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Bernward Dörner

Der Holocaust
Die „Endlösung der Judenfrage“

Im Zuge der vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehenden Vernichtungs-


politik1 sind in den Jahren 1941 bis 1945 zwischen fünf und sechs Millionen Juden
ermordet worden.2 Die Opfer des Völkermords stammten aus allen damaligen eu-
ropäischen Staaten im NS-Herrschafts- und Einflussbereich : Albanien, Belgien,
Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Italien, Jugo-
slawien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen,
Rumänien, Sowjetunion, Tschechoslowakei und Ungarn. Der größte Teil der Ermor-
deten fiel dem Genozid in Mittel- und Osteuropa zum Opfer. Etwa drei Millionen

1 Vgl. die folgenden grundlegenden Veröffentlichungen : Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäi-
schen Juden, Berlin 1982, durchgesehene und erweiterte Ausgabe, 3 Bde., Frankfurt am Main 1990 ;
ders., Täter, Opfer, Zuschauer : Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt am Main 1992 ;
Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945, München
2006 ; Christopher Browning, Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpolitik
1939–1942, München 2003 ; Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und Mord an den euro-
päischen Juden, Frankfurt am Main 1995 ; Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der
Euthanasie zur Endlösung, München 2001 ; Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in
Ostgalizien 1941–1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, Mün-
chen 1996 ; ders., Dimensionen eines Menschheitsverbrechens. Die Verfolgung und Ermordung der
europäischen Juden 1939–1945, in : Burkhard Asmuss (Hg.), Holocaust. Der nationalsozialistische
Völkermord und die Motive seiner Erinnerung, Berlin 2002 ; Christian Gerlach, Die Wannsee-Kon-
ferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden
Europas zu ermorden, in: Werkstatt Geschichte 6 (1997), S. 7–44 ; ders., Kalkulierte Morde. Die deut-
sche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999 ; Peter Lon-
gerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung,
München 1998 ; Leni Yahil, Die Shoah. Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden,
München 1998 ; Ilja Altmann, Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 1941–1945, Zürich
2008.
2 „In der Gesamtbilanz ergibt sich ein Minimum von 5,29 Millionen und ein Maximum von knapp
über sechs Millionen“ (Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen
Opfer des Nationalsozialismus, München 1996, S. 17). „Nach den neuesten Berechnungen dürften
bis 1945 insgesamt etwa 5,6 Millionen Menschen der ‚Endlösung der Judenfrage‘ zum Opfer gefallen
sein“ (Dieter Pohl, Dimensionen eines Menschheitsverbrechens, S. 119). „Letztenich sind zwischen
5,4 und sechs Millionen europäische Juden ermordet worden“ (Uwe Neumärker, Strategien des
Terrors, in: Materialien zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin 2007, S. 138–154, hier
S. 154).

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polnische und mindestens eine Million der in der Sowjetunion lebenden Juden wur-
den ermordet.3 Die Mehrzahl der Opfer waren Frauen und Kinder. Mindestens an-
derthalb Millionen Kinder wurden aufgrund ihrer jüdischen Herkunft umgebracht.4
Etwa die Hälfte der ermordeten Juden starb in Vernichtungslagern auf von
Deutschland besetztem polnischem Territorium.5 In Auschwitz wurden zwischen
einer und anderthalb Millionen,6 in Treblinka über 900 000,7 in Belzec weit über
400 000,8 in Sobibor zwischen 150 000 und 250 0009 und in Kulmhof/Chelmno min-
destens 150 00010 Menschen getötet. Zumeist registrierte man die in die Todeslager
Verschleppten nicht namentlich. Transportlisten, die häufig nur geschätzte Zahlen
verzeichnen, sind nur noch selten erhalten, weshalb die Zahl der Ermordeten nur
indirekt aus anderen Quellen erschlossen werden kann.
Etwa zwei Millionen Juden wurden im Rahmen von Massenerschießungen so-
wie in mobilen Gaskammern („Gaswagen“) ermordet.11 Ein erheblicher Teil der
Opfer starb bei Ghettoräumungen oder auf Todesmärschen, ist verhungert, erfro-
ren, von Krankheiten und Seuchen dahingerafft worden. Unter dem Gesichtspunkt
der Wahrnehmbarkeit des Verbrechens ist zu betonen, dass das grausame Sterben

3 Vgl. Pohl, Dimensionen eines Menschheitsverbrechens, S. 105. Die Zahl der Opfer des Holocaust in
der Sowjetunion wird zum Teil sehr viel höher geschätzt. Gerd Robel spricht von 2,1 Millionen Op-
fern in der UdSSR (vgl. Gerd Robel, Sowjetunion, in : Benz, Dimension des Völkermords, S. 560).
4 Vgl. Pohl, Holocaust, S. 183.
5 Vgl. Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die Endlö-
sung in Polen, Reinbek 1993, S. 252 (unter Berufung auf Hilberg, Die Vernichtung der europäischen
Juden). Dieter Pohl gibt an, dass etwa 2,7 Millionen Menschen in den Vernichtungslagern ermordet
worden seien (vgl. Dimensionen eines Menschheitsverbrechens, S. 119).
6 Vgl. Sybille Steinbacher, „Musterstadt“ Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ost-
oberschlesien, München u._a. 2000, S. 105 ; Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hg.),
Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden,
München/Zürich 1995, S. 382.
7 Im zweiten Treblinka-Prozess ging Wolfgang Scheffler, der historische Gutachter in dem Verfahren,
von einer Zahl von über 900 000 Opfern in dem Vernichtungslager aus (vgl. Wolfgang Benz, Tre-
blinka, in : ders./Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen
Konzentrationslager, Bd. 8, München 2008, S. 407–443, hier S. 441.
8 Vgl. Robert Kuwalek : Belzec, in : Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd. 8, S. 357 f.; Peter Witte/Sthe-
phen Tyas, A New Document on the Deportation and Murder of Jews during „Einsatz Reinhardt“
1942, in : Holocaust and Genocide Studies 14 (2001), S. 469 ff.
9 Vgl. Barbara Distel, Sobibor, in : Benz/Diestel, Der Ort des Terrors, Bd. 8, S. 175 ; Raul Hilberg nennt
eine Opferzahl von 200 000 (vgl. Die Vernichtung der europäischen Juden, S. 604).
10 Vgl. Peter Klein, Kulmhof/Chelmno, in : Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd. 8, S. 301 ; Hilberg,
Die Vernichtung der europäischen Juden, S. 604.
11 Vgl. Browning, Ganz normale Männer, S. 252 (unter Berufung auf Hilberg, Die Vernichtung der
europäischen Juden) ; Pohl, Dimensionen eines Menschheitsverbrechens, S. 119.

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Der Holocaust 

eines großen Teils der Holocaust-Opfer nur relativ schlecht oder überhaupt nicht
gegenüber der Öffentlichkeit abgeschirmt war.
Der Holocaust ging von NS-Deutschland aus und wurde nur dort umgesetzt, wo
die Deutschen direkt oder indirekt herrschten. Der Mord an den europäischen Ju-
den konnte von der NS-Führung nur als Staatsverbrechen unter Einbeziehung gro-
ßer Teile der deutschen Gesellschaft umgesetzt werden. Hitler hat den Judenmord
gewollt und gefördert.12 Eine zentrale Rolle bei der Leitung und Steuerung der
„Endlösung der Judenfrage“ hatte Heinrich Himmler inne.13 Er konnte sich bei der
Durchführung des Genozids vor allem auf das Reichssicherheitshauptamt (RSHA)
und den SS- und Polizeiapparat stützen.14 Insbesondere in Osteuropa wurde der
Völkermord auch von Kollaborateuren unterstützt.15
Der Völkermord konnte nur realisiert werden, weil zahlreiche Ministerien, Ver-
waltungen, NSDAP-Institutionen und gesellschaftliche Organisationen an der Aus-
grenzung, Ausplünderung und Deportation aktiv mitgewirkt haben.16 Die Wehr-
macht ermöglichte durch ihre Eroberungen die Ermordung der in den überfallenen
Ländern lebenden Juden und wirkte auch an der Vernichtungspolitik partiell mit.17
Das Reichsministerium des Innern und das Reichsjustizministerium schufen die ju-
ristischen Grundlagen der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und prägten das
Verwaltungshandeln unter antisemitischen Vorzeichen.18 Das Reichsfinanzministe-

12 Vgl. Peter Longerich, Der ungeschriebene Befehl. Hitler und der Weg zur „Endlösung“, München 2001.
13 Vgl. Richard Breitman, Der Architekt der „Endlösung“. Himmler und die Vernichtung der europäi-
schen Juden, Paderborn u. a. 1996 ; Peter Witte u. a. (Hg.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers
1941/42, Hamburg 1999 ; Peter Longerich, Der ungeschriebene Befehl ; ders., Heinrich Himmler.
Biographie, München 2008.
14 Vgl. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshaupt-
amtes, Hamburg 2002.
15 Vgl. Martin Dean, Collaboration in the Holocaust. Crimes of the Local Police in Belorussia and
Ukraine, New York 2000 ; Wolfgang Benz/Brigitte Mihok (Hg.), Holocaust an der Peripherie. Juden-
politik und Judenmord in Rumänien und Transnistrien 1940–1944, Berlin 2008 ; zur Mitwirkung von
Letten am Holocaust ist vor kurzem eine Dissertationsschrift von Katrin Reichelt (Die Verfolgung
der Juden in Lettland 1941–1944 – der lettische Anteil an einem Massenverbrechen) am Zentrum
für Antisemitismusforschung der TU Berlin vorgelegt worden.
16 Vgl. Hilberg, Die Vernichtung der Europäischen Juden.
17 Vgl. Verbrechen der Wehrmacht : Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944. Katalog zur
Ausstellung, hrsg. v. Hamburger Institut für Sozialforschung, Hamburg 2002 ; Dieter Pohl, Die Herr-
schaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjet-
union 1941–1944, München 2008.
18 Vgl. Diemut Majer, „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen
Rechtsetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der
eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard 1981 ; Lothar Gruchmann,
Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München

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rium und die Finanzbehörden organisierten die Ausplünderung und Enteignung


der jüdischen Minderheit im Vorfeld und während des Genozids.19 Banken und
Versicherungen verdienten an dem Prozess.20 Das Auswärtige Amt machte bei den
Verbündeten NS-Deutschlands den Weg frei für die Deportationen in die Vernich-
tungslager.21 Das Reichsverkehrsministerium und die Reichsbahn organisierten den
Transport der europäischen Juden in die Vernichtungslager.22 Auf allen Ebenen und
in allen Sektoren der deutschen Gesellschaft warf die Judenverfolgung Probleme
auf, die auch von Kommunalbehörden gelöst werden mussten.23 Große Teile der
Bevölkerung wurden deshalb mit dem Verschwinden der Juden konkret konfron-
tiert. Raul Hilberg resümiert : „Da die Vernichtung der Juden überaus dezentral ab-
lief, mußten alle Behörden etwas dazu beisteuern […]. Die Bandbreite der Ämter,
die letzten Endes an den Vorgängen beteiligt waren, ist identisch mit der ganzen
Verwaltung oder gar mit der gesamten organisierten Gesellschaft Deutschlands.“24

1987 ; Bernward Dörner, Deutsche Justiz und Judenmord. Justiz und Judenmord. Zur Unterdrückung
von Äußerungen über den Genozid an den europäischen Juden im Nationalsozialismus, in: Jahrbuch für
Antisemitismusforschung 4 (1995), S. 226–253 ; Alexandra Przyrembel, „Rassenschande“. Reinheitsmy-
thos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003.
19 Vgl. Stefan Mehl, Das Reichsfinanzministerium und die Verfolgung der deutschen Juden 1933–1943,
Berlin 1990 ; Martin Friedenberger, Fiskalische Ausplünderung. Die Berliner Steuer- und Finanzver-
waltung und die jüdische Bevölkerung 1933–1945, Berlin 2008 ; „Dem Reich verfallen“ – „den Be-
rechtigten zurückzuerstatten“. Enteignung und Rückerstattung jüdischen Vermögens im Gebiet des
heutigen Rheinland-Pfalz 1938–1953, bearb. v. Walter Rummel/Jochen Rath, Koblenz 2001 ; Götz
Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005.
20 Hersch Fischler, Das Totengold der europäischen Juden und die deutschen Großbanken, in : 1999 13
(1998), S. 146–173 ; Gerald D. Feldman, Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933–
1945, München 2001 ; Harold James, Die Deutsche Bank und die Diktatur 1933–1945, in: Lothar Gall
u. a. (Hg.), Die Deutsche Bank 1870–1995, München 1995, S. 315–408 ; Johannes Bähr u. a. (Hg.), Die
Dresdner Bank im Dritten Reich, 4 Bde., München 2006. Die Deutsche Bank hat durch Kredite an
Bauauftragsnehmer in Auschwitz an dem Lagerkomplex verdient (Frankfurter Allgemeine Zeitung,
05.02.1999, S. 1). Hermann Josef Abs, der spätere Vorstandssprecher der Deutschen Bank AG, hat
spätestens ab 1943 von der Existenz der Vernichtungslager gewusst (Handelsblatt, 05.02.1999, S. 3).
21 Vgl. Christopher Browning, The Final Solution and the German Foreign Office. A Study of the
Referat D III of Abteilung Deutschland 1940–1943, New York 1978 ; Hans-Jürgen Döscher, Das Aus-
wärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „Endlösung“, Berlin 1987.
22 Vgl. Raul Hilberg, Sonderzüge nach Auschwitz, Mainz 1981 ; Alfred Gottwaldt/Diana Schulle, Die
„Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945. Eine kommentierte Chronologie, Wies-
baden 2005 ; dies., „Juden ist die Benutzung von Speisewagen untersagt“. Die antijüdische Politik des
Reichsverkehrsministeriums zwischen 1933 und 1945, Berlin 2007.
23 Vgl. Wolf Gruner, Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkung lokaler und zentra-
ler Politik im NS-Staat (1933–1942), München 2002.
24 Raul Hilberg, Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, Frankfurt am Main
1994, S. 68.

