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Kultur

haltig-

Olaf Zimmermann und


Herausgegeben von

Hubert Weiger
Ohne

Nach-
keine

keit
Wie der Kultur- und Natur-
bereich gemeinsam die
UN-Nachhaltigkeitsziele
voranbringen können
Kultur

haltig-

Olaf Zimmermann und


Herausgegeben von

Hubert Weiger
Ohne

Nach-
keine

keit
Wie der Kultur- und Natur-
bereich gemeinsam die
UN-Nachhaltigkeitsziele
voranbringen können
Vorwort und
Einleitung 1 Keine
Armut
010 Vorwort der Staats­ministerin 022 Bekämpfung von Armut
für Kultur und Medien in Deutschland
Claudia Roth und kulturelle Teilhabe
Ulrich Lilie
014 Nachhaltige Entwicklung
wird nur durch einen 028 Das Ende der Bescheidenheit —
kulturellen Wandel gelingen Gerechte ­Bezahlung in Kunst
Olaf Zimmermann und und Kultur ist Armuts­prävention
Hubert Weiger Frank Werneke

2 Kein
Hunger
036 Ökologischer Landbau als
globale Antwort auf
den Hunger in der Welt
Felix zu Löwenstein

042 Die Hungerzahlen steigen —


das SDG 2 wird verfehlt!
Dagmar Pruin

3 Gesundheit und
Wohlergehen
050 Wir alle müssen die
Trans­formation gestalten
Claudia Traidl-Hoffmann

4 Hochwertige
Bildung
056 Die Wunder der Welt
erklären — Anforderungen
an eine natur­wissen-
schaftliche Bildung
Ernst Peter Fischer

062 Lebenslanges Lernen


für alle — der Beitrag der
kulturellen Bildung
Martin Rabanus und Philip Smets
5 Geschlechter-
gleichheit 8 Menschenwürdige Arbeit
und Wirtschaftswachstum
070 Noch viel zu tun — 116 Menschenwürdige Arbeit
Geschlechtergerechtig- und Wirt­schaftswachstum
keit in der Kultur Yasmin Fahimi
Gabriele Schulz
122 Kulturarbeit zwischen
076 Auf dem Weg zu einer Traumjob und Prekariat
geschlechtergerechten Olaf Zimmermann
Gesellschaft
Beate von Miquel

9 Industrie, Innovation
und Infrastruktur

6 Sauberes Wasser
und ­Sanitäreinrichtungen
130 Die EWSA-Arbeit im Spiegel der
UN-Nachhaltigkeitsziele
084 »Ich muss mal …« — Hans-Peter Klös und Sandra Parthie
warum die Hälfte der Welt-
136 Die Bedeutung ländlicher
bevölkerung nicht ein-
Räume für eine Nachhaltig­
fach mal »müssen« kann
keitstransformation
Lena Bodewein
Manfred Miosga und Lisa Maschke
090 Konfliktpotenzial oder
Quelle von Kooperation?
Wasser als Politikum in
Zeiten des Klimawandels
Susanne Schmeier
10 Weniger ­
Ungleichheiten
144 Wie kann Ungleichheit
094 Sauberes Wasser! Für Mensch in Deutschland
und Natur lebenswichtig verringert werden?
Sascha Maier Ulrich Schneider

7 Bezahlbare und
saubere Energie
102 Energieversorgung von Morgen
weltweit neu aufstellen
Raimund Bleischwitz

108 Raus aus der Kohle —


Anforderungen an einen
erneuten Strukturwandel
Kai Niebert
11 Nachhaltige Städte
und ­Gemeinden 15 Leben
an Land
152 Zukunft ist eine Frage der 204 Naturschutz sichert
Planung — Entwurf für eine unsere menschlichen
Baukultur der Verantwortung Lebensgrundlagen
Tillman Prinz Hubert Weiger

156 Nachhaltige Städte und 212 Das Kunming-Montreal-


Gemeinden — eine Abkommen von 2022
gemeinsame Aufgabe Josef Settele
Reiner Nagel

160 Keine Zukunftsmusik —


die nachhaltige Stadt
Helmut Dedy
16 Frieden, Gerech­tigkeit
und starke Institutionen
220 Recht für Nachhaltigkeit —
Recht auf Nachhaltigkeit

12 Nachhaltige/r ­Konsum
und ­Produktion
230
Günter Winands

Das Alleskönner-Phlegma
168 Nachhaltigkeit — das Jahr- Günther Bachmann
hundert.Ziel in der Mode
236 (Kultur)Verantwortung —
Mara Michel
zwischen L’art pour l’art
174 Weniger, haltbarer, und Pflicht
reparierbar Olaf Zimmermann
Frederike Kintscher-Schmidt
242 Kulturelle Vielfalt und
Nachhaltigkeit
Christian Höppner

13 Maßnahmen
zum Klimaschutz
182 Die Zeit läuft uns davon!
Michael Müller 17 Partnerschaften
zur Erreichung der Ziele
188 Beim Klimaschutz konse- 248 Wie kann Ungleichheit zwischen
quent werden — denn den Ländern, ins­besondere
jedes Zehntelgrad zählt Nord-Süd, verringert werden?
Olaf Bandt Bernd Bornhorst

14 Leben
unter Wasser
196 Eine zukunftsfähige Meeres-
politik — Weichen stellen für
Meer und Mensch
Nadja Ziebarth
2015—
—2030
010

Vorwort
der Staats­
ministerin
für Kultur
und Medien
011

Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der globalen Agenda für nachhaltige
Entwicklung zur Einhaltung der 17 globalen Nachhaltigkeitsziele verpflichtet. Die Um-
setzung dieser Ziele ist auch mir ein wichtiges Anliegen. Aktuell fordern uns nicht nur
eine, sondern viele Krisen. Die Nachrichten werden vom brutalen Angriffskrieg Russ-
lands gegen die Ukraine dominiert. Ein Krieg, der die gesamte internationale Frie-
densordnung gefährdet. Wir erfahren von Tod, Zerstörung und menschlichem Leid.
Nachrichten und Bilder, die wir in Europa lange für unvorstellbar hielten. Die Auswir-
kungen dieses Krieges führen zu weiteren Krisen weltweit. Energie und Nahrungs-
mittel werden knapp. Menschen hungern, weil sie sich Grundnahrungsmittel nicht
mehr leisten können. Medizinische Versorgung gerät in Gefahr, weil globale Versor-
gungswege gestört sind. Zugleich sind die Auswirkungen der Pandemie immer noch
spürbar. Schließlich erleben wir auch die Folgen der sich immer weiter verschärfen-
den Klimakrise. Der Ausnahmezustand wird zur »neuen Normalität«. Meldungen über
Wärmerekorde »seit Beginn der Aufzeichnungen« erscheinen inzwischen selbstver-
ständlich, während sich sogenannte Jahrtausendfluten häufen, die, wie der Name
schon sagt, eigentlich nur einmal im Jahrtausend auftreten sollten. Wälder brennen
weltweit. Arten sterben aus.
Hier will die globale Agenda 2030 eingreifen und setzt mit 17 Nachhaltigkeitszielen
Handlungsmaßstäbe in allen Bereichen.
Auch die Kultur ist gefordert. Unser Ziel sollte nicht nur eine nachhaltige Kultur, sondern
auch eine Kultur der Nachhaltigkeit sein. Kreative haben seit Jahrhunderten politi-
sche und soziale Krisen auf der Bühne, in der Literatur oder im Film künstlerisch ver-
arbeitet. Sie haben Fehlentwicklungen aufgezeigt und Visionen einer besseren Welt
entworfen. Der vorliegende Sammelband verbindet Beides. Dafür bin ich den Auto-
rinnen und Autoren sehr dankbar. Die Beiträge zeigen, dass der Kulturbetrieb noch
immer nicht geschlechtergerecht, klimaneutral, für alle zugänglich oder lohngerecht
ist. Es gibt viel zu tun. Und wir alle wissen, dass wir allein mit künstlerischen Mitteln
die Krisen nicht bewältigen können. In meiner Amtszeit hat mein Haus bereits zahlrei-
che Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die Herausforderungen bewältigen zu
können. Einige Beispiele:

SDG 4 — Hochwertige Bildung


Ich setze mich dafür ein, dass die vom Bund geförderten Kultureinrichtungen noch in-
tensiver als bisher kulturelle Teilhabemöglichkeiten eröffnen und die Diversität in den
Einrichtungen stärken. Das gilt für die Gremien- und Personalbesetzung ebenso wie
für die Ansprache des Publikums oder die Zugänglichkeit der Angebote. Ziel ist es,
eine »Kultur für alle« zu fördern — und in wachsendem Maße eine »Kultur mit allen«
und »von allen«. Ziel ist es, Menschen anzusprechen, die bislang nicht zum traditionel-
len Publikum der Kultureinrichtungen gehören. Ein Beispiel: Mit der 2021 eröffneten
Kinderwelt »Anoha« hat das Jüdische Museum Berlin seine Workshop-Angebote um
neue, wegweisende Vermittlungsformate speziell für Kinder und Familien, Kita- und
Grundschulgruppen sowie pädagogische Fachkräfte erweitert. Auf insgesamt 2.500
m2 führt die interaktive Erlebnisausstellung 3- bis 10-Jährige spielerisch an Fragen
nach Zugehörigkeit und Abgrenzung, Akzeptanz und Ablehnung heran.

SDG 5 — Geschlechtergerechtigkeit
Machtmissbrauch, Sexismus und sexualisierte Grenzüberschreitungen sind in den Kul-
tur- und Medienbranchen leider weiterhin keine Ausnahmen. Das ist vollkommen in-
012

akzeptabel. Deshalb habe ich einen Aktionsplan für einen Kulturwandel gegen sexu-
elle Belästigung und Gewalt gestartet, in dessen Rahmen u. a. ein verbindlicher Code
of Conduct für respektvolles Arbeiten branchenweit erarbeitet und der Ausbau von
Präventionsangeboten insbesondere für Führungskräfte in Kultur und Medien bei der
Themis Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt e. V. gefördert wird.
Für ein geschlechtergerechtes, solidarisches und respektvolles Arbeitsklima.

SDG 7 — Bezahlbare und saubere Energie


Krisen können immer auch als Gelegenheitsfenster für Veränderungen verstanden
werden. So können wir beispielsweise fragen, wie die aktuelle Energiekrise zur öko-
logischen Transformation beitragen kann. Hier setzt das Vorhaben »Sprint 20« des
von der BKM geförderten »Aktionsnetzwerks Nachhaltigkeit in Kultur und Medien« an.
Im Jahr 2023 werden bis zu 50 Einrichtungen beraten, um zeitnah zu einer spürba-
ren Verbrauchsreduzierung beizutragen. Viele Kulturakteure sind darüber hinaus aber
durch die rasant gestiegenen Energiepreise in ihrer Existenz gefährdet. Um die Aus-
wirkungen der Energiekrise zu mindern, haben Bund und Länder beschlossen, Mittel
aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds zu nutzen und Kultureinrichtungen sowie
Kulturveranstaltende in den Jahren 2023 und 2024 über den Kulturfonds Energie des
Bundes zu unterstützen. Davon profitieren mittelbar auch Künstlerinnen und Künst-
ler und alle Gewerke rund um den Kulturbetrieb.

SDG 8 — Menschenwürdige Arbeit


Zur Verbesserung der sozialen Lage von Kreativen wurden erweiterte Zuverdienst-
möglichkeiten in der Künstlersozialversicherung und die Sonderregelung für einen
erleichterten Zugang zum Arbeitslosengeld für überwiegend kurz befristet Beschäf-
tigte verstetigt. Außerdem konnten wir den Künstlersozialabgabesatz 2023 bei 5 Pro-
zent stabilisieren; weitere sozialversicherungsrechtliche Verbesserungen für die häu-
fig soloselbstständig oder hybrid Erwerbstätigen sind in Planung. Außerdem gilt: Wer
Fördergelder der öffentlichen Hand erhält, sollte auch Gagen zahlen müssen, die ei-
nen Lebensunterhalt ermöglichen.

SDG 10 — Weniger Ungleichheiten


Um sowohl junge Menschen als auch die Kultur zu unterstützen, haben wir den Kul-
turPass eingeführt. Er wendet sich zunächst an alle Jugendlichen in Deutschland, die
in diesem Jahr 18 Jahre alt werden und bietet ihnen mit einer eigenen App die Mög-
lichkeit, ein Budget von 200 Euro deutschlandweit für eine Vielzahl von Kulturange-
boten einzusetzen. Damit weckt der KulturPass nicht nur die Neugier auf kulturelle
Erlebnisse, sondern bietet auch sozial benachteiligten jungen Menschen eine neue
Möglichkeit, kulturelle Angebote ohne zusätzliche Kosten wahrzunehmen.

SDG 13 — Maßnahmen zum Klimaschutz


Ich setze mich für eine umwelt- und klimagerechte Kultur- und Medienproduktion ein.
Das Projektbudget habe ich verzehnfacht, so dass mein Haus zahlreiche Projekte star-
ten konnte, etwa zur Schaffung von Klimabilanzierungsstandards, Energieberatungen,
ökologischen Mindeststandards und zur Verbreitung von Kreislaufwirtschaftsprozes-
sen bei Kulturveranstaltungen. Wir starten gerade die zentrale Anlaufstelle »Green
Culture«, bei der sich Kultureinrichtungen zu Fragen des Umwelt- und Klimaschut-
zes beraten lassen können. Sie wird mit den konkreten Aufgabenfeldern »Kompeten-
013

zen, Wissen, Datenerfassung, Beratung und Ressourcen« vernetzen, Notwendigkeiten,


Entwicklungen und Best Practices sichtbar machen und damit den »Knotenpunkt« für
den ökologischen Transformationsprozess in der Kultur bilden.

SDG 16 — Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen


Mein Haus hat im letzten Jahr zur Milderung der Folgen des russischen Angriffs-
krieges auf die Ukraine 20 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt. Schwer-
punkte waren dabei der Kulturgüterschutz, Medien, Stipendien, Residenz-Program-
me sowie sonstige Kulturangebote. Im Bereich Kulturgutschutz haben wir gemeinsam
mit dem Auswärtigen Amt das Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine ins Leben gerufen.
Ebenfalls mit dem Auswärtigen Amt haben wir die Hannah-Arendt-Initiative gestar-
tet, ein Schutzprogramm für Medienschaffende sowie Verteidigerinnen und Vertei-
diger der Meinungsfreiheit in Krisen- und Konfliktgebieten im Ausland wie auch im
Exil in Deutschland.

Betrachten wir die Krisen unserer Zeit tatsächlich als »Krisis«, als eine entscheiden-
de Wendung. Die vielfältigen Krisen zwingen uns in vieler Hinsicht zu einem Umden-
ken. Machen wir daraus einen Aufbruch, von dem wir alle nachhaltig profitieren wer-
den, die Kultur ebenso wie die Wirtschaft und der soziale Zusammenhalt Europas.

Claudia Roth (MdB)


014

Nachhaltige
­Entwicklung
wird nur
durch einen
kulturellen
­Wandel
gelingen
015

Jürgen Kocka beschreibt in seinem Buch »Kampf um die Moderne. Das lange 19. Jahr-
hundert in Deutschland«, dass die Industrialisierung und die damit einhergehende Mo-
dernisierung vor allem auch ein kultureller Wandel war. Die technischen Erfindungen,
die sukzessiven Marktöffnungen und die Bildung von Zollvereinen, um den Handel zu
beflügeln, sind nur einige Elemente der erfolgreichen Industrialisierung während des
19. Jahrhunderts. Sie wäre nicht möglich gewesen, ohne den wissenschaftlichen Fort-
schritt und die kulturellen Veränderungen. Verbürgerlichung, Bedeutungsgewinn von
Kultur und Wissenschaft, Bildung von Vereinen und Genossenschaften — generell die
Entstehung einer Zivilgesellschaft — sind nur einige wenige Stichworte dieses kultu-
rellen Wandels. Ebenso gehören dazu die Stadttheater, die Museen, die Kunstvereine
sowie generell die Entstehung einer kulturellen Öffentlichkeit.
Das lange 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Verwerfungen. Beginnend mit der
französischen Revolution und endend mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 um-
spannt es die Lebensspanne mehrerer Generationen. Es ist eine Zeitspanne mit tie-
fen Umbrüchen, großer wirtschaftlicher Not und ökonomischen Höhenflügen. Es ist
Phase erheblicher Wanderungsbewegungen. Lebten auf dem Gebiet des Deutschen
Reiches im Jahr 1780 21 Millionen Menschen und damit 38 Personen pro km², waren
es 1914 67,7 Millionen Menschen mit einer Bevölkerungsdichte von 123 Menschen pro
km². Die starke wirtschaftliche Entwicklung gepaart mit medizinischem Fortschritt,
insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, trugen das Ihrige zu dem
Bevölkerungswachstum bei. Ohne die großen Auswanderungswellen 1850—1854,
1865—1869 sowie 1880—1884 in Sonderheit nach Nordamerika wäre das Elend deut-
lich größer gewesen. Kocka spricht davon, dass zwischen 1820 und 1890 rund 10 Pro-
zent der Bevölkerung aus dem Gebiet des Deutschen Reiches ausgewandert sind (Ko-
cka 2021, 54). Neben der Auswanderung fand zwischen 1870 und 1914 eine immense
Binnenwanderung statt. In diesem Zeitraum hat jeder zweite Deutsche (32 Millionen
Menschen) an der Binnenwanderung teilgenommen, bei rund der Hälfte davon, also
15 bis 16 Millionen Menschen, war die Binnenwanderung eine Fernwanderung. Sie
waren »Wirtschaftsflüchtlinge« aus den östlichen Reichsgebieten und wanderten in
die wirtschaftlich florierenden Industrieregionen, wie z. B. Berlin oder das Ruhrgebiet.
Das »lange« 19. Jahrhundert vor allem mit dem sprichwörtlichen Biedermeier in Verbin-
dung zu bringen, ist ein Trugschluss. Es ist oft gerade die Literatur und bildende Kunst
der Romantik, in der versucht wird, eine Zeit festzuhalten, die es so nicht mehr gab.
Die Literatur des bürgerlichen Realismus ist, was aufmerksamen Leserinnen und Le-
sern kaum entgeht, durchzogen vom Schmerz der Veränderung, dem Staunen und der
Unbegreiflichkeit der neuen schnellen industriellen Welt. Im Naturalismus werden die
Verwerfungen auf der Bühne, in den Romanen und Bildern schonungslos thematisiert.
Die Industrialisierung war und ist allen Brüchen zum Trotz mit einem Wohlstandsverspre-
chen verbunden, was insbesondere für die sogenannten westlichen Industrienationen
gilt. Der Wohlstand für breite Schichten der Bevölkerung ist in den Jahrzehnten seit
der Industrialisierung ebenso gewachsen wie der Zugang zu Bildung, zu Medizin, zu
Wohnraum usw. Industrialisierung war verbunden mit einem massiven Raubbau an der
Kultur. Selbstverständlich hat der Mensch auch in früheren Jahrhunderten in die Na-
tur eingegriffen und aus der Natur- eine Kulturlandschaft gemacht. Dies sei kurz skiz-
ziert: Bis zum Ende der Völkerwanderung war Mitteleuropa im Gegensatz zum Mittel-
meerraum von den zerstörerischen Aktivitäten des Menschen weitgehend verschont
geblieben. Dann fand aber durch mehrere Rodungsphasen eine erhebliche Verände-
rung der Landschaft statt. Darüber hinaus war Holz im Mittelalter die zentrale Res-
016

source mit vielseitigen Verwendungen als wichtigster Baustoff, Werkstoff und Energie-
träger. Vor allem die Erz- und Salzgewinnung hatte wegen des hohen Energiebedarfs
einen unstillbaren Holzbedarf, da Holz bzw. Holzkohle die einzige relevante Energie-
quelle war. Zusammen mit vor allem den landwirtschaftlichen Praktiken der Streunut-
zung und der Weidewirtschaft führte dies häufig zur Übernutzung der Wälder. In die-
sem Kontext wurde in der Forstwirtschaft das Prinzip der Nachhaltigkeit geprägt. Der
Begriff und das Konzept tauchen erstmals 1713 in der Schrift »Sylvicultura oeconomi-
ca« des sächsischen Oberberghauptmanns Hans Carl von Carlowitz auf — als eine Re-
aktion auf die Holzknappheit aufgrund des Raubbaus am Wald: »Wird derhalben die
größte Kunst/Wissenschaft/Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen/
wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen/daß es eine conti-
nuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe/weiln es eine unentberliche
Sache ist/ohne welche das Land in seinem Esse (im Sinne von Wesen, Dasein, Anm. d.
Verf.) nicht bleiben mag« (von Carlowitz 1713). Lange Zeit wurde Nachhaltigkeit vor al-
lem als Mengennachhaltigkeit verstanden, also nicht mehr Holz zu nutzen, als nach-
wächst. Beginnend im 19. Jahrhundert, aber vor allem im 20. Jahrhundert wurde im
Bereich der Forstwirtschaft das Konzept der Nachhaltigkeit nicht nur auf die Holzbe-
reitstellung, sondern auch auf die weiteren Waldfunktionen, wie zum Beispiel klima-
tische Wirkung, Wasserhaushalt, Boden- und Artenschutz sowie Erholung, angewen-
det (vgl. Roßmäßler 1882).
Spätestens mit der sogenannten Ölkrise 1973, also einem massiven Anstieg der Ölprei-
se durch die Preispolitik der erdölexportierenden Länder, wurde fassbar, wie eng Res-
sourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum zusammenhingen. In Westdeutschland
wurde zum Energiesparen aufgefordert und autofreie Sonntage eingeführt. Die wirt-
schaftliche Rezession und insbesondere der Strukturwandel, der besonders die in
den 1950er Jahren in Westdeutschland prosperierenden Montanregionen betraf, tru-
gen mit dazu bei, dass das Prinzip des Ressourcenraubbaus infrage gestellt wurde.
1987 erschien von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der sogenannte
»Brundtland-Bericht«, der das Konzept der Nachhaltigkeit in einem holistischen An-
satz auf alle Umweltbereiche ausdehnte und eine nachhaltige Entwicklung definierte
als »eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskie-
ren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können«
(United Nations 1987: 16). Nach dem »Brundtland-Bericht« sollte die Zielsetzung sein,
dass Umweltschutz und Wirtschaftswachstum gemeinsam möglich sind. Infolge des
Berichts entwickelte sich eine globale Diskussion und Kompromisssuche.
Der »Brundtland-Bericht« sollte in internationales Handeln umgesetzt werden. Dafür
wurde vom 3. bis 14. Juni 1992 die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und
Entwicklung (als Rio-Konferenz oder Erdgipfel bekannt) in Rio de Janeiro einberufen.
Sie gilt als Meilenstein für die Integration von Umwelt- und Entwicklungsbestrebun-
gen und für die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen an internationalen
Prozessen. Die wichtigsten Ergebnisse der Konferenz waren: die Deklaration über Um-
welt und Entwicklung, die Klimarahmenkonvention, die Biodiversitäts-Konvention, die
Walddeklaration und die Agenda 21. Als Nachfolgekonferenzen fanden 1997 die Kon-
ferenz Rio+5 in New York, 2002 der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johan-
nesburg (Rio+10) und 2012 die Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige
Entwicklung in Brasilien statt (Rio+20). Auf dieser letzten Konferenz Rio+20 wäre ange-
sichts der realen Situation mit zunehmenden Treibhausgasemissionen, fortschreiten-
dem Artensterben und steigendem Ressourcenverbrauch ein entschlossenes Handeln
017

mit konkreten Zielen notwendig gewesen. Aber die 190 an der Konferenz teilnehmen-
den Staaten haben sich nur auf einen von Brasilien vorgelegten Minimalkonsens ge-
einigt, der in den zentralen Bereichen nur das festschreibt, was früher schon einmal
beschlossen wurde. Die Konferenz ist im Verhältnis zu ihren Ansprüchen gescheitert.
Offensichtlich war die Weltpolitikgemeinschaft nicht zum Handeln bereit.
Dennoch gibt es Ansätze, die Hoffnung aufkeimen lassen. Insbesondere könnte das Jahr
2015 als das Jahr der entscheidenden Wende in die Geschichte eingehen, denn in die-
sem Jahr wurden wegweisende Beschlüsse für das Klima und die globale Gerechtig-
keit gefasst: Auf dem G7-Gipfel in Deutschland gab es ein klares Bekenntnis zum Kli-
maschutz. Die Vereinten Nationen haben in New York die 17 Ziele für eine nachhaltige
Entwicklung (Sustainable Development Goals → SDGs) beschlossen, die der Siche-
rung einer nachhaltigen Entwicklung dienen und soziale, existenzielle (Hunger und
Armut) und ökologische Fragen miteinander verknüpfen. Im Unterschied zu den Vor-
gängern, den Millenniums-Entwicklungszielen, die insbesondere Entwicklungsländern
galten, gelten die SDGs nun für alle Staaten. Und schließlich wurden im Weltklimaver-
trag von Paris von 2015 eine Dekarbonisierung und eine Begrenzung des Klimawan-
dels auf »deutlich unter 2° C« beschlossen. Dies war ein großer Erfolg, den vor der
Konferenz niemand erwartet hatte, auch wenn die Umsetzung in den folgenden Jah-
ren zu schleppend voranging und es an ausreichend ernsthaften Klimaschutzmaßnah-
men der Nationalstaaten einschließlich Deutschlands mangelt. Und schließlich richte-
te Papst Franziskus 2015 in diese Situation hinein mit der Umweltenzyklika »Laudato
Si — Über die Sorge für das gemeinsame Haus« einen umfassenden Appell an die Welt,
sie zu schützen und zu bewahren, um globale Gerechtigkeit zu schaffen.

Wo stehen wir heute?


Im Jahr 2023 stehen wir in der Mitte des Zeitraums, der in der Agenda 2030 in den
Blick genommen wurde. Etwas über 7 Jahre sind seit der Verabschiedung durch die
Weltgemeinschaft vergangen und etwas über 7 Jahre liegen bis 2030 noch vor uns.
Angesichts dieses Zeitrahmens und der Ziele, die auf europäischer und nationaler Ebe-
ne gesetzt werden, verwundert einerseits nicht, dass die Wut und Ungeduld wachsen,
wann endlich mit dem Handeln begonnen wird, und andererseits die Sorge und Ableh-
nung zunehmen, welche »Zumutungen« auf die Bürgerinnen und Bürger zukommen.
Nachhaltige Entwicklung bedeutet nichts anderes als der Abschied vom Wachstums-
paradigma. Nicht mehr, schöner, besser kann die Devise sein, sondern weniger muss
das neue Wachstumsparadigma werden. Dieses ist ein kultureller Umbruch wie er in
seiner Wirkmächtigkeit mit den Veränderungen des 19. Jahrhunderts verglichen wer-
den kann. Das Schwierige für alle diejenigen, die in dem Prozess stecken, ist, die Di-
mension als Ganze zu begreifen und den großen Bogen tatsächlich zu verstehen.
Nachhaltige Entwicklung ist eine immense ökologische, ökonomische, soziale und kultu-
relle Herausforderung. Die verbleibende Zeit, um die Klimaziele zu erreichen, wird im-
mer knapper. Klimaforscherinnen und -forscher warnen vor Kipppunkten, die einmal
erreicht, eine Entwicklung in Gang setzen werden, die unumkehrbar sein wird. Ähnlich
einer Lawine, bei der es nur des letzten kleinen Anstoßes bedarf, damit sie sich unauf-
haltbar ins Tal ergießt, sind es Kipppunkte, nach deren Erreichen unaufhaltsam bei-
spielsweise die Meeresspiegel steigen, das Klima sich weltweit ändern wird. Allein die-
se Entwicklung zu begreifen ist schwer genug. Alle 17 Nachhaltigkeitsziele in den Blick
zu nehmen und zu verstehen, wie eng sie miteinander verbunden bzw. sich aufeinan-
der beziehen, ist eine weitere Herausforderung.
018

Das Thema Nachhaltigkeit muss kulturell bearbeitet werden. Wenn uns dies gelingt,
wird nicht mehr der Verzicht als Erstes stehen, sondern der Gewinn. Der ökonomi-
sche Gewinn, denn nachhaltiges Wirtschaften ist längst ein Markt und Wirtschafts-
faktor. Der ökologische Gewinn, denn der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrund-
lagen ist essenziell für unser Überleben. Der soziale Gewinn, denn eine nachhaltige
Gesellschaft orientiert sich am Gemeinwohl. Der gesellschaftliche Gewinn, denn in
einer Welt zu leben, in der Natur und Kultur dauerhaft miteinander auskommen, ist
die Voraussetzung für ein gutes Leben (Zimmermann 2023).
In diesem Band werden die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN-Agenda 2030 durchdekliniert.
Mit jedem Nachhaltigkeitsziel wird sich in mindestens einem Beitrag auseinanderge-
setzt. Einige Nachhaltigkeitsziele werden aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.
Alle Beiträge unterstreichen, dass Nachhaltigkeit einen kulturellen Wandel bedeutet.
Es geht um nicht weniger als um die Art, wie wir arbeiten, konsumieren, leben, lernen,
miteinander umgehen, welche Chancen alle Menschen auf der Erde haben, wie so-
ziale Ungleichheiten beseitigt werden können und vor allem, welche Wechselwirkun-
gen es zwischen Kultur, Sozialem, Ökologie und Ökonomie gibt und wie sie aufeinan-
der verwiesen sind. Wir sind fest davon überzeugt, nachhaltige Entwicklung wird nur
durch einen kulturellen Wandel gelingen. Und wir hoffen, dass, wenn in hundert Jah-
ren Bücher über den Nachhaltigkeitspfad, der in den 2020er Jahren unwiderruflich
beschritten werden muss, geschrieben werden, herausgearbeitet wird, wie durch die
Zusammenarbeit der verschiedenen Bereiche nachhaltige Entwicklung tatsächlich ge-
lingen konnte.

Olaf Zimmermann und


Hubert Weiger
019

Literatur

Kocka, Jürgen (2021): Kampf um die Moderne.


Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart
Roßmäßler, Emil Adolf (1882): Der Wald.
(Nachdruck, Hansebooks, 2017)
Carlowitz, Hans Carl von (1713): Sylvicultura
oeconomica oder haußwirthliche Nach-
richt und Naturmäßige Anweisung zur wilden
Baum-Zucht, Leipzig, Braun (Nachdruck,
TU Bergakademie Freiberg, 2000)
United Nations (1987): Report of the World
Com­mission on Environment and Development:
Our Common Future. ↘ t1p.de/d5exp
Zimmermann, Olaf (2023): Mein kulturpoliti-
sches Pflichtenheft. Berlin
Armut in allen
ihren Formen und
überall beenden
1
Keine Armut
022

Armut in Deutschland
Bekämpfung von
und kulturelle

Ulrich Lilie
ist Präsident der Diakonie Deutschland,
zuvor war er u. a. als Pfarrer der Evange­
lischen Kirche im Rheinland tätig, von
2007 bis 2011 war er Stadtsuper­intendent
des Kirchenkreises Düsseldorf und von
2011 bis 2014 Theologischer Vorstand der
Graf-Recke-Stiftung in Düsseldorf.
Teilhabe
Keine Armut 023

Als die internationalen Staats- und Regierungschefs im Jahr 2015 die Agenda 2030
für Nachhaltige Entwicklung und damit verbunden die 17 globalen Nachhaltigkeitszie-
1
le (SDGs) verabschiedeten, setzten sie ambitionierte Ziele, um ein Leben in Würde für
alle und einen naturverträglichen Umgang mit unserer Umwelt zu erreichen. An ers-
ter Stelle steht dabei die Bekämpfung von Armut. »SDG 1: Keine Armut — Armut in je-
der Form und überall beenden« formuliert ausdrücklich, dass Armut umfassend be-
kämpft werden muss.

Armutsbekämpfung
Die Vereinten Nationen (UN) haben im Rahmen dieses Ziels unter anderem festgelegt,
dass Armut bis zum Jahr 2030 in jedem UN-Mitgliedsstaat mindestens halbiert werden
soll. Es wurde auch auf die besondere Vulnerabilität von Menschen, die in Armut le-
ben, hingewiesen. So wurde unter diesem Ziel auch formuliert, dass die Widerstands-
fähigkeit von Menschen in Armut gegenüber klimabedingten Extrem-
1 United Nations, Depart-
ment of Economic and ereignissen und wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Schocks
Social Affairs Sustainable gestärkt werden soll.1 Armut hängt eng mit umwelt- und klimapoliti-
Development: SDG 1 — schen Herausforderungen zusammen.
End poverty in all its forms
Die UN haben anerkannt, dass Armut stets eine ­mehrdimensionale
everywhere. ↘ t1p.de/kkb0
Herausforderung darstellt und nicht nur in ihrer offensichtlichsten
2 Diakonie Deutschland
Form beendet werden muss. Es müssen nachhaltige, langfristig wirk-
(2021): Wissen kompakt —
Armut. ↘ t1p.de/2v998 same Instrumente zur Armutsbekämpfung gestaltet werden. Nur so
Kohler-Gehrig, Eleonora
kann Armut in all ihren Dimensionen bekämpft werden und allen
(2019): Armut heute: Eine Menschen ein Leben in Würde möglich sein. Vordringlich wird da-
Bestands­aufnahme für bei zuerst daran gedacht, absolute Armut zu beenden. Absolute Ar-
Deutschland. Kohlhammer mut bedeutet, dass Menschen nicht über die zur Existenzsicherung
­Verlag, Stuttgart
notwendigen Güter wie Nahrung, Kleidung oder eine Wohnung ver-
fügen und sie sich keine ausreichende Gesundheitsversorgung leis-
ten können. Die UN definieren Armut jedoch breiter und beziehen auch Aspekte von
Armut ein, die auf den ersten Blick weniger sichtbar sind. SDG 1 umfasst also ebenso
das Ziel, relative Armut zu bekämpfen.
Das Konzept der relativen Armut richtet sich an der Norm eines menschenwürdigen
Daseins aus. Diese Definition von Armut bezieht die Lebens- und Entwicklungschan-
cen eines jeden in unserer Gesellschaft ein. Soziale Ungleichheit ist mit dem Konzept
der relativen Armut eng verknüpft. Wer relativ arm ist, hat beispielsweise schlechtere
Bildungschancen, weniger soziale Kontakte und größere Schwierigkeiten, beruflich
aufzusteigen. Die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, die sozia-
le und kulturelle Teilhabe, ist in vielerlei Hinsicht eingeschränkt.2
Die Umsetzung der SDGs stagniert weltweit und die Bekämpfung von Armut ist davon
nicht ausgeschlossen. Insbesondere vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs und den
daraus resultierenden weltweiten Folgen hat Armut wieder global
3 Bundesamt für Statistik
(2022): Lebensbedingun- zugenommen. Auch Menschen in Deutschland sind betroffen. Be-
gen und Armutsgefährdung. trachtet man monetäre Armut in Deutschland, waren Ende 2021 16
↘ t1p.de/byx93 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet, 6,6 Millionen Menschen
haben Leistungen der sozialen Mindestsicherung erhalten. Von Ar-
mut und sozialer Ausgrenzung sind jedoch noch deutlich mehr Menschen bedroht (21
Prozent der Bevölkerung).3
Armut hat auch zur Folge, dass Menschen weniger resilient gegenüber Krisen sind. Jede
Preissteigerung ist sofort deutlich im Budget spürbar, und es besteht kaum Spielraum,
024

diese aufzufangen. Auch nach der Einführung des Bürgergelds und der damit verbun-
denen Anpassung des Regelsatzes werden Sozialleistungen weiterhin knapp gehalten.

Armut und Klimakrise


Die stärkere Betroffenheit durch Krisen zeigt sich ebenfalls im Kontext der Klimakri-
se.4 Auch in Deutschland sind Menschen in Armut stärker von den Folgen von Klima-
wandel und Umweltverschmutzung betroffen als Menschen mit höherem Einkommen.
Sie leben häufiger an vielbefahrenen Straßen und sind entspre-
4 Gough, Ian (2013): Carbon
chend stärker Lärm und Schadstoffbelastungen ausgesetzt, ihre Mitigation Policies, Distributional
Wohnungen sind oft in einem energetisch schlechten Zustand. Sie Dilemmas and Social Policies.
müssen dadurch im Winter mehr geheizt werden und wärmen sich Journal of Social Policy, 42 (2),
im Sommer schneller stark auf. Besonders für Menschen mit ge- S. 191—213. ↘ t1p.de/ltsg6
sundheitlichen Beeinträchtigungen, Ältere und Kinder kann das 5 Kahlenborn, Walter; Porst,
­Luise; Voß, Maike; Fritsch, Uta;
gesundheitsgefährdend sein. Für Menschen ohne Wohnung sind
et al. (2021): Klimawirkungs-
kaum Schutzräume vor extremen Wetterereignissen zugänglich. und Risikoanalyse für Deutsch-
Situationen, in denen solcher Schutz nötig ist, werden zukünftig land 2021 (Kurzfassung). Um­
jedoch häufiger entstehen. Durch den Klimawandel müssen wir in weltbundesamt, Dessau-Roßlau
↘ t1p.de/zaxv9
Deutschland immer häufiger mit Ereignissen wie Starkregen oder
extremen Hitzewellen rechnen. Schon jetzt ist die Zahl von soge- Intergovernmental Panel on
Climate Change (2021): Zusam-
nannten »Hitzetoten« größer als die der Opfer im Straßenverkehr. menfassung für die politische
Diese Beispiele ließen sich fortsetzen.5 Entscheidungsfindung. In: Natur-
Wichtig ist jedoch auch festzuhalten, dass Menschen in Armut häu- wissenschaftliche Grundlagen.
fig nicht nur besonders stark vom Klimawandel betroffen sind, sie Beitrag von Arbeitsgruppe I
zum Sechsten Sachstandsbericht
tragen andererseits in viel geringerem Maße zum Klimawandel bei des Zwischenstaatlichen Aus-
als Menschen mit hohen Einkommen. Zum Vergleich: Weltweit sind schusses für Klimaänderungen
die 10 Prozent der reichsten Menschen für 47 Prozent der CO₂- (Masson-Delmotte, Valérie; et
Emissionen verantwortlich, im starken Kontrast dazu steht, dass al.). In Druck. Deutsche Über-
setzung auf Basis der Druckvor-
50 Prozent der Menschen nur 10 Prozent des CO₂-Ausstoßes ver- lage, Oktober 2021. Deutsche
ursachen.6 Aber auch in Deutschland ist diese ungleiche Vertei- IPCC-Koordinierungsstelle,
lung zu beobachten, denn auch hier steigen mit dem Einkommen Bonn, Februar 2022
auch die Konsumausgaben, die wiederum zu mehr Umweltbelas- Kreienkamp, Frank; Philip,
tungen führen.7 Sjoukje Y.; Tradowsky, Jordis S.;
et al. (2022): Rapid attribution
Menschen mit wenig Geld leben einerseits in vielen Bereichen schon of heavy rainfall events leading
allein armutsbedingt ökologischer, weil sie zum Beispiel häufig auf to the severe flooding in Western
ein eigenes Auto verzichten, Flugreisen nicht im Budget sind und Europe during July 2021.
sie aus Kostengründen Energie sparen wo irgend möglich. So ha- ↘ t1p.de/nv3m7
ben Menschen mit wenig Geld häufig weniger elektronische Ge- 6 Boksch, René (2021): Der
räte und leben in kleineren Wohnungen, sodass die CO₂-Bilanz ­riesige CO₂-Fußabdruck der
Reichen. ↘ t1p.de/jd7bb
insgesamt gering ausfällt, auch wenn die Energieeffizienz der ge-
7 Umweltbundesamt (2022):
nutzten Geräte bzw. des Wohngebäudes unzureichend ist. Diese
Treibhausgasemissionen in
Einschränkungen mögen (unfreiwillig) ökologisch vorteilhaft er- Deutschland. ↘ t1p.de/3iadg
scheinen, sie schließen Menschen in der Konsequenz aber von vie-
len gesellschaftlichen Teilhabechancen aus.
In vielen anderen Lebensbereichen fehlen dagegen die Handlungsspielräume und An-
reize, sich ökologisch zu verhalten. Das vom Staat zur Verfügung gestellte Existenz-
minimum ist dafür nicht ausreichend, wie diese Beispiele zeigen: Nachhaltige Le-
bensmittel sind meist teurer als konventionelle, energieeffiziente Haushaltsgeräte für
Menschen mit geringem Einkommen kaum bezahlbar, Strom aus erneuerbaren Ener-
Keine Armut 025

8 Bruckdorfer, ­Matthias;
­ avid, Michael (2021): Sozial­
D
giequellen ist ebenfalls häufig nur über vergleichsweise teu-
re Tarife zu beziehen. Wenn die nötigen finanziellen Ressourcen
1
politische und sozialarbei-
terische Anmerkungen zur
fehlen, bestehen keine Möglichkeiten, sich für nachhaltigere Kon-
sozialökologischen gesell- sumoptionen zu entscheiden.8
schaftlichen Transformation.
In: Ethik Journal 7. Jg., Aus- Soziale und kulturelle Teilhabe
gabe 1/2021, Sozialökologische
Transformation — Diskurs-
Menschen, die von Armut betroffen sind, verfügen aber nicht nur
felder und Themen Sozialer über geringere Handlungsspielräume, wenn es um ökologische-
Arbeit ↘ t1p.de/gqxi4 re Lebensweisen geht. Armut schränkt die gesellschaftliche Teil-
Spannagel, Dorothee; habe in allen Lebensbereichen ein, sodass auch eine Beteiligung
Zucco, Aline (2022): Armut am sozialen und kulturellen Leben nur sehr eingeschränkt mög-
grenzt aus: WSI-Verteilungs­
lich ist. Im Regelsatz für Erwachsene sind für Freizeitaktivitäten,
bericht 2022, WSI Report,
No. 79, Hans-Böckler-Stiftung, Unterhaltung und Kultur 9,76 Prozent (48,98 Euro pro Monat) des
Wirt-schafts- und Sozialwis- Regelsatzes vorgesehen. Was zunächst nach einem ausreichen-
senschaftliches Institut (WSI), den Anteil aussieht, wird bei näherer Betrachtung schnell relati-
Düsseldorf ↘ t1p.de/z4qgj
viert. Der Maßstab für den Regelsatz ist die Einkommens- und Ver-
9 Reutlinger, Christian;
brauchsstichprobe. Bei Erwachsenen sind die Haushalte mit den
­Vellacott, Christina (2021):
Sozialraum und soziale
unteren 15 Prozent der Einkommen Vergleichsgruppe. Herausge-
Ausschließung. In: Anhorn, strichen wurden in der Bedarfsermittlung 2020 allerdings Ausga-
Roland; Stehr, Johannes ben wie z. B. Tierfutter, Schnittblumen, Weihnachtsbaum, Malsa-
(Hg.): Handbuch Soziale chen für Kinder, Speiseeis im Sommer, Essen vom Imbiss, etc. Das
Ausschließung und Soziale
Arbeit. Perspektiven kriti-
heißt, wenn Ausgaben für diese gekürzten Bedarfspositionen in
scher Sozialer Arbeit. Vol. den Haushalten anfallen, steht unter Umständen weniger Geld für
26. Springer VS, Wiesbaden die im Regelsatz enthaltenen Positionen wie Kulturangebote zur
↘ t1p.de/oybb6 Verfügung.
Brocchi, Davide (2019): Die persönlichen Einschränkungen, die sich daraus ergeben, sind
Nachhaltige Transformation
für die Betroffenen eine Herausforderung. Wer kaum Möglichkei-
im Quartier. In: Niermann,
Oliver; Schnur, Olaf; Drilling, ten hat, sich an kulturellen Angeboten zu beteiligen, droht aus der
Matthias (eds): Ökonomie Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein und ein Leben in Einsam-
im Quartier. Quartiersfor- keit zu führen. Ziel sollte es deshalb sein, Sozialräume stadtpla-
schung. Springer VS, Wies­
nerisch so zu gestalten, dass Möglichkeiten der kulturellen Teil-
baden ↘ t1p.de/d1wok
habe und des sozialen Austauschs für alle Menschen zugänglich
Bormann, René; et al. (2016):
Das Soziale Quartier —
sind. Häufig sind Quartiere, in denen vor allem Menschen mit ge-
Quartierspolitik für Teilhabe, ringem Einkommen leben, sowohl durch weniger kulturelle Ange-
Zusammenhalt und Lebens­ bote gekennzeichnet als auch durch Mobilitätsbarrieren und Er-
qualität. Friedrich-Ebert- reichbarkeitsdefizite. Menschen mit geringem Einkommen sind
Stiftung ↘ t1p.de/yvcms
aber besonders auf Angebote in der Nachbarschaft angewiesen.
Das bedeutet z. B., dass öffentliche Bibliotheken in jeden Stadtteil
gehören und Kulturangebote erschwinglich sein müssen.9
Heutzutage bedeutet kulturelle Teilhabe aber nicht ausschließlich, Zugang zu physi-
schen Orten der Kultur und Begegnung. Ein immer größerer Teil unserer Kommunika-
tion und Teilhabe findet digital statt. Wer in die digitalen Räume und Angebote nicht
eingebunden ist, verliert leicht den Anschluss an die Gemeinschaft, sei es in der Schu-
le und im Studium, bei der Suche nach Arbeit oder in Freizeit und Freundeskreis. Das
bedeutet, dass auch digitale Teilhabechancen eröffnet werden müssen, was sowohl
den Zugang zum Internet als auch die dafür notwendigen Geräte umfasst. Gleichzei-
tig sind Angebote notwendig, die die Möglichkeit bieten, den Umgang mit den digi-
talen Medien und Kommunikationsformen zu üben. Die Kosten für digitale Angebote
026

stellen für viele Menschen eine große finanzielle Belastung dar. Hinzu kommt, dass es
viele Menschen gibt, denen die Voraussetzungen fehlen, Verträge mit Telekommuni-
kationsanbietern abzuschließen, wie zum Beispiel Überschuldete, Wohnungslose oder
auch Wanderarbeitende.10
Zugänge zu kulturellen Angeboten, seien sie digital oder vor Ort, sind also auch in unse-
rer Gesellschaft alles andere als selbstverständlich. Sie sind zum Teil mit hohen Hür-
den für den Einzelnen verbunden. Teilhabe an kulturellen Angeboten ermöglicht aber,
sich weiterzubilden, an gesellschaftlichen Diskussionen teilzuneh-
10 Diakonie Deutschland
men und nicht zuletzt auch soziale Kontakte. (2022): Vorschlag für ein
Kulturelle Teilhabe eröffnet nicht nur dem Einzelnen Chancen. Auch »Bundesprogramm digitale
gesamtgesellschaftlich betrachtet, stellt der Zugang zu kulturellen Teilhabe«. Kostenberechnung
Angeboten ein wichtiges Gut dar: Kulturelle Teilhabe fördert den zu »6 Forderungen für ein
digitales Existenzminimum«
gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem sie Diskursräume eröff- ↘ t1p.de/fv6m5
net, um sich über gesellschaftliche Traditionen, Wertesysteme und
Diakonie Deutschland (2022):
Normen auszutauschen, diese infrage zu stellen, zu diskutieren 6 Forderungen für ein
und weiterzuentwickeln. Kultur ist damit eine Art Aushandlungs- Digitales Existenzminimum.
und Reflexionsraum, in dem neue Impulse für eine Einwanderungs- ↘ t1p.de/e2sx2
gesellschaft gesetzt werden können. Sie kann damit auch einen 11 Benikowski, Bernd;

Wandel bestehender Werte und Normen befruchten oder anre- Emmerich, Johannes (2022):
­Soziale Innovation als For-
gen. Kulturelle Teilhabe ermöglicht, positive Zukunftsvisionen für schungsansatz der Sozialen
sich selbst und unsere Gesellschaft insgesamt zu entwerfen. Da- Arbeit. In: Krauss, Sabrina;
mit wird auch das Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft Plugmann, Philipp (eds):
gestärkt.11 Diesen gesellschaftlichen Zukunftsentwurf mitzuentwi- Innovationen in der Wirtschaft.
Springer Gabler, Wiesbaden
ckeln sollten wir allen Menschen ermöglichen. Besonders im Kon- ↘ t1p.de/7cbba
text der sozial-ökologischen Transformation erlangen Fragen, wie
Heinrich-Böll-Stiftung (2022):
wir unser gesellschaftliches Zusammenleben gestalten wollen und ­Sozialatlas. Daten und Fakten
welche Werte und Normen dabei Kern unseres Handelns sein sol- über das, was unsere Gesell-
len, ein neues Gewicht. schaft zusammenhält.
Um ein komplexes gesellschaftliches Projekt wie die ökologische ↘ t1p.de/s83a5
Transformation erfolgreich voranzutreiben, ist es notwendig, dass Ahrens, Jörn (2012): Kultur
und die Bereitstellung von
dieses Projekt auf Akzeptanz in der Gesellschaft insgesamt trifft. ­Imaginationsräumen. In:
Diese entsteht durch öffentliche Aushandlungsprozesse und Ent- Wie aus Wildnis Gesellschaft
scheidungen im politischen Raum, die das Vertrauen der Men- wird. VS Verlag für Sozial­
schen in die sachliche Notwendigkeit stärken sollten sowie eine wissenschaften, Wiesbaden
↘ t1p.de/bnmeb
sozial gerechte Umsetzung von staatlichen Zielen und Maßnah-
12 Baedeker, Carolin;
men in der Transformation verfolgen.
Fischedick, Manfred; Liedtke,
Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse finden auch im kulturellen Christa (2022): Kunst und
Raum zu der Frage statt, welche Wege etwa in der Transformati- Kultur als Hebel für die große
on beschritten werden sollen und auf welchen Werten diese Ent- Transformation ↘ t1p.de/208ij
scheidungen beruhen sollten. Wenn Menschen systematisch von Kopatz, Michael (2013): Die
solchen Diskursen ausgeschlossen werden, heißt das auch, dass ­soziale-kulturelle Transformation.
ihre Perspektiven und Anliegen nicht gehört werden und — wenn In: Huncke, Wolfram: Wege in
die Nachhaltigkeit — die Rolle von
überhaupt — nur am Rande in die Weiterentwicklung unseres ge- Medien, Politik und Wirtschaft
sellschaftlichen Wertesystems einbezogen werden. Für die Stär- bei der Gestaltung unserer Zu-
kung des sozialen Zusammenhalts und die Entwicklung eines auf kunft. Hessische Landeszentrale
für politische Bildung, Wiesba-
Nachhaltigkeit basierenden gesellschaftlichen Konsenses für unser den, S. 155—191 ↘ t1p.de/oshxm
Zusammenleben müssen jedoch alle Gruppen einbezogen sein.12
Andernfalls verbreitet sich das Gefühl, politisch verlassen zu sein.
Keine Armut 027

Armut bedeutet also keinesfalls nur, materiell ausgeschlossen zu sein. Armut be-
deutet auch, von gesellschaftlicher Teilhabe und aus demokratischen Prozessen aus-
1
geschlossen zu sein. Um dies zu verhindern, braucht es strukturelle Veränderungen
im Umgang der Gesellschaft mit Menschen in Armut: ein angemessener Regelsatz,
der die Anforderungen an eine ökologische Lebensweise und gesellschaftliche Teil-
habechancen erfüllt, ist dabei nur ein Aspekt. Staatliche Existenzsicherung sollte viel-
mehr so gestaltet sein, dass Betroffene zu selbstbestimmten Entscheidungen befä-
higt werden und ihre Persönlichkeiten tatsächlich gestärkt werden. Das schließt auch
ein, Menschen in Armut bei der Gestaltung der Sozialräume einzubeziehen und digi-
tale sowie physische Zugänge zu Orten der gesellschaftlichen Teilhabe zu eröffnen.
Davon profitieren sowohl die betroffenen Menschen wie auch das demokratische Ge-
meinwesen.
028

­Bezahlung in Kunst und


Das Ende der Beschei-
denheit — ­Gerechte
Kultur ist Armuts­Frank Werneke
ist Vorsitzender der Vereinten
Dienstleistungsgewerkschaft
(ver.di), er war von 2002 bis 2019
Stellvertreten­der Vorsitzender
von ver.di und zuvor im geschäfts-
führenden Hauptvorstand der
IG Medien, von 1983 bis 1993 war
er unterbrochen vom Zivildienst
als Verpackungsmechaniker tätig.
prävention
Keine Armut 029

Die Einkommen von selbstständigen Kulturschaffenden sind zu niedrig. Dabei wird


Kultur zu großen Teilen aus Steuergeldern finanziert, womit Kulturförderung die größ-
1
te Einkommensquelle von Künstlerinnen, Künstlern und Kulturschaffenden ist. Der öf-
fentlichen Hand kommt bei der Sicherung der wirtschaftlichen und sozialen Lage von
Kulturschaffenden ganz klar eine besondere Verantwortung zu. Denn diese Menschen
bauen ihre wirtschaftliche Existenz darauf auf, kreative Produkte zu schaffen und in
kreativen Projekten tätig zu sein. Doch bislang gibt es nur selten Kriterien, die bei Ver-
gabe öffentlicher Gelder garantieren, dass Mindesthonorare und soziale Standards
gelten. Aktuell wird selbstständige Kulturarbeit oft zu viel zu geringen Tages- oder
Stundensätzen geleistet. Außerdem wird nicht die gesamte Arbeitsleistung bezahlt.
Oft sind es nur die für das Publikum oder Kundinnen und Kunden sichtbaren Zeiten,
Ergebnisse und Produkte, die entlohnt werden — viele Teile der Entwicklungs-, Pro-
duktions- und Vermarktungsarbeit bleiben unsichtbar und unbezahlt. Das wird der
so häufig betonten gesellschaftlichen Rolle der Kultur nicht gerecht.
Die soziale und wirtschaftliche Lage von Solo-Selbstständigen und hybrid Beschäftig-
ten in Kunst und Kultur muss verbessert werden, damit sie krisenfester werden und
um mittel- und langfristiger Armut präventiv zu begegnen. Dazu gehören neben einer
gerechten Bezahlung auch die Einführung von Mindeststandards und Basishonoraren
sowie solide Altersvorsorge und eine nachhaltige Kulturfinanzierung. Welche Verbes-
serungen besonders für Solo-Selbstständige und hybrid Beschäftigte notwendig und
möglich sind, darum geht es im Folgenden.

Ein Blick in die Zahlen


Aktuelle Daten zur sozialen und wirtschaftlichen Lage von Solo-Selbstständigen in
Kunst und Kultur ergeben ein vielschichtiges, jedoch unvollständiges Bild: Die Studien
einzelner Berufsverbände sowie öffentliche regionale und bundesweite Statistiken un-
terscheiden sich methodisch voneinander, können also nicht miteinander kombiniert
oder verglichen und ihre Aussagen nur puzzlestückartig aneinandergefügt werden.
Auch die Definition dessen, was Kultur ist, wer in welcher Form kulturschaffend ist
und welche Tätigkeiten unter Selbstständigkeit fallen, sind je verschieden. Damit un-
terscheiden sich die Erhebungen auch darin, wer in der jeweiligen Statistik berücksich-
tigt wird und wessen Perspektive und Arbeitsrealität bei den aus diesen Zahlen abge-
leiteten Maßnahmen fehlt.
Laut Statistischem Bundesamt waren 2019 von rund 1,3 Millionen Kulturschaffenden ca.
38 Prozent, also etwa 444.250 Personen, freischaffend oder solo-selbstständig (De-
Statis 2021). Zum Vergleich: In anderen Berufen und Branchen sind nur 10 Prozent frei-
schaffend oder solo-selbstständig (ebd.).
Die jüngste Umfrage von ver.di zur Arbeitsrealität von Kulturschaffenden zeigt, dass 51
Prozent der 2.293 Befragten weiblich und zudem hybride Arbeitsmodelle und Einkom-
mensmixe typisch sind: Die meisten Kulturschaffenden beziehen ihr Einkommen aus
mehreren Quellen.
Eine von ver.di beauftragte Auswertung der Zahlen der Künstlersozialkasse (KSK) zeigt,
dass Frauen, die über die KSK versichert sind, 24 Prozent weniger verdienen als ihre
männlichen Kollegen. Der Gender Pay Gap zeigt sich in allen Branchen und liegt in
der Musik bei 23 Prozent, in der bildenden Kunst und dem Design bei 30 Prozent, im
Theater und Film bei 34 Prozent und bei 22 Prozent in Wort-bezogenen Berufen. Der
Gender Pay Gap liegt bei selbstständigen Kulturschaffenden damit deutlich über dem
bundesweiten Durchschnitt von 18 Prozent im Jahr 2022. In Arbeitstage umgerechnet
030

ergibt sich: Frauen arbeiten in Deutschland im Schnitt die ersten 66 Tage des Jahres
umsonst. Altersarmut ist und bleibt weiblich, auch und gerade in der Kulturbranche.
Das muss sich ändern. Eine nachhaltige Armutsbekämpfung kann nur durch eine bes-
sere, gerechte Bezahlung und eine gute soziale Absicherung gelingen.

Auch in der Kultur reale Arbeitszeit fair entlohnen


Eine gerechte Bezahlung im Kulturbereich bedeutet einerseits, gleiche Arbeit gleich
zu entlohnen und den oben dargestellten Gender Pay Gap abzubauen. Gerechte Be-
zahlung für Solo-Selbstständige umfasst vor allem aber auch, nicht nur die konsu-
mierbare, rezipierte Arbeit in Form eines künstlerischen Produktes, sondern die rea-
le Arbeitszeit inklusive Konzeption, Vor- und Nachbereitung zu entlohnen und dabei
Abgaben für Sozialversicherungen einzubeziehen. ver.di Kunst und Kultur hat ein Be-
rechnungsmodell für Basishonorare entwickelt, auf das unten noch genauer einge-
gangen wird.
Denn ein Risiko, das sich aus den Teilzeitmodellen von hybrid Beschäftigten oder Solo-
Selbstständigen in Kunst und Kultur ergibt, ist eine ungenügende oder vollständig
fehlende Altersvorsorge. Und das betrifft vor allem Frauen, denn statistisch gesehen,
arbeitet jede zweite Frau in Teilzeit. Die Gründe liegen unter anderem in der unglei-
chen Verteilung von Sorgearbeit im Rahmen familiärer Verpflichtungen und Kinder-
betreuung. Teilzeitarbeit führt zu weniger Einkommen, schlechteren Karrierechancen
und niedrigeren Einzahlungen in die Rentenversicherung sowie private Vorsorgemo-
delle. Damit verbunden sind die finanzielle Abhängigkeit von Partnerinnen und Part-
nern sowie drohende Altersarmut.
Mit der Künstlersozialkasse gibt es zwar eine großartige Institution für die Altersabsi-
cherung von selbstständigen Künstlerinnen und Künstlern bzw. Publizistinnen und
Publizisten. Trotzdem ist seit vielen Jahren klar: Viele Solo-Selbstständige in der Kunst
und Kultur haben zu geringe Einkommen und Rücklagen, um aus eigener Kraft der Al-
tersarmut vorzubeugen.
Die Folgen von Prekarität und Armut für Künstlerinnen, Künstler und Kulturschaffende
sind bekannt und enorm: Armut bedeutet sozialen, politischen, wirtschaftlichen und
kulturellen Ausschluss, eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist nicht möglich.
Wo andere beispielsweise Zeit und Geld in Weiterbildung und politische Ämter inves-
tieren können, bleiben prekär beschäftigten Menschen dafür weder Geld noch Kapa-
zitäten. Prekarität und Armut bedeuten zudem Existenzangst und psychischen Stress,
der sich auch körperlich auswirkt. Solo-Selbstständigkeit heißt, Verantwortung, die
in Organisationen häufig auf mehreren Schultern verteilt wird, allein zu tragen — und
diese Entscheidung kann aus der Not heraus oder aus freiem Willen getroffen wer-
den. Prekarität bedeutet auch, dass der für künstlerisches Schaffen und Kulturpro-
duktion notwendige Denkraum nicht mehr genutzt werden kann, davon abgesehen,
dass einer nicht künstlerischen Erwerbsarbeit nachgegangen werden muss, um für
eine finanzielle Grundsicherung zu sorgen.
Eine gerechte Bezahlung beinhaltet deshalb auch, Zugangsbarrieren zur Kulturproduk-
tion abzubauen und Klassismus in der Kultur zu durchbrechen: Künstlerische und Kul-
turberufe zu ergreifen soll keine Frage des »Sich-leisten-Könnens« sein! Denn Kultur
braucht eine Vielfalt von Stimmen. Es ist essenziell, dass wir in Deutschland die Stim-
men und Werke unterschiedlichster Menschen hören, lesen und sehen können. Die
Bedingungen von Kulturproduktion in Deutschland gehen noch immer von dem in
Deutschland aufgewachsenen, bürgerlichen und gebildeten Mann aus. Der Zugang
Keine Armut 031

ist erschwert für Menschen, die von diesem Bild abweichen. Also für Personen
aus bildungsfernen Milieus, mit Migrationsgeschichte oder nicht weiße Menschen
1
sowie für Frauen. Die Entscheidung für eine künstlerische Tätigkeit erfordert oftmals
eine Risikobereitschaft, die nur mit finanziellem Sicherheitsnetz eingegangen werden
kann. So wird Kulturarbeit zum Beispiel für Menschen schwieriger, die ohne finanzi-
elle Unterstützung Sorgearbeit leisten. Der hohe Gender Pay Gap und Ungleichheit
produzierende Machtstrukturen zeigen, wie viel noch getan werden muss, bevor die
Kulturbranche tatsächlich die Rolle einer gesellschaftlichen Avantgarde annehmen
kann, die ihnen oft zugeschrieben wird. Barrieren gehören abgebaut — dafür braucht
es Transparenz in der Verteilung öffentlicher Gelder, in Jurybesetzungen und der Be-
setzung von Leitungspositionen und eine gerechte Bezahlung, um auf all diesen Ebe-
nen grundlegende Sicherheit zu schaffen.

Wie stellen wir uns eine gerechte Bezahlung vor?


Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist angekündigt, dass Mindesthonorare für
selbstständige Kreative in die Förderrichtlinien des Bundes aufgenommen werden.
Doch bislang hat die Regierung keine transparenten Berechnungsgrundlagen oder
konkreten Honorarvorstellungen. Auch einzelne Bundesländer wollen eine Mindest-
honorierung als Bedingung in der Kulturförderung festsetzen. Anstatt individueller,
branchenspezifischer Lösungen verschiedener Interessenverbände schlägt ver.di ein
transparentes Berechnungsmodell vor, das von Politik und Verwaltung nachvollzogen
und angewendet werden kann. Und das dynamisch ist, also auf Inflation und Verän-
derungen der Arbeitsrealitäten in der Kulturbranche reagieren kann. Hier setzen die
ver.di-Basishonorare an.
Die Berechnung der Basishonorare folgt 2 simplen Grundsätzen. Die real anfallende Ar-
beitszeit wird vergütet. Und der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes dient als Be-
rechnungsgrundlage. Das heißt, die Entgelte, die im Tarifvertrag des öffentlichen
Dienstes stehen, werden an die Arbeitsmodelle von Selbstständigen angepasst. Be-
triebsausgaben werden genauso addiert, wie beispielsweise die zusätzlichen Beiträge
zu Sozialversicherungen für Selbstständige. Auch wird projektübergreifende Arbeits-
zeit für Tätigkeiten wie Buchhaltung, Akquise, Netzwerk- oder Öffentlichkeitsarbeit
einkalkuliert, aber auch für die künstlerische Weiterentwicklung. Daraus ergeben sich
stufenweise Honorarsätze entsprechend den Anforderungen der Tätigkeit.
Dieses Modell dient sowohl Bund, Ländern und weiteren öffentlichen Fördergebern als
auch Solo-Selbstständigen und hybrid Beschäftigten als Berechnungsgrundlage, um
ihrer Arbeitsrealität entsprechend eine gerechte Bezahlung einzufordern — und da-
bei auch für ihre jeweilige Branche einzutreten.

