen da, keiner hat Autonomie.' 7

Selbstbestimmung des Schönen offenbart sich als eine Sache der An-
schauung; sie endet beim Nachdenken, beim verstandesgeleiteten Auf-
decken des zugrundeliegenden Arbeitscharakters. Die freie Produkti-
vität des Genies kann sich also nur solange behaupten, wie die ästhe-
tische Erfahrung des Rezipienten von einer rationalen Bestimmung des
Werksetzungsprozesses absieht. Im Sinne der ungebundenen Freiheit
der Einbildungskraft muß der Rezipient aber gerade von einer solchen
rationalen Bestimmung absehen. In den oben zitierten Textstellen wird
ersichtlich, daß »freie« ästhetische Betrachtung nur dann ihren Namen
verdient, wenn sie das Kunstwerk so ansieht, als ob es durch sich selbst

14
Friedrich Schiller, Kallias oder über die Schönheit. In: Schiller, Sämtliche
Werke, Bd. 5, hg. v. G. Fricke/H. G. Göpfert, München 4 1967, S. 402.
15
Ebd.
16
Ebd.
17
Ebd.
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens 105

bestimmt wäre. Eine analoge Bestimmung kommt der künstlerischen


Subjektivität zu. Sie erscheint in dem Maße autonom, wie es über das
Verdecken von Arbeit gelingt, die Abhängigkeit von Regel und Mühe
zu bestreiten. Über den Scheincharakter des geschlossenen Kunstwerks
wird gleichzeitig der Schein einer natürlichen Gegebenheit genialer
Gemütsanlagen vermittelt.
Man wird der Schiller'schen Genie-Ästhetik jedoch nur gerecht,
wenn man noch einmal hervorhebt, wie sehr das hier aufgezeigte Pro-
blem des Verdeckens von Arbeit als Problem erkannt und formuliert
wird. Der Künstler verdeckt um der Wirkung willen den Arbeitscha-
rakter seines Tuns. Und die Wirkung wird eindeutig an der humani-
stischen Absicht festgemacht, die Zerfaserung der Gemütskräfte, die
Entfremdung der gesellschaftlichen Verhältnisse im ästhetischen Me-
dium zurückzunehmen.
Ganz anders sieht das in jenem historischen Augenblick aus, in dem
Friedrich Nietzsche das Verdecken von Arbeit als »Zauberschlag«
kennzeichnet. Seine Zeitgenossenschaft entzieht sich der politischen
Reflexion literarischer Wirkung. An die Stelle der literarischen Gestal-
tung eines »Ideals« ist ein sich selbst genießendes Lebensgefühl getre-
ten, das in der scheinbar unerklärbaren künstlerischen Vision die ei-
gene Zugehörigkeit zur geistigen Elite feiert.18 Die exemplarisch ausge-
wählten Beispiele der Geistesgeschichte (Dilthey, Korff) verdeutlichten
die Aktualität von Nietzsches Kritik.
Sie führten zudem vor Augen, wie Teile der literaturwissenschaftli-
chen Überlieferung die produktionsästhetischen Widersprüche in der
Theorie der Spätaufklärung (ästhetischer Schein / Verdecken von Ar-
beit) zu einer Auratisierung der Künstlerpersönlichkeit einebnen. Wir
wollen im folgenden Abschnitt aufzeigen, daß Nietzsche gerade an die-
sen Widersprüchen festhält. Dabei ist einmal zu klären, wie er den
Arbeitscharakter literarischen Produzierens begründet. Zum anderen
ist zu fragen, in welchem Maße die Fähigkeit, bestimmte künstlerische
Absichten durch Arbeit zu verwirklichen, verallgemeinerbar sein kann.
Welche Hinweise werden also gegeben, die Schreibversuche sog. Laien
mit gesellschaftlich anerkannter schriftstellerischer Tätigkeit zu ver-
gleichen?

18
Vgl. dazu Fußnote 2.
106 Holger Rudioff

II

Nietzsches Kritik am intuitiv-genialen Schöpfertum setzt mit einer


Analyse der Intuition ein. Gegen die »sogenannte Inspiration« verweist
er auf die mühsame Kleinarbeit des Zusammenstellens und Auswäh-
lens:

In Wahrheit produziert die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers fort-
während, Gutes, Mittelmäßiges und Schlechtes, aber seine Urteilskraft,
höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt aus, knüpft zusammen; wie man
jetzt aus den Notizbüchern Beethovens ersieht, daß er die herrlichsten Me-
lodien allmählich zusammengetragen und aus vielfachen Ansätzen gewisser-
maßen ausgelesen hat. [ . . . ] Alle Großen waren große Arbeiter, unermüdlich
nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten,
Ordnen. (M,A, S. 549)

Dennoch stehen die vielseitigen Stufen des Überarbeitens keinesfalls


im Widerspruch zu plötzlich eintretender Inspiration. Nietzsche ist
weit davon entfernt, die Rolle der Inspiration im künstlerischen Schaf-
fensprozeß generell ins Reich der Metaphysik zu verbannen. Er spürt
ihren rationalen Kern auf, indem er Inspiration als eine zeitlich ver-
zögerte Entladung akkumulierter Erfahrungen begreift. Die »Produk-
tionskraft«, so heißt es, habe sich »eine Zeitlang angestaut«, ehe sie
sich zur Lösung eines bestimmten Problems ihre Bahn bricht: »Das
Kapital hat sich eben nur angehäuft, es ist nicht auf einmal vom Him-
mel gefallen« (M,A, S. 550). Allein an der Oberfläche erscheint die
Inspiration zur Momentaufnahme verkürzt, als ob »ein Wunder sich
vollziehe«, »ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten« (ebd.). Es ist
diese täuschende Momentaufnahme, der sich die vom Irrationalismus
beeinflußten ästhetischen Theorien bis heute bedienen.
Die Aktualität von Nietzsches Argumentation wird deutlich, wenn
man sich vor Augen führt, daß neue marxistische Ansätze die Rolle der
künstlerischen Inspiration analog einschätzen. Freilich ohne Nietzsche
zu nennen, heißt es im »Kulturpolitischen Wörterbuch« der D D R
grundsätzlich:
Die Intuition ist ein plötzlich auftretender Einfall, der die Lösung eines
Schaffensproblems bringt. Dieser Einfall ist durch gedankliche Arbeit vor-
bereitet, die zunächst für die Lösung eines bestimmten Problems zu keinem
Ergebnis zu führen schien. Zu einem späteren Zeitpunkt kann, scheinbar
unabhängig von der geistigen Vorarbeit, die Intuition auftreten, die aber ohne
die vorangegangene geistige Tätigkeit nicht möglich gewesen wäre. 19

19
H. Bühl, D. Heinze, H. Koch u. a. (Hg.), Kulturpolitisches Wörterbuch, Arti-
kel: Schaffensprozeß, künstlerischer. Berlin 1970, S. 471-473; Zitat: S. 472.
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens 107

Dem Schein intuitiver Unmittelbarkeit des künstlerischen Schaffens-


prozesses steht die Einsicht in »geistige Vorarbeiten« (Nietzsche: »vor-
hergegangenes inneres Arbeiten«) gegenüber. Intuition in diesem Sin-
ne ist keine creatio ex nihilo.
Als ein weiterer aktueller Beitrag dazu sei auf eine Notiz Uwe
Johnsons verwiesen, die auf bemerkenswerte Weise Einblick in die
schriftstellerische Praxis erlaubt. Johnson ersetzt die Begriffe Inspira-
tion oder Intuition durch die Umschreibung »Erfahrung im Prozeß des
Erfindens«:
[. . .] er ist vergleichbar dem Vorgang der Erinnerung, die eine längst verges-
sene, in diesem Fall noch unbekannte, Geschichte wieder zusammensetzt, bis
alle ihre Leute, ihre Handlungen, ihre Lebensorte, ihre Geschwindigkeiten,
ihre Wetterlagen unauflöslich mit einander zu tun bekommen. Dabei ist das
Suchen nach der Technik eines Arbeitsvorganges oder nach einer Landschaft
als Ort der Handlung als Ermittlung geboten. 20

Künstlerisches Produzieren, wie es der Schriftsteller Uwe Johnson vor-


führt, vermittelt bewußte mit vor-bewußten Momenten. Ins Erfinden
geht die Suche nach einer geeigneten »Technik« der Darstellung ein.
Die Aneignung der Erfahrungen und Erinnerungen wird damit als ein
bestimmter Arbeitsprozeß gefaßt. Auch wenn nicht letztendlich geklärt
wird, wie sich der Produzent »im Suchen nach Technik« verhält, so
steht doch außer Frage, daß bestimmte Schreibtechniken als Folie die-
nen. Einiges spricht dafür, es handle sich um ein Ausprobieren von
Zusammenstellungen. Der Schreibende setzt seine Erfahrungen inno-
vativ um, er verfügt über gewisse Bauformen, die es ihm erlauben, den
Arbeitsprozeß zu strukturieren bzw. ideell vorwegzunehmen:

[. . .] erst wenn die Geschichte in allen Bewegungen und Einzelheiten im Kopf


vorbereitet und gesichert ist, bis hin zu ihrem letzten Satz, gibt sie die Erlaub-
nis, >es bloß noch hinzuschreiben^ 2 '

Auch hier verweisen die Aspekte des Vorbereitens, des Planens und
Zusammensetzens auf eine handwerkliche Tradition des Schreibens.
Sie stellen das Problem erlernbarer Schreibtechniken als Form subjek-
tiver Geschicklichkeit. Genau das entspricht Nietzsches Absicht, im
Herausarbeiten von Details, die erst sukzessive zum Ganzen zusam-
mengesetzt werden, der Literaturproduktion einen »Ernst des Hand-
werks« zu bescheinigen. Im Handwerk des Schreibens finden die ge-
sellschaftlich anerkannten Kunstwerke ihren gemeinsamen Nenner
mit Schreibversuchen sog. Laien. Die vergleichbaren Gemeinsamkei-
ten beziehen sich allerdings nicht nur auf gewisse Ausformulierungen