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Der Holocaust 1

Vom Feindbild zum Judenmord : Stationen des Weges zum Genozid

Der Völkermord an den europäischen Juden wäre ohne antisemitische Feindbilder


nicht möglich gewesen. Doch erst im Rahmen einer extrem negativen historischen
Entwicklung konnten aus judenfeindlichen Stereotypen handlungsleitende Kate-
gorien einer auf die physische Ausrottung der Minderheit abzielenden Politik wer-
den.
Den meisten Zeitgenossen war gegen Ende der Weimarer Republik durchaus
klar, dass die NSDAP von einem radikalen Antisemitismus geprägt war. Doch
schien es ihnen damals unvorstellbar, dass wenige Jahre später Millionen europäi-
sche Juden, darunter auch ein großer Teil der deutschen Juden, ermordet werden
sollten. Im historischen Rückblick wird indes deutlich, wie die nationalsozialistische
Judenverfolgung über verschiedene Eskalationsstufen in den Mord an den europäi-
schen Juden mündete. Dabei muss betont werden – auch der Weg in den Holo-
caust war ein offener Prozess. Er war auf jeder Eskalationsstufe nicht alternativlos,
er verlief zudem auch nicht geradlinig.25 Doch mit jedem Radikalisierungsschritt
wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass ein zunehmend mörderischer Antisemitismus
darauf zielte, alle Juden im deutschen Herrschaftsgebiet buchstäblich auszurotten.
Die NSDAP hat ihre radikal antisemitische Einstellung nie verborgen. „Staatsbür-
ger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen
Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein“,
heißt es im Punkt vier des im Februar 1920 verabschiedeten Parteiprogramms.26
Aus der rassistischen Definition folgte der den Juden zugedachte Status als „Gast“,
d. h. früher oder später der als Flüchtling : „Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur
als Gast in Deutschland leben können und muß unter Fremdengesetzgebung ste-
hen.“27 Die nationalsozialistische Reichstagsfraktion forderte bereits im Jahre 1930
für „Rassenverrat“ (Verkehr mit „Angehörigen der jüdischen Blutsgemeinschaft“
und „farbigen Rassen“) in „besonders schweren Fällen“ die Todestrafe.28
Lange hielten viele solche Forderungen für hohle Phrasen einer unbedeutenden
Partei, schließlich hatte diese bei der Reichstagswahl im Mai 1928 nur 2,6 Prozent

25 Vgl. hierzu schon Karl A. Schleunes, The twisted Road to Auschwitz. Nazi Policy towards German
Jews 1930–1939, Urbana 1970.
26 Parteiprogramm der NSDAP vom 24.02.1920, zitiert nach Walther Hofer (Hg.), Der Nationalsozia-
lismus. Dokumente 1933–1945, Frankfurt am Main 1982, S. 2.
27 Ebenda, Punkt 5 des Parteiprogramms der NSDAP.
28 Gesetzesinitiative der NSDAP Reichstagsfraktion vom 13.03.1930 (Drucksache Nr. 1741, Deutscher
Reichstag, IV. Wahlperiode 1928).

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der Stimmen bekommen.29 Doch seit den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 war
die NSDAP die mit Abstand stärkste Partei : 13,7 Millionen Deutsche, 37,4 Prozent
der Wähler, hatten sie gewählt.30 Dadurch, dass Reichspräsident Paul von Hinden-
burg Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte, war eine entschei-
dende Voraussetzung dafür geschaffen, dass aus absurden antisemitischen Feindbil-
dern staatliche Politik wurde.
Die Mentalität des neuen Kanzlers beleuchtet eine Passage aus seiner Propagan-
daschrift „Mein Kampf “, die deutlich macht, dass er vor jüdischem Leben schon in
der Weimarer Zeit keine Achtung hatte : „Hätte man zu Kriegsbeginn und während
des Krieges einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverder-
ber so unter Giftgas gehalten, wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen
Arbeiter aus allen Schichten und Berufen es im Felde erdulden mussten, dann wäre
das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen.“31 Diese Äußerung sollte
nicht als frühe Offenlegung eines politischen Plans, sondern als Randbemerkung
verstanden werden, so bezeichnend sie für Hitlers Denken ist. Gleichwohl ist sie
höchst aufschlussreich, weil hier schon in den zwanziger Jahren öffentlich die Er-
mordung von Juden in großer Zahl als politisch legitim erachtet wird.
Hitler und die nationalsozialistische Bewegung wurden lange unterschätzt.
Auch die deutschnationalen Bündnispartner der NSDAP glaubten, sie könnten ihm
Grenzen setzen. Tatsächlich wurden jedoch nicht die Nationalsozialisten, sondern
die Konservativen aus der Regierung gedrängt. Nun konnten fanatische Antisemi-
ten Deutschland nach ihren Vorstellungen gestalten, ein Umstand, der den Weg
in den Genozid maßgeblich beeinflusst hat. Als folgenreich sollte sich erweisen,
dass durch die „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933 die Weimarer
Reichsverfassung, und damit auch die Grundrechte der Bürger, de facto suspen-
diert wurden. Das Regime konnte nun legal Personen und Personengruppen nach
Belieben als Staatsfeinde auf unbestimmte Zeit in „Schutzhaft“ nehmen.32 Zehn-
tausende wurden schon im ersten Jahr des NS-Regimes in neu errichte Konzentra-
tionslager verschleppt.
Neben den offenen und physischen Terror von SA, SS und Gestapo trat der
strukturelle Terror auf dem Gesetzeswege. Beide Verfolgungswege ergänzten sich.
Nach der Verabschiedung des „Ermächtigungsgesetzes“ konnte die NS-Regierung

29 Vgl. Jürgen Falter u. a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. Materialien zum
Wahlverhalten 1919–1933, München 1986, S. 44.
30 Vgl. ebenda, S. 41 ff.
31 Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1933, S. 772.
32 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28.02.1933 (RGBl. I 1933,
S. 83).

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ohne Zustimmung eines Parlaments Gesetze und Verordnungen produzieren.33


Mindestens 2000 antisemitische Gesetze und Verordnungen sind im Zuge dieser
Politik zwischen 1933 und 1945 in Kraft gesetzt worden.34 Ziel war dabei zunächst,
die im NS-Herrschaftsgebiet lebende jüdische Minderheit zu stigmatisieren, zu
enteignen und aus Deutschland zu vertreiben.
Dieser Prozess wurde von weiten Teilen der deutschen Gesellschaft begrüßt
– ein Umstand, der den Weg in den Völkermord objektiv begünstigt hat.35 Zur
Akzeptanz der Judenverfolgung trug bei, dass die fortschreitende Entrechtung der
„Nichtarier“ durch eine zunehmend populäre Obrigkeit erfolgte, an deren Spitze
der als charismatisch empfundene Führer stand.36 Zudem erfolgten die Ausgren-
zungsschritte auf dem Gesetzes- und Verwaltungswege, kurz, alles schien – wenn
man nicht kritisch nachdachte – auf typisch deutsche Art seine Ordnung zu ha-
ben. Von großer Bedeutung für den Rückhalt der Verfolgungsmaßnahmen in der
Bevölkerung war schließlich, dass von der Verdrängung, Entrechtung und Aus-
plünderung der Minderheit sehr viele Deutsche (später auch ausländische Kol-
laborateure) direkt oder indirekt profitierten.37 Sie bekamen die Arbeitsplätze,
Wohnungen, Möbel, Unternehmen, Häuser etc. der verfemten Minderheit. Auch
diejenigen, die die fortschreitende Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der
Juden weder aufgrund ihrer antisemitischen Einstellung noch aus materiellem Kal-
kül begrüßten, behielten Bedenken oder Vorbehalte zumeist für sich. Sie wuss-
ten, dass Kritik an der Judenpolitik des Regimes hart geahndet werden konnte.38
So konnte das NS-Regime die Judenverfolgung bis zum Novemberpogrom 1938
vorantreiben, ohne dass es zu nennenswerten Widerständen vonseiten der Mehr-
heitsgesellschaft gekommen wäre. Auch die berüchtigten „Nürnberger Gesetze“,
die am 15. September 1935 auf dem Reichsparteitag verkündet wurden, wurden
allgemein begrüßt oder hingenommen. Das „Reichsbürgergesetz“ machte die Ju-
den bzw. die als solche Definierten zu Bürgern zweiter Klasse.39 Gleichzeitig schuf
es die definitorische Grundlage für den weiter fortschreitenden Entrechtungs- und

33 „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24.03.1933 (RGBl. I 1933, S. 141).
34 Vgl. Josef Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Heidelberg 21996.
35 Mit Recht wird in der Forschungsliteratur von einem „antijüdischen Konsens“ gesprochen, der ge-
herrscht habe (vgl. hierzu Frank Bajohr/Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die
Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006, S. 20 f ).
36 Vgl. Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart 1999.
37 Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main
2005.
38 Vgl. Bernward Dörner, „Heimtücke“: Das Gesetz als Waffe. Kontrolle, Überwachung und Verfolgung
in Deutschland 1933–1945, Paderborn u. a. 1998.
39 Vgl. RGBl. I 1935, S. 1146.

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Vernichtungsprozess.40 Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre“, das Eheschließungen zwischen Juden und „Ariern“ verbot und
sexuelle Beziehungen zwischen ihnen kriminalisierte, suchte die jüdische Minder-
heit bis in den Privatbereich zu isolieren.41
Die radikalen Teile der NS-Bewegung wollten sich von Anfang an nicht mit
der bloßen Verfolgung der verhassten Minderheit zufrieden geben. Sie forderten
mehr und dachten zum Teil schon früh über die Ausrottung und Vernichtung der
Juden nach. So wird bereits wenige Monate nach der Machtübernahme in einem
geheimen Lagebericht des Innenministeriums von Württemberg vom 30. Novem-
ber 1933 unter dem Titel „Zum gegenwärtigen Stand der Judenfrage“ über die
Ermordung der Juden reflektiert : „Die Befriedung des jüdischen Komplexes könnte
in vier Richtungen versucht werden. Einfachste und primitivste Lösung wäre die
p h y s i s c h e A u s r o t t u n g [Hervorhebung im Original] – Progrome [sic !] – ;
sie hat als Mittel auszuscheiden, wie sie neben anderen Gründen übrigens nicht
zum Ziele führen würde, wie historische Beispiele (Spanien, Rußland) beweisen.“42
Schon im Jahr der NS-Machtübernahme gab es also nationalsozialistische Funkti-
onäre in staatlichen Ämtern, die nachweislich die physische Ausrottung der Juden
für denkbar und prinzipiell erwägenswert hielten. Diese genozidale Politik wurde
damals nur deshalb verworfen, weil die Eliminierung der Juden auf diesem ein-
fachen und primitiven Weg unrealistisch erschien.43
Die Vernichtungsüberlegungen waren kein Einzelfall. In Julius Streichers vulgär-
antisemitischem Wochenblatt „Der Stürmer“ wurde unentwegt in der infamsten
Weise gegen die jüdische Minderheit gehetzt. Auf jeder Seite des Blattes stand in der
Fußleiste das Treitschke-Zitat „Die Juden sind unser Unglück“. Begründet wurde die
permanente Hetze gegen die Juden mit deren angeblichen Verbrechen. Stets wurden
die Juden als „Ausbeuter“, „Volksverräter“, „Ritualmörder“ u. ä. verleumdet.44 Das

40 Vgl. Cornelia Essner, Die „Nürnberger Gesetze“ oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945,
Paderborn u. a. 2000.
41 Vgl. RGBl. I 1935, S. 1146 f. Zur Praxis der Verfolgung vgl. Przyrembel, Rassenschande.
42 Lagebericht Innenministerium Württemberg, 30. November 1933, Politisches Archiv des Auswär-
tigen Amtes (AA), R 98770, Auswärtiges Amt, Ref. D, Pak. 86/4 ; Akten 80–34, Bd. I, auszugsweise
abgedruckt in : Otto Dov Kulka/Eberhard Jäckel (Hg.), Die Juden in den geheimen NS-Stimmungs-
berichten 1933–1945, Düsseldorf 2004, S. 59 f.; Kurt Pätzold (Hg.), Verfolgung, Vertreibung, Vernich-
tung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933–1942, Leipzig 1991, S. 64 ff.
43 Dies verweist schon darauf, warum später – als die Vernichtung der Juden zu einem konkreten Pro-
jekt geworden war – gesellschaftlich genügend Bereitschaft zur Umsetzung des Genozids mobilisiert
werden konnte.
44 Eine Sondernummer des „Stürmers“ vom 1. Mai 1934 beschäftigte sich ausschließlich mit dem
Thema.