Keine falsche Bescheidenheit: Gemeinsam


für eine nachhaltige Finanzierung der Kultur
Der Dauerkrisenmodus zehrt allen an den Kräften, besonders Solo-Selbstständige und
hybrid Beschäftigte wissen, wovon ich spreche. Deshalb ist es wichtig, gemeinsam
und auf allen politischen Ebenen für ihre soziale und wirtschaftliche Absicherung zu
sorgen. Und mit gemeinsam sind alle Akteurinnen und Akteure in Kunst und Kultur ge-
meint: Kulturpolitikerinnen und Kulturpolitiker, Referentinnen und Referenten, solo-
selbstständige Künstlerinnen und Künstler wie angestellte Kulturschaffende, hybrid
Beschäftigte, Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter sowie Forscherinnen und
Forscher.
032

Denn auf dem Weg zu einer verbesserten Lage von Solo-Selbstständigen in Kunst und
Kultur sind Basishonorare ein wichtiger erster Schritt. Ihn umzusetzen und weitere Ver-
besserungsvorschläge zu entwickeln und einzufordern braucht in erster Linie Mut und
Gestaltungswillen. Beides lässt sich gemeinschaftlich organisiert besser aufrechter-
halten als allein: weg vom Ich, hin zum Wir. Für den gemeinsamen Einsatz gibt es fol-
gende konkrete Verbesserungsvorschläge und Forderungen:

– Basishonorare für Selbstständige sollen zur verpflichtenden Voraussetzung


von ­Kulturförderung werden. Das Berechnungsmodell von ver.di zielt auf
Honorare, die die reale, nicht nur die sichtbare, Arbeitszeit von Künstlerinnen,
Künstlern und Kulturschaffenden umfassen. So ergibt sich eine faire Bezah-
lung, die Auftrags­flauten bei Solo-Selbstständigen absichert.
– Für unvorhergesehene Honorarausfälle, fundamentale Krisen und b ­ erufliche
­Umorientierungen brauchen Solo-Selbstständige und hybrid Beschäftigte
eine E­ rwerbslosenversicherung, die frei von strukturellen Zugangsbarrieren ist.
­Zusätzlich zu einer solchen Grundsicherung müssten bspw. von der Bundes-
agentur für Arbeit Weiterbildungs- und Coaching-Angebote bereitgestellt wer-
den, die den Bedürfnissen von Kulturschaffenden entsprechen.
– Auch für die Altersvorsorge muss eine Lösung gefunden werden. Denn wo
nichts oder nur wenig zurückgelegt werden kann, ist die Altersarmut vorpro­
grammiert. Um dem vorzubeugen, ist eine einkommensbezogene, solida-
rische Alters­vorsorge notwendig, die wechselnde Lebenslagen berücksichtigt
und generationen­gerecht ist.
– All diese Schritte können nur entsprechend den Bedürfnissen und unterschied­-
lichen Lebensrealitäten der Betroffenen geplant und umgesetzt werden, wenn
dazu eine solide Datenlage vorliegt. Dazu ist eine dauerhafte statistische Bericht­
erstattung zur sozialen Lage von Künstlerinnen und Künstlern sowie Kulturschaf­
fenden erforderlich. Dazu gehört, Primärdaten zu erheben, die auch die vielfäl­-
tige ­Arbeitsrealität von Kulturschaffenden einbeziehen. Also etwa selbstständige
und hybride Arbeitsmodelle, projektbasierte Erwerbsarbeit sowie unterbrochene
­Erwerbsbiografien und breite Einkommensspannen. Die von ver.di vorgeschla-
gene Sondererhebung im sozio-ökonomischen Panel (SOEP) würde diese Anfor­
derungen erfüllen und darüber hinaus valide, national und international ver­
gleichbare Daten liefern. Auch hier gilt es für die bisher aktiven Akteurinnen und
­Akteuren, sich zu vernetzen, um Vergleichbarkeit zwischen ihren Studien herzu­
stellen und Wissenslücken zu schließen.

Wir brauchen eine nachhaltige, stabile Kulturfinanzierung. Ob öffentliche Fördergel-


der in hochprekäre Solo-Selbstständigkeit oder tariflich abgesicherte Vollzeitbeschäf-
tigung fließen, ist der Kulturpolitik in Bund und vielen Ländern bislang weitgehend
egal. Das muss sich ändern! Es ist die Aufgabe von Kulturpolitik, Rahmenbedingun-
gen zu ermöglichen, in denen Kulturschaffende von ihrer Arbeit gut leben können.
Neben der Bindung öffentlicher Gelder an Mindeststandards und Basishonorare for-
dert ver.di eine verlässliche Kulturfinanzierung, damit künstlerisches Schaffen und
Kulturarbeit frei sein kann. Das bedeutet nicht zuletzt, die Projektlogik in der Kultur-
förderlandschaft um strukturelle Finanzierungen zu ergänzen. Nur so können sich kul-
turelle Infrastrukturen entwickeln und längerfristiges Engagement auf lokaler, regio-
naler und auch Bundesebene entstehen.
Keine Armut 033

Literatur

Basten, Lisa (2023): Hybride Erwerbs­tätigkeit —


Herausforderung für die Arbeitslosenversiche-
rung. In: Systemcheck. Wer kümmert sich?
Soziale Ab­sicherungsoptionen und -hürden für
hybrid arbeitende Künstler*innen. S. 8—22
↘ t1p.de/036la
Mangold, Lisa (2023): Fundamentales Umdenken
nötig. In: Politik & Kultur. Zeitung des Deutschen
Kulturrates, 31.01.2023 ↘ t1p.de/0dhzw
Statistisches Bundesamt (2021): 444.250 Solo-
Selbstständige in Kulturberufen im Jahr 2019.
Pressemitteilung Nr. 223 vom 11.05.2021
↘ t1p.de/a4z1e
Den Hunger beenden,
Ernährungssicherheit und
eine bessere Ernährung
erreichen und nachhaltige
Landwirtschaft fördern
2
Kein Hunger
036

bau als globale Antwort


Ökologischer Land-

Dr. Felix zu Löwenstein


auf den Hunger
ist Landwirt, er gehört seit 2020 dem Bio­
ökonomierat der Bundes­regierung an; er war
von 2002 bis 2021 Vorstandsvorsitzender
des Bund Ökologische Lebensmittel­wirtschaft;
er ist Vorstandsmitglied des Forschungsins­-
titut für biolo­gischen Landbau.
in der Welt
Kein Hunger 037

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat eine weltweite Ernährungskrise auf furcht-
bare Weise verstärkt, die sich bereits im zweiten Jahr der Covid-Pandemie abzeich-
nete. Von Dezember 2021 bis September 2022 stieg die Zahl der akut Hungern-
den — also jener Unterkategorie der Hungernden, die dem »Verhungern« am
Nächsten steht — von 276 Millionen auf 345 Millionen an. 2019 hatte die Zahl noch
2
135 Millionen betragen.1 Ein weiteres Mal wurde sichtbar, dass die Produktivität land-
wirtschaftlicher Anbausysteme keineswegs den größten Einfluss auf die
1 Nach Auskunft
von Martin Frick, Hunger-Statistik hat. Kriegerische Auseinandersetzungen in und zwischen
Welternährungs­ Staaten, soziale Ungleichheiten, mangelnder Zugang zu Nahrung aufgrund
programm zu geringer Kaufkraft, das Zerbrechen von Lieferketten und in wachsendem
Umfang die Folgen der Klimakrise sind die entscheidenden Faktoren.
Wie schon im Jahre 2008 waren auch 2022 die explosionsartig gestiegenen Lebensmit-
telpreise verantwortlich für die Zuspitzung der Hungerkrise. Selbst in unseren Volks-
wirtschaften stellt die Inflation immer mehr Menschen vor die Frage, wie sie sich eine
ausgeglichene Ernährung leisten können. Dort, wo die Haushaltsausgaben für Ernäh-
rung schon vorher weit über die Hälfte des Einkommens ausgemacht haben, bedeute-
te die Verdoppelung der Preise von Grundnahrungsmitteln den Unterschied zwischen
essen können und hungern. Diese Preise waren jedoch zum Zeitpunkt ihres drama-
tischsten Anstieges nicht die Folge zu geringer Lebensmittelmengen, sondern vor al-
lem der Knappheitserwartung der Märkte. Aus der Ukraine erwartete man einen Min-
derexport von ca. 30 Millionen Tonnen Getreide. Dass in der Europäischen Union 200
Millionen Tonnen Getreide verfüttert werden oder in den USA 120 Millionen Tonnen
Mais zu Ethanol verarbeitet werden, zeigt, welche Hebel man hätte bedienen müssen,
um dem entgegenzusteuern.
Bei der Diskussion über die Frage, mit welcher Art von Landwirtschaft Ernährungssicher-
heit für eine weiter ansteigende Weltbevölkerung herstellbar ist, ist es unabdingbar,
einen Blick darauf zu werfen, wie wir mit dem umgehen, was auf dem Acker und im
Stall erzeugt wird. Dass darüber hinaus bis zu 20 Prozent der Lebensmittel noch nicht
einmal die Ladentheke erreichen und weitere 30 Prozent in unseren Haushalten weg-
geworfen werden, verstärkt die Wahrnehmung, dass unser zentrales Problem nicht die
Produktionsmenge ist. Auch in den wenig entwickelten Volkswirtschaften des Südens
sind die Verluste ähnlich hoch. Dort handelt es sich unter dem Sammelbegriff »Nach-
ernte-Verluste« um Folgen schlechter Infrastruktur in Lagerung, Transport, Kühlketten
und Vermarktungseinrichtungen.
Die entscheidende Frage ist deshalb: Wie müssen wir wirtschaften, damit die Produk-
tionsgrundlagen der Landwirtschaft nicht weiter geschädigt werden: die biologische
Vielfalt, die Fruchtbarkeit der Böden, die Funktionsfähigkeit von Wasserkreisläufen
und die Stabilität des Klimas? Wenn man sie als Ressourcen für die Zukunft unserer
Ernährung begreift, dann muss man der unbestreitbar hoch produktiven industriell
organisierten Landwirtschaft, die bei uns zum Normalfall geworden ist und deshalb
»konventionell« genannt wird, attestieren, dass sie erbärmlich ineffizient ist. Denn der
Verbrauch und die Schädigung dieser Ressourcen ist unakzeptabel hoch. An einem
grundlegenden Umbau unseres Agrarsystems und mit ihm der Art und Weise, wie wir
uns ernähren und wie unser Konsum natürliche Ressourcen beansprucht, führt kein
Weg vorbei. Wir müssen, wie mir das einmal ein kluger Mensch auseinandergesetzt
hat, eine Methode der Landwirtschaft finden, die wir die nächsten 10.000 Jahre so
weiter betreiben können. Diesen Horizont hatte er gesetzt, weil unsere Ackerbauge-
schichte ungefähr so weit zurückreicht.
038

Dieser Anforderung genügt das konventionelle Agrarmodell nicht. Seine Auswirkungen


auf die genannten Produktionsgrundlagen, die seine eigenen sind, sind vielfach be-
schrieben. Selbst die von der Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Amtszeit einge-
setzte Zukunftskommission Landwirtschaft (ZkL), in der ich 2021 mitarbeiten durfte,
hat — unter der Zustimmung auch derjenigen Kräfte aus Agrarindustrie und land-
wirtschaftlichem Berufsstand, die manche für völlig reformunwillig gehalten hatten —
deutlich ausgesprochen, dass es einer umfassenden Transformation bedarf.
Aber ist der ökologische Landbau, für den ich in der ZkL saß, enkeltauglich mit Blick auf
diesen weiten Horizont? Ganz sicher auch noch nicht. So fahren auch unsere Trakto-
ren noch mit fossiler Energie. Und auch die Nährstoffe, die mit unseren Produkten vom
Hof fahren, kehren nicht als Dünger zurück — was aber die Vorausset-
2 Sanders, Jürn; Heß,
zung für einen vollkommen geschlossenen Kreislauf wäre. Ob der Öko- Jürgen (Hrsg.) (2019):
landbau aber auf dem Weg dazu, 10.000 Jahre geeignet zu sein, weiter Thünen-Report 65. Johann
ist, braucht nicht mehr diskutiert zu werden. In seiner Studie »Leistun- Heinrich von Thünen-
gen des ökologischen Landbaus für Umwelt und Gesellschaft«2 stellte Institut, Braunschweig
↘ t1p.de/ywf8
2019 das Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsins-
titut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, eine Metastudie vor, in
der weltweit 528 Studien mit 2.816 Vergleichspaaren ausgewertet wurden. Sie zeigt
deutlich, dass Bio vorteilhafter auf allen möglichen Feldern des Umwelt- und Ressour-
censchutzes ist. Wenn die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag den Ausbau des ökologi-
schen Landbaus mit ehrgeizigen Zielen unterlegt hat und ihn als Zielbild definiert, so
beruht das also nicht auf einem Verhandlungserfolg grüner Klientelpolitik, sondern
auf soliden Daten.
Die Gegenargumente im wissenschaftlichen Diskurs ziehen diese Wirkungen in der Re-
gel nicht infrage. Sie bringen nur vor, man dürfe sie nicht in Bezug auf die bewirt-
schaftete Fläche setzen. Die Bezugsgröße müsse vielmehr der Ertrag sein. Wenn man
also, sagen wir, unter Bio-Bedingungen mehr Braunkehlchen findet, dann dürfe man
das nicht pro Hektar zählen, sondern müsse es auf die Tonnen Ertrag beziehen. Denn
schließlich ernte man auf Bioflächen viel weniger. Und weil man dann, um die gleiche
Menge zu ernten, mehr Fläche bräuchte, müsse man zusätzlich beackern, was heute
dem Naturschutz dient, und das wäre für die Artenvielfalt sehr viel schlechter.
Nun hat die Thünen-Studie sehr sauber argumentiert, weshalb sie bei der einen Größe
die Fläche, bei der anderen den Ertrag als Bezugsgröße gerechnet hat. Aber selbst
wenn man davon absieht, beinhaltet diese Argumentation einen argen Denkfehler.
Sie unterstellt nämlich, dass alles gleich bleibt oder bleiben muss, und setzt damit
das, was der Wissenschaftler eine »Ceteris paribus«-Bedingung nennt. Das ist aber
eine Bedingung, die nicht funktioniert. So wie wir nicht seelenruhig in Zukunft genau-
so viel Energie verbrauchen können wie bisher — nur dann erneuerbar, so ist das mit
unserer Nahrung auch. Wir können nicht weiterhin 60 Prozent des Getreides (in der
EU) in den Futtertrog werfen, 20 Prozent unserer Ackerfläche für Biogas-Mais nutzen
und in unbegrentzem Umfang Lebensmittel verschwenden. Würden alle Erdenbewoh-
ner auch nur 75 Prozent der Fleischmenge des Durchschnitts-Deutschen konsumie-
ren, wäre das gesamte auf der Welt geerntete Getreide verfüttert. Fürs täglich Brot
bliebe nichts mehr. Wer würde behaupten wollen, dass das möglich ist — mit wel-
cher Form von Landwirtschaft auch immer! Und dass wir auf 200 Hektar Biogas-Mais
so viel Energie erzeugen wie auf 14 Hektar Photovoltaikfläche oder 0,3 Hektar Auf-
stellfläche eines Windparks samt Zuwegung — das zeigt, dass diese absurd flächen-
schluckende Form der Energieerzeugung spätestens dann zu Ende ist, wenn wir das
Kein Hunger 039

Energiespeicherproblem gelöst haben. Und schließlich: Wollen wir wirklich ein Men-
schenrecht auf Lebensmittelverschwendung geltend machen, um weiterhin die Pro-
duktion von 200 Prozent zu rechtfertigen, wenn wir 100 Prozent essen wollen?
Nein — wir werden beides ändern müssen. Wie wir produzieren und wie wir konsu-
mieren. Die gute Nachricht: Dafür braucht es weder Verbote, Fleischgutscheine oder
2
auch nur moralische Druckmittel. Wir müssen nur dafür sorgen, dass die Preise die
ökologische Wahrheit sprechen. Wir müssen bei unseren Lebensmitteln das mitbezah-
len, was wir heute leichten Herzens Umwelt, sozial Schwachen, der Bevölkerung ferner
Kontinente und künftigen Generationen in Rechnung stellen. Damit verändern sich die
Preise unserer Lebensmittel. Und mit ihnen die Konsummuster. Besichtigen kann man
diesen Zusammenhang in der Hauptstadt des Königreiches Dänemark. Dort hat 2007
der Stadtrat beschlossen, bis 2015 alle von der Stadt verantworteten Küchen auf min-
destens 90 Prozent Bio umzustellen. Das ist gelungen. Heute erfüllen täglich 88.000
Mahlzeiten in Schulen, Kindergärten, Altenheimen, Obdachlosenasylen, Altersheimen
oder im Rathaus diese Anforderung. Spannend ist, dass die ebenfalls 2007 beschlos-
sene Randbedingung war, dass die Kosten nicht wesentlich steigen dürften. Wie geht
das? Der Frage durfte ich in Kopenhagen 3 Tage nachgehen. Das Rezept ist simpel:
weniger (nicht kein!) Fleisch, mehr Frische, weniger Convenience und weniger Abfall.
Das zu erreichen ist keineswegs trivial. Aber was für uns hier zählt: Bewirkt haben es
die Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage — ganz von selbst.
Das macht sozialen Ausgleich nötig, denn es ist ein Menschenrecht, ausreichend und
ausgewogen essen zu können. Nur gibt es keine dümmere — und teurere — Methode
dafür, Lebensmittel zulasten der Umwelt billig zu machen. Denn weltweit leiden ge-
rade die Armen als Erste unter den Folgen der Umweltzerstörung.
Doch auch wenn der entscheidende Parameter für die Frage »Langt es für alle?« in unse-
ren Konsummustern liegt und die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaftssysteme davon
abhängt, ob es uns gelingt, sie hin zu zirkulären, die Stoffe im Kreislauf haltenden Mo-
dellen umzubauen, bleibt es von Relevanz, wie es um die Produktivität des Zielbildes
Ökolandbau steht. Wir wissen seit einer großen Metastudie an der Universität Berkeley,
dass die Ertragsunterschiede, weltweit betrachtet, bei etwa 20 Prozent liegen — ein
Wert, der sich verringert, wenn man nicht einzelne Kulturen (z. B. Reis mit Reis), son-
dern ganze Anbausysteme und Fruchtfolgen miteinander vergleicht. Es geht hier um
einen Durchschnitt zwischen großen Ertragsunterschieden in Intensiv-Produktionsge-
bieten Mitteleuropas, geringen Unterschieden in der extensiveren
3 Siehe auch: zu Löwen-
stein, Felix (2017): Food Crash. Produktion, beispielsweise im Mittleren Westen der USA, und sogar
Wir werden uns ökologisch höheren Bio-Erträgen in vielen Regionen des Globalen Südens. Die
ernähren oder gar nicht mehr Forscherinnen und Forscher aus Berkeley weisen zu Recht darauf
Drömer-Knaur, München
hin, dass seit Jahrzehnten nur einstellige Prozentsätze von Mitteln
in systemische, ökologische Forschungsansätze investiert wurden,
der Löwenanteil aber in konventionelle, auf Agrarchemie beruhende Anbausysteme.
Sie halten deshalb eine Verringerung der Ertragslücke bei entsprechendem Einsatz
von Forschungsmitteln für wahrscheinlich.3
Die Frage, ob es bei 100 Prozent Bio für alle reicht, ist aber insofern wirklichkeitsfremd,
als wir diesen Zustand ohnehin in keiner Weise vor uns haben. Selbst wenn die EU die
Ziele der »Farm-to-Fork-Strategie«, nämlich 25 Prozent Bio, erreicht, dann sind immer
noch 75 Prozent konventionell. Und die können angesichts der Herausforderungen auf
keinen Fall weiter so wie bisher betrieben werden. Wenn die konventionelle Landwirt-
schaft eine grundstürzende Transformation vor sich hat, dann braucht es den Öko-
040

landbau noch viel dringender. Nicht nur wegen der beschriebenen Wirkungen auf den
von ihm bewirtschafteten Flächen und in seinen Ställen. Sondern weil er darüber hin-
aus Lösungen entwickeln muss, ohne die diese Transformation nicht funktioniert. Die-
se Lösungen findet er nicht, weil Biobauern schlauer wären. Sondern weil seine klaren
Beschränkungen ihn dazu zwingen. Weil er die bequemen Abkürzungen nicht nutzen
kann, welche die Agrarchemie zur Verfügung stellt.
In auch zukünftig von kleinbäuerlicher Landwirtschaft und extremen Produktionsbedin-
gungen geprägten Weltgegenden — ob in Äthiopien, auf den Philippinen, Peru oder
Indien — geschieht das schon in großem Maßstab. Selbst dort, wo Marktzugänge für
zertifizierte, als Bio gekennzeichnete Produkte nicht bestehen, findet dieser Umbau
statt. Meist genügt es, das staatliche Geld nicht mehr in die Subventionierung von
Kunstdünger und Pestiziden, sondern in Beratung und Know-how zu investieren. Wer
diesen Weg gegangen ist, dem konnten die Preisexplosionen bei Düngemitteln, die in-
folge der Energiepreissteigerung die letzten Monate geprägt haben, nichts anhaben.
Kein Hunger 041

2
042

­steigen — das SDG 2


Die Hungerzahlen
wird verfehlt!

Dr. Dagmar Pruin


ist Präsidentin von Brot für die Welt und
der Diakonie Katastrophenhilfe und Vorstands-
vorsitzende des Evangelischen Werkes für
Diakonie und Entwicklung. Sie ist Mitglied im
Aufsichtsrat des Gemeinschaftswerkes der
Evangelischen Publizistik (GEP), im Kuratorium
der Deutschen Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit (GIZ) und im Kuratorium
der Evangelischen Hoch­schule Berlin. Sie wur­
de von Landwirtschaftsminister Özdemir in
die Zukunfts­kommission Landwirtschaft des
Bundesministerium für Ernährung und Land-
wirtschaft berufen.
Kein Hunger 043

Weltweit sollen weniger Menschen an Hunger leiden — dieses Ziel hat sich die Staaten-
gemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach gesetzt. Tatsächlich gibt es
inzwischen Fortschritte. Nach Angaben der Welternährungsorganisation der Ver-
einten Nationen FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) 2
gelang es in 25 Ländern, die Anzahl der hungernden Menschen seit 1990 zu halbieren.
Trotzdem geht der weltweite Trend in eine andere Richtung: Die Zahl der hungernden
Menschen weltweit steigt wieder an, besonders in den Krisenjahren der Covid-19 Pan-
demie und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Die Weltgemeinschaft
entfernt sich somit immer weiter von dem im Nachhaltigkeitsziel 2 (SDG 2) formulier-
ten Ziel, eine Welt ohne Hunger bis 2030 zu erreichen.
828 Millionen Menschen leiden aktuell an chronischem Hunger. Das heißt: jeder zehnte
Mensch hungert — in den Ländern Afrikas südlich der Sahara sogar jeder fünfte. 149
Millionen Kinder sind chronisch unterernährt. Das sind die Zahlen des letzten FAO-
Berichts 2022 zur globalen Ernährungssituation. Zum ersten Mal konstatierte die FAO
in einer Detailanalyse, dass das SDG2 Ziel nicht erreicht werden wird. Sie geht davon
aus, dass bis 2030 bestenfalls die Zahl der Hungernden auf 650 Millionen zurückge-
hen wird.
2,3 Milliarden Menschen können sich keine ausgewogene Ernährung mit Gemüse, Obst,
Milch und Eiweißprodukten leisten. Dieser qualitative Mangel an Nahrung — im Ge-
gensatz zum quantitativen Mangel an Nahrung — wird auch als »Stiller Hunger« oder
»Versteckter Hunger« bezeichnet. Gleichzeitig gibt es weltweit über 2 Milliarden Über-
gewichtige und Fettleibige, mit steigender Tendenz in allen Regionen der Welt. Hun-
ger ist das größte Gesundheitsrisiko weltweit. Wie viele Menschen an Hunger sterben,
ist nicht genau erfasst. Schätzungen gehen von jährlich 9 Millionen Hungertoten aus.

Genug für alle — aber nicht überall


Dabei wären genug Lebensmittel vorhanden, um alle Menschen weltweit satt zu ma-
chen. Die Lagerbestände für Getreide sind trotz der Drohungen Russlands, die Aus-
fuhren am Schwarzen Meer zu blockieren, so hoch wie sie in den vergangenen 50
Jahren nie waren. Auch die Preise scheinen sich 2023 wieder auf Vorkrisenniveau ein-
zupendeln. Dennoch haben die Krisen der vergangenen Jahre wieder einmal offenge-
legt, dass die bisherigen Strategien der Hungerbekämpfung von Staaten, Institutionen
und Ernährungs- und Landwirtschaftsindustrie nicht zielführend sind — im Gegenteil:
in Krisenzeiten verschärfen sie Hunger und Armut.
In erster Linie gilt das in Ländern, die auf massive Nahrungsimporte angewiesen sind,
aber ebenso für Staaten, die für ihren Getreideanbau — besonders Mais- und Reis-
anbau — von importierten Betriebsmitteln (Saatgut, Dünger, Pestizide, Maschinen)
abhängig sind. Die extremen Preissteigerungen für Energie und Nahrungsmittel wer-
den zumindest in 2023 in armen Ländern zu geringeren Ernteerträgen führen. Durch
nach wie vor hohe Treibstoffkosten bleiben die Preise auch für lokal angebaute Nah-
rung hoch. So ist 2023 mit einer weiteren Steigerung der Zahl hungriger Menschen
weltweit zu rechnen.

Endlich Lehren aus den Hungerkrisen ziehen


Wann, wenn nicht jetzt, werden endlich Lehren daraus gezogen, dass Hunger nicht
allein durch Mengensteigerung auf Basis einer intensiven Landwirtschaft beseitigt
werden kann. Das Menschenrechtrecht auf Nahrung, das derzeit fast 3 Milliarden
Menschen verwehrt wird, beinhaltet mehr als den Zugang zu Nahrungskalorien. Es
044

beinhaltet eine vielfältige und abwechslungsreiche Ernährung, die langfristig gesund


hält. Daher nützt es den Hungernden wenig, wenn festgestellt wird, dass laut FAO
noch nie so viel Nahrung produziert wurde wie heute. Alle geernteten Pflanzen zu-
sammen liefern rein rechnerisch etwa das 2,5-fache der zur Ernährung benötigten
Kalorienmenge. Doch das parallele Ansteigen der Produktions- und Lagerbestände
einerseits und der Zahl hungernder Menschen andererseits zeigt deutlich, wie stark
Agrarproduktion und Hunger heute entkoppelt sind und dass Hunger mehr denn je
eine Folge von extremer Verteilungsungerechtigkeit ist. Viele Nahrungspflanzen ge-
hen durch industrielle und energetische Nutzung (Bioökonomie), Fleischproduktion
und Verarbeitungsverluste für die direkte menschliche Ernährung verloren. So die-
nen heute nur 47 Prozent der weltweiten Getreideernte der menschlichen Ernährung.

Ursachen- statt Symptombekämpfung:


Transformation der Ernährungssysteme
Schon lange macht Brot für die Welt mit seinen Partnerorganisationen darauf auf-
merksam, dass Menschen in den meisten Fällen nicht deswegen hungern, weil es zu
wenig Lebensmittel gibt, sondern weil sie arm sind, ausgebeutet werden, oder kei-
nen Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Land, Wasser oder Saatgut haben. Der
UN-Welternährungsbericht nennt soziale und wirtschaftliche Ungleichheit neben ge-
waltsamen Konflikten und den Auswirkungen der Klimakrise als wesentliche Hunger-
treiber. In den vergangenen Jahren ist die soziale Ungleichheit weiter angestiegen —
und mit ihr die Zahl der Hungernden.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf, da die bisherigen Versuche, den Hunger zu
überwinden, gescheitert sind. Die Ursachen dafür müssen identifiziert und die welt-
weite Agrar- und Ernährungspolitik neu ausgerichtet werden. Dabei geht es also nicht
in erster Linie um eine Produktivitätssteigerung um jeden Preis und überall. Ernährung
sollte als öffentliches Gemeingut betrachtet und nicht den Weltmärkten überlassen
werden. Nur dann können Menschenrechte und die Verpflichtung der Staaten, diese
zu verwirklichen, als Leitbild für die Transformation von Ernährungssystemen stehen.
Oft werden die besonders von Hunger betroffenen Gruppen, wie kleinbäuerliche Er-
zeugerinnen und Erzeuger, Landlose, Hirten- und Fischereigemeinschaften, Landar-
beiterinnen und Landarbeiter, indigene Gemeinden und arme Menschen in Städten
nicht ausreichend in politische Entscheidungen zur ländlichen Entwicklung und Hun-
gerbekämpfung einbezogen. Auch dies verletzt ihr Recht auf Nahrung. Ansätze, die
einseitig auf Ertrags- und Produktivitätssteigerungen durch technischen Fortschritt
basieren, blenden strukturelle Probleme und Gerechtigkeitsfragen im Agrar- und Er-
nährungssystem wie den ungerechten Zugang zu Land, Agrarberatung und Techno-
logien, den unfairen Agrarhandel oder die negativen Auswirkungen von chemischen
Düngemitteln und Pestiziden aus.

Krisen werden bleiben — Krisenfestigkeit ist das Ziel


Immer drastischer zeigen sich die Ungerechtigkeiten und grundlegenden Probleme
der industriellen Landwirtschaft und des konzerndominierten Ernährungssystems
auch für das Erreichen anderer Nachhaltigkeitsziele — vor allem ihre Auswirkungen
auf die globale Klima- und Biodiversitätskrise. Der dramatische Verlust an fruchtba-
ren Böden und Sortenvielfalt sowie Wasserknappheit und klimabedingte Extremwett-
ereignisse werden Hunger und Armut weiter verstärken. Ohne eine tiefgreifende Ag-
rar- und Ernährungswende werden sich weder die SDGs noch die Ziele des Pariser
Kein Hunger 045

Klimaabkommens erreichen lassen. Dass bei der Verabschiedung der SDGs und ihrer
Unterziele darauf verzichtet wurde, sie mit den rechtlichen Staatenverpflichtungen
aus der UN-Menschenrechtscharta oder anderen völkerrechtlichen Verpflich-
tungen zu verknüpfen, zeigt sich nun als deren große Schwäche. Ihr freiwilliger
Charakter und die Hoffnung auf Partnerschaften mit der Industrie, wie sie SDG 17
2
formuliert, haben sich nicht erfüllt und das, obwohl, wie das Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit in einer Studie 2021 betonte, SDG 2 mit einem Be-
trag von jährlich 40 Milliarden Euro zu erreichen wäre. Doch das würde auch nicht
helfen, wenn die Rechte von ausgegrenzten und benachteiligten Menschen nicht an
erster Stelle steht. Verletzliche (vulnerable) Gruppen müssen als Rechteinhaberinnen
und -inhaber an der Erarbeitung von Förderansätzen und Strategien beteiligt werden,
etwa über Ernährungsräte auf dem Land und in den Städten. Ein Positivbeispiel auf
globaler Ebene ist der Welternährungsrat CFS, in dem Vertreterinnen und Vertreter
von Kleinbäuerinnen, Plantagenarbeitern und anderer von Hunger betroffenen Grup-
pen bei Strategien zur Hungerbekämpfung direkt mitreden können. Die Legitimität
und Inklusivität des CFS wird jedoch von vielen Regierungen zunehmend in Frage ge-
stellt. Hier wäre aber der Schlüssel sowohl für einen effektiven Krisenmechanismus,
damit Erfolge in der Hungerbekämpfung nicht wieder zunichtegemacht werden, aber
auch, um die Ernährungssysteme so zu verändern, dass ein vielfältiges und gesundes
Nahrungsangebot überall und für alle erschwinglich ist.

Agrarökologie und Ernährungssouveränität


als Schlüssel der Hungerbekämpfung
Die Prinzipien der Agrarökologie sind das Kernelement für den Aufbau von produkti-
ven, ökologischen, gerechten und widerstandsfähigen Ernährungssystemen. Im Mit-
telpunkt steht dabei ein ganzheitlicher Ansatz, der die Erfordernisse der landwirt-
schaftlichen Familienbetriebe, der Gemeinden und der Ökosysteme berücksichtigt.
Agrarökologie fördert biologische Kreisläufe, damit weniger und langfristig keine Mi-
neraldünger, Pestizide oder fossilen Brennstoffe benötigt werden. Ziele sind die Stär-
kung lokaler Strukturen, höhere Erträge, mehr Ertragsstabilität, Ernährungsdiversität
und weniger Abhängigkeit von externen Betriebsmitteln, um die Gefahr der Verschul-
dung einzudämmen. Bei agrarökologischen Ansätzen wird vielfältiges Saatgut einge-
setzt, die Bodenfruchtbarkeit verbessert und Humus im Boden aufgebaut. Dies bringt
viele Vorteile gerade in Zeiten des Klimawandels: stabilere Ernten, weniger Krank-
heits- und Schädlingsdruck sowie eine verbesserte Wasserregulierung und mehr ge-
speicherter Kohlenstoff im Boden. Partnerorganisationen von Brot für die Welt ha-
ben diesen Ansatz in den vergangenen 40 Jahren mitentwickelt, systematisiert, und
in internationale Prozesse wie das CFS oder die UN-Klimaverhandlungen eingebracht.

Fairer Handel und Soziale Sicherungssysteme


Ein solches holistisches Agrar- und Ernährungssystem bedarf aber eines handelspo-
litischen Außenschutzes. Der forcierte Abbau von Schutzzöllen und die Freihandels-
politik haben viele Länder des globalen Südens abhängig von Nahrungsmittelimpor-
ten und Weltagrarmärkten gemacht. Das hat lokale Ernährungssysteme zerstört und
kleinbäuerliche Erzeugerinnen und Erzeuger sowie Viehhalterinnen und -halter ver-
drängt, die für den lokalen Markt produzierten. Gleichzeitig hat die Macht von mul-
tinationalen Konzernen zugenommen. Sie kontrollieren wichtige Märkte vom Acker
bis zur Ladentheke. Zudem schafft die Politik Anreize für bäuerliche Erzeugerinnen
046

und Erzeuger, sich auf einzelne Agrarprodukte für den Export zu spezialisieren, statt
die einheimische Bevölkerung mit vielfältigen Lebensmitteln zu versorgen. Gerade in
der Corona-Pandemie und in der Preiskrise aufgrund des russischen Angriffs auf die
Ukraine zeigt sich, wie wichtig eine stabile und krisensichere Versorgung mit gesun-
den Lebensmitteln ist. Es müssen daher — bei uns und weltweit — politische Anreize
für regionale und ökologische Wertschöpfungsketten mit existenzsichernden Prei-
sen geschaffen werden.
Nicht zuletzt ist das SDG 2 stark mit SDG 1, der Abschaffung von Armut verknüpft. Die
internationale Gemeinschaft hat sich dazu verpflichtet, sozialen Basisschutz für alle
Menschen sicherzustellen. Nur 0,23 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts wä-
ren notwendig, um soziale Grundsicherung in den 57 Ländern mit niedrigstem Ein-
kommen sicherzustellen und damit allen Menschen in diesen Ländern das Recht auf
Nahrung zu gewähren. Doch dieses Ziel wird bislang verfehlt. Noch immer verdienen
viele Menschen zu wenig Geld, um sich und ihre Familien zu ernähren, insbesonde-
re jene, die im informellen Sektor arbeiten, im Arbeitsleben diskriminiert werden und
aufgrund einer Behinderung oder ihres Alters keine Arbeit finden oder nicht mehr ar-
beiten können. Deshalb muss man das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf
Nahrung zusammen betrachten. Damit alle Menschen Zugang zu angemessener und
ausreichender Nahrung haben, sind rechtebasierte, universelle soziale Sicherungs-
systeme unabdingbar.
Kein Hunger 047

2
Ein gesundes Leben für
alle Menschen jeden Alters
gewährleisten und ihr
Wohlergehen fördern
3
Gesundheit und
Wohlergehen
050

die Transformation
Wir alle müssen
­gestalten

Prof. Dr. Claudia Traidl-Hoffmann


ist Mitglied im Wissenschaflichen Beirat der
Bundesregierung Globale Umweltveränderun­
gen (WBGU); seit Sommer 2020 ist die z­ u-
dem Mitglied der Kommission »Environmental
Public Health« des Robert Koch Instituts (RKI);
sie ist Direktorin des I­ nstituts für Umwelt­
medizin bei Helmholtz Munich und Inhaberin
des Lehrstuhls für Umweltmedizin an der
­Universität Augsburg.
Gesundheit und Wohlergehen 051

»Gesundheit und Wohlergehen!« Das ist kein guter Wunsch zum Geburtstag und nicht
das »Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage« eines Märchens. »Ein gesundes Le-
ben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten« — auch das klingt nach Utopie und
ist doch das, was mich als Forscherin und Ärztin antreibt. Ich möchte Ärzte arbeits-
los machen. Doch welcher Schritte bedarf es, um diesem Ziel näher zu kommen? Wie
können wir jeden Tag nachhaltiger und gesünder leben? In unserer krisenge-
schüttelten Zeit erscheinen die Herausforderungen größer denn je. Unsere Welt
ist eben erst dabei, die Folgen der Corona-Pandemie zu verdauen, und steckt doch
3
bereits mitten in der vielleicht größten Krise, der die Menschheit bisher gegenüber-
stand: dem Klimawandel.1
Unser Planet hat Fieber, die menschengemachte Klimakrise gefährdet nicht sofort und
per se jegliches Leben auf unserem Planeten, aber definitiv das, das wir bislang ken-
nen und vor allem das unserer zwar hoch anpassungsfähigen, aber dennoch sehr vul-
nerablen Spezies. Viele Menschen sterben, weltweit gesehen, bereits heute aufgrund
des Klimawandels, hierzulande hallt die Flutkatastrophe nach. Allein
1 Beerheide, Rebecca
(2022): Klimawandel: Deutschland verzeichnete 2022 laut RKI-Schätzungen rund 4.500
Die mit Abstand größte Krise. Hitzetote.2 Unzählige mehr leiden und können ihre Gesundheit auf-
In: Deutsches Ärzteblatt, grund verschiedenster, durch Klimaveränderungen veränderter Um-
119 (45): A-1946/B-1618
welteinflüsse nicht erhalten. Der Klimawandel beeinflusst das gan-
↘ t1p.de/z5ha7
ze System Mensch wie auch das ganze System Erde, auch bei uns in
2 ↘ t1p.de/epr71
Mitteleuropa und auch schon jetzt. Volkskrankheiten wie Lungen-
3 Chen, Kai; Breitner,
erkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen,3 Schlaganfall oder
Susanne; Wolf, Kathrin; et al.
(2019): Projection of Tem-
Diabetes treten häufiger auf. Hinzu kommen Infektionen oder vek-
perature-Related Myocardial torvermittelte Erkrankungen, die bislang in unseren Breitengraden
Infarction in Augsburg, nicht vorkamen oder gar gänzlich unbekannt waren. Die Malaria-
Germany: Moving on From mücke ist bei uns heimisch, noch hat sie den Erreger nicht im Ge-
the Paris Agreement on
Climate Change. In: Deut-
päck. Es gibt vermehrt für uns schädliche Erreger in Gewässern. In
sches Ärzteblatt, 116 (31—32), der Ostsee überleben nun Vibrionen den Winter, die Infektionen von
S. 521—527 ↘ t1p.de/jx6we Wunden verursachen können. Die Liste der Erkrankungen, die durch
den Klimawandel begünstigt oder verursacht werden, ist lang.
Vor allem umweltbedingte, chronisch entzündliche Erkrankungen werden durch Hitze-
perioden getriggert oder verstärkt. Folgeerkrankungen der Diabetes, wie chronische
Wunden, verschlechtern sich bei Hitze, die Heilung der Patienten in Krankenhäusern
verschlechtert sich. Aber auch mentale Erkrankungen nehmen zu: Zukunftsängste,
Depressionen, aber auch Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Demenz und Alzheimer.
Ein letzter großer Punkt sind die Allergien, die durch Veränderung von Ökosystemen
häufiger und stärker auftreten. Pollen fliegen länger im Jahr, wir haben mehr Pollen
pro Tag, sie werden allergener, und auch neue Pollen finden in wärmerem Klima zu
uns. Viele Volkskrankheiten nehmen also massiv zu. Die Diagnose ist eindeutig: Die
Herausforderung erscheint bisweilen unbezwingbar, die 1,5 Grad für Europa bereits
unerreichbar. Was also tun?
Eine Quintessenz aus der ernüchternden Bestandsaufnahme ist diese: Es gibt nieman-
den und nichts auf unserem schönen Planeten, der jetzt nicht gefragt ist. Wir alle müs-
sen uns aufmachen und tun, was im Rahmen unserer Möglichkeiten maximal möglich
ist. Wir können als Menschen auf der Erde weiterhin auf das blicken, was uns trennt
und unterscheidet — West gegen Ost, Nord gegen Süd, Naturwissenschaften vs. Geis-
teswissenschaften, Mensch versus Umwelt, Ich gegen Du — und dabei gemeinsam un-
tergehen oder — gemeinsam und jeder für sich anpacken, mag der eigene Wirkungs-
052

radius auch noch so klein erscheinen. Die Klimakrise ist existenziell, aber sie bietet
auch die Möglichkeit für eine Transformation und Veränderung, die für uns Menschen
und uns als Menschheit tiefgreifenden und nachhaltigen Wandel ermöglicht, sogar
Wachstum in ein neues Miteinander, in eine neue Sicht auf uns selbst und auf das,
was unser Leben auf diesem Planeten ausmacht. »Everything is connected to every-
thing else« — Barry Commoners erstes von 4 Gesetzen der Ökologie4 ist
4 Commoner, Barry
viel zitiert, um die Folgen unseres Handelns zu illustrieren. Es bedeutet (1971): The Closing Circle —
aber auch: Jede Tat hat Wirkung, nichts, was wir tun, ist umsonst, jeder Nature, Man, and
Gang zum Bäcker, statt mit dem Auto zu fahren, hat Wirkung — nicht Technology. New York
nur eine Einsparung an CO₂, sondern auch als Vorbild.
Mit Blick auf die Forschung und die Medizin gibt es Ansatzpunkte, die einer Transforma-
tion die Richtung weisen können. Allem voran ist in meiner Naturwissenschaft ein Kul-
turwandel vonnöten: Weg von einer Medizin, die sich allein mit Krankheit beschäftigt
und diese möglichst erfolgreich bekämpft, hin zu einer salutogenetischen Sicht: Ge-
sundheit und deren Erhalt sollte vordringlichstes Anliegen der Medizin sein. In diesem
Sinne wird Prävention zu dem Aspekt, auf dem unser Hauptfokus liegen sollte. Die
Umweltmedizin steht hier an einer Schlüsselposition und kann eine Vorreiterrolle ein-
nehmen, wenn sie sich in umfassendem Sinne als solche begreift. Als eine ganzheit-
liche, integrative Herangehensweise, die mithilfe modernster Methodik, Analysever-
fahren und hoher Rechnerleistung wertfrei nach den Faktoren sucht, die uns krank
machen, und besonders auch nach denen, die uns gesund erhalten. So verstanden,
kann Umweltmedizin uns — ganz im Sinne des Nachhaltigkeitszieles — helfen, gesund
zu bleiben und eine Welt zu gestalten, in der es sich gesund sein lässt.
Das beginnt bei jedem Einzelnen und zieht sich durch alle Bereiche unseres Lebens, bis
hin zu den politischen Weichenstellungen auf nationaler und internationaler Ebene.
»Health in All Policies« ist ein Ansatz, der angesichts der durch den Klimawandel her-
vorgerufenen Bedrohung gefordert ist. Nachhaltigkeit und Gesundheit sollten unser
persönliches, aber auch das politische Handeln bestimmen.
Im Großen wie im Kleinen aber gestaltet sich Veränderung sehr träge. Dass Rauchen der
Gesundheit schadet, ist hinlänglich bekannt. Schrecklichste Fotos springen uns von
den Packungen der Zigaretten ins Auge, trotzdem raucht noch jeder vierte Mensch in
Deutschland. Wir als Einzelne können viel tun: uns bewegen, gesund ernähren, nicht
rauchen, bedacht konsumieren. Dennoch hat das individuelle Tun allein auch Gren-
zen. Wir alle möchten in Umfeldern leben, die grün sind, in denen wir saubere Luft at-
men können und Nahrungsmittel zu uns nehmen, die gesund und ohne Plastikanteile,
Weichmacher oder Schadstoffe sind.
Aber dies ist nur möglich, wenn wir diese Umfelder auch schaffen — hier ist nicht nur
die Städteplanung gefragt, auch die Politik. »Health in All Policies«, »Sustainability in
All Policies« — das ist teuer, aber wir können sicher sein, die Folgekosten von all dem,
was wir jetzt nicht tun, werden unendlich höher sein. Damit wir diese Herausforde-
rung meistern können, brauchen wir ein Umdenken, eine neue Kultur, ein neues Den-
ken, ein neues Selbstverständnis als Mensch in der Welt im Gegensatz zu einem Men-
schen, der sich als der Umwelt entgegengeordnet begreift.
Die Herausforderung ist groß. Was ist uns unsere Gesundheit und unser Wohlergehen
auf dem Planeten wert? Wie können wir unser Leben so gestalten, dass wir gesund
und nachhaltig — und dann nachhaltig gesund sind? Die Aufgabe ist allumfassend,
und so umfasst ihre Lösung auch alle Bereiche unseres Menschseins. Wir alle müssen
die Transformation gestalten!
Gesundheit und Wohlergehen 053

3
Inklusive, gleichberechtigte und
hochwertige Bildung gewähr-
leisten und Möglichkeiten lebens-
langen Lernens für alle fördern
4
Hochwertige
Bildung
056

Anforderungen an eine
naturwissenschaft-Prof. Dr. Ernst Peter Fischer
ist Wissenschaftshistoriker und -publizist;
er war an den Universi­täten Konstanz
(bis 2011) und Heidelberg (ab 2011) tätig;
Welt erklären —
Die Wunder der

ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist die


Bedeutung der Naturwissenschaft für All-
gemeinbildung her­auszustellen.
liche Bildung
Hochwertige Bildung 057

Seit die Vereinten Nationen ihre Ziele zum Erreichen einer nachhaltig genutzten Welt
formuliert haben, bemühen sich Regierungen wie die deutsche darum, ihnen gerecht
zu werden oder näher zu kommen, und dabei wird stets die Jahreszahl 2030 als Vorga-
be genannt. Das UN-Programm führt bekanntlich als 4. seiner bis zu diesem Zeitpunkt
umzusetzenden Vorhaben die Vermittlung einer »Hochwertigen Bildung« an, was et-
was irritiert, wird doch kaum jemand eine minderwertige Variante des hohen Guts ins
Auge fassen. Dabei kann man die Vorstellung nicht unterdrücken, dass damit die »Aus-
bildung« gemeint ist, bei der praktische Fähigkeiten erworben werden. Hochwertige
Bildung hingegen verbindet Menschen außerhalb ihrer Berufe, wenn sie Kultur-
themen erörtern, was einen verleiten könnte, hier von »Einbildung« zu sprechen. 4
Diese Unterscheidung der beiden Vorsilben eckt vielleicht an, aber wer Ein-Bildung la-
tinisiert und zur In-Formation macht, erkennt darin die Dimension der Bildung, die zu
dem Weltbild der Menschen führen soll.
Um das hochgesteckte 4. Nachhaltigkeitsziel der UN erreichen zu können, hat das hier-
zulande zuständige Ministerium einen nationalen Aktionsplan unter der Überschrift
»Bildung für nachhaltige Entwicklung« (BNE) entworfen und darin verkündet, so et-
was wie Dialogfähigkeit, Orientierungswissen und ganzheitliches Lernen fördern und
verbessern zu wollen. Wer die in großer Zahl produzierten Verlautbarungen über das
Projekt BNE anschaut, trifft auf viele Vokabeln, mit denen politische und mediale Eli-
ten hantieren, wenn sie ihre Halbbildung verbergen wollen. Gemeint sind Begriffe wie
Gegenwartsanalyse, Dekadenbüro, Zukunftsstudien, Gestaltungs- und Teilkompe-
tenz, und man wird darüber hinaus auf ökonomische, soziale und politische Gerech-
tigkeitsanliegen und viele weitere Aspekte des alltäglichen Lebens verwiesen.
So nötig dies sein mag, es fällt auf, dass bei der BNE nichts von den Naturwissenschaf-
ten zu lesen ist, obwohl es vor allem ihre Eingriffe und Auswirkungen sind, mit denen
die Bedingungen der menschlichen Existenz seit Jahrhunderten wesentlich erleich-
tert und in vielen Fällen überhaupt erst ermöglicht werden. Selbst wer die Naturwis-
senschaften wie Physik, Chemie, Biologie, Ökologie, Geologie, Informatik und viele
weitere Disziplinen als Innovationstreiber und Impulsgeber der Wirtschaft für wichtig
hält, wird bei dem Wort Bildung eher an Literatur, Kunst und Philosophie denken und
weniger auf die Idee kommen, Experimentieren mit und Nachdenken über Energie-
umwandlung, Genmutationen, chemische Katalysen und Radioaktivität als Kulturgut
zu betrachten und den Wunsch äußern, die dazugehörigen Einsichten in Bildungsge-
sprächen zu vertiefen. In den Talkrunden der deutschen Fernsehsender kommen die
Naturwissenschaften selbst dann nicht vor, wenn in Stockholm die Nobelpreise für
Physik, Chemie und Medizin vergeben werden, wobei allgemein bekannt sein sollte,
dass mit diesen Auszeichnungen Personen geehrt werden, die am meisten »zum Nut-
zen der Menschheit« beigetragen haben, wie es offiziell heißt.
Das Publikum lernt seine Wohltäterinnen und Wohltäter nicht kennen, da die Medien
lieber die mit Machtspielchen beschäftigten Figuren aus Politik und Wirtschaft ein-
laden, um mit ihren Ansichten die Sendezeit zu füllen. Die zuständigen Redaktionen
können sich nicht vorstellen, dass ein Verstehen von naturwissenschaftlich gewonne-
nen Einsichten nicht nur mentales Vergnügen bereiten, sondern auch die Teilhabe am
kulturellen Geschehen als Ganzem ermöglichen kann. Wenn sich in der Bildung einer
Person die Kultur zu erkennen geben soll, in der dieses Individuum lebt und sich wohl-
fühlt und mit der es sich Orientierung verschafft, dann kann niemand ohne Kennt-
nis der Naturwissenschaften als gebildet bezeichnet werden — ohne Wenn und Aber.
Man sollte beispielsweise ein Minimum an Quantenphysik und Evolutionsbiologie ken-
058

nen und in der Lage sein, 2 oder 3 nicht triviale Sätze zu den Inhalten dieser Theorie-
gebäude zu sagen. Die naturwissenschaftliche Bildung ist nicht nur wichtig, sie wird
überlebenswichtig, wenn die Menschen zu dem Verhalten angeleitet werden sollen,
das mit dem leider zum Modewort verkommenen Begriff »nachhaltig« bezeichnet wird.
Nachhaltig kann der Umgang mit der Natur nur sein, wenn er nicht mehr dem über-
lieferten göttlichen Befehl folgt, »Macht euch die Erde untertan«. »Macht euch die
Erde zur Freundin«, könnte der neue Leitspruch heißen, der aber
1 Brodsky, Joseph (1994): In:
seine Wirkung erst entfaltet, wenn sich die Menschen daran erin- Das sichtbar Unsichtbare. (Ohne
nern, dass die Welt so ist wie eine geliebte Person, nämlich schön Hg.). Edition Tertium, Ostfildern,
und geheimnisvoll. Die Schönheit der Natur beurteilen Menschen S. 123; zitiert bei Fischer, Ernst
durch die Wahrnehmung ihrer Sinne, was auf Griechisch »aisthé- Peter (1997): Das Schöne und das
Biest. München, S. 269
sis« heißt und woraus das deutsche Wort Ästhetik geworden ist.
2 Einstein, Albert (1962): Mein
Die Freude am Schönen der Welt ist nicht nur der Grund, warum
Weltbild. Berlin, S. 9
Menschen von Natur aus überhaupt nach Wissen streben, wie Aris-
toteles im ersten Satz seiner »Metaphysik« schreibt. Das Schöne
verhilft auch zu einem richtigen Handeln, denn »Die Ästhetik ist die Mutter der Ethik«,
wie es der russische Poet Joseph Brodsky auf den literarischen Punkt gebracht hat.1
Für die hier gestellte Aufgabe bedeutet dieser Satz, aus der ästhetischen Welterfah-
rung eine Kultur der Nachhaltigkeit zu schaffen, und damit besteht eine Aufgabe für
die Zukunft darin, die Wahrnehmung der Natur so einzuüben, dass zuerst mit ihrer Hil-
fe das wissenschaftliche Wissen wächst, um in der Folge mit den ästhetisch erworbe-
nen Kenntnissen zu dem Handeln zu kommen, das die Lebensbedingungen auf dem
Planeten Erde zu bewahren hilft und in diesem Sinne Nachhaltigkeit ermöglicht.
Wer sich der Natur mit seinen oder ihren Sinnen öffnet und den Kosmos so anschaut
oder in sich aufnimmt, wie es unter anderem der große Naturforscher Alexander von
Humboldt getan hat, wird bei dem dazugehörigen Treiben ein Gefühl entwickeln,
das auch Albert Einstein gekannt hat, obwohl er als Theoretischer Physiker sich mehr
mit den innen erzeugten Bildern seiner Fantasie als mit den von außen kommenden
Wahrnehmungen von Natur abgegeben hat. Doch die beiden Giganten der Wissen-
schaft reagierten bei ihrer Suche nach der Wahrheit mit demselben Empfinden, das
Einstein in dem herrlichen Satz zusammengefasst hat: »Das Schönste, das wir erleben
können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer
Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht
mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge ist erloschen.«2 Es kommt so-
mit auf die Fähigkeit an, sich das Erlebnis des Geheimnisvollen zu verschaffen, und
dies gelingt Menschen, die bereit und in der Lage sind, sich zu wundern — über die
funkelnden Sterne am Himmel, über das wimmelnde Leben im Dschungel, über das
neugierige Verhalten von Menschen und vieles mehr. Und mit ihrem Wundern setzt
das Verlangen ein, »die Wunder der Welt erklären« zu wollen, wie dieser Beitrag über-
schrieben ist. Menschen treffen bei ihrem Suchen immer wieder auf Geheimnisse,
wie noch an einem historischen Beispiel ausgeführt wird, und niemand kann ihr Mys-
terium aufheben. Im Gegenteil — jede naturwissenschaftliche Erklärung vertieft das
Geheimnisvolle der Welt, was den Menschen hilft, das Grundgefühl der Schönheit
immer intensiver zu spüren und so ihren Willen zum Wissen zu befeuern.
Dieser ersten Herausforderung an die naturwissenschaftliche Bildung kann man weitere
hinzufügen, die auf das Problem zu reagieren versuchen, das Robert Musil in seinem
Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« als »unermessliche Undurchdringlichkeit«
bezeichnet hat. Bereits um 1930, als der Roman geschrieben wurde, gab es so viele
Hochwertige Bildung 059

Erkenntnisse in den Naturwissenschaften, »dass es das Denkvermögen eines Leib-


niz überschritte«,3 wie bei Musil zu lesen ist, der zwar selbst als Physiker ausgebildet
worden ist, aber trotzdem das Fachwissen seiner Zunft, die damals die Quantenthe-
orie der Atome ausarbeiten konnte, als höchst undurchdringlich wahrnehmen musste.
Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass die fortgesetzte »Trunksucht am Tat-
sächlichen« knapp hundert Jahre später viele Menschen immer mehr am Stand des
Wissens verzweifeln lässt. Zwar werden unentwegt Versuche einer populären Darstel-
lung der Genetik, der Astrophysik, der Hirnforschung oder der Biochemie unternom-
men, doch ein öffentliches Verständnis stellt sich trotz der bunten Bildchen mit
umherhuschenden Molekülen und lustigen Knalleffekten nirgendwo ein.
Der französische Kulturhistoriker Jacques Barzun hat bereits in den 1960er Jahren zu
4
diesem Thema ein vernichtendes Urteil gefällt und Sätze geschrieben, die an Musil er-
innern: »Man kann sagen, dass die westliche Gesellschaft gegenwärtig die Wissen-
schaft beherbergt wie einen fremden, mächtigen und geheimnisvollen Gott. Unser
Leben wird von seinen Werken verändert; aber die Bevölkerung des Westens ist von
einem Verständnis dieser seltsamen Macht wohl ebenso weit entfernt, wie ein Bauer
in einem abgelegenen mittelalterlichen Dorf es von einem Verständnis der Theologie
des Thomas von Aquin gewesen ist. Und was schlimmer ist: Die Lücke ist heute grö-
ßer, als sie vor hundert Jahren war, zu einer Zeit, als jeder gebildete Mensch sich die
Hauptergebnisse und die einfachen Prinzipien, die damals Physik, Chemie und Biolo-
gie ausmachten, aneignen konnte. Die Schwierigkeit heute besteht nicht darin, dass
die Wissenschaft mehr Tatsachen entdeckt hat, als sich in einem Kopf zusammen-
halten lassen, sie besteht vielmehr darin, dass die Wissenschaft
3 Musil, Robert (1930):
Der Mann ohne Eigenschaften. — selbst für die Wissenschaftler — aufgehört hat, eine prinzipielle
Rowohlt, Berlin S. 214 Einheit und ein Gegenstand der Kontemplation zu sein.« Und wei-
4 Barzun, Jacques (1968): ter: »Es ist die moderne Geschichte, die Geschichte seit 1500, die
Vorwort zu dem Buch von den Schlüssel zu den charakteristischen Formen und Auswirkun-
Toulmin, Stephen: Voraussicht gen des wissenschaftlichen Denkens in sich enthält. Gerade weil
und Verstehen. Frankfurt am
die Wissenschaft eine stupende Leistung des menschlichen Geis-
Main, S. 10—11
tes ist, erscheinen ihr Wert und ihre Größe nur in voller Deutlich-
keit, wenn man die Abfolge ihrer Schritte unter wachsamer und informierter Beob-
achtung ihrer Begleitumstände verfolgt, das heißt wiederum: kritisch und historisch.
Zu erkennen, was die Wissenschaft ist, was sie tut, und welchen Einfluss sie auf ande-
re Manifestationen des Geistes hat: Das ist eine Aufgabe für jemanden, der zugleich
Kritiker, Historiker und Philosoph ist, und der außerdem in einem Wissenschaftszweig
und in Mathematik ausgebildet worden ist.«4
Damit sind 2 Herausforderungen für die naturwissenschaftliche Bildung benannt, näm-
lich zum einen, die Menschen zu ermutigen, sich nicht nur aktiv, sondern auch kon-
templativ der Natur zu nähern, was mit einer Ermutigung für das Gefühl des Geheim-
nisvollen beginnen kann. Und zum anderen gilt es, die historische Entwicklung der
Naturwissenschaften in den Blick zu nehmen und von den tätigen Menschen zu er-
zählen, die in ihrer jeweiligen Epoche ihre besonderen Beiträge liefern konnten und
Schritt für Schritt das Theoriegebäude komplexer werden ließen. Wenn Johannes
Kepler die Planetengesetze aufstellt, dann treibt er nicht nur Physik, er verschiebt
zudem die Grundlage der Erklärung von den transzendenten Göttern hin zu imma-
nenten Kraftwirkungen, ohne dabei die Suche nach der christlichen Trinität am Him-
mel aufzugeben. Wenn Kepler die Bahnen von Himmelskörpern berechnet, kontemp-
liert er zugleich eine Harmonie im Kosmos. Sie beeindruckte im 20. Jahrhundert auch
060

­ lbert Einstein, der in physikalischen Theorien »Manifestationen tiefster Vernunft und


A
leuchtender Schönheit« erkennt und meint, dass »dies Wissen und Fühlen wahre Re-
ligiosität ausmacht«. Die Kulturgeschichte des Christentums kann tatsächlich eben-
so als »Verzauberung der Welt«5 beschrieben werden wie die naturwissenschaftliche
Erklärung der Wunder am Himmel und auf der Erde, und so kön-
5 Lauster, Jörg (2014):
nen der religiöse und der wissenschaftlich orientierte Mensch zu- Die Verzauberung der Welt —
sammenkommen, um die Bedingungen der eigenen Existenz kon- Eine Kulturgeschichte
templativ zu bewahren, während man zugleich sich weiter darum des Christentums. München
bemüht, sie aktiv zu erleichtern. Fischer, Ernst Peter (2014):
Das Problem der unermesslichen Undurchdringlichkeit von naturwis- Die Verzauberung der Welt —
senschaftlichen Erklärungen bleibt auch für den kontemplativ ori- Eine andere Geschichte der
Naturwissenschaften. München
entierten und Herzensbildung anstrebenden Menschen bestehen,
6 Serres, Michel (Hg.)
und hier soll der Vorschlag unterbreitet werden, durch eine histori- (1994): Vorwort zu: Elemente
sche Betrachtung Abhilfe zu schaffen. Dabei taucht eine grundle- einer Geschichte der Natur­
gende Schwierigkeit auf, die der französische Wissenschaftsphilo- wissenschaften. Frankfurt am
soph Michel Serres so gefasst hat: »Wir lehren unsere Geschichte Main, S. 11
meist ohne die der Wissenschaften, verkürzen die Philosophie im
Unterricht um jede fachliche Argumentation und halten die Literatur von ihrer wissen-
schaftlichen Nachbarschaft wunderbar isoliert.«6 Mit anderen Worten, die aktuelle
Lehre bleibt der wirklichen Welt mit ihren technischen Errungenschaften fremd, wo-
bei die Naturwissenschaften darunter besonders leiden, weil man die hier handelnden
Personen gar nicht vorgestellt bekommt. Das Publikum kennt die Namen von Philoso-
phen und Schriftstellerinnen, muss aber mit der Schulter zucken, wenn es Chemikerin-
nen, Biologen oder Ingenieure benennen soll. Dabei wird Wissenschaft von Menschen
gemacht, die sich wie alle irren können. Und wer hätte nicht Lust, von den Schnit-
zern der Großen zu lernen, etwa wenn Einstein darauf beharrt, dass Gott nicht wür-
felt, ohne zu merken, dass es ganz schön frech von einem Sterblichen ist, dem Herrn
im Himmel vorzuschreiben, wie er mit der Welt umzugehen hat.
Abgesehen davon erlaubt der historische Gedankengang zu verstehen, wie das Geheim-
nisvolle der Natur durch ihre Erkundigung zunimmt. Als Isaac Newton im 17. Jahrhun-
dert erklären wollte, warum ein Apfel zu Boden fällt, führte er die Schwerkraft ein,
ohne mehr als ihren Namen zu nennen. Im 19. Jahrhundert tauchte die Idee auf, dass
die Wechselwirkung zwischen dem Obst und der Erde durch ein Gravitationsfeld zu-
stande kommt, ohne dass man mehr darüber zu sagen wusste, und im 20. Jahrhundert
zeigte Einstein, wie dieser Feldeffekt produziert wird, nämlich dadurch, dass Materie
den Raum krümmen und seine Geometrie verändern kann. Es bleibt dasselbe Phäno-
men — ein Gegenstand fällt nach unten —, aber die Erklärung des Geschehens wird
immer geheimnisvoller, und so geht die Wissenschaft allgemein mit den kleinen und
großen Wundern der Welt um. Sie vertieft ihre Geheimnisse, wie jede und jeder an Bei-
spielen seiner oder ihrer Wahl durchprobieren kann. Die Herausforderung an die na-
turwissenschaftliche Bildung besteht darin, eine sokratische Weisheit in dem Sinne zu
vermitteln, dass man versteht, es kommt auf die Fragen an, die bleiben, und nicht auf
die Antworten, die sich ändern. Dadurch erweist sich das Abenteuer Wissenschaft als
so offen wie die Zukunft, die Menschen gestalten wollen. Sie kann nachhaltig werden,
wenn man sich daran macht, das Wort Bildung in seiner doppelten Bedeutung ernst zu
nehmen und umzusetzen, als Ergebnis und Prozess zugleich, der wiederum ein neues
Ergebnis hervorbringt, und so weiter. Die Welt ist in Bewegung und erwartet die krea-
tiven Fragen der Menschen, die neugierig in ihr leben und sich wundern wollen.
Hochwertige Bildung 061

4
062

kulturellen Bildung
Lernen für alle —
der Beitrag der
Lebenslanges

Martin Rabanus
ist Vorsitzender des Deutschen Volkshoch-
schulverbands; von 2013 bis 2021 war er
Mitglied des Deutschen Bundestags und von
2018 bis 2021 Kulturpolitischer Sprecher
der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag.