20
Uwe Johnson, Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M.
1980, S. 127.
21
Ebd., S. 428.
108 Holger Rudioff

literarischer Strukturen. Zentral steht die Vergleichbarkeit alltäglicher


Lebenswirklichkeit. A m Beispiel der N o v e l l e und von Anekdoten führt
Nietzsche das exemplarisch vor:
Das Rezept zum Beispiel, wie einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht
zu geben, aber die Ausführung setzt Eigenschaften voraus, über die man
hinwegzusehen pflegt, wenn man sagt >ich habe nicht genug Talente Man
mache nur hundert und mehr Entwürfe zu Novellen, keinen länger als zwei
Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, daß jedes Wort darin notwendig ist;
man schreibe täglich Anekdoten nieder, bis man es lernt, ihre prägnanteste,
wirkungsvollste Form zu finden; man sei unermüdlich im Sammeln und Aus-
malen menschlicher Typen und Charaktere; man erzähle vor allem so oft es
möglich ist und höre erzählen, mit scharfem Auge und Ohr für die Wirkung
auf die anderen Anwesenden, man reise wie ein Landschaftsmaler und Ko-
stümzeichner; man exzerpiere sich aus einzelnen Wissenschaften alles das,
was künstlerische Wirkungen macht, wenn es gut dargestellt wird, man denke
endlich über die Motive der menschlichen Handlungen nach, verschmähe
keinen Fingerzeig der Belehrung hierüber und sei ein Sammler von derglei-
chen Dingen bei Tag und Nacht. In dieser mannigfachen Übung lasse man
einige zehn Jahre vorübergehen: was dann aber in der Werkstätte geschaffen
wird, darf auch hinaus in das Licht der Straße. (M,A, S. 555)

Vorliegende Ausführungen sind nicht frei von möglichen Mißverständ-


nissen. Das betrifft primär die Verwendung des Begriffs »Rezept«. Auf
den ersten Blick könnte man annehmen, es handle sich hier wie bei
e i n e m Kochrezept u m die Auflistung von Zutaten, die nur gut zusam-
mengerührt werden müßten. Das ist jedoch nicht der Fall. Der Ter-
m i n u s »Rezept« fungiert als ein Kampfbegriff gegen geniales Produ-
zieren, gegen Inspirationslehren und enthusiastische Schwärmerei.
Einiges spricht dafür, daß der oben zitierte Zusammenhang auf den
produktionsästhetischen Konflikt zwischen Piaton und Aristoteles ver-
weist. 2 2 Bereits die Aristotelische »Poetik« stellt unter Berufung auf
den handwerklichen Charakter (poiesis) des dichterischen Hervorbrin-
gens gewisse Arbeitsregeln für den Dichter auf. Sie stimmen in wesent-
lichen Positionen mit Nietzsches Anleitungen überein. Stichpunkte
sind hier die Studien über die Wirkung des Dargestellten, die Beobach-
tung der Charaktere und der Motive menschlichen Handelns, nicht
zuletzt die Empfehlungen zum A u f b a u eines Handlungsgerüsts. Be-
sondere Bedeutung k o m m t dem Hinweis des Aristoteles zu, die Ausar-
beitung der Werksetzung schrittweise vorzunehmen. D i e einzelnen Tei-
le sollen für sich auf dem Hintergrund des Ganzen formuliert wer-
den. 2 3 Gerade das macht bei Nietzsche den angesprochenen »Handwer-
22
Vgl. dazu den direkten Verweis Nietzsches auf Piatons Enthusiasmus-Lehre
(M,A, S. 557).
23
Vgl. Aristoteles, Poetik. Übersetzung von Olof Gigon, Stuttgart 1961, Kapitel
17 u. 18, S. 48ff. - Dieser Zusammenhang kann hier nur angedeutet werden.
Vgl. dazu ausführlich: Holger Rudioff, Produktionsästhetik und Produktions-
didaktik, a. a. Ο.
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens 109

ker-Ernst« aus. Er besteht in der sukzessiven Herausbildung der Ein-


zelteile, im Entwerfen, Verwerfen, Sammeln und Verknüpfen. Damit
ist gerade ein mechanischer Rezeptcharakter literarischen Produzie-
rens in Frage gestellt. Denn angenommen, es gäbe ein verbindlich fest-
stehendes Rezept, so würden sich ja gerade die mühsamen und als lang-
fristig ausgewiesenen Stadien des Sammeins und Verwerfens erübrigen.
Demzufolge ist die Auslegung zulässig, daß der Begriff »Rezept« sich
nicht auf ein rein reproduktives Auffüllen vorgegebener Kriterien als
Anleitung zur Literaturproduktion bezieht. Vielmehr liegt es nahe an-
zunehmen, es gehe um Arbeitsverfahren, die theoretisch vom Werk
abhebbar sind. Durch die Methode der Abstraktion können handwerk-
liche Kriterien gewonnen werden, die als solche verallgemeinerbar
(und erlernbar) sind. Die konkreten Bedingungen der individuellen
Anwendung bleiben davon unberührt. Entscheidend ist, daß der Schaf-
fensprozeß anerkannter Genies mit der potentiellen Erlernbarkeit li-
terarischen Produzierens argumentativ verflochten wird. Auf diesem
Hintergrund erscheint eine mögliche Verallgemeinerbarkeit künstleri-
scher Tätigkeit nicht mehr ausgeschlossen zu sein.
Die vorliegende Vermutung kann zusätzlich durch Nietzsches These
abgestützt werden, die Reflexion der Schaffensschritte erlaube es, li-
terarisches Produzieren mit wissenschaftlicher Erkenntnis zu verglei-
chen. Diesen Grundzug der Moderne spricht Nietzsche direkt aus.
Dem Glauben an göttlichen und begnadeten Ursprung der Dichtung
hält er entgegen, daß dieser »die Wissenschaft [haßt]« (M,A, S. 551).
Nur durch die rigide Abwehr wissenschaftlicher Bezugspunkte sei dich-
terische Tätigkeit als übermenschliche Kraft ausweisbar. Literaturpro-
duktion teile mit wissenschaftlicher Tätigkeit die Notwendigkeit stren-
ger und mühevoller Disziplin. Eine einzigartige Metaphorik unterstützt
diesen Gedankengang:
Man schreibt ihnen [den »großen Geistern«, H. R.] wohl einen unmittelbaren
Blick in das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Er-
scheinung, zu und glaubt, daß sie ohne die Mühsal und Strenge der Wis-
senschaft, vermöge dieses wunderbaren Seherblickes, etwas Endgültiges und
Entscheidendes über Mensch und Welt mitteilen könnten.« (M,A, S. 556)

Die Parallelsetzung von künstlerischer und wissenschaftlicher Tätig-


keit verleitet Nietzsche jedoch nicht zu dem simplen Analogieschluß,
ihre jeweilige Besonderheit widerspruchslos einzuebnen. Kunstproduk-
tion geht weder in Reproduktionswissen noch in erlernbarer Anwen-
dung restlos auf. Über wissenschaftliche Erkenntnis hinaus bedarf
Kunst eines schöpferischen Subjekts, das über persönliche Einsichten,
Emotionen, erworbene Bildung und Erinnerung verfügt. Diese konsti-
tutive Rolle subjektiver Erkenntnis und Gestaltung stützt Nietzsche ab,
indem er nach den materiellen Bedingungen fragt, die die Persönlich-
110 Holger Rudioff

keit des Schriftstellers geprägt haben. Es sind eben keine metaphysisch


oder genetisch verbrämten Qualitäten, sondern »rein menschliche Ei-
genschaften«. Oft befördert gerade erst die Gunst der Stunde literari-
sche Produktivität:
Für große Geister selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher, wenn sie über
ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begrei-
fen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen
sind, welche Glücksumstände hinzutraten: also einmal anhaltende Energie,
entschlossene Hinwendung zu einzelnen Zielen, großer persönlicher Mut,
sodann das Glück einer Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Me-
thoden frühzeitig darbot. (M,A, S. 556)

Nietzsches Versuch, die Umstände künstlerischen Schaffens zu analy-


sieren, besitzt einen ausgeprägt antispekulativen Charakter. Gegen den
gründerzeitlichen Personenkult verlagert sich das Interesse auf die Ab-
hängigkeit der Kunst von Bildung und Erziehung. Das »Glück« der
»großen Geister« besteht weniger in einer schicksalhaften Fügung, es
erscheint als das Resultat von Sozialisationszusammenhängen. Gestal-
tung und Aneignung der Wirklichkeit wird nicht mehr als ursprüngli-
che Natur eines Genies ausgegeben, sondern als eine Verfahrensweise,
die bearbeitete Natur (das ästhetische Material, das gesellschaftliche
Individuum) zur Grundlage hat. 24
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Nietzsche der Wahrneh-
mungstäuschung genialen Produzierens eine rationale Einsicht in das
Gewordensein der Literatur entgegenhält. Das betrifft zum einen die
Erklärung des künstlerischen Subjekts. »Glücksumstände« der Soziali-
sation sind primär für seine Ausbildung verantwortlich. Zum andern
wird Kunst durchgängig als ein durch Arbeit erworbenes Können er-
klärt. Mit dem Hinweis auf den handwerklichen und wissenschaftli-
chen Arbeitscharakter verbindet sich die erkenntnisoptimistische An-
nahme einer Befreiung literarischen Produzierens aus der Vormund-
schaft des Exklusiven, einer Befreiung von der Einschüchterung durch
Literatur. Literaturproduktion wird potentiell zu einer Tätigkeit, die
erlernbar ist (»Handwerker-Ernst«) und jedermann offensteht.
Die Aktualität der Kritik Nietzsches spiegelt sich abschließend noch
einmal in einer essayistischen Notiz Umberto Ecos über den literari-
schen Arbeitsprozeß:
24
Nietzsches Entmystifizierung des künstlerischen Genies findet in der Gegen-
wart ein theoretisches Pendant in den Schriften Paul Valerys »Zur Theorie
der Dichtkunst« (Frankfurt/M. 1975). Valery argumentiert gegen übernatür-
liche Kräfte im Gestaltungsprozeß, indem er seelische Antriebspotentiale
und die Verfügung über künstlerische Mittel geltend macht. Im Gegensatz zu
Nietzsche jedoch, der die »großen Geister« so eindringlich zur bescheidenen
Einsicht in ihre »Glücksumstände« ruft, setzt Valery auf den Stolz (orgueil)
als Motor individuellen Produzierens. Durch diese zentrale Kategorie wird
dem Glauben an eine Sonderpersönlichkeit erneut Vorschub geleistet.
Historische Bezugspunkte kreativen Schreibens 111