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Der Holocaust 5

Streicher-Blatt wurde von einem erheblichen Teil der Bevölkerung zwar durchaus
abgelehnt. Selbst in Teilen der NSDAP gab es Vorbehalte gegen das Blatt und seinen
Herausgeber. Aber dennoch entfaltete dessen Hetze gegen die jüdische Minderheit
als angebliche „Kinder des Teufels“ etc. eine nicht zu unterschätzende gesellschaft-
liche Wirkung. Streichers wöchentliches Hetzblatt war eines der auflagenstärksten
Blätter im „Dritten Reich“ mit im Jahre 1938 500 000 Exemplaren.
Insbesondere nach 1945 wurde von nahezu allen Deutschen beteuert, das
braune Hetzblatt und seinen Herausgeber entweder nicht wahrgenommen oder,
falls doch, stets abgelehnt zu haben. Zeitgenössische Dokumente verweisen dar-
auf, dass dies so nicht stimmen kann. So strömten z. B. ca. 15 000 Menschen auf
den Krefelder Sprödentalplatz, um eine fast dreistündige Rede des Herausgebers,
Julius Streicher, über „die Rassenfrage“ und „das Judentum“, zu hören.45 Zehntau-
sende pilgerten alljährlich zum Frankentag, um dabei den Reden des fränkischen
Gauleiters Julius Streicher und anderer prominenter NSDAP-Politiker zu lauschen.
Bei diesen „Braunen Wallfahrten“, so ein zeitgenössischer Begriff für das populäre
Event, wurde den Teilnehmern verkündet, weshalb die dämonisierte Minderheit
unbedingt „ausgelöscht werden“ müsste. „Wir wissen“, so Streicher 1937, „daß der
Weltjude die Welt organisieren will gegen uns und uns auslöschen will aus der
Geschichte ! Und wir wissen wieder : Nicht wir werden ausgelöscht, er wird aus-
gelöscht werden aus der Geschichte !“46 Etwa 100 000 Teilnehmer bedachten diese
Passage der Rede des „Stürmer“-Herausgebers mit Beifall.47 In den braunen Hoch-
burgen48 sprach man, von Applaus begleitet, bereits von Vernichtung und Aus-
rottung, als man als Jude in Berlin, trotz all dem, was schon geschehen war, noch
scheinbar normal leben konnte.
Diese Reste vermeintlicher Normalität sollten zerstört werden. Der inszenierte
Pogrom vom 9./10. November 1938 gegen jüdische Gotteshäuser, die Ermordung
von „Nichtariern“ und die gezielte Verschleppung jüdischer Männer in Konzent-
rationslager enthielten implizit schon eine Vernichtungsdrohung gegen die Min-

45 Vgl. Dieter Hangebruch, Emigriert – Deportiert. Das Schicksal der Juden in Krefeld zwischen 1933
und 1945, in : Guido Rotthoff, Krefelder Juden, Bonn 1981, S. 165. Streicher hielt die Rede am
17.03.1936. Die Teilnehmerzahl der Veranstaltung ist für eine Stadt von damals ca. 170 000 Einwoh-
nern, die vor 1933 keine NSDAP-Hochburg war, außerordentlich hoch.
46 Zweite Hesselberg-Rede Julius Streichers am 19./20.07.1937, zitiert nach Thomas Greif, Frankens
braune Wallfahrt. Der Hesselberg im Dritten Reich, Ansbach 2007, S. 520 ff.
47 Vgl. ebenda, S. 239 ff.
48 Mittelfranken z. B. war schon vor der Machtübernahme eine Hochburg der Nationalsozialisten. Bei
den Reichstagswahlen vom 31.07.1932 erhielt die NSDAP im Kreis Rothenburg ob der Tauber 83
Prozent und im Kreis Ansbach 76 Prozent (vgl. Falter, Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer
Republik, S. 133).

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6 Bernward Dörner

derheit. Die neue Qualität der Verfolgung bestand darin, dass nunmehr reichsweit,
vom Regime gewollt, öffentlich und demonstrativ, physische Gewalt gegen die
jüdische Minderheit angewandt wurde, während die Täter grundsätzlich unbestraft
blieben.49 Bis dahin wurden zwar wiederholt Gewalttaten gegen Juden, darunter
auch Morde, verübt, doch waren sie grundsätzlich lokal oder regional begrenzt.50
Der Novemberpogrom 1938 machte deutlich, dass dem Leben von Juden durch
den NS-Staat immer weniger Wert beigemessen wurde. Radikale Nationalsozia-
listen erörterten nun auch öffentlich und mit drohendem Unterton die Legitimität
der Tötung von Juden. So heißt es am 24. November 1938 im „Schwarzen Korps“,
dem Organ der SS, unter dem Titel „Juden, was nun ?“ : „Hätten wir die Judenfrage
schon 1933 total und mit brutalen Mitteln gelöst, so wäre das Geschrei […] auch
nicht ärger gewesen, als es seither stetig ist, da wir die Judenfrage Zug um Zug
lösen, mit einzelnen Maßnahmen […]. Das deutsche Volk hat nicht die geringste
Lust, in seinem Bereich Hunderttausende von Verbrechern zu dulden, die durch
Verbrechen nicht nur ihr Dasein sichern, sondern auch noch Rache üben wol-
len ! […] Im Stadium einer solchen Entwicklung ständen wir daher vor der harten
Notwendigkeit, die jüdische Unterwelt genau so auszurotten, wie wir in unserem
Ordungsstaat Verbrecher eben auszurotten pflegen : mit Feuer und Schwert. Das
Ergebnis wäre das tatsächliche und endgültige Ende des Judentums in Deutsch-
land, seine restlose Vernichtung.“51
Während in den Jahren zuvor Vernichtungsdrohungen gegen die Juden noch
nicht von der Staatsführung selbst verkündet wurden und auf Deutschland be-
schränkt waren, änderte sich dies im Anfang 1939. Hitler drohte am 30. Januar
1939 in einer Rede vor dem Reichstag mit der Ermordung der Juden in Europa :
„Ich will heute wieder ein Prophet sein : Wenn es dem internationalen Finanzju-
dentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen
Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde
und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen

49 Vgl. Ulrich Klug, Erlaubnis zum Mord. Justiz und Judenverfolgung, in: Jörg Wollenberg (Hg.), „Niemand
war dabei und keiner hat’s gewußt“. Die Deutsche Öffentlichkeit und die Judenverfolgung 1933–1945, Mün-
chen/Zürich 1989, S. 88 ff.
50 Vgl. Michael Wildt, Volksgemeinschaft und Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deut-
schen Provinz, Hamburg 2007.
51 „Das Schwarze Korps“ vom 24.11.1938, S. 1 f.; vgl. H. G. Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur
Deportation der Juden in Deutschland, Tübingen 1974, S. 61 ; Richard Breitman, Der Architekt der
„Endlösung“. Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden, Paderborn u. a. 1996, S. 88 ;
Mario Zeck, Das Schwarze Korps. Geschichte und Gestalt des Organs der Reichsführung SS, Tübin-
gen 2002, S. 230 ff.

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Der Holocaust 7

Rasse in Europa.“52 Die Absicht des Genozids scheint in diesen Äußerungen unü-
berhörbar zum Ausdruck zu kommen. Die Zeitgenossen indes verstanden sie fata-
lerweise zumeist noch nicht wörtlich. Dass Hitlers Vernichtungsdrohung Anfang
1939 in aller Regel noch nicht im Sinne einer kommenden physischen Vernichtung
der jüdischen Minderheit begriffen wurde, zeigt sich selbst bei einem so aufmerk-
samen und sensiblen Beobachter wie Victor Klemperer, der auf Hitlers Rede vom
30. Januar 1939 und dessen Drohung nur kurz eingeht : „In seiner ‚Reichstagsrede‘
vom 30. Januar machte Hitler wieder aus allen Gegnern Juden und droht mit der
‚Vernichtung‘ der Juden in Europa, wenn ‚sie‘ den Krieg gegen Deutschland he-
raufbeschwören würden.“53
Hitlers Rede wurde live im Rundfunk übertragen. Sie wurde in allen Zeitungen
wörtlich oder fast wörtlich abgedruckt. Sie wurde im Kino in der Wochenschau ge-
zeigt.54 Sie wurde als Buch vertrieben.55 Damit nicht genug : In dem antisemitischen
Propagandafilm „Der Ewige Jude“, der im November 1940 in die Kinos kam, wurde
die Passage der Rede Hitlers als Höhepunkt des Streifens präsentiert.56 Das anti-
semitische Machwerk diente der ideologischen Vorbereitung des Völkermords an
den Juden. Der Kinobesucher sollte gedanklich und emotional darauf vorbereitet
werden, dass die Juden als „Schädlinge“ auch physisch vernichtet bzw. ausgerottet
werden müssten.
Eine Niederschrift Himmlers über die „Behandlung der Fremdvölkischen im
Osten“ von Mai 1940 verweist darauf, dass nach der Entfesselung des Krieges – den

52 Adolf Hitler, Reden und Proklamationen 1932–1945, hrsg. v. Max Domarus, 2 Bde., München
1963/1965, S. 1058.
53 Vgl. Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945, Berlin 1995,
Bd. I, S. 461.
54 „Der Führer spricht vor dem ersten Großdeutschen Reichstag“ (Tobis-Wochenschau, Nr. 6/1939 ;
Deulig-Tonwoche, Nr. 370/01.02.1939).
55 Adolf Hitler, Der Führer vor dem deutschen Reichstag Großdeutschlands. Reichstagsrede vom 30.
Januar 1939, München 1939. Diese Publikation wurde von der Druckerei der Reichsbank gedruckt.
56 Der Film „Der ewige Jude“ (Uraufführung am 29.11.1940 in Berlin, Regie : Fritz Hippler) ist der
aggressivste antisemitische Propagandafilm aus der NS-Zeit. Der Streifen, der in enger Absprache
mit Hitler entwickelt wurde, zeigt unter anderem Aufnahmen aus dem Lodzer Ghetto, um anti-
semitische Stereotypen zu bedienen. Vgl. Stig Hornshøj-Møller, „Der ewige Jude“. Quellenkritische
Analyse im antisemitischen Spielfilm, Göttingen 1995. Vgl. Hans Mommsen, Hitler’s Reichstag Speech
of 30 January 1939, in: Passing into History: Nazism and the Holocaust beyond Memory, History & Memory
9 (1997), S. 147–161; Stefan Kley, Intention, Verkündung, Implementierung. Hitlers Reichstagsrede vom
30. Januar 1939, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 197–213; Bernward Dörner, Die
Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin 2007,
S. 135 ff.; Wolfgang Benz, Der Ewige Jude. Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propa-
ganda, Berlin 2010.

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„die Juden“ ja angeblich verursacht hatten – auf der NS-Führungsebene aktiv über
eine genozidale „Lösung der Judenfrage“ nachgedacht wurde. Sie zeigt allerdings
auch, dass die Täter, in diesem Fall sogar eine Schlüsselfigur des Genozids, noch
zögerten, die Vernichtungsutopien für eine reale Option des NS-Regimes zu halten,
denn Himmler bezeichnet „die bolschewistische Methode der physischen Ausrot-
tung eines Volkes“ hier noch als „ungermanisch und unmöglich“.57
Der gegen die Juden gerichtete Vernichtungsgedanke hatte mit der Entfesselung
des Zweiten Weltkriegs bereits eine neue, weitergehende Stufe erreicht. Obwohl
die meisten Holocaust-Forscher davon ausgehen, dass der Genozid an den euro-
päischen Juden erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion begann,58 bildete das
besetzte Polen doch bereits ein erstes Erfahrungs- und Experimentierfeld der völ-
kermörderischen Tendenzen der NS-Politik.59 Über zwei Millionen Juden befan-
den sich im NS-Herrschaftsbereich. Überlegungen, die Juden aus dem deutschen
Herrschaftsbereich nach Madagaskar zu deportieren – was für die Verschleppten
aufgrund der dort herrschenden Lebensbedingungen den sicheren Tod bedeutet
hätte –, scheiterten nach dem ausbleibenden Sieg gegen Großbritannien nicht zu-
letzt an der hierfür notwendigen Seeherrschaft NS-Deutschlands.60 Bereits wäh-
rend und nach dem Polenfeldzug wurden Juden von deutschen Soldaten und Poli-
zisten gedemütigt, verletzt und ermordet. Bis Ende 1939 sind 60 000 polnische und
7 000 jüdische Zivilisten deutschen Einheiten zum Opfer gefallen.61 Die Errichtung
der Ghettos, in Lodz im Februar 1940 und in Warschau im November 1940, in de-
nen schon bald mehrere Hunderttausende polnischer Juden unter den menschen-
unwürdigsten Verhältnissen leben mussten, bilden Stationen auf dem Weg in den
Genozid. So starben allein im Warschauer Ghetto bis Herbst 1942 ca. 100 000 und
im Ghetto Litzmannstadt (Lodz) etwa 25 000 Menschen jüdischer Herkunft.62
Dass das NS-Regime nicht davor zurückschreckte, heimlich unerwünschte Per-
sonengruppen systematisch zu töten, konnten die Deutschen bereits am Beispiel
der „Euthanasie“-Maßnahmen erfahren. Weit über 70 000 kranke und behinderte

57 Denkschrift Himmlers über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten (Mai 1940), hrsg. v.
Helmut Krausnick, in : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 5 (1957), S. 194–198, hier S. 197.
58 Vgl. Browning, Die Entfesselung der „Endlösung“.
59 Vgl. Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt am
Main 2006.
60 Vgl. Magnus Brechtken, „Madagaskar für die Juden“. Antisemitische Idee und politische Praxis,
München 1997 ; Christian Jansen, Der Madagaskar-Plan. Die beabsichtigte Deportation der Juden
nach Madagaskar, München 1997.
61 Vgl. Klaus-Michael Mallmann/Bogdan Musial (Hg.), Genesis des Genozids. Polen 1939–1941,
Darmstadt 2004.
62 Vgl. Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933–1945, Darmstadt 22008, S. 68.

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Der Holocaust 

Menschen wurden ab Januar 1940 in sechs speziell dafür eingerichteten Tötungs-


anstalten umgebracht : In Grafeneck (Württemberg), Brandenburg an der Havel,
Hartheim bei Linz an der Donau, Pirna-Sonnenstein (Sachsen), Bernburg an der
Saale und in Hadamar bei Limburg.63 Bereits im September 1939 waren in Polen
Behinderte ermordet worden.64 Organisiert wurde das Tötungsprogramm von der
Kanzlei des Führers, die die Mord-Aktion aus der Tiergartenstraße 4 (unter dem
Tarnnamen „Aktion T 4“) in Berlin steuerte. Hitler hatte den feigen Feldzug ge-
gen die Wehrlosen („lebensunwertes Leben“) durch ein Ermächtigungsschreiben,
wahrscheinlich im Oktober 1939, welches auf den 1. September 1939 zurückdatiert
wurde, „autorisiert“.65
Die Ermordung von Kranken und Behinderten wurde, obwohl geheim betrie-
ben, schon bald zu einem offenen Geheimnis.66 Das hatte Folgen, denn nachdem
die meisten Deutschen früher oder später erfahren hatten, dass eine ganze Be-
völkerungsgruppe auf staatlichen Befehl und unter Verletzung der Gesetze sowie
christlicher und humanistischer Moralvorstellungen umgebracht wurde, mussten
sie diesem Regime auch andere Tötungsmaßnahmen zutrauen. Sie mussten sich
fragen, ob der NS-Staat, wenn er vor „arischen“ Behinderten nicht Halt machte,
Juden verschonen würde. Erhebliche Teile der Bevölkerung beunruhigte die Vor-
stellung, auch als „Arier“ unter Umständen – krank, behindert, kriegsverletzt oder
gebrechlich – staatlicherseits heimlich getötet zu werden.67 Dies trug dazu bei, dass
nach Protesten aus Kirchenkreisen, insbesondere nach den mutigen Predigten des
Bischofs von Münster, die „Euthanasie-Maßnahmen“ im August 1941 offiziell ein-
gestellt wurden. Den Mord an den Behinderten setzte das Regime allerdings mit
anderen Mitteln fort.68 Das an der Ermordung der Kranken und Behinderten durch
Giftgas beteiligte Personal verwendete man, nun über ein mörderisches Know-how
verfügend, weiter. Es wurde bei der Errichtung und dem Betrieb der Vernichtungs-
lager in Polen eingesetzt.69

63 Vgl. Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid ; Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernich-
tung unwerten Lebens“, Frankfurt am Main 1983 ; Michael Burleigh, Tod und Erlösung. Euthanasie
in Deutschland 1900–1945, Zürich/München 2002.
64 Vgl. Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid, S. 228 ff.
65 Ebenda.
66 Vgl. ebenda, S. 184 ff.
67 Vgl. ebenda., S. 193.
68 Vgl. ebenda, S. 228 ff.
69 Vgl. ebenda, S. 309.