Philip Smets
ist Fachreferent in der Stabsstelle Grundsatz
und Verbands­entwicklung im ­Deutschen
Volkshochschulverband. Zu seinen Arbeits-
schwerpunkten gehören die Bereiche
Bildung für nachhaltige Entwicklung und
berufliche Bildung.
Hochwertige Bildung 063

Immer sichtbarer und wissenschaftlich nicht mehr ernsthaft bestritten sind die gra-
vierenden Folgen des Klimawandels, von Artensterben über den Anstieg des Meeres-
spiegels bis hin zu gewaltsamen Konflikten und massiven Migrationsbewegungen in
Folge von Dürren und Nahrungsmittelknappheit. Um diesen globalen Herausforderun-
gen zu begegnen, ist die Umsetzung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen zent-
ral. Die in ihr festgelegten 17 Nachhaltigkeitsziele spiegeln die vielfältigen Dimensio-
nen einer nachhaltigen Entwicklung wider — von Armutsbekämpfung und Sicherung
der Lebensgrundlagen für alle Menschen über die Gleichstellung der Geschlechter
und die Bekämpfung globaler sozialer Ungleichheiten bis hin zu Energiesicher-
heit und der Etablierung nachhaltiger Produktionsweisen in der Wirtschaft. Bil-
dung, genuin in Ziel 4 genannt, ist ein zentraler Schlüssel zur Umsetzung des gesam-
4
ten ambitionierten Zielkatalogs. Die nachhaltige Transformation unserer Gesellschaft
ist unerlässlich und nur mithilfe von ganzheitlicher Bildung und lebenslangem Lernen
erreichbar.

Bildung für nachhaltige Entwicklung und lebens-


langes Lernen als Schlüssel zur Umsetzung der Agenda 2030
Zur Umsetzung der Agenda 2030 muss die Verankerung von Nachhaltigkeitsaspekten
in allen Bildungsbereichen entlang der gesamten Bildungskette erreicht werden. Zen-
trale Bedeutung kommt dabei dem Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung
(BNE) zu. BNE als Element der Agenda 2030 ist in Nachhaltigkeitsziel 4.7, das auch als
Markenkern der Bildungsagenda der Vereinten Nationen gilt, verortet:
»Bis 2030 sicherstellen, dass alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifika-
tionen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben, unter anderem durch Bil-
dung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Lebensweisen, Menschenrechte,
Geschlechtergleichstellung, eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, Welt-
bürgerschaft und die Wertschätzung kultureller Vielfalt und des Beitrags der Kultur
zu nachhaltiger Entwicklung.« (Nachhaltigkeitsziel 4.7)
Das Ziel von BNE ist es, die Lernenden dazu zu befähigen, die Auswirkungen des eigenen
Handelns erkennen und eigenverantwortlich Entscheidungen treffen zu können, wie
auch eigene Gestaltungs- und Handlungspotenziale auf der individuellen sowie auf
der politischen Ebene wahrnehmen zu können. Dabei sollen die Lernenden ein Gefühl
der Selbstwirksamkeit entwickeln. BNE ist dann wirksam, wenn nicht nur theoretisch
verstanden wird, an welchen Stellen Veränderungen notwendig sind, sondern auch
konkrete Veränderungen angestoßen werden können. Dabei ist nicht nur die Vermitt-
lung von (Fakten-)Wissen von Bedeutung, sondern insbesondere auch die sozio-emo-
tionalen Dimensionen des Lernens, indem BNE z. B. positive Zukunftsvisionen erzeugt.
Lebensweltorientierung sowie die Förderung von Multiperspektivität und Offenheit
sind weitere zentrale Elemente der BNE, die eine Anschlussfähigkeit zur kulturellen
Bildung bereits deutlich machen. Mit der expliziten Adressierung aller Lernenden wird
die Bedeutung des lebenslangen Lernens für die Erreichung der Agenda 2030 betont.
Die Vermittlung von BNE-Kenntnissen und die Unterstützung der Lernenden bei dem
Erwerb der notwendigen Kompetenzen ist nicht nur Aufgabe der formalen Bildung
in Schule, Hochschule und Ausbildung, sondern auch der non-formalen und der Er-
wachsenenbildung. Auf dem Weg der Transformation zu einer nachhaltigeren Ge-
sellschaft kommt der Erwachsenenbildung aufgrund ihrer interdisziplinären Ausrich-
tung, ihrer Inhalts- und Methodenvielfalt, ihrer Ausrichtung an den Interessen und
Bedarfen der Zielgruppe und ihrer Offenheit für alle Menschen eine entscheidende
064

Rolle zu. Es ist wichtig, dass nicht nur Kinder und Jugendliche mit BNE-Maßnahmen
erreicht werden, sondern auch Erwachsene. Denn diese sind nicht nur Vorbilder für
die jüngere Generation, sondern auch die heutigen Entscheidungsträgerinnen und
-träger in Politik, Wirtschaft und Verwaltung. Und der gesellschaftliche Wandel muss
heute organisiert werden — denn morgen ist es zu spät.
Im Bereich der Erwachsenenbildung kommt den Volkshochschulen eine Schlüsselrolle
zu: Sie bieten Orientierung im gesellschaftlichen Wandel und fördern Kompetenzen
im Sinne einer zukunftsfähigen Gestaltung von Gesellschaft. Aufgrund ihrer kommu-
nalen Verankerung befinden sich die Volkshochschulen in einer besonderen Position in
der deutschen (Weiter-)Bildungslandschaft. Sie sind als Akteure der allgemeinen Er-
wachsenenbildung Teil der kommunalen Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bür-
ger, sie bilden eine Schnittstelle zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft. In dieser
Position sind sie in der Lage, gesellschaftlich drängende Themen, wie die Frage nach
der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und der dafür notwendigen Transformati-
on, breiten Teilen der Bevölkerung zugänglich zu machen und als Orte der Vernetzung
in der Kommune auch Diskussionsprozesse anzustoßen und zu begleiten. BNE möchte
Wissen vermitteln, Perspektiven eröffnen und zu systemischem Denken und dem Er-
kennen von Zusammenhängen befähigen. Das breite Bildungsangebot über die ver-
schiedenen Fachbereiche hinweg bietet den Volkshochschulen die strukturelle Voraus-
setzung, BNE als übergreifendes Querschnittsthema in allen Programmbereichen zu
verankern und den vielfältigen Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung auf die-
se Weise Rechnung zu tragen. Die bundesweit über 850 Volkshochschulen bekennen
sich zu den Zielen der BNE und nehmen sich der Herausforderung an. Indem sie Nach-
haltigkeitsthemen langfristig in ihren Leitbildern und Programmangeboten verankern,
nehmen sie ihre Verantwortung als Schlüsselakteure in der allgemeinen Weiterbildung
in diesem Bereich wahr.

Der Beitrag der kulturellen Bildung


zu einer ganzheitlichen BNE
Gefordert ist dabei nicht zuletzt die kulturelle Bildung — an Volkshochschulen eben-
so wie an anderen Bildungseinrichtungen. Kultur ist das Grundgerüst unseres gesell-
schaftlichen Zusammenlebens: Wie wir leben, wie wir miteinander und mit unserer
Umwelt umgehen, wie wir Vergangenes tradieren und uns auf die Zukunft vorbereiten,
ist entscheidend von unseren kulturellen Prägungen und Werten beeinflusst. Angebo-
te kultureller Bildung vermitteln Kulturtechniken und Kernkompetenzen wie Kreativität,
Flexibilität, Improvisationsbereitschaft. Sie stärken Urteils- und Gestaltungsfähigkeit
sowie Problemlösungskompetenzen und Teamfähigkeit und unterstützen Menschen
so in ihrer Persönlichkeitsbildung. Gleichzeitig bieten sie Raum zum Erleben von Ge-
meinsamkeiten im künstlerischen Prozess und stärken damit den sozialen Zusammen-
halt. Kulturelle Bildung leistet damit einen wichtigen Beitrag bei der Umsetzung einer
ganzheitlichen BNE und unterstützt die für eine nachhaltige Entwicklung notwendi-
gen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse. Indem sie alternative Erfahrungsräu-
me eröffnet und interkulturelle Kompetenz fördert, trägt sie zum Verständnis globaler
Zusammenhänge bei und ermöglicht es den Lernenden, eigene Überzeugungen und
Wertmuster zu reflektieren und neue Perspektiven einzunehmen. Durch die Ausein-
andersetzung mit verschiedenen Künsten und ästhetischen Praxen durch die Lernen-
den entfaltet die kulturelle Bildung ihr spezifisches Potenzial dadurch, dass sie Wahr-
nehmungs- und Gestaltungsfähigkeiten der Lernenden befördert und auf diese Weise
Hochwertige Bildung 065

eine bedeutende Grundlage bildet für im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwick-
lung essenzielle Kompetenzen zur Selbstreflexion, Selbstwirksamkeit und gesellschaft-
lichen Teilhabe. BNE möchte Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln be-
fähigen — sie verfolgt in diesem Sinne ein normatives Bildungsziel. Dieses Ziel wird
durch die Fähigkeiten und Kompetenzen, die sich Lernende durch kulturelle Bildung
aneignen können, wesentlich unterstützt.1

Beispiele aus der Bildungspraxis


Die Relevanz von Nachhaltigkeitsthemen für die kulturelle Bildung wird von den
Volkshochschulen seit Langem erkannt. Angebote, die beide Themenbereiche 4
verschränken, werden stetig neu entwickelt. An dieser Stelle sollen nur 2 Beispiele gu-
ter Bildungspraxis hervorgehoben werden, die die Vielfalt der An-
1 vgl. hierzu ausführlicher:
Reinwand-Weiss, Vanessa- sätze für verschiedene Zielgruppen verdeutlichen können. Ein ge-
Isabelle: Kulturelle Bildung und lingendes Beispiel für die Verschränkung kultureller Bildung und
Bildung für nachhaltige Ent- BNE ist das Projekt »talentCAMPus« des Deutschen Volkshoch-
wicklung. Über die Verbindung
schulverbands (DVV). Im Rahmen des Projekts, welches über das
zweier normativer Ansätze
und Praxen. In: Braun-Wanke, Programm »Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung« durch das
Karola; Wagner, Ernst (Hg.) Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bereits in
(2020): Über die Kunst, den der dritten Förderphase gefördert wird, setzen Volkshochschulen
Wandel zu gestalten. Kultur —
in lokalen Bündnissen kulturelle Bildungsprojekte für junge Men-
Nachhaltigkeit — Bildung.
Münster/New York, S. 64—71 schen um, die in Risikolagen aufwachsen. Sie kooperieren dabei
mit Kultureinrichtungen, Jugendzentren, Migranten- und Migran-
tinnenorganisationen oder Schulen und erreichen so jährlich bis
zu 11.000 Kinder und Jugendliche. Über das Projekt werden auch konkrete Angebote
von Volkshochschulen gefördert, die Nachhaltigkeitsthemen mit kultureller Bildung
zusammenbringen. Ein Beispiel ist der talentCAMPus »Wie wollen wir in Zukunft le-
ben?«, den die Volkshochschule Nienburg im Herbst 2021 in Kooperation mit dem Mu-
seum Nienburg mit 17 Jugendlichen umgesetzt hat. Teil des Programms waren unter
anderem die Auseinandersetzung mit nachhaltigen Produktionsweisen in der Textilin-
dustrie sowie mit dem Thema Müllvermeidung und Upcycling: Vermeintlichem Plastik-
müll wurde durch Basteln und die Gestaltung von Collagen neue Gestalt und neuer
ästhetischer Wert verliehen. Über diesen künstlerisch-kreativen Ansatz haben sich die
teilnehmenden Jugendlichen mit drängenden Fragen einer nachhaltigen Entwick-
lung auseinandergesetzt.
Ein weiteres Beispiel, explizit aus der Erwachsenenbildung, ist das aktuell laufende Pro-
jekt »BNE in städtischen und ländlichen Sozialräumen« an der Volkshochschule Köln.
Ziel des Projekts ist es, BNE an lokale Lebenswelten anzuknüpfen und gesellschaftli-
che Partizipation und Teilhabe für Zielgruppen zu erreichen, die durch die Angebo-
te der Volkshochschule sonst nur schwer erreicht werden. In Kooperation mit Sozial-
raumkoordinatorinnen und -koordinatoren sowie lokalen Akteurinnen und Akteuren
wurden Bedarfsanalysen erstellt und unter anderem ein Mieteracker mit dem beteilig-
ten Immobilienunternehmen gegründet. Über diesen Ansatz ist es gelungen, Inhalte
klassischer Umweltbildung, soziale Teilhabe und interkulturellen Austausch der Teil-
nehmenden zu befördern.
Die Beispiele werfen nur ein Schlaglicht auf das vielfältige Programmangebot der Volks-
hochschulen in der kulturellen Bildung. Sie verdeutlichen aber deren wichtigen Beitrag
bei der Umsetzung einer ganzheitlichen BNE, die die Voraussetzung ist für die Umset-
zung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen und damit der erfolgreichen
066

Gestaltung der nachhaltigen Transformation der Gesellschaft. Die Volkshochschulen


werden die Verankerung von BNE als Querschnittsthema aller Programmbereiche und
die eigene nachhaltige Organisationsentwicklung auch in Zukunft weiter vorantrei-
ben. Hierfür ist eine zielgerichtete politische Unterstützung und finanzielle Ausstat-
tung der Weiterbildung und ihrer Akteure unerlässlich — über die Berücksichtigung
in Förderprogrammen ebenso wie über eine strukturelle Dauerfinanzierung der Ein-
richtungen.
Hochwertige Bildung 067

4
Geschlechtergerechtigkeit
und Selbstbestimmung
für alle Frauen und Mädchen
erreichen
5
Geschlechter­
gleichheit
070

Geschlechtergerechtig-
Noch viel zu tun —
keit in der Kultur

Gabriele Schulz
ist Stellvertretende Geschäfts­führerin des
Deutschen Kulturrates; zuvor war sie von
1992 bis 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin
beim Deutschen Kulturrat.
Geschlechtergleichheit 071

Auch wenn der Kultur- und Medienbereich gern für sich Anspruch nimmt zur Avant-
garde zu zählen, kann dies für das Thema Geschlechtergerechtigkeit1 nicht gesagt
werden. Seit vielen Jahren wird kontinuierlich durch sekundärstatistische Auswertun-
gen2 oder auch in Primärerhebungen3 nachgewiesen, dass Frauen in Führungspositi-
onen im Kultur- und Medienbereich nach wie vor unterrepräsentiert sind und sowohl
als Selbstständige als auch als abhängig Beschäftigte sehr oft we-
1 Im Folgenden wird aus-
schließlich auf Frauen und niger als Männer verdienen.
Männer eingegangen. In der Im Folgenden soll anhand einiger weniger ausgewählter Daten der
amtlichen Statistik werden Handlungsbedarf im Kultur- und Medienbereich aufgezeigt werden.
aufgrund der Stichproben­
Dabei stütze ich mich auf eigene Auswertungen der amtlichen Sta-
größe keine weiteren Daten
zu »divers« oder »non-binär« tistik.
ausgewiesen. In der ge-
sellschaftlichen wie auch
kulturpolitischen Diskussion
Betrachtung des Gender Pay Gap
nach Wirtschaftszweigen
5
wird »Geschlecht« deutlich
weiter gefasst. Unternehmen und Selbstständige werden in der amtlichen Statis-
2 Siehe z. B. Schulz 2013,
tik nach Wirtschaftszweigen klassifiziert. Die deutsche Klassifikati-
Schulz 2016, Schulz 2020 on lehnt sich an die internationale Klassifikation an. Entscheidend
3 Siehe z. B. Deutscher
bei der Betrachtung der Erwerbstätigen im Rahmen der Wirtschafts-
Musikrat 2023, ver.di 2023, zweige ist zum einen, dass in den Wirtschaftszweigen Unternehmen
Bühnenmütter 2022, und Selbstständige zusammengeführt werden. Zum anderen wird
Deutscher Musikrat 2021, hinsichtlich der Erwerbstätigen erfasst, ob eine Tätigkeit in einem
Deutsche Jazzunion 2020
bestimmten Wirtschaftszweig ausgeführt wird. Ob eine Ausbildung
4 Hier findet sich u. a. auch
in einem bestimmten Beruf, die für eine Tätigkeit in dem Wirtschafts-
der Buchhandel, der Musi­
kalienhandel oder auch der zweig qualifiziert, vorliegt oder nicht, spielt keine Rolle. Das heißt
Handel mit Kunstwerken hier werden auch jene Erwerbstätigen aus Kunst und Kultur erfasst,
und Antiquitäten. die nicht in einem Kulturberuf, wohl aber in einem Kulturunterneh-
men tätig sind.
Die Statistiken und Erhebungsinstrumente werden fortlaufend angepasst. Das führt zu
sogenannten Brüchen in der Statistik, d. h. die Daten eines Jahres sind mit denen der
Vorjahre nur bedingt bzw. nicht vergleichbar. Mit Blick auf Kunst und Kultur trifft ein
solcher statistischer Bruch für den Wirtschaftszweig »Kunst, Unterhaltung, Erholung«
zu. Dies hat zur Folge, dass 2022 der Gender Pay Gap in diesem Wirtschaftszweig 30
Prozent betrug und der Wert 2023 bei 20 Prozent liegt.
Es werden insgesamt 17 Wirtschaftszweige unterschieden. Der Gender Pay Gap ist ge-
spannt zwischen -1 Prozent im Wirtschaftszweig »Wasserversorgung, Abwasser- und
Abfallentsorgung, Beseitigung von Umweltverschmutzungen« und 27 Prozent im Wirt-
schaftszweig »Erbringung von freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen
Dienstleistungen«.
Für den Kulturbereich sind 4 Wirtschaftszweige relevant, weil hier eine nennenswerte
Zahl von Kulturunternehmen bzw. Selbstständigen aus Kunst und Kultur subsumiert
werden. Es handelt sich um folgende:

– »Kunst, Unterhaltung, Erholung« mit einem


Gender Pay Gap von 20 Prozent
– »Handel«4 mit einem Gender Pay Gap von 22 Prozent
– »Information, Kommunikation« mit einem Gender Pay Gap von 22 Prozent
– »Erbringung freiberuflicher, technischer und wissenschaftlicher Dienst-
leistungen« mit einem Gender Pay Gap von 27 Prozent
072

Im Durchschnitt aller Wirtschaftszweige liegt der Gender Pay Gap bei 18 Prozent, wo-
raus folgt, dass in allen 4 Wirtschaftszweigen, die für den Kulturbereich relevant sind,
der Gender Pay Gap über dem Durchschnitt liegt.

Betrachtung des Gender Pay bei abhängig Beschäftigten


Einen anderen Zugang zur Betrachtung des Gender Pay Gap bietet die Statistik der
Bundesagentur für Arbeit. Grundlage ist hier die Klassifikation der Berufe. Das heißt
im Unterschied zu den Wirtschaftszweigen wird hier der Fokus auf den Beruf gelegt
und nicht das Tätigkeitsfeld bzw. Unternehmen, in dem die Erwerbstätigen tätig sind.
Das heißt hier werden auch jene »Kulturberufler« erfasst, die nicht in einem Kulturun-
ternehmen tätig sind. Die hier zur Auswertung herangezogene Statistik der Bundes-
agentur für Arbeit beruht auf Meldungen der Arbeitgeber.
In der Klassifikation werden 37 Berufshauptgruppen, 144 Berufsgruppen, 702 Berufs-
untergruppen und 1.300 Berufsgattungen unterschieden. Im Folgenden soll kurso-
risch auf 2 Berufshauptgruppen eingegangen werden: die Berufshauptgruppe »Dar-
stellende und unterhaltende Berufe« sowie die Berufshauptgruppe »Produktdesign
und Kunsthandwerk«.

Mit Blick auf die Berufshauptgruppe »Darstellende und


unterhaltende Berufe« kann Folgendes festgestellt werden:

– »Museumstechnik und -management« mit einem Gender Pay Gap von -1 Prozent,
das heißt hier verdienen Frauen mehr als Männer
– »Moderation und Unterhaltung« mit einem Gender Pay Gap von 0 Prozent
– »Bühnen- und Kostümbild« mit einem Gender Pay Gap von 9 Prozent
– »Musik-, Gesangs- und Dirigententätigkeit« mit einem Gender Pay Gap
von 9 Prozent
– »Veranstaltungs-, Kamera-, Tontechnik« mit einem Gender Pay Gap von 9 Prozent
– »Schauspiel, Tanz und Bewegungskunst« mit einem Gender Pay Gap von 22 Prozent

Die Spannweite liegt also zwischen -1 und 22 Prozent.

Für die Berufshauptgruppe »Produktdesign und Kunsthandwerk«


ist folgender Befund festzuhalten:

– »Kunsthandwerk« mit einem Gender Pay Gap von 6 Prozent


– »Kunsthandwerkliche Metallgestaltung« mit einem Gender Pay Gap von 17 Prozent
– »Kunsthandwerkliche Keramik- und Glasgestaltung«
mit einem Gender Pay Gap von 20 Prozent
– »Musikinstrumentenbau« mit einem Gender Pay Gap von 25 Prozent
– »Produkt- und Industriedesign« mit einem Gender Pay Gap von 28 Prozent

Bemerkenswert ist im Vergleich der beiden vorgestellten Berufshauptgruppen, dass


in der erstgenannten »Darstellende und unterhaltende Berufe« in 2 Berufen ein nega-
tiver bzw. gar kein Gender Pay Gap zu ermitteln ist. Bei der Berufshauptgruppe »Pro-
duktdesign und Kunsthandwerk« sticht ins Auge, dass der Gender Pay Gap in jener
Berufsgruppe, in der die höchsten Einkommen erzielt werden, im »Produkt- und In-
dustriedesign«, der Gender Pay Gap am höchsten ist. In der öffentlichen Debatte um
Geschlechtergleichheit 073

den Gender Pay Gap in Kunst und Kultur wird diese Berufsgruppe aber nur sehr we-
nig thematisiert. Ganz im Gegensatz zu den Bühnenberufen, Theater und Musik, in
denen eine deutlich engagiertere Debatte zu Gleichstellung, Entgeltgleichheit und
Gender Pay Gap geführt wird.

Betrachtung des Gender Pay Gap


bei in der Künstlersozialkasse Versicherten
Selbstständige künstlerische oder publizistisch Tätige sind, sofern sie das Mindestjah-
reseinkommen5 erreichen und die selbstständige künstlerische Tätigkeit die Haupttä-
tigkeit ist, über die Künstlersozialkasse kranken-, pflege- und rentenversichert6. Sie
zahlen ähnlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Hälfte der Beiträge, die an-
dere Hälfte wird durch die Künstlersozialabgabe, die Verwerter künstlerischer
5 Aktuell beträgt das Min-
oder publizistischer Leistungen zahlen, und einen Bundeszu-
schuss erbracht. Der Gender Pay Gap bei den Versicherten der
5
destjahreseinkommen, das
die Versicherten erreichen müs- Künstlersozialkasse beträgt im Schnitt 24 Prozent. Unterschiede
sen, 3.900 Euro. Innerhalb bestehen allerdings zwischen den verschiedenen Berufsgruppen,
von 6 Jahren kann das Min-
die sich wie folgt darstellen:
desteinkommen 2 Mal unter-
schritten werden, ohne dass
der Versicherungsschutz – Berufsgruppe »Wort«
verloren geht. Als während mit einem Gender Pay Gap von 22 Prozent
der Corona-Pandemie die
– Berufsgruppe »Musik«
Arbeits- und Auftrittsmöglich-
keiten der Künstlerinnen und mit einem Gender Pay Gap von 22 Prozent
Künstler stark eingeschränkt – Berufsgruppe »Bildende Kunst/Design«
waren, wurde das Erreichen mit einem Gender Pay Gap von 30 Prozent
des Mindesteinkommens aus-
gesetzt. Das heißt die Versi-
– Berufsgruppe »Darstellende Kunst«
cherten verloren ihren Ver- mit einem Gender Pay Gap von 34 Prozent
sicherungsschutz auch dann
nicht, wenn sie das Mindest­ Der bereits zwischen den Berufsgruppen erhebliche Unterschied
einkommen nicht erzielt
haben.
im Gender Pay Gap wird noch größer, werden die einzelnen Tätig-
keitsbereiche7 angeschaut. Da spannt sich der Gender Pay Gap
6 Der Zweig Arbeitslosen­
versicherung ist in der von 1 Prozent im »Tätigkeitsbereich Tanz« (Ballett, Tanztheater, Mu-
Künstlersozialversicherung sical, Show) bis zu 47 Prozent im »Tätigkeitsbereich Libretto/Text-
nicht erfasst. dichtung«. Oder anders gesagt: Librettisten/Textdichter melden
7 Die Künstlersozialkasse ein im Durchschnitt um 47 Prozent höheres Einkommen als Libret-
unterscheidet nicht nach tistinnen/Textdichterinnen.
­Berufen, sondern nach Tätig-
In 21 Tätigkeitsbereichen liegt der Gender Pay Gap unterhalb des
keitsbereichen. Die Versicher-
ten müssen bei Antragstellung Durchschnittswerts von 21 Prozent, dazu zählen neben dem be-
zunächst angeben, welcher reits genannten Tätigkeitsbereich Tanz u. a. »Ausbilder/Ausbilde-
Berufsgruppe sie angehören rinnen Darstellende Kunst« mit einem Gender Pay Gap von 4 Pro-
und dann spezifizieren, in
welchem Tätigkeitsbereich sie
zent, »Autoren/Autorinnen Belletristik« mit einem Gender Pay Gap
vornehmlich tätig sind. von 8 Prozent, »Musiker/Musikerinnen Jazz und improvisierte Mu-
sik« mit einem Gender Pay Gap von 17 Prozent. In 6 Tätigkeitsbe-
reichen liegt der Gender Pay Gap bei 24 Prozent, also dem Durchschnittswert der 4
Berufsgruppen, und zwar u. a. »Autor/Autorin für Bühne, Film, Funk und Fernsehen«,
»künstlerisch-technische Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen Musik« oder auch »künstle-
risch-technische Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen Darstellende Kunst«. In 27 Tätigkeits-
bereichen, also der Mehrheit, liegt der Gender Pay Gap über dem Durchschnittswert
von 24 Prozent. Hierzu zählen unter anderem:
074

– »Maler/Malerinnen, Zeichner/Zeichnerinnen, Illustrator/


Illustratorinnen« mit einem Gender Pay Gap von 29 Prozent
– »Sänger/Sängerinnen (Lied, Oper)« mit einem
Gender Pay Gap von 31 Prozent
– »Bildhauer/Bildhauerinnen« mit einem Gender Pay Gap von 33 Prozent
– »Dirigat, Chorleitung« mit einem Gender Pay Gap von 36 Prozent
– »Sänger/Sängerinnen (Pop-, Rock-, Jazz-, Unterhaltungsmusik)«
mit einem Gender Pay Gap von 42 Prozent
– »Komponist/Komponistin« mit einem Gender Pay Gap von 44 Prozent
– »Industrie-, Mode-, Textildesign« mit einem Gender Pay Gap von 46 Prozent
– »Libretto/Textdichtung« mit einem Gender Pay Gap von 47 Prozent

Das heißt die Spreizung des Gender Pay Gap bei den in der Künstlersozialversicherung
versicherten selbstständigen Künstlerinnen und Künstlern sowie Publizistinnen und
Publizisten ist noch deutlich größer, als es bei den abhängig Beschäftigten der Fall ist.
Ein wichtiger Aspekt mit Blick auf den Gender Pay Gap ist der Gender Show Gap. Wenn
Werke von Frauen nicht aufgeführt oder gezeigt werden, können Künstlerinnen kein
Einkommen generieren. Das trifft insbesondere für Librettistinnen und Komponistin-
nen zu, für die Tantiemen aus Aufführungen sowie Ausschüttungen von Verwertungs-
gesellschaften essenzielle Einkommensbestandteile sind. Die Bekanntheit von Künst-
lerinnen hängt auch davon ab, ob ihre Werke besprochen werden. Das erfolgt in der
Regel erst dann, wenn die Werke zu sehen sind. Die Überwindung des Gender Show
Gap ist daher ein wichtiger Baustein zur Überwindung des Gender Pay Gap. Und jeder
bzw. jede Einzelne kann etwas tun, um den Gender Show Gap zu überwinden: indem
er oder sie Kunst von Frauen ausstellt, indem er oder sie Werke von Frauen aufführt,
indem er oder sie Werke von Frauen kauft, indem er oder sie Autorinnenlesungen ver-
anstaltet und anderes mehr. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Jeder und jede
kann aktiv werden.

Frauen in Führung
Zum Schluss seien 2 positive Zahlen für Frauen in Führungspositionen in Kulturein-
richtungen angeführt. Der Frauenanteil in der Leitung von Kunstmuseen ist von 30
Prozent im Jahr 2016 auf 42 Prozent im Jahr 2020 angestiegen. Bei den Fachmuse-
en stieg der Anteil an weiblicher Führung von 33 Prozent im Jahr 2016 auf 40 Prozent
im Jahr 2020. Museen, die sich in Trägerschaft der öffentlichen Hand befinden, sind
bei der Besetzung von Stellen an Gleichstellungsvorgaben gebunden. Große Häuser
haben auch Gleichstellungsbeauftragte, die bei Stellenbesetzungen zurate gezogen
werden müssen. Die Ergebnisse zeigen, es lohnt sich, sich für mehr Frauen in Füh-
rung einzusetzen und vor allem Gleichstellungsvorgaben umzusetzen bzw. auf deren
Einhaltung zu drängen.
Der Deutsche Kulturrat unterstützt mit seinem Mentoring-Programm, das sich an Frau-
en mit 10 Jahren Berufserfahrung richtet, gezielt Frauen, die eine Führungsposition
im Kultur- und Medienbereich anstreben. Die Vernetzung der Mentees untereinander,
die Unterstützung durch erfahrene Mentorinnen und Mentoren sowie die angebote-
nen Weiterbildungsveranstaltungen tragen mit dazu bei, dass mehr Frauen in Füh-
rung im Kultur- und Medienbereich gehen.
Nachhaltige Kultureinrichtungen sollten Geschlechtergerechtigkeit als wichtiges Nach-
haltigkeitsziel in ihre Agenda aufnehmen.
Geschlechtergleichheit 075

5
Literatur

Bühnenmütter e. V. (Hg.) (2022): Belastungen,


Bedürfnisse und Herausforderungen von
Bühnenmüttern. Eine Pilotstudie zur Lebenssitu­-
a­tion von Bühnenkünstlerinnen mit Kindern.
↘ t1p.de/c5wa8
Deutsche Jazzunion (Hg.) (2020): Gender.
Macht. Musik. Geschlechtergerechtigkeit im
Jazz. Berlin ↘ t1p.de/avvqb
Deutscher Musikrat; Deutsches Musikinforma­
tionszentrum (Hg.) (2021): Geschlechterver-
teilung in deutschen Berufsorchestern. Bonn
↘ t1p.de/gym9w
Deutscher Musikrat; Deutsches Musikinforma­
tionszentrum (Hg.) (2023): Professionelles
Musizieren in Deutschland. Ergebnisse einer Re-
präsentativbefragung zu Erwerbstätigkeit,
wirtschaftlicher Lage und Ausbildungswegen
von Berufs­musizierenden. Bonn
Schulz, Gabriele (2013): Arbeitsmarkt Kultur.
Eine Analyse von KSK-Daten. In: Schulz, Gabriele;
Zimmermann, Olaf; Hufnagel, Rainer: Arbeits-
markt Kultur. Zur wirtschaftlichen und sozialen
Lage in Kulturberufen. Berlin, S. 241—323
Schulz, Gabriele (2016): Zahlen — Daten — Fakten:
Geschlechterverhältnisse im Kultur- und Medien­
betrieb. In: Schulz, Gabriele; Ries, Carolin; Zimmer­
mann, Olaf: Frauen in Kultur und Medien. Ein
Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen
und Lösungsvorschläge. Berlin, S. 27—361
Schulz, Gabriele (2020): Arbeitsmarkt Kultur: Aus-
bildung, Arbeitskräfte, Einkommen. In: Schulz,
­Gabriele; Zimmermann, Olaf: Frauen und Männer
im Kulturmarkt. Bericht zur sozialen und wirt­
schaftlichen Lage. Berlin, S. 17—433
ver.di (2023): Massiver Gender Pay Gap in Kultur-
berufen. ↘ t1p.de/k2shj
076

gerechten Gesellschaft
Auf dem Weg zu einer
geschlechter-

Dr. Beate von Miquel


ist Vorsitzende des Deutschen Frauenrats;
sie ist Geschäftsführerin des interdiszipli-
nären Marie Jahoda Center for International
Gender Studies an der Ruhr-Universität
Bochum (RUB); 2011 bis 2016 war sie zentrale
Gleichstellungs­beauftragte der RUB.
Geschlechtergleichheit 077

Der Stand der Gleichstellung der Geschlechter ist ein starker Indikator für die demo-
kratische Verfasstheit einer Gesellschaft, wie sich zuletzt in Afghanistan und in der
feministischen Revolte im Iran zeigte. Geschlechtergleichstellung wirkt als transfor-
mative Kraft, die die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen
und Stereotypen fördert, um strukturelle Ungleichheiten zu identifizieren und Wege
aufzuzeigen, sie abzubauen.
In Deutschland haben uns die Krisenjahre der COVID-19-Pandemie, die hohe Inflation
infolge des Ukraine-Krieges nachdrücklich vor Augen geführt, mit welcher Geschwin-
digkeit Gleichstellungsfortschritte beinahe pulverisiert wurden und sich soziale Un-
gleichheiten verschärften. Die multiplen Krisen unserer Zeit warfen einmal mehr die
Frage auf, wie Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gestaltet sein müssen, um Chan-
cengleichheit zu erreichen und zu sichern. Die Frage gerät aber — durchaus ty-
pisch für die Debattenlage im Gleichstellungsfeld — angesichts der Wucht der
politischen Ereignisse und eines durchaus virulenten Antifeminismus immer wieder in
5
den Hintergrund. Aber erst wenn wir Geschlechtergleichstellung als konstituierendes
Element für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten politischer, gesellschaft-
licher und wirtschaftlicher Umbrüche begreifen, werden wir auch für die sozial-öko-
logische Transformation, die vor uns liegt, wirklich gewappnet sein.

Zivilgesellschaft als starker


Gleichstellungsmotor in Deutschland
Kennzeichnend für Deutschland ist eine äußerst aktive und gut vernetzte zivilgesell-
schaftliche Szene, die ein wichtiger Motor für die Gleichstellungspolitik ist. Allein der
Deutsche Frauenrat umfasst als Dachverband mehr als 60 frauenpolitische Organi-
sationen — von Berufsverbänden über Sportverbände, Gewerkschaften, kirchliche
Frauenorganisationen bis zu den Frauenorganisationen der Parteien, und repräsen-
tiert etwa 11 Millionen Frauen in Deutschland. Durch zivilgesellschaftliche Dialogpro-
zesse wie Women 7/Women 20, die flankierend zu den regelmäßigen G7/G20-Treffen
der Regierungschefinnen und -chefs durchgeführt und für Deutschland durch den
Deutschen Frauenrat koordiniert werden, bestehen enge Verbindungen zu Aktivis-
tinnen, Aktivisten und Frauenorganisationen weltweit. Und nicht zuletzt die interna-
tionale Perspektive macht deutlich: »Die« Frauen gibt es nicht. Will man Geschlech-
tergerechtigkeit für Frauen in all ihrer Vielfalt erreichen, ist intersektionales Denken
unverzichtbar. Denn Diskriminierungsmerkmale wie Rassismus, Klassismus, Ableis-
mus, Alter, sexuelle Identität und Religion können sich mit der Kategorie Geschlecht
überlagern und gegenseitig verstärken.

Bedeutung von Ziel 5 in der


deutschen Gleichstellungsdebatte
Die Hebelwirkung, die gerade die Gleichstellung der Geschlechter für weitere Ziele
der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung hat, entfaltet sich in Deutschland bis-
lang vor allem im entwicklungspolitischen Zusammenhang. Nach dem Vorbild Kana-
das gab sich das Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(BMZ) 2023 erstmals Leitlinien für eine »Feministische Entwicklungspolitik«. Gleich-
stellung wird hier insgesamt als Schlüssel zur Umsetzung der Agenda 2030 für nach-
haltige Entwicklung betrachtet und Querverbindungen zu weiteren Zielen, wie Be-
seitigung von Armut (Ziel 1) und Hunger (Ziel 2) gezogen. Zur Umsetzung der Leitlinie
beabsichtigt das BMZ auch die Förderprogramme stärker auf Geschlechtergerech-
078

tigkeit auszurichten. Bis zum Jahr 2025 soll sich der Anteil der Fördermittel zur För-
derung der Gleichstellung als Haupt- und Nebenziel in den neu zugesagten Projekten
auf 93 Prozent erhöhen. Trotz dieses ambitionierten Ziels — derzeit liegt die Förder-
quote für Gleichstellungsprojekte im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit bei
ca. 40 Prozent — blieb Kritik von Expertinnen und Experten am Konzept der feministi-
schen Agenda des BMZ nicht aus. Es fehle die Reflexion über die wirtschaftliche und
politische Verantwortung des Globalen Nordens für soziale Ungleichheit im Globa-
len Süden, eine konsequente postkoloniale Perspektive sowie das klare Ziel, die regi-
onale feministische Zivilgesellschaft zu stärken und in Projekte der Entwicklungszu-
sammenarbeit einzubeziehen.
Sieht man vom entwicklungspolitischen Feld ab, bleibt Ziel 5 der Agenda 2030 für nach-
haltige Entwicklung in der deutschen gleichstellungspolitischen Debatte eher blass.
Dies ist zum einen auch darauf zurückzuführen, dass zahlreiche Handlungsfelder, die
im Ziel 5 beschrieben sind, wie die Aufwertung der Care-Arbeit oder die Erhöhung des
Frauenanteils auf Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur, seit Langem in
den Forderungskatalogen zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure auftauchen.
Zum anderen sind die in den 9 Unterzielen von Ziel 5 beschriebenen Handlungsfelder
seit 2015, also seit der Verabschiedung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung,
vielfach ohne konkrete Zielmarken geblieben. Wenn aber die gleichstellungspolitische
Debatte der letzten Jahrzehnte eines gezeigt hat, dann dies: Ohne gut aufeinander
abgestimmte gesetzliche Regelungen, ohne konkrete, qualitativ wie quantitativ aus-
gerichtete Zielvorgaben, kontinuierliche Monitoring-Verfahren — und im Falle der fort-
gesetzten Verfehlung von Gleichstellungszielen auch wirksamen Sanktionen — bleibt
der gleichstellungspolitische Fortschritt eine Schnecke.

Gleichstellung in Deutschland —
wo stehen wir aktuell?
In der EU dokumentiert der Gender Equality Index des European Institute for Gen-
der Equality den Stand der Gleichstellung in den Mitgliedsstaaten. Unter der deut-
schen G7-Präsidentschaft konnte 2022 ein neues Instrument für ein Gleichstellungs-
monitoring eingeführt werden, das sogenannte »G7 Dashboard on Gender Gaps«.
Darüber hinaus analysiert der jährlich erscheinende Gobal Gender Report des Welt-
wirtschaftsforums Entwicklungen auf dem Feld der Gleichstellung im weltweiten Ver-
gleich. Wenngleich Deutschland im Jahr 2022 auf Platz 10 der 146 verglichenen Staa-
ten vorgerückt ist, fällt der Blick auf den Stand der Gleichstellung ernüchternd aus.
Schließlich rangierte Deutschland im Jahr 2006 schon einmal auf Platz 5 des globa-
len Rankings — und zwar direkt hinter den skandinavischen Staaten Schweden, Finn-
land, Norwegen und Island, die seit Jahrzehnten als Vorbilder in Sachen Geschlech-
tergleichstellung gelten. Inzwischen liegen Länder wie Ruanda, Nicaragua, Namibia
und Irland vor Deutschland. Wir haben in Sachen Gleichstellung also nicht nur im eu-
ropäischen, sondern auch im weltweiten Maßstab an Boden verloren.
Dies gilt gerade für 2 Aspekte, die mit dem Blick auf die Herausforderungen der sozial-
ökologischen Transformation eine besondere Bedeutung haben: die Bildungsgerech-
tigkeit und die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen. Im Bereich der Bildungsgerech-
tigkeit fiel Deutschland zwischen 2021 und 2022 im weltweiten Vergleich von Platz 55
auf Platz 81 zurück. Rückgänge verzeichnet Deutschland insbesondere im Bereich der
Sekundärschulbildung von Mädchen. Überdies bestimmt auch in Deutschland weiter-
hin ein stereotypes Berufs- und Studienwahlverhalten das Bild, allen bisherigen Be-
Geschlechtergleichheit 079

mühungen um die Förderung von Mädchen und Frauen im MINT-Bereich zum Trotz.
Die bestehenden Maßnahmen gehören daher — auch angesichts der Digitalisierung
der Weltwirtschaft — auf den Prüfstand.
Aufmerken lässt zudem, dass die Chancen für eine gerechte wirtschaftliche Teilhabe von
Frauen in Deutschland laut dem Global Gender Report 2022 auf das Niveau des Jah-
res 2009 zurückgefallen sind. Weltweit bekleidet Deutschland in diesem Indikator nur
Platz 75 und hat allein zwischen 2021 und 2022 13 Rangplätze eingebüßt — wohl als
Folge der Corona-Pandemie, die sich auf die traditionell geringere Erwerbsbeteiligung
von Frauen, die sich überdurchschnittlich in Teilzeit und in prekären Minijobs wieder-
finden, noch einmal negativ auswirkte. Auch der Gender Pay Gap, also die Lohnlücke
zwischen Frauen und Männern, betrug 2022 im Durchschnitt noch 18 Prozent und be-
scherte Deutschland im europäischen Vergleich nur einen hinteren Rangplatz. Im
Vergleich der 27 EU-Staaten ist der Gender Pay Gap nur in Estland und Öster- 5
reich größer (Eurostat für 2021). Wesentliche Hürden für eine ökonomische Gleichstel-
lung von Frauen in Deutschland bilden neben einer weiterhin stark ausbaufähigen Kin-
derbetreuungsinfrastruktur auch Fehlanreize in der Sozial- und Steuergesetzgebung,
wie die geringfügige Beschäftigung und das Ehegattensplitting. Schließlich ist der ge-
samte Sektor der Care-Arbeit, in dem Frauen traditionell überrepräsentiert sind, un-
terfinanziert. Dies ist deshalb bedeutsam, da dieser als tragende Säule einer zukunfts-
orientierten »Green Economy« verstanden werden kann. Immerhin hat sich der Anteil
von Frauen auf Führungspositionen in der Wirtschaft, so etwa in Vorständen in DAX-,
MDAX- und SDAX-notierten Unternehmen, 2022 leicht auf 15,3 Prozent erhöht, wie der
Women-on-Board-Index von F ­ iDaR 2022 feststellt. Der Frauenanteil in den Aufsichts-
räten mit 34,9 Prozent verfehlt jedoch weiterhin das europäische Ziel von 40 Prozent.

Gleichstellung endlich umsetzen


Nüchtern bilanziert der Global Gender Gap Report 2022 des Weltwirtschaftsforums
den Stand der Gleichstellung. Demnach dauert es weitere 132 Jahre, bis die voll-
ständige Gleichstellung der Geschlechter erreicht werden kann — die Erreichung von
Ziel 5 der Agenda für nachhaltige Entwicklung 2030 rückt also in weite Ferne? Doch
wollen und können wir das Ziel nicht aufgeben. Die Frage ist vielmehr: Welche Schrit-
te und Maßnahmen sind notwendig, um Geschlechtergerechtigkeit schneller voranzu-
bringen und bis 2030 tatsächlich umzusetzen? Aus Sicht der Zivilgesellschaft bedarf
es dafür eines grundlegenden Perspektivwechsels in der Gleichstellungspolitik hin zu
einer strukturellen Verankerung von Gleichstellung in allen Ressorts. Dazu zählen eine
ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie, eine geschlechtergerechte Haushalts-
politik auf Ebene des Bundes, der Länder sowie der Kommunen und eine gleichstel-
lungsorientierte Gesetzesfolgenabschätzung.
So schafft erst eine verbindlich verankerte, ressortübergreifende Gleichstellungsstrate-
gie — umgesetzt unter Federführung des Kanzleramts — die notwendige Grundlage
für einen roten Faden in der Gleichstellungspolitik. Dazu bedarf es der Formulierung
verbindlicher Ziele in den einzelnen Politikfeldern, deren Halbwertszeit auch über die
jeweilige Legislatur hinausgeht.
Schließlich gestalten auch finanzpolitische Entscheidungen im Bundeshaushalt Gesell-
schaft und damit Geschlechterverhältnisse, wie ein 2020 veröffentlichtes Gutach-
ten des Deutschen Frauenrates zum geschlechtergerechten Bundeshaushalt belegt
hat. Im Gender Budgeting liegt eine große gleichstellungspolitische Chance. Denn:
Öffentliche Ausgaben können Geschlechtergerechtigkeit voranbringen. Dafür muss
080

die geschlechtergerechte Haushaltsführung im Bund als durchgängiges Prinzip um-


gesetzt werden, indem die Einnahmen und Ausgaben systematisch unter dem Aspekt
der Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit analysiert, geplant und bewertet wer-
den. Richtig umgesetzt, trägt geschlechtergerechte Haushaltspolitik auch zu einer
transparenteren Mittelverwendung und damit zu einer Modernisierung in der Regie-
rungsführung bei.
Und zuletzt gilt es, die Gesetzgebungsverfahren selbst stärker in den Blick zu nehmen,
da sie sich unterschiedlich auf Frauen und Männer auswirken können. Obwohl in
der Arbeitshilfe der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien die ge-
schlechterdifferenzierte Gesetzesfolgenabschätzung als Ziel formuliert ist, werden
in der Praxis die unterschiedlichen Auswirkungen von Vorhaben der Bundesregie-
rung auf Frauen und Männer nicht konsequent berücksichtigt. Ein Gender Check für
Gesetze und Maßnahmen muss dazu genutzt werden, Geschlechtergerechtigkeit zu
verbessern. So können auch bei scheinbar geschlechtsneutralen Gesetzgebungsvor-
haben und Maßnahmen verdeckte Benachteiligungen, Beteiligungsdefizite und die
Verfestigung tradierter Rollenmuster identifiziert und ausgeschlossen werden.
Wir haben keine Zeit zu verlieren. Machen wir den Weg für eine nachhaltig gestaltete,
geschlechtergerechte Gesellschaft frei.
Geschlechtergleichheit 081

5
Verfügbarkeit und n
­ achhaltige
Bewirtschaftung von Wasser
und Sanitärversorgung für alle
gewährleisten
6
Sauberes
Wasser und Sanitär-
einrichtungen
084

Weltbevölkerung nicht
einfach mal »müssen«
­warum die Hälfte der
»Ich muss mal …« —

Lena Bodewein
ist NDR-Journalistin; sie war von 2016
bis 2022 Hörfunkkorrespondentin der
ARD in Südostasien/Südpazifik; zuvor
war sie u. a. Hörfunk­korrespondentin für
die ARD in New York und berichtete
über die Arbeit der Vereinten Nationen.
kann
Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen 085

Eine der, sagen wir mal, bemerkenswertesten Szenen des Filmerfolges »Slumdog Mil-
lionaire« spielt auf bzw. unter einer Toilette, einer wackeligen Freiluftkabine über einer
großen Grube voller Fäkalien: Weil sein Bruder ihn dort eingeschlossen hat, muss der
junge Jamal sich in die Grube herablassen, um, von Kopf bis Fuß mit Exkrementen be-
deckt, rechtzeitig sein Bollywood-Idol zu erreichen. Was im Zusammenhang mit dem
Film als skurrile Szenerie fungiert, ist für viele Millionen Menschen Wirklichkeit, nicht
nur, wie im Film, in den Slums von Mumbai. Dutzende oder mehr Menschen müssen
sich dort oft einen unsauberen Verschlag als Toilette teilen, denn in ihren Häusern oder
Hütten gibt es einfach keine. Und wer zwischen Millionen von Menschen auf engs-
tem Raum ein urmenschliches Bedürfnis halbwegs unbeobachtet verrichten möchte,
nimmt diese windigen, dreckigen Kabinen in Kauf — und die Gefahren, die sie bergen:
Die britische Tageszeitung »The Guardian« berichtete vor einigen Jahren wiederholt
von Fällen, in denen das Gestell dieser Slum-Klos einstürzte und mehrere Menschen,
die sie gerade benutzten in den septischen Tank fielen. Einige von ihnen kamen dabei
ums Leben — ein Tod, den sich niemand wünscht.
Für Milliarden von Menschen besteht eine Toilette oft nur aus einem einzigen Ver-
schlag für viele, aus einem Eimer, einem stinkenden Loch im Boden, aus 2 Planken
6
über einer Matschkuhle oder einem Bach, aus einem Stab, an dem man sich auf dem
Feld hockend abstützt, aus einem Fleckchen Strand … kurz: Sie haben nicht das, was
für die westliche Welt selbstverständlich ist und worüber wir fast nie nachdenken: Auf
Toilette gehen, in geschützter Privatsphäre, sich erleichtern, ungestört, ungefährdet,
danach einfach einen Wasserhahn aufdrehen und die Hände waschen — das ist ein
Luxus, den ein beträchtlicher Teil der Weltbevölkerung nicht genießen kann. Aber es
ist auch ein Luxus, über den wir fast nie reden, denn wir betrachten ihn als »igitt« —
die Formulierungen, mit denen wir vermeiden zu sagen, dass wir die Toilette benut-
zen, sind zahllos: »Ich muss mal nach den Pferden sehen … mir die Nase pudern …
für kleine Königstiger … dahin, wo auch der Kaiser zu Fuß hingeht … die Hände wa-
schen … dem Ruf der Natur folgen … austreten … ein Bedürfnis verrichten …«
Dass wir, die diesen Bedürfnissen problemlos nachkommen können, zu schamhaft sind,
sie zu benennen, ist Teil des Problems: »Worüber wir nicht reden, das können wir nicht
ändern«, sagt Jack Sim, Gründer der World Toilet Organization, die in Zusammenar-
beit mit den Vereinten Nationen das Ziel von sauberen Toiletten für alle verfolgt. Doch
das ist ein harter Kampf: Die Weltbevölkerung wächst gerade in ärmeren Ländern —
und gerade dort fehlt der Zugang zu sicheren sanitären Einrichtungen. Dieser Man-
gel hat weitreichende Folgen.
Zum einen gesundheitlich: Fast 300.000 Kinder unter 5 Jahren sterben jährlich an
Durchfallerkrankungen, ausgelöst durch verschmutztes Wasser. Denn wo keine Toilet-
ten sind und die Menschen sich überall hin entleeren, ist die Sauberkeit des Trinkwas-
sers in Gefahr, und damit die Gesundheit. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO
müssen 2 Milliarden Menschen Trinkwasser nutzen, das mit Fäkalien verunreinigt ist.
Das bedeutet eben: Mehr als 800 Kinder unter 5 Jahren sterben deshalb täglich an
Durchfallerkrankungen, mehr als an Aids, Malaria und Masern zusammen!
Zum andern betrifft ein Mangel an sauberen oder überhaupt Toiletten auch die Bildung —
ein Zusammenhang, der erst beim zweiten oder dritten Hinsehen erkennbar ist: Denn
wenn eine Schule keine sanitären Einrichtungen hat, stellt das vor allem für Mädchen
ein Problem dar, besonders dann, wenn sie die Pubertät erreicht haben. Haben sie
keine Möglichkeit, sich während ihrer Regelblutung zu säubern, führt das oft dazu,
dass sie während dieser Zeit, also bis zu einer Woche im Monat, den Unterricht ver-
086

passen, weil sie lieber zu Hause bleiben. Oder den Schulbesuch ganz abbrechen. So
verlieren sie den Schutz der Schule, die Chance, ihre Situation zu verbessern, bleiben
arm. Oder werden in eine Frühehe gezwungen: Laut Unicef verringert nur ein einziges
Jahr auf einer weiterführenden Schule die Wahrscheinlichkeit einer erzwungenen Hei-
rat um mindestens 5 Prozent. Mädchen, die länger zur Schule gehen, heiraten später
und bekommen weniger und gesündere Kinder. Jedes weitere Jahr, das ein Mädchen
zur Grundschule geht, sorgt dafür, dass es später 10 bis 20 Prozent mehr verdient, so
Unicef. Alles verloren, wenn es keine Toiletten gibt. Und der Verlust von Bildung schlägt
sich für das ganze Land nieder. Gerade in armen Ländern würden gebildete Frauen
das Ende der Armut voranbringen.
Des Weiteren führt der Mangel an sicherem Zugang zu sanitären Einrichtungen zu mehr
Verbrechen: Dort, wo sich Mädchen und Frauen auf ein Feld oder hinter einen Busch
zurückziehen müssen — womöglich in der Dunkelheit — sind sie besonders angreif-
bar, werden belästigt, vergewaltigt, ermordet. All das, weil es nicht genügend Toilet-
ten gibt.
»Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für
alle gewährleisten« — so heißt SDG 6, das Nachhaltige Entwicklungsziel Nr. 6 der Ver-
einten Nationen. Doch beim jetzigen Entwicklungstempo werden 2030 fast 3 Milli-
arden Menschen (2,8 Milliarden) keinen Zugang zu Toiletten haben und mehr als die
Hälfte der Weltbevölkerung mit unbehandelten Abwässern leben müssen. Denn wie
Jack Sim von der World Toilet Organization erklärt: »Selbst wenn du eine Toilette hast,
gibt es da noch zweieinhalb Milliarden Menschen, deren Abwässer unbehandelt blei-
ben.« Und Schmutzwasser wiederum verunreinigt das Trinkwasser, bleibt auf den Fel-
dern oder überall dort, wo Kinder spielen. Damit wären wir wieder bei den Durchfaller-
krankungen, denen insgesamt 2 Millionen Menschen pro Jahr zum Opfer fallen.
Ein ernüchternder Zustand. »Die Welt ist weit von Ziel 6 entfernt, Wasser und sanitäre
Einrichtungen für alle bis zum Jahr 2030 zu erreichen«, sagt Gilbert F. Houngbo, Vor-
sitzender von UN Wasser und Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisati-
on. »So bleiben Milliarden Menschen weiterhin durch Infektionskrankheiten gefähr-
det, vor allem nach Katastrophen, die auch durch den Klimawandel hervorgerufen
werden.« Houngbo bezieht sich auf den jüngsten GLAAS-Report, die Globale Analy-
se und Einschätzung von Sanitären Einrichtungen und Trinkwasser durch WHO und
UN Wasser, der Ende 2022 erschienen ist. Demnach besteht dringender Handlungs-
bedarf auf globaler wie lokaler Ebene, um sauberes und nachhaltig bewirtschaftetes
Trinkwasser, sanitäre Einrichtungen und Hygiene für alle zu erreichen — nur so könn-
ten verheerende Folgen für die Gesundheit von Millionen Menschen verhindert wer-
den. Es brauche in vielen der 120 Länder, die der Bericht miteinbezieht, mehr Tempo
fürs Erreichen von Ziel 6. Zwar sind immerhin 45 Prozent der Länder dabei, ihre nati-
onal abgesteckten Ziele einer Abdeckung mit Trinkwasser zu erreichen. Schaut man
auf den sicheren Zugang zu sanitären Einrichtungen, sieht es anders aus: Laut Weltge-
sundheitsorganisation sind gerade einmal 30 der betrachteten Länder auf dem Weg,
ihr nationales Sanitärziel zu schaffen.
Der Direktor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, ruft darum Regierungen und Ent-
wicklungspartner auf, ihre Investitionen zu erhöhen und die WASH-Systeme zu stär-
ken. WASH, das steht für »Wasser — Sanitärversorgung — Hygiene«, ein Netzwerk,
dem sich in vielen Ländern Hilfsorganisationen angeschlossen haben. In internationa-
len Einsätzen befasst sich WASH zum Beispiel auch mit Wasser-, Sanitär- und Hygie-
neversorgung in Katastrophenlagen.
Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen 087

Denn die schlechte sanitäre Lage weltweit wird durch Krisen weiter verstärkt — das
kennen wir aus zahlreichen Medienberichten, nach der Katastrophe kommen die Fol-
gekatastrophen: Hunger und Wasserknappheit sind das eine, der Mangel an sanitä-
ren Einrichtungen das andere. Ausbrüche von Cholera und anderen Seuchen folgen
auf Dürren (zu wenig Wasser für sanitäre Einrichtungen), Überschwemmungen (sani-
täre Einrichtungen ruiniert, Abwässer überall hingespült), Kriege (alles zerstört). Und:
»Die steigende Häufigkeit und Intensität von klimabedingten Extremwetterereignissen
erschweren weiterhin die Umsetzung von sicherer Wasser-, Sanitär- und Hygienever-
sorgung«, so WHO-Chef Ghebreyesus weiter. Das heißt: Der Klimawandel verstärkt
die sanitäre Notlage weiter: Zum einen führt er oft zu den oben genannten Naturka-
tastrophen wie Überschwemmungen oder Dürren, zum andern gibt es einen Grund
auf der Meta-Ebene: Er überdeckt die Dringlichkeit vieler anderer Themen. Jack Sim
von der World Toilet Organization meint, es habe alle anderen Programmpunkte ver-
drängt, von allen nachhaltigen Entwicklungszielen bekomme der Klimaschutz inzwi-
schen am meisten Finanzierung. Dabei zählten nicht nur grüne Themen, sondern
auch braune Themen — eben das Thema Toiletten, sanitäre Versorgung. 6
Diese Offenheit, mit der Jack Sim spricht, ist Programm. Denn die Peinlichkeit, die das
Thema für viele Menschen begleitet, sei auch ein Grund dafür, dass nichts geändert
wird. Aber nicht mit Jack Sim: Er nennt sich »The World’s #2 Man« — das ließe sich
übersetzen als »Der Mann fürs große Geschäft«. Kein Kalauer ist ihm zu tiefgegriffen,
um seine Mission ins Gespräch zu bringen. Und er weiß, wovon er spricht: Als er in Sin-
gapur aufwuchs, »da hatten wir kein eigenes Klo, es gab nur ein Häuschen für mehre-
re Familien, und da war ein Eimer. Alles lag darin, Binden, Kacke, Klopapier — und im-
mer flogen Fliegen um dich herum, das war traumatisch«. Inzwischen hat Singapur mit
die duftigsten und saubersten Toiletten der Welt.
Auch das lässt sich nur erreichen, wenn man das Thema anspricht. Jack Sim kennt kei-
ne Berührungsängste. »Die meisten Menschen tun so, als gingen sie nie auf Toilette,
als hätten sie keine Beziehung dazu!« Gemeinsam mit dem Singapurer Science Cen-
tre hat er eine Ausstellung konzipiert, »Know your poo«, »Kenne deine Kacke« — zur
Begrüßung kann man auf einer thronartigen Porzellantoilette Platz nehmen, »der kö-
nigliche Thron«. Das ist die Wichtigkeit, die Jack Sim weltweit für dieses Thema er-
reichen möchte — »wir versuchen alles, um der Toilette einen Glamourfaktor zu ver-
leihen«, meint er; weg von der Peinlichkeit, hin zur Aufmerksamkeit. Darum hat er
2001 den Welttag der Toilette ins Leben gerufen — am 19. November wird weltweit auf
die Bedeutung guter Sanitärversorgung hingewiesen, und auf dem Rasen vor dem
Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York steht dann eine riesige aufblasbare
Toilette. Selbst auf den kleinsten Pazifikinseln wie denen des Staates Kiribati wettei-
fern die Dörfer an dem Tag miteinander, wer denn die schönsten Toiletten aufweisen
kann — wenn es überhaupt welche gibt. Denn hier — wie auch in zahlreichen anderen
Inselstaaten — benutzen viele Bewohner die weißen Sandstrände in den türkisblauen
Lagunen, um sich zu entleeren. Die Idylle ist also schnell dahin, wenn die Flut die Fä-
kalien in die Trinkwasserquellen spült und in dem kleinen Südseestaat Hunderte Kin-
der pro Jahr an Durchfallerkrankungen sterben.
Wenn es gelingt, das Thema Sanitärversorgung auf die politische Agenda zu heben,
dann sei viel gewonnen, meint Jack Sim. Zum Beispiel in Indien: Dort hatte Premier
Modi zum Amtsantritt versprochen, 100 Millionen neue Toiletten zu bauen, denn Indien
solle sauberer und hygienischer werden. Trotzdem werden sie, so berichten Zeitungen,
gerade auf dem Land lieber als Lagerhäuschen benutzt, während die Besitzer weiter
088

aufs Feld gehen. Denn der Bau allein ist es nicht, die gesundheitliche Aufklärung muss
damit einhergehen. Nur eine weitere Herausforderung auf dem Weg zu Toilettennut-
zung für alle, eine, die sich mit entsprechend begleitender Erziehung meistern lässt.
Das Toilettenthema muss für die Öffentlichkeit weniger peinlich werden, viel glamourö-
ser, auch für Politiker und Investoren. Sagt Jack Sim. Zumindest einen Gleichgesinn-
ten auf großer Bühne hat er: Bill Gates. Auch er will die Toilettenrevolution; auch er ist
sich nicht zu schade, beispielsweise mit einem Glas voller Kot ans Rednerpult zu tre-
ten. Er geht es allerdings technisch an: Die Bill & Melinda Gates Stiftung hat 2011 das
»Reinvent the Toilet«-Programm ausgerufen, für das der Milliardär weltweit wirbt. Seit
August 2022 berichten Medien über eine Kooperation mit Samsung — der südkorea-
nische Konzern entwickelt anscheinend eine Hightech-Toilette, die Fäkalien sicher ent-
sorgt, durch einen integrierten Verbrennungsofen und eine Recycling-Anlage. Doch
bis diese Variante überall dort, wo Toiletten fehlen, zum Einsatz kommen kann, braucht
es noch sehr viele Investitionen.
Die aber — und da kommen wirtschaftliche Argumente zum Tragen — lohnen sich. Bei
einem Toiletten-Kongress in China sagte Bill Gates, unsichere Sanitärversorgung kos-
te die Wirtschaft geschätzte 223 Milliarden US-Dollar — durch höhere Gesundheits-
kosten, verlorene Produktivität und Löhne.
Umgekehrt lohnt sich jeder Dollar, der in Sanitärversorgung gesteckt wird — und zwar
bis zu 9 Dollar an verbesserter Produktivität durch bessere Gesundheit und andere
Vorteile, so Studien, die das Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen zitiert.
Das ist vielleicht nicht der Glamour-Faktor, den sich Jack Sim für das Thema Toiletten-
versorgung wünscht. Doch Wirtschaft zieht. Und mit welchen Argumenten auch im-
mer die Sanitärversorgung für alle erreicht werden kann — für die Menschen, die da-
durch ein besseres, gesünderes, sichereres Leben bekommen, ist die Toilette dann
wie ein Thron.
Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen 089