Wenn ein Autor behauptet, er habe im Rausch der Inspiration geschrieben,


lügt er. Genie ist zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpira-
tion.
Lamartine schrieb einmal, ich weiß nicht mehr, über welches seiner Gedich-
te, es sei ihm spontan eingefallen, urplötzlich in einer stürmischen Nacht im
Walde. Als er gestorben war, fand man seine Manuskripte mit zahlreichen
Korrekturen und Varianten, und besagtes Gedicht erwies sich als das viel-
leicht am meisten >bearbeitete< der gesamten französischen Literatur. 25

25
Umberto Eco, Nachschrift zum >Namen der Rose<, München 1986, S. 18.
Greg Divers

Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben


an amerikanischen Colleges und Universitäten.
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Katrin Boeckel und Anna Rau

Ohne Zweifel ist kreatives Schreiben an amerikanischen Colleges und


Universitäten ein umstrittenes Diskussionsthema. Die Meinungen dar-
über, sowohl dafür als auch dagegen, sind so zahlreich wie die Institu-
tionen, die solche Studiengänge anbieten. Es ist nicht Zweck dieses
Beitrags, eine endgültige, den neuesten Stand darstellende Antwort auf
die Frage zu geben, was kreatives Schreiben ist und wie es an ameri-
kanischen Universitäten unterrichtet wird. Stattdessen wird der Autor
versuchen, eine Einführung in die Praxis zu bieten, in der akademische
Titel für kreative Arbeiten vergeben werden. Nach einem kurzen Abriß
der Geschichte des kreativen Schreibens in Amerika werde ich mich
auf einige der etablierten Studiengänge konzentrieren und einen Über-
blick über ihre Anforderungen, Ziele usw. geben. Dieser Abschnitt
wird außerdem einige der weniger bekannten Studiengänge nennen
(1984 gab es 274 amerikanische Institutionen, die einen Abschluß im
Bereich »Kreatives Schreiben« anboten), im Hinblick auf unterschied-
liche Charakteristika. Der größte Teil dieser Informationen stützt sich
auf Beschreibungen in Vorlesungsverzeichnissen und Informations-
blättern, die von den jeweiligen Veranstaltern ausgegeben werden.
Über diesen broschüreartigen Ansatz hinaus werde ich Schriftsteller zu
Wort kommen lassen, die kreatives Schreiben »lehren« und das Wesen
ihres Schreibseminars darstellen. Ihre Kommentare werden gleichsam
im Interviewstil wiedergegeben. Der Schlußteil wird einen Überblick
darüber geben, wie kreatives Schreiben in Amerika praktiziert wird
und wie es sich über die Grenzen von Akademia hinaus verbreitet.
Sucht man nach den Anfängen des kreativen Schreibens in Amerika,
könnte man sie an der Columbia University in New York City finden:
1909 nahmen dort 25 Studenten an einem literarischen Schreibseminar
unter der Leitung von Walter Pitkin teil. In der Folgezeit gehörten zu
den Autoren/Lehrern an der Columbia University so berühmte Schrift-
steller wie Leonie Adams, Babette Deutsch, Pearl Buck, James T. Far-
rel, Martha Foley, Lillian Hellman, Caroline Gordon, Stanley Kunitz,
Susan Sontag, Harvey Swados und Grace Paley. Darüberhinaus studier-
ten an der Columbia University eine Reihe von Schreibstudenten, die
später bemerkenswerte literarische Laufbahnen beschritten: Paul Gal-
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 113

lico, Richard Rodgers, Kay Boyle, J. D. Salinger, Richard Yates, Carson


McCullers und Mario Puzo. Die Institution, die heute in Amerika am
engsten mit kreativem Schreiben verbunden ist, ist die University of
Iowa in Iowa City. Der »Iowa Writers' Workshop«, wie er allgemein
genannt wird, verdankt seine Entstehung der fortschrittlichen Einstel-
lung des Lehrkörpers. Carl Seashore, der damalige Dekan des Graduate
College, schuf 1922 einen nationalen Präzedenzfall, als er bekanntgab,
daß eine kreative Arbeit als schriftliche Leistung zur Erlangung eines
akademischen Grades anerkannt würde. Als Folge davon begann Nor-
man Foerster, Leiter der School of Letters, regelmäßige Schreibsemi-
nare anzubieten, in denen ausgewählte Studenten von ortsansässigen
und Gast-Schriftstellern betreut wurden. Der Studiengang begann 1936,
als Dichter und Schriftsteller unter der Leitung von Wilbur Schramm
zusammenkamen. Von Anfang an erfreute er sich einer Reihe erlese-
ner Gäste, unter ihnen Robert Frost, Stephen Vincent Benet und Ro-
bert Penn Warren, die Vorlesungen hielten und sich über mehrere Wo-
chen hinweg mit den Arbeiten der Studenten auseinandersetzten.
Einer der ersten Studenten mit einem Magisterabschluß in kreati-
vem Schreiben war Paul Engle. Als Examensarbeit legte er eine Ge-
dichtsammlung vor, Worn Earth, für die er den Yale Youngster Poets-
Preis erhalten hatte. Paul Engle übernahm 1941 die Leitung des Stu-
diengangs und behielt sie 25 Jahre, eine Zeit, in der sich der Studien-
gang weiterentwickelte und zu einer treibenden Kraft in der Literatur-
szene Amerikas wurde. Während des Zweiten Weltkriegs waren nicht
mehr als ein Dutzend Studenten eingeschrieben, aber unmittelbar da-
nach stieg ihre Zahl an. Sie erreichte innerhalb weniger Jahre eine
Stärke von über 100 Studenten, die sich dann auf die heutige Prosa- und
Lyriksektion aufteilten. Der Studiengang »Kreatives Schreiben« an der
University of Iowa hat eine doppelte Zielsetzung und Funktion. Aus
dem Informationsblatt des »Iowa Writers' Workshop« selbst:

Als Studiengang bieten wir den Abschluß Master of Fine Arts ( M F A ) in


Englisch, der dazu qualifiziert, kreatives Schreiben auf College-Ebene zu un-
terrichten. In einem >Workshop< bieten wir begabten Schreibenden die Mög-
lichkeit, mit anerkannten Dichtern und/oder Schriftstellern zu arbeiten und
von ihnen zu lernen. Wenn wir auch zum Teil der weit verbreiteten Annah-
me zustimmen, daß Schreiben nicht gelehrt werden kann, so ist für uns und
unsere Arbeit doch grundlegend, daß Begabungen entfaltet werden können.
In diesem Licht sehen wir auch unsere Möglichkeiten und Grenzen als Lehr-
stätte. Wenn man >lernen< kann, Geige zu spielen oder zu malen, dann kann
man auch schreiben >lernen<, obwohl kein von außen einwirkendes Training
sicherstellen kann, daß man es gut können wird. Die Tatsache, daß der Stu-
diengang national und international bekannte Dichter und Schriftsteller zu
seinen Absolventen zählen kann, ist folglich eher das Ergebnis dessen, was sie
hierher mitbrachten, als dessen, was sie von hier mitgenommen haben. Wir
suchen weiterhin nach den vielversprechendsten Begabungen im Lande, in
114 Greg Divers

der Überzeugung, daß Schreiben an sich nicht gelehrt werden kann, aber daß
Schreibende gefördert werden können. 1

Mitte der 60er Jahre waren Columbia und Iowa zwei von einer Hand-
voll Universitäten mit Magisterabschlüssen in kreativem Schreiben; zu
den anderen gehörten Stanford und Johns Hopkins. In den darauffol-
genden zehn Jahren kamen buchstäblich Dutzende neuer Schreibstu-
diengänge überall in Nordamerika dazu, nicht wenige von Absolventen
des »Iowa Writers' Workshop« gegründet. Der weitere Anstieg der
Schreibstudiengänge auf College-Ebene in den neun Jahren zwischen
1975 und 1984 wird aus einer inoffiziellen Erhebung des AWP Cata-
logue of Writing Programs ersichtlich:

BA BFA ΜΑ MF A Ph.D. DA insgesamt


1975 24 3 32 15 5 1 80
1984 155 10 99 31 20 5 320

Studiengänge, die Seminare in kreativem Schreiben enthalten, aber kei-


nen formalen Abschluß in kreativem Schreiben vorsehen:
1975 57
1984 80

Die obigen Zahlen machen das stetige Anwachsen akademisch aner-


kannter Schreibstudiengänge in den Vereinigten Staaten und Kanada
deutlich. Die Gesamtzahl der Studiengänge spiegelt nicht die Gesamt-
zahl der Colleges und Universitäten, die solche anbieten, da bestimmte
Institutionen sowohl B.A.- als auch M.A.- (bzw. Ph.D.-) Abschlüsse vor-
sehen. Nach dem AWP-Katalog von 19842 gab es 279 Colleges und
Universitäten mit Studiengängen für kreatives Schreiben. Bemerkens-