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Massengewalt und Vernichtung : Der Krieg gegen die Sowjetunion


als genozidale Intervention

Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde von Anfang an als „Vernichtungskampf “,
so Hitler am 30. März 1941 gegenüber Generälen, geplant und geführt.70 Der
„Kommissarbefehl“ vom 6. Juni 1941 ordnete die völkerrechtswidrige Ermordung
von Politoffizieren der sowjetischen Armee an : „Im Kampf gegen den Bolschewis-
mus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlich-
keit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen
Kommissaren aller Art als den eigentlichen Trägern des Widerstands eine hass-
erfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwar-
ten. Die Truppe muss sich bewusst sein : 1. In diesem Kampfe ist Schonung und
völkerrechtliche Rücksichtnahme diesen Elementen gegenüber falsch. […] 2. Die
Urheber barbarisch asiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare.
Gegen sie muß daher sofort und ohne weiteres mit aller Schärfe vorgegangen
werden. Sie sind daher, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich
sofort mit der Waffe zu erledigen.“71 Mit Recht ist der „Kommissarbefehl“ in der
Forschung als „Symbol für die Einbeziehung der Wehrmacht in die nationalsozia-
listische Ausrottungspolitik“ bezeichnet worden.72 Die weit überwiegende Mehr-
heit der deutschen Frontverbände hat diesen verbrecherischen Befehl bereitwillig
umgesetzt.73 Im „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“ ging es, den Kommissarbefehl er-
gänzend, darum, die Wehrmachtssoldaten vom Risiko der Strafverfolgung bei Ver-
brechen an sowjetischen Zivilisten zu befreien : „Für Handlungen, die Angehörige
der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht
kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches
Verbrechen oder Vergehen ist.“74 Diese verbrecherischen Befehle dienten als Signal
dafür, dass das Leben von Juden und Kommunisten keine Schonung verdiente und
dass „slawische Untermenschen“ nichts wert waren.

70 Vgl. Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Generaloberst Halder. Kriegstagebuch, Bd. 2, Stuttgart 1963, S. 335 ff.
71 OKW-Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare vom 06.06.1941 („Kommissarbefehl“),
zitiert nach Peter Klein (Hg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätig-
keits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997, S. 371 f.
72 Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–
1945, Stuttgart 1979, S. 45.
73 Vgl. Felix Römer, Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42,
Paderborn u. a. 2008, S. 551.
74 „Kriegsgerichtsbarkeiterlass“ Hitlers vom 13.05.1941, II. 1., zitiert nach Peter Klein (Hg.), Die Ein-
satzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der
Sicherheitspolizei und des SD, Berlin 1997, S. 368 f.

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Der Holocaust 101

Etwa 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene (ca. 58 Prozent von insgesamt


5,7 Millionen) starben in deutschem Gewahrsam, weil die Wehrmacht sie an Hun-
ger, Kälte und Krankheiten gezielt zugrunde gehen ließ.75
Der Überfall auf die UdSSR markiert den Beginn des systematischen Massen-
mordens an den Juden in Europa. Im Zuge des Vernichtungskrieges erreichte die
nationalsozialistische Judenpolitik eine neue, eindeutig genozidale Qualität. Schon
kurz nach ihrem Beginn setzte die Ermordung der in der Sowjetunion lebenden Ju-
den ein. In wenigen Monaten wurden Hunderttausende von ihnen umgebracht. Als
mobile Mordeinheiten fungierten Verbände, deren Einsatz von drei Himmler direkt
unterstehenden Höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF) koordiniert wurde : Die
Einsatzgruppen A im Baltikum, B in Weißrussland, C in der Ukraine und D im süd-
lichsten Teil der Sowjetunion am Schwarzen Meer ; die von der Ordnungspolizei
aufgestellten Polizeibataillone und Brigaden der Waffen-SS.76 Eine Radikalisierung
ihres Vorgehens ist, wenn die jeweiligen Schritte auch nicht gleichzeitig erfolgten,
erkennbar : In den ersten Wochen ermordeten diese Verbände zunächst jüdische
Männer im wehrfähigen Alter, ab Mitte August 1941 auch Frauen und Kinder.
Spätestens ab Mitte Oktober 1941 brachten die Mordeinheiten grundsätzlich alle
Juden um, derer sie habhaft werden konnten.77 Nationalistische und antisemitische
Kollaborateure, insbesondere im Baltikum und in der Ukraine, beteiligten sich aktiv
an den Vernichtungsmaßnahmen.78
Der Massenmord an den Juden in den okkupierten Gebieten der UdSSR erfolgte
unter grauenhaften Umständen, vor allem durch Massenerschießungen. So wurden
schon am 24. Juni 1941 im litauischen Grenzgebiet in Garsden 201, am 25. Juni in
Krottingen 214 und am 27. Juni 111 Menschen erschossen. „Vorwiegend Juden“ seien
dabei „liquidiert“ worden, heißt es dazu in einem Bericht der Gestapostelle Tilsit.79
In Bialystok sperrten am 27. Juni 1941 Angehörige des Polizeibataillons 309 ca. 2000
Juden in eine Synagoge und zündeten sie an.80 In Kamenez-Podolsk wurden zwi-
schen dem 26. und 29. August 1941 vom Stab des HSSPF Friedrich Jeckeln und dem
Polizeibataillon 320 ca. 26 500 Juden umgebracht.81 In Babij Jar, einer Schlucht in

75 Vgl. Streit, Keine Kameraden, S. 128–190.


76 Vgl. Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 72 f.
77 Vgl. ebenda, S. 75.
78 Vgl. Dean, Collaboration in the Holocaust.
79 Einschreiben der Stapostelle Tilsit an das RSHA vom 01.07.1941, vgl. Klein, Einsatzgruppen in der
besetzten Sowjetunion, S. 372 ff.
80 Vgl. Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 73.
81 Vgl. Klaus-Michael Mallmann, „Vom Fußvolk der Endlösung“. Ordnungspolizei, Ostkrieg und Juden-
mord, in : Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 26 (1997), S. 355–391.

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102 Bernward Dörner

Kiew, wurden am 29. und 30. September 1941 vom „Sonderkommando 4a“, unter-
stützt von den Polizeibataillonen 45 und 314, 33 771 Juden ermordet.82 Die Kette der
großen und kleinen Massaker riss nicht mehr ab. Bis März 1942 hatten die Mordein-
heiten von SS und Polizei, zum Teil unter direkter Mitwirkung der Wehrmacht,
nahezu 600 000 Juden in den okkupierten sowjetischen Gebieten umgebracht.83
Vor dem Hintergrund dieses unentwegten Mordens wurde nach dem Überfall
auf die Sowjetunion die antisemitische und antibolschewistische Hasspropaganda
auch an der „Heimatfront“ intensiviert.84 So kündigt Goebbels in einem Kommen-
tar des „Völkischen Beobachters“ vom 7. Juli 1941 mit dem Titel „Der Schleier
fällt“ an, dass „für die jüdisch-terroristische Führungsschicht des Bolschewismus
das Ende mit Schrecken“ nahe.85 Am nächsten Tag berichtet das NSDAP-Partei-
organ ziemlich unverhüllt über von deutschen Besatzungstruppen geduldete oder
sogar angezettelte Pogrome. Die antisemitische Pressehetze wurde durch die Be-
richterstattung der Wochenschauen unterstützt.86
Das Regime konnte registrieren, dass ein rücksichtsloses Vorgehen gegen die
Juden von der Mehrheit der Deutschen hingenommen, von vielen sogar begrüßt
wurde. Da man „die Juden“ als die „eigentlichen Drahtzieher“ der Kriegsgegner an-
sehe, werde mancherorts „eine radikale Behandlung der Juden im Reich gefordert“,
heißt es in den „Meldungen aus dem Reich“ vom 10. Juli 1941.87 Breite Bevölke-
rungskreise erhielten nicht nur durch die NS-Medien, sondern schon bald auch
durch Feldpostbriefe und von Fronturlaubern Hinweise auf den anlaufenden Juden-
mord. Der Verlust der Achtung vor dem Leben, soweit es Juden betraf, wirkte auf
die „Heimatfront“ zurück. Am 24. Juli 1941 berichten z. B. die „Meldungen aus dem
Reich“ über Reaktionen auf die Wochenschau : „Die Bildfolgen vom Zwangseinsatz
der Juden zu Aufräumungsarbeiten seien überall mit großer Freude aufgenommen
worden. […] Die Lynchjustiz der Rigaer Bevölkerung an ihren Peinigern wurde
mit aufmunternden Ausrufen begleitet.“88
Die NS-Führung förderte diese Einstellung. In der zweiten Septemberwoche
1941 wurde Hitlers Vernichtungsdrohung gegen die europäischen Juden vom 30.
Januar 1939 als „Wochenspruch der NSDAP“ verbreitet. Er hing in Zehntausenden

82 Vgl. Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 77.


83 Vgl. ebenda.
84 Vgl. Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst !“. Die Deutschen und die Judenverfolgung
1933–1945, München 2006, S. 159.
85 Zitiert nach ebenda.
86 Vgl. ebenda, S. 161.
87 Zitiert nach Kulka/Jäckel, Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933–1945, S. 448 f.
88 Ebenda, S. 450, Dok. 555.

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Der Holocaust 103

von Schalterhallen, Amtsstuben, Büros etc.89 NS-Politiker heizten die antisemi-


tische Stimmung gegen die ab Mitte September 1941 durch den Judenstern stig-
matisierte Minderheit weiter an. So verkündete der Kölner Gauleiter am 28. Sep-
tember 1941 auf einer Großkundgebung unverhohlen, dass die Juden „vernichtet“
werden müssten.90 Ein erheblicher Teil der Deutschen nahm die sich verdichten-
den Hinweise darauf, dass die Juden nun tatsächlich regelrecht ausgerottet werden
sollten, mit Unwillen zur Kenntnis. Mochten manche bereits darüber nachdenken,
wie man nun auch die deutschen Juden vernichten könnte, so hatten andere selbst
in den okkupierten sowjetischen Gebieten noch Skrupel, die NS-Vernichtungspoli-
tik mitzutragen. Deshalb sah sich der nationalsozialistisch eingestellte Generalfeld-
marschall von Reichenau in einem Befehl zum „Verhalten der Truppe im Ostraum“
vom 10. Oktober 1941 auch dazu veranlasst, die Liquidierung jüdischer Zivilisten
zu rechtfertigen : „Deshalb muß der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber
gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben.“91
Ähnlich lautende Befehle anderer Befehlshaber folgten.92
Mit dem Beginn der reichsweiten Deportationen aus Deutschland, Österreich
und der Tschechoslowakei ging das Regime einen Schritt weiter. Die Verschlep-
pung der Juden aus dem Gesichtskreis der „Heimatfront“ in „den Osten“, das heißt
in die Nähe der Massenexekutionen jüdischer Zivilisten, erschöpfte sich von An-
fang an nicht in der Entfernung der Betroffenen. Wer sich zu dem einschneidenden
Schritt entschloss, die deutschen Juden ausgerechnet nach Polen oder Russland
zu verschleppen, der hatte ihnen früher oder später das Los der osteuropäischen
Juden – die systematische Ermordung – zugedacht. Wer aber den deutschen Ju-
den, von denen nicht wenige Veteranen des Ersten Weltkriegs waren, den Tod
wünschte, der hatte sicherlich nicht die Absicht, die westeuropäischen Juden im
deutschen Herrschaftsgebiet besser zu behandeln. Den wenigsten Deutschen war
damals schon klar, dass die Evakuierungen in den Tod führten, doch ahnten viele
bereits das schreckliche Ende der Verschleppten.
Diese neue Phase der Vernichtungspolitik wurde von einer weiteren antisemi-
tischen Diffamierungskampagne begleitet. So ließ das Reichspropagandaministe-
rium in der zweiten Oktoberhälfte 1941 an Millionen Haushalte ein antisemitisches

89 Reichspropagandaleitung (Hg.), Wochenspruch der NSDAP, Folge 37, 7. bis 13. September 1941,
München 1941, Zentralverlag der NSDAP, Bundesarchiv (BArch), NSD 74/3, Bd. 3.
90 Ton- und Bildaufnahme dieser Passage der Rede Grohes in der Kölner Messehalle am 28.09.1941,
gesendet in dem Beitrag „Holocaust“, ZDF, 24.10.2000.
91 IMG, Bd. 35, S. 85, Dok. D–411.
92 Vgl. ebenda, S. 81–86, Dok. D–411 ; Leon Poliakov/Josef Wulf, Das Dritte Reich und die Juden,
München 1978, S. 206.