6
090

Zeiten des Klimawandels


Quelle von Kooperation?
Wasser als Politikum in
Konfliktpotenzial oder

Prof. Dr. Susanne Schmeier


ist Professorin für Wasserrecht und Was-
serdiplomatie am IHE Delft und arbeitet vor
allem zu rechtlichen und institutionellen
Rahmenbedingungen von Kooperation im
Wasser- und Umweltbereich; sie berät sie
Regierungen und internationale Organisa-
tionen zu Wasserkooperation; zuvor war
sie u. a. für die Gesellschaft für internatio-
nale Zusammenarbeit (GIZ), die Welt-
bank und verschiedene Flussgebietsorga­
nisationen tätig.
Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen 091

Wasser ist essenziell für menschliches Leben und Überleben, aber auch für die sozio-
ökonomische Entwicklung sowie die politische Stabilität von Städten, Regionen und
ganzen Ländern. Dies hat die internationale Gemeinschaft mit dem nachhaltigen Ent-
wicklungsziel 6 (SDG 6), welches Wasser erstmals als eigenständiges Element nach-
haltiger Entwicklung definiert, anerkannt und sich verplichtet, Wasser- und Sanitär-
versorgung weltweit zu verbessern, aquatische Ökosysteme und Wasserressourcen
besser zu schützen und ihre Qualität zu verbessern, sowie Kooperation zwischen ver-
schiedenen Nutzern zu verbessern. Gleichzeitig ist die Kontrolle über Wasser oftmals
auch mit politischem Einfluss oder Macht verbunden. Somit wird Wasser oft zum Po-
litikum — und wird es in Zukunft wohl noch häufiger werden.
Im öffentlichen Diskurs steht dabei meistens das Konfliktpotenzial von Wasser im Vor-
dergrund. Insbesondere seit den 1990er Jahren — im Kontext der nicht traditionellen
Sicherheitsdebatte — und nochmals mehr seit den 2010er Jahren — im Rahmen des
Klimasicherheitsdiskurses — warnen Politiker sowie Medien immer wieder vor Kriegen
um Wasser. Und zahlreiche Beispiele scheinen dies zu bestätigen: Vielerorts im
Sahel gibt es immer wieder gewaltsame Zusammenstöße zwischen Ackerbauern
und Viehzüchtern, die um knappe Wasserressourcen konkurrieren. Im Iran sprengen
6
Landwirte Rohrleitungen, die Wasser aus den ohnehin von Trockenheit bedrohten
ländlichen Gegenden in die ebenfalls wasserknappen Städte liefern. Und der Stau-
dammbau Äthiopiens am Nil hat den Widerstand Ägyptens ausgelöst, das sich in sei-
ner Wassersicherheit bedroht fühlt und mehrfach verkündete, diese notfalls auch mi-
litärisch verteidigen zu wollen.
Gleichzeitig gibt es aber auch — wenngleich deutlich weniger im Rampenlicht stehend —
gute Nachrichten: Weltweit überwiegen kooperative Interaktionen zwischen Wasser-
nutzern bei Weitem über Konflikte. Auf zwischenstaatlicher Ebene konnte dies durch
umfassende Forschung zahlenmäßig belegt werden. Die meisten Interaktionen zwi-
schen Staaten sind friedlicher und kooperativer Natur, und selbst die auftretenden
Konflikte bleiben so gut wie immer gewaltfrei. Auf staatlicher und innerstaatlicher Ebe-
ne gibt es dazu deutlich weniger Forschung. Dennoch zeigt sich, dass auch hier die
Kooperation überwiegt. Weltweit tun sich Menschen zusammen, um Wasserressour-
cen gemeinsam in ihrem Dorf, mit anderen Nutzern oder zwischen verschiedenen Sek-
toren zu managen.
Die Grundlage dieser fast überall friedlichen Nutzung gemeinsamer Wasserressourcen
sind Institutionen auf lokaler, nationaler, aber auch internationaler Ebene, die recht-
liche und politische Rahmenbedingungen formulieren, auf Basis derer verschiedene
Akteure Wasser nutzen können. Deren Funktionsfähigkeit ist essenziell für die Wah-
rung lokaler Kooperation um Wasser — gleichzeitig sind sie insbesondere in fragilen
Staaten oder konfliktträchtigen Regionen bedroht. SDG 6.5 (»Bis 2030 auf allen Ebe-
nen eine integrierte Bewirtschaftung der Wasserressourcen umsetzen, gegebenen-
falls auch mittels grenzüberschreitender Zusammenarbeit«) verpflichtet daher alle
Staaten, integriertes Wasserressourcenmanagement — auch auf zwischenstaatlicher
Ebene — sicherzustellen. Laut des letzten (2021) Fortschrittsberichts der UN haben
alledings erst 38 Prozent aller Länder dieses Ziel auf nationaler Ebene erreicht, wäh-
rend es auf zwischenstaatlicher Ebene sogar erst für 32 Prozent aller Einzugsgebiete
effektive grenzüberschreitende Managementinstitutionen gibt.
Auf lokaler Ebene sind dies oftmals kommunale — in vielen Weltregionen aber auch in-
formelle — Institutionen, die Wasser managen oder verteilen, etwa Bewässerungsko-
mitees oder Verhandlungsplattformen für Viehhirten und Ackerbauern. Im Tschad und
092

im Niger beispielsweise haben terroristische und illegitime Gruppen Regierungsinsti-


tutionen weitgehend aus der lokalen Regierung verdrängt und managen nun auch die
Wasserressourcen. Ähnlich verhielt es sich mit den Taliban in Afghanistan, die in den
von ihr kontrollierten Gebieten eigene lokale Wassermanagementorganisationen auf-
baute, die zumeist nicht die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung, sondern den Opi-
umanbau zum vorrangigen Ziel der Wasserwirtschaft machten.
Auf nationaler Ebene spielen funktionierende Gesetze und deren Umsetzung sowie die
Effektivität verschiedener Regierungsinstitutionen — und insbesondere die Zusam-
menarbeit zwischen ihnen — eine entscheidende Rolle. Im Iran beispielsweise kann
sich der Wassersektor — aus dem Energieministerium heraus gemanagt — bislang
nicht gegen die Übermacht des Landwirtschaftsministeriums durchsetzen, sodass
es trotz sich ständig verschärfender Wasserknappheit mit katastrophalen ökologi-
schen und wirtschaftlichen Folgen noch kaum zu Einsparungen bei der Wasserent-
nahme kommt.
Und auf internationaler Ebene sind es mehr als 800 internationale Abkommen und mehr
als 120 Flussgebietskommissionen, durch die sich Staaten vielfach auf völkerrecht-
lich verbindliche Weise verpflichtet haben, ihre gemeinsamen Wasserressourcen so
zu bewirtschaften, dass negative Folgen für andere Anrainerstaaten vermieden oder
begrenzt werden.
Aktuelle Herausforderungen können das inhärente Konfliktpotenzial von Wasser jedoch
verstärken: Eine wachsende Bevölkerung in vielen Teilen der Welt benötigt nicht nur
mehr Wasser, sondern auch Nahrungsmittel und Energie. Somit kommt es immer öf-
ter zu Zielkonflikten zwischen Sektoren, aber auch zwischen SDG 6 und anderen nach-
haltigen Entwicklungszielen (insbesondere SDG 2 zu Ernährung und SDG 7 zu Ener-
gie). Bereits heute ist die Landwirtschaft weltweit der größte Wasserverbraucher — mit
durchschnittlich über 70 Prozent des Gesamtwasserverbrauchs, in ariden und semiari-
den Regionen sogar über 90 Prozent. Und der Bau von Staudämmen für die Produktion
von Wasserkraft hat oftmals umfassende negative Folgen für die lokalen Bevölkerun-
gen und Ökosysteme, wie beispielsweise die anhaltende Debatte um die ökologischen
Folgen der Staudämme am Mekong zeigt.
Die zunehmende (Über-)Nutzung von Wasserressourcen insbesondere durch den Land-
wirtschafts- und Energiesektor schädigt Ökosysteme und wirkt sich oftmals katastro-
phal auf die Biodiversität aus. Nicht umsonst ist der Biodiversitätsverlust in den letzten
Jahrzehnten in Süßwasserökosystemen so hoch wie in keiner anderen Habitatart. Da-
mit verlieren künftige Generationen wichtige Quellen von Ökosystemdienstleistungen.
Hier drücken sich ebenfalls inhärente Zielkonflikte zwischen verschiedenen nachhalti-
gen Entwicklungszielen aus, die nur durch effektive Institutionen auf allen Ebenen auf-
gelöst werden können — an denen es jedoch weiterhin oftmals fehlt.
Und der Klimawandel steigert nicht nur die Variabilität in der Wasserverfügbarkeit und
verstärkt den Druck, Staudämme zu bauen, um grüne Energie zu generieren und sich
an größere Wasservariabilität anzupassen, sondern stellt auch bestehende Kooperati-
onsarrangements infrage. Beispielsweise der Helmand-Vertrag zwischen Afghanistan
und Iran, der Wasser zwischen beiden Ländern aufteilt, ist heute schon weitgehend
hinfällig, da der Helmand-Fluss zumeist weniger Wasser führt, als der Vereinbarung
ursprünglich zugrunde lag.
Hinzu kommt, dass Interaktionen zu Wasser — gerade zwischenstaatlicher Natur — in
einen größeren geopolitischen Kontext eingebettet sind. Globale Trends wie eine Ab-
kehr von multilateralen Institutionen und eine Rückkehr zum Unilateralismus, in Kom-
Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen 093

bination mit Fake News und der Infragestellung wissenschaftlicher Fakten, erschwe-
ren auch denjenigen die Arbeit, die sich auf eher technischer und wenig politisierter
Ebene für kooperatives Wassermanagement einsetzen.
Es kann daher davon ausgegangen werden, dass das Konfliktpotenzial um Wasserres-
sourcen — zwischen einzelnen Gruppen, innerhalb, aber auch zwischen Staaten — zu-
nehmen wird. Dass Wasser ein Politikum ist und wohl noch stärker wird, wird sich wohl
kaum vermeiden lassen. Ob dies aber tatsächlich zu verstärkten Konflikten mit all ih-
ren negativen humanitären, sozioökonomischen und politischen Konsequenzen führen
wird oder aber neue Wege der Kooperation zwischen Menschen, Gemeinschaften und
Ländern eröffnet, wird davon abhängen, ob und wie es politischen Akteuren — aber
auch der Gesellschaft insgesamt — gelingt, funktionsfähige Institutionen zu schaffen
und zu erhalten, die Konflikte entschärfen und Kooperation fördern — auch und gera-
de unter sich intensivierenden Rahmenbedingungen.

6
094

Natur lebenswichtig
Sauberes Wasser!
Für Mensch und

Sascha Maier
ist Referent für Gewässerpolitik beim
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutsch-
land e.V. (BUND); zuvor war er Vorstands-
mitglied beim BUND Brandenburg und
Campaigner bei Rewilding Oder Delta e. V.,
Schwerpunkte seiner Arbeit sind Fließge-
wässerschutz und Wasserrahmenrichtlinie.
Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen 095

Über das Element Wasser stellt der Historiker David Blackbourn in seinem Buch »Die
Eroberung der Natur« die Geschichte der deutschen Landschaft dar. Anhand meh-
rerer Fallstudien wie der Trockenlegung des Oderbruchs, der Wasserkraftgewinnung
oder dem Dammbau wird die vermeintlich glanzvolle Geschichte der »Modernisie-
rung« und des Fortschritts aufgezeigt. Doch Blackbourn macht deutlich, dass sich
bei den meisten Historikern das Interesse auf die Kehrseite der Medaille verlagert hat.
Denn die durch oft von selbstüberschätzender Zuversicht inspirierten technischen
Großprojekte hatten viele unvorhergesehene Folgen. So bewirkte die »Eroberung«
des Wassers einen Rückgang der Biologischen Vielfalt. Die vor einem Jahrhundert er-
richteten Trinkwassersperren erhöhten den Grad an Wasserversorgung zwar, gleich-
zeitig entwickelten die Menschen dadurch ein Verhaltensmuster eines unkontrollier-
ten und somit nicht nachhaltigen Wasserverbrauchs. Staudammbauten hatten auch
die Vertreibung von Menschen und somit Verlust lokalen Wissens zur Folge. Es wur-
den also mit der Beseitigung von Unsicherheiten und Beschränkungen an der einen
Stelle an anderer Stelle neue Gefahren und Restriktionen erzeugt.1
Ohne die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, wollen die Vereinten Nationen
mit dem Nachhaltigkeitsziel 6 bis 2030 sauberes Wasser und Sanitärversorgung für
6
alle, also derzeit rund 8 Milliarden Menschen, gewährleisten. Die Wasserqualität soll
verbessert werden, indem u. a. die Verschmutzung durch gefährliche Chemikalien be-
endet wird. Zudem sollen die Gewässer als natürliche Ökosyste-
1 Blackbourn, David
(2008): Die Eroberung der me geschützt und wiederhergestellt werden. Verbunden mit den
Natur. München, S. 18 ff. globalen Herausforderungen aufgrund der Klima- und der Biodi-
2 Das Umweltprogramm versitätskrise, den Folgen der mittlerweile für beendet erklärten
der Vereinten Nationen (UNEP) COVID-19-Pandemie, sowie der laufenden militärischen Konflikte
und die Europäische Union gestaltet sich dies als eine Herkulesaufgabe.
haben unterschiedliche Defi­
nitionen, wie ein Gewässer
Geringe Fortschritte bei der
als »gut« einzustufen ist. In der
Europäischen Union weist die Erreichung des Nachhaltigkeitsziels
Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) Zusammen mit den anderen Nachhaltigkeitszielen trat im Jahr 2016
anspruchsvolle Ziele für das
Erreichen eines guten Zustands
das Ziel »Wasser und Sanitärversorgung für alle« in Kraft. Dabei
aller Oberflächengewässer wurden Teilziele formuliert, bei denen es aber bislang nur geringe
und des Grundwassers auf. Fortschritte gibt. Weltweit haben immer noch 2 Milliarden Men-
Demnach erreichen allein in schen (26 Prozent der Weltbevölkerung) keinen ständigen Zugang
Deutschland nur 9 Prozent aller
Oberflächengewässer einen
zu sauberem Trinkwasser (SDG 6.1) und 3,6 Milliarden Menschen
sehr guten oder einen guten (geschätzt 46 Prozent) keinen Zugang zu sauberen Toiletten, deren
ökologischen Zustand bzw. Abwasser behandelt und sicher entsorgt werden kann (SDG 6.2).
Potenzial und keines der Ober- Die Wasserqualität soll durch Verringerung von Verschmutzung
flächengewässer erreicht einen
guten chemischen Zustand. und Steigerung der Wiederaufbereitung verbessert werden. Von
den weltweit gemeldeten Gewässern wurden 60 Prozent zwar als
vgl. BMUV/UBA (2022):
Die Wasserrahmenrichtlinie — »gut« eingestuft.2 Aber nicht alle Gewässer wurden gemeldet und
Gewässer in Deutschland von den 75.000 gemeldeten lagen mehr als drei Viertel in 24 Län-
2021. Fortschritte und Heraus­ dern mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt. Hierbei wurde die
forderungen. Bonn, Dessau
Situation der 20 ärmsten Staaten kaum berücksichtigt. Weltweit
↘ t1p.de/fq6qb
fließen bis zu 44 Prozent der kommunalen Abwässer ungeklärt in
Gewässer und gefährden somit Umwelt und Trinkwasservorräte
(SDG 6.3). Das Wasser ist nicht nur zu stark verschmutzt, es mangelt auch an ihm. Um
eine nachhaltige Entnahme und Bereitstellung von Süßwasser zu gewährleisten, ist die
Effizienz der Wassernutzung wesentlich zu steigern. Hier gab es zwar einen Anstieg
096

von 2015 bis 2018 um 9 Prozent. Doch die Wasserknappheit ist regional sehr unter-
schiedlich ausgeprägt, so ist sie in der SDG-Region Zentral- und Südasien hoch und
in Nordafrika kritisch (SDG 6.4). Die Umsetzung einer integrierten Bewirtschaftung
von Wasserressourcen schreitet zwar voran, um das Ziel bis 2030 zu erreichen, muss
die Geschwindigkeit aber verdoppelt werden (SDG 6.5). Schon bis 2020 war vorgese-
hen, wasserabhängige Ökosysteme (Berge, Wälder, Feuchtgebiete, Gewässer inklu-
sive Grundwasserleiter) zu schützen und wiederherzustellen. Die vorhandenen Daten
über die Ökosysteme sind nicht präzise genug, um Trends über Jahre feststellen zu
können. Aber einer der Hauptindikatoren zeigt bereits, dass sich die Fläche der natür-
lichen Feuchtgebiete seit 1700, also dem Zeitpunkt vor der Industrialisierung, um 80
Prozent verringert hat (SDG 6.6). Zwar sollen die internationale Zusammenarbeit und
die Unterstützung der Entwicklungsländer beim Kapazitätsaufbau im Bereich der Was-
ser- und Sanitärversorgung ausgebaut werden, aber die Daten sind bislang nicht er-
fasst. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)
schätzt die öffentliche Entwicklungshilfe für den Bereich »Wasser« im Jahr 2020 welt-
weit auf 8,7 Milliarden US-Dollar, im Jahr 2002 waren es nur 2,7 Milliarden US-Dollar
(SDG 6.a). Die Unterstützung und Stärkung lokaler Gemeinwesen
3 vgl. United Nations (2023):
durch gesetzliche bzw. politische Verfahren zur Mitwirkung an der The United Nations World Water
Verbesserung der Wasserbewirtschaftung und der Sanitärversor- Development Report 2023:
gung wird in mehr und mehr Staaten angegangen, aber jedoch im- Partnerships and Cooperation
for Water. Paris
mer noch auf zu niedrigem Niveau (SDG 6.b).3

Partnerschaften und verbesserte Zusammenarbeit


Zur Halbzeit der UN-Dekade »Wasser für nachhaltige Entwicklung« fand im März 2023
eine große Wasserkonferenz der Vereinten Nationen statt — die erste seit 1977. Im
Vorfeld wurde im Weltwasserbericht das Ausloten neuer Partnerschaften vorgeschla-
gen. Der Leitgedanke dabei ist, dass Zusammenarbeit sowohl die Bewirtschaftung von
Wasser als auch die politische Willensbildung verbessern. Mit einem konstruktiven
Austausch über Prioritäten und Strategien sollen innovative Lösungen angeregt und
die Effizienz gesteigert werden. Diese Überlegungen werden sowohl auf die Weltregi-
onen als auch auf die einzelnen Sektoren Landwirtschaft, Umwelt, Siedlungen Indus-
trie, Gesundheit und Klimawandel angewandt.

Beispiel wachsende Städte und Wasserbedarf


Am Beispiel der wachsenden Städte und den damit einhergehenden steigenden Was-
serbedarf lässt sich das verdeutlichen. Bislang erfolgt meist eine Umleitung des Was-
sers vom ländlichen Raum in die urbanen Gebiete. Die Städte sind so leicht versorgt.
Aber für die Landwirtschaft ergeben sich Nachteile: weniger Wasser für Bewässerung
führt beispielsweise zu geringeren Ernten. Das sorgt für weniger Einkommen vor Ort
und verschlechtert allgemein die Ernährungsversorgung. Durch neue Infrastruktu-
ren und Transferzahlungen gibt es aber Möglichkeiten des Ausgleichs. Im Umweltbe-
reich ist der Schutz von Wassereinzugsgebieten wesentlich. Die Stärkung der Fähig-
keit, dass Gewässer nach einer Störung zum Ausgangszustand zurückkehren, ist ein
Beitrag für die Anpassung an die Klimakrise. Gleichzeitig dienen resiliente Wasser-
ökosysteme sowohl Klimaschutz, indem sie Hochwasserspitzen abmildern und CO₂
speichern, als auch dem Schutz der Biologischen Vielfalt. Solche naturbasierten Lö-
sungen lassen sich über ihren Zusatznutzen leicht rechtfertigen. Flussabwärts gele-
gene Nutzergruppen wie Kommunen und Unternehmen haben ein Interesse, Wasser
Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen 097

langfristig, ausreichend und in guter Qualität zu erhalten und die Situation an fluss-
aufwärts gelegenen Lebensräumen zu verbessern. Oft werden dafür Wasserfonds
zur Finanzierung genutzt.
Mit der Weltwasserkonferenz 2023 soll ein Aufbruch erzielt werden. Das zentrale Ergeb-
nis der Konferenz ist eine globale Aktionsagenda für Wasser. In diese haben die Mit-
gliedsstaaten und andere Akteurinnen und Akteure bisher mehre-
4 United Nations: Water
Action Agenda ↘ t1p.de/4pqzp re hundert freiwillige Selbstverpflichtungen eingebracht.4 Auch
die deutsche Bundesumweltministerin erklärte nach der Konfe-
5 BMUV: Weltwasserkonfe-
renz der UN endet in New York renz, dass wir schneller handeln müssen als bisher, um unsere
mit ambitionierter Agenda Wasservorräte weltweit zu schützen und die Versorgung nachhal-
und über 660 Selbstverpflich- tig zu sichern. Es komme nun auf die entschiedene Umsetzung an.
tungen für besseren Wasser-
Die Bundesregierung will zur UN Water Action Agenda internatio-
schutz. Pressemitteilung
Nr. 043/23, 24.03.2023 nal mit Vorhaben vor Ort in der Demokratischen Republik Kongo,
im Nigerbecken, in Südafrika und mit der Kofinanzierung des UN-
Sonderbeauftragten für Wasser sowie national mit der Umsetzung der kurz vor
der UN-Konferenz beschlossenen Wasserstrategie beitragen.5 6
Indirekt genutztes Wasser in Deutschland
verursacht weltweite Wasserknappheit
Die Folgen der Klimakrise, verbunden mit regionaler Wasserknappheit, werden in
Deutschland immer spürbarer. Doch die gesamte Menge Wasser, die Unternehmen,
Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland in Anspruch nehmen, ist weit grö-
ßer als das nur vor Ort genutzte Wasser aus heimischen Gewässern. Die Menge des
indirekt genutzten Wassers, das durch den Wasserfußabdruck abgebildet wird, be-
stimmt sich maßgeblich durch Gütererzeugung im Ausland und Importe. Die Natio-
nale Wasserstrategie der Bundesregierung wurde mit einem um-
6 BMUV: Nationale Wasser-
strategie. Kabinettsbeschluss, fassenden Aktionsprogramm ergänzt. Darin ist vorgesehen, dass
15.03.2023 die Maßnahmen zum gemeinsamen und gleichzeitig nachhaltigen
7 Umweltbundesamt: Was- Schutz der globalen Wasserressourcen kurzfristig beginnen wer-
sernutzung privater Haushalte. den.6 Zum Wasserfußabdruck Deutschlands nennt das Umwelt-
14.10.2022 ↘ t1p.de/6wxas bundesamt einen konsuminduzierten Wasserverbrauch täglich
8 BUND (2020): Sauberes von rund 7.200 Liter pro Kopf oder für ganz Deutschland 219 Mil-
Wasser! Für Mensch und Natur liarden Kubikmeter pro Jahr. Davon stammen nur 14 Prozent des
lebenswichtig. ↘ t1p.de/dek2q
Wassers aus Deutschland, aber 86 Prozent aus dem Ausland.7 So
Statistisches Bundesamt tragen durch den Alltagskonsum von importierten Kleidern, Nah-
(2023): Wichtigste Herkunfts-
länder für Textil- und Beklei-
rungsmitteln etc. die in Deutschland lebenden Menschen zur Ver-
dungsimporte in Deutschland schmutzung und zum Verbrauch großer Wassermengen im Aus-
nach Einfuhrwert im Jahr 2022. land bei. Ungefähr 90 Prozent der in Deutschland gekauften
Hamburg ↘ t1p.de/0m2r importierten Kleidung stammt aus China, der Türkei und Bangla-
World Wildlife Fund (2014): desch — Regionen mit hohem Wasserstress. Mehr als 80 Prozent
Handle with Care: Under­
des Wasserverbrauchs der globalen Textilindustrie fallen beim An-
standing the hidden environ-
mental costs of cotton. World bau von Baumwolle an. Allein für die Herstellung eines Baumwoll-
Wildlife Magazine, Spring T-Shirts werden schätzungsweise 2.700 Liter Süßwasser benötigt.
2014 ↘ t1p.de/vromt Das entspricht der Menge, die eine Person in 2,5 Jahren trinkt. Zu-
dem verschmutzen Düngemittel und Pestizide das Grundwasser:
Etwa ein Viertel der global gehandelten Insektizide kommt beim Anbau von Baumwol-
le zum Einsatz. Nach der Landwirtschaft ist die Textilindustrie der zweitgrößte Was-
serverschmutzer der Welt.8
098

Die Fortschritte, das Ziel »Wasser und Sanitärversorgung für alle« bis 2030 zu errei-
chen, sind bislang ungenügend. »Der universelle Zugang zu Trinkwasser, Sanitärver-
sorgung und Hygiene ist für die globale Gesundheit unabdingbar.
9 United Nations (2022):
Um ihn bis 2030 zu erreichen, müssten die aktuellen Fortschritte um The Sustainable Development
das Vierfache gesteigert werden.«9 Es bleibt zu hoffen, dass die Ver- Goals Report. New York
sprechen der Weltwasserkonferenz 2023 nun auch realisiert werden.
Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen 099

6
Zugang zu bezahlbarer,
verlässlicher, nachhaltiger
und moderner Energie
für alle sichern
7
Bezahlbare
und ­saubere
Energie
102

von Morgen weltweit


Energieversorgung
neu aufstellen

Prof. Dr. Raimund Bleischwitz


ist wissenschaftlicher Geschäftsführer
des Leibniz-Zentrums für Marine Tropen-
forschung (ZMT) und Professor an der
Universität Bremen; zuvor hatte er von 2013
bis 2022 u. a. die Professur für N
­ achhal-
tige Globale Ressourcen an der University
College London inne und war Direktor der
Bartlett School of Environment, Energy
and Resources; von 2003 bis 2013 war der
Co-Direktor des Wuppertal-Institut für
Klima, Energie und Umwelt und Professor
am College of Europe in Brügge (Belgien).
Bezahlbare und saubere Energie 103

Einleitung
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die internationale Landkarte für Ener-
gie und Rohstoffe nachdrücklich verändert. Langjährige Gewohnheiten, im Winter
warme Häuser bewohnen und auf kostengünstige Energielieferungen für die Indust-
rie vertrauen zu können, sind trügerisch geworden. Die individuelle Gewissheit, beim
Aufdrehen der Heizung Wärme im Wohnzimmer zu haben, hängt für Viele nun am sei-
denen Faden von Lieferzuverlässigkeit und Leistbarkeit höherer Kosten.
Die »Zeitenwende« bedeutet konkret, dass Deutschland neue internationale Energie-
partnerschaften abschließt. International trifft der Energiehunger auf fragile Situatio-
nen in vielen Ländern. Weltweit haben ca. 800 Millionen Menschen keinen Zugang zu
einer Stromversorgung, und ca. 2,4 Milliarden Menschen nicht einmal Zugang zu zu-
verlässiger und sauberer Energie fürs Kochen. Mängel gelten auch für große Schwel-
lenländer wie China, Indien, Brasilien und Südafrika. Nach Kriegen ums Erdöl drohen
nun bewaffnete Konflikte beim Zugang zu Rohstoffen wie Lithium, Seltene Erden und
Kobalt, die für die Energieversorgung essenziell sind. Zudem zeigen sich soziale Kon-
flikte bei den Prioritätensetzungen: wer darf im Zweifelsfall am Netz bleiben, die In-
dustrie, die Wohlhabenden, oder arme private Haushalte?
Energie ist eine Schlüsselfrage für eine nachhaltige Entwicklung. Eine klug ange-
legte und international verantwortbare Strategie bietet vielfältige Chancen zur
Verwirklichung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Dabei zeigt sich eine Mitverantwortung
7
der Bürgerinnen und Bürger sowie der Industrie: jede hier nicht in Anspruch genom-
mene Kilowattstunde kann in einem international vernetzten Energiesystem für ande-
re zur Verfügung stehen. Sie kann den Unterschied ausmachen, ob es gesunde Ernäh-
rung gibt, Kinder bei Dunkelheit noch Schularbeiten machen können, Krankenhäuser
funktionieren oder Wasserpumpen zuverlässig arbeiten. Die Zeitenwende im Bereich
Energie ist insofern auch ein Kulturwandel zum weltweiten »Prinzip Verantwortung«
hin (Hans Jonas).
Der folgende Beitrag gibt einen Denkanstoß zum Kulturwandel in der Energieversorgung
von Morgen. Er ist motiviert vom UN-Nachhaltigkeitsziel 7 einer bezahlbaren und sau-
beren Energie für alle. Wir möchten Wege anregen, wie Energie zum Motor einer zu-
kunftsfähigen Entwicklung werden kann, wie Souveränität partnerschaftlich angelegt
werden kann und wie Solidarität im 21. Jahrhundert aussehen kann.

Energie als Motor für eine Erreichung der SDGs


Energie ist letztlich ein hoch vernetztes System, das von der Erzeugung über die Ver-
teilung hin zu vielfältigen Anwendungen geht. Wir sind mittlerweile mit Heizungssys-
temen vertraut und wissen, dass Mobilität mit dem Automobil auf Tankfüllungen oder
Batterieaufladungen angewiesen ist. Beim Stöbern stoßen wir auf Umwälzpumpen im
Keller, bei Stromausfällen registrieren wir mangelnden Zugang zu Bargeld und Am-
pelausfälle. An allfällige Beleuchtung in der Dunkelheit und gekühlte Nahrungsmittel
haben wir uns gewöhnt. Selbst das allgegenwärtige Internet wäre nach Stromausfäl-
len nicht mehr funktionsfähig.
Energie bedeutet jedoch mehr: Daseinsvorsorge, Sicherheit, Bildungschancen, soziales
Miteinander. Im Zusammenwirken mit anderen UN-Nachhaltigkeitszielen zeigt sich die
starke Rolle eines funktionierenden Energiesystems im Zieldreieck mit Ernährungssi-
cherheit und Wasserversorgung. Man spricht vom »Nexus« Wasser — Energie — Nah-
rungsmittel. Im Hintergrund muss die Rohstoffversorgung funktionieren, um Materi-
alien, Werkstoffe, und Pipelines bereitstellen zu können. Dazu gehören auch kritische
104

Materialien wie Kobalt, Lithium oder Seltene Erden, deren Abbau und Verarbeitung
energie- und umweltintensiv sind und die obendrein häufig Quelle von Konflikten sind.

Eine Zeitenwende hin zur Verwirklichung von »sauberer und


bezahlbarer Energie für alle« muss somit drei Elemente beinhalten:

1. Einen Aufbau von erneuerbaren Energien weltweit, mit


Prioritäten für die lokale und regionale Versorgung;
2. eine Beachtung der Ressourcenimplikationen, so dass
Ernährungssicherheit und Zugang zu Wasser verbessert
werden und Rohstoffe auf verantwortbare Weise ab-
gebaut und eingesetzt werden;
3. eine Abkehr vom fossilen Wirtschaftsmodell durch plan-
vollen Rückbau bei Kohle, Erdöl und Erdgas mit einer
Demokratisierung fossil abhängiger Politikstrukturen und
einer Transformation hin zu einer Kreislaufwirtschaft
(»Circular Economy«), die als weltweites Modell auch
die Ozeane mit einbeziehen würde.

Energie-Souveränität statt Nationalismus und Autarkie


Es geht also um Energie-Souveränität statt nationaler Großmachtphantasien. Die Eu-
ropäische Union gibt ein gutes Beispiel: sie ist nach dem Zweiten Weltkrieg aus der
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl hervorgegangen, also gemeinschaft-
lich bewirtschafteten Energievorräten und Schlüsselwerkstoffen. Sie ist heute ein Mo-
dell für einen geschmeidigen Austausch von Strom, Waren und Dienstleistungen über
frühere Grenzen hinweg. Selbst erfahrene Energiemanager können kaum vorhersa-
gen, ob in Norddeutschland erzeugter Strom über die oft ausgelasteten deutschen
Stromtrassen führt oder durch Nachbarländer wie Polen oder Belgien. Insofern ist es
konsequent, auch künftige Energieträger europäisch zu denken. Spanien, Italien und
Griechenland haben das Potenzial, starke Anbieter erneuerbarer Energien zu werden,
ähnlich wie Skandinavien und die Alpenländer ihre Wasserkraft nutzen und zur Verfü-
gung stellen.

Im Zeitalter geopolitischer Risiken und legitimer weltweiter Bedürfnisse nach Energie


bietet Energiesouveränität folgende Orientierungen und Chancen:

1. Ein Offenhalten von künftigen Möglichkeiten durch den


Aufbau und Erhalt eigener Fähigkeiten und die Vermeidung
einseitiger Abhängigkeiten;
2. eine Priorität für eine kluge Bedarfssteuerung durch Digi-
talisierung, angepasste Bedürfnisse, Ausbildung und
Weiterqualifizierung, und entsprechende Dienstleistungen;
3. glaubwürdige internationale Partnerschaften auf Augen-
höhe, in denen lokalen Bedürfnissen und kulturellen Beson-
derheiten Rechnung getragen werden kann.

Entsprechend bieten internationale Energiepartnerschaften mit Island, Namibia und


anderen die Chance, der dortigen Bevölkerung eine Mitgestaltung zu ermöglichen und
Bezahlbare und saubere Energie 105

Versorgungslücken vor Ort anzugehen. Denkbar sind auch »Bürgergeld«-Modelle, um


die lokale Bevölkerung an Exporterlösen für Energie teilhaben zu lassen. Ein ähnliches
Modell hat in Alaska über Jahre hinweg funktioniert.
Zugleich ergeben sich Chancen für neue Nachbarschaften im »Nexus«: Agrophotovol-
taik erzeugt Strom und beschattet zugleich wertvolle landwirtschaftliche Nutzfläche
in semi-ariden Gebieten; grüner Strom ermöglicht die lokale Tropfenbewässerung
für eine erhöhte Ernährungssicherheit. Wasserkraftwerke können Strom in Nachbar-
regionen exportieren, die wiederum Lebensmittel oder andere Handelsgüter anbie-
ten. Küstengebiete bieten hohes Potenzial für marine erneuerbare Energien (offshore
Wind, schwimmende Photovoltaik), wenn ihr Ausbau mit Meeresnaturschutzzonen
und anderen Bedarfsfelder abgestimmt wird.
Energiesouveränität führt letztlich zu einer Kultur der technologisch anspruchsvollen
Zusammenarbeit, der Gelassenheit, des Ausgleichs und des vernetzten Denkens. Sie
basiert auf Selbstbewusstsein und einer realistischen Abschätzung von sozialen Kos-
ten und beiderseitigem Nutzen. Man darf an ein neues EEG denken: vom rechtlich an-
geregten Ausbau durch das Erneuerbare Energien Gesetz der 1990er Jahre hin zum
allgemeinen Ertüchtigen — Ermessen — Gestalten des 21. Jahrhunderts.

Solidarität anders denken 7


Internationale Solidarität wird weiterhin erforderlich sein, wenn es um Anpassungen
an Klimaänderungen geht. Sie manifestiert sich beispielsweise im grünen Klimafonds,
aus dem Transformationen hin zur nachhaltigen Entwicklung im Globalen Süden mit
finanziert wird und im neuen globalen Anpassungsfonds. Zugleich gibt es Städtepart-
nerschaften und vielfältige Spenden (z. B. Firmenlauf), durch die konkrete nützliche
Projekte wie etwa die Montierung von Solarmodulen in Dorfschulen im Globalen Sü-
den angestoßen werden.
Neue Datenbanken zeugen von der verborgenen Kraft von »Fußabdrücken«: sie basie-
ren auf Kalkulationen für den täglichen Einkauf und jährlichen Verbrauch von Unter-
nehmen und Konsumentinnen und Konsumenten, sie führen den Energieverbrauch
oder Treibhausgasemissionen als neue Währung ein. Das »Carbon Disclosure Projekt«
(CDP) führt die Inventare von ca 15.000 großen Unternehmen weltweit, die ihre Emissi-
onen entlang der gesamten Lieferkette offenlegen. Etwa 450 gelten als Top-Performer.
Ein ähnliches Modell des Messens und Managens wird für Bürgerinnen und Bürger
getestet. So können weltweite Verantwortlichkeiten in eigene Ziele übersetzt werden,
ohne Problemverlagerungen zu betreiben. Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger sind
politisch relevante Akteure, deren Eigenanstrengungen Solidarität erzeugen.
Neues ökonomisches Denken spricht von Kosten des Zugangs zu Energiedienstleistun-
gen anstelle von Erzeugungskosten. Der aktuelle Bericht des zwischenstaatliches Kli-
marates (IPCC) beziffert erstmalig die gesunkenen Kosten der überwiegenden Zahl
klimafreundlicher Energieoptionen gegenüber den traditionellen fossilen Energiepfa-
den. Insofern sollte Deutschland auch einen Schwerpunkt der internationalen Ener-
giepartnerschaften auf Länder wie Indien, Indonesien, Südafrika, Kolumbien ausrich-
ten, die bislang ihre Zukunft in einheimischen fossilen Energieträgern sahen.
Internationale Energiefresser wie Flugreisen und Schifffahrt müssen durch eine Besteu-
erung ihren Beitrag zur Umsteuerung leisten. Gleiches kann auch für energieintensive
Produktionsketten gelten; die Europäische Union erwägt eine Besteuerung an Außen-
grenzen, um Billigproduktion und Raubbau in einen fairen Wettbewerb zu überführen.
Auch hier können Pilotprojekte Weichenstellungen leisten. Der Übergang auf grünen
106

Sekundärstahl wird erleichtert, wenn hochwertiges Schiffsrecycling gezielt ausgebaut


wird. Ein durchschnittliches Frachtschiff enthält etwa so viel Stahl wie 10.000 Au-
tos. Anstelle des hochproblematischen »Beaching« an Stränden des Globalen Südens
würden geordnete Rückführungen entstehen, die zugleich etwa 80 Prozent Energie-
einsparung gegenüber der Hochofenroute mit sich bringen. Weitere Projekte sind im
Ökotourismus möglich, wenn neue Formen der sauberen Energieversorgung anstelle
von Dieselgeneratoren zum Einsatz kommen.

Ausblick
Das SDG 7 bietet eine Chance, die Energieversorgung von Morgen weltweit neu auf-
zustellen. Grundprinzipien wären Souveränität und Solidarität, auch im wohlverstan-
denen Eigeninteresse und mit einer Neuordnung der Internationalen Beziehungen. Es
geht also sowohl um einen Ausgleich zwischen Industrienationen und dem Globalen
Süden als auch um einen Kulturwandel hin zu einer sauberen und bezahlbaren Ener-
gieversorgung für alle.
Bezahlbare und saubere Energie 107

Literatur

Andrews-Speed, Philip; et al. (2014): Want,


Waste or War? The Global Resource Nexus and
the Struggle for Land, Energy, Food, Water
and Minerals, Earthscan. Routledge, Milton Park
Behr, Alexander (2022): Solidarität. Wie wir
die imperiale Lebensweise überwinden und die
sozial-ökologische Transformation umsetzen.
Oekom-Verlag, München
Edler, Jakob; et al. (2023): Technologiesouverä-
nität: Von der Forderung zum Konzept. Fraunhofer
Institut für System- und Innovationsforschung,
Karlsruhe
Fuso Nerini, Francesco; et al. (2018). Mapping
synergies and trade-offs between energy and the
Sustainable Development Goals. Nature Energy
↘ t1p.de/y7je0
Welfens, Paul J. J. (2022): Russlands Angriff
auf die Ukraine. Ökonomische Schocks, Energie-
Embargo, Neue Weltordnung. Springer Verlag,
­Wiesbaden
108

Raus aus der Kohle —


an einen erneuten
Strukturwandel
Anforderungen

Prof. Dr. Kai Niebert


ist Präsident des Deutschen Naturschutz-
rings; seit 2022 ist er Vorsitzender des
Kuratoriums der Deutschen Bundesstiftung
Umwelt; er ist Mitglied im Rat für Nach­
haltige Entwicklung und hat die Bundes­
regierung in verschiedenen Kommissionen
beraten; seit 2014 ist er Professor für
Didaktik der Naturwissenschaften und
Nach­haltigkeit an der Universität Zürich;
zuvor war er u. a. Professor am Lehr-
stuhl für Didaktik er Naturwissenschaften
an der Leuphana Universität Lüneburg.
Bezahlbare und saubere Energie 109

Zeitenwende für saubere und bezahlbare Energie


Mit den 17 Sustainable Development Goals (SDGs) wurden Entwicklungsziele erstmals
wirklich global gedacht: Anders als bisherige UN-Zielsetzungen gelten die SDGs für
alle Länder. Das ist wegweisend, denn es nimmt auch die Industrieländer in die Pflicht,
ihre Hausaufgaben zu machen. Das SDG 7 — die Versorgung mit bezahlbarer, verläss-
licher, nachhaltiger und moderner Energie — könnte in Deutschland kaum aktueller
sein. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und der darauffolgende Anstieg der
Energiepreise haben schmerzhaft gezeigt, wie wichtig eine zuverlässige und bezahl-
bare Energieversorgung für Menschen und Industrie ist. Anstatt als Reaktion auf die
Energiekrise fossile Infrastrukturen auf Jahrzehnte zu zementieren, muss eine Zeiten-
wende für echte Energiesicherheit und -souveränität, für mehr Klimaschutz, eingeläu-
tet werden. Teilweise ist dies bereits geschehen. Von einer vollständigen Zeitenwende
beim Umbau unseres Energiesystems kann jedoch noch keine Rede sein. Denn wäh-
rend 2022 zwar 46 Prozent unseres Strombedarfs aus Erneuerbaren produziert wur-
den, wurde der deutsche Endenergieverbrauch lediglich zu 20 Prozent aus erneuer-
baren Quellen gedeckt. Dies kommt uns nicht nur volkswirtschaftlich teuer zu stehen,
weil die Folgekosten der Verbrennung von Kohle, Gas und Öl nach wie vor nicht einge-
preist sind. Unsere Abhängigkeit von fossilen Energien trifft gerade die Menschen
in unserem Land am stärksten, die ohnehin am wenigsten haben: Ökonomisch
schlecht gestellte Menschen müssen einen großen Anteil ihres Haushaltseinkommens
7
für Energiekosten aufbringen. Es ist deshalb nicht nur aus klima-, sondern auch aus
sozialpolitischer Perspektive essenziell, unsere Energieversorgung so schnell wie mög-
lich zukunftsweisend umzubauen. Nachdem die Ära der Atomenergie in Deutschland
am 15. April 2023 endgültig beendet wurde, muss als Nächstes so schnell wie möglich
der Energieträger verschwinden, der das Klima am meisten belastet: die Kohle. Den
damit einhergehenden Strukturwandel vor Ort gilt es nachhaltig mit Leben zu füllen.

Abschied von der Kohle?


Nachdem Umweltverbände bereits jahrelang den Ausstieg aus der Kohle gefordert hat-
ten, setzte die Bundesregierung 2018 die Kommission für Wachstum, Strukturwandel
und Beschäftigung ein, der auch ich, als Präsident des Deutschen Naturschutzrings,
angehörte. Gemeinsam mit BUND und Greenpeace vertrat ich gegenüber den Teilneh-
menden aus Politik, Industrie und Wissenschaft die Forderungen der Umweltverbän-
de. Nach monatelangen Treffen und einer entscheidenden Verhandlungsnacht legte
die Kohlekommission am 26. Januar 2019 schließlich ihren Abschlussbericht vor. Die-
ser empfahl, bis 2022 Braunkohlekraftwerke mit einer Kapazität von 3 Gigawatt so-
wie 4 Gigawatt Steinkohlekraftwerke stillzulegen. Bis 2030 sollten weitere 6 Gigawatt
Braunkohle und 7 Gigawatt Steinkohle vom Netz gehen. Das letzte Kohlekraftwerk soll-
te 2038 abgeschaltet werden, mit der Option, den Ausstieg auf 2035 vorzuziehen. Ge-
meinsam mit meinen Kollegen von BUND und Greenpeace waren wir überzeugt, dass
das klimapolitisch zu spät ist und energie- wie auch strukturpolitisch schneller ge-
hen kann und muss. Wir haben deshalb in einem Minderheitsvotum dafür gestimmt,
den Abschaltungspfad von 2023 bis 2030 deutlich zu beschleunigen und den Kohle-
ausstieg in Deutschland bis spätestens 2030 zu beenden. Und dennoch: Mit dem Be-
schluss war der Einstieg in den Ausstieg geschafft.
Das alles wirkt heute sehr weit weg. Mittlerweile ist zwar eine Regierung im Amt, die sich
den Klimaschutz auf die Fahnen geschrieben und im Koalitionsvertrag vereinbart hat,
den Kohleausstieg idealerweise auf 2030 vorzuziehen. Jedoch hat der Krieg Russlands
110

gegen die Ukraine und die knapper werdende Gasversorgung in Deutschland neben
anderen energiepolitischen Entscheidungen dazu geführt, dass Kohlekraftwerke län-
ger am Netz behalten werden. Mit dem Gesetz zur Bereithaltung von Ersatzkraftwer-
ken zur Reduzierung des Gasverbrauchs im Stromsektor wurde bis zum 31. März 2024
eine Gasersatz-Reserve eingerichtet. Öl- und Kohlekraftwerke sollen Strom liefern,
falls die Menge der Gaslieferungen für genügend Strom aus Gas nicht ausreicht, und
dafür auf Abruf für den Markt bereitstehen. Davon sind insbesondere Kohlekraftwerke
betroffen, die nach den Plänen für den Kohleausstieg eigentlich 2022 und 2023 außer
Betrieb gehen sollten. Für die Umweltverbände ist das eine bittere Pille. Nach den kli-
ma- und energiepolitischen Versäumnissen der letzten Jahre und dem krisenbeding-
ten Rückfall in fossile Strukturen müssen jetzt mehr denn je alle Weichen auf eine be-
zahlbare und saubere Energieversorgung gestellt werden.

Alle Macht den Erneuerbaren


In den letzten Legislaturperioden wurde versäumt, echte Klimapolitik zu betreiben:
Energiepolitisch wurde in den vergangenen Jahren viel zu wenig diversifiziert und zu
wenig dekarbonisiert. Es gab gigantische Subventionen für fossile Energieträger, zu
viel Blauäugigkeit, zu viel Trägheit. Und: Der Ausbau der erneuerbaren Energien wur-
de massiv ausgebremst. Hürden wie komplizierte und lange Planungs- und Geneh-
migungsverfahren oder Personalmangel in den Planungs- und Fachbehörden wurden
nicht abgebaut. Drastische Fehler, deren Auswirkungen wir während des russischen
Angriffskriegs auf die Ukraine und auf Europas Energieversorgung deutlich spüren.
Der massiv beschleunigte Ausbau der Erneuerbaren gehört zu den Grundvoraussetzun-
gen, um die unterschiedlichen Krisen — Klima-, Biodiversitäts- und Energiekrise — be-
wältigen zu können. Das Gute ist: Die Energiewende ist machbar. Auf unzähligen Dä-
chern und weiteren versiegelten Flächen kann und muss die Solarenergie mit einem
nie dagewesenen Tempo ausgebaut werden. Hier schlummert ein enormes Potenzial.
Daher gilt auch: Wir brauchen eine bundesweitere Solarpflicht für Dächer bei Neubau
oder Sanierung. Zudem wird die Anzahl großer Solarparks zunehmen, die uns güns-
tigen Ökostrom liefern. Hier brauchen wir bundesweit anwendbare und verpflichten-
de (Mindest-)Kriterien für Bau, Betrieb und Pflege von großen Freiflächenanlagen, die
auch den Belangen des Natur- und Artenschutzes ausreichend Rechnung tragen. Bei
der Windenergie an Land haben wir keine Zeit mehr für willkürliche Abstandsregelun-
gen, es bedarf Abnahmegarantien für Anlagenhersteller, Beschleunigung von Trans-
portgenehmigungen und klare, verständliche Standards bei Erfassungsmethoden von
Arten sowie einheitliche Regeln bei der Datenbereitstellung. Wir brauchen ein Mehr an
Entbürokratisierung, ein Mehr an Digitalisierung. Die Flächenziele für die Windenergie
an Land, die 2022 im neuen Windenergie-an-Land-Gesetz festgeschrieben wurden,
müssen weit vor 2032 erreicht werden. Gleichzeitig muss der Netzausbau vorange-
trieben werden. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Energiewende, der Ausbau der
Erneuerbaren, muss zentrales Projekt der deutschen und europäischen Industriepo-
litik werden. Lieferengpässe und Personalmangel dürfen uns auf dem Weg zu einem
Mehr an Energiesouveränität und auf dem Weg hin zur sozial-ökologischen Transfor-
mation nicht ausbremsen. Die Klima- und Biodiversitätskrise warten nicht. Wir dürfen
uns nicht im politischen Klein-Klein verlieren. Bereits in den vergangenen Jahren ha-
ben wir die verheerenden Folgen der Klimakatastrophe in Form von Waldbränden, Ern-
teausfällen und Überflutungen auch bei uns in Deutschland erlebt. Die Winterdürre in
Italien und Frankreich führte u. a. dazu, dass der Wasserverbrauch gedrosselt wurde.
Bezahlbare und saubere Energie 111

Strukturwandel — aber wie?


Die Nutzung von Kohle schnellstmöglich zu beenden ist unabdingbar. Das konstante
Angebot an Energie, welches durch die Kohle über sehr lange Zeit gegeben war, wird
sich wandeln. Die erneuerbaren Energien werden zum Energielieferant Nummer eins.
Was bedeuten diese Entwicklungen, das Vorantreiben von mehr Energiesouveränität
und das Einstehen für eine echte sozial-ökologische Transformation für die Kohlere-
gionen und die Beschäftigten vor Ort?
Um der Klimakrise angemessen zu begegnen, um sozialen Frieden zu wahren und um
unsere Gesellschaft klimaneutral umzubauen, können wir die Verantwortung nicht auf
den Einzelnen abwälzen. Wir müssen unser gesamtes Wirtschaftssystem transformie-
ren und unseren Ressourcenverbrauch absolut reduzieren. Dabei können wir es uns
nicht erlauben, geeignete Instrumente aufgrund politischer Befindlichkeiten und Ideo-
logien außen vor zu lassen. Der Kampf gegen die Klimakrise ist eine Aufgabe für die
Politik und für die Gesellschaft. Den gesellschaftlichen Zusammenhalt dabei nicht zu
gefährden spielt eine zentrale Rolle.
Um eine tatsächliche und nachhaltige Transformation zu erreichen, brauchen wir von
der Politik mehr Mut und mehr Umsicht, mehr Gestaltungswille, ressortübergreifen-
den und vor allem konstruktiven Diskurs. Die Verhandlungen in der Kohlekommis-
sion waren noch deutlich vom Bild geprägt: Wir machen die Transformation für 7
euch, aber für euch wird sich nichts ändern: Der Strom wird grün, aber du arbeitest
künftig immer noch im gleichen Betrieb in der gleichen Region. Dieses Versprechen
war von Anfang an ein Fehler — kulturell wie politisch, denn die Transformation wird
grundlegender sein, und er entmündigt die Bürgerinnen und Bürger, da er sie von Sub-
jekten zu Objekten der Transformation macht. Doch das Gegenteil muss der Fall sein:
Die Menschen müssen Lust auf Transformation bekommen, wenn sie ein Erfolg wer-
den soll. Und die bekommen sie nur mit aktiver Teilhabe und Gestaltungsmöglichkeit.
Damit können wir die nötige Transformation zu sozialer, ökologischer und ökonomischer
Nachhaltigkeit erfolgreich vorantreiben. Die Strukturhilfen für die Kohleregionen müs-
sen zielgerichtet eingesetzt werden. Wir brauchen den Ausbau einer zukunftsorientie-
ren Infrastruktur, wir brauchen jetzt den intelligenten Mix an Maßnahmen und Instru-
menten, die ganze Klaviatur politischer Gestaltungsmacht, einen handelnden, starken
Staat. Wir brauchen eine bessere Kommunikation der Politik, die erklärt, warum wel-
che Umbrüche in einzelnen Regionen nötig sind und welche Chancen sie beinhalten.
Der Zugang zu bezahlbarer, nachhaltiger und vor allem sauberer Energie muss für alle
möglich sein. Um Klimaneutralität zu erreichen, dürfen wir die Dinge nicht einfach
nur ein bisschen besser und effizienter machen. Klimaneutralität bedeutet, die Din-
ge grundlegend anders zu machen. Wir werden in den 2030er Jahren anders essen,
anders mobil sein und anders arbeiten. Neue Jobs entstehen, unser Landschaftsbild
wird sich verändern, in einigen Regionen entstehen neue Wirtschaftsstrukturen. Nicht
alle Geschäftsmodelle werden eine Zukunft haben. Darin liegt aber auch eine enorme
Chance. Den Strukturwandel vor Ort müssen wir mit Leben füllen. Also müssen wir da-
für sorgen, dass auch die Jobs der Zukunft gute Jobs sind. Gut bezahlt und tarifge-
bunden. Die Teilhabe aller am gesellschaftlichen Wandel muss von der Politik gezielt
ermöglicht werden. Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen dürfen nicht mehr igno-
riert, sondern müssen konkret angegangen und gestaltet werden. Die Transformation
gelingt nur miteinander. Die Transformation gelingt nur, wenn alle dabei sind: Indus-
trie, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Politik und vor allem die Men-
schen in diesem Land.
112

Gerade in den Kohleregionen besteht enormes Potenzial, neue und insbesondere in-
novative Industriezweige und Forschungseinrichtungen mit internationaler Sichtbar-
keit anzusiedeln, die uns auf dem Weg hin zur Klimaneutralität unterstützen können.
Das Wasserstoffzentrum in der Lausitz sei hier nur als ein Beispiel genannt. Arbeits-
plätze werden zukünftig nicht mehr von fossilen Brennstoffen abhängen. Die massive
Landschaftszerstörung durch den Abbau von Kohle wird beendet, stattdessen erge-
ben sich neue Möglichkeiten im Bereich des — nachhaltigen — Tourismus. Die Partizi-
pation an einem erfolgreichen Strukturwandel muss für alle ermöglicht werden. Par-
tizipation, Zusammenhalt, eine gelebte Kooperationskultur und soziale Gerechtigkeit
dürfen in den betroffenen Regionen keine bloßen Worthülsen bleiben, die Demokra-
tie vor Ort muss tatsächlich gelebt, unterschiedliche Potenziale vor Ort müssen bes-
ser miteinander verbunden werden.
Die Bedeutung des Standortfaktors Lebensqualität muss erkannt, Kommunen vor Ort
bei der Erarbeitung zukunftsfähiger und nachhaltiger Visionen unterstützt, die Mo-
dernisierung der Verwaltung vor Ort vorangetrieben, die Natur vor Ort gestärkt und
als Standortvorteil gesehen, Vertrauen in die Politik vor Ort aufgebaut, Beteiligungs-
modelle identifiziert, Verkehrsanbindungen massiv ausgebaut, nachhaltige Wohnan-
gebote (Wohnkonzepte) erstellt und neue Konzepte der Stadtentwicklung erarbeitet
werden. Gerade die ehemaligen Kohleregionen können Vorreiter beim Vorantreiben
einer naturverträglichen und dringend benötigten Energiewende sein.
Bezahlbare und saubere Energie 113

7
Dauerhaftes, breitenwirksames und
nachhaltiges Wirtschaftswachs-
tum, pro­duktive Vollbeschäftigung
und menschenwürdige Arbeit für
alle fördern
8
­Menschenwürdige
Arbeit und Wirt-
schaftswachstum
116

Menschenwürdige
schaftswachstum
Arbeit und Wirt­

Yasmin Fahimi
ist Vorsitzende des Deutschen Gewerkschafts-
bundes; zuvor war sie von 2014 bis 2015 General-
sekretärin der SPD und von 2016 bis 2017 Staats-
sekretärin im Bundesministerium für Arbeit und
Soziales; von 2017 bis 2022 war sie Mitglied des
Deutschen Bundestags.
Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum 117

Mit der Agenda 2030 und ihren 17 Zielen (Sustainable Development Goals, SDGs) für
nachhaltige Entwicklung verfolgen die UN und die Weltgemeinschaft gemeinsam ei-
nen globalen Plan. Nachhaltiger Frieden und Wohlstand zum Schutz unseres Plane-
ten für alle Menschen jetzt und in Zukunft sollen gefördert werden. Weltweite bishe-
rige und zukünftige Missstände sollen am Ende systematisch abgeschafft sein. Alle
UN-Staaten haben sich verpflichtet, die 17 SDGs bis zum Jahr 2030 umzusetzen. Seit
2016 wird daran gearbeitet, diese gemeinsame Vision zur Bekämpfung der Armut und
Reduzierung von Ungleichheiten in nationalen Entwicklungsplänen und im globalen
Kontext zu realisieren.
Mit dem Nachhaltigkeitsziel 8 haben sich alle Länder verpflichtet, dauerhaftes, inklusi-
ves und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und men-
schenwürdige Arbeit für alle zu fördern. In den vergangenen Jahren ist einiges erreicht
worden. Leider gibt es aber auch Fakten, die eindeutig zeigen, dass noch viel Arbeit
vor uns liegt, wenn wir menschenwürdige Arbeit und sozial-ökologisches, nachhalti-
ges Wachstum für alle wollen. Nach wie vor muss rund die Hälfte der Weltbevölkerung
noch immer von etwa 2 US-Dollar pro Tag leben. Insgesamt beträgt die globale Ar-
beitslosenquote 5,7 Prozent. Nur 47 Prozent aller erwerbstätigen Menschen arbeiten
sozial abgesichert. Vielerorts garantiert ein Arbeitsplatz nicht den Hauch einer Chan-
ce, Armut zu entkommen.
Zusätzlich löste die COVID-19-Pandemie die schlimmste Wirtschaftskrise seit Jahrzehn-
ten aus. Zwar gab es eine leichte Erholung der Weltwirtschaft seit dem Ausbruch
der Pandemie. Ende 2021 kamen jedoch neue COVID-19-Infektionswellen, stei-
gende Inflation, erhebliche Unterbrechungen der Lieferketten, politische Unwägbar-
8
keiten in vielen Ländern und anhaltende Arbeitsmarktprobleme hinzu. Der Konflikt in
der Ukraine dürfte das globale Wirtschaftswachstum 2022 deutlich bremsen. Ver-
schiedene Schocks sorgen dafür, dass eine robuste wirtschaftliche Erholung, von der
auch die ärmsten Länder profitieren könnten, nicht geschieht. Wirft man einen kurzen
Blick auf einige ökonomische Kennziffern, wie die durchschnittliche jährliche Wachs-
tumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP), mag zwar ein leichter Zuwachs pro
Kopf weltweit von Jahr zu Jahr vorliegen, allerdings verlangsamt sich die Wachstums-
rate vieler Entwicklungsländer und entfernt sich weiter von dem für 2030 festgelegten
Wachstumsziel von 7 Prozent. Sinkende Arbeitsproduktivität, ein anhaltender Mangel
an menschenwürdigen Arbeitsplätzen und steigende Arbeitslosenzahlen lassen den
Lebensstandard aufgrund niedrigerer Löhne insgesamt sinken. Die Weltwirtschaftsla-
ge verbessert sich insgesamt langsam, doch die Erholung bleibt insgesamt fragil und
ungleichmäßig. Vor allem die ärmsten Länder verzeichnen keinen Fortschritt und kön-
nen damit nicht von einer verbesserten wirtschaftlichen Lage profitieren. Wenn wir
die Idee der Agenda 2030 umsetzen wollen, dürfen wir aber niemanden zurücklassen
(»Leave No one Behind«). Dieser ungleichmäßige Fortschritt fordert deshalb von uns
allen ein Umdenken und endlich ein Umsteuern unserer Wirtschafts- und Sozialpoli-
tik, um nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit zu fördern.
Für uns Gewerkschaften ist menschenwürdige Arbeit einer der Schlüssel zu nachhalti-
gem Wirtschaftswachstum, um Menschen auf Dauer wirtschaftliche und soziale Teil-
habe zu ermöglichen. Dafür setzen wir uns Tag für Tag in unserer Arbeit, national, eu-
ropäisch und international ein. Wir machen uns für eine globale Agenda stark, in der
Menschenrechte und Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern respektiert
werden. Menschenwürdige Arbeit »Decent Work« bedeutet für uns Arbeit mit guten
Arbeitsbedingungen, die Arbeits- und Gesundheitsschutz achten, in der es gerechte
118

Löhne für gute Arbeit gibt, in der Kinder- und Sklavenarbeit verbannt sind und staat-
liche Sozialpolitik die Lebensrisiken der abhängig Beschäftigten — auch und gerade
in den ärmeren Ländern — absichert, weshalb es aus unserer Sicht eine universelle
soziale Absicherung geben muss (»Universal Social Protection«).
Globale Schocks wie die COVID-19-Pandemie haben nicht nur gezeigt, wie anfällig un-
ser Wirtschaftssystem ist, auf das wir jahrelang gesetzt haben. Wir sind immer stär-
ker in Abhängigkeiten von Ländern mit autokratischen Systemen geraten. Wir haben
auf die Produktion essenzieller Waren, Güter und Bestandteile in anderen Teilen der
Welt vertraut. Kosten, Gewinne und marktliberale Argumente haben diese Politik des
ewigen Wachstums gelenkt.
Welche Auswirkungen beispielsweise die Unterbrechung der Lieferketten auf Produkti-
on, Verfügbarkeit von Produkten und Gütern hat, hat sich uns sehr deutlich gezeigt.
In vielen Branchen gab und gibt es empfindliche Verzögerungen, weil die Produkti-
on dringend benötigter Teile ausschließlich in anderen Teilen der Welt stattfand. Das
hat auch heimische Arbeitsplätze gefährdet. Wir haben zusätzlich durch dieses Sys-
tem akzeptiert, dass Waren und Güter zu nicht akzeptablen Arbeitsbedingungen für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hergestellt werden. Seit langer Zeit haben wir
Gewerkschaften darauf aufmerksam gemacht, dass es sich vor allem innerhalb der
Lieferketten zumeist um Arbeitsplätze mit menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen
handelt. Lieferketten haben insbesondere auch ein weibliches Gesicht in der Textil-
branche, wo Frauen überrepräsentiert sind und unter mehr als prekären Umständen
Textilwaren fertigen. Insofern bedeuten menschenwürdige Arbeitsbedingungen in
Lieferketten auch, dass wir das Nachhaltigkeitsziels 5 umsetzen, um endlich Gleich-
stellung der Geschlechter und die Rechte von Frauen zu sichern. Dass Lieferketten
Teil eines zukunftsorientierten, nachhaltigen Wirtschaftsmodells sind, wird also kaum
noch jemand behaupten wollen.
Wenn wir als Weltgemeinschaft unser Versprechen, dauerhaftes, inklusives und nach-
haltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdi-
ge Arbeit für alle zu fördern, einlösen wollen, brauchen wir jetzt ein Umsteuern. Aus
Sicht der Gewerkschaften können wir gemeinsam mit Politik, multinationalen Institu-
tionen und gesellschaftlichen Kräften unseren Beitrag leisten, die Rahmenbedingun-
gen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle
zu schaffen. Dazu gehören qualitativ hochwertige Arbeitsplätze, die die Wirtschaft
stimulieren und gleichzeitig dem Klimawandel gerecht werden. Wir brauchen Arbeits-
plätze, die menschenwürdige Arbeitsbedingungen, gerechte Löhne und eine soziale
Absicherung bieten, um Menschen auf Dauer wirtschaftliche und gesellschaftliche
Teilhabe zu garantieren.
Neben nachhaltigen Wertschöpfungsketten, die eine resiliente Produktion gewährleis-
ten und vor allem menschenwürdige Arbeitsplätze hervorbringen, müssen alle Akteu-
re ihren Teil der Verantwortung anerkennen, um die Umsetzung des Nachhaltigkeits-
ziels 8 im Rahmen der Agenda 2030 Realität werden zu lassen.
In Deutschland haben wir bereits einen ersten Meilenstein erreicht, der zeigt, dass Um-
steuern im Sinne von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern möglich ist. Um das Lie-
ferkettensorgfaltspflichtengesetz haben wir lange gekämpft. Seit Januar 2023 ist es
nun in Kraft. Es ist ein erster Schritt für mehr Verantwortung der Unternehmen für die
Arbeitsbedingungen in der gesamten Lieferkette. Es ist zum einen ein historischer Er-
folg für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, in mehrfacher Hinsicht. Zum ersten
Mal wird unternehmerische Verantwortung auf eine gesetzliche Grundlage gestellt.
Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum 119