1
The Writers' Workshop, Broschüre, gedruckt von »The Writers' Workshop«,
University of Iowa, Iowa City, IA 52242 - USA, S. 1. Fast die gesamte Infor-
mation über den »Writers' Workshop« in Iowa City in diesem Aufsatz
stammt aus dieser Broschüre.
2
A WP Catalogue of Writing Programs, 4. Auflage, zusammengestellt von Ka-
thy Hammer-Sarosdy (Norfolk, Virginia: Associated Writing Programs, 1984).
Associated Writing Programs {A WP) ist eine nationale, gemeinnützige Or-
ganisation von Schriftstellern und Veranstaltern von Schreibstudiengängen,
die sich durch Mitgliedsbeiträge, öffentliche Gelder und Schenkungen finan-
ziert. Neben dem Catalogue (die nächste durchgesehene Auflage erscheint
1988) veröffentlicht AWP auch sechs Mal im Jahr während der beiden
Hauptsemester den A WP Newsletter. Er enthält einige Primärliteratur (Ge-
dichte und Kurzgeschichten), ist aber besonders interessant wegen der Sparte
»Letters, Information and Services« und der Artikel über einzelne Studien-
gänge. Als Schirmorganisation für Schriftsteller und Veranstalter von Stu-
diengängen veröffentlicht A WP auch eine Liste mit Stellenangeboten. (As-
sociated Writing Programs, Old Dominion University, Norfolk, VA 23508-
8501, USA).
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 115

wert ist vor allem der Anstieg der Studiengänge mit B.A.-Abschluß,
deren Absolventen danach häufig bis zum M.A. weitermachen. Dar-
über hinaus zeigt der Gesamtanstieg einen natürlichen Wachstumszyk-
lus auf (Kritiker könnten sagen, einen circulus viciosus): Je m e h r M.A.-
und M.F.A.-Absolventen es gibt, desto größer das Angebot an qualifi-
zierten Lehrern f ü r kreatives Schreiben. Dies wiederum f ü h r t zur
G r ü n d u n g neuer und Erweiterung bestehender Studiengänge auf allen
akademischen Ebenen.
Wie schon erwähnt dient der »Iowa Writers' Workshop« seit langem
als Modell f ü r andere Studiengänge. Dies gilt vor allem im Hinblick
auf die Organisation der Seminare, d. h. ihrer einzelnen Sitzungen und
der darin angewandten Methoden. Im allgemeinen treffen sich die Se-
minarteilnehmer einmal wöchentlich im Semester, meist abends, für
mindestens drei Stunden. Einige Seminare sind gemischt, d.h. sie um-
fassen Lyrik und Prosa, während andere auf eine der beiden Formen
beschränkt sind. Manchmal wird bei der Diskussion ausgewählter Stük-
ke Anonymität gewahrt, jedoch steht normalerweise der N a m e der Stu-
denten auf den Manuskriptkopien. Der Schlüssel zum Erfolg eines je-
den Seminars liegt in der Vorbereitung. Mit anderen Worten: Die Stu-
denten erscheinen zu den wöchentlichen Sitzungen nicht einfach mit
Kopien ihrer Arbeit, u m sie den anderen auszuteilen. Gedichte und
Geschichten werden im voraus eingereicht und kopiert, so daß alle
Seminarteilnehmer, Lehrer wie Studenten, mindestens ein bis zwei
Tage Zeit haben, sich mit den zu diskutierenden Stücken vertraut zu
machen. Abgesehen von den Diskussionen über die Arbeiten wird oft
zusätzlicher Lesestoff aufgegeben, meist beispielhafte Gedichte, Ge-
schichten oder Romananfänge, um bestimmte Techniken deutlich zu
machen. Schließlich k ö n n e n diese Beispiele auch dazu dienen, daß Stu-
denten (und Lehrer) den jeweiligen Text zur Übung imitieren oder
vielleicht parodieren.
Es gibt keine Garantie, daß das Seminar dem schreibenden Studen-
ten das gewünschte Publikum oder Forum bietet. Die Entstehung eines
Anti-Seminars ist daher nicht ungewöhnlich. In solch einem Fall tref-
fen sich kleinere G r u p p e n ( 2 - 4 Studenten) auf eigene Initative zusätz-
lich zu den offiziellen Treffen, die im Idealfall 1 2 - 1 5 Teilnehmer ha-
ben. Die formalen Anforderungen sind verschieden, jedoch oft rein
quantitativ, ζ. B. ein Gedicht pro Woche (evtl. weniger bei >langen<
Gedichten), 30 - 40 Seiten Prosa in einem Semester von 1 0 - 1 3 Wo-
chen, oder eine Kombination von beidem. Natürlich k a n n nicht alles
diskutiert werden, was während eines Semesters geschrieben wird.
Folglich sind Kommunikation und Kooperation notwendig, u m sicher-
zustellen, daß die Studenten zu den Texten, f ü r die es ihnen wichtig ist,
Rückmeldung erhalten. Die Beurteilung der Qualität ist in erster Linie
116 Greg Divers

die Aufgabe des gesamten Seminars. Selbstverständlich trägt der Lehrer


die Verantwortung für die Noten der Studenten; infolge der Natur die-
ser Schreibseminare ein besonders subjektives Urteil. Früher, in den
späten 60er und frühen 70er Jahren, unterschied die Notengebung oft
nur zwischen »bestanden«/»nicht bestanden«. Zur Zeit wird mehr
Wert auf differenziertere Noten gelegt, und die aktive Teilnahme der
Studenten an den Seminardiskussionen spielt - neben ihren eigenen
Texten - eine wichtige Rolle in der Gesamtbewertung. Schließlich sol-
len die Studenten lernen, eines Tages selbst ein Seminar zu leiten.
Letztlich wird die qualitative Bewertung ihrer Texte dadurch festgelegt
(wieder subjektiv), ob und wo sie ihr Werk veröffentlichen.
Während sich die in Schreibseminaren verwendeten Methoden glei-
chen, ist die Gewichtung der eigenen Texte der Studenten zur Erfül-
lung der Anforderungen für einen Studienabschluß sehr verschieden.
Beispielsweise wird für einen »BA in Englisch mit Schwerpunkt in
Kreativem Schreiben« meist die Erfüllung der Standardanforderungen
in Literatur und Aufsatz wie für einen BA in Englisch gefordert und
zusätzlich bestimmte Seminare in kreativem Schreiben - im allgemei-
nen eine Reihe von Einführungskursen, Schreibtechnikkursen und
Workshops für Fortgeschrittene. Für einen BFA in kreativem Schrei-
ben jedoch wird viel mehr Wert auf Schreibseminare und weniger auf
literaturwissenschaftliche Studien gelegt. Entsprechend verlangen ver-
schiedene Studiengänge für den MA-Abschluß neben den Schreibse-
minaren unterschiedlich viele traditionelle Literaturseminare. Laut
Α WP-Katalog können die folgenden allgemeinen Unterscheidungen
bezüglich der Magister-Studiengänge getroffen werden:

STUDIO-SCHREIBPROGRAMME (Ζ. B. an der University of Iowa, Johns Hopkins


University, British Columbia University, am Brooklyn College und am Sarah
Lawrence College) legen den Hauptakzent auf die Schreiberfahrung der Stu-
denten. Sie ähneln deshalb am ehesten Studiengängen in Musik, Tanz und
den Bildenden Künsten. Die meiste Arbeit wird innerhalb von Workshops,
selbständigen Schreibprojekten oder Tutorien und bei der Vorbereitung der
Abschlußarbeit geleistet. Studien zu Form und Theorie oder über zeitgenös-
sische Schriftsteller können in Workshops enthalten sein oder in Begleit-
seminaren angeboten werden. Die Lehrkräfte solcher Studiengänge werden
aufgrund ihrer kreativen Leistungen ausgewählt, nicht wegen wissenschaft-
lichen Arbeiten. Die Studenten werden zu solchen Studiengängen fast aus-
schließlich auf der Basis einer eingereichten Schreibprobe zugelassen, und
das ausschlaggebende Kriterium für die Titelvergabe am Ende ist wiederum
die Qualität des eingereichten Manuskripts.
AKADEMISCHE STUDIO-SCHREIBPROGRAMME (die Mehrheit der MA- und
MFA-Studiengänge in den USA) legen im allgemeinen gleichermaßen Wert
auf Schreib- wie auf Literaturseminare, denn sie gehen davon aus, daß für die
schriftstellerische Entwicklung ein Literaturstudium entscheidend ist. Diese
Studiengänge unterscheiden sich beträchtlich in den literaturwissenschaftli-
chen Anforderungen, verlassen sich jedoch häufig, was literaturwissenschaft-
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 117

liehe Angebote, Seminare und Examensarbeitsvorschläge anbetrifft, auf den


Lehrkörper der regulären Englischabteilung, der für seine wissenschaftlichen
Leistungen anerkannt ist. Akademische Studioprogramme verlangen oft eine
umfassende Prüfung, die von den Kandidaten gleich gute Vorbereitung auf
Literatur und Schreiben fordert. Die Zulassung basiert überwiegend auf der
Qualität eines Originalmanuskripts.
STUDIENGÄNGE IN TRADITIONELLER LITERATURWISSENSCHAFT UND KREA-
TIVEM S C H R E I B E N Stanford) bieten Schreibseminare mit erfahrenen
(Ζ. B .
Schriftstellern des Lehrkörpers an und erlauben eine kreative Abschlußar-
beit, erwarten aber auch, daß ein wesentlicher Anteil der Anforderungen für
einen Abschluß in literaturwissenschaftlichen Studien erbracht wird, nor-
malerweise in Seminaren der Englischabteilung. Diese Studiengänge neigen
dazu, sich fest an der akademischen Tradition auszurichten, und betonen die
Ausbildung ihrer Studenten sowohl zu literaturwissenschaftlichen Lehrern
als auch zu Schriftstellern. Für Zulassung und Titelvergabe legen sie häufig
dieselben Kriterien an wie bei Kandidaten in Literaturwissenschaft, ein-
schließlich umfassender Prüfungen und Fremdsprachenanforderungen. 3 Die
Institutionen, die Promotionen anbieten (Ph.D. und D. A. = Doctor of Arts),
gehören meist in die letztere Kategorie der traditionellen literaturwissen-
schaftlichen Studien.