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104 Bernward Dörner

Hetzblatt mit dem Titel „Wenn Du dieses Zeichen siehst…“ verteilen.93 Zu seiner
fast flächendeckenden Verbreitung schreibt der amerikanische Deutschlandkor-
respondent Howard K. Smith :94 „Die Pamphlete wurden an den Zeitungsständen
für 15 Pfennig verkauft. Am Anfang gingen sie gut weg, aber in der Woche darauf
[…] ließ das Interesse ziemlich rasch nach. Im folgenden Monat verteilten die
Nazis das Pamphlet zusammen mit den monatlichen Rationierungskarten an jede
Familie.“95 Smith schätzt die Auflage auf dreißig Millionen Exemplare.96 In die-
ser antisemitischen Handreichung für die Volksgenossen wurde im Rahmen der
Politik der Stigmatisierung der Juden durch den Judenstern kurz vor dem Beginn
der reichsweiten Judendeportationen versucht, den Judenhass zu verstärken und
Zweifelnde und Gegner der Judenpolitik einzuschüchtern. Mit dieser Propaganda-
kampagne reagierte man nicht zuletzt darauf, dass die Einführung des Judensterns
Mitte September 1941 bei vielen Deutschen durchaus auf Unbehagen, ja sogar
Ablehnung gestoßen war.97 Zugleich wollte man die damals beginnenden Judende-
portationen psychologisch und ideologisch vorbereiten und begleiten.

Deportation als Instrument des Völkermords

Die ersten Deportationen aus dem Deutschen Reich hatten im Oktober 1938 statt-
gefunden, als über 15 000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit über die deutsch-

93 Die Propagandaschrift ist abgebildet in Ogiermann, Bis zum letzten Atemzug, nach S. 112.
94 Howard K. Smith, geb. 1914 in Ferriday (Louisiana, USA), aufgewachsen in New Orleans ; Journalist
bei einer Lokalzeitung, 1940 Beginn seiner Tätigkeit bei United Press, Korrespondent zunächst in
Dänemark, dann in Deutschland, 1941 Korrespondent für CBS in Berlin, 7. Dezember 1941 Flucht
aus Deutschland in die Schweiz ; 1942 Veröffentlichung des Bestsellers Last Train from Berlin. An
Eyewitness Account of Germany at War (dt.: Feind schreibt mit) ; 1971 Anchorman der Nachrich-
tensendung The ABC Evening News ; 2002 verstorben.
95 Howard K. Smith, Feind schreibt mit. Ein amerikanischer Korrespondent erlebt Nazi-Deutschland,
Frankfurt am Main 1986, S. 160.
96 Vgl. ebenda, S. 171.
97 Vgl. Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst !“, S. 159 ff. In einem Bericht des SD-Hauptamts II
112 vom 7. Dezember 1938 heißt es zum Novemberpogrom : „Die Stellungnahme der Bevölkerung
zu den Aktionen, die anfänglich zustimmend war, änderte sich grundsätzlich, als der angestellte
Sachschaden allgemein zu übersehen war“ (zitiert nach Kulka/Jäckel, Die Juden in den geheimen
NS-Stimmungsberichten 1933–1945, S. 304 ff.). Der Landrat in Halle (Westfalen) meldet am 18. No-
vember 1938 : „Von einem großen Teil der Bevölkerung wird die Aktion nicht gebilligt, vor allem
nicht die Art des Ausführung“ (zitiert nach ebenda, S. 317). Sogar unter NSDAP-Mitgliedern war
die Kennzeichnung der Juden nicht unumstritten : „Selbst eingefleischte Nazi-Parteimitglieder waren
angewidert“ (Smith, Feind schreibt mit, S. 120).

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Der Holocaust 105

polnische Grenze abgeschoben wurden.98 Deportationen von Juden aus Wien und
Mährisch-Ostrau Ende 1939,99 aus Stettin und Schneidemühl im Februar und März
1940100, aus Baden und der Pfalz am 22./23. Oktober 1940101 und aus Wien im Fe-
bruar/März 1941102 bildeten die Vorstufe zu den ab Mitte Oktober 1941 einsetzenden
reichsweiten Evakuierungen aus Deutschland,103 in deren Rahmen insgesamt etwa
120 500 Juden aus Deutschland „in den Osten“ verbracht wurden.104 In vielen Fäl-

98 Da den meisten von den polnischen Behörden die Einreise verweigert wurde, vegetierten sie mo-
natelang im deutsch-polnischen Grenzgebiet unter menschenunwürdigen Bedingungen (vgl. Enzy-
klopädie des Holocaust, S. 1205).
99 Zwischen dem 18. und 27. Oktober 1939 wurden im Rahmen des Nisko/Lublin-Projekts aus Öster-
reich und dem „Protektorat Böhmen und Mähren“ Tausende von Juden in den Raum Lublin depor-
tiert. Das Vorhaben, alle deutschen Juden in ein „Judenreservat“ im Raum Lublin zu deportieren,
wurde im März 1940 jedoch aufgegeben.
100 Am 12./13. Februar 1940 wurden rund 2500 Juden aus Stettin und Schneidemühl in den Raum Lu-
blin verschleppt, darunter auch Greise und Säuglinge. Viele von ihnen erfroren auf stundenlangen
Fußmärschen in eisiger Kälte (vgl. Adler, Der verwaltete Mensch, S. 140 ff.
101 Auf Anordnung der NSDAP-Gauleiter Josef Bürckel und Robert Wagner wurden am 22./23. Okto-
ber 1940 7000 bis 8000 Juden aus Baden, dem Saarland und der Pfalz ins Lager Gurs in Südfrank-
reich deportiert (vgl. Jacob Toury, Die Entstehungsgeschichte des Austreibungsbefehls gegen die
Juden der Saarpfalz und Badens (22./23. Oktober 1940 – Camp de Gurs), in : Jahrbuch des Instituts
für deutsche Geschichte, University of Tel Aviv 15 (1986), S. 431–464 ; Erhard Wiehn (Hg.), Ok-
toberdeportation 1940, Konstanz 1990 ; Gerhard J. Teschner, Die Deportation der badischen und
saarpfälzischen Juden am 22. Oktober 1940, Frankfurt am Main u. a. 2002 ; Wolf Gruner, Von der
Kollektivausweisung zur Deportation der Juden aus Deutschland (1938–1945). Neue Perspektiven
und Dokumente, in: Birthe Kundrus/Beate Meyer (Hg.), Die Deportation der Juden aus Deutschland, Göt-
tingen 2004, S. 41). Die Verschleppungsaktion war durch einen „Führerbefehl“ gedeckt und wohl
auch initiiert. Sie erfolgte unter brutalen Umständen : Ganze Altersheime wurden verschleppt ; der
älteste Deportierte war ein 97-jähriger Mann aus Karlsruhe. Die Frist, die den Deportierten vor
ihrem Abtransport gewährt wurde, lag zwischen einer Viertelstunde und zwei Stunden. Allein
in Mannheim gab es in den Tagen der Deportation acht Suizide. Die Deportierten sollten nach
Madagaskar weiterverschickt werden (vgl. „Bericht über Verschickung von Juden deutscher Staats-
angehörigkeit nach Südfrankreich“, Karlsruhe, 30. Oktober 1940, BArch, R 22/52, fol. 108).
102 Zwischen dem 15. Februar und 12. März 1941 deportierte die Gestapo rund 5000 Wiener Juden in
den Raum Lublin (vgl. Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 258–261.
103 Die reichsweiten Deportationen erfolgten ab Mitte Oktober 1941 aus Berlin, Köln, Düsseldorf,
Frankfurt am Main, Hamburg sowie aus Wien, Prag und Luxemburg. Aus diesen Städten und
deren Umgebung wurden unter anderen rund 20 000 Juden in 20 Transporten ins Ghetto Lodz
(„Litzmannstadt“) verschleppt (vgl. Bericht der Abschnittskommandantur Nord, Litzmannstadt, 13.
November 1941, die Ankunft von Transporten betreffend, abgedruckt in : Rürup (Hg.), Topographie
des Terrors, S. 116).
104 Vgl. Kulka/Jäckel (Hg.), Die Juden in den geheimen Stimmungsberichten 1933–1945, S. 675. Seit
Kriegsbeginn wurden aus dem Deutschen Reich insgesamt 137 000 Juden deportiert. Weitere 65 000
Juden, die in verschiedene europäische Länder ausgewandet waren, wurden später von dort de-
portiert (ebenda ; vgl. Browning, Die Entfesselung der „Endlösung“, S. 535–555).

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106 Bernward Dörner

len führten diese Verschleppungen zwar noch nicht zur sofortigen Ermordung, sie
zielten aber grundsätzlich auf den Tod der Deportierten.105
Im Zuge der nach dem Überall auf die Sowjetunion entfesselten systematischen
Vernichtungspolitik gegen die dort lebenden Juden wurde der Zusammenhang
zwischen Deportation und Ermordung immer deutlicher. Mit der Behauptung,
die Deportierten würden umgesiedelt oder in Arbeitslager eingeliefert, versuchte
man die Verschleppung der ehemaligen Nachbarn und Kollegen – darunter Greise,
Kranke und Kinder – notdürftig zu verschleiern. Dabei griffen die Protagonisten
des Genozids fast durchgängig auf die von ihnen intern entwickelten Tarnbegriffe
und Euphemismen zurück.106 Die Errichtung eines vermeintlichen Altersghettos
in Theresienstadt (Terezin), das sich für viele der dorthin Deportierten als eine
Durchgangsstation nach Auschwitz erweisen sollte, diente ebenfalls der Täu-
schung.107 Die Tarnung der Mordaktionen im Osten sollte die Opfer täuschen und
der nichtjüdischen Bevölkerung eine Erklärung für den Vorgang bieten, die ihnen
Nachfragen und Gewissensbisse ersparen sollte. Darüber hinaus sollten die Depor-
tationen den Genozid nach dem Prinzip „aus den Augen, aus dem Sinn“ aus dem
Bewusstsein der Deutschen verbannen.
Dass die deutschen Juden „in den Osten“ deportiert wurden, konnte aus vielerlei
Gründen nicht geheim gehalten werden.108 Zum Teil erfolgten die Evakuierungen
in aller Öffentlichkeit. Moerser Juden wurden zum Beispiel am 10. Dezember 1941

105 Diese Auffassung ist in der Forschung durchaus umstritten. So hat Christian Gerlach die Ansicht
vertreten, eine Entscheidung über die Ermordung grundsätzlich aller europäischen, also auch der
deutschen Juden, sei im Dezember 1941 nach dem Kriegseintritt der USA gefallen (die Wannsee-
Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle
Juden Europas zu ermorden). Dass die Deportationen ab 1941/42 „den Transport zu den Stätten
des Völkermords“ bedeuteten, betont dagegen zum Beispiel mit überzeugenden Argumenten Wolf
Gruner (Von der Kollektivausweisung zur Deportation der Juden aus Deutschland 1938–1945).
106 Vgl. hierzu Dörner, Die Deutschen und der Holocaust, S. 43–53.
107 Vgl. hierzu H. G. Adler, Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte, Sozio-
logie, Psychologie, Tübingen 21960 ; Miroslav Karny u. a. (Hg.), Theresienstadt in der „Endlösung
der Judenfrage“, Prag 1992.
108 So fand die Deportation der Juden aus Bielefeld an einem Samstagnachmittag statt. Das Geschehen
blieb in der lokalen Öffentlichkeit nicht unbemerkt. So heißt es in einem Lagebericht der SD-
Hauptaußenstelle Bielefeld vom 16. Dezember 1941 : „Obwohl diese Aktion von Seiten der Staats-
polizei geheim gehalten wurde, hatte sich die Tatsache der Verschickung von Juden doch in allen
Bevölkerungskreisen herumgesprochen“, Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv (StArch Detmold,
M 18, Nr. 17) ; vgl. Kulka/Jäckel (Hg.), Die Juden in den geheimen Stimmungsberichten 1933–1945,
S. 478). „Die Deportationen selbst vollzogen sich schrittweise, unter Mitwirkung der kommunalen
Behörden, und keineswegs unter dem Mantel strikter Geheimhaltung“ (Mommsen/Obst, Die Re-
aktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 1933–1943, S. 401).

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Der Holocaust 107

mit der Straßenbahn nach Krefeld transportiert und von dort über Düsseldorf nach
Riga deportiert.109 In Lemgo wurden die letzten Juden sogar unter großer Beach-
tung der Bevölkerung vom dortigen Marktplatz aus abtransportiert.110 Auch in Hei-
delberg wurden die Juden vor ihrer Deportation auf dem Markplatz versammelt.111
Fast tausend Würzburger Juden führte man am 25. April 1942 am helllichten Tag
durch die Stadt zum Bahnhof.112 Aber auch wenn die Deportationen eher diskret
erfolgten – bei Nacht, von Nebenbahnhöfen und in Personenwaggons –,113 sprach
sich die Abschiebung der jüdischen Minderheit schnell herum. Und selbst dieje-
nigen, die solche Gerüchte zunächst nicht erreicht hatten, mussten früher oder
später feststellen, dass die von Juden genutzten Häuser und Wohnungen und ihre
Arbeitsplätze eines Tages verwaist waren. Zudem war kaum zu übersehen, dass
jüdisches Hab und Gut öffentlich versteigert wurde.114
Mit den Deportationen war die Absicht verbunden, die Juden früher oder später
zu töten. Damit korrespondierte auch die Tatsache, dass in jenen Tagen die Poli-
tik der Vertreibung der jüdischen Minderheit definitiv beendet wurde.115 Das am
23. Oktober 1941 verhängte Auswanderungsverbot für Juden markiert eine drama-

109 Vgl. Klaus Hesse/Philipp Springer, Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen
Terrors in der Provinz, Essen 2002, S. 153.
110 Bericht der SD-Außenstelle Detmold, 31. Juli 1942, StArch Detmold, M 18, Nr. 11 ; vgl. Kulka/Jä-
ckel (Hg.), Die Juden in den geheimen Stimmungsberichten 1933–1945, S. 503.
111 Vgl. Arno Weckbecker,Die Judenverfolgung in Heidelberg 1933–1945, Heidelberg 1985, S. 197 ff.
112 Vgl. Herbert Schott, Die ersten drei Deportationen mainfränkischer Juden 1941/42, in : Staatsarchiv
Würzburg/Institut für Zeitgeschichte (Hg.), Wege in die Vernichtung. Die Deportation der Juden
aus Mainfranken 1941–1943, München 2003, S. 73–166, hier S. 73 ff.; Hesse/Springer, Vor aller Au-
gen, S. 155 ff.
113 Die Deportationen erfolgten häufig zu früher Stunde, wenn viele noch schliefen, und über Bahn-
höfe mit wenig Publikumsverkehr. So wurden die Laupheimer Juden vom Bahnhof Laupheim-West
deportiert, über den kein Personenverkehr abgewickelt wurde (vgl. Hesse/Springer, Vor aller Au-
gen, S. 149).
114 Sogar in der Tagespresse war zu lesen, dass jüdisches Eigentum öffentlich versteigert wurde (vgl.
Westdeutscher Beobachter vom 02.07.1942, zitiert in NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln,
Köln im Nationalsozialismus, S. 211).
115 Gestapo-Chef Müller schrieb am 23. Oktober 1941 an den Beauftragten des Chefs der Sipo und
des SD (IV B 4 b [Rz] 2920/41 g [984]) : „Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei hat
angeordnet, dass die Auswanderung von Juden mit sofortiger Wirkung zu verhindern ist. (Die Eva-
kuierungsaktionen bleiben davon unberührt). Ich bitte, die in Frage kommenden innerdeutschen
Behörden des dortigen Dienstbereichs von dieser Anordnung zu unterrichten. Lediglich in ganz
besonders gelagerten Einzelfällen, z.B. bei Vorliegen eines positiven Reichsinteresses, kann nach
vorheriger Herbeiführung der Entscheidung des Reichssicherheitshauptamtes der Auswanderung
einzelner Juden stattgegeben werden“ (BArch, R 58/1074, fol. 73). Vgl. Longerich, „Davon haben
wir nichts gewusst !“, S. 163 ff.