Damit endet die Verantwortung nicht mehr vor dem Werkstor. Zum anderen ist es ein
historischer Erfolg für die Mitbestimmung als direktem Demokratieprinzip im Betrieb,
die die Kolleginnen und Kollegen mit konkreten Mitsprache- und Gestaltungsrech-
ten ausstattet. Zudem setzt das Gesetz auf einen Berichtsmodus, Kontroll- und Über-
prüfungsmechanismen inklusive Sanktionen. Damit können wir die Arbeitsbedingun-
gen für die Kolleginnen und Kollegen in den Lieferketten absichern und verbindliche
Standards für globale Lieferketten in nationalem Recht schaffen.
Als Gewerkschaften sind wir überzeugt, dass wir unsere Ziele für nachhaltige Wert-
schöpfungsketten und resiliente Produktion im globalen Kontext nur erreichen, wenn
wir globale Antworten geben. Das bedeutet, wir brauchen zusätzlich auf europäischer
Ebene und auf globaler Ebene verbindliche Regelungen und Instrumente, die einen
Mindestarbeitsstandard für Menschen in Lieferketten absichern. Mit ihrem Vorschlag
für ein europäisches Lieferkettengesetz hat die Europäische Kommission einen wichti-
gen Impuls auf europäischer Ebene gesetzt. Bis Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sichergehen können, auch innerhalb Europas von verbindlichen Standards profitieren
zu können, werden wir noch einige Anstrengungen unternehmen müssen. Das Verfah-
ren im Rahmen des europäischen Prozesses wird noch einige Zeit dauern.
Während wir in Europa bereits mit den Arbeitgebern über konkrete Entwürfe einer Richt-
linie diskutieren und uns gegenüber den europäischen Institutionen für Rechte aller
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Lieferketten einsetzen, werden wir auf glo-

politische Überzeugungsarbeit leisten müssen. Unser Ziel muss es sein, einen in-8
baler Ebene für verbindliche Mindeststandards in Lieferketten noch weiterhin viel

ternational verbindlichen Arbeitsstandard zu schaffen, den wir über die Internationa-


le Arbeitsorganisation der UN erreichen können. Gleichzeitig müssen wir dafür sor-
gen, dass staatliche Investitionen dazu beitragen, dass einerseits bereits bestehende
Arbeitsplätze mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen erhalten bleiben. Wir brau-
chen staatliche Investitionen andererseits, um dafür zu sorgen, dass auf Dauer neue
Arbeitsplätze entstehen, die gute Arbeitsbedingungen und gute Löhne versprechen.
Eine der größten Herausforderungen unserer Zeit ist es, die Transformation im Sinne der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu gestalten. Es geht darum, klimaneutrale Be-
schäftigung mit guten und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen zu schaffen, die
nachhaltig unseren Wohlstand sichert und in der Zukunft schafft. Innerhalb der glo-
balen Agenda müssen staatliche Investitionen neu gedacht und der soziale Dialog ge-
stärkt werden. Dies kann nur mit einer Transformationspolitik, die mit strategischen
Investitionen aktiv gute Arbeit gestaltet und klare Rahmenbedingungen schafft, ge-
lingen. Dazu gehört, dass Staaten öffentliche Investitionen zwingend an klare Krite-
rien von Standortentwicklung, Beschäftigungssicherung, Qualifizierungsstrategien
und gute Arbeit mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen knüpfen müssen.
Für eine neue, globale Agenda, die nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit menschen-
würdigen Arbeitsplätzen zum Ziel hat, braucht es aus Sicht der Gewerkschaften ein
Zusammenspiel mehrerer Maßnahmen. Globale Wertschöpfungsketten müssen neu
gestaltet werden, staatliche Investitionen müssen für bestehende und neue Arbeits-
plätze genutzt werden. Dazu müssen weitere Instrumente effektiver genutzt werden.
Handelsabkommen werden auf diesem Weg ein weiterer zentraler Baustein sein. Bi-
laterale und multilaterale Handelsabkommen sollen aus unserer Sicht nicht nur den
Import und Export aller Waren und Güter regeln. Zu Wirtschaftsbeziehungen gehö-
ren Rechte und Standards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die weltweit zu
achten und umzusetzen sind. Klare, durchsetzbare und vor allem sanktionierbare Re-
120

gelungen zum Schutz von Beschäftigten und der Umwelt sind unverzichtbar. Interna-
tionale Standards zu ratifizieren und national umzusetzen, müssen mit dem Abschluss
und der Ratifizierung von Handelsabkommen Hand in Hand gehen und sind aus un-
serer Sicht nicht verhandelbar.
Die Agenda 2030 richtet sich an alle: Staaten, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissen-
schaft und jede und jeden Einzelnen. Nur gemeinsam können wir daran arbeiten,
strukturelle Missstände abzubauen und für einen Umbau hin zu einer sozial-ökologi-
schen und nachhaltigen Wirtschaftspolitik zu sorgen, die menschenwürdige Arbeit
mit guten Arbeitsbedingungen, auch im Sinne des Arbeits- und Gesundheitsschut-
zes, sozial abgesichert und gute Löhne und Kollektivabkommen mit freien Gewerk-
schaften als natürlichen Bestandteil beinhaltet.
Als Gewerkschaften stehen wir an der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wir sind ein verlässlicher Partner, wenn es darum geht, gemeinsam mit der Bundes-
regierung und anderen zentralen Akteuren an der nationalen Umsetzung der Nach-
haltigkeitsstrategie zu arbeiten. Wir Gewerkschaften sind ein verlässlicher Partner an
der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und setzen uns für ihre Interes-
sen und Rechte im europäischen und internationalen Kontext ein. Wir sind bereit, un-
seren Beitrag zu leisten und Verantwortung zu übernehmen. Das erwarten wir auch
von allen anderen Akteuren.
Bis 2030 bleiben uns lediglich noch rund 7 Jahre, um die Ziele der Agenda zu erreichen.
Gelingt uns gemeinsam der Wandel hin zu einer nachhaltigen, sozial-ökologischen
Wirtschafts- und Sozialpolitik, haben wir die Chance, die Ziele der Agenda 2030 Re-
alität werden zu lassen, von der Millionen von Menschen profitieren können.
Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum 121

8
122

zwischen Traumjob
und Prekariat
Kulturarbeit

Olaf Zimmermann
ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
und Herausgeber von Politik & Kultur; er ist
Sprecher der Initiative kulturelle Integration,
Mitherausgeber von Zeitzeichen — Evangeli-
sche Kommentare zu Religion und Gesellschaft
sowie Vorsitzender des Stiftungsbeirats der
Kulturstiftung des Bundes.
Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum 123

Heinrich Heine und Gerhard Hauptmann beschrieben das Elend der Weber während
der Frühindustrialisierung. Emile Zola verarbeitete in seinem eindrücklichen Roman
»Germinal« die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den französischen Bergwer-
ken im 19. Jahrhundert. Bertolt Brecht dichtete die Fragen eines Arbeiters beim Bau
der bewunderten Werke. Irmgard Keun eröffnete mit »Gilgi, eine von uns« das neue
Genre der Romane, die sich mit der Lebenswelt weiblicher Angestellter auseinander-
setzen. Die Autoren des »Werkkreis Literatur in der Arbeitswelt« stellten die moderne
Arbeitswelt mit ihren Zwängen und Anforderungen in den Mittelpunkt ihres Schaffens.
Emine Sevgi Özdamar gehört zu den ersten Autorinnen und Autoren, die vom Leben
der sogenannten Gastarbeiter in Deutschland erzählten. Gün Tank zeichnet in ihrem
Roman »Die Optimistinnen« das Leben von sogenannten Gastarbeiterinnen aus der
Türkei und Spanien nach, die in Wohnheimen lebten und selbstbewusst und engagiert
für bessere Arbeitsbedingungen kämpften. Viele weitere Beispiele von Autorinnen und
Autoren könnten angeführt werden, die sich in ihrem Werk mit der Arbeitswelt, den
Arbeitsbedingungen und vor allem auch den Lebensbedingungen arbeitender Men-
schen auseinandersetzten. Literatinnen und Literaten, die sich mit ihrem Werk für
menschenwürdige Arbeit einsetzen, die Arbeiterinnen und Arbeitern ein Gesicht und
eine Geschichte geben. Arbeit, Arbeitswelt, Arbeitsbedingungen sind seit spätestens
Mitte des 19. Jahrhunderts ein Motiv in der Literatur, und sie sind seit diesem Zeitpunkt
auch Ausdruck von Emanzipation.
Doch wie sieht es mit der Darstellung künstlerischer Arbeit aus? Künstlerromane,
wie z. B. Goethes »Wilhelm Meister« oder auch Gottfried Kellers »Der grüne Hein- 8
rich«, thematisieren die innere Auseinandersetzung der Künstler-Protagonisten mit ih-
rer schwierigen wirtschaftlichen Lage, sie sind aber keine Werke über Kunst als Arbeit.
Fast schon sprichwörtlich ist Carl Spitzwegs Bild vom »Armen Poeten« oder Giacomo
Puccinis »La Bohème«. Im Mittelpunkt von Gabriele Tergits Roman »Käsebier erobert
den Kurfürstendamm« steht der Volkssänger Georg Käsebier, der von den Zeitungen
erst hochgeschrieben und schnell wieder fallen gelassen wurde. Heute könnte man
sagen, er ist eine erste, höchst amüsante und lesenswerte Abrechnung mit der Kultur-
und Kreativwirtschaft — insbesondere der Werbewirtschaft.
Trotz dieser und einiger weiterer Beispiele in der Literatur, der Bildenden Kunst, im Film
oder im Theater ist das Thema menschenwürdige Arbeit in der Kultur eher eine Rand-
erscheinung in der Kunst. Und auch die Künstlerinnen und Künstler, die sich für die
Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzen, werden — abgesehen von den ge-
werkschaftlich hoch organisierten Orchestermusikerinnen und -musikern — von den
Kolleginnen und Kollegen oft eher mit Staunen angesehen, als das ihnen Wertschät-
zung entgegengebracht wird. »Verbandskünstlerinnen und -künstler« heißt es oft hin-
ter mehr oder weniger vorgehaltener Hand.
Dennoch, Kunst ist Arbeit. In Kultureinrichtungen und -unternehmen wird gearbeitet.
Menschenwürdige Arbeit für alle bedeutet auch menschenwürdige Arbeit in Kunst
und Kultur. Gleichwohl muss gesehen werden, dass insbesondere die Kunstproduk-
tion besonderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt.

Hohe intrinsische Motivation


Wer einen Berufsweg im Kunst-, Kultur- oder Mediensektor einschlägt, hat sehr oft
eine hohe intrinsische Motivation. Dies gilt nicht nur für die künstlerische Arbeit im
engeren Sinne, sondern ebenso für diejenigen, die in der Administration, in der Tech-
nik oder im Management tätig sind. Arbeit im Kultur- und Mediensektor ist — wie in
124

anderen Branchen auch — arbeitsteilig organisiert, und jedes einzelne Gewerk oder
jede einzelne Einheit leistet einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen. Das gilt für die-
jenigen, die die Bühne aufbauen, ebenso wie für die, die für Licht und Ton zuständig
sind, das trifft auf jene zu, die die Texte lektorieren genauso wie für jene, die gestal-
ten, das gilt für jene, die eine Ausstellung aufbauen, ebenso wie für die, die die Rah-
men bauen. Viele weitere Beispiele ließen sich anführen. Werden nur die abhängig
Beschäftigten betrachtet und davon nur diejenigen, die in der höchsten Qualifikati-
onsstufe, den sogenannten Spezialisten, tätig sind, fällt auf, dass sie weniger verdie-
nen als die abhängig Beschäftigten in anderen Berufen (Schulz 2020, S. 233 f.). Das
Geld lockt also nicht.
Das Einkommen spielt eine noch deutlich geringere Rolle bei der Berufsentscheidung
der selbstständigen Künstlerinnen und Künstlern, die in der Künstlersozialversiche-
rung versichert sind. Sie haben für 2023 ein Durchschnittseinkommen von 19.988 Euro
im Jahr angemeldet. Das gemeldete Durchschnittseinkommen der männlichen Versi-
cherten lag mit 22.439 Euro im Jahr wiederum deutlich über dem der weiblichen mit
17.388 Euro im Jahr. Dabei variiert das Jahresdurchschnittseinkommen je nach Alter
und Berufsgruppe (Wort, Bildende Kunst, Musik, Darstellende Kunst).
Wird die Kultur- und Kreativwirtschaft betrachtet, waren laut Monitoringbericht Kultur-
und Kreativwirtschaft 2022 (Monitoringbericht 2023) im Jahr 2021 knapp 2 Millionen
Erwerbstätige in der Kultur- und Kreativwirtschaft tätig. Die Mehrzahl (56 Prozent) der
Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirtschaft war sozialversicherungspflichtig
beschäftigt, also angestellt. 12 Prozent der Erwerbstätigen sind Selbstständige, die
einen Umsatz über 22.000 Euro im Jahr erzielen. 18 Prozent sind sogenannte Mini-
selbstständige, die einen Umsatz unter 22.000 Euro im Jahr erreichen. 14 Prozent sind
geringfügig Beschäftigte, das heißt, sie haben einen Minijob und verdienten im Unter-
suchungszeitraum bis zu 450 Euro im Monat.
Die Selbstständigen mit einem Umsatz von mehr als 22.000 Euro im Jahr stellen dem-
nach die kleinste Gruppe an Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Die-
ses Verhältnis aus dem Jahr 2021 ist kein Sonderfall, sondern zieht sich durch die bis-
her vorgelegten Monitoringberichte Kultur- und Kreativwirtschaft durch.
Das heißt, unabhängig davon ob die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten betrach-
tet werden oder die solo-selbstständigen in der Künstlersozialkasse Versicherten oder
die Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft: Die Umsätze und daraus folgend
die Einkommen sind im Durchschnitt eher gering. Dies schließt nicht aus, dass eini-
ge wenige Stars sehr gut und viel verdienen. Sie bilden aber die Ausnahme und nicht
die Regel.
Daraus folgt zum einen, dass diejenigen, die sich für einen Berufsweg in Kunst und Kul-
tur entscheiden, eine, wie oben ausgeführt, hohe intrinsische Motivation mitbringen.
Zum anderen bleibt eine angemessene Vergütung bzw. Entlohnung eine Daueraufga-
be für den Kultur- und Mediensektor. Denn auch wer mit Leidenschaft bei der Arbeit
ist, muss dennoch seinen Kühlschrank füllen und die Miete bezahlen.
Eine Chance zur Verbesserung der Situation ist die Einführung von Basis-Honoraren, die
nach dem Corona-Schock von einigen Bundesländern auf den Weg gebracht wer-
den. Die Kulturministerkonferenz hat hierzu eine Matrix verabschiedet, die eine Orien-
tierung bietet. Sie muss nun mit konkreten Entgelten gefüllt werden, hierfür sind Ver-
handlungen zwischen den Bundesländern und den Verbänden bzw. Gewerkschaften
der Künstlerinnen und Künstler erforderlich. Es kann sein, dass die Einführung von
Basishonoraren, zunächst bedeutet, dass weniger Kulturprojekte öffentlich gefördert
Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum 125

werden, diejenigen aber eine auskömmlichere Förderung erhalten. Ich bin der festen
Überzeugung, dass eine solche — hoffentlich kurze — Phase durchgestanden werden
muss, denn es kann nicht sein, dass eine unzureichende Kulturförderung letztlich auf
dem Rücken der Künstlerinnen und Künstler ausgetragen wird. Darüber hinaus kann
es unter Umständen auch anders kommen. Bei der Einführung des Mindestlohns zum
1. Januar 2015 wurde das Menetekel an die Wand gemalt, dass Millionen von Jobs ver-
loren gingen. Dieses ist keineswegs eingetreten.

Gute Arbeitsbedingungen
Menschenwürdige Arbeit erschöpft sich aber nicht in einer adäquaten Bezahlung. Zu
menschenwürdiger Arbeit gehören auch die Arbeitsbedingungen und -beziehungen.
Sie unterliegen im Kultur- und Medienbereich teilweise besonderen Bedingungen.
So arbeiten im Theater, im Konzerthaus, auf Bühnen und auf Festivals die Menschen
oftmals dann, wenn andere Freizeit haben. Ähnlich anderen Branchen, wie etwa der
Gastronomie oder auch im Krankenhaus oder Pflegeeinrichtungen, weichen in Teilbe-
reichen des Kultur- und Mediensektors die Arbeitszeiten deutlich von einem Normalar-
beitsverhältnis an 5 Tagen die Woche mit geregelten Arbeitszeiten von 9 bis 17 Uhr ab.
Wer einen Beruf in einem der erwähnten Kulturbereiche wählt, lässt sich auf beson-
dere Arbeitsbedingungen ein. Arbeitsbedingungen, die neben den speziellen Arbeits-
zeiten oftmals von spezifischer, auch körperlicher Nähe geprägt sind. Gepaart mit der
geschilderten hohen intrinsischen Motivation und Genie-Vorstellungen kann dies
zu extrem aufgeladenen Situationen führen. Berichte über toxische Arbeitsatmo-
sphären, über Machtmissbrauch und auch über sexuelle Übergriffe bzw. Belästigung
8
müssen sehr ernst genommen werden. »Respektvoll Arbeiten in Kunst, Kultur und Me-
dien« unter dieser Überschrift hat der Deutsche Kulturrat im Juni 2023 einen Dialog-
prozess innerhalb des Kultur- und Mediensektors gestartet. Unter seiner Moderation
soll ein Verhaltenskodex für das Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien von den Verbän-
den der Künstlerinnen und Künstler, der Kultureinrichtungen, der Kulturunternehmen
und der Kulturvereine stattfinden. Der Prozess selbst ist ein Teil der Auseinanderset-
zung mit dem Thema. Konkret wird es unter anderem um die Frage gehen, ob der Kul-
tur- und Mediensektor besonders anfällig für Machtmissbrauch ist, und falls dies be-
jaht wird, mithilfe welcher Stellschrauben der Machtmissbrauch eingegrenzt werden
kann. Denn eines ist klar, mit menschenwürdiger Arbeit sind Machtmissbrauch oder
auch toxische Arbeitsatmosphären nicht vereinbar.

Arbeitskräftemangel
Darüber hinaus liegt es im ureigensten Interesse des Kunst-, Kultur- und Mediensek-
tors gute Arbeitsbedingungen anzubieten. Der Arbeitskräftemangel angesichts des
demografischen Wandels und des anstehenden Ausscheidens der geburtenstarken
Jahrgänge aus dem Erwerbsleben wird auch den Kunst-, Kultur- und Mediensektor
betreffen. Schon jetzt konkurrieren Kultureinrichtungen in den eher technisch ausge-
richteten Arbeitsbereichen mit Unternehmen aus der Privatwirtschaft der verschiede-
nen Wirtschaftszweige und sind teilweise schon mit Blick auf die Bezahlung, beispiels-
weise in den IT-Berufen, nicht konkurrenzfähig. Hier wird es darauf ankommen, sich
als attraktiver Arbeitgeber mit anderen positiven Aspekten, wie z. B. einem guten Ar-
beitsumfeld, zu präsentieren. Ferner gilt es, das noch vorhandene Arbeitskräftepoten-
zial zu heben. Hierzu zählt beispielsweise, Menschen mit Behinderungen in stärkerem
Maße Chancen im Arbeitsmarkt Kultur und Medien zu bieten (Zimmermann 2023). Die
126

Mehrzahl der Behinderten ist hochmotiviert. Vielen Kulturbetrieben, egal ob öffentlich


gefördert oder privatwirtschaftlich, fehlt aber oftmals das Wissen über die beruflichen
Kompetenzen von Behinderten sowie die möglichen Unterstützungsmaßnahmen, die
bei Eingliederungsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt unter Umständen in Anspruch ge-
nommen werden können. Der Deutsche Kulturrat führt daher derzeit zusammen mit
dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinde-
rungen, Jürgen Dusel, eine Werkstattreihe zusammen mit Behindertenverbänden und
Selbsthilfeorganisationen durch, um Teilhabeempfehlungen für den Kultur- und Me-
dienbereich zu erarbeiten. Die Teilhabe am Arbeitsmarkt Kultur und Medien wird da-
bei eine wichtige Rolle spielen.

Ein dickes Brett


Das Eintreten für menschenwürdige Arbeit im Kunst-, Kultur- und Medienbereich hat
viele Facetten — angefangen von der Bezahlung über die Arbeitsbedingungen bis zur
Inklusion — und ist das sprichwörtliche dicke Brett. Dieses dicke Brett zu bohren ist
im Sinne des Nachhaltigkeitsziels 8 »Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachs-
tum« eine Verpflichtung, für die es sich lohnt, sich einzusetzen.
Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum 127

Literatur

Bundesministerium für Wirtschaft und Klima-


schutz (2023): Monitoringbericht Kultur- und
Kreativwirtschaft 2022. Studie erstellt im
Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft
und Klimaschutz. Berlin 2023
Schulz, Gabriele (2020): Arbeitsmarkt Kultur.
Ausbildung, Arbeitskräfte, Einkommen. In:
Schulz, Gabriele; Zimmermann, Olaf: Frauen
und Männer im Kulturmarkt. Bericht zur
sozialen und wirtschaftlichen Lage. Berlin
Zimmermann, Olaf (2023): Künstlerische Qua-
lität und Behinderung schließen sich nicht
aus. In: Zimmermann, Olaf: Mein Kulturpoliti-
sches Pflichtenheft. Berlin, S. 68—69
Eine widerstandsfähige
Infrastruktur aufbauen, breiten-
wirksame und nachhaltige
Industrialisierung fördern und
Innovationen unterstützen
9
Industrie,
Innovation und
Infrastruktur
130

Hans-Peter Klös
Die EWSA-Arbeit

ist stellvertretendes Mitglied im Euro­


päischen Wirtschafts- und Sozial-
UN-Nachhaltig-
ausschuss; er war Geschäftsführer und
Leiter Wissenschaft am Institut der
deutschen Wirtschaft Köln.
im Spiegel der

Sandra Parthie
ist Vorsitzende des Binnenmarktaus-
schusses im Europäischen Wirtschafts-
und Sozialausschuss und Leiterin
des Brüsseler Büros des Instituts der
deutschen Wirtschaft.
keitsziele
Industrie, Innovation und Infrastruktur 131

Worum es geht
In den letzten beiden Dekaden hat sich eine Debatte um das Verhältnis von Wachs-
tum und Wohlstand entwickelt, die neue Konzepte, Indikatoren und Zielbündel für die
Beurteilung des wirtschaftlichen und nicht wirtschaftlichen Wohlergehens der Bevöl-
kerung hervorgebracht hat. Nahezu keine nationale ministerielle Agenda kommt mehr
ohne Monitoring und Assessment ihrer Maßnahmen mit Bezug auf die 2015 vereinbar-
ten 17 Nachhaltigkeitsziele der UN (Sustainable Development Goals, SDGs) aus. Die EU
legt sogar einen jährlichen SDG-Monitoring Report vor. Verstärkt wird diese Entwick-
lung auch vom deutlichen Wunsch in der europäischen Bevölkerung nach mehr Klima-
schutz und ökologischer Nachhaltigkeit:

1. Eine Eurobarometer-Umfrage aus dem Sommer 2021 zeigt,


dass der Klimawandel nach Ansicht der europäischen
Bürgerinnen und Bürger das schwerwiegendste Problem ist,
vor dem die Welt steht.
2. Eine Befragung von jungen Menschen in 45 Ländern,
die zwischen 1983 und 1994 (Millennials) und 1995 bis 2003
(Generation Z »GenZ«) geboren wurden, zeigt, dass ihnen
Umwelt- und Klimaschutz und Fragen von Gesundheit, Arbeits-
losigkeit und Wachstum gleichermaßen wichtig sind.

Auch für Führungskräfte der Wirtschaft steht der Klimawandel trotz zahlreicher ande-
rer und neuer Herausforderungen weiterhin oben auf der Agenda. Zugleich besteht in
vielen Organisationen immer noch eine Lücke zwischen der Einsicht in die Dring-
lichkeit des Themas und der konkreten Einbettung von Nachhaltigkeit in Strate-
gie, operativen Betrieb und Unternehmenskultur.
9
Im Durchschnitt hat die EU in den letzten 5 Jahren Fortschritte bei der Verwirklichung
der meisten Ziele erzielt, bei einigen Zielen mehr als in anderen, und nur in wenigen
Bereichen kam es zu leichten Rückschritten. An der Spitze der Verbesserungen ran-
gieren die Ziele »Peace and Justice« (SDG 16), »Poverty« (SDG 1), »Decent work and
Growth« (SDG 8) sowie »Affordable and clean Energy« (SDG 7).
Dass der SDG-Fortschritt durchaus nicht linear verläuft, kann zum einen auf Präferenz-
verschiebungen in der europäischen Bevölkerung einerseits und der Politik anderer-
seits zurückgehen. Zum anderen können sich — wie aktuell zu beobachten — die geo-
politische und die energiepolitische Lage in der EU drastisch verändern. Schon im
letzten europäischen SDG-Fortschrittsbericht wurde betont, dass diese Krisen »ein
großer Rückschlag für die SDGs und die menschliche Entwicklung auf der ganzen
Welt« seien. Zudem würden die globalen Auswirkungen des Krieges gegen die Ukra-
ine »höchstwahrscheinlich sogar die bisher erzielten Fortschritte zunichtemachen«.
Noch gar nicht umfassend abzusehen ist schließlich, inwiefern sich im Zuge dieser
Zeitenwende die Zielhierarchie der 17 SDGs untereinander und deren Zielkonflikte zu-
einander verändern werden.
Als Vertretung der Sozialpartner, der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie der Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialaus­
schuss (EWSA), eine der Gründungsinstitutionen der EU, eine besondere Rolle als
Stimme der Zivilgesellschaft. Er sieht sich den SDGs besonders verpflichtet und schuf
daher eine »Beobachtungsstelle für Nachhaltige Entwicklung« (Sustainable Develop-
ment Observatory). Sie ist das einzige Gremium innerhalb der EU-Institutionen, das
132

sich ausschließlich damit befasst, sektorübergreifende Nachhaltigkeitsmaßnahmen


voranzubringen. Durch öffentliche Anhörungen, Konferenzen, Workshops, aber auch
durch ihre Beiträge zu den EWSA-Stellungnahmen bietet sie eine einzigartige Platt-
form, die Menschen und Organisationen aus verschiedensten Fachgebieten und ge-
sellschaftlichen Gruppen zusammenführt und verbindet. Ihre Mitglieder arbeiten mit
ähnlichen Einrichtungen in den EU-Mitgliedstaaten, aber auch außerhalb Europas zu-
sammen. Auch durch diese Beobachtungsstelle setzt sich der EWSA dafür ein, die
grundlegenden SDG-Prinzipien unter anderem der sozialen Inklusion, der sauberen
Energie, des verantwortungsvollen Energieeinsatzes, eines nachhaltigen Konsums und
eines allgemeinen Zugangs zu Rechtsstaatlichkeit und öffentlichen Dienstleistungen
zu verwirklichen.
Nicht alle 17 SDGs haben in und für die EU dieselbe strategische Bedeutung. Um die
Nachhaltigkeitswende in Europa voranzutreiben, haben die Beobachtungsstelle und
der EWSA sich für die prioritäre Verfolgung einiger Ziele entschieden: ein gerechter
Übergang zu einer Niedrigemissions-, Kreislauf- und ressourceneffizienten Wirtschaft;
der Wandel hin zu einer sozial inklusiven Gesellschaft und Wirtschaft mit menschen-
würdiger Arbeit und Menschenrechten; der Wandel hin zu Nachhaltigkeit in Nahrungs-
mittelerzeugung und -verbrauch; Investitionen in Innovation, die langfristige Infra-
strukturmodernisierung und die Förderung nachhaltiger Unternehmen, der Beitrag
des Handels zu einer globalen nachhaltigen Entwicklung. Hauptinstrument zur Beein-
flussung der politischen Agenda der EU sind für den EWSA seine Stellungnahmen zu
den Gesetzesvorschlägen der EU-Kommission sowie eigeninitiativ und in Abstimmung
mit den Sozialpartnern ermittelte Prioritäten.
Doch der EWSA vertraut nicht nur auf Papier. Für eine bessere Sichtbarkeit, auch der Ak-
tivitäten rund um die SDGs, setzt der Ausschuss auf vielfältige Formate und schreibt
beispielsweise einen »EU Organic Award« aus, bei dem die besten und innovativsten
Akteure im Bereich der ökologischen/biologischen Produktion in der EU prämiert wer-
den. 2017 richtete der EWSA gemeinsam mit der Europäischen Kommission eine »Eu-
ropean Circular Economy Stakeholder Platform« ein, die den diversen Projekten aus
dem Bereich der Kreislaufwirtschaft eine Bühne, mehr Sichtbarkeit sowie Möglich-
keiten zum Austausch bietet. Sie unterstützt UN-Projekte wie den »Youth Visual Call«,
der gerade junge Menschen motivieren will, sich über Nachhaltigkeit auf kreative Art
und Weise Gedanken zu machen, oder die jährlich stattfindende »Circular Week«. Der
EWSA ist bestrebt, seine Reichweite in die europäische Zivilgesellschaft, aber auch zu
den europäischen politischen Entscheidungsträgern zu nutzen, um auf gute Projekte
und Ideen aufmerksam zu machen, als Sprachrohr für europäische Akteure im Bereich
der Nachhaltigkeit zu dienen und vielversprechende Initiativen sichtbarer zu machen.
Damit ist er ein Transmissionsriemen, der die SDGs von den »Grass Roots« bis in die
Spitzen der Politik hinein bewirbt und aktiv voranbringt.

Leitplanken der ESG-Arbeit des EWSA


Zur Orientierung für seine SDG-Arbeit kann der EWSA auf 5 grundsätzliche Leitplan-
ken vertrauen: Leitplanke 1 ist die klare Grundhaltung, dass sich ein nachhaltiges und
generationengerechtes Wachstum am ehesten durch eine marktwirtschaftliche Poli-
tik erreichen lässt. Gestützt auf international vergleichende Daten wird deutlich, dass
das Wirtschaftsordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft eine gute Ausgangspo-
sition bietet, um den transformativen Strukturwandel hin zu einer ressourcenschonen-
deren Produktion erfolgreich zu meistern. Bei einem internationalen Vergleich der 17
Industrie, Innovation und Infrastruktur 133

Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen für 164 Länder rangieren zahlreiche euro-
päische Länder auf vorderen Rängen, sowohl beim Niveau als auch bei der Verände-
rung. Dies gilt namentlich mit Blick auf die SDG-Zielbündel, die sich unter den Rubri-
ken Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit subsumieren lassen. Interessanterweise gibt es
dabei zwischen sozialer Gerechtigkeit und einem freiheitlichen Ordnungsrahmen ei-
nen positiven Zusammenhang (siehe Leitplanke 5). Zudem zeigt sich, dass Wohlstand
und soziale Gerechtigkeit in der Regel Hand in Hand gehen: Mit Ausnahme der USA
bieten Länder, die über einen hohen materiellen Wohlstand verfügen, zugleich mehr
soziale Sicherheit und Gerechtigkeit. Auch diesbezüglich hat Europa in der vergange-
nen Dekade den größten Fortschritt aller Länderblöcke aufzuweisen.
In einem marktwirtschaftlichen Rahmen ist als Leitplanke 2 essenziell, dass der derzeiti-
ge materielle Wohlstand nicht auf eine fehlende Bepreisung des Naturverbrauchs zu-
rückgehen darf. Ansonsten würde eine negative intertemporale Externalität erzeugt,
die zu einer Lastverschiebung in die Zukunft führt, deretwegen zukünftige Generati-
onen einen zunehmend höheren Preis bezahlen müssten. Dahinter steht als normative
Referenz das sogenannte »goldene Wachstum«, eine intergenerationale Balance zwi-
schen Gegenwartskonsum und Zukunftsinvestition. Dieser Gedanke der intergenera-
tionalen Nachhaltigkeit ist der »Goldenen Regel der Kapitalakkumulation« entlehnt,
einer makroökonomischen Regel für nachhaltiges Wachstum, nach der im Optimum
die volkswirtschaftliche Investitionsquote der volkswirtschaftlichen Gewinnrate ent-
sprechen sollte. Anders formuliert sollte eine Generation gerade jenen Teil ihres Ein-
kommens für die zukünftige Generation investieren, den auch die vorangegangene
für die jetzige Generation investiert hat.
Auch bei einem breiter angelegten Nachhaltigkeitskonzept bei der Wohlstands-
messung bleibt als Leitplanke 3 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) die wichtigste
Messgröße zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit und des Wohlstandsniveaus einer
9
Volkswirtschaft. Um diese zentrale Größe herum kann ein Satellitensystem aus un-
terschiedlichen Indikatoren zu 3 Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung grup-
piert werden, das sich aus ökonomischer Nachhaltigkeit (Profit), sozialer Nachhaltig-
keit (People) und ökologischer Nachhaltigkeit (Planet) zusammensetzt. Dieser Ansatz
ist mit der SDG-Betrachtung kompatibel und zeigt eine sehr enge Korrelation zwi-
schen alternativen Wohlfahrtsindikatoren wie dem »Human Development Index« oder
dem »Better Life Index« einerseits und dem BIP pro Einwohner andererseits auf. Das
BIP pro Einwohner ist damit neben seinen empirischen Vorteilen auch ein guter Indi-
kator für den Wohlstand eines Landes und die Lebensqualität der Bürger. Der SDG-
Ansatz stellt jedoch solche Erkenntnisse bisher noch nicht unbedingt in den konzep-
tionellen Mittelpunkt.
Leitplanke 4: Konzeptionelle Weiterentwicklungen der 17 SDG-Oberziele mit ihren 169
Teilzielen und mit 232 Indikatoren sind hilfreich für eine analytische Annäherung an
den Zusammenhang zwischen der SDG-Performance und einer wirtschaftlichen Per-
formance durch eine Fortschrittsmessung bei den SDGs. Durch diese starke Datenba-
sierung können Zielerreichungsgrade gemessen und grafisch sehr eingängig verdich-
tet werden. Allerdings stößt das Konzept auch an seine Grenzen: Die Vielzahl an Zielen
sorgt dafür, dass die Maßnahmen und Wege zu mehr Nachhaltigkeit unübersichtlich
sind und ein Gesamtbild schwerfällt. Um das Potenzial der SDG-Fortschrittsmessung
als Orientierung für die Politik und damit auch für den EWSA zu erhöhen, gibt es des-
halb seit kurzer Zeit einen aggregierten SDG-Index, mit dem auch Ländervergleiche
bei der Zielerreichung möglich sind. Zudem eröffnet sich damit eine empirisch unter-
134

legte Offenlegung von Zielkonflikten, indem eine Analyse der positiven und negativen
Korrelationen zwischen den einzelnen SDGs vorgenommen werden kann. Eine solche
Fundierung kann hilfreich sein, stärker die Opportunitätskosten politischer Entschei-
dungen und deren Folgekosten zu berücksichtigen.
Leitplanke 5: Durch stärker aggregierte Daten kann die Erreichung von SDGs analytisch
mit anders gelagerten Datensätzen verknüpft werden. Kombiniert man die SDG-Ziel-
erreichungsgrade mit Daten zur wirtschaftlichen Freiheit im internationalen Vergleich,
so zeigt sich nämlich, dass sich wirtschaftliche Freiheit und Nachhaltigkeit nicht nur
nicht widersprechen, sondern dass sie sogar komplementär sind. Danach weisen jene
Länder, die laut SDG-Index gute Ausgangsbedingungen haben, um die 17 Ziele zu er-
reichen, zugleich eine größere gesellschaftliche und unternehmerische Freiheit auf.
Umgekehrt tun sich Länder schwer, die stark reguliert sind, also etwa Unternehmen
und Gründern weniger Freiheiten gewähren. Politische, wirtschaftliche und gesell-
schaftliche Freiheit fördern Wohlstand und Nachhaltigkeit jedoch nur, wenn es ei-
nen verlässlichen Ordnungsrahmen gibt. Fehlen Eigentumsrechte, Rechtsstaatlich-
keit, Angebote an öffentlichen Gütern, Anreize zur Vermeidung von externen Effekten
(wie Luftverschmutzung) sowie politische Stabilität, sind nachhaltige Investitionen und
wirtschaftliche Tätigkeiten sehr risikoreich, unattraktiv und vor allem nur auf kurzfristi-
ge Rentabilität ausgerichtet. Diese Erfolgsfaktoren gesellschaftlicher Beteiligung und
wirtschaftlicher Prosperität sind aber letztlich alles Grundsätze einer regelbasierten
marktwirtschaftlichen Ordnung europäischer Provenienz.

Ausblick
In seiner Rolle als Stimme der europäischen Sozialpartner und der Zivilgesellschaft
wird auch der EWSA von der Zeitenwende erreicht, die zu veränderten Präferenzen
für unterschiedliche Ziele führen können, wie sie in den SDGs formuliert sind. Es ist
evident, dass sowohl innerhalb eines SDGs wie auch zwischen den einzelnen SDGs je
nach ökonomischer Situation in unterschiedlicher Intensität und Dringlichkeit auch
Ziele angestrebt werden können, die keinen direkten ökonomischen Bezug aufwei-
sen, wie etwa SDG 11 (Sustainable Cities and Communities) oder SDG 17 (Partners-
hips for the Goals), oder die in einem potenziellen Zielkonflikt zueinanderstehen, wie
etwa SDG 10 (Reduced Inequality) und SDG 13 (Climate Action), wie dies gerade ak-
tuell im Zuge der rapiden Energieverteuerung und deren negativen Verteilungswir-
kungen beobachtet werden kann. Zudem wirft der Ausbruch eines Krieges in Euro-
pa auch die Frage auf, ob die bisherigen SDGs diesen Punkt angemessen abzubilden
in der Lage sind. Hier bietet der EWSA einen Rahmen bzw. eine Plattform für einen
strukturierten Austausch über sich verändernde Zielsetzungen und Prioritäten in der
Gesellschaft. Er ist zugleich Spiegel und Sprachrohr der verschiedenen Gruppen ge-
genüber der europäischen Politik.
Denn letztlich bleibt es in einem demokratischen System die Aufgabe der Politik Wäh-
lerpräferenzen nicht nur mitzugestalten, sondern ihnen auch im politischen Handeln
Rechnung zu tragen. Wenn beispielsweise Klimaschutz in der Zielpriorisierung der
Bevölkerung deutlich nach oben rückt, dies aber ökonomische Konsequenzen in Form
höherer CO₂-Preise oder auch sinkenden Realeinkommen nach sich zieht, so hat dies
sicherlich Auswirkungen auf die Zielhierarchie im SDG-Kontext. Im Kern führen die-
se potenziellen Trade-offs zur gerade in der EU stets gestellten Frage nach dem Ver-
hältnis zwischen Wachstum, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit einerseits und den 3
Nachhaltigkeitsdimensionen »ökonomisch«, »sozial« und »ökologisch« andererseits.
Industrie, Innovation und Infrastruktur 135

Letztlich handelt es sich bei beiden Zieldreiecken um komplementäre Ziele, die im po-
litischen Handeln in Einklang miteinander und Balance zueinander gebracht werden
müssen. Der EWSA kann und wird hier weiterhin seinen Beitrag dazu leisten, wie die-
se Balance bestmöglich erreicht werden kann.

9
136

ländlicher Räume für


keitstransformation
eine Nachhaltig­
Die Bedeutung

Prof. Dr. Manfred Miosga


ist Professor in der Abteilung Stadt- und
Regionalentwicklung der Universität
Bayreuth; er ist Präsident der Bayerischen
Akademie Ländlicher Raum e. V.; zuvor
war er Berater für Stadt- und Regional­
entwicklung.

Lisa Maschke
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an
der Professur für Stadt- und Regional­
entwicklung am Geographischen Institut
der Universität Bayreuth; zuvor war
sie Beraterin für kommunale Nachhaltig-
keitsentwicklung.
Industrie, Innovation und Infrastruktur 137

Mit den Globalen Nachhaltigkeitszielen hat sich die Weltgemeinschaft verpflichtet, die
natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten und sich für menschenwürdige Lebensbe-
dingungen weltweit einzusetzen. Die Agenda 2030 unterstreicht die gemeinsame Ver-
antwortung und die Handlungsnotwendigkeit auf allen räumlichen Ebenen. Wie schon
in der vorausgehenden Agenda21 werden auch in den SDGs Städ-
1 vgl. Ashkenazy, Amit;
Calvão Chebach, Tzruya; te und Gemeinden besonders adressiert. Während das Ziel nach-
Knicke, Karlheinz; et al. (2018): haltiger Städte explizit genannt wird (SDG 11), sucht man hingegen
Operationalising resilience eine direkte Ansprache der ländlichen Räume in den 17 Hauptzie-
in farms and rural regions —
len der Vereinten Nationen vergeblich. Dabei fallen viele der formu-
Findings from fourteen case
studies. In: Journal of Rural lierten Zielsetzungen und Handlungsaufträge direkt oder indirekt
Studies 59, S. 211—221 in den Verantwortungsbereich ländlicher Räume und ihrer Kom-
2 / 4 vgl. Meyer, Michelle munen. Dies betrifft insbesondere die Ziele zum Klimaschutz und
A. (2016): Climate Change, dem Erhalt der Ökosysteme (SDG 13, SDG 14, SDG 15). Aber auch
Environment Hazards and Trinkwasserschutz (SDG 6) und der Ausbau erneuerbarer Energien
Community Sustainability.
In: Shucksmith, Mark; Brown,
(SDG 7) sind vor allem in ländlichen Räumen zu verorten. Von Ar-
David L. (Hg.): Routledge mut betroffene Bevölkerungsteile leben auch in ländlichen Räumen
­International Handbook of (SDG 1), in Ländern des Globalen Nordens ebenso wie in denen
Rural Studies. Abingdon, des Globalen Südens (Woods 2011a). Auch die zur Bekämpfung
S. 334—335
des Hungers (SDG 2) notwendige Sicherstellung der Nahrungsmit-
3 Freidhager, Rudolf;
telversorgung der (Welt-)Bevölkerung findet zuvorderst durch die
Schöppl, Georg (2019): Her-
ausforderungen multifunk­ Landwirtschaft in den ländlichen Räumen statt.
tionaler Waldbewirtschaftung Gleichzeitig sind rurale Räume existenziell von den Folgen der zu-
im Klimawandel. Modellfall nehmend existenziell bedrohlichen Krisen, wie der ungebremsten

9
­österreichische ­Bundesforste.
Erderhitzung, der zunehmenden Destabilisierung der Bio-
In: Sihn-Weber, Andrea;
Fischler, Franz (Hg.): CSR und sphäre durch das beschleunigte Artensterben, Bodendegra-
Klimawandel: Unternehmens- dation und Schadstoffeinträge und besonders von den Folgen der
potenziale und Chancen einer heutigen »imperialen Lebensweise« (Brand und Wissen) betroffen.1
nachhaltigen und klimascho-
So bilden Land- und Forstwirtschaft, Tourismus und Rohstoffab-
nenden Wirtschaftstrans­
formation, S. 314 bau nach wie vor die tragenden Wirtschaftszweige der ländlichen
Gornott, Christoph; Graß,
Ökonomien. Die Abhängigkeit dieser Sektoren von intakten loka-
Rüdiger (2022): Klimawandel. len Ökosystemen macht ländliche Räume besonders vulnerabel
In: Wachendorf, Michael; für die Folgen der existenziellen ökologischen Krisen.2 Land- und
Bürkert, Andreas; Graß, Forstwirtschaft haben zunehmend mit den Folgen des Klimawan-
Rüdiger (Hg.): Ökologische
Landwirtschaft. Stuttgart,
dels in Form von Sturmschäden, Starkregen, Waldbränden, Dür-
S. 237 ren und Schädlingsbefall zu kämpfen.3 Ihre Resilienz nimmt mit
der Erhitzung und der Verringerung der Artenvielfalt deutlich ab,
Schadstoffeintrag und Bodendegradation und -versiegelung zerstören dauerhaft ihre
Grundlagen. Gleichzeitig stehen ländlichen Gemeinden meist weniger finanzielle Mit-
tel für den Aufbau lokaler Gegenstrategien zur Verfügung.4
Die Umsetzung der Agenda 2030 erfordert große Transformationsprozesse in allen Be-
reichen des gesellschaftlichen Lebens. Zur Abwehr der drohenden Klimakatastrophe
wird eine Umstellung der energetischen Basis unserer Lebensweise auf erneuerbare
Energiequellen in möglichst kurzer Zeit zur drängenden Aufgabe. Um das Artenster-
ben einzugrenzen und die Regeneration natürlicher Lebensräume zu ermöglichen,
müssen Landnutzungsmuster geändert und Flächen aus intensiven Nutzungsfor-
men herausgenommen werden. Zur Trinkwassersicherung und zur Verminderung
des Schadstoffeintrags in Boden und Gewässer müssen die Methoden der Landwirt-
schaft verändert, extensiviert und ökologisiert werden. Um die stoffliche Basis der In-
138

dustrie auf regenerative Rohstoffe umzustellen und die Bioökonomiestrategien vieler


Staaten umzusetzen, müssen dafür wiederum nicht nur die entsprechenden Innovati-
onen, sondern auch entsprechende Anbauflächen geschaffen werden. Eine erfolgrei-
che Verkehrs- und Mobilitätswende erfordert neben der Umstellung der Antriebstech-
nologie vor allem eine deutliche Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs
und den Ausbau von Alternativen im Umweltverbund. Die erforderliche Ernährungs-
wende hin zu einer wesentlich stärker pflanzenbasierten, regionalen und saisonalen
Nahrungsmittelversorgung setzt die gesamte Ernährungswirtschaft und mit ihr die
Landwirtschaft unter erheblichen Transformationsdruck.
Während nun die konkreten Planungen und die Konkretisierung der Ziele und Vorga-
ben einer globalen Nachhaltigkeitstransformation in der EU und den Nationalstaaten
in den urbanen Machtzentren beschlossen werden, fällt deren Umsetzung folglich be-
sonders stark den ländlichen Regionen und Kommunen zu. Ländliche Räume und ihre
Bedeutung für die soziale und ökologische Transformation spielen jedoch in den wis-
senschaftlichen und politischen Diskursen meist eine untergeordnete Rolle.
Die Erzeugung sauberer und vor allem erneuerbarer Energien (SDG 7) ist eine der
Grundvoraussetzungen zur Erreichung der internationalen Klimaziele (SDG 13). Die
Sektoren übergreifende Umstellung der energetischen Basis unserer Gesellschaft er-
fordert nicht nur eine grundlegende Transformation der Energie-
5 / 10 Megerle, Heidi
wirtschaft, vielmehr sind es insbesondere die ländlichen Räume, Elisabeth; Frick, Adrian (2022):
die die Erzeugung erneuerbarer Energien organisieren müssen. Energie(wenden) im Länd-
Ländliche Räume verfügen über die erforderlichen Flächenpo- lichen Raum: Auswirkungen,
tenziale für den erforderlichen atemberaubend schnellen Aus- Chancen und Risiken am
Beispiel von Baden-Württem-
bau von Anlagen zur Umwandlung erneuerbarer Energien. Da die berg. In: Standort 46 (4),
räumliche Konzentration und die energetische Dichte erneuerba- S. 251
re Energieträger (Wasser, Sonne, Wind und Biomasse) viel geringer 6 Langbein, Atidh Jonas;
sind als die der fossilen, werden Energielandschaften entstehen, ­Langner, Sigrun; Müller, Pia
die nicht nur die Installationen an sich, wie Photovoltaik-Anlagen (2022): Dörfer im Agrarmeer.
Entwurfsperspektiven für
oder Windparks, beinhalten, sondern auch durch den notwendi- eine klimagerechte und lebens-
gen Ausbau der Netzinfrastruktur und Speicher für die gewonnene werte Zukunft des Landes.
Energie geprägt werden.5 Der steigende Bedarf nach Landfläche In: Langner, Sigrun; Weiland,
im Zuge der Energiewende führt aber auch zu verschärften Land- Marc (Hg.): Die Zukunft auf
dem Land. Imagination, Pro-
nutzungskonflikten.6 Stellten landwirtschaftliche Flächen an sich jektion, Planung, Gestaltung.
in den vergangenen Jahren schon eine lohnende Investition dar Bielefeld, S. 580
(Lawrence 2016 RLS), verschärft sich die Nachfrage nach Landbe- 7 Gailing, Ludger; Röhring,
sitz im Zuge der Energiewende zunehmend. Neben landwirtschaft- Andreas (2015): Was ist de-
lichen Nutzflächen sind oft aber gerade Schutzgebiete besonders zentral an der Energiewende?
geeignet für den Ausbau der Erneuerbaren, wie bspw. der Wind- Infrastrukturen erneuerbarer
Energien als Herausforderungen
energie.7 Daraus ergeben sich Konflikte zwischen dem Nachhaltig- und Chancen für ländliche
keitsziel der sauberen und bezahlbaren Energie (SDG 7) und dem Räume. In: RuR 73 (1), S. 40
Schutz der Ökosysteme (SDG 13, 14 & 15).
8 Woods, Michael (2011 b):
Zudem sind die Forderung nach Ernährungssicherheit und einer Rural Geography: Processes,
nachhaltigen klimaschonenden Landwirtschaft nur durch einen Responses and Experiences
Rückbau der industriellen Landwirtschaft zu erreichen. Seit den in Rural Restructuring. London
Nachkriegsjahren wurde im Zuge der Gemeinsamen Agrarpolitik
der EU ein Anstieg der Nutztierzahlen und die Vergrößerung der bewirtschafteten Flä-
che pro Hof aktiv durch Subventionen vorangetrieben.8 Mit diesem jahrzehntelangen
Pfad des Wachstums und der Ertragsmaximierung in der Landwirtschaft und dem da-
Industrie, Innovation und Infrastruktur 139

mit einhergehenden »Höfesterben« gilt es nun zu brechen. Die Agrarwende erfordert


neben physischen Umstrukturierungen vor allem einen kulturellen Wandel der moder-
nen Landwirtschaft und der Konsumentinnen und Konsumenten. Ein Umbau zu öko-
logisch wirtschaftenden Betrieben und der Erhalt von bäuerlichen
9 Gornott, Christoph;
Graß, Rüdiger (2022): Klima- Betriebsstrukturen, weg von industriellen Monokulturen und Mas-
wandel. In: Wachendorf, sentierhaltungen hin zu Hofkreisläufen, Fruchtfolgen und mehr
Michael; Bürkert, Andreas; Freiflächen ermöglichen eine Vereinbarkeit von Umweltschutz und
Graß, Rüdiger (Hg.): Öko­
Lebensmittelproduktion und eröffnen Räume zum Experimentieren
logische Landwirtschaft.
Stuttgart, S. 236—243 mit Klimawandelanpassungsmaßnahmen in der Landwirtschaft.9
Neben den Flächenbedarfen der Ernährungswende und Energie-
wende spielen in ländlichen Räumen auch die Interessen des Tourismus und der Er-
halt des Landschaftsbildes eine Rolle.10 Die Produktion biogener Rohstoffe im Zuge
der Transformation der Industrie zur Bioökonomie erfordert zudem zusätzliche Flä-
chen ebenso wie die erforderliche Regeneration der Ökosysteme und die Re-Stabili-
sierung der Artenvielfalt für die Ausweitung einer möglichst wenig gestörten Wildnis.
Auch die Mobilitätswende zeigt, wie schnell sich eine sozial-ökologische Transformation
negativ auf ländliche Räume auswirken könnte. So ist ein Verbot der Verbrennungsmo-
toren ein längst notwendiger Schritt. Der zudem erforderliche Rückbau des Individual-
verkehrs stellt die Bevölkerungen ländlicher Räume aufgrund der größeren Distanzen
zu Nahversorgungs- und Daseinsvorsorgeeinrichtungen, zu ÖPNV-Anbindungen so-
wie Kultur- und Weiterbildungseinrichtungen aber vor besondere Herausforderungen.
Während Konzepte zur autofreien Stadt zumindest auf Quartiers-
11 Schlump, Christian
(2018): Mobilitätsoptionen in ebene in den urbanen Zentren Wirklichkeit werden, scheinen Visi-
ländlichen Räumen. Öko­
logisches Wirtschaften-Fach-
zeitschrift, (2), S. 23—24
onen autofreier ländlicher Räume undenkbar.11 »Obwohl die
stark umweltbelastenden kurzen Fahrten vor allem in ländli-
chen Räumen mit dem PKW zurückgelegt werden […]«.12 Die gro-
9
12 Dangschat, Jens S. (2022): ße Bedeutung des PKW für die Anwohnenden ländlicher Räume ist
Verkehrswende — sozial
auch auf die Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte zurückzufüh-
und räumlich ausgewogen.
In: jmv (14), S. 2 ren. So wurden Autobahn- und Schnellstraßenausbau damit be-
13 ebd. S. 3
gründet, den ländlichen Räumen einen Anschluss ermöglichen zu
wollen. Gleichzeitig verschlechterte sich das ÖPNV-Netz in struk-
14 ebd. S. 4
turschwachen Regionen.13
sowie Schlump, Christian Um bestehende Ungleichheiten zwischen urbanen und ländlichen
(2018): Mobilitätsoptionen in
ländlichen Räumen. Öko­ Räumen nicht zu vertiefen, müssen ländliche Kommunen bei der
logisches Wirtschaften-Fach- Entwicklung von nachhaltigen Mobilitätsformen wie Carsharing-
zeitschrift, (2), S. 23—24 Modellen und dem Aufbau eines kostengünstigen, multimoda-
15 Jakob, Michael (2023): len, hybriden ÖPNV mit hoher Taktfrequenz unterstützt werden.14
Wege zu einer sozial g ­ erechten Die zu entwickelnden Mobilitätskonzepte für ländliche Räume soll-
Verkehrswende — Wie wir
ten dabei auch soziokulturelle Aspekte bedenken. So erfordert der
Mobilität nachhaltig gestalten
können. München, S. 6 hohe Stellenwert, den der PKW für viele Menschen in ländlichen
Räumen besitzt, nicht zuletzt einen erheblichen kulturellen Wan-
del. Die Mobilitätswende lediglich zu einer Frage des Antriebes verkommen zu las-
sen hätte insbesondere für die finanziell benachteiligten Teile ländlicher Bevölkerun-
gen negative Auswirkungen, da Elektroautos nach wie vor höhere Anschaffungskosten
bedeuten.15 Auch im Bereich der Mobilität besteht also die Gefahr, im Zuge von Trans-
formationsprozessen räumliche Ungleichheiten zwischen Stadt und Land zu manifes-
tieren oder neue Ungleichheiten innerhalb der ländlichen Regionen und Gemeinschaf-
ten zu produzieren.
140

Aus den zum Teil gegenläufigen Interessen und Flächenbedarfen der diversen Wenden
entstehen Nutzungskonflikte, die besonders stark in ländlichen Räumen ausgetragen
werden. Die Art und Weise, wie die sozial-ökologische Transformation konkret ausge-
staltet wird, entscheidet schließlich darüber, ob sich daraus Chancen oder Risiken für
ländliche Räume ergeben und wie die Konflikte bearbeitet werden können. So wer-
den oft die Potenziale eines dezentralen Ausbaus einer klimagerechten Energieversor-
gung betont, die mit Energiedemokratie und mehr Energiegerechtigkeit einhergehen
kann.16 Solche Strukturveränderungen bieten die Chance für Projekte auf kommunaler
Ebene, in kommunaler Hand, unter Beteiligung und oder Teilhabe der lokalen Bevölke-
rung bspw. in Energiegenossenschaften der Bürgerinnen und Bürger oder durch dau-
erhaft günstige Stromtarife in der Direktvermarktung. Forschungen zeigen, dass Be-
teiligungs- und Teilhabeformate die Akzeptanz lokaler Projekte wie
16 Megerle, Heidi Elisabeth;
Windkraft- oder PV-Anlagen in der Bevölkerung deutlich erhöhen.17 Frick, Adrian (2022): Energie
Außerdem bedeutet eine Anteilseignerschaft der Bürgerinnen und (wenden) im Ländlichen Raum:
Bürger höhere regionale Durchschnittseinkommen und steigende Auswirkungen, Chancen und
kommunale Einnahmen. Insbesondere für landwirtschaftliche Be- Risiken am Beispiel von Baden-
Württemberg. In: Standort 46
triebe stellen die Einnahmen aus Energieanlagen durch Pachtein- (4), S. 250—258
nahmen oder Einspeisevergütungen ein mögliches zweites Stand- 17
vgl. Feddersen, Hauke
bein dar.18 Allerdings birgt diese Investitionschance für Besitzende (2020): Sozial-ökologische Trans-
von Land und oder Finanzkapital in ländlichen Räumen auch die formationskonflikte im länd-
Gefahr sich verschärfender Ungerechtigkeiten innerhalb ruraler lichen Raum. Eine explorative
Fallstudie aus konventionssozio­
Gemeinschaften. logischer Perspektive. CSS
Andererseits verfügen ländliche Kommunen, insbesondere in pe- Working Paper Series No. 2,
ripheren Räumen, meist nicht über die finanziellen und sozialen Hamburg
Ressourcen, die zum Aufbau partizipativer Projekte in kommunaler 18 ebd. S. 12
Hand notwendig sind. Solche Regionen laufen Gefahr, aufgrund 19 O’Sullivan, Kate;
ihrer vorhandenen natürlichen Ressourcen (insbesondere Landflä- Golubchikov, Oleg; Mehmood,
chen und Biomasse) von großen Konzernen ausgebeutet zu wer- Abid (2020): Uneven energy
den.19 So wird an zwar nachwachsenden, aber begrenzten Roh- ­transitions: Understanding
­continued energy peripheral­
stoffen wie Bau- und Brennholz oder anderer Biomasse, bspw. für ization in rural communities:
Biogasanlagen oder Biotreibstoffen, schon jetzt mehr verbraucht, In: Energy Policy, Volume 138,
als die bestehenden Ressourcen zulassen.20 Wenn Projekte in den 111288
ländlichen Regionen etabliert werden, die der lokalen Bevölke- 20 IINAS (Internationales
rung aber weder Mitbestimmungs- oder Gestaltungsmöglichkei- Institut für Nachhaltigkeits­
analysen und -strategien)
ten noch Teilhabemöglichkeiten einräumen, fallen die positiven (2021): Kurzstudie: Zukunfts­
Effekte für die Region gering aus, während sie die negativen Fol- fähige Bioökonomie. Im Auf-
gen der Landschaftsveränderung tragen müssen. Dies verdeut- trag des NABU — Naturschutz-
licht, dass die Transformation nicht zwangsläufig zu einem Vor- bund Deutschland e. V.
teil für die ländlichen Räume wird. Vielmehr birgt sie die Gefahr,
bestehende ungleiche Macht- und Raumverhältnisse zu reproduzieren und neue un-
gleiche räumliche Entwicklungen, bspw. innerhalb ländlicher Räume zu schaffen. Die
Folgen sind erhebliche Akzeptanzprobleme und Widerstände in den ländlichen Räu-
men gegenüber den notwendigen Transformationsprozessen, die zu einer vertieften
Spaltung zwischen Stadt und Land führen können.
Die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger müssen sich daher unbedingt aus
einer urbanen Perspektive bei der Betrachtung notwendiger und möglicher Transfor-
mationsschritte lösen. Nur unter Beachtung der Unterschiedlichkeiten ländlicher Räu-
me, unter Einbezug und Anhörung der lokalen Bevölkerungen und mit einem starken
Industrie, Innovation und Infrastruktur 141

Fokus auf räumliche Gerechtigkeit21 wird es gelingen, die große Transformation öko-
logisch und sozial zu gestalten und nicht weitere »abgehängte Versorgungswüsten« in
den ländlichen Peripherien zu produzieren.22 Das Erreichen der Globalen Nachhaltig-
keitsziele muss daher einerseits mit einer grundsätzlichen Veränderung bestehender
Handlungs- und Denkmuster einhergehen; weg von Gewinnorientierung und Wachs-
tum, hin zu Suffizienz und kooperativen Ansätzen. Des Weiteren
21 vgl. Miosga, Manfred
(2022): Räumliche Gerechtig- ist die Weltgemeinschaft zur Umsetzung der SDGs auf die länd-
keit. In: Neu, Claudia (Hg.) lichen Räume angewiesen. Dabei dürfen ländliche Räume weder
(2023): Handbuch Daseins- zum Zweck der politischen und wirtschaftlichen (Macht)Zentren
vorsorge. Ein Überblick aus
ausgebeutet, noch bei dem Prozess notwendiger Umstrukturierun-
Forschung und Praxis. Berlin,
S. 60—67 gen im Zuge einer Nachhaltigkeitstransformation vernachlässigt
werden. Vielmehr gilt es, bestehende Potenziale in ländlichen Räu-
Magel, Holger (2016): Räum­
liche Gerechtigkeit — Ein men zu erkennen und durch die Anpassung struktureller Rahmen-
Thema für Landentwickler und bedingungen, wie etwa eine höhere Finanzausstattung der Kom-
sonstige Geodäten?! In: Zeit- munen, der Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen und dem
schrift für Geodäsie, Geoinfor-
mation und Landmanagement,
Ausbau der Handlungskapazitäten mit der nötigen Gestaltungsfä-
Jg. 141, Heft 6, S. 377—383 higkeit auszustatten.
22 Langbein, Atidh Jonas;
Langner, Sigrun; Müller, Pia
(2022): Dörfer im Agrarmeer.
Entwurfsperspektiven für
eine klimagerechte und lebens-
werte Zukunft des Landes.
In: Langner, Sigrun; Weiland,

9
Marc (Hg.): Die Zukunft auf
dem Land. Imagination, Pro-
jektion, Planung, Gestaltung.
Bielefeld, S. 592
Ungleichheit in und
zwischen Ländern
verringern
10
Weniger
­Ungleichheiten
144

Wie kann Ungleich-


heit in Deutschland
­verringert werden?