D i e A n f o r d e r u n g e n für den M F A - A b s c h l u ß (Studioprogramm) an der


University of Iowa ζ. Β. sind folgende:

Der Studiengang, der zu einem Abschluß führt, ist sehr flexibel. Der Kandi-
dat muß vier Semester Hauptstudium zufriedenstellend vollenden, mit ins-
gesamt mindestens 48 SWS (Semesterwochenstunden). Ungefähr die Hälfte
davon muß in eigentlichen Schreibseminaren dieses Studiengangs bestehen,
während der Rest Hauptseminare anderer Abteilungen oder Studiengänge
einschließen kann. Der Studiengang schließt mit einer schriftlichen kreativen
Arbeit (äquivalent zu maximal 12 SWS) und mit einer Hausarbeit im letzten
Semester ab. Die angebotenen Seminare sind in Schreib- und Literatursemi-
nare unterteilt, die alle zweimal belegt werden können. Sie umfassen einen
Lyrik- und einen Prosa-Workshop für Fortgeschrittene, je ein Seminar über
Gedicht- bzw. Prosaformen sowie Seminare über moderne Prosa und moder-
ne Lyrik. 4

D i e Formen-Seminare und die über m o d e r n e Prosa u n d Lyrik sind


dreistündig und w e r d e n jedes Semester angeboten. Sie konzentrieren
sich auf e i n e n e i n z i g e n Aspekt moderner Lyrik oder Prosa, eventuell
auf das Werk eines e i n z i g e n Autors oder auf ein Werkekorpus gleicher
T h e m e n oder Zwecke. D i e Seminare werden jedes Semester von einer
anderen Lehrkraft gehalten und die Leselisten sind i m m e r unter-
schiedlich. D i e W o r k s h o p s gelten eine »verabredete« A n z a h l v o n SWS
ab ( 1 - 6 SWS), je nach dem, wieviel Zeit die Studenten tatsächlich d e m
Schreiben w i d m e n wollen. Während der vier Semester m ü s s e n die Stu-
d e n t e n vier W o r k s h o p s in Prosa oder Lyrik für Fortgeschrittene bele-

3
A WP Catalogue, 1984, S. vi.
4
Iowa Broschüre, S. 2, 4 (vgl. Fußnote 1).
118 Greg Divers

gen, und es wird erwartet, daß sie im Laufe ihres Studiums bei ver-
schiedenen Lehrkräften studieren.
Ein anderes Seminar an der University of Iowa ist der Überset-
zungs-Workshop, der in Verbindung mit dem Studiengang Vergleichen-
de Literaturwissenschaft angeboten wird. (Dieses Seminar könnte als
fakultatives neben den vier obligatorischen zu Schreibformen betrach-
tet werden.) Die meiste Zeit beanspruchen hier einzelne Projekte in
Prosa oder Lyrik, bei denen direkt aus einer Fremdsprache übersetzt
wird, neben einigen Gruppenübungen, um die Diskussionen zu fokus-
sieren und typische Übersetzungsprobleme identifizieren zu helfen. In
den Wintersemestern kann mit der Teilnahme von Gastschriftstellern
des Internationalen Schreibstudiengangs gerechnet werden. Neuere Se-
minararbeiten haben Übersetzungen aus dem Französischen, Spani-
schen, Niederländischen, Deutschen, Italienischen, Polnischen, Chi-
nesischen, Japanischen, Koreanischen, Tagalog, Äthiopischen, Pashto,
Türkischen, Suaheli und Urdu hervorgebracht. Im Wintersemester bie-
tet der Internationale Schreibstudiengang wöchentlich Seminare und
Podiumsdiskussionen zur Literaturszene in anderen Ländern an. Die
Podiumsteilnehmer schließen sowohl Lehrkräfte und Gastschriftsteller
des Internationalen Schreibstudiengangs als auch Lehrkräfte und Gäste
des »Writers' Workshop« ein.
Das Schlüsselwort in dieser Beschreibung der MFA-Anforderungen
an der University of Iowa ist »flexibel«. Der Schwerpunkt liegt deut-
lich auf dem Selber-Schreiben, insbesondere auf dem Schreiben inner-
halb des eigentlichen Schreibseminars. Die übrige Seminararbeit wird
im Idealfall aus einer passenden Gruppierung von Seminaren in Ein-
klang mit den Interessen des Studenten bestehen. Die Gesamtbewer-
tung basiert hauptsächlich auf dem fertigen Produkt, d. h. auf der Ma-
gisterarbeit. Diese Arbeit sollte eine »angemessene Länge« haben, mit
anderen Worten: eine Sammlung von Gedichten oder Kurzgeschichten
von Buchumfang, eine Novelle oder ein Roman. Die universitäre Ar-
beitsvermittlung hilft den Absolventen, eine Stelle als Lehrer zu fin-
den. Wenn es auch stimmt, daß der MFA-Titel von Iowa eine gute
Empfehlung darstellt, so ist der »Iowa Writers' Workshop« doch »nicht
in der Lage, Stellen für alle seine Absolventen zu finden. Der Studien-
gang ist in erster Linie eine Gemeinschaft von Schreibenden, die Zeit
zum Schreiben haben möchten, während sie gleichzeitig akademische
Zeugnisse dafür erhalten.« 5
Ein so flexibler Studiengang muß dem jungen aufstrebenden Schrift-
steller natürlich attraktiv erscheinen, der für seine oder ihre kreative
Leistung akademische Belege erhalten möchte. Folglich besteht um die

5
Iowa Broschüre, S. 10.
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 119

Zulassung zum »Iowa Writers' Workshop« große Konkurrenz. Zusätz-


lich zur Einsendung eines Manuskripts kann der Bewerber Empfeh-
lungsschreiben von Lehrern in Eingangsstudiengängen für kreatives
Schreiben einreichen. Sachprosa oder Rezensionen sind zwar von In-
teresse, werden aber nicht als Grundlage für eine Zulassungsentschei-
dung akzeptiert. Im allgemeinen steht für ca. ein Drittel der zugelas-
senen Studenten finanzielle Hilfe zur Verfügung. Auch hier ist die
Konkurrenz scharf, und wegen der begrenzten finanziellen Mittel wer-
den neue Studenten auch aufgrund von Preisen für hervorragende Ma-
nuskripte ausgewählt. Über finanzielle Unterstützung für bereits länger
Studierende entscheiden normalerweise ihre Leistungen und die Emp-
fehlung der Lehrer. Meist besteht die finanzielle Hilfe in Forschungs-
oder Lehrassistentenstellen und in Schreibstipendien mit begrenzter
Lehrverpflichtung.
Die Mehrheit der Studiengänge Kreatives Schreiben mit MFA-Ab-
schluß in den USA gehört zur Kategorie >academic/studio<. Normaler-
weise führt ein zweijähriges Studium (vier Semester) zum akademi-
schen Studio-MFA-Abschluß; aber es ist nicht ungewöhnlich, daß ein
Student ein zusätzliches Jahr benötigt, um die Magisterarbeit ab-
zuschließen, die (wieder) eine Sammlung von Gedichten, Geschichten
oder ein Roman von Buchumfang ist. Wegen der Verpflichtung zu tra-
ditionellen literaturwissenschaftlichen Seminaren sammeln viele Stu-
denten in zwei Jahren einfach nicht genug »Qualitätsmaterial« an, um
den Ansprüchen einer Magisterarbeit zu genügen. Die literaturwis-
senschaftlichen Anforderungen werden damit begründet, daß Absol-
venten, die Lehrer werden, die Tradition kennen sollten - wahrschein-
lich der einzig umstrittene Punkt, was Abschlüsse in kreativem Schrei-
ben angeht. Im Endergebnis, besonders bei den traditionelleren Stu-
diengängen, erbringen die Absolventen Leistungen, die äquivalent sind
einem traditionellen Magisterabschluß in Englischer Literatur plus ei-
nem MFA-Abschluß des Studio-Typs in kreativem Schreiben. Eine Rei-
he dieser sog. akademischen Studioprogramme ist es wirklich wert, er-
wähnt zu werden. Viele von ihnen bieten einzigartige Studiengänge an,
hauptsächlich wegen ihrer Lehrkräfte oder Gäste und einer besonderen
geographischen Szene, die eine regionale literarische Tradition wider-
spiegelt. Die University of North Carolina in Greensboro und die Uni-
versity of Southern Mississippi in Hattiesburg bieten beispielsweise Stu-
diengänge, die aus der reichen literarischen Tradition des amerikani-
schen Südens schöpfen. Die University of Alaska-Fairbanks ist offen-
kundig einzigartig als nördlichste Universität Amerikas, und ihre regio-
nale Besonderheit zieht, über einen ständigen Lehrkörper hinaus, eine
Anzahl von Gastschriftstellern aus aller Welt an, unter ihnen Ted Hug-
hes und Günter Grass. Die University of Montana in Missoula hat als
120 G r e g Divers

eine der letzten Siedlungsgrenzen in Amerika eine ähnliche Anzie-


hungskraft. Studiengänge innerhalb größerer städtischer Gebiete wer-
den durch die kulturellen Angebote des Stadtlebens bereichert; in diese
Kategorie fallen Boston University, San Francisco State University, die
University of Illinois in Chicago, New York University und das City
College in New York. Die University of Southern California in Los
Angeles bietet auch einen Abschluß in kreativem Schreiben an, der,
wie zu erwarten, einen Schwerpunkt im Schreiben von Dramen und
Drehbüchern für Film und Fernsehen hat.
Die Rolle kleiner Zeitschriften, wie ζ. B. literarischer Zeitschriften,
kann für zeitgenössisches Schreiben in Amerika nicht übersehen wer-
den, und viele dieser Zeitschriften haben direkte Verbindungen zu
Schreibstudiengängen. Studenten des MFA-Studiengangs an der Uni-
versity of Oregon arbeiten oft als Lektoren, manchmal als Herausgeber,
für die Northwest-Review, die von der Universität herausgegeben wird.
Wayne Dodd, Herausgeber von The Ohio Review, gehört zum Lehr-
körper für kreatives Schreiben an der Ohio University, und Oberlin
College in Ohio, obwohl es nur einen BA in kreativem Schreiben an-
bietet, hat sich durch die international anerkannte Veröffentlichung
Field: Contemporary Poetry and Poetics einen Namen gemacht, die von
Professoren des College herausgegeben wird, die gleichzeitig Schrift-
steller sind. Es gibt zahllose Zeitschriften, die genannt werken könnten
- wer an Vollständigkeit interessiert ist, sollte The International Direc-
tory of Little Magazines and Small Presses zu Rate ziehen, das von der
Pushcart Press verlegt wird. Die kleinen Zeitschriften bieten nicht nur
wertvolle herausgeberische (Praxis-) Erfahrung für Studenten des krea-
tiven Schreibens, sondern mehr noch die Möglichkeit, über den MFA-
Abschluß hinaus nachweisbare Leistungen zu erbringen. Der Schrift-
steller muß wie der Wissenschaftler veröffentlichen oder untergehen.
Und das Erscheinen in literarischen Zeitschriften ist von höchster
Wichtigkeit, um sich einen Namen zu machen und ein Buch zu veröf-
fentlichen.
Was die letzte Kategorie von Schreibstudiengängen mit MA-Ab-
schluß betrifft, TRADITIONELLE LITERATURWISSENSCHAFT UND KREATI-
VES SCHREIBEN, soll Stanford University als Beispiel dienen. Stanford
bietet einen Magisterabschluß in Englischer Literatur/Kreativem
Schreiben an, für den 45 SWS verlangt werden. Neben der üblichen
kreativen Abschlußarbeit muß der Student 15 SWS Schreibseminare
und 30 SWS Literaturseminare belegen. Die Zulassung erfolgt aufgrund
von wissenschaftlichen sowie kreativen Leistungen; der ΜA-Abschluß
kann in zwei Jahren erreicht werden. Jeder Student, der zu dem Stan-
ford-Studiengang zugelassen ist, erhält für diese zwei Jahre finanzielle
Unterstützung. Im zweiten Jahr sind auch einige Stipendien mit be-
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 121