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tische Zäsur in der Judenpolitik des NS-Regimes. Es war die perfide Ergänzung der
Evakuierungen. Mitte November 1941 wurden die Kommunalbehörden darauf hin-
gewiesen, dass nunmehr ein Auswanderungsstop für Juden gelte.116 Dadurch saßen
die deutschen Juden endgültig in einer tödlichen Falle. Ein Ausplünderungs- und
Ausbeutungskalkül konnte dem Verbot, Deutschland zu verlassen, nicht zugrunde
liegen, denn die „Nichtarier“ im deutschen Herrschaftsbereich waren bereits weit-
gehend verarmt, und die jüdische Minderheit bestand zum großen Teil aus alten
und kranken Menschen. Durch deren Verbleiben in Deutschland entstanden also
mehr Kosten, als wenn man sie hätte ausreisen lassen. Dass das Regime seine jah-
relang mit Eifer betriebene Vertreibungspolitik aufgab und die Juden nun in lebens-
bedrohlicher Weise in entlegene Teile des eigenen Herrschaftsgebiets deportierte,
konnte schon damals als Indiz dafür erkannt werden, dass die Weichen für die
physische Vernichtung der Juden gestellt wurden.
In dieser verzweifelten Situation und im Stich gelassen selbst von denen, die
nicht antisemitisch verhetzt waren, stieg die Zahl der Suizide von Juden steil an.117
Viele, meist ältere Juden ahnten, dass die Deportationen mit Grausamkeiten, De-
mütigungen und früher oder später mit dem Tod enden würden.118 Zwischen dem
Beginn der reichsweiten Massendeportationen im Oktober 1941 und dem Sommer
1943 nahmen sich etwa 3000 bis 4000 Juden, rund zwei Prozent der Betroffenen,
das Leben.119

116 So heißt es in einem Schreiben der Gestapoleitstelle in Düsseldorf : „Der Reichsführer-SS und Chef
der Deutschen Polizei hat angeordnet, daß die Auswanderung von Juden mit sofortiger Wirkung zu
verhindern ist. Über im Interesse des Reiches liegende besondere Ausnahmefälle ist mir zuvor zu
berichten. Zusatz für die Herren Polizeipräsidenten und Landräte : Mehrabdrucke für die Polizei-
ämter bezw. die Herren Bürgermeister liegen bei“ (Schreiben der Staatspolizeileitstelle Düsseldorf,
gez. Hunsche, an Stapostellen und Polizeibehörden in ihrem Gebiet, 14. November 1941, in : Nord-
rhein-Westfälisches Hauptstadtarchiv Düsseldorf, RW 36/27, fol. 63).
117 Zwischen 1941 und 1943 nahmen sich über 3000 Juden in NS-Deutschland das Leben (vgl. Konrad
Kwiet, The Ultimate Refuge. Suicide in the Jewish Community under the Nazis, in : Leo Baeck Yaer
Book 29 (1984), S. 135–167 ; Ursula Baumann, Suizid im “Dritten Reich”. Facetten eines Themas,
in : Michael Grüttner u. a. (Hg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup,
Frankfurt am Main/New York 1999, S. 482–516).
118 Victor Klemperer zum Beispiel notiert am 9. November 1941 in seinem Tagebuch : „Die Verschi-
ckungen nach Polen nehmen ihren Fortgang, überall unter den Juden tiefste Depression. Ich traf
am Lehrerseminar in der Teplitzer Straße Neumanns, die sonst tapfer optimistische Leute waren,
ganz am Boden, erwogen Selbstmord“ (Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Bd. I,
S. 685).
119 So die Schätzungen von Konrad Kwiet. In Berlin lag die Zahl der Suizidopfer bei rund 4 Prozent
(vgl. Kwiet, The Ultimate Refuge).

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Der Holocaust 10

Die nationalsozialistische Führung suchte den Völkermord an den europäischen


Juden mit allen Mitteln und so schnell wie möglich zu realisieren.120 Das NS-Re-
gime knüpfte an die Methoden bei der Tötung von Kranken und Behinderten an.121
Gleichzeitig übernahm man einen großen Teil des Personals der „Aktion T 4“.122
Mit „Gaswagen“, die als „rollende Gaskammern“ benutzt wurden, brachte das SS-
„Sonderkommando Lange“ im „Warthegau“ zunächst Kranke und Behinderte aus
westpolnischen Einrichtungen um.123 Später erhielten auch die Einsatzgruppen
Gaswagen. In Chelmno setzten die Mordkommandos rollende Gaskammern im
dort errichteten Lager „Kulmhof “ ein.124 In diesem ersten Vernichtungslager des
NS-Genozids an den europäischen Juden wurden seit Anfang Dezember 1941 jü-
dische Männer, Frauen und Kinder ermordet.
Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 in Berlin diente keineswegs dazu,
wie nicht selten behauptet wird, über die „Endlösung der europäischen Judenfrage“
zu entscheiden.125 Der Zweck der Zusammenkunft lag vielmehr in der Koordination
des schon im Gange befindlichen Genozids an den europäischen Juden.126 Im Be-
sprechungsprotokoll wird kaum verhüllt von der Vernichtung der europäischen Ju-
den gesprochen.127 Das Protokoll definierte auch unmissverständlich die europäische
Dimension des Genozids : „Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage
kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht.“128 In einer tabellarischen Aufstellung
des Protokolls werden auch die in neutralen oder gegnerischen Staaten lebenden
Juden aufgelistet, so z. B. Schweden (8000), die Schweiz (18 000), die Türkei (55 000)
und England (330 000). Kein europäischer Jude sollte, soweit dies militärisch und
politisch machbar war, dem antisemitischen Ausrottungsfeldzug entgehen.

120 Vgl. Eugen Kogon u. a. (Hg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Doku-
mentation, Frankfurt am Main 1986.
121 Vgl. Ernst Klee (Hg.), Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt am Main 1985, S. 264 ff.
122 Vgl. Götz Aly (Hg.), Aktion T 4 1938–1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4,
Berlin 1987.
123 Vgl. Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid, S. 228 ff.
124 Vgl. Kogon, Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas, S. 110–145 ; Shmuel Krakowski,
Das Todeslager Chelmno/Kulmhof. Der Beginn der Endlösung, Göttingen 2007.
125 Zu den Hintergründen der Zusammenkunft vgl. Mark Roseman, Die Wannsee-Konferenz. Wie
die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte, München 2002 ; Gedenk- und Bildungsstätte Haus
der Wannseekonferenz (Hg.), Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen
Juden. Katalog der ständigen Ausstellung, Berlin 2006.
126 Vgl. Kurt Pätzold/Erika Schwarz (Hg.), Tagesordnung : Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am
20. Januar 1942. Eine Dokumentation zur Organisation der „Endlösung“, Berlin 1992.
127 Zitiert nach Ablichtung der 16. Ausfertigung des Besprechungsprotokolls, Haus der Wannsee-Kon-
ferenz, S. 116.
128 Ebenda.

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110 Bernward Dörner

Völkermord als offenes Geheimnis

Als der Mord an den Juden in Deutschland zu einem offenen Geheimnis geworden
war, entschloss sich die NS-Führung zu einem radikalen Kurswechsel – und trat die
Flucht nach vorn an. Seit der Niederlage in Stalingrad konnte die militärische Lage
nicht mehr schöngeredet werden. Stattdessen rief man nun unter dem Leitmo-
tiv eines heroischen Durchhaltewillens zur totalen Mobilisierung aller Kräfte auf.
Der propagandistische Paradigmenwechsel blieb nicht auf den Umgang mit der
militärischen Lage beschränkt. Er erstreckte sich auch auf die öffentliche Behand-
lung der Vernichtungspolitik. Während man seit dem Beginn der Deportationen in
erster Linie darum bemüht gewesen war, das Schicksal der Juden jenseits der all-
gemeinen Vernichtungsdrohungen möglichst totzuschweigen, entschied man sich
nun für eine Propagandalinie nach der Devise : „Wenn wir die Alliierten und ihre
jüdischen Hintermänner nicht besiegen und vernichten, werden sie uns vernich-
ten.“129 Nun rückte die eingängige, von einem sozialdarwinistischen Ansatz ausge-
hende Devise „Die oder wir“ für mehrere Monate in das Zentrum der Propaganda.
Rundfunk und Presse wurden deshalb angehalten, das Thema „Juden“ häufiger
aufzugreifen. In einer Presseanweisung vom 5. Februar 1943 heißt es in diesem
Sinne : „Gleichwertig neben unserer antibolschewistischen Propaganda steht die-
jenige gegen das Judentum. […] Die Vernichtung des Judentums ist kein Verlust für
die Menschheit, sondern für die Völker der Erde ebenso nützlich wie Todesstrafe
oder Sicherungsverwahrung für kriminelle Verbrecher.“130
Nicht zuletzt angesichts der wachsenden Unruhe in der Bevölkerung stellte sich
Goebbels demonstrativ an die Spitze der Propagandakampagne für den „totalen
Krieg“ und die „totale Ausrottung“. Am 18. Februar 1943 bot ihm im Berliner Sport-
palast ein weitgehend aus fanatischen Nationalsozialisten bestehendes Publikum die
gewünschte Kulisse und den passenden Resonanzboden für eine programmatische
Rede. Die meisten Deutschen verfolgten sie am Rundfunkgerät. Sämtliche deut-
schen Zeitungen druckten sie ab, oft sogar in vollem Wortlaut. Dass sich Goebbels
in seiner berüchtigten Rede ostentativ zur Vernichtungspolitik gegen die Juden be-
kannte, haben interessanterweise fast alle Zeitzeugen verschwiegen und zahlreiche
Analysen ignoriert. Goebbels griff die wachsenden Racheängste der Bevölkerung
auf, um aus ihnen, auch rückblickend, die „Notwendigkeit“ der antisemitischen

129 Vgl. zu den Hintergründen der Kampagne Wolfgang Benz, „Judenvernichtung aus Notwehr ?“ Die
Legenden um Theodore N. Kaufman, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 615–630.
130 Zitiert nach Robert M. W. Kempner/Carl Hensel (Hg.), Das Urteil im Wilhelmstraßen-Prozeß,
Schwäbisch-Gemünd 1950, S. 133.

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Der Holocaust 111

Vernichtungspolitik abzuleiten : Hinter den „vorstürmenden Sowjetdivisionen“


sehe man die „jüdischen Liquidationskommandos“. Aber die Deutschen hätten
„niemals Angst vor den Juden gehabt und haben sie heute weniger denn je ! [Heil-
rufe, starker Beifall !]“. In diesen Zusammenhang gehöre auch die „konsequente
Judenpolitik“ des Regimes. Das Judentum stelle eine „infektiöse Erscheinung“ dar,
aber Deutschland habe „nicht die Absicht, sich dieser jüdischen Bedrohung zu
beugen, sondern vielmehr die, ihr rechtzeitig, wenn nötig unter vollkommener und
radikalster Ausrott-, -schaltung des Judentums, entgegenzutreten ! [starker Beifall,
wilde Rufe, Gelächter]“.131
Dass Goebbels von seinen Zuhörern richtig verstanden wurde, belegen die Zwi-
schenrufe, über die die schwedische Tageszeitung Svenska Dagbladet am 19. Fe-
bruar 1943 berichtet : „Hängt die Juden“, „Tötet die Juden“, „Weg mit den Juden“.132
Der Bund aus Bern meldete am nächsten Tag, Goebbels habe gesagt, „daß die
Juden ‚ausgerottet‘ und dann – sich selbst verbessernd – ‚ausgeschaltet‘ werden
müssten“.133 Die Neue Zürcher Zeitung berichtete, die Drohung mit „vollkom-
mener und radikalster Ausschaltung des Judentums“ habe „wilden Beifall“ gefun-
den.134 Auch die deutsche Presse ließ ihre Leser über die judenfeindlichen Passa-
gen der Goebbels-Rede und die Reaktionen der Zuhörer nicht im Unklaren. Nach
der Äußerung „mit den radikalsten Gegenmaßnahmen entgegenzutreten“, teilt die
Kölnische Zeitung am 20. Februar 1943 mit, sei der Minister „minutenlang […]
durch laute Sprechchöre am Weiterreden gehindert“ worden.135
Hitler autorisierte am 24. Februar 1943 die Vernichtungspolitik erneut, indem er
ein weiteres Mal von der „Ausrottung des Judentums in Europa“ sprach.136 Die NS-
Presse setzte angesichts des immer weniger zu leugnenden Schicksals der Juden
weiter auf die Hasspropaganda gegen das vermeintliche „Weltjudentum“, um die
wegen der militärischen Lage immer tiefer verunsicherten Deutschen durch Angst
bei der Stange zu halten.137 Mit Recht spricht Peter Longerich davon, dass das NS-
Regime im Frühjahr 1943 die Propagandabemühungen für den „totalen Krieg“ zum

131 Rundfunkübertragung vom 18. Februar 1943, zitiert nach Iring Fetscher, Joseph Goebbels im Berli-
ner Sportpalast 1943. „Wollt Ihr den totalen Krieg ?“, Hamburg 1998, S. 64, 69 f., 73.
132 Ebenda, S. 100, Anm. 5.
133 Der Bund vom 20.12.1943, S. 1 f.
134 Neue Zürcher Zeitung vom 18.02.1943, S. 1 f.
135 Kölnische Zeitung vom 20.02.1943, S. 1 ff.
136 Zitiert nach Kölnische Zeitung, 26.02.1943.
137 Die britische Propaganda versuchte zwar seit einigen Wochen, diese Taktik der deutschen Führung
zu durchkreuzen, doch setzte sich im Ergebnis eher deren Propagandastrategie durch : Die Deut-
schen kämpften, nicht zuletzt aufgrund dieser Disposition, bis zum bitteren Ende.