Dr. Ulrich Schneider


ist Hauptgeschäftsführer des Deutschen
Paritätischen Wohlfahrtsverbands; bevor
er 1999 Hauptgeschäftsführer wurde,
war er zuerst als Referent und dann als
Geschäftsführer für den Deutschen
Paritätischen Wohlfahrtsverband tätig.
Weniger Ungleichheiten 145

Die Beantwortung der Frage, wie Ungleichheit in Deutschland verringert werden kann,
ist tatsächlich voraussetzungsvoll. Sie setzt nämlich eine Antwort auf die Frage voraus,
warum Ungleichheit überhaupt verringert werden muss. Und um welche Ungleichheit
es dabei überhaupt gehen soll.
Ungleichheit ist begrifflich meist negativ konnotiert, obgleich sie doch erst einmal et-
was unbestreitbar, ja fundamental Schönes ist. Ungleichheit ist Voraussetzung für
Verschiedenheit, für Buntes und für Vielfalt. Sie ist wesentlich für eine dynamische
Gesellschaft. Ungleichheit im Sinne von Verschiedenheit ist die Voraussetzung für Le-
bendigkeit. Sie ist ein Motor für Bewegung. Sie ist eine Kraftquelle. Dies schließt auch
soziale Ungleichheit durchaus mit ein. Es ist die Frage, wie und wo ich wohne, mit
wem ich mich umgebe, aber auch, über welche Ressourcen ich verfüge, oder — ein-
fach: wie ich lebe. Es geht um Lebensumstände und Lebensentwürfe.
Grundvoraussetzung für ein solch positives Verständnis von Ungleichheit ist jedoch
ihre Freiwilligkeit. Ungleichheit und Vielfalt müssen das Ergebnis freier Entscheidun-
gen freier Menschen sein. Es geht letztlich um die freie Entfaltung der eigenen Per-
sönlichkeit.
Wenn eine Person denkt, sie müsse unter Hintanstellung von fast allem anderen, von
Freundschaften, Kultur oder Familie ihr Glück darin suchen, Besitztümer anzuhäu-
fen, mag dies aus psychologischer Sicht vielleicht bedenklich erscheinen, doch ist es,
sofern dies einer freien Entscheidung entspringt, erst einmal genauso legitim wie die
freie Entscheidung für ein ausgeglichenes Leben bei nur sehr überschaubarem Be-
sitz. Entscheidend ist: Ungleichheit — soll sie positiv besetzt sein — darf nicht das vor-
nehmliche Ergebnis von Herkunft und zugeteilten oder eben nicht zugeteilten Privi-
legien sein. Wo Ungleichheit aufoktroyiert ist, wo sie auf quasi hoheitlicher Zuteilung
von Ressourcen und Privilegien beruht, wird sie für die Unterprivilegierten zur Dis-
kriminierung in des Wortes doppelter Bedeutung: als Benachteiligung und als Her-
abwürdigung. Sie sorgt dann nicht mehr für produktive Vielfalt in einer Ge-
sellschaft, sondern führt zu Spaltung und Erstarrung — materiell wie ideell.
Fliehkräfte nehmen zu, treiben die Menschen einer Gesellschaft auseinander, Gräben
10
vertiefen sich. Aus Vielfalt werden soziale Subkulturen und ideel-
1 Wilkinson, Richard;
Pickett, Kate (2009): Gleich- le, kaum noch überbrückbare Gegensätze. Die Kohäsion einer Ge-
heit ist Glück — Warum sellschaft nimmt ab und damit auch ihre Krisenresilienz. Die briti-
gerechtere Gesellschaften schen Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett haben
für alle besser sind. Berlin
sich bereits vor über 10 Jahren der verdienstvollen Aufgabe un-
terzogen, mit einer Fülle empirischen Materials aufzuzeigen, dass
gleichere Gesellschaften zugleich auch die widerstandsfähigeren sind, mit weniger
Kriminalität, weniger Drogenproblemen, weniger gesundheitlichen Problemen und
weniger sozialen Missständen, und dass es dabei nicht nur um die Unterprivilegier-
ten geht, sondern dass die Lebensqualität in Gesellschaften, in denen mehr Gleich-
heit herrscht, insgesamt eine höhere ist.1
Die gesellschaftstheoretische Brisanz der Ungleichheit liegt materiell auf dem Feld der
Ressourcen und Privilegien, ideell spiegelt sie sich im Gerechtigkeitsempfinden einer
Bevölkerung, das für den Zusammenhalt oder Nicht-Zusammenhalt einer Gesellschaft
von zentraler Bedeutung ist. Wie sehr unser Gerechtigkeitsempfingen mit Gleichheit,
Ungleichheit und Privilegien verwoben ist, können wir am eindrücklichsten an unse-
ren Kleinsten beobachten. Kinder reagieren auf jegliche Form der Ungleichbehand-
lung außerordentlich sensibel — zumindest dann, wenn sie sich im Nachteil sehen.
Dann ist jegliche Ungleichheit eine schreiende Ungerechtigkeit. Ob die ältere Schwes-
146

ter abends etwas länger aufbleiben darf oder ob der kleine Bruder aus welchen Grün-
den auch immer mal eine Kugel Eis mehr bekommen sollte — ein völlig inakzeptabler
Zustand, es sei denn, er wird sehr gut begründet.
Im Grunde durchzieht dieses fast archetypisch anmutende Gerechtigkeitsverständnis
alle Debatten um soziale Gerechtigkeit. Es geht letztlich um die Begründung und um
die Legitimation von Privilegien. Denn diese sind zumindest in einer sich selbst als
aufgeklärt verstehenden Gesellschaft alles andere als selbstverständlich. Dem Ide-
al der Aufklärung folgend sind nun einmal alle Menschen ihresgleichen, »niemandes
Herren, niemandes Knecht«; wahlweise auch alle »Gottes Ebenbild« — je nach Fas-
son. Jeder und jede sind gleich an Würde und gleich an Rechten. Die ungleiche Zutei-
lung ungleicher Privilegien steht dem grundsätzlich entgegen, wird dem nicht gerecht
und kann deshalb vom Grundsatz her nicht gerecht sein. Um diesen Widerspruch
zu glätten, wird dann von den Privilegierten in der Regel der Be-
2 Schröder, Carsten; Bartels,
griff der Leistungsgerechtigkeit bemüht, der ihnen eine besonde- Charlotte; Göbler, Konstantin;
re Würde aufgrund besonderer Leistung zuweisen soll. Zugleich et al. (2020): Millionärinnen
werden Unterprivilegierte diffamiert, indem ihnen ihre Leistungs- unter dem Mikroskop: Daten-
bereitschaft und damit ihre Gleichwürdigkeit abgesprochen wird. lücke bei sehr hohen Vermögen
geschlossen — Konzentration
Entscheidend für unseren Zusammenhang ist: Wenn eine Gesell- höher als bisher ausgewiesen. In:
schaft starke und dauerhafte Ungleichheiten in der Verteilung von DIW-Wochenbericht 29/2020,
Ressourcen und Lebensbedingungen aushalten soll, müssen die S. 511—521 ↘ t1p.de/4q6g
Privilegien der Privilegierten schon sehr wirkungsvoll begründet Fratzscher, Marcel (2019): Das
und unter das Volk gebracht werden. Märchen von der freiwilligen
Entscheidung für ein Vermögen.
Deutschland hat mittlerweile einen Grad an Ungleichheit erreicht, In: DIW-Blog Marcel Fratzscher
der das Land sowohl materiell als auch ideell vor eine Zerreißpro- vom 30.08.2019 ↘ t1p.de/4co01
be stellt. Die reichsten 10 Prozent in der Bevölkerung teilen mittler- 3 Grabka, Markus M.: Ein­
weile gut zwei Drittel des gesamten Nettovermögens in Deutsch- kommensungleichheit stagniert
land unter sich auf, während die unteren 40 Prozent mehr oder langfristig, sinkt aber während
weniger von der Hand in den Mund leben oder sogar Schulden der Corona-Pandemie leicht.
In: DIW-Wochenbericht 18/2021,
haben.2 S. 307—316
Dazu passt, dass die obersten 10 Prozent auf der Einkommensskala
Grabka, Markus M.: Löhne,
seit der Jahrtausendwende ihre Haushaltseinkommen um über 25 Renten und Haushaltseinkom-
Prozent steigern konnten, während die ärmsten 10 Prozent sogar men sind in den vergangenen
weniger Einkommen als im Jahr 2000 zur Verfügung haben.3 Die 25 Jahren real gestiegen. In:
Schere zwischen Arm und Reich geht im Trend immer weiter ausei- DIW-Wochenbericht 23/2022,
S. 329—337
nander. Und die Zahl der Millionäre wächst wie die der Armen. Mit
4 Schneider, Ulrich; Schröder,
einer Armutsquote von 16,6 Prozent wurde 2021 in Deutschland Wiebke; Stilling, Gwendolyn
ein neuer trauriger Höchststand an Armut markiert.4 Das heißt (2022): Zwischen Pandemie und
13,8 Millionen hier lebende Menschen verfügten nicht einmal über Inflation. Paritätischer Armutsbe-
60 Prozent des mittleren Einkommens, was in einer Gesellschaft, richt 2022. Berlin ↘ t1p.de/4nvol
in der fast alles über Geld funktioniert, praktisch den Ausschluss 5 Die Tafeln in aktuellen

aus der Mehrheitsgesellschaft bedeutet. Und mehr noch: Ange- Zahlen — Sommer 2022
↘ t1p.de/0f4ba
sichts der seit September 2021 geradezu explodierenden Lebens-
haltungskosten sind häufig nicht mal mehr Basics wie Ausgaben
für Lebensmittel und Energie sichergestellt. Über 2 Millionen Menschen, die für sich
und ihre Familien regelmäßig zu den Tafeln gehen, um Lebensmittelspenden zu er-
halten, kennzeichnen eine neue Almosenkultur in einem Land mit der viertstärksten
Wirtschaftskraft weltweit und einem Sozialstaat, der eigentlich mal geschaffen wur-
de, um solchen Exzessen der Ungleichheit vorzubeugen.5
Weniger Ungleichheiten 147

Dabei verfangen übliche Legitimationsversuche dieser Armut offenbar immer weni-


ger. Mit rund 14 Millionen Menschen ist eine Größenordnung erreicht, die sich nicht
mehr ohne Weiteres als arbeitsscheue Leistungsverweigerer diffamieren lässt. Zumal
der ganz überwiegende Teil von ihnen aus Erwerbstätigen, Alters-
6 Schneider, S. Ulrich;
et al.: a.a.O. S. 13 armen und Kindern besteht. Gerade einmal 5,5 Prozent der Armen
sind tatsächlich erwerbslos.6
7 Baarck, Julia; Dolls,
Mathias; Unzicker, Kai; et al. So wollte es nicht erstaunen, als die Bertelsmann-Stiftung im Sep-
(2022): Gerechtigkeits- tember 2022 eine Umfrage vorstellte, wonach 79 Prozent der Be-
empfinden in Deutschland. fragten keine Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland erkennen
Bertelsmann Stiftung,
mochten. Nur 39 Prozent empfanden ihr eigenes Einkommen und
Gütersloh ↘ t1p.de/eruiu
Vermögen als gerecht. Das Leistungsprinzip als ein Maßstab der Zu-
teilung wurde zwar mehrheitlich nach wie vor durchaus geteilt (85 Prozent Zuspruch),
noch mehr aber sprachen sich — wenig überraschend — für ein Bedarfs- bzw. Gleich-
heitsprinzip aus (95 Prozent), wonach gerecht sei, »wenn alle die gleichen Lebensbe-
dingungen haben« bzw. »wenn Einkommen und Vermögen in unserer Gesellschaft an
alle Personen gleich verteilt sind«.7
Je stärker das Empfinden, es gehe alles in allem gerecht zu, umso stärker auch das Ver-
trauen in die demokratischen Institutionen. Auch das zeigt die Bertelsmann-Studie.
Das Gegenteil davon können wir seit Jahren auf der Straße beobachten. In Phäno-
menen von der ausländerfeindlichen Pegida über Reichsbürger und Querdenker bis
hin zum Aufkommen der AfD. Gemein ist diesen Gruppierungen ihre Anfeindung und
Verächtlich-Machung staatlicher und demokratischer Institutionen. Wo Ungleichheit
am unteren Ende der Wohlstandsskala in existenzielle Unsicherheit und Angst um-
schlägt, wo die Einstellung Platz greift »Die da oben tun ohnehin nichts für mich«
und wo ganz objektiv die Zahl der Armen wächst, haben rechts-
8 Pieper, Jonas; Schneider,
Ulrich; Schröder, Wiebke radikale Menschenfänger leichtes Spiel. Es liegt also im ureigenen
(2020): Gegen Armut hilft
Geld. Der Paritätische
Armutsbericht 2020. Berlin
staatlichen und Institutioneninteresse, den Ungleichheits-
trend in dieser Gesellschaft nicht nur zu stoppen, sondern 10
ihn umzukehren. Was dazu nötig wäre, ist bekannt, wissenschaft-
↘ t1p.de/zu2tt
lich gut begründet und konzeptionell durchdrungen. Das Schlüs-
9 Aust, Andreas (2020):
selwort heißt »Umverteilung«, nicht aus einer sozialistischen Laune
Arm, abgehängt, ausge-
grenzt. Eine Untersuchung zu heraus, sondern weil alle wirtschaftlichen Erfolge der vergangenen
Mängellagen eines Lebens Jahre und Jahrzehnte, jeglicher Zuwachs an Reichtum immer nur zu
mit Hartz IV. Berlin noch mehr Ungleichheit und Armut führten.
10 vgl. Aust, Andreas; Es ist ganz simpel: Wer Ressourcenungleichheit abbauen will,
Schabram, Greta (2022): kommt nicht umhin, oben zu nehmen und unten zu geben. In einer
Regelbedarfe 2023: Fort-
schreibung der Paritätischen
Gesellschaft, die darüber hinaus ganz wesentlich über Märkte or-
Regelbedarfsforderung. ganisiert ist, gilt weiterhin: Gegen Armut hilft Geld.8
Paritätischen Forschungs- Wer Ungleichheit abbauen will, muss naheliegenderweise ganz un-
stelle, Berlin ↘ t1p.de/0kfxd ten beginnen. Es geht um soziale Transferzahlungen wie Alters-
grundsicherung, Hartz IV, BAFöG oder Kinderzuschlag, die eigent-
lich bei aller Ungleichheit vor dem Sturz in die Einkommensarmut schützen müssten,
es jedoch aufgrund ihrer geringen Höhe faktisch nicht tun.9 Der sogenannte Regel-
satz der Mindestsicherung wäre umgehend von derzeit 502 Euro auf 725 Euro anzu-
heben, um wirklich armutsfest zu sein.10
Die stark gestiegene Armut bei Rentnern und Rentnerinnen (Armutsquote 17,9 Prozent)
und die seit Jahren eklatant hohen Kinderarmutsquoten (20,8 Prozent) verweisen
darüber hinaus auf einen grundlegenden Reformbedarf bei Renten über die Arbeits-
148

losenversicherung bis hin zum Familienlastenausgleich. Armutsfeste Mindestrente,


armutsfestes Arbeitslosengeld und eine einkommens- und bedarfsorientierte Kinder-
grundsicherung sind in diesem Zusammenhang die Stichworte.11
Die Gegenfinanzierung liegt in einem derart reichen Land wie Deutschland mit einer
derart breiten Einkommens- und Vermögensspreizung und mit 400 Milliarden Euro,
die jedes Jahr so gut wie steuerfrei vererbt werden, auf der Hand: Vermögenssteuer,
Erbschaftssteuer, Kapitalertragssteuer, aber auch Spitzensteuersätze in der Einkom-
mensteuer heißen hier die Stichworte.12 Absolut nichts Neues. Die
11 vgl. ausführlich Schneider,
Konzepte liegen seit Langem auf dem Tisch. Neoliberale Schauer- Ulrich (2017): Kein Wohlstand
märchen wahlweise von einem wirtschaftlichen Zusammenbruch für alle!? Wie sich Deutschland
oder von einem wirtschaftlichen Exodus, sind längst widerlegt.13 selber zerlegt und was wir da-
Es fehlt allein die politische Mehrheit mit dem entsprechenden po- gegen tun können. Frankfurt am
Main, S. 157 ff.
litischen Willen und Mut!
12 vgl. ausführlich a.a.O.,
S. 199 ff.
13 vgl. a.a.O., S. 192 ff.
Weniger Ungleichheiten 149

10
Städte und Siedlungen inklusiv,
sicher, widerstandsfähig und
nachhaltig gestalten
11
Nachhaltige
Städte und
­Gemeinden
152

der Planung — Entwurf


Zukunft ist eine Frage

der Verantwortung
für eine Baukultur

Dr. Tillman Prinz


ist seit 2003 Bundesgeschäftsführer
der Bundesarchitektenkammer; zuvor war
von 1997 bis 2003 Geschäftsführer des
Bund Deutscher Architekten und von 2002
bis 2003 Senior Policy Advisor, Architects
Council of Europe, Brüssel; zuvor von 1995
bis 1997 Justitiar der Bayerischen Ingeni-
eurekammer-Bau und von 1990 bis 1994
bei der Architekten- und Ingenieurkammer
Schleswig-Holstein tätig.
Nachhaltige Städte und G
­ emeinden 153

Unsere Welt wandelt sich in einer Geschwindigkeit, bei der viele alte Sicherheiten ver-
loren gehen und neue Erkenntnisse nur durch radikale Perspektivwechsel zu gewin-
nen sind. Auch die Architektinnen und Architekten aller Disziplinen stehen vor einem
Paradigmenwechsel. Die Digitalisierung von Wirtschaft, Kultur und Alltag, die spürba-
ren Auswirkungen des Klimawandels sowie wachsende demographische und soziale
Ungleichentwicklungen stellen Planerinnen und Planer vor neue Herausforderungen.
Denn sie sind es, die mit Entwürfen für Städte, Häuser und Landschaften der gesamt-
gesellschaftlichen Transformation im Wortsinn die passenden Räume geben müssen.
Die entscheidenden Weichen für die Zukunft unserer gebauten Umwelt werden aus un-
serer Perspektive auf den Handlungsfeldern bezahlbarer Wohnraum, ländlicher Raum,
Umbau vor Neubau und Innenstadt gestellt. Doch wir betrachten diese nicht als Ein-
zelposten, sondern als interdependenten Zusammenhang. Denn der Erfolg auf einem
Handlungsfeld ist ohne die richtige Strategie auf dem anderen nicht zu haben. Unse-
rem generalistischen Selbstverständnis entsprechend beschränkt sich der Blick frei-
lich nicht auf die planerischen Notwendigkeiten. Es muss darum gehen, unsere Arbeit
stets an den Maßgaben von Nachhaltigkeit, Beständigkeit und nicht zuletzt Schön-
heit zu messen und im Streben danach den Austausch mit allen Beteiligten — von den
Bauherrschaften bis hin zu den Nutzerinnen und Nutzern — zu suchen.
Wir haben uns einer ehrgeizigen Aufgabe verschrieben. Aus der gründlichen Analyse des
Ist-Zustands leiten wir die strategischen Optionen für die einzelnen, oben benannten
Handlungsfelder ab und entwickeln konkrete Lösungsvorschläge. Wir adressieren da-
bei nicht zuletzt Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, sich diesen Herausforderun-
gen mit Offenheit für neue Ideen zu stellen. Das verlangen wir auch von uns selbst.
Die planenden Disziplinen stehen vor einem tiefgreifenden Bewusstseinswandel. Denn
mit der fortschreitenden Digitalisierung von Wirtschaft, Kultur und Alltag, den ersten
spürbaren Auswirkungen des Klimawandels und angesichts demographischer und
sozialer Ungleichentwicklungen wandeln sich auch die Aufgabenstellungen unseres
Berufsstandes.
Die weltweite Corona-Pandemie erweist sich im Zuge dieses Wandels sowohl als Zäsur
wie auch als Katalysator: Ob sich nach ihrem Ende eine Rückkehr zu dem voll-
zieht, was davor Normalität war, oder ob die beschleunigte Digitalisierung in 11
all ihren Konsequenzen ganz neue soziale, wirtschaftliche und kulturelle Strukturen
hervorbringt, gehört zu den Ungewissheiten, mit denen sich gerade Planerinnen und
Planer aller Fachrichtungen auseinandersetzen müssen. Denn ganz gleich, ob es da-
bei um die Schaffung bezahlbaren Wohnraums, die wachsende Kluft zwischen Stadt
und Land, den Umgang mit Bestand, die dramatische Krise der Innenstädte oder eine
generationengerechte Bodenpolitik geht — die großen Fragen der Gegenwart sind
immer auch Herausforderungen an die gebaute Umwelt und die, die von Berufs we-
gen für ihre Gestaltung verantwortlich sind.
Wie umfassend, komplex und interdependent der Handlungsbedarf tatsächlich ist, trat
spätestens mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zutage. Sie hat der Gesellschaft
vor Augen geführt, an welchen Stellen sie besonders verwundbar und störanfällig ist
und das Bewusstsein für überfällige Veränderungen geschärft. Zugleich zeigt sie auch
ungeahnte Chancen für eine zukunftsfähige Weiterentwicklung unserer Städte und
Regionen auf. Die Pandemie und nunmehr auch der russische Angriffskrieg auf die
Ukraine haben die Verwundbarkeit der globalisierten Produktions- und Lieferketten
ebenso drastisch verdeutlicht wie auch die mit der Unterhaltung weltweit vernetzter
Warenströme verbundenen hohen Umwelt- und Nachhaltigkeitskosten. Auf die fraglos
154

großen Herausforderungen hat die Europäische Kommission mit einem Green Deal so-
wie dem Vorschlag für ein Neues Europäisches Bauhaus reagiert. Damit unterstützt die
EU den Wandel hin zu einer demokratischen, freien und inklusiven Gesellschaft, die
Klimaziele und Nachhaltigkeit nicht allein als technische, sondern auch als kulturelle
Aufgaben versteht. In diesem Transformationsprozess ist unser Berufsstand in beson-
derer Weise gefordert und erhält im gleichen Zuge die einmalige Chance, den Wert
guter, gewissenhafter Planung sowie die Kompetenzen von Architektinnen und Archi-
tekten aller Fachrichtungen in den gesellschaftlichen Fokus zu rücken.
Die Baustellen eines verunsicherten Gemeinwesens kennt kaum ein Berufsstand besser
als wir Planerinnen und Planer. Gerade die Verbindung von generalistischer Perspek-
tive und hochspezialisierter Expertise befähigt uns, den sozialen, kulturellen, tech-
nischen und wirtschaftlichen Veränderungen mit Konzepten zu begegnen, die diese
übergeordneten Entwicklungen in nachhaltige und gute Strukturen übersetzen. An-
ders formuliert: Wir sorgen in der Breite unserer Fachrichtungen dafür, dass die ge-
baute Umwelt dem gesellschaftlichen Wandel gerecht werden kann. Die drängenden
Fragestellungen an unsere Disziplin lassen sich jedoch nicht länger als Einzelposten
begreifen, sondern erfordern ein Denken in Zusammenhängen und über die Grenzen
professioneller Spezialisierung hinaus. Wer sich mit dem klimagerechten Umbau un-
serer Städte und Gemeinden beschäftigt, muss zugleich die sichere Versorgung mit
bezahlbarem Wohnraum in den Blick nehmen, neue Konzepte für Zentren und den öf-
fentlichen Raum entwickeln, alternative Mobilitätsformen sowie die Entwicklung im
ländlichen Raum einbeziehen. Nachhaltige Strategien für die Zukunft der gebauten
Umwelt setzen außerdem eine entsprechend angepasste Bodenpolitik voraus, mithin
die Durchsetzung neuer politisch-rechtlicher Rahmenbedingungen.
Zukunftsfähige Lösungen erfordern zunächst eine analytische Perspektive auf die Ursa-
che der gegenwärtigen Probleme. Eine der zweifellos größten Herausforderungen ist
der anhaltende Mangel an guten und bezahlbaren Wohnungen für eine Gesellschaft,
in der Zuwanderung, sich ändernde Lebens- und Haushaltsformen sowie demographi-
sche Entwicklungen einen großen Bedarf an entsprechend differenziertem Wohnraum
nach sich ziehen. Doch diese Nachfrage lässt sich nicht nach dem Gießkannenprinzip
bedienen. Denn die Kehrseite von explodierenden Immobilienpreisen und Wohnungs-
knappheit insbesondere in den großen Städten sind verödende, stark von kleinen und
mittleren Kommunen geprägte Regionen, in denen sich Abwanderung, Leerstand und
wirtschaftlicher Niedergang auf fatale Weise verstärken. Der teilweise dramatischen
Situation in den Metropolen lässt sich deshalb nur mit Konzepten beikommen, die
auch die von Attraktivitäts- und Bedeutungsverlust gebeutelten Städte und Gemein-
den in der Fläche in den Blick nimmt.
Gerade die Digitalisierung eröffnet dem ländlichen Raum neue Perspektiven: So setzt
die Rehabilitierung dörflicher Regionen als Wohn- und Arbeitsort neben der zeitgemä-
ßen In-Wertsetzung gewachsener Strukturen, infrastrukturellen Verbesserungen und
Versorgungssicherheit grundsätzlich eine flächendeckende Versorgung mit schnel-
lem Internet voraus. Parallel dazu sind neue planungsrechtliche Rahmenbedingungen
für den gelingenden Wandel ländlicher Einzugsgebiete erforderlich, damit die räumli-
che Verknüpfung von Wohnen, Landwirtschaft, touristischen und gewerblichen Funk-
tionen über adäquate bauliche und gestalterisch ansprechende Strukturen gelingen
kann. Gleichzeitig gilt es den Versuchungen zu widerstehen, den vielerorts akuten
Wohnungsmangel mit den Rezepten von gestern zu lindern. Serieller Wohnungsbau
kann nur dann für Abhilfe sorgen, wenn er nicht sozialer Segregation und Monostruk-
Nachhaltige Städte und G
­ emeinden 155

turen Vorschub leistet, sondern in bestehende Siedlungsgefüge integriert wird und so-
wohl städtebaulich als auch funktional und gestalterisch an das Bestehende Anschluss
findet. Die fraglos notwendigen Anstrengungen zur Schaffung zukunftsfähigen Wohn-
raums stehen freilich unter dem Vorbehalt ihrer klimagerechten Ausgestaltung. Global
betrachtet, ist die Baubranche für gut ein Viertel der weltweiten CO₂-Emissionen ver-
antwortlich; allein für die Zementherstellung fallen knapp 10 Prozent der jährlich aus-
gestoßenen Treibhausgase an. Es gilt deshalb, die Nutzung von Primärrohstoffen so-
wie den Energieverbrauch grundlegend einzuschränken.
Hier setzt z. B. das Konzept des »Gebäudetyp E« an, mit dem der dauernde Widerspruch
zwischen nachhaltigem Planen und Bauen einerseits und der verpflichtenden Umset-
zung aller anerkannten Regeln der Technik, selbst wenn sie technisch gar nicht not-
wendig sind, aufgelöst wird. In diesem Sinne ist auf breiter Basis der Umbau von Be-
stand dem Neubau möglichst vorzuziehen. Der nach wie vor auf Neubau ausgelegte
Rechtsrahmen trägt dem längst vorhandenen Problembewusstsein innerhalb des Be-
rufsstands nur bedingt Rechnung. Schon jetzt fließen zwei Drittel aller im Baubereich
getätigten Investitionen in den Bestand; mit einer zukunftsweisenden baurechtlichen
Ausgestaltung der Vorgaben zugunsten von Umbau und Weiternutzungskonzepten
könnte perspektivisch noch mehr Bestand neu- und weiterentwickelt werden. Gleich-
zeitig ist neben den planerischen Disziplinen auch die Bauwirtschaft angehalten, das
Prinzip der Kreislaufökonomie — ob in Form des »Cradle-to-Cradle«-Prinzips oder an-
derer Recycling-Modelle — als Grundlage allen Bauens zu implementieren. Sämtliche
Materialien, die für Errichtung und Betrieb von Gebäuden, Anlagen oder Infrastruk-
tureinrichtungen eingesetzt werden, müssen wiederverwertbar sein, sodass sie nach
Ablauf ihrer Nutzungsdauer einem neuen Verwertungszyklus zugeführt werden kön-
nen. Sowohl für eine Umkehr weg vom Neubau hin zur Umnutzung als auch für eine
kreislaufökonomische Umgestaltung der Wertschöpfungsprozesse im Bau sind vor al-
lem neue politische und regulatorische Weichenstellungen nötig. An Ideen mangelt es
uns dafür nicht. Gerade in den Zentren kleiner und mittlerer Gemeinden sowie in In-
nenstädten generell werden solche innovativen Ansätze schon jetzt gebraucht. Mit der
Krise des unsere Zentren prägenden Einzelhandels, die mit dem Aufkommen di-
gitaler Shoppingformate begann und durch die Corona-Krise dramatisch ver- 11
schärft wurde, droht die funktionale und soziale Verödung der Innenstadt — und da-
mit der Verlust des öffentlichen Raums als konstituierender gesellschaftlicher Faktor.
Eine nachhaltige Wiederbelebung dieser zentralen Lagen ist nur über eine Neuerfin-
dung der Innenstädte als Orte möglich, in denen sich Wohnen, Arbeiten, Handel und
Gewerbe, Freizeit sowie Kultur in Gestalt kleinteiliger Strukturen durchdringen und
überlagern.
Die aufgezeigten Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Planungs- und Bauauf-
gaben lassen sich zwar nur mit der für unseren Berufsstand grundlegenden genera-
listischen Perspektive erfassen, doch am Ende liegt der Erfolg der jeweiligen Lösun-
gen im Detail — wie immer, wenn es um gute Hochbau-, Innen- Landschaftsarchitektur
und Stadtplanung geht.
156

Nachhaltige Städte
und Gemeinden —
eine gemeinsame

Reiner Nagel
ist Vorstandsvorsitzender der Bundesstif-
tung Baukultur; zuvor war er u. a. ab 1998
in der Geschäftsleitung der HafenCity
Hamburg tätig; von 2005 bis 2013 war er
Abteilungsleiter für die Bereiche Stadt-
entwicklung, Stadt- und Freiraumplanung
der Berliner Senatsverwaltung für Stadt-
entwicklung und Umwelt.
Aufgabe
Nachhaltige Städte und G
­ emeinden 157

Kultur ist die 4. Säule der Nachhaltigkeit. Dieser unverrückbare Sachverhalt wird bei
dem häufig im Sinne eines Allgemeinplatzes zitierten Nachhaltigkeitsdreiecks regel-
mäßig vergessen. Selbst im »Inner Circle« der Nachhaltigkeitsdebatten ist immer wie-
der von der Trias der ökologischen Ziele, deren wirtschaftlicher Machbarkeit und der
sozialen Verankerung die Rede. Die Bundesstiftung Baukultur geht einen Schritt weiter
und hat einen ganzheitlichen Nachhaltigkeitsbegriff formuliert, der auch die kulturel-
le Dimension mit einbezieht: »Räume prägen Menschen — Menschen prägen Räume«.
Wir werden durch den genius loci unserer gebauten Umwelt geprägt — durch histori-
sche, ortsbildprägende oder alltäglich beschaffene Gebäude, Bauwerke und Freiräu-
me — und gestalten an dieser mit. Letztlich zählt bei all unseren Aktivitäten zur Schaf-
fung zukunftsfähiger Lebensbedingungen, das räumlich positiv auf uns wirkende
Ergebnis und die Kulturtechniken einer ergebnisorientierten, guten Zusammenarbeit.
Auf diese Weise sind über viele Jahrhunderte hinweg in Europa attraktive Städte und
Ortschaften entstanden. Gleichzeitig wird unsere Lebensqualität maßgeblich durch
die Leistungsfähigkeit der technischen und sozialen Infrastruktur bestimmt — von der
Wasserversorgung über den freien Zugang zu öffentlichen Räumen bis zum Vorhan-
densein von Gebäuden der Daseinsvorsorge für Gesundheit, Bildung und Kultur.
Weltweit wachsen Städte. Aber dem Flächenwachstum sind deutlich Grenzen gesetzt.
Die Klimaanforderungen an offene Böden, die negativen Auswirkungen der Mobilität
auf Umwelt und Gesundheit und das menschliche Grundbedürfnis nach lebendigen
Quartieren und Nachbarschaften, sprechen gegen einseitiges Metropolenwachstum.
Einige asiatische und arabische Stadtgründungen sind sogar eher dystopische Mo-
delle, die für den menschlichen Maßstab in demokratischen Gesellschaftsordnungen
keine Alternative darstellen. Zum Beispiel das im Bau befindliche saudi-arabische Me-
gaprojekt »Neom« beziehungsweise »TheLine«, eine 170 Kilometer lange Bandstadt,
500 Meter hoch, 200 Meter breit, mit Spiegelglas abgekapselt und voll klimatisiert.
Das Projekt ist sicher radikal, diktatorisch und rücksichtslos, aber nicht wie behauptet
nachhaltig oder ein Beitrag für »die Revolution des städtischen Lebens«. Aus meiner
Sicht eine echte Dystopie, ein gesellschaftliches »Klumpenrisiko« das weder techno-
logisch, noch baulich oder sozial dauerhaft beherrschbar ist.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderung
(WBGU) hat 2016 in seinem Hauptgutachten mit dem Thema »Der Umzug der Mensch-
11
heit — die transformative Kraft der Städte« festgestellt, dass nicht das grenzenlose
Größenwachstum von Städten nachhaltig ist, sondern die Stärkung und der Ausbau
von Polyzentralität. Nur wo ein Gemeinwesen sich räumlich konsolidiert und Angebo-
te der Daseinsvorsorge und soziale Orte gegeben sind, kann Teilhabe wirksam werden
und mit ihr echte Nachhaltigkeit. Wir brauchen also attraktive Klein- und Mittelstädte
und Großstädte mit vitalen Zentren, Stadtteilen und Quartieren. Da, wo der Bestand
gewachsener Städte schrittweise weitergebaut wird, ist die Mitwirkung der Bevölke-
rung möglich und mit ihr ein funktionsfähiges Gemeinwesen in lebenswerten Räu-
men. Das raumordnerische Gegenstromprinzip, das in Deutschland seit Jahrzehnten
gesetzlich verankert ist, ist bezogen auf die Nachhaltigkeitsziele moderner denn je. Es
enthält ein Gebot zur wechselseitigen Rücksichtnahme von örtlicher und überörtlicher
oder regionaler und überregionaler Planung. So gesehen, ist das Nahversorgungszen-
trum am Ortsrand nicht nachhaltig, weil es mit seinem Einzugsbereich die Lebensfä-
higkeit des Ortszentrums und die der benachbarten Ortskerne beschädigt, Individual-
verkehr produziert, Flächen verbraucht und Böden versiegelt. Nachhaltigkeit braucht
ein Mitdenken im Sinne einer Abwägung aller Konsequenzen des eigenen Handelns.
158

Eine wichtige Voraussetzung für nachhaltige Städte und Gemeinden ist der Zugang
aller in der Bevölkerung zu angemessenem, sicherem und bezahlbarem Wohnraum.
Das sagt sich leicht, findet allgemeine Zustimmung und ist doch in der Realität eine
große Herausforderung. Auch in Europa und Deutschland, das klimatisch, wirtschaft-
lich und historisch bei Fragen der Wohnraumversorgung zweifelsfrei begünstigt ist.
Zentral ist dabei die Bodenfrage, das heißt die spekulationspreisbereinigte Verfügbar-
keit von Grundstücks- und Geschoßflächen. Ein weiteres Flächenwachstum in Bauge-
biete für Einfamilienhäuser ist ebenso wenig machbar wie eine unbegrenzte Verdich-
tung zentraler Lagen. Das Optimum nachhaltiger Siedlungsentwicklung liegt in einem
Korridor, bei dem Nachverdichtung zu leistbaren Infrastrukturen der Ver- und Entsor-
gung und damit zur Mischung reiner Wohngebiete führt und bauliche Dichte nicht
zu unzumutbarer Nähe und damit zu sozialen Konflikten und seelischen Belastungen.
Auch die Klimafolgenanpassung an die nicht mehr abwendbare Erderwärmung, wird
zunehmend zur Schlüsselfrage für die Lebensqualität in unseren Städten. Die grüne
und die blaue Infrastruktur auszubauen, macht deshalb Sinn, auch um für Folgen ext-
remer Wetterereignisse vorzubeugen. Es wird heißer werden und mehr Starkregen und
Stürme geben. Wir brauchen also mehr kühlende Wasser- und Grünflächen mit kli-
maresilienteren Bäumen und eine gut vernetzte, robuste Infrastruktur. Der Erhalt oder
die Rückgewinnung der biologischen Vielfalt von Flora und Fauna gehören ebenso zur
Stadt der Zukunft wie eine bequeme Fortbewegung für Fußgänger und Radfahrer an-
stelle der autogerechten Stadt.
Mit jeder Baumaßnahme müssen Städte in ihrem Transformationsprozess deshalb auch
menschlicher und schöner werden. Die Stadt der Zukunft ist sozial und funktional ge-
mischt und vor allen Dingen grün! Menschen wünschen sich mehr Natur in der Stadt,
aber auch gepflegte Grünanlagen, Wasserflächen und flexibel nutzbare öffentliche
Freiräume. Aktuelle Umfragen der Bundesstiftung Baukultur zeigen, dass für 77 Pro-
zent der Bevölkerung ein gut funktionierender öffentlicher Nahverkehr wichtig für die
Zukunft der Mobilität in der Stadt ist. Ausreichend Parkplätze wünschen sich dage-
gen nur noch 34 Prozent. Das bedeutet für den Umbau unserer vielfach noch zu au-
togerechten Städte ein neues Vorzeichen. Wir sprechen deshalb beim nachhaltigem
Stadtumbau inzwischen von der Notwendigkeit der doppelten oder dreifachen Innen-
entwicklung: dichter, grüner und vernetzter! Von der Stadt der Autos zu Städten für
Menschen. Integrierte Planungs- und Bauverfahren sind dafür ebenso notwendig, wie
die Ausrichtung an einem baukulturell hochwertigem Gestaltungsmaßstab.
Baukultur als Handlungsebene betrachtet all diese Maßnahmen ganzheitlich und ge-
staltbezogen. Denn das Aussehen unserer Städte wirkt sich unmittelbar auf unsere
Stimmung, unser Wohlbefinden und damit auf unsere Lebensqualität aus. Wer aber
muss mitwirken, damit diese Erkenntnis bei der Entwicklung lebenswerter Städte und
Gemeinden umgesetzt werden kann? Zunächst braucht es einen gesellschaftlichen
und politischen Konsens über Entwicklungsziele, bei denen möglichst viele Bürgerin-
nen und Bürger mitgehen können. Die Meinungsbildung und Sprachfähigkeit hierzu
beginnt schon in der Kindheit und Schule und wird gefestigt über Ausbildung und so-
zialraumorientiertes, lebenslanges Lernen. Deshalb braucht es schon frühzeitig bau-
kulturelle Bildungsangebote in der Schule zur Vermittlung von Wissen und von Tech-
niken zur Raumadaption und -gestaltung. Aber auch die Zahl derjenigen Menschen,
die professionell an der Gestaltung unserer Lebensräume mitwirken, ist größer als ge-
dacht. Es sind eben nicht nur die planenden Berufe der Architektur und des Ingenieur-
wesens, sondern auch die Bauwirtschaft, das Handwerk, die Bauherrschaft im Woh-
Nachhaltige Städte und G
­ emeinden 159

nungs- und Immobilienwesen, die Finanzierenden, die Politik bis hin zu den Nutzenden.
Hier geht es mehr noch als um eine gute Zusammenarbeit darum, den gemeinsamen
Projekterfolg über lebenszyklusbezogene Parameter und hochwertige, das heißt emo-
tional positiv berührende Gestaltqualität zu definieren.
Für den Erhalt, den Umbau oder die Schaffung nachhaltiger Städte und Gemeinden
brauchen wir einen Plan, vielleicht sogar eine Vision oder zumindest eine gemeinsa-
me Vorstellung von einer lebenswerten Zukunft. Wo langfristige Leitbilder fehlen, ge-
raten Transformationsprozesse ins Stocken oder beginnen erst gar nicht. Deshalb ist
es erforderlich, gerade für das Ziel der Schaffung nachhaltiger Städte und Siedlun-
gen, nicht sektoral, sondern ganzheitlich und vom erstrebenswerten Ergebnis her zu
denken.
Hier ist das Nachhaltigkeitsziel SDG 11 — Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, wider-
standsfähig und nachhaltig zu gestalten — mit vielfältigen Querbezügen zu anderen
Nachhaltigkeitszielen verbunden: Zum Beispiel zu »Gesundheit und Wohlergehen«
(SDG 3), zu »hochwertige Bildung« (SDG 4), zur »Ver- und Entsorgung mit Wasser
und Energie« (SDG 6 und 7), zur »Innovation und Infrastruktur« (SDG 9) und natürlich
zur Maßnahmenebene beim Klimaschutz (SDG 13). Der letzte Punkt rückt derzeit im-
mer stärker ins Bewusstsein, weil der Bausektor weltweit für mehr als 40 Prozent der
klimaschädlichen Emissionen zuständig ist, in Deutschland sogar für etwa 50 Prozent.
Kein Wunder also, wenn der inzwischen erkannte Elefant im Raum der Klimaauswir-
kungen zu konsequenten und radikalen Schritten herausfordert. Aber der teilweise
geforderte Stopp jeglicher Bauaktivitäten ist nicht nur ökonomisch und sozial unrea-
listisch, sondern untergräbt unsere Kulturtechniken des Strebens nach Verbesserung.
Entscheidend ist also, wie umfassend, reflektiert und zukunftsfähig unsere program-
matischen Ansätze sind und wie handwerklich gut wir sie realisieren. Um Städte und
Gemeinden nachhaltig und als offenen Räume zur Integration zu gestalten, hilft uns
hier neben der Kulturtechnik der guten Zusammenarbeit aller betroffenen Akteure
und Akteurinnen tatsächlich das Handwerk. Richard Sennet wird zitiert mit der Er-
kenntnis »die Trennung von Kopf und Hand schadet dem Kopf«. Und tatsächlich kön-
nen wir durch den Werkbezug handwerklicher Arbeit baulich und kulturell im
besten Sinne selbstwirksam werden für nachhaltige Städte und Gemeinden. 11
160

musik — die nach-


Keine Zukunfts-
haltige Stadt

Helmut Dedy
ist seit 2016 Hauptgeschäfts­führer
des Deutschen Städtetags.
Nachhaltige Städte und G
­ emeinden 161

Nachhaltiges Handeln, nachhaltige Produkte oder nachhaltige Politik — Nachhaltig-


keit ist ein Buzzword der schönsten Sorte: klingt adrett und bedeutungsvoll und passt
immer. Wer kann denn schon etwas gegen Nachhaltigkeit sagen? Doch meinen wir
alle dasselbe, wenn wir von nachhaltigen Zielen sprechen? Im Alltagssprachgebrauch
verbinden wir den Begriff vor allem mit Ressourcenschutz, Langlebigkeit und Umwelt-
schutz. Dabei ist die Vision viel weitreichender: die Agenda 2030. In diesem Jahr ist
Halbzeit ihrer Umsetzung. Das Thema ist wichtiger denn je.
Im Jahr 2015 hat die Weltgemeinschaft die Agenda 2030 verabschiedet. Sie soll der
Fahrplan für die Zukunft sein. Mit der Agenda 2030 will die Weltgemeinschaft welt-
weit ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und dabei die natürlichen Lebens-
grundlagen dauerhaft bewahren. Dies umfasst ökonomische, ökologische und sozi-
ale Aspekte.

Kommunale nachhaltige Entwicklung —


ein vielseitiges Handlungsfeld
Die Agenda kennt 17 Ziele, die Sustainable Development Goals, kurz SDGs. Die Un-
terziele des SDG 11, »Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und
nachhaltig gestalten« zeigen die Spannweite des Themenfelds kommunaler Nachhal-
tigkeit. Es sind die zentralen Facetten des Zielbilds einer nachhaltigen Stadt. Es geht
um sicheren und bezahlbaren Wohnraum, eine Grundversorgung,
1 Generalversammlung der
Vereinten Nationen. Resolution die Verkehrswende, Katastrophenvorsorge und Resilienz, die Ver-
der Generalversammlung, ver- ringerung von Umweltbelastungen und die Versorgung mit öffent-
abschiedet am 25. September lichen Grünflächen und Räumen für alle.1 Darüber hinaus wird die
2015. 70/1. Transformation
Förderung von Inklusion, Partizipation, eines integrierten Vorge-
unserer Welt: die Agenda 2030
für nachhaltige Entwicklung. hens und von Nachhaltigkeit als zentral für die Stadtplanung an-
S. 23 gesehen. Die Städte sind jedoch über das Ziel 11 hinaus gefordert,
2 Neue Leipzig Charta. Die ihren Beitrag für die Agenda 2030 zu leisten. Dazu gehören die
transformative Kraft der Städte Themen Bildung, Gesundheit, Gleichstellung, das Reduzieren so-
für das Gemeinwohl. Verab- zialer Ungleichheiten, nachhaltige und resiliente Infrastrukturen,

11
schiedet beim Informellen Mi-
nistertreffen Stadtentwicklung
nachhaltiger Konsum und Produktion, die Nutzung erneu-
am 30. November 2020. S. 1 erbarer Energien oder der Schutz von Ökosystemen.
3 Ebd.: S. 4—7
Auf europäischer Ebene wurde Ende des Jahres 2020 die Neue
Leipzig Charta verabschiedet, die einen Rahmen zur Umsetzung
der SDGs und weiterer internationaler politischer Zielsetzungen
in Kommunen bildet.2 In der Charta werden mit der gerechten, grünen und produk-
tiven Stadt 3 Dimensionen nachhaltiger europäischer Städte betont. Diese konkreti-
sieren die Aspekte sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher nachhaltiger Entwick-
lung für Städte und erfordern eine integrierte Betrachtung. In den Dimensionen sind
Handlungsansätze unter anderem zu einer Vielzahl der oben genannten Themenfel-
der formuliert.3

Die nachhaltige Stadt lässt sich nur


lokal und gemeinschaftlich umsetzen
Die Zielsetzungen und Themenfelder kommunaler nachhaltiger Entwicklung sind
übergreifend formuliert und grundsätzlich für alle Städte relevant. Aber natürlich gibt
es nicht nur die eine Zukunftsvision einer nachhaltigen Stadt. Welche Zukunft ist er-
strebenswert? Die Antworten sind individuell und spiegeln subjektive Wertvorstellun-
gen und gesellschaftliche Normen wider. Hier kommt die Partizipation ins Spiel. Die
162

Idee einer konkreten gemeinsamen und wünschenswerten Zukunftsvision muss aus-


gehandelt werden, vor Ort, gemeinschaftlich mit den Bürgerinnen und Bürgern der
Wirtschaft und der Stadtgesellschaft. Diese Prozesse sind nie einfach, aber stets wert-
voll. Sie tragen den Zielsetzungen von Partizipation und Koproduktion, die in der Neu-
en Leipzig Charta eines mehrerer »Prinzipien guter Stadtentwicklungspolitik« darstel-
len, Rechnung.4 Die Umsetzung nachhaltiger Entwicklung ist ein Querschnittsthema
und betrifft alle Bereiche städtischen Handelns von Verwaltung bis hin zu Verkehrs-,
Stadt- und Grünplanung und sozialen Bereichen. Gleichzeitig sind die genannten Ak-
teurinnen und Akteure zentral für eine Umsetzung nachhaltiger Entwicklung in Berei-
chen, die jenseits kommunaler Verantwortung liegen und gemeinschaftlich umgesetzt
werden müssen.

Nachhaltigkeit verbessert
die städtische Lebensqualität
Wo lässt sich konkreter und anschaulicher als in den Städten erfahren, dass eine nach-
haltige Gesellschaft trotz — und auch wegen — der damit einhergehenden Verän-
derungen ein positives, wünschenswertes Zukunftsszenario ist? Klar, auch Städte
müssen auf dem Weg zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele vielfältige Herausfor-
derungen und Konflikte bewältigen. Aber die Fortschritte sind dafür vor Ort für alle
erlebbar, sei es durch eine verbesserte Luftqualität, zugunsten von Radfahrenden und
Fußgängerinnen und Fußgängern umgestaltete öffentliche Räume oder wohnungs­
nahe Grünflächen und die damit verbesserte Aufenthalts- und Lebensqualität.

Kommunale Nachhaltigkeit —
seit Langem auf der Agenda der Städte
Das Thema kommunaler nachhaltiger Entwicklung steht nicht erst seit Verabschie-
dung der Sustainable Development Goals im Jahr 2015 auf der Agenda der Städte.
Bereits seit den 1990er Jahren wurde es im Rahmen der Lokalen Agenda 21 im kom-
munalen Handeln verankert. Mit den SDGs ist ein neuer politischer Rah-
4 Ebd.: S. 7—9
men formuliert worden, der als Orientierungsrahmen für die Nachhaltig-
5 ↘ t1p.de/d75b
keitsaktivitäten vieler Städte dient. 224 Kommunen5 in Deutschland haben
bisher die vom Deutschen Städtetag mit ins Leben gerufene Musterresolu- 6 ↘ t1p.de/5y1i5
tion »2030-Agenda für Nachhaltige Entwicklung: Nachhaltigkeit auf kom- 7 ↘ t1p.de/uvdtm
munaler Ebene gestalten«6 unterzeichnet. Das ist ein starkes Bekenntnis.
Mit den »SDG-Indikatoren für Kommunen«7, einem vom Deutschen Städtetag initi-
ierten Projekt, stehen eine Vielzahl von Indikatoren zur Verfügung, die kommunales
Engagement für Nachhaltigkeit messbar, nachvollziehbar und vergleichbar machen.

Beispiele aus den Städten


So wie sich die Zukunftsbilder nachhaltiger Städte unterscheiden, so sind auch die
Wege zum Erreichen kommunaler nachhaltiger Entwicklung von Ort zu Ort verschie-
den. Städte sind geprägt durch die Landschaft, die Wirtschaft, durch Traditionen
und sozio-demographische und ökonomische Charakteristika. Auch die Heraus-
forderungen unterscheiden sich von Stadt zu Stadt — wachsende Großstädte und
schrumpfende Orte, Städte in Braunkohlerevieren und Transformationsgewinner. Die
Entwicklung kommunalspezifischer Lösungsansätze hat daher einen hohen Stellen-
wert. Städte setzen daher auch eigene Schwerpunkte in ihrem Engagement für Nach-
haltigkeit. Einige Beispiele zeigen das.
Nachhaltige Städte und G
­ emeinden 163

Die Landeshauptstadt München widmet sich insbesondere dem Thema der Kreis-
laufwirtschaft. Sie ist Pilotstadt im Rahmen der Circular Cities and Regions Initiati-
ve (CCRI) der Europäischen Union. Ziel ist die Entwicklung einer Strategie für die zir-
kuläre Wirtschaft (Circular Munich).8 Das Thema Kreislaufwirtschaft ist auch in Kiel
weit oben auf der Agenda. Die Landeshauptstadt Kiel möchte zur »Zero.Waste.City«
werden. Zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern wurden über 100 Maßnahmen
zur Abfallvermeidung erarbeitet und in einem Konzept zusammengestellt, das seit
2020 umgesetzt wird.9 Im Bereich der Stadtverwaltung selbst sollen beispielsweise
Einwegverbote für alle städtischen Organisationseinheiten und die Bewirtung bei öf-
fentlichen Veranstaltungen umgesetzt, die Digitalisierung verstärkt, mehr
8 ↘ t1p.de/vflvu
Trinkwasserspender im öffentlichen Raum aufgestellt und Informations-
9 ↘ t1p.de/o2ey8
kampagnen und Austauschformate durchgeführt werden.10
10 ↘ t1p.de/q08h1 Im Pilotgebiet »InnovationCity« in Bottrop wurden die CO₂-Emissionen in-
11 ↘ t1p.de/9jb2u nerhalb eines Jahrzehnts halbiert. Dabei wurden rund 36 Prozent des Ge-
12 ↘ t1p.de/uddet bäudebestands modernisiert und die Emissionen der Wohngebäude um
13 ↘ t1p.de/efh4e
fast die Hälfte reduziert, die der öffentlichen Gebäude um 40 Prozent.11
Wesentlich hierfür war ein bundesweit einzigartiges Förderprogramm zur
14 ↘ t1p.de/nyic3
energetischen Gebäudesanierung.12 Vorreiter bei der Energieeffizienz ist
15 ↘ t1p.de/8v8bo
auch die sächsische Stadt Delitzsch. Sie erzeugt erneuerbaren Strom aus
16 ↘ t1p.de/eq64b Photovoltaik, Windkraft und Biomasse ebenso wie Wärme mit Geo- und
17 ↘ t1p.de/xsimy Solarthermie und verfügt damit rechnerisch über eine autarke Stromerzeu-
18 ↘ t1p.de/c0xpu gung.13 Als viermal ausgezeichnete »Stadt der UN-Weltdekade Bildung für
19 ↘ t1p.de/k8dqk
nachhaltige Entwicklung (BNE)« ist die Stadt Gelsenkirchen im Bereich Bil-
dung für nachhaltige Entwicklung sehr aktiv. Mithilfe eines großen Netz-
werks hat sie das Thema in allen Bildungsbereichen etabliert.14 Als eine
von 8 Kommunen, die erfolgreich für die Umsetzung ihrer Konzepte im Rahmen des
Wettbewerbs »Zukunftsstadt« ausgewählt wurden,15 stellt Gelsenkirchen auch mit
dem Projekt »Lernende Stadt Gelsenkirchen — Bildung und Partizipation als Strate-
gien sozialräumlicher Entwicklung« Bildung in den Reallaboren in den Vordergrund.16
Ebenfalls im Rahmen des Projekts »Zukunftsstadt« entwickelten Bürgerinnen und
Bürger ein Zukunftsbild für die Landeshauptstadt Dresden. Auch bei der Um- 11
setzung der Projekte spielen Bürgerinnen und Bürger die zentrale Rolle. Wurde mit der
Umsetzung von zunächst 8 Bürgerprojekten im Rahmen der Projektförderung begon-
nen, werden inzwischen vielfältige weitere Projekte aus städtischen Haushaltsmitteln
gefördert.17 Die Spannweite der Projekte reicht von der Umgestaltung öffentlichen
Raums, Upcycling, der Verbesserung des Klimas auf Schulhöfen, Stadtteilfonds und
-beiräten bis hin zum essbaren Stadtteil.18
In Freiburg begleitet und unterstützt der auf 5 Jahre gewählte Freiburger Nachhaltig-
keitsrat, der sich aus Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft,
Zivilgesellschaft und Kommunalpolitik zusammensetzt, die Umsetzung der lokalen
Nachhaltigkeitsziele.19 Wie gesagt, das sind lediglich Beispiele. In allen Regionen
Deutschlands gibt es kreative Städte, die auf dem Weg zur Nachhaltigkeit unter-
wegs sind.

Über den Tellerrand hinausblicken —


internationales Engagement von Kommunen
Darüber hinaus ergreifen viele Städte nicht nur lokal Maßnahmen, sondern setzen sich
auch auf internationaler Ebene etwa beim Klimaschutz ein. In einer Vielzahl von Städ-
164

tenetzwerken wie dem Klima-Bündnis20, C4021, ICLEI22, dem Resilient Cities Network23
oder dem Global Covenant of Mayors for Climate and Energy24 schließen sich Städ-
te und andere Akteure zusammen, oft auf Grundlage freiwilliger
20 ↘ klimabuendnis.org
Selbstverpflichtungen. Die Netzwerke dienen dem Erfahrungsaus-
tausch, der Unterstützung von Kommunen bei der Umsetzung der 21 ↘ c40.org
Ziele und der Kommunikation gemeinsamer Visionen im Hinblick 22 ↘ iclei.org
auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit. 23 ↘ resilientcitiesnetwork.org

24 ↘ globalcovenantofmayors.org
Ausblick
Ob die Vision Agenda 2030 am Ende eine Erfolgsgeschichte sein wird, entscheidet
sich in den Städten. Die Halbzeitbilanz kann sich sehen lassen. Gleichzeitig wissen
wir, dass die aktuellen Krisen die Rahmenbedingungen verändern und uns sehr for-
dern werden. Da bleibt nur eins — engagieren wir uns.
Nachhaltige Städte und G
­ emeinden 165

11
Nachhaltige Konsum-
und Produktionsmuster
sicherstellen
12
Nachhaltige/r
­Konsum und
­Produktion
168

das Jahrhundert.Ziel
Nachhaltigkeit —
in der Mode

Mara Michel
ist Geschäftsführerin des VDMD, Netzwerk
für Interior, Mode, Textil sowie Vizepräsidentin
des Deutschen Designtags; sie gehört dem
Präsidium des European Fashion Council an. Sie
ist ferner CEO von futurize — trendforschung;
Fachjournalistin und Dozentin für Design an der
Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.
Nachhaltige/r Konsum und Produktion 169

Wo bleibt die Umsetzung?


Es schmeckt bitter, die eigene Branche mit den Augen der Nachhaltigkeit und Kultur
zu betrachten und zu beschreiben. Kultur bedeutet ethische Haltung und empathi-
sches gegenseitiges Verhalten, alles einbeziehend, was uns ausmacht: wie wir woh-
nen, wie wir leben, wie wir mit uns, unseren Ressourcen, der Natur und unseren Tie-
ren umgehen.
Nachhaltiges Handeln bedeutet Langlebigkeit, Dauerhaftigkeit, Authentizität, anhalten-
de positive Wirkung in Bezug auf Ökonomie, soziale Haltung, Ökologie und Kultur.Der
Wille zum nachhaltigen Handeln in unserer Bekleidungsindustrie ist da, die große Um-
setzung lässt auf sich warten.

Wo stehen wir in der Mode?


Mode ist Kultur.Gut. Die Industriefirmen haben Mode jedoch weltweit zu kurzlebiger
Wegwerf.Bekleidung verkommen lassen. Bekleidung ist beliebiges Anziehen gewor-
den. Unsere Bekleidungsindustrie ist mit rund 1.400 Unternehmen und 400.000 Be-
schäftigten im In- und Ausland die zweitgrößte Konsumgüterindustrie in Deutschland.
Sie hat alle Chancen, Leader für nachhaltiges Handeln und für Umweltschutz zu sein.
Stattdessen haben wir gerade mal 50 Firmen (3,57 Prozent), die im Ranking auf 4 oder
5 von 5 Bewertungspunkten kommen mit den Kriterien der 17 Nachhaltigkeitsziele
der Agenda 2030. Darunter — international bekannt — Hess Natur, die schon seit 1976
nachhaltig produzieren, sowie Trigema seit der Übernahme durch Wolfgang Grupp
1969. Kleinere Labels, wie Michael Spitzbarths Bleed (seit 2008), Sophia Schneider-
Eslebens SSE — Slow · Smart · Eco (seit 2015) oder Susanne Dellings ONE-OFFsue-
Jeans (seit 2019) sind dabei, sich im Markt durchzusetzen, haben es jedoch noch sehr
schwer, sich neben der Fast Fashion zu behaupten.

Eine Industrie der furchteinflößenden Verschwendung


Gehen wir zurück zur Industrie. Sie hat sich noch immer der Fast Fashion verschrie-
ben. Schnell und kostengünstig bis billigst auf Kosten von Natur, der in die Herstel-
lung einbezogenen Menschen und unserer Kultur. Konkret: Allein Asos entwickelt bis
heute 4.500 neue Modelle pro Woche, Zara 1.250 im selben Zeitraum. Die Folge: An-
fang 2021 hatte der deutsche Einzelhandel 500 Millionen Bekleidungseinzelteile un-
verkauft im Lager liegen, unterwegs zu den Läden waren weitere 300 Millio-
nen Teile, nicht zu vergessen die in den Startlöchern stehenden weiteren 500 12
Millionen Einzelteile der nächsten Frühlingskollektionen. Weiterverkaufen in andere
Länder klappt nicht mehr ohne Weiteres — über 52 Nationen haben inzwischen den
Import von Altkleiderware verboten.
Diese Massen an Anfall- und Abfallware sind eine ungeheure Belastung für die Umwelt.
Allein durch Herstellung, Transport und Gebrauch unserer Bekleidung emittieren pro
Jahr 850 Millionen Tonnen CO₂. Der helle Wahnsinn. Das macht es dem positiven Den-
ken schwer.

Die Gier nach mehr


Was macht die Firmen so gierig nach mehr, nach noch mehr Umsatz, nach noch mehr
Konsum, nach noch mehr Gewinn auf Kosten der Verschwendung von Ressourcen
und Arbeitsbedingungen, obwohl sie um die frevelhaften Zustände in den Billiglohn-
ländern wissen. Was verdrängen die CEOs? Sie haben doch selbst Kinder, die spielen
dürfen, statt arbeiten gehen zu müssen, die zur Schule gehen dürfen, Bildung und
170

Ausbildung genießen, im Wohlstand leben, statt hungern zu müssen. Warum werden


nach wie vor Tonnen an Bekleidung überproduziert und dann in die ärmsten Länder,
die sich nicht wehren können, und in die Wüste verschoben und/oder tonnenweise
verbrannt?

Angst vor dem Wandel?


Warum hat — bei allem Wissen um die Folgen der Nicht-Nachhaltigkeit — das »Immer
noch mehr Gewinn machen wollen« Prioritätsstatus? Ist es Gewohnheit? Oder Angst
vor Veränderung? Ich glaube, Letzteres. Erfolgsverwöhnte Menschen bei uns glauben
nicht an ihre eigene Fähigkeit zum Wandel. Sie halten verbissen an ihrem bisherigen
Status und ihren Strukturen fest. Es gibt ein wunderbares Sprichwort dazu: Das Leiden
muss erst groß genug sein, damit wir uns bewegen. Da das Leiden nicht in der eige-
nen Erfolgs-Tasche beginnt, schauen die CEOs noch weg und machen die Milchmäd-
chenrechnung ohne den Wirt. Das Leid des Klimaschadens trifft zuerst den Wirt, die
Konsumenten, die — durch die Pandemie und zunehmende Hitze, Trockenheit, Kriege
und Energieverknappung verstärkt — bei ihren Geldausgaben neue Prioritäten setzen
und setzen müssen. Die ersten Auswirkungen erleben wir im stationären Mode-Einzel-
handel — eben durch Nichtkauf. Die zweiten Betroffenen sind die Messen. Die Indus-
trieaussteller bleiben weg, weil der einkaufende Handel nicht mehr da ist. Damit hat
es auch die Dritten in der Kette, die Industrie erreicht, schleichend zwar, aber gründ-
lich. Sie produzieren und produzieren — gekauft wird nicht. Jetzt muss sie reagieren
und sich neu aufstellen.

Im Sinne der Nachhaltigkeit — eine große Herausforderung.