grenzter Lehrverpflichtung erhältlich. Für außergewöhnlich begabte


Student(inn)en, die entschlossen sind, die Schriftstellerei zu ihrem Be-
ruf zu machen, bietet Stanford sechs Wallace Ε. Stegner-Schreibstipen-
dien: vier für literarische Prosa, zwei für Lyrik. Diese Stipendiaten wid-
men ihre ganze Zeit dem Schreiben, und demgemäß verpflichtet ihr
Stipendium sie, nur ein fortgeschrittenes Seminar in Prosa oder Lyrik
zu besuchen. Wenn sie einen Abschluß machen wollen, müssen sie sich
über die Zulassungsstelle bewerben. Das Stegner-Stipendium wird al-
lein auf der Basis einer Mappe mit Texten vergeben.6
Die vorangehenden Informationen über die Bandbreite der Schreib-
studiengänge mit Magisterabschluß in den USA haben, hoffentlich, ei-
nen groben Umriß dessen aufgezeigt, was von den Studenten erwartet
wird, die einen kreativen Abschluß anstreben. Was nähere Einzelheiten
darüber betrifft, wie ein Schreibseminar funktioniert, kann der Autor
nur vorschlagen, mehrere Seminare zu besuchen und es selbst heraus-
zufinden. Dies ist zugegebenermaßen ein unpraktischer, wenn nicht
undurchführbarer, Vorschlag für europäische Leser; als Alternative
könnte man The Writing Workshop, vol. 1, von Alan Ziegler (1981 bei
The Teachers & Writers Collaborative, 84 Fifth Avenue, New York,
NY 10011 USA erschienen) konsultieren. Ziegler, der zum Lehrkörper
der Columbia University gehört, konzentriert sich mehr auf allgemeine
praktische Methoden, die im Seminar verwendet werden, als auf be-
stimmte Studiengänge. Denjenigen, die mit Seminarmethodologie
nicht vertraut sind, gibt Ziegler wertvolle Hinweise, wie man an ein
Gedicht oder eine Geschichte im Seminar herangehen kann und wel-
che Arten von Übungen dazu dienen können, die studentischen Schrei-
benden anzuregen.

Interviews mit bekannten amerikanischen Schriftstellern und Diskus-


sionen über ihre Arbeit sind in den letzten Jahren immer populärer
geworden. Sie erscheinen regelmäßig in literarischen Zeitschriften und
werden des öfteren gesammelt und dann als Buch veröffentlicht. Krea-
tives Schreiben ist Thema des Bandes Craft So Hard To Learn - Con-
versations with Poets and Novelists About the Teaching of Writing. Die
Interviews werden von John Graham geführt und von George Garrett
herausgegeben. Fred Chappell, Dichter, Romancier und langjähriges
Fakultätsmitglied an der University of North Carolina in Greensboro,
ist der Ansicht, daß Kunst - und damit auch die Schreibkunst - so gut
wie gar nicht gelehrt werden kann. Jedoch gebe es Aspekte, die davon
ausgenommen seien:

6
A WP Catalogue, S. 101 f.
122 Greg Divers

Man kann jemanden lehren, die Arbeit eines anderen zu lesen; man kann
ihn lehren, etwa eine Kurzgeschichte von Tschechow zum ersten Mal stil-
kritisch zu lesen, so daß er das erkennt, was die meisten normalerweise
überlesen, etwa die offensichtlichen Dinge - wie eine Person ein Zimmer
betritt und verläßt, welche kleinen Schwächen ihre Stimme verrät, welche
Nuancen sie von anderen Menschen unterscheiden!...] [ein Musikstudent
hört] Mozart anders, genauso verändert sich Literatur, wenn jemand erst ein-
mal diese Anfangsgründe gelernt hat. Was man lehren kann, ist, wie man
nicht schreiben sollte. 7

Sylvia Wilkinson, Romanschriftstellerin und Lehrerin für kreatives


Schreiben an der University of North Carolina in Chapel Hill, betont
weniger, was Studenten in einem Schreibseminar lernen können, son-
dern die dort herrschende Arbeitsatmosphäre:
Ich war erst zwölf Jahre alt, als ich zu schreiben anfing, und ich versuchte, in
der Schule Kommentare zu meinen Texten zu bekommen. Aber, wie ich
schnell herausfand, war das eine hoffnungslose Angelegenheit. Dort darf
man bloß nicht den Betrieb stören; ich war 21 Jahre alt und hatte meinen
ersten Roman fast beendet, als ich endlich in ein Schreibseminar mit Randall
Jarrell kam. Diesmal bekam ich von den Teilnehmern und dem Lehrer das,
was ich brauchte, und das waren einfach Bestätigung, Öffentlichkeit und Kri-
tik, denn ich war vorher fast völlig isoliert gewesen. 8

Fred Chappell meint, das Ziel solcher Veranstaltungen, besonders der


Anfängerkurse, könne es nicht sein, unbedingt gute Schriftsteller zu
produzieren. Der Zweck eines Schreibseminars sei eher »einem Stu-
denten das Studium der englischen Literatur oder sogar der Geistes-
wissenschaften überhaupt näherzubringen.« 9 Silvia Wilkinson teilt die-
sen Respekt vor der Tradition, wenn sie die Rolle des Schriftstellers als
Leser betont, sowohl von zeitgenössischer Literatur als auch von »alten
Texten [. ..] das Lesen von Dostojewski und das Wiederlesen von Do-
stojewski, das Lesen und Wiederlesen von Eudora Welty.« Daneben
sieht Wilkinson eine wichtige Aufgabe in ihrer Arbeit als Lehrerin
darin, ihren Studenten Manuskripte zu zeigen. »Es erscheinen heute
Bücher, die ζ. B. die ersten Entwürfe von Arbeiten berühmter Autoren
enthalten, etwa von William Styron. Kay Boyle ist auch ein schönes
Beispiel. Sie schreibt einen Abschnitt manchmal achtmal. Diese Va-
riationen zeige ich dann meinen Studenten, damit sie sehen, wie sie
auseinander hervorgehen.« 10 So wird der kreative Prozeß, der einem

7
Craft So Hard To Learn. Conversations with Poets and Novelists About the
Teaching of Writing, Interviews von John Graham, herausgegeben von Geor-
ge Garrett (New York: Morrow, 1972), S. 37. Vgl. auch The Writers' Voice,
Graham/Garrett (New York: Morrow, 1973).
8
Craft, S. 7If.
9
Craft, S. 40.
,0
Craft, S. 76, 78.
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 123

literarischen Text vorangeht, deutlich. Auf diese Weise können auch


typische Aspekte einer Gattung hervorgehoben werden. Ein Prosa-
Workshop könnte sich etwa gründlich mit den Anfängen, d. h. den
ersten Sätzen und Abschnitten, von Romanen und Kurzgeschichten
beschäftigen, von Melvilles Moby Dick bis zu Kafkas »Der Jäger
Gracchus«. Den Studenten wird ebenfalls empfohlen, neben schöngei-
stiger Literatur auch technische Texte zu lesen, da man daraus Fach-
wissen erwerben kann. (So hat Sylvia Wilkinson ζ. Β. Car and Driver,
Hot Rod und andere Zeitschriften abonniert, die sich mit Autorennen
beschäftigen.) Bücher wie How Things Work und The New York Times
Guide To Home Repair können für den Schriftsteller wertvolle Arbeits-
mittel sein, da entsprechendes Fachwissen und eine angemessene Fach-
sprache eine notwendige Voraussetzung sind, wenn über Technik ge-
schrieben werden soll. Mit anderen Worten, die übergeordneten the-
matischen Anliegen der Literatur müssen auf einer festen Grundlage
stehen. Ein Schreibseminar wird sich nicht damit begnügen, die Sym-
bole und tiefere Bedeutung im Werk von ζ. B. Herman Melville heraus-
zuarbeiten, ein guter Kurs wird uns stattdessen immer daran erinnern,
daß Moby Dick eine verdammt gute Fischfanggeschichte ist.
Wir sehen also, daß Lesen in einem Schreibseminar eine zentrale
Rolle spielt. John Morgan, der 1967 seine Abschlußprüfung am »Iowa
Writers' Workshop« machte und seit 1976 Fakultätsmitglied an der
University of Alaska in Fairbanks ist, unterstützt diese Ansicht: »Ich
glaube, daß Schreiber auch Leser sein müssen.« Um dies zu erreichen,
sollten die Studenten mit wichtigen zeitgenössischen, möglichst sehr
unterschiedlichen Texten bekanntgemacht werden. »Nachdem die Stu-
denten ihr Graduiertenstudium beendet haben, müssen sie selber ent-
scheiden, welche Texte für sie persönlich wichtig sind.«" Robert He-
din, ζ. Z. Poet-in-Residence an der Wake Forest University, bestätigt,
daß es wichtig sei, zeitgenössische Texte zu lesen, aber er bedauert, daß
viele Seminarteilnehmer das literarische Erbe ignorierten.

Viele Μ FA- Absolventen wissen eine Menge über die aktuelle Marktlage,
können den neuesten Trend aus Zeitschriften herauswittern wie Hunde einen
Laternenpfahl, und sie wissen auch genau, wer gerade ein Buch veröffentlicht
hat. Aber ich kenne wenige, die nach den großen Klassikern dürsten oder die
auch nur irgend jemanden gelesen haben, der älter als Robert Lowell ist. Sie
lehnen leider gerade diejenigen Autoren ab, die im normalen Literaturunter-
richt gelesen werden.' 2

Diese Ansichten verdeutlichen einen der Hauptkritikpunkte an


Schreibseminaren, oder besser, an deren Ergebnissen. Trotz dieser Kri-

" Unveröffentlichter Brief von John Morgan, 20. Februar 1987.