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112 Bernward Dörner

„Plebiszit über die ‚Endlösung der Judenfrage‘“ machen wollte.138 Entsprechend der
Prophezeiung Hitlers, so heißt es z. B. in der Kärntner Zeitung, sei „der Zeitpunkt
der endgültigen jüdischen Ausrottung des jüdischen Menschheitsfeindes nunmehr
in greifbare Nähe gerückt“.139
Das Bild, das sich aus den zeitgenössischen Quellen ergibt, lässt keinen ernsthaf-
ten Zweifel daran zu, dass das Wissen über die Ermordung der Juden in Deutsch-
land bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1943 weit verbreitet war. In seiner
Rede Anfang Oktober 1943 in Posen offenbarte Heinrich Himmler seinen Zuhö-
rern nichts, was diesen zuvor unbekannt war. Ihm ging es vielmehr darum, sich
selbst zu entlasten, indem er demonstrativ Klartext über den Judenmord redete
und seine Zuhörer so in das „Geheimnis“ einbezog. Kein höherer Funktionär sollte
– auch nach einer immer wahrscheinlicher werdenden Kriegsniederlage – von sich
behaupten können, er sei über den Judenmord nicht ausdrücklich informiert ge-
wesen. Deshalb griff Himmler in seiner über vierstündigen Rede vor SS-Gruppen-
führern am 4. Oktober 1943 bewusst zu drastischen Formulierungen : „Ich will hier
vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. […] Ich
meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes.“140
In einer weiteren Rede in Posen vor Gau- und Reichsleitern der NSDAP am
6. Oktober 1943 sprach der Reichsführer-SS den Genozid mit der gleichen Inten-
tion an. Dabei rechtfertigte er auch demonstrativ die Ermordung der jüdischen
Kinder : „Der Satz ‚Die Juden müssen ausgerottet werden‘ mit seinen wenigen
Worten, meine Herren, ist leicht ausgesprochen. Für den, der durchführen muß,
was er fordert, ist es das Allerhärteste und Schwerste, was es gibt. […] Ich hielt
mich […] nicht für berechtigt, die Männer auszurotten – sprich also, umzubringen
oder umbringen zu lassen – und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne
und Enkel groß werden zu lassen.“141
Das immer genauere Wissen über die grauenhaften Tatsachen des Genozids
löste in Deutschland zunehmend Vergeltungsangst aus.142 Das Wissen, dies zei-
gen Quellen ganz unterschiedlicher Provenienz, war bis spätestens Mitte 1943 so

138 Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst !“, S. 316.


139 Kärtner Zeitung vom 15.04.1943, S. 1 f.
140 Zitiert nach IMG, Bd. 29, S. 145. Anwesend waren 92 Zuhörer. Himmlers Rede wurde aufgezeich-
net (was Himmlers zur Schau gestellter Geheimniskrämerei in bezeichnender Weise widersprach)
und lag als Beweismittel bei den Nürnberger Prozessen vor.
141 Zitiert nach Heinrich Himmler : Geheimreden 1933 bis 1943 und andere Ansprachen, hrsg. v. Brad-
ley F. Smith/Agnes F. Peterson, Frankfurt am Main u. a. 1974, S. 169–171.
142 Vgl. hierzu auch : Frank Bajohr/Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen,
die NS-Führung und die Alliierten, München 2006, S. 65 ff.

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Der Holocaust 113

weit gewachsen, dass die meisten Deutschen mit dem Tod der Juden im NS-Herr-
schaftsbereich rechneten. In ihrer überwältigenden Mehrheit wagten sie indes
keinen Widerstand gegen das mittlerweile immer unbeliebtere NS-Regime, zum
einen aus Angst vor ihm (das nun auch gegen im Grunde loyale Volksgenossen mit
offenem Terror vorging, wenn sie den Sinn des Krieges und der Vernichtungspoli-
tik in Frage stellten)143 und zum anderen aus Furcht vor der erwarteten Rache der
Alliierten und des „Weltjudentums“. Deshalb entschlossen sie sich nach der Devise
„Genießt den Krieg, der Frieden wird schrecklich“ kollektiv zum Durchhalten.144
Nachdem sich die Vermutung gesellschaftlich durchgesetzt hatte, dass der Mord
an den europäischen Juden im Fall einer Niederlage schwere Konsequenzen für alle
Deutschen nach sich ziehen werde, versuchte man den Genozid nun verstärkt zu
verdängen.
Dennoch konnte der Judenmord, der die Deutschen untergründig durchaus
beschäftigte, nicht einfach vergessen oder verschwiegen werden. Wenn während
der letzten Phase des Völkermords über Juden gesprochen wurde, geschah dies
in wachsendem Maße retrospektiv. So schreibt Julius Streicher Anfang November
1943 im „Stürmer“ triumphierend : „Das jüdische Reservoir des Ostens, das im-
stande war, die Assimilationserscheinungen des Westens auszugleichen, besteht
nicht mehr.“145 Dass der Judenmord schon als weitgehend abgeschlossen betrach-
tet wurde, wird auch an Gerüchten deutlich. „Nach den Juden die Kranken und
Hilflosen“, teilt ein britisches Geheimdienstdossier Mitte November 1943 aus Leip-
zig zur Gerüchtkommunikation der Bevölkerung mit.146
Der Genozid war zu einer Tatsache geworden. Anfänglich hatte sich kaum je-
mand auch nur annähernd vorstellen können, dass die antisemitische Hass- und
Vernichtungsrhetorik der Nationalsozialisten in einen millionenfachen Völkermord
münden würde. Später hatten viele gedacht, es werde so schlimm schon nicht kom-
men. Dann hatte man nicht wahrhaben wollen, dass das Morden täglich geschah,
dass es Frauen, Kinder und alte Menschen nicht verschonte. Und als man schließ-

143 Dies dokumentierte augenfällig Himmlers Ernennung zum Reichsinnenminister am 25. August
1943.
144 Paulheinz Wantzen notiert hierzu am 2. Juni 1943 in seinem Tagebuch : „Leute, die mir früher durch
ihren Optimismus stets angenehm aufgefallen waren, sind heute die schwärzesten Pessimisten, und
viele erklären rundheraus, daß wir den Krieg verloren hätten, daß nicht die geringste Möglichkeit
mehr zu erblicken sei, wie wir ihn gewinnen sollen. In bestimmten Kreisen wurde schon das Motto
geprägt : ‚Genieße den Krieg, der Frieden wird schrecklich !‘“ (Paulheinz Wantzen, Das Leben im
Krieg 1939–1946. Ein Tagebuch, Bad Homburg 2000, S. 1105).
145 „Der Stürmer“ vom 4.11.1943, zitiert nach IMG, Bd. 29, S. 180 f., Dok. PS-1965.
146 Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat, S. 143 ; PRB, Stockholm, an PID, London, 12.
November 1943, Public Records Office, FO 371/34439.

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lich nicht mehr daran zweifeln konnte, dass der Judenmord in einer ungeheuren
Dimension Realität geworden war, flüchtete man sich in Ahnungslosigkeit.

Vernichtungswahn und Politik

Antisemitische Feindbilder und sozialdarwinistische Vernichtungsphantasien ha-


ben keineswegs automatisch in den Holocaust geführt. Denn sie waren eine not-
wendige, keineswegs jedoch hinreichende Voraussetzungen für den Genozid. Erst
nachdem die Judenverfolgung mehrere Eskalationsstufen durchschritten hatte,
wurde der Völkermord Realität. Aus Hassbildern waren Blaupausen für die Ver-
nichtungspolitik geworden. Je weiter indes die Dynamik der Vernichtung voran-
geschritten war, umso mehr sanken nicht nur die Chancen, die Menschheitskatas-
trophe zu verhindern, sondern sie auch zu begrenzen. Deshalb kommt der Frage
Bedeutung zu, ob es überhaupt möglich war, schon relativ früh eine Ahnung davon
zu gewinnen, was drohte.
Schon bald nach Hitlers Ernennung zum Reichkanzler erkannten erste, dies
belegen zeitgenössische Dokumente, die verhängnisvolle Tendenz der antisemi-
tischen Politik des Regimes. Bis heute sind die außergewöhnlich weit blickenden
Äußerungen von Personen aus völlig unterschiedlichen Milieus – auch vonseiten
der historischen Forschung – nur unzureichend gewürdigt worden.
Insbesondere nach dem Boykott jüdischer Geschäfte, Arztpraxen, Rechtsan-
wälte etc. vom 1. April 1933 lassen sich bei klarsichtigen Zeitgenossen bereits die
schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich der weiteren Entwicklung der nationalso-
zialistischen Judenverfolgung nachweisen. So richtete Edith Stein, eine zum Katho-
lizismus konvertierte Intellektuelle jüdischer Herkunft147, Anfang April 1933 einen

147 Edith Stein, geb. 1891 in Breslau als Kind jüdischer Eltern ; Studium der Philosophie, Psychologie
und Germanistik in Breslau, Göttingen, 1915 Staatsexamen, Freiwilliger Rot-Kreuz-Dienst im Seu-
chenlazarett in Mährisch-Weißkirchen, 1917 Diss. phil. an der Universität Freiburg i. Br. (Das Ein-
fühlungsproblem in seiner historischen Entwicklung und in phänomenologischer Betrachtung), As-
sistentin Edmund Husserls ; 1922 Übertritt zum Katholizismus, 1923–1931 Lehrerin am Kolleg St.
Magdalena in Speyer, 1932–1933 Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik
in Münster, Verbot ihrer Dozententätigkeit durch das NS-Regime, 14.10.1933 Eintritt in den Kölner
Karmel, 1934 Einkleidung (als „Theresia Benedicta a cruce“), April 1938 Ewiges Gelübde, seit dem
31.12.1938 lebte sie im Karmel im niederländischen Echt ; 02.08.1942 Verhaftung und Verbringung
in das KZ-Sammellager Westerbork, von dort in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, ver-
mutlich am 09.08.1942 in Birkenau mit den anderen dorthin verschleppten niederländischen Juden,
darunter auch ihre Schwester Rosa, durch Gas ermordet ; 1987 Seligsprechung in Köln, 1998 von
Johannes Paul II. in Rom heilig gesprochen.

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Der Holocaust 115

Brief an Papst Pius XI. Der Brief lag fast 70 Jahre im Geheimarchiv des Vatikans.
Er galt lange Zeit als „verschollen“, später wurde seine Existenz auf Nachfragen
zwar bestätigt, seine Veröffentlichung jedoch verweigert148. Erst seit Februar 2003
können Forscher Einblick in das bedeutende Dokument nehmen.149 In einem dra-
matischen Appell beschwor Edith Stein den Papst, sich schützend vor die jüdische
Minderheit in Deutschland zu stellen. „Jahre hindurch haben die nationalsozialis-
tischen Führer den Judenhass gepredigt. Nachdem sie jetzt die Regierungsgewalt
in ihre Hände gebracht und ihre Anhängerschaft – darunter nachweislich verbre-
cherische Elemente – bewaffnet hatten, ist diese Saat des Hasses aufgegangen.“150
Edith Stein beklagt im Weiteren das Schweigen des Papstes zum „Vernichtungs-
kampf “ gegen das „jüdische Blut“ in Deutschland.151 Edith Steins Hilferuf wurde
von Pius XI. durch seinen Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli (den späteren
Pius XII.) im Eingang freundlich betätigt – in der Sache aber ohne Antwort gelas-
sen.152 Eine Änderung der Politik Roms erfolgte nicht. Das Schweigen des Vatikans
zur Judenverfolgung dauerte an.153