Ressourcen und Geld verschlingende Shows
Vor der Wegbeschreibung zur nachhaltigen Modeindustrie gilt es zu formulieren, was
getan werden muss in unserer Branche. Abgesehen vom endlich seit Januar 2023 ver-
abschiedeten Lieferkettengesetz, das den Menschenrechten und Umweltstandards
weltweit Geltung verschaffen soll, muss die Menge an Produktion verringert werden.
Von einer Kollektion pro Jahr noch in den 1950er Jahren sind wir heute — wie oben be-
schrieben — bei wöchentlichen oder gar täglichen neuen Kollektionen gelandet — ein
unnötiger Irrsinn. Lernen können wir von der Home- und Möbelindustrie, die einmal
im Jahr neue Vorschläge generiert.
Vergegenwärtigt werden muss dabei, dass ein riesiger Aufwand schon für die soge-
nannten Prototypen der Bekleidung notwendig ist: Entwurf, Stoff- und Farbauswahl,
Zubehöreinkauf, Modellpass, Schnitt, Zuschnitt, Nähvorgang, Vertriebsvorstellung —
schon ist mindestens die Hälfte im Abfallkorb. Ziel ist es, zurückzurudern auf maxi-
mal 2 Kollektionen pro Jahr, besser noch auf eine Kollektion, die für Frühling, Som-
mer, Herbst und Winter variiert werden kann.
Hilfe für diesen zeitlichen, finanziellen, personellen Aufwand ist die KI. Der Entwurf
bleibt, gerne digital. Die Phasen bis zur Vertriebsabnahme fallen weg. Avatare wer-
den angezogen mit Hilfe virtuell dargestellter Materialien, in virtuellen Modenschau-
en und Räumen präsentiert, die Modelle für die Kollektion auf virtueller Basis gewählt.
Enorme Einsparungen im Sinne der Nachhaltigkeit und der Gewinnung neuer Arbeits-
formen. Dennoch Angst vor Arbeitslosigkeit? Nicht, wenn unsere Politikerinnen und
Politiker sich an die Finanztransaktionssteuer wagen. 0,1 Prozent würden eine Billi-
on Euro an Steuereinnahmen bringen, womit ein Grundeinkommen der abgehängten
Unter- und Mittelschicht möglich wäre. Warren Buffett machte den Anfang mit seiner
Nachhaltige/r Konsum und Produktion 171

Aufforderung an die US-Regierung, ihn endlich höher zu besteuern, bekannte Den-


ker, wie Maja Göpel, Richard David Precht und Ulrike Herrmann, schließen sich an.

Mut zur neuen Faser


Der nächste Schritt: die Stoffe. Nicht Baumwolle, die mit Pestiziden und einer unver-
antwortlichen Menge Wasser großgezogen werden muss, sondern Materialien von neu
gewonnenen Fasern aus Abfällen unserer Nahrungskette oder natürlich nachwachsen-
den Pflanzen, wie Brennnesseln, Bambus, Kork, Algen oder Bananenhanf.
Einige wenige Beispiele zur Verdeutlichung: Wir kennen alle Apfeltrester, die Maische,
die aus Apfelsaft-Produktionsabfall entsteht. Frumat hat daraus einen lederanmu-
tenden Stoff erfunden, der in den kompostierbaren Kreislauf zurückgeführt werden
kann — großartig. Oder Stoffe aus Orangenschalen, die die Sizilianerin Enrica Arena
zu seidenartigen Stoffen verarbeitet. Auch die Idee von Friseurmeisterin Janine Fal-
ke, aus gewaschenen und geschnittenen Haaren warme Mäntel herzustellen und Mat-
ten, die Fett und Schmutz aus Gewässern ziehen, gehört zu den neuen Erfindungen.
Des Weiteren der Seidenhersteller Chandra Prakash Jha, der seine Seidenkokons auf-
schlitzen lässt, anstatt sie zu kochen. So schenkt er Schmetterlingen das Leben, die
wiederum indische Felder bestäuben.
Zum Färben der Stoffe dürfen keine giftigen Chemikalien mehr verwendet werden. An
ihre Stelle treten aus Pflanzen gewonnene Farbstoffe. Das Färbewasser wird anschlie-
ßend gefiltert und wiederverwendet, wie es bei der großen Stofffirma Hesni Textile
in Kairo schon lange üblich ist.

Kostet nachhaltiges Produzieren so viel mehr?


Wieder einen nächsten Schritt gehen: neue Produktionswege aufbauen. Weg von lan-
gen Wegen in Drittländern, hin zur Local.Production. Wiederaufbau von kleinen Pro-
duktionsstätten im eigenen Land und im europäischen Umfeld. Den CO₂-Fußabdruck
dadurch minimieren. Der neue Preis für nachhaltigere Produktion: bei einem T-Shirt
50 Cent. Bei einem Kleid bis zu 20 Euro. Wo liegt das Problem? Trigema und Hess Na-
tur beweisen, dass es genügend Kunden gibt für ein »Es geht uns gut« mit dem Ver-
kauf von nachhaltiger Ware. Und noch einen Schritt gehen: Anstatt die Drittländer
auszubeuten, ihnen Hilfe zu eigener Kollektionsarbeit bieten und anständige Löhne
bezahlen, sodass sie sich die Produkte im eigenen Land auch kaufen können
und damit dessen Wohlstand wachsen kann. 12
Verkaufen oder Service anbieten?
In den Läden ist die neue Ware angekommen. Wir stehen im Modegeschäft. Uns ge-
genüber eine schlecht gelaunte und schlecht bezahlte Verkäuferin, die uns nach Kauf-
kraft abschätzt und entsprechend den neuesten Trend anbietet. Wir gehen unverstan-
den wieder von dannen. Was haben wir erwartet?
Natürlich einen Menschen, der Freundlichkeit und eigene Zufriedenheit ausstrahlt und
nicht selbstverständlich davon ausgeht, dass wir kaufen wollen. Wir wollten eigent-
lich unser dort erstandenes Samtkleid zur Reparatur bringen und einen passenden
Schmuck dafür erstehen. Ja, wir erwarten ein Umdenken. Geschäfte, die fußläufig
erreichbar sind, Modeläden, die reparieren, tauschen, Outfits leihen, die Designerin-
nen und Designer beschäftigen, die aus Altem Neues kreieren, die in Kontakt zu Maß-
schneidern stehen, die gesuchte Styles passgenau auf den Körper arbeiten. Die An-
sätze sind da. Geht es schneller und flächendeckend?
172

Den Wandel schaffen —


der Weg zu einer Slow-Fashion-MODE.KULTUR
Wo fängt der Weg an? Bei den Designerinnen und Designern. Nicht noch mehr T-
Shirts, nicht noch mehr Jeans, nicht noch mehr vom »immer demselben« wiederho-
len. Neu denken bedeutet, mit den Endkunden sprechen. Diese fragen, wo sie stehen,
was sie sich wünschen, nach was sie sich sehnen, wovon sie träumen. Wie können wir
sie abholen, wie viel Nachhaltigkeit tragen sie mit. Mit diesem Wissen gilt es, den Um-
gestaltungsprozess in den Bekleidungsfirmen zu begleiten.
Das bedeutet: kleine Jahreskollektionen, die echten Bedarfen angepasst sind und vir-
tuell an Avataren vorausgewählt werden. Bedeutet: kleine Manufakturen neben der
Hauptproduktion, um auf individuelle Wünsche direkt eingehen zu können. Bedeu-
tet: Rückführung der Produktion ins eigene Land, wie C&A es teilweise vormacht. Be-
deutet: Baukastensysteme für Basic.Ware, um on demand maß- und geschmacksge-
recht sein zu können. Bedeutet: angeschlossene Design.Werkstätten, die Lagerware
neu durchgestalten und Abfallware zu neuen Produkten upcyceln.

Noch mehr umdenken


Bedeutet: Unterstützung der kleinen Labels in der Produktion, an der diese so oft
scheitern. Warum unterstützen nicht mehr Konzerne die aufsteigenden, nachhaltigen
Labels, wie es bei Wolfgang Joop, Karl Lagerfeld, Jil Sander und Doris Hartwich war
für ihren internationalen Ruf. Warum denn nicht als Firmen.Agentur auftreten und am
Gewinn beteiligt sein?
Gewiss, das ist nicht im traditionellen Denken unseres Sparlandes zu Hause — wäre je-
doch gewinnträchtig, nachhaltig und modekulturell. Die kleinen Labels kreieren Mode,
die den Namen verdient und zum Kaufen anregt. Und — wie ermutigend, dass unsere
Design.Studies alle ohne Ausnahme für Nachhaltigkeit brennen und diese als Auffor-
derung und Anforderung in die Industriefirmen hineintragen werden.
Bedeutet: auch die berufsständischen Verbände zu unterstützen, wie den VDMD, der
Designerinnen und Designer des Jahres für nachhaltige Kollektionen auszeichnet und
sichtbar macht, wie Anja Gockel, Thomas Rath, Laura Krettek, Michael Spitzbarth,
Anke Frese-Brammer und neu im Jahr 2023 im Rahmen der Messe Neonyt die Label
Nix Design — Barbara Gebhardt, Mover — Nicolas Rochat, Akjumii — Anna Karsch und
Michaela Wunderl-Strojny und Manomama — Sina Trinkwalder. Der den DIEN.STA.BI-
LITY.DAY eingeführt hat, der nur Designerinnen und Designer aufnimmt, die seinen
Ethikkodex unterschreiben, in dem Nachhaltigkeit verankert ist und das Gebot, kei-
nen Pelz von gezüchteten Tieren zu verarbeiten.

DIEN.STA.BILITY.DAY
Alle Gedanken münden in der Erkenntnis,
den ersten Schritt einfach zu tun. So der Appell an:

– unsere Endkundinnen und Kunden:


Jeden Dienstag nachhaltig einkaufen —
ohne Preise zu vergleichen
– alle Geschäftsinhaberinnen und -inhaber:
Jeden Dienstag ein besonderes nachhaltiges
Modeoutfit im Fenster sichtbar machen —
ohne Rabatt
Nachhaltige/r Konsum und Produktion 173

– unsere Industrie:
Jeden Dienstag online nachhaltige Mode
sichtbar machen — zum ehrlichen Preis

Der Anfang vom Ende der Black Fridays. So können wir Schritt für Schritt die Transfor-
mation und den Wandel schaffen: Mutig, angstfrei, empathisch, hinterfragend, kom-
munikativ und eben nachhaltig. Nicht mehr, sondern genug.

12
174

Weniger, haltbarer, ­

Frederike Kintscher-Schmidt
ist Vizepräsidentin des Verband Deutscher
Industrie Designer sowie Vorsitzende
des Rates Europäische und Internationale
Fragen des Deutschen Designtags.
reparierbar
Nachhaltige/r Konsum und Produktion 175

Ein Unendlichkeitssymbol auf einem quadratischen braunen Untergrund, umgeben


von 16 weiteren bunten Quadraten, zeigt eine der vielen globalen Herausforderun-
gen, der wir als Weltengemeinschaft gemeinsam gegenüberstehen. Es ist das Nach-
haltigkeitsziel 12: Nachhaltige/r Konsum und Produktion — mit der Aufgabenstellung:
Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherzustellen. Das Ziel »Responsible
consumption and production« verweist auf den verantwortungsvollen Konsum und
das verantwortungsvolle Produzieren, um unsere Natur, unser kulturelles Leben, ja
unsere Existenz auf dieser Erde zu schützen und zu erhalten. Die mit dem Nachhal-
tigkeitsziel 12 festgelegten Parameter umfassen verschiedene Aspekte der nachhal-
tigen Entwicklung:

– Die begrenzten natürlichen Ressourcen sollen


geschont und effizient genutzt werden.
– Es sollen Abfälle vermieden werden, eine Recycling-
kultur aufgebaut und keine umwelt- und gesund-
heitsschädlichen Stoffe in die Umwelt eingeführt,
sondern sachgerecht entsorgt werden.
– Unternehmen sollen ihre sozialen und ökologischen
Risiken kontrollieren und geringhalten.
– Die Gesellschaft soll über ihre Möglichkeiten des
nachhaltigen Konsums aufgeklärt werden.
– Und, die öffentliche Beschaffung soll ökologisch
vertretbar werden.1

Um Herausforderungen und Zielkonflikte in Gesellschaften westlicher Industrienati-


onen zu verdeutlichen, reicht ein Blick, die gewünschte und reelle Wirkungsweise der
17 Nachhaltigkeitsziele zu betrachten.
Als soziale Wesen befriedigen wir unsere ureigenen Bedürfnisse nach Sicherheit, Indi-
vidualität und Selbstverwirklichung zum großen Teil durch Konsum. Der Aufruf nach
verantwortungsvollerem Konsum wirkt auf uns wie die Beschneidung unserer Freiheit.
Das Ausleben von Wohlstandsbedürfnissen, das individuelle Stre-
1 vgl. United Nations,
Department of Economic and ben nach symbolischen Werten wird durch unser Wirtschaftssys-
Social Affairs, Sustainable
Development: Goal 12. Ensure
sustainable consumption and
tem mit einer Flut an Produktvielfalt beantwortet. Dieser
dynamische Prozess der Wertezuschreibung unserer Pro- 12
duktentitäten ist nicht nur ein rein wirtschaftlicher Prozess, son-
production patterns.
↘ t1p.de/mj41u dern hat sich mittlerweile zu einem kulturellen Akt der Wahrneh-
2 vgl. Reckwitz, Andreas
mung der Welt entwickelt. Durch wiederkehrende Interpretation,
(2019): Das Ende der Illusionen: Bedeutungszumessung und Bewertung unserer natürlichen, tech-
Politik, Ökonomie und Kultur nischen und sozialen Umwelt wird neben Kunst und Religion auch
in der Spätmoderne. Edition unsere alltägliche Dingwelt zur kulturellen Dimension.2 Verantwor-
Suhrkamp 2735, 1. Aufl., Berlin,
S. 32—33
tungsvoller Konsum und das verantwortungsvolle Produzieren wird
so zu einer Aufgabe der kulturellen Identitätsstiftung, der Neujus-
tierung des Zusammenlebens und entsprechender kulturelle Werteentwicklung, zu der
auch das Produkt- und Industriedesign einen wichtigen Beitrag leisten kann und muss.
In diesem Zusammenhang ist es positiv zu bewerten, dass ein noch nie dagewesenes
Bewusstsein für die globalen Probleme und Zusammenhänge in Gesellschaft, Wirt-
schaft und Politik erreicht ist. Auch im Produkt- und Industriedesign hat der Nach-
haltigkeitsdiskurs stark an Bedeutung gewonnen. Das Verständnis für die Komplexi-
176

tät und Dringlichkeit der Nachhaltigkeitsherausforderungen ist immer gegenwärtig


und durchdringt unseren Alltag, insbesondere in Bezug auf Klimawandel, den CO₂-
Eintrag in die Welt und den damit einhergehenden Verlust der biologischen Vielfalt.
Die nötigen Zukunftswenden3 — die Wohlstands- und Konsumwende, die Energie-
wende, die Ressourcenwende, die Mobilitätswende, die Ernährungswende, die Urba-
ne Wende und die Industrielle Wende — deuten an, wie eng unser kulturelles Gesell-
schaftsgefüge mit wirtschaftlicher Prosperität verwoben ist.
Die Gegenwärtigkeit des nötigen Wandels wird gleichfalls durch aktuelle nationale und
internationale Wirtschaftsinitiativen offensichtlich. So spiegeln sich beispielsweise
im europäischen Wirtschaftsprogramm »European Green Deal«4
3 vgl. Schneidewind,
diese notwendigen Wenden inhaltlich wider. Aufbauend auf der Uwe (2019): Die große Trans-
Agenda 2030 wurde 2019 der Europäische Green Deal von der Eu- formation: eine Einführung
ropäischen Kommission initiiert. Das Konzept, keine Netto-Treib- in die Kunst gesellschaftlichen
hausgasemissionen bis 2050 mehr freizusetzen, mit dem Ziel, der Wandels, S. Fischer Verlag,
4. Auflage, Frankfurt am Main
erste klimaneutrale Kontinent zu werden, soll gepaart mit dem eu-
4 vgl. Hainsch, Karlo; Brauers,
ropäischen Finanz-Aufbauinstrument »NextGenerationEU«5 die
Hanna; Burandt, Thorsten; et
Grundlage für ein grüneres und digitaleres Europa bilden. Auch al. (2020): Make the European
hier ist das Produkt- und Industriedesign als wirtschaftsbezoge- Green Deal real: Combining
ne Dienstleistung gefordert, einen Beitrag zu leisten. In der De- climate neutrality and economic
recovery. ↘ t1p.de/w2wp4
signphase werden maßgeblich Umweltauswirkungen festgelegt,
die ein Produkt während seines Lebenszyklus verursacht. Die Um- 5 vgl. European Com-
mission (2023): Directorate
weltauswirkungen können durch das Anwenden von Nachhaltig- General for Communi-
keitsgrundsätzen im Designprozess wesentlich verringert werden. cation: NextGenerationEU.
Produkte können kreislauffähig, ressourcen- und energieeffizien- ↘ t1p.de/b02p9
ter gestaltet werden.6 6 vgl. Europäische Kommis-

Eine weitere Initiative der Europäischen Kommission im Rahmen des sion (2020): Ein neuer Aktions-
Green Deals ist der »Circular Economy Action Plan«.7 Mit dem Ak- plan für die Kreislaufwirtschaft.
Für ein saubereres und wettbe-
tionsplan für die Kreislaufwirtschaft soll die Möglichkeit geschaf- werbsfähigeres Europa. Director-
fen werden, das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch ate General for Com­munication,
nachhaltig zu entkoppeln. In diesem Zusammenhang wird zurzeit LU: Publications Office, S. 6
auch die europäische »Ökodesign-Richtlinie«8 aktualisiert. So zeigt ↘ t1p.de/j0if2
sich, dass einerseits verantwortungsbewusster Konsum als Werte- 7 vgl. Europäische Kommis-
sion: Mitteilung der Kommis-
zuschreibung und kultureller Akt neu modelliert werden muss, und sion an das Europäische Parla-
zeitgleich den Produzierenden die nachhaltige Verantwortung im ment, den Rat, den Europä-
Erhalt der Wirtschaftskraft zur Schaffung von sozialer Sicherheit ischen Wirtschafts- und Sozial-
durch Wohlstand zugeschrieben wird. Der politische Fokus auf die ausschuss und den Ausschuss
der Regionen. Ein neuer Aktions-
3 Dimensionen der Nachhaltigkeit — sozial, ökologisch und öko- plan für die Kreislaufwirtschaft.
nomisch — führt dabei nicht nur im Produkt- und Industriedesign Für ein saubereres und wettbe-
zu Zielkonflikten. Produktqualität, Umweltverträglichkeit und eine werbsfähigeres Europa,
verantwortungsvolle Produktion haben Einfluss auf wirtschaftliche 11.03.2020 ↘ t1p.de/c7a44
Aspekte, die nicht grundsätzlich zum Wirtschaftswachstum in ei- 8 vgl. Europäischen Union:
nem global agierenden Markt führen und somit wirtschaftliche An- Richtlinie 2009/125/EG
des Europäischen Parlaments
forderungen teils konterkarieren. und des Rates, 21.10.2009
Das Produkt- und Industriedesign muss entsprechend den darge- ↘ t1p.de/scplg
stellten Wirtschaftsanforderungen für nachhaltige Konsum- und
Produktionsmuster Produkte und Dienstleistungen nach den Öko-
designverfahren entwerfen und Systeme schaffen, die eine gesell-
schaftliche Partizipation ermöglichen.
Nachhaltige/r Konsum und Produktion 177

Im Design sind zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele beim Gestalten von Produk-
ten und Dienstleistungen 2 Perspektiven zu beachten: die Perspektive auf das Pro-
dukt und die auf den Materialstrom. Neben der nachhaltigen Gestaltung mit festge-
legten Ökodesign-Anforderungen, wie beispielsweise langlebig, reparierbar, arm an
Problemstoffen, basierend auf nachwachsenden Rohstoffen, kreislauffähig, mate-
rial- und energieeffizient, müssen Materialströme, die durch die Entwicklung eines
Produktes ausgelöst werden, konsequent transparent dargelegt werden. Das heißt,
dass im Produktplanungs-, Produktentwicklungs- und Produktgestaltungsprozess
nicht nur die umweltgerechte Gestaltung des neuen Produktes im Fokus der Desig-
nerinnen und Designer sowie Auftraggeberinnen und Auftraggeber steht, sondern
auch die Prozesse der Materialbeschaffung, der Produktherstellung, der Produkt-
nutzung und der Produktentsorgung auf ihre Umwelteinwirkungen in Zukunft ge-
prüft und als Gestaltungseckdaten in den Designprozess einfließen sollen. Um den
Grundsatz der Kreislauffähigkeit zu erfüllen, müssen Produkte zukünftig in einzelne
Materialwertstoffgruppen zerlegbar sein und getrennt in den Kreislauf der biologi-
schen und/oder technologischen Prinzipien zurückgeführt werden. Betrachtet man
heutige Produkte, findet man unzählige Materialien und Verbundwerkstoffe in einem
Produkt, sodass die Rückführung nicht eindeutig ist. In einem digitalen Zwilling, dem
sogenannten »Produktpass«9, soll in Zukunft transparent dargestellt werden, welche
Materialien und Rohstoffe in Produkten verarbeitet sind und wie sie
9 vgl. Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz, umweltgerecht innerhalb des Kreislaufes geführt und entsorgt wer-
nukleare Sicherheit und Ver- den können.
braucherschutz (2023): Die Rückführung der Produkte nach der aktiven Nutzungsphase
Auf einen Klick: Produktpass.
führt zur Gestaltung der Systeme für eine gesellschaftliche Par-
Lückenloser Lebenslauf, Um-
weltpolitische Digitalagenda tizipation. Denn genau an der Stelle der Rückführung von Produk-
↘ t1p.de/uxyu4 ten entsteht eine Kreislauflücke (Circular Gap). Verpackungen, Pro-
10 / 11 vgl. Boch, Ralph; dukte und Industriegüter können noch so gut für eine fachgerechte
Gallen, Jenny; Hempel, Kreislaufführung gestaltet sein, wenn der Kreislauf der Rückfüh-
Nadja (2020): Wege zu einer rung nicht geschlossen ist. Nutzerinnen und Nutzer sowie Endver-
Circular Society. Potenziale
des Social Design für gesell-
braucherinnen und -verbraucher müssen eine Kultur des Lebens-
schaftliche Transfor­mation. zyklusdenkens (Life Cycle Thinking) entwickeln. Die Hans Sauer
Social Design Lab, Hans Stiftung und das social design lab haben neben dem oben genann-

12
Sauer Stiftung, München ten biologischen und technologischen Kreislauf einen drit-
↘ t1p.de/pp3v3
ten für die zukünftige zirkuläre Gesellschaft (Circular So-
ciety) wichtigen Kreislauf nach den Prinzipien der Soziosphäre
entwickelt.10 Auch dieser Teilkreislauf muss durch Designerinnen und Designer ge-
staltet werden. Wie kann Design gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteurinnen
und Akteuren neue Praktiken der Partizipation zum Schutz der Natur nahebringen?
Die Beantwortung dieser Frage sollte ein wesentlicher Teil des Nachhaltigkeitsdiskur-
ses im Produkt- und Industriedesign werden. Produkt- und Industriedesignerinnen
und -designer können einerseits funktionale Rückführsysteme entwickeln, gleich-
zeitig muss durch ansprechendes Design Wertschätzung, Wissenstransfer und Be-
wusstseinsbildung für die Bedeutung der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes
aufgebaut werden.11 Diese Bewusstseinsbildung und Werteentwicklung müssen zen-
trale sozio-kulturelle Aufgaben des Designs werden. Dabei mag die praktische Funk-
tion im Vordergrund stehen, aber ein Produkt-Service-System hat als sogenannter
Aktant, eingebunden in unser gesellschaftliches Netzwerk, immer auch eine darstel-
lende kommunikative Funktion und signalisiert eine kulturelle Dimension. Gute Ge-
178

staltung führt zu Wertschätzung und emotionaler Bindung. Lieblingsobjekte entwi-


ckeln Patina und stehen für positive Narrative. Durch eine solche Beziehung entsteht
Langlebigkeit.
Ein weiterer wichtiger Schritt zu Bewusstseinsbildung für die Bedeutung der Nachhal-
tigkeit wäre die Umsetzung des »Rechts auf Reparatur«12, das im Koalitionsvertrag
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP für die Legislaturperi-
12 vgl. Bundesministerium
ode 2021—25 des Deutschen Bundestags vereinbart und am 22. für Umwelt, Naturschutz,
März 2023 vorgestellt wurde. Es gibt den Produktbesitzerinnen nukleare Sicherheit und Ver­
und -besitzern die rechtliche Grundlage, ihre Produkte reparieren braucherschutz (2023): FAQ
zu lassen bzw. sogar selbst zu reparieren. Für die Generation mei- Recht auf Reparatur, Konsum
und Produkte. ↘ t1p.de/lybrz
nes Großvaters würde diese kulturpolitische Entwicklung unserer
13 Schneidewind, Uwe
Gesellschaft wohl Fragezeichen aufwerfen. In seiner alten Korn-
(2018): Die große Transfor-
mühle hatte er ein anthropogenes Lager aus Ersatzteilen für sei- mation. Eine Einführung in
ne Maschinen. Für ihn war die Reparatur seiner eigenen Maschi- die Kunst gesellschaftlichen
nen ein Selbstverständnis. Das Recht auf Reparatur beschreibt Wandels. S. Fischer Verlag,
S. 21
genau diese Situation, die für Generationen vor uns nicht einge-
fordert werden musste. Hier sind Produkt- und Industriedesigne-
rinnen und -designer sowie Auftraggeberinnen und Auftraggeber gefragt, Produkte
von vorneherein so zu gestalten, dass sich eine Kultur des Reparierens, wie sie damals
üblich war, wieder einstellt und weiterentwickelt werden kann. Mit dem Recht auf Re-
paratur bekommen Bürger nicht nur ein Recht, sondern auch die Möglichkeit zurück,
sparsamer mit Rohstoffen umzugehen und weniger wegzuwerfen. Kreativität und
Improvisation liegt in der Natur des Reparierens. Das Verbraucherrecht spricht somit
indirekt allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu, sich selbstwirksam und
partizipativ gegen Konsum auszusprechen und Selbstverantwortung zu übernehmen.
»Zukunftskunst bezeichnet die Fähigkeit von Politik, Zivilgesellschaft, Unternehmen,
Wissenschaft und allen Pionieren des Wandels, grundlegende Transformationspro-
zesse von der kulturellen Vision der Nachhaltigkeit her zu denken und von dort insti-
tutionelle, ökonomische und technologische Perspektiven zu entwickeln.« 13
Uwe Schneidewind macht mit seinem Statement deutlich, dass die Transformation zur
Nachhaltigkeit partizipativ ist — wir können nicht nur am Nachhaltigkeitsdiskurs teil-
haben, wir müssen Zukunft gemeinsam gestalten.
Nachhaltige/r Konsum und Produktion 179

12
Umgehend Maßnahmen
zur Bekämpfung des
Klimawandels und seiner
Auswirkungen ergreifen
13
Maßnahmen
zum Klimaschutz
182

Die Zeit läuft


uns davon!

Michael Müller
ist Bundesvorsitzender der Naturfreunde;
von 1983 bis 2009 gehörte er dem Deutschen
Bundestag an; er war umweltpolitischer
Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und
stellvertretender Fraktionsvorsitzender;
von 2005 bis 2009 war er Parlamentarischer
Staatssekretär im Bundesministerium für
Umwelt Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Maßnahmen zum Klimaschutz 183

I.
Wir leben in einem Jahrzehnt der Extreme, in dem die bisherigen Gewissheiten kei-
nen Bestand mehr haben. Es ist die gefährlichste Dekade seit dem Ende des Zwei-
ten Weltkriegs und wir müssen heute alles tun, damit es nicht ähnlich dramatisch en-
det. Die Krisen und Herausforderungen häufen, verbinden und verstärken sich. Immer
schneller steuert die Menschheit auf den verhängnisvollen Zeitpunkt zu, an dem die
unbewältigten Krisen Synergien erzeugen werden, deren negative Folgen jenseits un-
serer Vorstellungskraft liegen. Damit stellt sich die Frage: Können wir noch zu einem
grundlegenden Kurswechsel kommen, so wie er, wenn auch unzureichend, in den 17
Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen vorgegeben ist?
Die Zeit drängt, ja sie läuft uns davon. Die Zuspitzung der globalen Krisen beschleunig-
te sich 2020 mit der Corona-Pandemie, von der die Welt völlig unvorbereitet getrof-
fen wurde und die auch unser Land monatelang mit einem Lockdown lähmte. Zwei
Jahre später begann 2022 der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die
Ukraine, aus dem längst ein Weltordnungskrieg geworden ist. Die Führung der russi-
schen Atommacht wollte mit einer schnellen Einnahme Kiews einen »Enthauptungs-
schlag«, tatsächlich ist es zu einem blutigen Stellungskrieg im Osten und Süden der
Ukraine gekommen. Bachmut wurde zum Verdun unserer Zeit. Der Krieg hat längst
eine unberechenbare Eskalationsdynamik angenommen.
Die größte Herausforderung steht uns jedoch erst bevor und sie scheint, so die traurige
Wahrheit, nicht mehr abwendbar zu sein: Die globale Klimakrise. Bereits im nächsten
Jahr wird in der Troposphäre eine Konzentration von Kohlendioxid (CO₂) gemessen
werden, die — unabänderlich, wenn auch durch die Anpassungsprozesse des Klima-
systems mit einer zeitlichen Verzögerung — zu einer Erderwärmung um 1,5 Grad Cel-
sius führen wird. Die regionalen Unterschiede werden noch längere Zeit erheblich sein.
Dann wird es ernst mit den gefürchteten »Tipping Points« (Kipppunkte) im Erdsystem.
Dazu gehören zum Beispiel das Absterben der Korallenriffe, das Austrocknen der bra-
silianischen Tropenwälder oder die Abschwächung der thermohalinen Windbänder
über dem Atlantik. Die Rückwirkungen und Folgen werden sich mit zunehmender
Wucht in radikalen und zumindest langanhaltenden Veränderungen im Erdsystem,
auf dessen Stabilität menschliches Leben angewiesen ist, auswirken.
Die Folgen der Erderwärmung treffen vor allem die armen Weltregionen und die Unge-
borenen, die über nur einen geringen oder noch über gar keinen politischen Einfluss
verfügen. Die Klimakrise vertieft die Spaltung zwischen Arm und Reich, zwischen Nord
und Süd, zwischen Jung und Alt, wobei es auf Dauer auch für die privilegierten Be-
völkerungsgruppen keine »Notausgang« geben wird. Aber heute sind sie we-
niger betroffen und können sich besser schützen. Doch noch immer ist nicht 13
verstanden, dass Klimaschutz keine Ergänzung dessen ist, was besteht, sondern in
Wirtschaft und Gesellschaft ein radikales Umdenken für eine soziale wie ökologisch
geleitete Revolution im Denken und Handeln notwendig macht, in der die eigenen In-
teressen zugunsten einer aufgeklärten Solidarität mit Menschen und Natur zurückge-
stellt werden.
Tastsächlich hat sich zwar in der Öffentlichkeit die Debatte über die Klimakrise heute
etabliert, aber ihre Dimension ist längst nicht verstanden. Zentrale Grundfragen für
die soziale und ökologische Gestaltung der Transformation werden noch immer tabu-
isiert. Zwar bezweifelt außer der AfD keine Partei diese Menschheitsherausforderung,
auch die Medien berichten immer wieder über die Dramatik der Erderwärmung. Auch
die Werbung hat sich des Themas angenommen. Doch die öffentliche Meinungsma-
184

che hat einen Deutungsrahmen geschaffen, in dem entscheidende Fakten verdrängt


werden. Ein grüner Kapitalismus soll der Klimaschützer sein. Doch der eigentliche Kern
der Klimakrise ist das Überschreiten ökologischer Grenzen des Wachstums, was für
ein derartiges Wirtschaftssystem immanent ist. Die Klimakrise wird von daher vor al-
lem verbal entschärft, obwohl sie sich real verschärft. Ein Beispiel: Der UN-Klimarah-
menvertrag, der 1992 einstimmig auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro beschlossen wur-
de, forderte eine deutliche Verringerung der Treibhausgasemissionen. Tatsächlich hat
sich seitdem der Kohlendioxid-Ausstoß jedoch verdoppelt.
Wie eine Gesellschaft, in diesem Fall sogar die Weltgemeinschaft, sich ihr Denken und
daraus folgend ihre Politik einreden lässt, nennt man »politisches Framing«. Wie wir
aus der modernen Neuro- und Kognitionsforschung wissen, interpretieren Frames die
Wirklichkeit nach spezifischen Interessen, so auch die Klimakrise, wie wir sie wahrneh-
men sollen und wahrscheinlich auch wahrnehmen wollen. Nicht als politischer Um-
bruch, sondern als grüne Ergänzung dessen, was wir haben und behalten wollen. Das
erklärt, warum die Menschheit nicht in der Lage zu sein scheint, die Dimension und
Tragweite der Klimakrise zu verstehen. Dagegen hat Immanuel Kant die grundlegen-
de Urteilsfähigkeit des Menschen in der »Kritik der reinen Vernunft« als Frage exakter,
bewusster und rationaler Erkenntnis beschrieben. Davon sind wir in der Bewertung der
multiplen Krisen, die uns heute herausfordern, weit entfernt.
Politische Begriffe und Kategorien dürfen nicht verschleiern oder sogar die Menschen
täuschen. Sie müssen Klarheit schaffen und befähigen, unter die Oberfläche zu
schauen, Zusammenhänge zu verstehen und Interessen zu erkennen, um die Dimen-
sion der Herausforderung zu erfassen. Weil das bisher nicht geschehen ist, wurde
auch die erste Schlacht gegen die Klimakrise bereits verloren, das unwürdige Geran-
gel um das Kyoto-Protokoll.
Der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln wird größer, denn seit den Studien
des US-Forschungsrates von 1979 ist bekannt, dass ein Anstieg von CO₂ auf 420 ppm
(Teile auf eine Million Teile) in der Troposphäre zu einem globalen Temperaturanstieg
um 1,5 Grad führen würde. Heute wird bereits 418 ppm gemessen mit einem jährli-
chen Anstieg von derzeit 2,23 ppm. Zudem hat Kohlenstoff eine Verweildauer in der
unteren Lufthülle zwischen 30 und 120 Jahren. Das heißt: Die klimatischen Bedingun-
gen der weiteren Zukunft sind in einem großen Umfang vorprogrammiert, also nicht
mehr zu verhindern.
Zwar wurde auf der UN-Klimakonferenz 2015 in Paris von der globalen Staatengemein-
schaft feierlich versichert, dass sie die Erderwärmung möglichst bei 1,5 Grad begren-
zen wollen, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Schon die in Paris vorgelegten
nationalen Selbstverpflichtungen, deren Nichteinhaltung von der UNO nicht sankti-
oniert werden können, werden — je nach Annahmen und Rahmenbedingungen — zu
einer Erwärmung um 2,8 bis 3,2 Grad führen. Tatsächlich bleiben jedoch viele Staa-
ten auch noch hinter ihren eigenen Vorgaben zurück. Dadurch befindet sich die Welt
derzeit auf einem Pfad von deutlich über 3,2 Grad Celsius. Die Selbstvernichtung der
Menschheit ist zu einer realen Vision geworden.

II.
Handele so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz
echten menschlichen Lebens auf Erden. So formulierte Hans Jonas den ethischen Im-
perativ, den die Menschheit für ihr Überleben braucht. Die traditionellen Denk- und
Handlungsweisen, aus einer Entwicklung erst zu lernen, wenn der Schaden eingetre-
Maßnahmen zum Klimaschutz 185

ten ist und ihn mit den Möglichkeiten der modernen Technik einzuhegen, werden der
Klimakrise nicht gerecht. Das Prinzip Verantwortung konzentriert sich deshalb auf die
Frage: Handeln wir heute so, dass ein Klima-Gau verhindert wird?
Der Weltklimarat, der größte Wissenschaftskonvent der Welt, hat mit Hilfe der Paläo-
klimatologie, von über 29.000 Datenblättern aus der Wetterbeobachtung und von
zahlreichen Computersimulationen eine düstere Zukunft aufgezeigt, wenn wir nicht
schnell gegensteuern. Die Menschheit führt einen alltäglichen Krieg gegen die Natur,
den globalen Süden und die Zukunft. Die globale Erwärmung kommt schneller, härter
und einschneidender als noch vor wenigen Jahren erwartet wurde. Nie zuvor war die
Menschheit so gefordert, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen, also Rück-
sicht nehmen auf ein denkbares Morgen und zu einer nachhaltigen Entwicklung kom-
men. Denn heute wird die höchste Konzentration von Treibhausgasen seit 650.000
Jahren gemessen. Die Geschwindigkeit des Temperaturanstiegs übersteigt alles, was
aus den letzten Jahrtausenden bekannt ist. Selbst bei einem sofortigen Stopp der
Treibhausgase ist eine weitere Erwärmung von 0,1 ° C pro Dekade über lange Zeit nicht
zu verhindern.
Wenn nicht schnell und durchgreifend gehandelt wird, drohen die Folgen der Erder-
wärmung zur bedeutendsten Ursache politischer, ökonomischer und gesellschaftli-
cher Krisen und neuer Gewalt zu werden. Sie drehen sich um Wasser, Rohstoffe und
Klima, um Lebensbedingungen, Migration und Frieden. Der Wissenschaftliche Beirat
für Globale Umweltfragen (WBGU) der Bundesregierung machte das bereits in dem
2008 veröffentlichten Gutachten »Sicherheitsrisiko Klimawan-
1 Wissenschaftlicher
Beirat der Bundesregierung del«1 deutlich. Die zentrale Botschaft lautet, dass die Klimakrise
Globale Umweltveränder-­ schon bald die Anpassungsfähigkeit der Gesellschaften überstei-
ungen (2008): Welt im Wandel: gen wird. Die Folgen sind Gewalt, Verteilungskonflikte und De-
Sicherheitsrisiko Klimawandel.
stabilisierung, die die Sicherheit in einem unbekannten Ausmaß
Heidelberg
bedrohen werden: Degradation von Süßwasserressourcen, Rück-
gang der Nahrungsmittelproduktion, Sturm- und Flutkatastrophen sowie umweltbe-
dingte Armutswanderung, von denen arme und fragile Staaten besonders betroffen
sein werden.

Brennpunkte der Klimakonflikte


Für das südliche und westliche Nordamerika wird ein Trinkwassermangel befürchtet.
In vielen Regionen wird die Ernte stark zurückgehen. Starke Hurrikans werden zuneh-
men. Florida ist vom steigenden Meeresspiegel betroffen. In Lateinamerika schmelzen
die Andengletscher. In der Folge drohen bis zu 77 Millionen Menschen von
Wassermangel betroffen zu werden. Bereits rund 30 Prozent von der 2.042
km2 großen Gletscherfläche in den Kordilleren sind verloren gegangen. Vier Fünf-
13
tel der peruanischen Energieversorgung hängt von Wasserkraftwerken ab. Beson-
ders düster ist die Aussicht für Lima. Die Wasserversorgung der mehr als 7,5 Millio-
nen Einwohner wird durch die Anden ermöglicht. Die Reserven gehen rapide zurück.
Die Luftfeuchtigkeit nimmt ab, so dass die Biosphäre von der Hitze geschädigt wird,
die trockene Savanne wird tropische Wälder verdrängen.
Große Teile Afrikas können künftig noch weniger als heute bewässert werden. Darun-
ter werden künftig rund eine halbe Milliarde Menschen leiden. Bereits heute sind 46
Prozent der afrikanischen Landfläche mit 465 Millionen Menschen Wüste. Eine Versal-
zung landwirtschaftlicher Gebiete trifft besonders das bevölkerungsreiche N ­ ildelta.
Allein im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas sind 15 bis 20 Prozent der Men-
186

schen unterernährt. Durch die Erderwärmung drohen dem »Armenhaus der Erde« in
einigen Regionen bis zu 50 Prozent Ernteausfälle. Schon bei einer globalen Erwär-
mung um 1,8 ° C können in einigen Ländern die Erträge um 20 Prozent zurückgehen.
Am härtesten betroffen sein werden im Süden Mosambik, Malawi und Sambia, die zu
den ärmsten Gesellschaften der Welt gehören, ebenso große Teile Ostafrikas — Nord-
kenia, Äthiopien, Eritrea und Dschibuti sowie Sudan und Somalia. In den Mündungs-
gebieten großer Flüsse sind Millionenstädte wie Lagos in Nigeria von Überschwem-
mungen gefährdet.
In Asien werden künftig zahlreiche Überschwemmungen vom Schmelzwasser der Glet-
scher des Himalayas verursacht. Sie sind die Wasserspeicher Asiens und machen 15
Prozent der globalen Eismasse aus, große Flüsse wie der Indus, Mekong oder Jang-
tse speisen sich daraus. Im Trend werden in 100 Jahren alle chinesischen Gletscher
geschmolzen sein. China hat schon heute mit Wasserknappheit und Wasserverseu-
chung zu kämpfen hat. Bevölkerungsreiche Großstädte wie Mumbai oder Shanghai
liegen im Mündungsbereich von Flüssen. Insgesamt leben 635 Millionen Menschen
an Küsten, die nur bis zu 10 Meter über dem Meeresspiegel liegen. Schon eine Erwär-
mung um 2 ° C kann für Millionen von Menschen in Bangladesh das Leben unmöglich
machen. Geologisch ist das Land eine einzige Flussniederung. Sollte der Meeresspie-
gel um 45 cm ansteigen, müssten sich bis zu 5,5 Millionen Menschen eine neue Hei-
mat suchen. Kleine Inseln im Pazifik, deren höchster Punkt nur fünf Meter über dem
Meeresspiegel liegt, werden vom Wasser abgetragen und überschwemmt. Die Re-
gierung des Inselstaates Tuvalu versuchte bereits vorsorglich, für ihre Bevölkerung in
Neuseeland oder Australien Asyl zu beantragen.
Auch für Europa gibt es alarmierende Befunde. Wissenschaftler befürchten, dass bei ei-
nem Abbrechen der arktischen Eisschilde die Niederlande nicht zu retten sein könnte.
Nach Angaben des Bundesamtes für Meereskunde wurde in der Nordsee seit 1993 ein
kontinuierlicher Temperaturanstieg im Oberflächenwasser von rund 2° C registriert.
Der pH-Wert nimmt ab. Seit Beginn der Industrialisierung ist er um ca. 0,11 Einheiten
gesunken, ein weiteres Absinken bis zu 0,35 pH-Einheiten bis 2100 ist zu befürchten.
Das hat erhebliche Auswirkungen auf Muscheln, Schnecken und Korallen. Die Alpen
verlieren in rasantem Tempo ihre Eiszonen und Gletscher. Starkregen, Überschwem-
mungen, Erosion und Gletscherschmelze nehmen zu, im Süden Europas sind Dürren
und Ernteausfälle zu erwarten. Trockenheit wird das Hauptproblem sein. In Südspa-
nien und Portugal, aber auch in Griechenland entstehen neue Wüstengebiete.
Bedrohlich ist die Freisetzung von Methan aus der auftauenden Tiefkühltruhe Sibiriens,
eine gewaltige Treibhausbombe. Die Permafrostgebiete liegen überwiegend in Russ-
land, China und Kanada. Die Methan-Emissionen können für einen zusätzlichen Wär-
meschub in der Atmosphäre sorgen, sie sind fast 30-mal wirksamer als Kohlendioxid.
Die vom Menschen gemachte Klimakrise fordert unsere »überbevöl-
2 Report of the World Com­
kerte, verschmutzte, ungleiche und störanfällige Erde« (Brundtland- mission on Environment and
Bericht2) tiefgreifend heraus. Es ist die Schlüsselfrage für Mensch Development (1987): Our Com-
und Natur. mon Future ↘ t1p.de/5atto

III.
Der Schutz der Natur, ein gerechtes Verhältnis zur sozialen und zur natürlichen Mit-
welt und die schonende (Kreislauf-)Nutzung von Energie und Ressourcen werden zu
Schlüsselfragen unseres Jahrhunderts. Bei einer Fortsetzung des bisherigen Wachs-
tums gerät die Welt in eine für die Menschheit tödliche Sackgasse. Dann werden die
Maßnahmen zum Klimaschutz 187

reichen Eliten der Welt versuchen, sich rigoros vom Rest der Menschheit abzuschot-
ten, damit sie sich als »Erdbewohner erster Klasse« auch weiterhin ihren komfortab-
len Lebensstil zu Lasten von Mensch und Natur absichern können. Ihr Ziel wäre dann
die Schaffung grünen, streng abgeschotteter Oasen des Wohlstands gegen eine un-
wirtlich werdende Welt. Das riecht nach Krieg.
Der Kurswechsel ist allerdings nicht mit wenigen Teilkorrekturen zu erreichen. Vielmehr
geht es um 4 große Reformbereiche, die für eine friedliche und gute Zukunft entschei-
dend sein werden:

– die Neudefinition des technischen Fortschritts,


der Innovationen auf die Naturverträglichkeit und die
Schonung der natürlichen Lebensgrundlagen legt;
– eine Wirtschaftsverfassung, die eine sozial-ökologisch
regulierte Marktwirtschaft zulässt und nicht länger von
der totalen Dominanz der Ökonomie ausgeht;
– eine gerechte Verteilung der Lasten und Kosten des
ökologischen Umbaus — innerhalb der Gesellschaft,
international und zwischen den Generationen;
– ein reflexives kulturelles Verständnis von Freiheit und
Verantwortung, das den Begrenzungen der Erde
und der Endlichkeit des Naturkapitals gerecht wird.

Die große Megamaschine des Industriezeitalters, die das Schneller, Höher und Weiter
möglich gemacht hat, gerät ins Stocken. Der Glaube an Fortschritt durch wirtschaftli-
ches Wachstum und immer neue technische Innovationen ist nicht zu halten. Wir brau-
chen eine neue Qualität des Fortschritts. Ein Fortschritt, der die ökologischen Gren-
zen unseres Erdsystems für ein dauerhaftes menschliches Leben einhält. Das geht nur,
wenn die natürliche und soziale Mitwelt als Einheit gesehen wird. Ohne mehr Freiheit,
ohne mehr soziale Gerechtigkeit, ohne eine Stärkung des gesellschaftlichen Zusam-
menhalts wird es den überfälligen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft nicht ge-
ben. Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen geben für die Weltgemeinschaft
eine erste Richtung vor. Der Weg muss aber weiter und vor allem schnell gegangen
werden. Dafür brauchen wir eine engagierte und kreative Kultur, die zum reflexiven
Nährboden des neuen Fortschritts wird.

13
188

konsequent werden —
Beim Klimaschutz

Zehntelgrad zählt
denn jedes

Olaf Bandt
ist Vorsitzender des Bund für Umwelt und
Naturschutz Deutschland (BUND); von
2008 bis 2019 war er Geschäftsführer des
BUND, davor war er von 1992 bis 2008
Campaigner für Abfallvermeidung; zuvor
war er als Berater und Gutachter tätig.
Maßnahmen zum Klimaschutz 189

Von Nordspanien über Frankreich bis nach Brandenburg: Mit extremer Trockenheit
und akutem Wassermangel erreichen die Auswirkungen der Klimakrise Europa in ei-
nem bislang nicht gekannten Ausmaß. Im globalen Süden gehören anhaltende Dürren
und dramatische Überschwemmungen schon längere Zeit zur Realität. Dem Weltkli-
marat (IPCC) zufolge wird es immer wahrscheinlicher, dass wir die 1,5-Grad-Gren-
ze in den nächsten Jahren reißen werden. Das ist jedoch kein Grund aufzugeben. Im
Gegenteil: Es kommt auf jedes Zehntelgrad an. Studien zeigen, dass schon bei 2 Grad
Erderhitzung die Schäden um ein Vielfaches größer sind als bei einer Erhitzung um
1,5 Grad.
Die Klimakrise ist nur eine unter vielen sozialen und ökologischen Krisen. Ungemindert
schwindet die Artenvielfalt, werden Böden und Rohstoffe immer knapper und wächst
die soziale Ungleichheit hier und weltweit. Umso wichtiger ist es, dass die UN-Nach-
haltigkeitsziele (SDGs) Umwelt- und Entwicklungsziele miteinander verknüpfen. Am
Beispiel von SDG 13 wird deutlich: Wir müssen der Klimakrise konsequente Maßnah-
men entgegensetzen. Nur dann besteht eine Chance, auch die anderen Ziele zu errei-
chen, z. B. Hunger und Armut zu beenden, Zugang zu sauberem Wasser für alle Men-
schen zu schaffen oder den Artenverlust aufzuhalten.

Zusammenspiel aus politischer


Regulierung und kulturellem Wandel
Viele der sozialen und ökologischen Krisen lassen sich auf eine nicht nachhaltige Wirt-
schafts- und Lebensweise zurückführen, die unendliches Wachstum auf einem end-
lichen Planeten anstrebt und umsetzt. Deshalb kann die Antwort auf die sozialen und
ökologischen Krisen nur in einer umfassenden sozial-ökologischen Transformation lie-
gen. Es geht also darum, als Gesellschaft unsere Lebens- und Wirtschaftsweise so zu
verändern, dass mehr soziale Gerechtigkeit entsteht und die Grundversorgung sowie
ein verantwortungsvoller Umgang mit den Gemeingütern gesichert sind.
Der Politik kommt hierbei die wesentliche Aufgabe zu, den Rahmen zu setzen. Alle po-
litischen Ebenen — von der internationalen über die europäische und nationale bis
zur regionalen und lokalen Ebene — müssen sich mit hoher Priorität hierfür einsetzen.
Für den Klimaschutz in Deutschland bedeutet ein solcher Rahmen einerseits ambiti-
onierte Ziele für eine absolute Senkung des Energieverbrauchs. Er bedeutet anderer-
seits ein ambitioniertes Klimaschutzgesetz mit klaren Verantwortlichkeiten aller Bun-
desministerien vom Bau- bis zum Verkehrsministerium — und einer verbindlichen und
zügigen Umsetzung. Doch es braucht noch mehr: Auch für einen kulturellen Wandel
und gesellschaftliche Teilhabe müssen die verschiedenen Ebenen und insbe-
sondere die Bundesregierung gute Rahmenbedingungen schaffen. Etwa für
eine dezentrale Bürgerinnen- und Bürgerwende oder eine Verkehrswende, durch die
13
umweltverträgliche Alternativen ausgebaut und zugleich ein verlässlicher Übergang
für die Beschäftigten der Autoindustrie gestaltet wird.

Klimaschutz konkret auf nationaler Ebene


In Deutschland muss die Bundesregierung ihre Hausaufgaben machen und Klima-
schutz konsequent umsetzen, statt wie aktuell geplant, das Klimaschutzgesetz zu
schleifen und damit den Lehrplan zu ändern. Nach Jahren des Reformstaus in der
Großen Koalition macht die aktuelle Ampel-Koalition hier faule Kompromisse. Einer-
seits versucht die Ampel den Ausbau der erneuerbaren Energien durch schwerwie-
gende Eingriffe in das Naturschutzrecht voranzubringen. Andererseits werden wich-
190

tige Maßnahmen verschleppt, die einen naturverträglichen und sozial gerechten


Ausbau ermöglichen würden. Die im Koalitionsvertrag festgeschriebene Solardach-
pflicht ist weder in dem Entwurf der Solarstrategie des Wirtschaftsministeriums noch
im Gebäudeenergiegesetz zu finden. Ebenso fehlen die nötigen Voraussetzungen,
um »Energy Sharing«, das heißt das gemeinsame Produzieren, Verbrauchen und Tei-
len von Strom, zu ermöglichen. Beide Maßnahmen haben ein großes Potenzial, den
Ausbau von Wind- und Solarenergie zu beschleunigen und den Druck auf die Fläche
zu verringern.
Im Verkehrsbereich braucht es für konsequenten Klimaschutz zweierlei: Erstens eine An-
triebswende hin zu den energieeffizientesten Lösungen, welche die meisten Ressour-
cen einsparen. Und zweitens eine Mobilitätswende, damit Menschen und Waren mit
möglichst geringen Belastungen für Natur und Klima von A nach B kommen. Um die
aktuell bestehende Abhängigkeit vom (eigenen) Auto zu verringern, ist ein gut ausge-
bauter, für alle nutzbarer und bezahlbarer öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV)
unabdingbar. Ergänzt werden sollte dieser durch Sharing-Systeme, die es Menschen
ermöglichen, auch ohne eigenes Auto mobil zu sein. Auf absehbare Zeit wird jedoch
auch das private Auto eine Rolle im Rahmen der Mobilitätswende spielen. Es ist des-
halb wichtig, wie Fahrzeuge angetrieben werden und wie groß und schwer sie sind, da
für die Herstellung und den Betrieb erhebliche Mengen an Rohstoffen benötigt wer-
den. Nischentechnologien wie E-Fuels müssen auf Bereiche wie Schiffs- und Flugver-
kehr begrenzt und Flüge, wo möglich, durch klimagerechtere Verkehrsmittel ersetzt
werden.
Neben dem Energiesystem und dem Verkehrsbereich müssen auch der Gebäudesektor
und die Industrie grundlegend verändert werden, um konsequenten Klimaschutz um-
zusetzen. Der Gebäudebereich hat schon mehrfach seine Klimaziele überschritten.
Hier zeigt sich, wie eng soziale und ökologische Fragen verflochten sind. Denn Men-
schen mit geringem Einkommen wohnen besonders häufig in Gebäuden, die schlecht
oder gar nicht gedämmt sind und zahlen hohe Heizungskosten. Der aktuelle Vorstoß
der Bundesregierung, für jede neu eingebaute Heizung vorzuschreiben, dass sie zu
mindestens 65 Prozent mit erneuerbaren Energien versorgt werden muss, war über-
fällig. Nun muss die Regierung sicherstellen, dass durch den Ruf nach sogenannter
Technologieoffenheit keine fossilen Sackgassen entstehen. Denn es besteht die Ge-
fahr, dass durch eine weitere Zulassung von fossilen Gasheizungen und eine vermeint-
liche Umstellung auf Wasserstoff sowohl Gasheizungen als auch das Gasnetz viel län-
ger als notwendig betrieben werden. Dabei ist die Wärmeversorgung mit Wasserstoff
überhaupt nicht realistisch, da sie teuer und ineffizient wäre und grüner Wasserstoff
gar nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen wird. Außerdem wird ei-
nes bisher vernachlässigt: Damit eine erneuerbare Wärmeversorgung bezahlbar, na-
tur- und klimagerecht gelingt, muss der Energiebedarf von Gebäuden massiv sinken.
Hierzu muss die Bundesregierung Mindeststandards für die Effizienz von Bestandsge-
bäuden einführen.
Für die klimagerechte Umstellung der Fertigungsprozesse in der Industrie wird zukünf-
tig als Grundstoff Wasserstoff eine erhebliche Rolle spielen. Das trifft insbesondere
auf die Stahl- und Chemieindustrie zu. Entscheidend ist aus Klimaschutzsicht, dass
dabei sogenannter grüner Wasserstoff zum Einsatz kommt, der mit Strom aus er-
neuerbaren Energien hergestellt wird. Die Regierung setzt allerdings auch auf den
sogenannten blauen Wasserstoff. Dies ist fossiler Wasserstoff, bei dem das bei der
Herstellung freiwerdende CO₂ teilweise abgeschieden werden soll. Dabei kann auch
Maßnahmen zum Klimaschutz 191

kurzfristig auf blauen Wasserstoff verzichtet werden. Die Sektoren, in denen Wasser-
stoff zum Einsatz kommen soll, müssten dafür stark begrenzt und der Wärme- und
Verkehrsbereich ausgeschlossen werden. Zugleich müsste der Aufbau einer erneuer-
baren Wasserstofferzeugung stärker forciert werden. Die Gaswirtschaft versucht je-
doch, eine Begrenzung zu verhindern: Denn sie möchte ihre Geschäftsmodelle auf-
rechterhalten und erweitern.

Konsequenter Klimaschutz auf


internationaler Ebene
Der sechste Sachstandsbericht des Weltklimarats macht es erneut deutlich: Die Ein-
haltung des 1,5-Grad-Ziels ist essenziell, und auch jedes weitere Zehntel Grad ver-
miedene Erderwärmung zählt, um die Lebensgrundlagen vieler Milliarden Menschen
sowie Flora und Fauna zu schützen. Eine erfolgreiche und konsequente internationale
Klimapolitik darf kein Rechenspiel um Emissionen sein, sondern muss sich die Frage
stellen, wie das globale Wirtschaftssystem sozial gerechter und ökologisch nachhal-
tiger gestaltet werden kann. Die aktuelle Macht insbesondere der fossilen Industrien
blockiert viele der notwendigen Veränderungen. Umso wichtiger ist eine ernsthafte
Partizipation der Zivilgesellschaft, sowohl innerhalb der Gremien des UNFCCC (Rah-
menübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen) als auch in Pro-
zessen auf der nationalen, regionalen und lokalen Ebene.
Insbesondere da die Zerstörung von Natur und Umwelt häufig mit der Einschränkung
fundamentaler Menschenrechte einhergeht, kann eine globale Klimapolitik nicht ohne
ihre Integration gelingen. So darf internationale Klimapolitik nicht diejenigen Fehler
und Strukturen reproduzieren, durch die in den vergangenen Jahrhunderten globa-
le Ungerechtigkeiten zementiert und der Wohlstand eines kleinen Teils der Weltbevöl-
kerung auf Kosten insbesondere des globalen Südens erwirtschaftet wurde. Deshalb
kommt Deutschland und anderen reichen Industrienationen aus der Perspektive glo-
baler Gerechtigkeit eine besondere Verantwortung bei der Bekämpfung der Klimakrise
zu: Seit der industriellen Revolution haben sie deutlich mehr Treibhausgasemissionen
ausgestoßen als der Rest der Welt — und noch heute sind die Pro-Kopf-Emissionen in
Deutschland etwa doppelt so hoch wie im weltweiten Durchschnitt. Eine grundlegen-
de sozial-ökologische Transformation muss die Ambitionen im Hinblick auf die interna-
tionalen Klimaschutzvereinbarungen deutlich steigern. Zugleich sind weitere konkrete
Maßnahmen notwendig: So muss der globale Ausstieg aus den fossilen Energieträgern
und Atom zügig und gerecht vorangebracht werden.
Auch die bereits eingetretenen Effekte der Klimakrise sind sehr ungleich ver-
teilt. Oftmals haben jene Länder, die am wenigsten zur Klimakrise beigetra- 13
gen haben, mit den stärksten Schäden und bleibenden Verlusten zu kämpfen. Ihnen
stehen allerdings häufig die geringsten Ressourcen für diese großen Aufgaben zur
Verfügung. Ein wichtiger Zwischenerfolg ist 2022 erreicht worden: Zum ersten Mal
haben die Staaten auf einer UN-Klimakonferenz das Thema »Loss and Damage« —
also Schäden und Verluste aufgrund der Klimakrise — konkret durch die Einrichtung
eines neuen Fonds behandelt. Wie hoch diese Zahlungen ausfallen und wer sich be-
teiligen wird, ist jedoch noch offen. Bisher blieben die Zusagen an die internationale
Klimafinanzierung weit hinter den eigentlichen Bedürfnissen zurück. Die Bundesre-
gierung muss hier zukünftig mit gutem Beispiel vorangehen und die Haushaltsmit-
tel für die internationale Klimafinanzierung deutlich aufstocken — entsprechend ih-
rer Verantwortung und dem Ausmaß der Klimakrise.
192

Hürden der Transformation überwinden


2 weitere Herausforderungen müssen überwunden werden, um konsequenten und so-
zial gerechten Klimaschutz zu erreichen: Erstens setzen viele Unternehmen und Inves-
toren weiterhin auf fossile Technologien und Geschäftsmodelle und erhöhen dadurch
das fossile Kapital. Letztlich führt dies zu Scheinlösungen wie E-Fuels in Verbrenner-
motoren oder dem Einsatz von Wasserstoff in fossilen Heizungen, um so lange Zeit wie
möglich Gewinne aus veralteten und klimaschädlichen Technologien und Infrastruk-
turen zu erwirtschaften. So entstehen jedoch einerseits Stranded Assets, also der Ver-
lust von Vermögenswerten, wenn konsequenter Klimaschutz umgesetzt wird. Anderer-
seits werden immense Gelder verschwendet, die anderweitig klimagerecht eingesetzt
werden könnten. Eine zweite Hürde für die Transformation sind Klimaschutzmaßnah-
men, die nicht konsequent sozial gerecht ausgestaltet sind. So verteilt die Regierung
aktuell häufig Förderungen für Klimaschutztechnologien mit der Gießkanne, statt sie
gezielt an diejenigen zu zahlen, die sie tatsächlich benötigen. Die Politik muss in bei-
den Fällen tätig werden und die Rahmenbedingungen für die Transformation festle-
gen. Auf diese Weise können sowohl konkrete Maßnahmen als auch der gesellschaft-
liche und kulturelle Wandel vorangebracht werden.
Maßnahmen zum Klimaschutz 193

13
Leben unter
14
Ozeane, Meere und Meeres-
Wasser

ressourcen im Sinne nach-


haltiger Entwicklung erhalten
und nachhaltig nutzen
196

Eine zukunftsfähige
Weichen stellen für
Meer und Mensch
Meerespolitik —

Nadja Ziebarth
ist Leiterin des BUND-Meeres-
schutzbüros; sie ist seit 24 Jahren
im nationalen und inter-
nationalen Meeresschutz tätig.
Leben unter Wasser 197

Gesunde Meere sind unverzichtbar. Keine der gewaltigen, globalen Herausforderun-


gen ist ohne intakte Weltmeere zu bewältigen. Das gilt für die Klimakrise, den Ver-
lust von Artenvielfalt und Lebensräumen, die Sicherung der Existenzgrundlage der
Menschheit sowie insgesamt für eine nachhaltige Entwicklung. Sprich, das gilt für die
erfolgreiche Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele. 17 Umwelt- und Entwicklungsver-
bände haben sich daher auf ein »Kernforderungspapier für eine zukunftsfähige Mee-
respolitik«1 verständigt, das unter anderem Grundlage dieses Beitrags ist.
Weltweit sind viele Krisen zu meistern und wichtige Entscheidungen für eine lebenswer-
te Zukunft zu treffen. Dabei darf gerade der Meeresschutz als eine entscheidende Lö-
sung zur Bewältigung der derzeitigen Krisen nicht vergessen werden. Unsere Meere
sind unsere wichtigsten Verbündeten in der Klimakrise und deshalb
1 Brot für die Welt; BUND;
Deepwave; Deutsche Um- ist es notwendig und die letzte Chance, die dringend benötigte so-
welthilfe; Deutscher Natur- zial-ökologische Transformation jetzt einzuleiten.
schutzring; Environmental Die stetig zunehmenden menschlichen Aktivitäten in unseren Mee-
Justice Foundation; Forum
ren verstärken die Klima- und Biodiversitätskrise, mit enormen Aus-
Umwelt & Entwicklung; Fair
Oceans; Greenpeace; NABU; wirkungen auf die Meeresökosysteme. Die Meere sind in keinem gu-
Misereor; Ozeanien D ­ ialog; ten Zustand. Ökosystemleistungen, Populationen von Fischen und
Sharkproject; WDC; World anderen Meereslebewesen, intakte Lebensräume sowie die Produk-
Future Council; WWF (2023):
tivität in den Meeren nehmen derzeit in hohem Tempo und drama-
Kernforderungspapier für
eine zukunftsfähige Meeres­ tischem Ausmaß ab. Die geplanten Industrialisierungsvorhaben in
politik ↘ t1p.de/r1l0x Nord- und Ostsee verschärfen diese Situation zusätzlich. Um eine
nachhaltige Nutzung unserer Meere gewährleisten zu können, müs-
sen diese Vorhaben ohne Ausnahme eine sparsame und umweltschonende Raum-
und Ressourcennutzung auf See beinhalten. In dem Nachhaltigkeitsziel 14 »Ozeane,
Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nach-
haltig nutzen« spiegelt sich diese Notwendigkeiten wider.