12
Unveröffentlichter Brief von Robert Hedin, 24. Februar 1987.
124 Greg Divers

tik an den Seminaren und den MFA-Abschlüssen erkennt Hedin ihren


Wert an. Solche Kurse böten

ein genaueres und kritischeres Publikum als es ein Autor möglicherweise je


wiederfinden wird, außer vielleicht bei den engagiertesten und besten Re-
zensenten und Kritikern. Ich glaube, es stimmt auch, daß viele Englische
Seminare durch ihre Schreibseminare am Leben erhalten wurden, daß Li-
teraturkurse florierten, weil in ihnen die wißbegierigen und wählerischen
Geister saßen, die man in den sehr guten Schreibseminaren findet. Ich wage
sogar zu behaupten, daß es eine auffällige Parallele zwischen dem Aufblühen
des Handwerks, des Kunsthandwerks und dergleichen, in den 60er Jahren
und dem Auftauchen und der Verbreitung von Schreibseminaren an den Uni-
versitäten unseres Landes gibt. Ein anderer Grund für die Ausbreitung dieser
Kurse liegt meiner Meinung nach darin, daß unsere Gesellschaft immer un-
persönlicher und hochtechnisierter wird, als ob unser angeborener kreativer
Impuls dem amerikanischen Drang zu einer immer unpersönlicher werden-
den Kultur entgegenwirkt. Ich glaube auch, daß der Unterschied zwischen
einem Schreibseminar und einer Selbsterfahrungsgruppe minimal ist, ver-
gleichbar mit der feinen Unterscheidungslinie zwischen Werkstatt und Fließ-
bandarbeit.

Hedins Vergleiche und Unterscheidungen betonen die nicht- (sogar an-


ti-) akademische Seite der Studiengänge i m kreativen Schreiben und
basieren auf seiner Überzeugung, »daß Schreibseminare die letzten Ba-
stionen sind, wo Leidenschaft, Launen des Schicksals, Phantasie und
andere gesellschaftliche Untugenden ihre Daseinsberechtigung haben.«
U m zu zeigen, wie man von einem Schreibseminar profitieren kann,
berichtet Hedin von einem seiner Studenten:

[.. .] ein junger Tlingit saß sehr still in meinen Seminaren am Sheldon Jack-
son College in Sitka, Alaska. Er traute sich kaum, etwas zu sagen, hat aber
seitdem ein Buch veröffentlicht, hat das Amt des Dorfschnitzers übernom-
men und ist im Grunde dafür verantwortlich, daß seine Kultur heute nicht
mehr nur mündlich überliefert wird. Ich als sein Lehrer habe das sicherlich
nicht initiiert, aber die Umgebung des Schreibseminars hat bestimmt dazu
beigetragen; dort hat der Junge erfahren, daß Wörter sowohl im gesellschaft-
lichen Rahmen als auch sonst einflußreich und mächtig sind.

Das Verhältnis zwischen Lehrern und Studenten, aber auch das der
Teilnehmer untereinander beeinflussen den Erfolg eines Schreib-
seminars wesentlich. John Morgan sagt dazu:

Ich habe des öfteren bemerkt, daß man einige der Stimmen aus den Kursen,
an denen man teilnimmt, in sich aufnimmt und daß sie einen als innere
Kritiker begleiten. Es ist ein psychologischer und ein literarischer Vorgang,
der einen bis zu einem gewissen Grad verändert. [. ..] Wenn der Lehrer gut
ist, wird seine Stimme auch dabei sein, aber nicht unbedingt die wichtigste
[. . .] Der Lehrer sollte die Meinung seiner Studenten unbedingt respektieren,
denn es wäre sicherlich falsch und wenig hilfreich, wenn er ihnen ihre Ar-
beitsweise genau vorschriebe. Die meisten der sehr guten Studenten reagieren
sowieso nicht darauf. Statt ihnen sein Wissen aufzudrängen, sollte der Lehrer
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 125

es mit ihnen >teilen<, damit sie das davon auswählen können, was sie brau-
chen. Mit anderen Worten, kreatives Schreiben wird nicht gelehrt, man lernt
es; es sollte immer deutlich sein, daß ein Student selber herausfinden kann,
was er oder sie braucht.

Schließlich betont Morgan, »daß der Lehrer eines Schreibseminars


Vorbild als A u t o r sein muß«, d. h. er sollte weiterhin selber gute Ar-
beit als Schriftsteller leisten. Sonst könne der Lehrer seine Studenten
k a u m zum Schreiben motivieren. Das heißt nicht, daß die vom Lehrer
verfaßten Texte stilistische Vorbilder sein sollten (obwohl sich das si-
cherlich m a n c h m a l nicht vermeiden läßt), sondern daß der Lehrer
durch sein eigenes Schreiben den Studenten eine professionellere Ar-
beitsweise vermitteln kann. Marvin Bell, der 1963 sein Studium in Iowa
mit dem M F A abschloß und seit 1965 am »Iowa Writers' Workshop«
unterrichtet: » M a n sollte nicht vergessen,« sagt er, »daß ich ein Dich-
ter bin, der unterrichtet, und kein Lehrer, der zufällig auch Dichter ist.«
Seit 1966 hat Marvin Bell zehn Bände Lyrik veröffentlicht und viele
Literaturpreise gewonnen. Außerdem schrieb er eine regelmäßig er-
scheinende Kolumne, » H o m m a g e to the Runner«, f ü r die American
Poetry Review.
Da Marvin Bell seit vielen Jahren mit dem »Iowa Writers' Work-
shop« verbunden ist, äußert er sich als versierter Kenner dieses Stu-
dienganges und darüber hinausgehender Fragen, die sich beim Lehren
von Schreiben ergeben. Zu meinem Versuch, das amerikanische Krea-
tive Schreiben einem ausländischen Publikum vorzustellen, meinte er
nur: »O Mensch, ich glaube, ich habe so viel zu sagen, daß ich über-
haupt nicht weiß, wo ich anfangen soll.« 13

[Der Studiengang] bietet immer noch eine erstklassige Umgebung für Schrift-
steller, und man sollte bedenken, daß der Workshop in Iowa City unter an-
deren und schwierigeren Umständen ins Leben gerufen wurde als ähnliche
Studiengänge und sich deshalb auch heute noch davon in den meisten Fällen
deutlich unterscheidet. Er ist vor allen Dingen eine Rechtfertigung für die
Existenz einer Gemeinschaft von Schriftstellern, und er wird davon geprägt,
daß er in Iowa, ausgerechnet in Iowa City, im Mittleren Westen usw., liegt.
Ich glaube, einige Leute können schwer zugeben, daß der Writers' Workshop
gerade deshalb wertvoll ist und nicht trotz dieser Besonderheiten.

In seinem Aufsatz »The Technique of the Right Attitude« schlägt Bell


vor, »eine Dichtung der Bewußtheit, der Ökonomie und weitestgehen-
der Leichtigkeit zu beschreiben (im Sinne von >sich annähern<). Seine
Bemerkungen basieren auf »einem Gespür, wenn nicht sogar auf einer
Definition von guter Dichtung«. Jedoch sei es lohnend,

13
Alle Zitate von Marvin Bell stammen, wenn nicht anders angegeben, aus
einem unveröffentlichten Brief vom 5. März 1987.
126 Greg Divers

»sich ab und zu daran zu erinnern, daß Sprache selten das Vehikel für Wahr-
heit und Schönheit ist. Man braucht nur Zeitungen und Zeitschriften zu le-
sen, fernzusehen, Radio zu hören oder - leider - die meisten Gedichte zu
lesen, um zu erkennen, daß Sprache meist dazu dient, Lügen, Verzerrungen,
Übertreibungen und bloße Routine zu transportieren.
Ich vermute, daß solche falschen Wege in der Dichtung eingeschlagen wer-
den, wenn ein ästhetischer Ehrgeiz Druck erzeugt: wenn ich Dichtung für
eine universelle Kunst und objektive Schau der Dinge halte und nicht für
einen individuellen Ausdruck subjektiver Standpunkte.
Wir wissen, daß Lyrik als Selbstausdruck und/oder mit Sprachspielen be-
ginnt. Auden betonte, wie wichtig das Spielen mit der Sprache ist, als er sagte,
daß er dem Studenten, der Gedichte schreibe, um sich auszudrücken, denje-
nigen vorzöge, der sich mit Wörtern beschäftige, um zu sehen, was sie ihm zu
sagen hätten.' 4

Der oben wiedergegebene Ausschnitt zeigt, welche Rolle das Schreibse-


minar für den jungen Schriftsteller spielen kann. Selbstausdruck und
ein gewissens Gespür für Form sind wichtig, aber keins von beiden
genügt, w e n n es nicht mit der passenden geistigen Einstellung verbun-
den ist. Dieser Punkt, und besonders seine Bedeutung für das
Schreibseminar, kann am besten erhellt werden, wenn wir uns Beils
Aufsatz »The Last Column« ansehen. Dort kommt er zu der Auffas-
sung:

Der Dichter muß sich seinem Thema unschuldig nähern, sonst wird seine
Kunst nur Kunsthandwerk. Ich glaube, es ist besser, zu naiv zu sein, als zu
vorbelastet. Besonders für den jungen Dichter, aber auch für ältere, kann ein
Weg dorthin sein, vorgegebene Formen, Übungen und feste Rollen zu über-
nehmen. Alles, was einem halbwegs hilft, von sich selbst abzusehen.