148 Vgl. hierzu u. a. Maria Amata Neyer, Der Brief Edith Steins an Papst Pius XII. Versuch einer Doku-
mentation, in : Edith-Stein-Jahrbuch 10 (2004), S. 11–29.
149 Der Brief Edith Steins wurde auch zu ihrer Heiligsprechung nicht freigegeben. Ab dem 15. Februar
2003 wurde er (mit anderen Dokumenten aus der Weimarer und der NS-Zeit, allerdings nur bis
zum Jahre 1939) für Forscher offiziell zugänglich. Wenige Tage später erschienen erste Meldungen
in der deutschen Presse, die auf den Brief Edith Steins (dessen Existenz, nicht jedoch dessen Wort-
laut bekannt war) hinwiesen. Die erste deutsche Veröffentlichung zu diesem Thema erschien in Die
Welt vom 18.02.2003 (S. 27 ; Paul Bade, „Die Verantwortung fällt auf die, die schweigen“. Aus dem
Geheimarchiv des Vatikans : Edith Steins Ruf nach einem Wort des Papstes zur Judenverfolgung).
150 Akten des Vatikanischen Geheimen Archivs, Citta del Vaticano, Pos. Germania 643/fasc. 158 La
questione degli Ebrei in Germania, zitiert nach Ablichtungen des Schreibens von Edith Stein an
den Papst, in : Neyer, Der Brief Edith Steins an Papst Pius XI., S. 18 f.; Elisabeth Lammers, Als die
Zukunft noch offen war. Edith Stein – das entscheidende Jahr in Münster, Münster 2003, S. 111 f.;
Werner Kaltefleiter, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz, Wiesbaden o. J., S. 84 ff. Die erste Seite des
Briefes ist auch veröffentlicht in Philippe Chenaux/Giovanni Morello/Massimiliano Valente (Hg.),
Opus Iustitiae Pax. Eugenio Pacelli – Pius XII., Regensburg 2009, S. 210.
151 Ebenda.
152 In einem autobiographischen Bericht Edith Steins vom 18.12.1938 (Ein Beitrag zur Chronik des
Kölner Karmel. I. Wie ich in den Kölner Karmel kam) heißt es hierzu : „Ich weiß, dass mein Brief
dem Heiligen Vater versiegelt übergeben worden ist ; ich habe auch einige Zeit danach seinen Se-
gen für mich und meine Angehörigen erhalten. Etwas anders ist nicht erfolgt. Ich habe später oft
gedacht, ob ihm dieser Brief noch manchmal in den Sinn kommen mochte.“ (Edith Stein. Wie ich
zum Kölner Karmel kam. Mit Erläuterungen und Ergänzungen von Maria Amata Neyer, Würzburg
1994).
153 Kardinalstaatssekretär Pacelli, der spätere Papst Pius XII., stellte dem Überbringer des Schreibens,
dem Erzabt der Beuroner Benediktinerkongregation, Raphael Walzer, anheim, „die Einsenderin
wissen zu lassen, daß ihre Zuschrift pflichtmäßig Seiner Heiligkeit vorgelegt worden“ sei. Auf den

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Die mörderische Tendenz des Antisemitismus in Deutschland erahnte auch die


Verfasserin einer protestantischen Denkschrift aus dem Jahre 1935. Auch ihre frühe
Mahnung ist erst in den letzten Jahren gewürdigt worden.154 Die Berliner Lehre-
rin Elisabeth Schmitz155, die sich in der Bekennenden Kirche für die verfolgten
„Nichtarier“ einsetzte, stellt in ihren Ausführungen unter dem Titel „Zur Lage der
deutschen Nichtarier“ bilanzierend fest : „Die Beispiele genügen um zu zeigen, daß
es keine Übertreibung ist, wenn von dem Versuch der Ausrottung des Judentums
in Deutschland gesprochen wird“.156
Zu denjenigen, die den Genozid heraufziehen sahen, gehört Leo Trotzki.157 Im
Herbst 1938 warnte er im mexikanischen Exil gegenüber einem jüdischen Jour-

Kern des Briefes Edith Steins – die Judenverfolgung und das Schweigen der Kirche hierzu – ging
der Vatikan mit keiner Silbe ein. Vgl. hierzu u. a. Hubert Wolf, Papst & Teufel. Die Archive des
Vatikan und das Dritte Reich, München 2008, S. 211 ff.; Klaus Kühlwein, Warum der Papst schwieg.
Pius XII. und der Holocaust, Düsseldorf 2008, S. 106 ff.; Martin Rhonheimer, Warum schwieg die
Kirche in dem Vernichtungskampf ? Gedanken zum Brief Edith Steins an Pius XI.: Der Papst sollte
nicht den Nationalsozialismus verurteilen, sondern gegen die Verfolgung der Juden protestieren,
in : Die Tagespost vom 22.03.2003, S. 5 ; Maria Amata Neyer, Der Brief Edith Steins an Papst Pius
XII. Versuch einer Dokumentation, in : Edith-Stein-Jahrbuch 10 (2004), S. 11–29 ; Konrad Repgen,
Hitlers „Machtergreifung“, die christlichen Kirchen, die Judenfrage und Edith Steins Eingabe an
Pius XI. vom <9.> April 1933, in : Edith-Stein-Jahrbuch 10 (2004), S. 31–68.
154 Vgl. Dietgard Meyer, Elisabeth Schmitz : Die Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“,
in : Hannelore Erhart/Ilse Meseberg-Haubold/Dietgart Meyer, Katharina Staritz 1903–1953. Mit
einem Exkurs zu Elisabeth Schmitz, Neukirchen-Vluyn 1999, S. 185–269 ; Manfred Gailus (Hg.),
Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung. Konturen einer vergessenen
Biographie (1893–1977), Berlin 2008.
155 Elisabeth Schmitz, geb. 1893, wuchs in einer evangelischen Lehrerfamilie in Hanau auf ; Studium
der Geschichte, Theologie und Germanistik in Bonn und Berlin, 1920 Promotion bei Friedrich
Meinicke, 1921 Erstes Staatsexamen, anschließend wissenschaftliche Hilfskraft, ab 1929 Studien-
rätin am Luisengymnasium in Berlin-Moabit ; ab 1934 Mitglied der Bekennenden Kirche, 1935
Versetzung an die Auguste-Sprengel-Schule in Berlin-Lankwitz, im September 1935 Denkschrift
gegen die Judenverfolgung an die Synode der Bekennenden Kirche ; nach der Pogromnacht im No-
vember 1938 entschloss sie sich den Dienst zu quittieren ; sie versteckte in ihrem Wochenendhaus
bei Wandlitz verfolgte „Nichtarier“ ; ab 1946 Lehrerin in Hanau, 1977 verstorben.
156 Elisabeth Schmitz, „Zur Lage der deutschen Nichtarier“, o. O., Mitte September 1935/8. Mai 1936,
abgedruckt in : Manfred Gailus (Hg.), Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenver-
folgung. Konturen einer vergessenen Biographie (1893–1977), Berlin 2008, S. 191–226, hier S. 206.
Die Denkschrift wurde von Elisabeth Schmitz in ca. 200 Exemplaren an einflussreiche Mitglieder der
Bekennenden Kirche (u. a. an Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer und Helmut Gollwitzer) verschickt
und aus Sicherheitsgründen nicht namentlich gekennzeichnet. Hartmut Ludwig, Die Denkschrift von
Elisabeth Schmitz „Zur Lage der deutschen Nichtarier“, in : Gailus, Elisabeth Schmitz, S. 93–127.
157 Leo Trotzki, geb. 1879 als Lew Dawidowitsch Bronstein in Janowka (Ukraine), fünftes Kind eines
jüdischen Bauern, ab 1886 einer jüdischen Grundschule, ab 1888 Besuch der deutsch-lutherischen
Schule in Odessa, 1897 Abitur in Nikolajew (Ukraine), Mitgründung des sozialistischen Südrus-

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Der Holocaust 117

nalisten vor den Gefahren eines kommenden Krieges. Dabei äußert er auch seine
Sorge, dass sieben Millionen Juden in Polen und der Sowjetunion vom Tode be-
droht seien : „Do not speak ligthly of a war. […] remember, you are Jews […]
between the Warta and the Volga there live seven million Jews – in the coming war
they will be annihilated first.”158
Nach dem Novemberpogrom 1938 gab der russische Revolutionär jüdischer
Herkunft am 22. Dezember 1938 erneut seiner Sorge Ausdruck, dass mit einer
physischen Ausrottung der Juden gerechnet werden musste : „Man kann sich ohne
weiteres vorstellen, was die Juden schon zu Beginn eines künftigen Weltkrieges
erwartet. Auch ohne Krieg ist es so gut wie sicher, daß die nächste Welle der welt-
weiten Reaktion die p h y s i s c h e A u s r o t t u n g d e r J u d e n [Hervorhebung
im Original] mit sich bringen wird.“159 Bemerkenswert ist, dass Trotzki bereits vor
Hitlers berüchtigter Rede vom 30. Januar 1939 die Ermordung der Juden für mög-
lich, ja wahrscheinlich hielt.
Die tödliche Gefahr erkannte auch Nahum Goldmann, der ehemalige Leiter
der Zionistischen Vereinigung in Deutschland.160 Goldmann, der Ende März 1933

sischen Arbeiterbundes, 1898 Festnahme wegen illegaler politischer Aktivitäten, 1899 Verurtei-
lung zu vier Jahren Verbannung, Überführung nach Moskau, 1902 Flucht nach Irkutsk, später nach
Großbritannien mit einem auf den Namen „Trotzki“ gefälschten Pass, während der Russischen
Revolution von 1905 Vorsitzender des dortigen Sowjets, 1906 Verurteilung zu lebenslanger Ver-
bannung in Sibirien, 1907 Flucht, anschließend u. a. in Wien, London, Zürich und Paris aktiv,
April 1917 Rückkehr nach Russland, er schließt sich den Bolschewiki an, wird zum Vorsitzenden
des Petersburger Sowjets gewählt, nach der Oktoberrevolution Volkskommissar für Äußeres, für
Kriegswesen, Ernährung, Transport, Verlagswesen, Gründer der Roten Armee, 1921 verantwortlich
für die Niederschlagung des Matrosenaufstands in Kronstadt, nach dem Tode Lenins schrittweise
Entmachtung, 1927 Ausschluss aus der KPdSU, 1928 Verbannung nach Sibirien, 1929 Ausweisung
in die Türkei, ab 1937 Exil in Mexiko, August 1940 Ermordung durch einen Agenten Stalins in
seinem Wohnhaus in Coyoacan.
158 Vgl. M. Rubinstein, Di Presse (Jiddische Zeitung aus Buenos Aires) vom 22.05.1960, zitiert nach
Joseph Nedava, Trotsky and the Jews, Philadelphia 1972, S. 224. Warta=Warthe, Volga=Wolga.
159 Zitiert nach Leo Trotzki, Sozialismus oder Barbarei ! Eine Auswahl aus seinen Schriften, hrsg. v.
Helmut Dahmer, Wien 2005, S. 124 f. Trotzki sprach seine bittere Prognose in einem Brief an ame-
rikanische Anhänger aus. Es heißt hier : „It is possible to imagine without difficulty what awaits the
Jews upon the mere outbreak of the future world war. But even without war the next development
of world reaction signifies with certainly the physical extermination of the Jews.” (Trotsky Archives,
Havard University, Hougton Library, T. 4491, zitiert nach Nedava, Trotsky and the Jews, Philadel-
phia 1972, S. 225. Der Text wurde u. a. veröffentlicht unter dem Titel La Bourgeoisie Juive et la
Lutte revolutionaire, in : Leon Trotsky Oevres. Publiees sous la direction de Pierre Broue, Bd. 19,
Paris 1985, S. 272 f.
160 Nahum Goldmann, geb. 1894 in Wischnewo (Polen, heute Weißrussland), wuchs ab 1901 in Frank-
furt am Main auf ; studierte in Marburg, Heidelberg und Berlin Jura, Geschichte und Philosophie ;

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11 Bernward Dörner

Deutschland verlassen hatte und von 1935 bis 1940 die Jewish Agency beim Völ-
kerbund in Genf vertrat, warnte Ende Juni 1940 in einem Interview mit der New
York Times öffentlich vor einem drohenden Genozid an den europäischen Juden :
„Six million Jews in Europe are doomed to destruction, if the victory of Nazis
should be final.“161 Von einem großen Teil der US-Presse wurde Goldmann darauf-
hin als „Prophet des Unheils“ kritisiert.162
Wer auch immer dagegen auf den drohenden Völkermord aufmerksam machen
wollte, sah sich einem Dilemma ausgesetzt : Warnte er vor dem sich noch nicht
deutlich abzeichnenden Unheil diskret, wurde er tendenziell überhört. Äußerte er
sich jedoch öffentlich und drastisch, lief er Gefahr, als Unheil auslösender Panik-
Verbreiter diffamiert und als Bote für die Botschaft verantwortlich gemacht zu wer-
den. Nicht zuletzt auch deshalb behielten viele ihre schlimmsten Befürchtungen
hinsichtlich der nationalsozialistischen Judenverfolgung für sich.
Das nationalsozialistische Deutschland registrierte indessen Goldmanns Äuße-
rungen sehr genau. Im unzensiertem „Rohmaterial“ des gleichgeschalteten Deut-
schen Nachrichtenbüros (DNB) vom 26. Juni 1940, das „nicht zur Veröffentlichung“
zugelassen war, heißt es : „Vorsitzender Vollzugsausschuss Weltjudenkongresses
Nahum Goldman ankündigte in Interview mit New York Times Bildung eines
Panamerikanischen Judenkongresses zum Schutz jüdischer Rechte. Aufforderte
amerikanische Juden, zusammen mit USA-Volk gemeinsame Abwehrfront gegen
Hitlerismus herzustellen und zu bedenken, dass einzige Hoffnung der sechs Milli-
onen Juden Europas ein britischer Sieg sei. Europäische Juden stünden vor Gefahr
physischer Vernichtung, da Aussichten auf Massenauswanderung und anderweitige
Ansiedlung gering seien.“163 So ist es tatsächlich gekommen. Anhänger eines mör-
derischen Antisemitismus an den Schalthebeln der Macht konnten ihren Vernich-
tungswahn in die Realität umsetzen. Doch ein Klima aus Fanatismus, Hass, Neid,
Größenwahn, Opportunismus und Angst hat das Verbrechen in dieser Dimension
erst möglich gemacht.

während des Ersten Weltkriegs unter anderem für die deutsche Nachrichtenstelle für den Orient
tätig ; ab 1918 Engagement in der zionistischen Bewegung, 1926–1933 Leiter der Zionistischen Ver-
einigung in Deutschland, 1932 Mitbegründer des World Jewish Congress, 1933 aus Deutschland ge-
flüchtet, 1935–1940 Vertreter der Jewish Agency beim Völkerbund in Genf ; lebte 1940–1964 in den
USA, anschließend in Israel und der Schweiz ; war maßgeblich an den Verhandlungen zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Israel über deutsche Entschädigungszahlungen beteiligt ; 1982 in
Bad Reichenhall gestorben.
161 „Nazi Publicity here held Smoke Screan. Propaganda Called Cover to Destroy Democracy”, New
York Times vom 25.06.1940, S. 4.
162 Vgl. Nahum Goldmann, Mein Leben als deutscher Jude, München/Wien 1980, S. 247.
163 Pol Arch AA, R 99.335, MF 5326.

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