Er berichtet dann v o n einem >Übungsgedicht<, das von Tess Gallagher


verfaßt wurde. Dieses Gedicht ist für uns von Interesse, weil es als
Beispiel oder Vorbild dafür dient, wie ein Gedicht aussehen kann, das
in e i n e m Schreibseminar entstanden ist. Außerdem zeigt Beils Kritik,
wie ein Gedicht in einem Kurs unter formalen Gesichtspunkten be-
sprochen werden kann. Die Verfasserin schrieb das Gedicht,

weil ein Schreibseminar, an dem sie teilnehmen wollte, überbelegt war, so


daß der Lehrer den möglichen Teilnehmern die Aufgabe gab, ein zehnzeiliges
Gedicht zu schreiben, in dem sechs bestimmte Wörter vorkommen sollten.
Fünf dieser Wörter erscheinen in Tess Gallaghers Gedicht, und eine elfte
Zeile zwängt sie in die Überschrift:
The Horse in the Drugstore
wants to be admired.
He no longer thinks of what he has given up

14
Marvin Bell, Old Snow Just Melting: Essays and Interviews (Ann Arbor: Uni-
versity of Michigan Press, 1983) S. 247, 249f.
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 127

to stand here, the milk-white reason


of chickens over his head in the night, the grass
spilling on through the day. No, it is enough
to stand so with his polished chest among the nipples
and bibs, the cotton and multiple sprays, with his black lips
parted just slightly and the forehooves doubled back
in the lavender air. He has learned here when maligned to snort
dimes and to carry the inscrutable bruise like a bride.
Die Wörter sind bruise, horse, milk, reason und bride. Interessanterweise
fügte die Verfasserin drugstore selber hinzu, und das ist das entscheidende
Wort. Es schafft eine Umgebung, in der das Pferd gleichzeitig real, aber auch
von Industriewaren wie Lätzchen und verschiedenen Sprühflaschen umgeben
sein kann. Und es macht es möglich, daß es eine polierte Brust und unbe-
weglich zurückgeschlagene Vorderhufe haben kann.
Die Hauptsache ist, daß die Dichterin bestimmte Wörter benutzen mußte
(vier davon bezeichnen Dinge), sie sich selbst aber zu einer wesensmäßigen
Darstellung des Pferdes entschloß. Auf diese Art und Weise kann sie ihm ein
Innenleben zuschreiben: es will bewundert werden. Aber das Pferd im Drug-
store ist nicht Secretariat und auch nicht Angelfoot (Tess Gallaghers Pferd),
sondern ein »Pferd«, wie wir es in einem Drugstore finden, ein Spielzeug für
Kinder.
Außerdem kann man deutlich erkennen, daß die Aufgabe, im Gedicht die
Wörter bruise und bride zu benutzen - was so lange wie möglich hinaus-
gezögert wurde - in der letzten Zeile zu der Entdeckung einer weiteren Be-
deutungsebene führt. Die Kombination dieser beiden Wörter wirkt an dieser
Stelle so dicht wie sonst nur eine Metapher. Wird das Pferd je mit seiner
bewundernden Braut fortgaloppieren? Oder ist es samt seiner leicht geöff-
neten Lippen, seiner polierten Brust und seiner zurückgeworfenen Vorder-
hufe ein einziges Bild von Resignation und Anpassung, inmitten der Dinge,
die dem täglichen Gebrauch, dem Überleben und dem Vergnügen dienen?
Ich kann jedenfalls mit Sicherheit sagen, daß das Gedicht dadurch ge-
winnt, daß seine Inhalte, als es entstand, noch nicht festlagen. Ich wage zu
behaupten, daß die beste Einschränkung für einen jungen Autor eine
scharfsichtige Kurzsichtigkeit ist, bei gleichzeitigem Vermögen, leicht von
sich abzusehen. Diese Fähigkeit, sich die Dinge von nahem anzusehen, kann
dazu führen, mehr zu erfahren. Kann dagegen ein hartnäckiges Festhalten an
einer absichtlichen Weitsicht jemals die Gräben überbrücken? 15

Beils Unterscheidung von »scharfsichtiger Kurzsichtigkeit« und »ab-


sichtlicher Weitsicht« erinnert an eine Äußerung von Flannery O'Con-
nor, die sie bei der Erläuterung ihrer Geschichte » G o o d Country Peop-
le« gemacht hat. O'Connor, die 1947 ihr Studium am »Iowa Writers'
Workshop« abschloß, bezieht sich auf die Schlüsselszene der Geschich-
te, in der der Bibelverkäufer die junge Frau verführt und ihr dann ihr
Holzbein stielt. O'Connor sagt, daß selbst sie, als sie die Geschichte
schrieb, erst zwei Sätze vor dieser Szene wußte, daß er die Prothese
stehlen würde. Kurzgesagt, ein Schlüsselelement in jedem erfolgrei-
chen literarischen Text ist die Überraschung. U n d einem Autor gelingt

15
Old Snow, S. 280ff.
128 Greg Divers

dies viel eher, wenn er sich beim Schreiben selbst überrascht. Ein gutes
Schreibseminar ermutigt diese Einstellung, und die »prüfenden und
kritischen Augen« der anderen Teilnehmer, von denen Hedin sprach,
wollen immer wieder überrascht werden. Vorhersehbare Gedichte oder
Erzählungen werden von der Gruppe selten akzeptiert.

Ich hoffe, daß die oben wiedergegebenen Meinungen von Lehrern, die
kreatives Schreiben unterrichten, die Schwächen und Stärken der
Schreibseminare erhellt haben. John Morgans Ansicht von der Bedeu-
tung des Lehrers als Vorbild sollten wir besondere Beachtung schen-
ken. Eine Lehrmethode wie die von Marvin Bell geht in dieser Hinsicht
noch weiter. Er meint, daß der Lehrer die Aufgaben, die er seinen
Studenten gibt, auch selber lösen sollte. Auf diese Art könne in einem
guten Schreibseminar die Distanz zwischen Lehrern und Studenten
manchmal überbrückt werden. Vielleicht ist dies auch der Grund da-
für, daß solche Kurse oft auf Widerstand stoßen, wenn sie in einer
akademischen Institution etabliert werden sollen. Autorität wird in ei-
nem Schreibseminar neu definiert, und die Gruppenprozesse (hier den-
ke ich an Hedins Vergleich mit Selbsterfahrungsgruppen) variieren un-
weigerlich je nach der jeweiligen Konzeption.
Obwohl Schreibseminare in Amerika normalerweise in Colleges und
Universitäten untergebracht sind, gibt es doch auch eine Reihe von
Aktivitäten außerhalb von Academia. Da sind ζ. B. die Künstlerkolo-
nien und Schriftstellerzentren, in denen Schriftsteller wohnen und an-
dere Annehmlichkeiten in Anspruch nehmen können. Nicht alle davon
stehen Studenten offen (obwohl es nicht unüblich ist, daß auch fortge-
schrittene Studenten aufgenommen werden). Schriftstellertagungen
sind ebenfalls weitverbreitet, und sie werden oft mit Hilfe öffentlicher
Mittel von den Studiengängen an den Universitäten ausgerichtet. In
jedem Mai kündigt der A WP Newsletter die Schriftstellertagungen für
das kommende Jahr an. Durch solche Veranstaltungen und auch durch
Gastvorlesungen und Lesungen haben die Studenten und Schriftsteller
die Chance, neue Texte und Ideen kennenzulernen. Oft arbeiten die
Schreibseminare isoliert, und der Einfluß solcher Besucher und Ta-
gungsgäste bringt unweigerlich neue Impulse.
Wir haben vom Entstehen und der Verbreitung der Schreibseminare
Mitte der 60er Jahre gesprochen, ein Phänomen, das mit einer anderen
amerikanischen Einrichtung zusammenhängt, dem »Dichter-in-der-
Schule«. Der Lyriker Kenneth Koch hat die Schüler in den öffentli-
chen Schulen New Yorks gelehrt, Lyrik zu analysieren und selber zu
verfassen. Seine Erfahrungen werden in zwei Büchern dokumentiert,
die bei Random House, New York erschienen sind: Wishes, Lies and
Dreams (1970) und Rose, Where Did You Get That Red (1973). In den
Anstelle eines letzten Wortes über kreatives Schreiben 129

70er Jahren wurden die »Künstler-in-den-Schulen« immer populärer


und etablierten so das kreative Schreiben im Schulsystem. Das ist nicht
ohne Bedeutung, denn auf diese Art kommen die Schüler schon sehr
früh mit Methoden der Schreibseminare in Berührung. Natürlich wer-
den die wenigsten von ihnen später an der Universität an solchen
Kursen teilnehmen, aber diese wenigen werden damit vertraut sein, wie
dort gearbeitet wird. Außerdem kann solch ein Programm Verständnis
für Literatur wecken, ja sogar eine Freude daran, wie es im tradi-
tionellen Unterricht selten erreicht wird.
Ist das alles so radikal? Eigentlich nicht, besonders wenn man die
literarische Tradition in Amerika insgesamt betrachtet. Man wende den
Blick zurück auf Walt Whitman, den Dichter der Demokratie, die ihr
eigenes Lied singt, um dort eine Daseinsberechtigung für Schreibse-
minare zu finden. Können diese Einrichtungen auf europäischen li-
terarischen Boden verpflanzt werden? Wie sagt Marvin Bell?

Die Idee der Schreibseminare ist großartig und ehrenvoll, und ihre praktische
Umsetzung, wo immer sie geschieht, ist weder anmaßend noch selbstgefällig,
und das gilt auch für die Leute, die daran teilnehmen. 16

16
Aus Marvin Bell, »A postscript to answers« für ein Projekt des Berufstennis-
spielers Hari Burrus, der ein Buch über das Lehren von Tennis und das
Schreiben von Lyrik zusammengestellt hat, Taking the Workshop to Court.
Anschriften der Autoren

Johanna Blömeke Hartwichstraße 19, 5000 Köln 60


Greg Divers, Μ. A. 9119 Clydesdale Dr., St. Louis, Missouri
63126, USA
Universität Osnabrück, Abteilung
Prof. Dr. Otto Dörner
Vechta, Fachgebiet Deutsch im Fach-
bereich 2, Driverstraße 22, 2848 Vechta
Universität Oldenburg, Fachbereich 2,
Prof. Dr. Joachim Dyck
Germanistik, Ammerländer Heerstraße
67-99, 2900 Oldenburg
Universität Köln, Institut für Deutsche
Prof. Dr. Walter Hinck
Sprache und Literatur, Albertus-Mag-
nus-Platz, 5000 Köln 41
Universität Marburg, Institut für Ger-
Prof. Dr. Gisbert Keseling
manistische Sprachwissenschaft im
Fachbereich 8, Wilhelm-Röpke-Straße
6A, 3550 Marburg 1
Dr. Hans Arnold Rau Hülsensteeg 47, 5067 Kürten
Dr. Holger Rudioff Universität Köln, Seminar für Deut-
sche und Englische Sprache und ihre
Didaktik, Deutsche Abteilung, Grone-
waldstraße 2, 5000 Köln 41
Prof. Dr. Albert Schau Pädagogische Hochschule Ludwigs-
burg, Arbeitsstelle für Kinder- und Ju-
gendliteratur im Fachbereich 2, Reu-
teallee 46, 7140 Ludwigsburg
Ekkehard Skoruppa Dürener Straße 72, 5000 Köln 41
Prof. Dr. Kaspar H. Spinner Technische Hochschule Aachen, Ger-
manistisches Institut, Templergraben
55, 5100 Aachen

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