Meeresschutz ist Klimaschutz


Intakte marine Ökosysteme sind essentiell zur Abmilderung der Klima- sowie der Bio-
diversitätskrise und steigern damit die Resilienz unseres Planeten. Um den Verlust
mariner Artenvielfalt aufzuhalten und ihre zentralen Ökosystemfunktionen als Klima-
regulator, Kohlenstoffsenke und Sauerstoffproduzent langfristig zu sichern, müssen
die Meere besser geschützt werden. Blauer Planet, blaue Lunge, blauer Kohlenstoff.
Diese Begriffe kommen nicht von ungefähr: Das Meer bedeckt 71 Prozent unseres Pla-
neten, produziert mehr als die Hälfte unseres Sauerstoffes und speichert gigantische
Mengen an Kohlenstoff. Aufgrund seiner Größe und der ständigen Wechselwirkung
mit unserer Atmosphäre nimmt es eine Schlüsselfunktion im Klimageschehen ein.
Seit den 1970er Jahren hat das Meer über 90 Prozent der Wärme aus menschlichen
Emissionen absorbiert. Gigantische Meeresströmungen verteilen die zusätz-
lich zur Sonneneinstrahlung aufgenommene Wärme über den gesamten Pla-
neten. Damit regulieren sie die weltweiten Temperaturen und unser Wetter. Zusätz-
14
lich bindet das Meer riesige Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid (CO₂) aus der
Atmosphäre. Etwa 90 Milliarden Tonnen Kohlenstoff werden jährlich zwischen den
Elementen ausgetauscht. Durch diese CO₂-Pufferwirkung verlangsamt das Meer die
menschengemachte globale Erwärmung.
Doch die Aufnahmekapazität des Meeres ist begrenzt. Zerstörung und Verschmutzung
durch menschliche Aktivitäten haben erhebliche Auswirkungen auf das Meer und sei-
nen Lebensraum. Die Folgen des Klimawandels, wie Versauerung oder Erwärmung,
198

belasten die Ökosysteme zusätzlich. Dabei kann nur ein gesundes Meer mit einer gro-
ßen Artenvielfalt und Biomasse die, für das Leben auf unserem Planeten so wichtigen,
Klimafunktionen bereitstellen. Der Schutz des Meeres ist damit effektiv auch Klima-
schutz. Zur Einhaltung der Klimaziele dürfen Klima- und Naturschutz nicht gegenei-
nander ausgespielt, sondern müssen untrennbar miteinander verzahnt werden. Die
klimarelevanten Funktionen der natürlichen, marinen Ökosysteme müssen in allen re-
levanten politischen Entscheidungen und gegenüber anthropogenen Nutzungsinter-
essen gleichberechtigt berücksichtigt werden. In natürlichen sedimentären und biolo-
gischen Habitaten mit hoher Kohlenstoffspeicherfähigkeit muss die grundberührende
Schleppnetzfischerei konsequent ausgeschlossen werden. Es braucht darüber hinaus
eine flächendeckende Umstellung auf nachhaltige Fischereimethoden, um intakte na-
türliche Kohlenstoffsenken und damit einen dauerhaften Beitrag zum Klimaschutz zu
gewährleisten. Die Auswirkungen der Klimakrise auf die lokalen Küstengemeinschaf-
ten des globalen Südens und der dortigen Küstenökosysteme und Meere müssen da-
bei besonders berücksichtigt werden.

Meere effektiv schützen und wiederherstellen


Nicht nur vor Australien, um Galapagos oder in der Karibik lassen sich die Schätze
der Natur bestaunen. Auch direkt vor den deutschen Küsten liegen lebendige, bun-
te und bedrohte Ökosysteme. Verwunschene Riffe aus großen und kleinen Steinen
in der Ostsee. Oder eine gigantische Sandbank, versteckt in Mitten der Nordsee. Für
gesunde und vielfältige Meere müssen marine Lebensräume, Arten und ihre ökologi-
schen Funktionen wirksam geschützt werden.
Dafür ist ein Netzwerk aus effektiv geschützten Schutzgebieten auf 30 Prozent der glo-
balen Meeresfläche bis 2030 zu etablieren. Auch unter der EU-Biodiversitätsstrategie
für 2030 ist Deutschland diesem Ziel in den nationalen Gewässern verpflichtet. Daher
braucht es ein Management, wobei mindestens 50 Prozent der Schutzgebietsflächen
aus der wirtschaftlichen Nutzung genommen werden müssen. Zur Wiederherstellung
der Natur sollten mindestens 20 Prozent der europäischen Meere bis zum Jahr 2030
wieder in einen naturnahen und ungestörten Zustand versetzt werden. Dafür muss die
eigenständige Erholung der Meere priorisiert werden, ergänzt durch aktive Maßnah-
men zur Wiederherstellung, wo notwendig. Maßgeblich für den Erfolg der Verordnung
in den Meeren ist das Zusammenspiel mit der Fischereipolitik, die die Erreichung der
Ziele für die Wiederherstellung der Meeresumwelt nicht gefährden darf.

Kumulative Übernutzung der Meere drastisch reduzieren


Unsere Meere verwandeln sich immer mehr zu Industriestandorten, in denen gesunde
Lebensräume und die Artenvielfalt keinen Platz mehr haben. Durch die Übernutzung
und Industrialisierung unserer Meere verlieren wir Tag für Tag die essentiellen Funk-
tionen dieser wichtigen Ökosysteme. Die Nutzung unserer Meere sollte grundsätzlich
sozial- und umweltverträglich gestaltet werden und vor allem muss das Vorsorgeprin-
zip bei der Planung und Durchführung aller Nutzungen greifen.
Es bedarf auf nationaler und internationaler Ebene zum Beispiel der konsequenten Um-
setzung eines wissenschaftsbasierten Fischereimanagements, welches sich verbind-
lich an ökologischen Kriterien ausrichtet, um die Auswirkungen der Fischerei auf die
gesamten Ökosysteme zu minimieren. Dazu gehört insbesondere der Einsatz von se-
lektiven Fangmethoden zur Vermeidung des Beifangs von geschützten und gefähr-
deten Meereslebewesen sowie von Nicht-Zielarten.
Leben unter Wasser 199

Ein sofortiges Verbot der grundberührenden schweren Schleppnetzfischerei muss in


allen Meeresschutzgebieten sowie in Gebieten, die eine hohe Kohlenstoffspeicher-
fähigkeit aufweisen, eingeführt werden. Es braucht darüber hinaus einen Plan für ei-
nen sozialverträglichen Übergang hin zu einem kompletten Verbot dieser zerstöreri-
schen Fangmethode bis 2030 in den EU-Gewässern. Das kann erreicht werden durch
eine strenge Fischereikontrolle in Meeresgewässern sowie eine Null-Toleranz-Politik
gegenüber illegaler, undokumentierter und unregulierter (IUU-)Fischerei und dem
Abbau schädlicher Fischereisubventionen durch rasche Ratifizierung des WTO-Ab-
kommens.
Offshore-Vorhaben und mögliche neue Nutzungen der Meere müssen an der ökologi-
schen Belastungsgrenze der Meere ausgerichtet werden, mit einem vorausschauen-
den, auf einem stufenweise »lernenden System« beruhenden Herangehen, welches
neue, wissenschaftliche Erkenntnisse immer wieder einbezieht. Technische Innovati-
onen von der Gründung bis zu wirksamen Abschaltautomatiken bei Massen-Vogelzug
müssen Teil der Standortwahl sein. Jeglicher Zubau von Windparks muss mit einer si-
gnifikanten Reduktion der kumulativen Belastung einhergehen.
Die vermeintliche einfache Lösung der Energiekrise liegt nicht im Meer. Damit die Ener-
giewende sozial- und naturverträglich gelingen kann, setzt der BUND auf eine de-
zentrale, regionale Umsetzung der Energiewende in Bürgerinnen- und Bürgerhand.
Für den BUND steht der Ausbau von Solarenergie sowie Wind an Land daher an ers-
ter Stelle. Um die Klimaziele zu erreichen bedarf es keines marinen Geo-Engineering.
Denn dessen langfristige, mittelbare und unmittelbare Folgen bleiben insbesondere
aufgrund der grenzüberschreitenden Auswirkungen unklar.
Weitere Störungen tragen ebenfalls zur Belastung bei. So bedarf es Maßnahmen zur so-
fortigen Reduktion von kontinuierlichem Unterwasserlärm, wie z. B. die Einrichtung
von Ruhezonen sowie die Initiierung von Pilotprojekten zur Geschwindigkeitsreduk-
tion von Schiffen. Hohe internationale Standards beim Schallschutz müssen so ge-
staltet sein, dass der Eintrag von Impulslärm aus Detonationen oder Rammungen ver-
mieden bzw. eingedämmt wird, wobei die Suche nach Öl- und Gasreserven mittels
Schallkanonen vollständig eingestellt werden muss. Auch der Eintrag von Nähr- und
Schadstoffen sollte dringend um 50 Prozent reduziert werden. Zum einen betrifft
dies die Nähr- und Schadstoffe aus der Landwirtschaft. Dazu müssen insbesondere
Agrarsubventionen im Sinne des Schutzes von Land, Flüssen und Meeren umgelenkt
werden. Zum anderen müssen die Schadstoffeinträge von Industrie und Verkehr in
die Meere reduziert werden.

Schutz der Hohen See und der Tiefsee


Auch außerhalb unser Küste, der Hohen See schreitet die Industrialisierung voran. Als
»Hohe See« gelten 64 Prozent der Weltmeere, während eine Wassertiefe von
200 Metern die Grenze zur Tiefsee markiert. Die Hälfte der Erdoberfläche liegt 14
in der Tiefsee und kann mit mehreren Kilometern Meerwasser überdeckt sein. Damit
ist sie der größte zusammenhängende Lebensraum der Erde. Obwohl die Mensch-
heit bislang lediglich 5 Prozent der Tiefsee erkundet hat, bestätigt ihr die Meeresfor-
schung eine enorme Artenvielfalt und Diversität von Ökosystemen. Sie beheimatet ei-
nen unermesslichen Schatz an Biodiversität und ökologischen Wundern. Aber auch sie
steht unter einem Nutzungsdruck. Das gefährdete Ökosysteme Tiefsee muss vor Zer-
störung durch Tiefseebergbau sowie aller grundberührenden Fischereipraktiken ge-
schützt werden.
200

Menschen und Meere ins Zentrum globaler nachhaltiger Entwicklung


Vor allem im Globalen Süden sind die Existenz- und Ernährungsgrundlagen von Mil-
liarden von Menschen abhängig von marinen Ressourcen und gesunden Meeren. Für
die Armutsbekämpfung, eine faire Rohstoff- und Handelspolitik und nicht zuletzt den
planetaren Umwelt- und Klimaschutz ist eine entwicklungspolitisch fundierte Meeres-
politik auf Basis von Transparenz und Partizipation Hand in Hand mit den lokalen Küs-
tengemeinschaften vor Ort unabdinglich. Entsprechende politische Prozesse müs-
sen gerecht gestaltet und Menschenrechte gewahrt werden. In einer zukunftsfähigen
Meerespolitik sollte sich die Bundesregierung und die Staatengemeinschaft kohärent
für die Einbeziehung und Umsetzung entwicklungspolitischer Maßnahmen im Kontext
des SDG 14 einsetzen. Es gilt Meeresschutz und nachhaltige Entwicklung gegensei-
tig zu verstärken.
In den Vereinbarungen der Bundesregierung sowie der internationalen Gemeinschaft
zum Schutz der Meeresnatur und -umwelt sind erste wichtige Schritte gegangen wor-
den. Es braucht aber eine zentrale Verankerung von Meeresumwelt- und Meeresnatur-
schutz in den politischen und fachlichen Entscheidungen aller politischen Ebenen. Der
Zustand unserer Meere verlangt entschlossenes Handeln und politischen Willen aller
Akteurinnen, Akteure und Entscheidungstragenden, sowohl innerhalb von Deutsch-
land als auch aus Deutschland heraus. Dazu gehört die Umsetzung konkreter nationa-
ler Maßnahmen ebenso, wie die von Beschlüssen aus international verhandelten Ab-
kommen und Programmen.
Leben unter Wasser 201

14
Landökosysteme schützen,
wiederherstellen und ihre
nachhaltige Nutzung fördern,
Wälder nachhaltig bewirt-
schaften, Wüstenbildung be-
kämpfen, Bodendegradation
beenden und umkehren und
dem Verlust der biologischen
Vielfalt ein Ende setzen
15
Leben
an Land
204

unsere menschlichen
Naturschutz sichert
Lebensgrundlagen

Prof. Dr. Hubert Weiger


ist Präsident der Deutschen Naturschutz­-
aka­demie und Ehrenvorsitzender des Bund
für Naturschutz und Umwelt Deutschland
(BUND), von 2007 bis 2019 war er Vorsitzender
des BUND und von 2002 bis 2018 Vorsitzen-
der des BUND Naturschutz Bayern, von 2013
bis 2022 gehörte er dem Rat für Nachhal-
tige Entwicklung an; seit 1994 Honorarpro­
fessor an der Universität Kassel.
Leben an Land 205

Die Natur, alles nicht direkt vom Menschen Gemachte, in ihrer Vielfalt an Lebensräu-
men, Arten und genetischer Vielfalt, ist Lebens- und Wirtschaftsgrundlage für den
Menschen. Sie zu sichern, ist zentrale Zielsetzung des Naturschutzes. Funktionieren-
de Ökosysteme mit ihren vielfältigen Ökosystemdienstleistungen sind das Fundament
unserer Lebensqualität. Zu den wirtschaftlich bislang kaum berücksichtigten »kosten-
losen« Dienstleistungen der Natur zählen zum Beispiel die Bereitstellung von sauberem
Trinkwasser, intakten Böden, gesunden Nahrungsmitteln, erneuerbaren Energien wie
Wind und Sonne sowie von nachwachsenden Rohstoffen. Ebenso wichtig sind die kli-
maregulierenden Funktionen und der Erholungswert von Naturräumen. Nur ein funk-
tionsfähiger Naturhaushalt gewährleistet eine ausreichende Anpassungsfähigkeit an
den sich vollziehenden Klima- und Nutzungswandel, trägt zum Schutz vor Naturkatas-
trophen bei, stellt biogene Ressourcen bereit und sichert somit die Lebensqualität und
-grundlagen künftiger Generationen.
Weltweit zählen intensive Landnutzung, die Zerstörung von natürlichen Lebensräumen,
Ressourcenausbeutung, Umweltverschmutzung und fortschreitender Klimawandel
zu den Hauptursachen des dramatischen Rückgangs der Biodiversität. Dies gilt auch
für Deutschland.
»Versagen durch intensive Landwirtschaft und verfehlte Agrarpolitik« — so lautet das Re-
sümée der aktuellen Roten Liste der national gefährdeten Biotoptypen, die 2017 erst-
mals aktualisiert veröffentlicht wurde.1 Die Auswertung der aktuellen Einstufung zeigt,
dass die Entwicklung von über 40 Prozent der Biotoptypen aktuell
1 Finck, Peter et al. (2017):
Rote Liste der gefährdeten noch eine negative Tendenz aufweist. Nur für wenige der gefährde-
Biotoptypen Deutschlands. ten Biotoptypen (2,95 Prozent) ist eine klar positive Entwicklung fest-
NaBiV Heft 156 zustellen. Besonders kritisch ist die Situation bei den offenen terres-
trischen Biotoptypen. Hier hat der bereits 2006 sehr hohe Anteil von
Biotoptypen mit negativer Entwicklungstendenz noch einmal deutlich auf über 80 Pro-
zent zugenommen. Diese Entwicklung kann nur als alarmierend bezeichnet werden
und korreliert mit dem allgemein zu beobachtenden drastischen Verlust von Grün-
landbiotopen aufgrund der Intensivierung der Wiesennutzung vor allem durch höhere
Stickstoffdüngung und häufigere Mähtermine auf der einen Seite bzw. Nutzungsauf-
gabe mit anschließender Verbrachung und Wiederbewaldung auf der anderen Seite.
Darüber hinaus werden vor allem die extensiveren Offenlandbiotope durch die anhal-
tende Belastung durch Nährstoffimmissionen aus der Luft — vor allem Stickstoff —
in starkem Maße beeinträchtigt. Aber auch ursprünglich ungefährdete, intensivere
Grünlandbiotoptypen müssen heute als gefährdet gelten und zeigen diese negative
Entwicklung. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Wie gravierend die falschgeleitete Landnutzung im Detail wirkt, zeigte das 2017 zum
ersten Mal in der breiten Öffentlichkeit diskutierte Insektensterben. Die immer wieder
punktuell beobachteten drastischen Bestandseinbrüche sind inzwischen real in der
Fläche. Sie lassen sich über 27 Jahre mit Standardflugfallen für geflügelte Insekten
klar nachweisen. Bei den Erhebungen in 63 deutschen Schutzgebieten zwischen 1989
und 2016 ist ein Rückgang von 76 Prozent (im Hochsommer bis zu 82 Prozent)
der Fluginsekten-Biomasse festgestellt worden. Die Verluste betreffen offen-
bar die meisten Arten: Von Schmetterlingen, Bienen und Wespen bis zu Motten und
15
anderen flugfähigen Arten, die praktisch ausnahmslos als Bestäuber von Wild- und
Nutzpflanzen oder zumindest als Beutetiere für Vögel wichtig sind. Das Insektenster-
ben ist auch nicht etwa ein deutsches Phänomen: Seriöse Studien an Bienenpopu-
lationen haben schon früher deutliche Einbrüche in anderen Ländern dokumentiert.
206

So erlebten die Graslandschaften in Europa einen Rückgang der Schmetterlingszah-


len um die Hälfte zwischen 1990 und 2011.2 Auch der Klimawandel und damit die bis-
herige Temperaturerhöhung hat direkten Einfluss auf die Ökosysteme: Da Arten und
Ökosysteme unterschiedlich schnell auf die Klimaveränderungen
2 vgl. Hallmann, Caspar A.;
reagieren, kommen die Wechselbeziehungen zwischen ihnen un- et al. (2017): More than 75
ter Druck. So werden bei zahlreichen Tier- und Pflanzenarten Ver- percent decline over 27 years
änderungen ihres Wander- und Zugverhaltens oder ihrer Physio- in total flying insect biomass in
logie (z. B. zeitigeres Schlüpfen von Insekten, früherer Austrieb der protected areas. Plos One 12
Obstbaumblüten) festgestellt. Kühle Lebensräume in Gewässern, 3 Leuschner, Christoph;
Mooren, Feuchtgebieten und Gebirgen sowie die daran gebunde- Schipka, Florian (2004): Vor­
studie. Klimawandel und
nen Arten drohen zu verschwinden. Viele Ökosysteme sind zudem Naturschutz in Deutschland.
bereits durch intensive Nutzung beeinträchtigt, so dass die in ih- In: BfN-Skripten 115, Bonn
nen lebenden Tier- und Pflanzenarten zusätzlichen Veränderun-
gen ihrer Lebensbedingungen kaum standhalten können. In Deutschland sind ca. 30
Prozent der bundesweit vorkommenden Arten bis zum Ende des Jahrhunderts vom
Aussterben bedroht, wenn sich die Erwärmung ungebremst fortsetzt.3 Von dieser Kli-
makrise ist der Alpenraum als einer der Hotspots der nationalen Biodiversität schon
heute besonders betroffen.
Ein angemessener Umgang mit der Natur kann vor diesem Hintergrund nur einer sein,
der die natürlichen Grenzen des Planeten wahrt und sie mit dem Blick auf den Natur-
schutz verteidigt. Und dabei scheitert es nicht an Zielen und Instrumenten:

1. Die Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes,


Nutzbarkeit der Natur durch Menschen,
2. die Erhaltung der Vielfalt, Eigenart und Schönheit
von Natur und Landschaft
3. und ihre Erhaltung aufgrund ihres Eigenwertes

sind Kernelemente, die das heutige Naturschutzrecht bereits seit Jahrzehnten klar
formuliert. Und doch: in der Praxis kann die Erhaltung der Natur angesichts der viel-
fältigen Gefährdungsursachen nur dann gelingen, wenn wirkungsvolle Maßnahmen
umgesetzt werden. Das von den EU-Mitgliedstaaten bereits 2001 beschlossene Ziel
zum Stopp des Artenverlusts bis 2010 wurde vor allem deshalb verfehlt, weil dieser
einfachen Erkenntnis nicht gefolgt wurde. So wurden existierende Naturschutzinst-
rumente nicht genutzt, Aufgaben wie der Aufbau und das Management des europäi-
schen Schutzgebietsnetzes Natura 2000 nicht ausreichend finanziert und gleichzeitig
die Zahlung umweltschädlicher Subventionen fortgesetzt. Ein Fortsetzen des bishe-
rigen Versagens ist nach wie vor Realität.
Ein angemessener Umgang mit der Natur heißt letztlich die Sicherung der Nachhaltig-
keit: Die langfristige Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen muss zur Basis
für unsere soziale und wirtschaftliche Entwicklung werden. Dieses Verständnis einer
nachhaltigen Entwicklung sollte besonders im Hinblick auf Zielkonflikte zwischen Na-
tur- und Wirtschaftsinteressen handlungsleitend werden. Es kann nicht um ein schein-
bar gleichberechtigtes Ausbalancieren gehen. Angemessener Umgang heißt dann
auch Generationengerechtigkeit: Die Naturnutzung durch Menschen muss für Men-
schen dauerhaft möglich sein. Und der klassische Naturschutz hat seit seiner Erfin-
dung 1888 durch Ernst Rudorff vorgelegt: Unzählige Modellprojekte haben gezeigt,
dass mit Ordnungsrecht und ausreichenden Finanzmitteln, Flächenbereitstellung und
Leben an Land 207

Personal Natur erhalten, negative Einflüsse minimiert und die Ziele für die Erhaltung
der biologischen Vielfalt sehr wohl quantitativ wie qualitativ erreicht werden können.
Nach der Modell- und Testphase in kleinen Teilen der Landschaft ist jetzt eine Übertra-
gung und Umsetzung auf der gesamten Landesfläche überfällig!
Es scheitert auch nicht an dem Fehlen von rechtlichen Regelungen und fehlenden Ins-
trumenten für den Naturschutz. Mit der Eingriffsregelung, der kommunalen Bauleit-
planung, dem Artenschutzrecht, der FFH- und Vogelschutzrichtlinie und dem Um-
weltschadensgesetz, um nur einige Beispiele zu nennen, liegt ein breites Portfolio an
Werkzeugen für die Erhaltung der biologischen Vielfalt vor, dass nur der konsequen-
ten und klugen Umsetzung bedarf, um seine volle Wirksamkeit zu entfalten. Die Erfol-
ge insbesondere im Artenschutz bei Biber, Wolf, Wildkatze und Co
4 Siehe dazu: Deutscher
Naturschutzring e. V.; Rat für zeigen, dass Naturschutz wirkt. Er wirkt zurzeit jedoch nur in spe-
nachhaltige Entwicklung ziellen, meist für Menschen attraktiven Bereichen. Von einer flä-
(2022): Verbesserungsgebot chendeckenden, hoch qualitativen Umsetzung sind wir noch weit
für die Artenvielfalt. Die
entfernt. Bei der Vielfalt seiner Schutzgüter braucht Naturschutz
Bio­diversität in der Nachhaltig-
keitstransformation stärken. vielfältige Methoden, breite gedankliche Ansätze und regionale,
möglichst naturräumlich basierte Konzepte.4
Schwerpunkt der Forderungen ist der Aufbau einer Grünen Infrastruktur für die Erhal-
tung der Natur und ihrer vielfältigen Funktionen: ein nationales und europäisches
Biotopverbundsystem mit breiten Korridoren in der Agrarlandschaft und im Wald so-
wie entlang der Flüsse und in Auen als zentralen Verbindungsachsen. Natura 2000
fungiert als Rückgrat des Systems. Weitere Bausteine für eine nachhaltige Erhaltung
der Natur auf 100 Prozent der Fläche ergänzen dies:

– Die Landnutzung selbst, also die land- und forstwirtschaftliche Nutzung der
Flächen, und das sind über 80 Prozent des Bundesgebietes, muss natur­
schutzverträglich werden. Das heißt in der Landwirtschaft, dass die Grund-
sätze des ökologischen Landbaus — kein Einsatz von Pestiziden- und Stick-
stoffdüngern, vielfältige Fruchtfolgen, Humuspflege und Boden­schutz —
generell zum Leitbild werden müssen. In der Forstwirtschaft bedeutet das die
Abkehr vom Leitbild des Altersklassenwaldes mit den vor­herrschenden Nadel-
baumarten Fichte und Kiefer hin zum Leitbild der naturgemäßen Waldwirt-
schaft mit naturnaher, standortgemäßer Zusammensetzung der Waldbäume,
das heißt in der Regel Laubmischwälder, Dauerwaldstruktur durch Einzel-
baumnutzung und Anreichung mit Biotopbäumen und Totholz.
– Wildnisflächen sind bislang eines der größten Defizite des deutschen
Natur­schutzes. Neben neuen Nationalparken und ehemals militärisch ge-
nutzten Flächen bieten sich vor allem neue, sich selbst überlassene
Bereiche in den Auen an. Hier sollten ungenutzte, dynamische Bereiche zur
freien Gestaltung des Gewässerlaufes insgesamt in der zehnfachen
Breite des jeweiligen Fließgewässers entstehen.
– Relikte historischer Kulturlandschaften mit ihrem Struktur- und Nutzungs-
reichtum zu erhalten, ist eine kulturelle Aufgabe ersten Ranges. Projekte
mit Synergieeffekten, die für den Naturschutz und die K ­ ulturlandschaft
15
wichtige Strukturen ebenso erhalten wie die dazugehörigen l­andwirtschaft-
lichen Betriebe, sollen mit attraktiven und wettbewerbsfähigen Förder-
programmen viel stärker als bisher gefördert werden. Sie sollen als zentraler
Bestandteil regionaler Wirtschaftskreisläufe verstanden werden.
208

Dies meint jedoch mitnichten einen ausschließlich segregativen Naturschutz. Der Zu-
stand vieler Landschaften ist hinsichtlich ihrer Biodiversität und ihrer landschaftlichen
Qualitäten lokal und regional dringend verbesserungsbedürftig.
Die reale Situation von Natur und Arten ist unbestritten dramatisch und die Wirksamkeit
und Dominanz des Naturschutzes begrenzt: tatsächlich gehen in Deutschland noch
immer täglich rund 60 Hektar durch Gewerbe-, Siedlungs- und Verkehrsbauten ver-
loren. Der dauerhafte Verlust von Natur und Landschaft, von Lebensräumen, Agrar-
und Waldflächen durch Siedlungen und Infrastrukturmaßnahmen gehört im dicht be-
siedelten Deutschland zu den gravierendsten Umweltproblemen. Zum einen werden
dadurch Landschaften zerschnitten und Lebensräume von Tieren und Pflanzen zer-
stört. Pro Jahr verliert unser Land über 30.000 Hektar Felder, Wiesen, Wälder, Bioto-
pe und damit die dort lebenden unersetzbaren Arten. Das erhöht den Druck auf die
restliche Fläche, dort Natur und Arten nicht weiter zu gefährden und konsequent ih-
ren Schutz zu verwirklichen, denn Fläche ist nicht vermehrbar.
Die aktuellen Daten zur Natur des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) 2016 zeigen trans-
parent auf, wieviel Fläche für den Naturschutz reserviert sein soll, wobei strenger, ab-
soluter Vorrang des Naturschutzes nur für etwa 1 Prozent der Bundesfläche gilt. Alle
anderen Schutzgebiete verbieten keine Nutzung oder Beanspruchung durch den Men-
schen, sondern versehen sie mit mehr oder minder strengen Regeln, fast alle die-
ser Regeln können durch Ausnahmegenehmigungen außer Kraft gesetzt werden, zu-
mal im Zweifel das Verhältnismäßigkeitsprinzip des Verwaltungsrechts überbordende
staatliche Eingriffe de jure verhindert.

Wie raus aus der empfundenen und realen Krise?


Der mittelbare Weg zur Verbesserung der Situation liegt in der Auflösung
der strukturellen Hindernisse:

– Ein Staat ohne finanzielle und strukturelle Handlungsfähigkeit


sowie klaren, nachvollziehbaren Regeln führt zu Rechtsunsicherheit
und verschärften Konflikten mit dem Naturschutz.
– Eine gut aufgestellte Naturschutzverwaltung ist essenziell für
den erfolgreichen Naturschutz und die Konfliktminimierung mit
Wirtschaftsinteressen.
– Zielorientierte Standards im Gutachterwesen, Erhebungs- und
Evaluationsstandards für Artenschutzmaßnahmen und andere qualitäts-
sichernde Maßnahmen sind erforderliche Rahmenbedingungen für
die zukünftige Arbeit, insbesondere mit dem Blick auf die unvermeid-
baren Eingriffe in Natur und Landschaft durch die Energiewende.

Die frühzeitige Einbindung und gemeinsame Arbeit auf Augenhöhe mit dem lokalen
Ehrenamt der Verbände, den Fachgruppen und Naturschutzstationen auch wie jen-
seits der formalen Notwendigkeiten von der Standortwahl bis hin zur Planung sind
weitere Elemente, um zu konstruktiven Lösungen auch in schwierigen Fällen zu kom-
men. Transparenz schafft Vertrauen, ermöglicht reale Arbeitserfahrungen miteinan-
der und klärt oftmals existierende Ressentiments. Verbands- und Bürgerbeteiligung
sind einer der wesentlichen Schlüssel zur Konfliktvermeidung. Dabei sollte vermieden
werden, Beteiligte vor fertige Konzepte zu stellen, sondern die Entscheidungsmöglich-
keiten und Beteiligungschancen von Beginn an mitzudenken und zu kommunizieren.
Leben an Land 209

Zu erfolgreicher Zusammenarbeit gehört auch das Akzeptieren der Blickwinkel der


Partner: So lange Fläche und materielle Rohstoffe begrenzt sind, solange führt aus
Sicht des BUND kein Weg um die Suffizienz, kein Weg um ein »weniger ist mehr« her-
um. Grenzen akzeptieren heißt auch: Begrenzungen der eigenen wirtschaftlichen Tä-
tigkeit durch die Lebensraumbedürfnisse von Arten anerkennen und nach regionalen
Lösungen suchen. Die neuen Konzepte des Bundeskonzepts Grüne Infrastruktur und
der Biotopverbund geben hier räumliche Orientierung.
Zu den Grenzen gehört auch anzuerkennen: Die Komplexität von »Natur«, die unendli-
che Vielfalt von Naturerscheinungen und natürlich auch die Vielfalt der handelnden
Menschen im Naturschutz haben zur Folge, dass es vielschichtige faktische — emoti-
onale, ethische, ästhetische, ökonomische und ökologische — Naturschutz-Motivatio-
nen, Reaktionen und vielschichtige gute normative Naturschutz-Gründe gibt.
Was sind der Gesang einer Nachtigall, das Schillern der Prachtlibelle oder die strah-
lenden Blüten des Fransenenzians wert? Nicht alles ist in der Welt ökonomisch und
rechtlich fassbar. Der BUND verkennt dabei nicht, dass in liberalen Demokratien jeder
Wert — in gewissen Grenzen — auch einer Abwägung mit anderen wichtigen Werten
unterliegt. Doch kann diese Abwägung nicht im Sinne einer ökonomischen oder rein
rechtlich-formalen Quantifizierung gelöst werden. Und sie kann auch nicht so gelöst
werden, dass — wie bisher häufig — der Naturschutz insbesondere im Konflikt mit
Großprojekten und der Landwirtschaft sehr oft weg gewogen wird.
Der Zugang zur Konfliktlösung und die Wurzel des Engagements vieler ehrenamtlich im
Naturschutz tätiger Menschen liegt im emotionalen Bereich und weniger in der natur-
wissenschaftlich-ökonomischen Kenntnis etwa bestimmter Ökosystemdienstleistun-
gen. Faktenorientierte Naturschutzbegründungen und wissenschaftliche Argumente
gehören zum Handeln im Naturschutz. Sie sind aber eher selten Auslöser für das indi-
viduelle Naturschutzengagement und nur zum Teil Basis der Argumentation.
Erlebnisse wie der laut tönende Kranicheinflug im Herbstnebel an der Boddenland-
schaft, ein nächtliches Laubfroschkonzert an einem Seeufer, frühmorgendliche Be-
obachtungen des Nebels in einem Moor, das Entdecken botanischer Raritäten, die
Inspiration durch uralte Baumriesen in einem Nationalpark oder einfach Stille und
Naturerscheinungen aller Art in der wenig beeinträchtigten Umgebung eines Natur-
schutzgebiets zu genießen, gehört zu den Grundbedürfnissen vieler Menschen gera-
de in einer hochtechnisierten und schnelllebigen Alltagswelt. Eine arten- und struk-
turreiche Landschaft dient unserem Wohlbefinden und unserer Erholung. Wir finden
sie schöner — also ästhetischer —, wir fühlen uns darin wohler, verbinden damit Hei-
mat — emotionale Motive —, fahren dorthin in Urlaub, erholen uns und schöpfen Kraft
aus Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt. Natürliche Vielfalt und Naturnähe sind damit
ein Stück Lebensqualität und Lebensfreude! Natur ist ein unverzichtbares Element der
Lebensfreude und damit ist Naturschutz eine Kulturaufgabe ersten Ranges. Natur ist
damit nicht nur die physische, sondern auch eine psychische Lebensgrundlage. Diese
Motivation für Naturschutz ist damit subjektiv und hochemotional. Das ist aber kein
Nachteil, sondern eine ganz besondere Motivation und Stärke. Auch im be-
ständigen Ringen um die beste Lösung um die Anforderungen der Natur mit
denen des Menschen in bestmöglichen Einklang zu bringen.
15
Naturschutz wird damit im 21. Jahrhundert zur zentralen und unverzichtbaren gesamt-
gesellschaftlichen Aufgabe. Er ist zwingender Bestandteil und Leitlinie für die an-
gestrebten ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltigen Wirtschafts- und Le-
bensweisen. Ohne die Bewahrung der Biodiversität ist dauerhafter gesellschaftlicher
210

Fortschritt und Lebensqualität im umfassenden Sinn nicht möglich. Maßnahmen für


mehr Naturschutz sind immer auch Kernelemente einer tatsächlich nachhaltigen
Land- und Forstwirtschaft sowie marinen Wirtschaft. Sie sind Bei-
5 vgl. Bundesministerium
träge zum Klima- und Gesundheitsschutz ebenso wie zur Erhal- für Umwelt, Naturschutz,
tung natürlicher Ressourcen wie Boden und Wasser. Das bedeutet Bau und Reaktorsicherheit (Hg.)
einen Paradigmenwechsel, von einem immer mehr Ressourcen- (2007): Nationale Strategie
und Flächenverbrauchenden Wachstum, hin zu einem auf Nach- zur biologischen Vielfalt.
Bonifatius GmbH, Paderborn
haltigkeit beruhenden Paradigma: von der grauen zu einer grü-
nen Infrastruktur,5 für mehr naturnahe und nutzungsfreie Gebiete, 6 Siehe dazu: Bund
eingebettet in eine flächendeckend naturverträgliche Landnut- für Umwelt und Naturschutz
Deutschland e. V. (2012):
zung! Insbesondere die Sicherung der notwendigen Naturschutz- BUNDposition 59: Naturschutz
flächen (5 Prozent Wildnisgebiete, ca. 15 Prozent historische Kul- ↘ t1p.de/6x09s
turlandschaften und Biotopverbund, 80 Prozent Nutzlandschaft
mit naturverträglicher Bewirtschaftung)6 erfordern eine gesellschaftliche Wende zu
einer zukunftsfähigen und tatsächlich nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise.
Und das schlägt den Bogen zu den Handlungsfeldern jenseits des klassischen Natur-
schutzes:

– Die Energiesysteme (Stromerzeugung, Wärmebereitstellung für Haushalte und Indus-


trie, Verkehr) müssen unabhängig von Atomstrom, Kohlestrom und anderen fossilen
Energieformen werden: Die Energieversorgung ist komplett durch erneuerbare Ener-
gien zu gewährleisten, bei stark reduziertem Energieverbrauch und im Einklang mit
den Grenzen der Funktionsfähigkeit der Biodiversität und Ökosysteme. Die Energie-
wende ist sozial und fair zu gestalten, Privilegien der Industrie oder einzelner Bevölke-
rungsgruppen müssen abgeschafft werden. Die Energiewende muss mit der Biodiver-
sitätswende verknüpft werden. Die natürlichen Potenziale der Treibhausgasreduktion
durch Moore, Feuchtgebiete, Humus erhaltenden und fördernden Ackerbau, alte na-
turnahe Wälder sind zu nutzen und zu reaktivieren. Das Aktionsprogramme Natürli-
cher Klimaschutz der Bundesregierung (2023) ist eine Chance zur flächendeckenden
Umsetzung dieser Ziele. Die Verbesserung der Wasserrückhaltefähigkeit der Land-
schaft durch die Renaturierung und Revitalisierung von Fließgewässern und Feucht-
gebieten fördert gleichzeitig die Biodiversität und den Klimaschutz und verringert die
Folgen der Klimakrise, Sie muss deshalb vorrangig umgesetzt werden.
– Eine Transformation der Land- und Forstwirtschaft und des Umgangs mit den Um-
weltgütern: Die wachsende Nachfrage nach Agrarerzeugnissen (Lebensmittel, andere
Produkte, Energieerzeugung) in Deutschland und der Welt ist in Übereinstimmung zu
bringen mit den Anforderungen des Schutzes der Gewässer, der Böden, der Biodiver-
sität und der Gesundheit von Mensch und Tier. Besonders sind dabei der Flächenver-
brauch und der Bodenverlust zu stoppen und weltweit der Verlust und die Entwertung
von Waldflächen, Grasland, Feuchtgebieten und fruchtbarem Ackerland aufzuhalten.
Die Reform der europäischen Agrarpolitik ist dabei der drängendste Schritt. Natur-
verträgliche Landnutzung muss honoriert und die Milliarden-Subventionen für natur-
schädliche Landwirtschaft gestrichen und für die Förderung nachhaltiger Landnut-
zungssysteme genutzt werden.
– Die Begrenzung des deutschen Rohstoffverbrauchs: Bis 2050 muss eine maximale
Kreislaufführung umgesetzt werden (besonders der Baustoffe und industriellen Mi-
neralien, der Basis- und Sondermetalle), entsprechend den Konzepten des Nachhal-
tigkeitsrates.
Leben an Land 211

– Ein Umbau des Wirtschaft- und Finanzsystems: Ziel des Wirtschaftens darf nicht
Wachstum sein, sondern die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse innerhalb öko-
logischer Grenzen. Die Wirtschaft muss Mensch und Gesellschaft dienen und nicht
umgekehrt.

Für die genannten Transformationsfelder sind Konzepte und Maßnahmen zu entwi-


ckeln, wie Produktion, Konsummuster und Lebensstile so zu verändern sind, dass die
global noch akzeptablen Emissionen, Rohstoffverbräuche und Flächennutzungen auf
ein zukunftsfähiges Maß sinken.
Und wir haben dabei einen starken Verbündeten: der Mensch braucht Natur, auch emo-
tional. Er ist ein biophiles Lebewesen. Wir haben eine hervorragende Ausgangsbasis,
denn unser Objekt, die Natur, genießt eine außerordentlich hohe Akzeptanz; Natur
gehört zu einem guten Leben dazu. So haben sich 92 Prozent der für die »Naturbe-
wusstseinsstudie« Befragten geäußert. 86 Prozent halten Naturschutz für eine wich-
tige politische Aufgabe. Und viele Bürger ärgern sich über den sorglosen Umgang mit
der Natur, blicken angesichts der Entwicklungen mit Sorge in die Zukunft. Der Wunsch,
Natur zu schützen, die positiven Gefühle, die mit Natur verbunden sind, sind eine,
wenn nicht die wichtigste Motivation sein für eine Veränderung der Lebensstile hin zu
einer zukunftsfähigen Gesellschaft.

Literatur

Bundesamt für Naturschutz (Hg.) (2016):


Daten zur Natur 2016. Görres-Druckerei und
Verlag GmbH, Neuwied
Bundesministerium für Umwelt, Natur-
schutz, Bau und Reaktorsicherheit
(Hg.) (2023): Aktionsprogramm Natürlicher
15
Klimaschutz der Bundesregierung
Hallmann, Caspar A.; et al. (2017): More
than 75 percent decline over 27 years in total
flying insect biomass in protected areas.
Plos One 12 ↘ t1p.de/wcmcz
212

Montreal-Abkommen
Das Kunming-
von 2022

Prof. Dr. Josef Settele


ist Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum
für Umweltforschung (UFZ) und Professor
an der Martin-Luther-Universität Halle-Witten-
berg; seit 2020 ist er Mitglied im Sachver­
ständigenrat für Umweltfragen; sein Spezial-
gebiet ist die biologische Vielfalt in Abhängig-
keit von der Landnutzung.
Leben an Land 213

Bezüglich des Nachkeitszieles 15 »Leben an Land«, aber auch für andere Ziele wie z. B.
Leben unter Wasser, lässt das Kunming-Montreal-Abkommen der Konvention für Biolo-
gische Vielfalt (CBD) von Dezember 2022 (CBD 2022) hoffen, da dort für das Anliegen
des SDG 15 alle Komponenten umfangreich mit erfasst sind — vom Schutz der Land-
ökosysteme, deren Wiederherstellung und die Förderung der nachhaltigen Nutzung.

Beteiligung am Prozeß
Häufig werde ich gefragt, ob es nicht furstrierend wäre, dass wir als Wissenschaft-
ler auf der UN-Weltbiodiversitätskonfernz COP15 in Montreal, an der ich eine Woche
teilnehen durfte, nicht mitbestimmen könnten, was gegen die weltweite Naturzerstö-
rung unternommen werden sollte. Eine solche Frage zeugt von einem gewissen Miss-
verständnis der Rolle der Wissenschaft in solchen Prozessen, zumal wissenschaftliche
Erkenntnisse von Anfang an in den Prozess mit eingeflossen sind und sie sind zudem
sogar wahrscheinlich nirgendwo so bekannt wie hier. Da die Positionen der Länder
meist schon im Vorfeld entwickelt wurden, gibt es auch wenig Veranlassung, die Ver-
handler direkt zu beeinflussen. Es ist allerdings sehr wichtig auch vor Ort bei den Ver-
handlungen als Resource-Person anwesend zu sein. Allenfalls wenn — wie in Montreal
auch geschehen — eines der zentralen Dokumente, das die auf die COP hinarbeitete,
nämlich der Globale Bericht des Weltbiodiversitätsrates IPBES (IPBES 2019), den ich
als Co-Chair mit leiten durfte, von Delegationen als »Meinungsmache« bezeichnet
wird, muss man mitunter etwas massiver auf die Faktenlage hinweisen. Dieser globa-
le Zustandsbericht des UN-Weltbiodiversitätsrats, der 2019 erschien und als zentra-
le fachliche Grundlage für die COP-Verhandlungen diente, wurde nämlich in enger
Abstimmung zwischen Wissenschaft und den Mitgliedsregierungen des IPBES über 3
Jahre hinweg entwickelt und dessen Zusammenfassung für politische Entscheidun-
gen (SPM — Summary for Policymakers) im Konsens zwischen den beteiligten Akteu-
ren verabschiedet.
Der Bericht erläuterte im Wesentlichen, was eigentlich auf dem Spiel steht. Wir könn-
ten es, vereinfacht zusammengefasst, verpassen, unsere Lebenssysteme zu erhalten,
welche auf der genetischen Vielfalt, der Artenvielfalt und der Vielfalt von Ökosyste-
men basieren, also auf der Biodiversität, von der wir alle abhängig und der Natur mit
der wir komplett verwoben sind. Eine Blumenwiese zum Beispiel ist nicht nur schön,
sondern stellt uns ganz viele Leistungen bereit. Die bunten Blüten locken Bestäuber
an, ohne die es viel weniger Samen und Früchte gäbe. Ohne all das könnten wir nicht
leben, wir ernähren uns ja letztlich von Tieren und Pflanzen.
In unserem Bericht haben wir das aktuelle Tempo des weltweiten Artensterbens im Ver-
gleich zum Durchschnitt der letzten 10 Millionen Jahre auf das 10- bis 100-fache be-
ziffert. Innerhalb der nächsten Jahrzehnte könnten demnach eine Million Arten von
insgesamt weltweit geschätzten 8 Millionen aussterben — und das ist sogar noch kon-
servativ geschätzt. Solche Zahlen werden immer gern aufgegriffen, was einerseits gut
ist: Sich auf das Verschwinden von Arten zu konzentrieren, meist auf charismatische
Tiere, weckt Interesse. Die Gefahr ist aber, dass die Leute denken: Sei’s drum,
es bleiben immer noch ein paar Millionen Arten. Es geht aber eher um die Zer- 15
störung der natürlichen Systeme, die von den Arten getragen werden. Wenn sich zum
Beispiel bestimmte Organismen und Lebensformen massenhaft vermehren — seien
es Coronaviren oder Borkenkäfer im Harz —, zeigt das: Je geringer die Vielfalt im Sys-
tem, desto geringer ist auch dessen Widerstandsfähigkeit. Leider erkennt man das oft
erst, wenn es zu spät ist.
214

Die Zerstörung der Natur geht vom Menschen aus. Das hat UN-Generalsekretär An-
tónio Guterres bei der Eröffnung des Gipfels am 6. Dezember 2022 noch einmal be-
tont, indem er uns als »Massenvernichtungswaffe« bezeichnete. Sind das auch dras-
tische Worte, so stimme ich ihm zu. Wir haben in unserem Bericht herausgearbeitet,
was die Treiber hinter dem Verlust von biologischer Vielfalt sind. Zuvorderst sind das
Veränderungen in der Landnutzung, zum Beispiel intensive Landwirtschaft, dann Din-
ge wie Kahlschlag oder Überfischung, auf Platz drei und vier sind Klimawandel und
Umweltverschmutzung, und der fünfte große Faktor sind invasive Arten. Hinter alle-
dem steht der Mensch. Der Klimawandel wird übrigens alle anderen Faktoren über-
holen und im Laufe der nächsten Jahrzehnte vermutlich die Goldmedaille der Natur-
zerstörung holen.

Biodiversität vs. Klima?


Wir dürfen nicht übersehen, dass der rasante Verlust von Biodiversität im Grunde
mindestens genauso gefährlich ist wie die Klimakrise; und auch wenn er gesellschaft-
lich und politisch vergleichsweise noch viel weniger präsent erscheint, so holen wir
doch auf.
Das Problem mit der Aufmerksamkeint für das Thema Biodiversität liegt u. a. auch dar-
an, dass es sich schlechter vermitteln lässt. Der Klimawandel ist von den Indikatoren
her ziemlich einfach; es geht um CO₂-Äquivalente. Biodiversität ist viel komplexer und
lässt sich nicht so einfach messen. Allein beim Insektensterben muss man unterschei-
den zwischen Biomasse und Artenvielfalt: Es ist wichtig, dass insgesamt genügend
Insekten da sind, beispielsweise als Nahrung für Vögel. Handelt es sich aber nur um
Individuen weniger Arten, ist das Ökosystem trotzdem instabil. Ich stelle in solchen
Zusammenhängen gern Bezüge zur Heimat her. Menschen schätzen die Gegend, aus
der sie kommen — sie sind dort kulturell-historisch eingebunden — ein klarer link zum
Thema Kultur, um das in diesem Band geht. Der Erfolg des Bayerischen Bienen-Volks-
begehrens beispielsweise ist klar auf solche Beziehungen, die wir im Bericht als »Hei-
matverbundenheit« bezeichnen, zurückzuführen. Wichtig ist auch, dass in letzter Zeit
die direkten Zusammenhänge zwischen Klimakrise und Biodiversität immer mehr be-
tont werden, auch in gemeinsamen Publikationen des Weltklimarates und des Welt-
biodiversitätsrates (IPBES; IPCC 2021). Es ist überhaupt nicht zielführend Klima- und
Naturschutz separat zu betrachten. Die meisten der nötigen Maßnahmen würden tat-
sächlich beidem nützen. Eine höhere Artenvielfalt von Bäumen im Wald geht zum Bei-
spiel fast immer mit mehr Bindung von Kohlenstoff einher. Inhaltlich lassen sich Kli-
ma- und Artenschutz also nicht trennen, und es würde inhaltich sogar Sinn machen,
die COPs von IPCC und IPBES zusammenzulegen.

Zentrale Ziele aus Montreal


Eines der prominentesten Ziele, um die es in Montreal ging, ist das »30 × 30«-Ziel: Bis
2030 sollen weltweit 30 Prozent der Flächen von Land, Binnegewässern und Meeren
unter Naturschutz gestellt werden. Oft wird das als Entsprechung zum 1,5-Grad-Ziel
von Paris dargestellt. Diese Zahl lässt sich wie auch die 1,5 Grad nicht direkt wissen-
schaftlich herleiten; es handelt sich um eine gesellschaftliche Einigung, unterstützt
mit wissenschaftlichen Kriterien; manche Forschende sagen auch, dass es mehr sein
müsste. Aber ich finde das Ziel schon gut — noch vor zehn Jahren hat keiner gedacht,
dass man so etwas ernsthaft diskutieren würde! Knackpunkt wird aber sein, wie das
genau definiert und dann umgesetzt wird. Werden die richtigen Flächen geschützt,
Leben an Land 215

und was genau beinhaltet dieser Schutz? Was nicht passieren darf: sogenannte Pa-
per Parks, also Naturschutz, der nur auf dem Papier existiert. Eine weitere Sorge ist,
dass durch dieses Ziel Menschen aus ihren Gebieten verdrängt werden könnten. Hier-
bei ist aber festzustellen, dass unser Report klar zeigt: Wo Indigene Völker leben und
lokale Gemeinschaften das Land bewirtschaften, geht es der Natur besonders gut.
Sie machen zwar nur etwa sechs Prozent der Weltbevölkerung aus, aber in ihren Ge-
bieten finden sich überproportional große Anteile der Artenvielfalt. Inzwischen ist das
viel mehr Thema und kaum jemand bestreitet die Schlüsselrolle dieser Menschen im
Naturschutz.
Für einen effektiven Schutz der Biodiversität reicht eine Fokussierung auf Schutzgebie-
te aber nicht aus. Das »30 × 30«-Ziel ist nur eines von 23 Zielen, die die UN-Biodiversi-
tätskonvention in Montreal beschlossen hatte, um die Natur zu schützen. Weitere we-
sentliche Ziele sind z. B. das Target 10. Da geht es um nachhaltige Landwirtschaft und
Nahrungssicherheit. Es wird entscheidend sein, dass wir unser Essen mit möglichst
wenig Pestiziden, künstlichem Dünger und anderen schädlichen Eingriffen produzie-
ren. Letztlich wirken all diese Ziele aber zusammen — sei es die Renaturierung degra-
dierter Lebensräume, die Reduktion von Plastikmüll oder Maßnahmen gegen den Kli-
mawandel. Sie wurden glücklicherweis am Ende alle im Paket beschlossen.

Ein optimistischer Ausblick


Zusammenfassend muss ich sagen, dass ich vom Ausgang der Verhandlungen positiv
überrascht wurde. Es wurden Zahlen für die Raumplanung und für die Schutzgebiete
festgelegt: Das viel diskutierte »30 × 30«-Ziel ist erhalten geblieben und ist in Kombi-
nation mit der Berücksichtigung lokaler Bevölkerungen bei deren Gestaltung und Ma-
nagement einen guten Schritt in eine richtige Richtung gegangen. Auch insgesamt ist
die stärkere Berücksichtigung der Menschen im Prozess des Erhalts der Natur wichtig.
Ein Finanzierungsmechanismus wurde zumindest eingeleitet — auch wenn ein Betrag
von 20 Milliarden pro Jahr erst mal noch als sehr gering einzustufen ist. Da muss mit-
telfristig mehr Ambition des globalen Nordens eingefordert werden, was aber wohl
perspektivisch angegangen werden soll. Ergänzend hierzu ist auch zu sagen, dass
die Vorstellung, dass es hier um viel Mittel ginge, sich sofort relativiert, wenn wir z. B.
bedenken, dass die Flutkatastrophe im Ahrtal uns 30 Milliarden gekostet hat, und es
sich hier lediglich um ein kleines Tal in einem kleinen Land wie Deutschland handelte.
Da fehlt die Relation. Wir können die Menschen im globalen Süden nicht mit dem al-
lein lassen, was wir historisch angerichtet haben. Wir müssen nur schauen, dass das
Geld auch wirklich der Natur zugute kommt.
Zur Umsetzung der Ziele werden wir selbstverständlich auf die Nationalstaaten angewie-
sen sein. Mit der Notwendigkeit der Freiheit der nationalen Ausgestaltung; man kann
keine hoch spezifischen Ziele auf globaler Basis festlegen, weil dazu die Bedingungen
viel zu verschieden sind. Damit geht aber auch das Risiko einher, dass das nicht ernst
genug genommen wird. Der Finanzierungsmechanismus sieht aber zum Beispiel auch
vor, dass man die Fortschritte verfolgt — und das wird sich sicherlich auch da-
rauf auswirken, wie stark das Engagement in Zukunft ausfällt.
Auf nationaler Ebene müssen wir dafür sorgen, dass unsere Schutzgebiete, wie auch die
15
gesamte Landschaft, ihre Funktionen erfüllen können: den Erhalt der biologischen
Ressourcen durch entsprechendes Management der Gebiete genauso wie eine ag-
rarökologische Wende in der genutzten Landschaft insgesamt. Auch das ist eine For-
derung der CBD-Vereinbarung.
216

Für mich hat die COP15 durchaus Züge eines Paris-Momentes für die Biodiversität an-
genommen und ich bin durchaus zuversichtlich, dass wir hier einen großen Schritt in
die richtige Richtung getan haben.
Leben an Land 217

Literatur

Convention on Biological Diversity (2022):


COP15: Final text of Kunming-Montreal

15
Global Biodiversity Framework
↘ t1p.de/bshch
IPBES (2019): Global Assessment Report
on Biodiversity and Ecosystem Services.
(SPM als Konsensdokument der Regierungen)
↘ t1p.de/fx2vq
IPBES; IPCC (2021): Workshop-Bericht.
↘ t1p.de/ihqvf
tigkeit und starke
Frieden, Gerech­

Institutionen
16
Friedliche und inklusive Gesell-
schaften für eine nachhaltige Ent-
wicklung fördern, allen Menschen
Zugang zur Justiz ermöglichen
und leistungsfähige, rechenschafts­
pflichtige und inklusive Instituti-
onen auf allen Ebenen aufbauen
220

Nach­haltigkeit —
Nachhaltigkeit
Recht auf
Recht für

Dr. Günter Winands


ist Staatssekretär a. D.; er war zuletzt
Amtschef der Beauftragten der Bun-
desregierung für Kultur und Medien und
ist Lehrbeauftragter für Kulturpolitik
an der Universität Bonn.
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 221

Historischer Ursprung im Forstrecht — Substanzerhalt


Das Prinzip der Nachhaltigkeit fand in Deutschland seine erste rechtliche Veranke-
rung im Forstrecht. Im 18. Jahrhundert kam als Reaktion auf eine in Europa verbrei-
tete Entwaldung bei gleichzeitig steigendem Holzbedarf für Industrie, Schiff- und
Wohnungsbau die Idee einer damals schon so bezeichneten »nachhaltigen« Waldbe-
wirtschaftung auf.1 Ein Grundprinzip ist dabei bis heute, immer nur so viel Holz einzu-
schlagen, wie wieder nachwachsen kann. Die planmäßige Aufforstung und langjäh-
rige Waldpflege soll auch nachfolgenden Generationen
1 Hans Carl von Carlowitz, ein Ober-
berghauptmann im sächsischen Frei- einen stetigen Holzertrag ermöglichen, ein zeitlos beson-
berg, plädierte in seinem in Leipzig 1713 ders anschauliches Beispiel für Nachhaltigkeit. Da an der
erstmals erschienenen Werk »Sylvicultura Sicherstellung einer ausreichenden Holzerzeugung ein
oeconomica« für eine »continuirliche
hohes Interesse des Staates und der Allgemeinheit be-
beständige und nachhaltende Nutzung«
(S. 105) der Wälder. ↘ t1p.de/zlb99 stand, wurden forstpolizeiliche Beschränkungen der Ei-
Er gilt damit weithin als Begründer der gentümerrechte zur Einhaltung des Nachhaltigkeitsprin-
nachhaltigen Forstwirtschaft und zips eingeführt. Es reifte die Erkenntnis, dass ansonsten
Schöpfer des Nachhaltigkeitsbegriffs in
die nachteiligen Folgen einer »verkehrten Wirtschaft
Deutschland. Auch in der englischspra­
chigen Forstliteratur ist seit dem 19. Jahr- erst in Jahrhunderten, ja oft gar nicht wieder abgewen-
hundert »Sustained yield« (nachhal- det werden können«.2 In den meisten deutschen Ländern
tiger Ertrag) bekannt, wahrscheinlich an- wurden Forstgesetze erlassen, für die staatlichen Fors-
geregt durch den Gebrauch im deutsch­
sprachigen Raum. So: Huss, Jürgen; von
ten zudem Instruktionen erteilt und im Allgemeinen Land-
Gadow, Friederike (2012): Einführung recht für die Preußischen Staaten von 1794 eine Bestim-
in das Faksimile der Erstausgabe der mung aufgenommen, wonach eine »Holzverwüstung«
Sylvicultura oeconomica von H. C. von durch Niederschlagung und Ruinierung eines Waldes
Carlowitz. Remagen, S. 48
↘ t1p.de/wmvus
oder die Zuwiderhandlung gegen Anweisungen zur Ein-
schränkung des Holzeinschlags mit Geld- oder Gefäng-
2 Schenck, Karl Friedrich (1825):
Handbuch über Forstrecht und Forst­ nisstrafe geahndet werden konnten.3
polizei. Gotha, S. 530
3 PrALR Teil 1 Tit. 8 § 87. Eine ver- Ausweitungen im Umweltrecht —
gleichbare sanktionierte Verpflichtung dauerhafte umweltgerechte Entwicklung
bestand für landwirtschaftlich genutzte Der Nachhaltigkeitsgrundsatz prägt gleichermaßen das
Flächen, PrALR Teil 2 Tit. 7 § 8 und 9.
heutige Bundeswaldgesetz und die Landeswaldgesetze.4
Danach oblag es jedem Bauer, die Kultur
seines Grundstücks, auch zur Unter- Doch bezwecken diese die nachhaltige Sicherung intakter
stützung der allgemeinen Bedürfnisse, Waldbestände nicht nur wegen des forstwirtschaftlichen
wirtschaftlich zu betreiben. Er konnte Nutzens, sondern auch wegen der hohen »Bedeutung für
dazu vom Staat »auch durch Zwangs-
mittel genötigt, und bei beharrlicher Ver-
die Umwelt, insbesondere für die dauernde Leistungsfä-
nachlässigung, sein Grundstück an higkeit des Naturhaushaltes, das Klima, den Wasserhaus-
einen Andern zu überlassen angehalten halt, die Reinhaltung der Luft, die Bodenfruchtbarkeit,
werden«. das Landschaftsbild, die Agrar- und Infrastruktur und für
4 Statt vieler: Bayerischer Verwal- die Erholung der Bevölkerung« (§ 1 Ziff. 1 BWaldG). Da-
tungsgerichtshof, Urteil vom 27.02.2018 — mit korrespondiert die Verankerung und Ausgestaltung
15 N 16.2381 —, juris, Rn. 41; Sächsisches
Oberverwaltungsgericht, Urteil vom des Nachhaltigkeitsprinzips im Bundesnaturschutzge-
15.10.2013 — 5 A 50/11 —, juris setz: »Natur und Landschaft sind auf Grund ihres eige-
nen Wertes und als Grundlage für Leben und Gesundheit
des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen so zu schüt-
zen, dass die biologische Vielfalt, die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des
Naturhaushalts einschließlich der Regenerationsfähigkeit und nachhaltigen
Nutzungsfähigkeit der Naturgüter sowie die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie
16
der Erholungswert von Natur und Landschaft auf Dauer gesichert sind; der Schutz
222

umfasst auch die Pflege, die Entwicklung und, soweit erforderlich, die Wiederher-
stellung von Natur und Landschaft« (§ 1 Abs. 1 BNatSchG). Das Nachhaltigkeitsprin-
zip durchzieht, in vielen ähnlichen Regelungen ausbuchstabiert, zwischenzeitlich das
gesamte deutsche Umweltrecht.

Sektorübergreifendes Nachhaltigkeitsrecht —
Ausgleich ökologischer, ökonomischer und sozialer Ziele
Mit dem Umweltschutz als Motor hat sich seit Ende des 20. Jahrhunderts auf natio-
naler, europäischer wie internationaler Ebene ein Konzept der Nachhaltigkeit heraus-
gebildet und durchgesetzt, das einen noch umfassenderen Ansatz verfolgt. Danach
zeichnet sich nachhaltiges Handeln zum einen durch einen schonenden, langfristig
erhaltenden und wertschätzenden Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen aus,
in Verantwortung für heutige sowie künftige Generationen, um allen ein menschen-
würdiges Leben zu ermöglichen. Nachhaltigkeit erfordert zudem eine Harmonisierung
ökologischer, ökonomischer und auch sozialer Ziele (»Dreieck der Nachhaltigkeit«).
Eine Verengung wie früher allein auf die wirtschaftliche Komponente oder auch nur
auf ökologische Belange greift zu kurz. Alle 3 Säulen des Nachhaltigkeitsdreiecks sind
vielmehr gleichzeitig miteinander in Einklang zu bringen.
So sollen beispielweise Bauleitpläne (Flächennutzungspläne und Bebauungspläne) »eine
nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und um-
weltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Gene-
rationen miteinander in Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienen-
de sozialgerechte Bodennutzung unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse der
Bevölkerung gewährleisten. Sie sollen dazu beitragen, eine menschenwürdige Umwelt
zu sichern, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu entwickeln sowie
den Klimaschutz und die Klimaanpassung, insbesondere auch in der Stadtentwick-
lung, zu fördern, sowie die städtebauliche Gestalt und das Orts-
5 Dazu: Monien, Johanna
und Landschaftsbild baukulturell zu erhalten und zu entwickeln« (2014): Nachhaltige Ent­
(§ 1 Abs. 5 BauGB). Und im Raumordnungsrecht gilt die Leitvorstel- wicklung als Umweltrechts-
lung einer »nachhaltigen Raumentwicklung, die die sozialen und prinzip. In: Härtel, Ines (Hg.):
wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Nachhaltigkeit, Energie-
wende, Klimawandel, Welt-
Funktionen in Einklang bringt und zu einer dauerhaften, großräu- ernährung. Baden-Baden,
mig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnis- S. 156 ff.
sen in den Teilräumen führt« (§ 1 Abs. 2 ROG).

Europäisches und internationales Nachhaltigkeitsrecht


Mit dem Reformvertrag von Lissabon 2007 wurde das Ziel einer nachhaltigen Ent-
wicklung mit ihren 3 Säulen in den Vertrag über die Europäische Union (Art. 3 Abs. 3)
eingefügt und damit bindendes europäisches Verfassungsrecht: »Die Union wirkt
auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen
Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbs-
fähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt
abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltquali-
tät hin.« Seitdem die nachhaltige Entwicklung primärrechtlich als Leitlinie vorgege-
ben ist, sind eine Vielzahl europäischer, die Mitgliedstaaten rechtlich bindender und
dort auch teilweise unmittelbar geltender Verordnungen und Richtlinien erlassen so-
wie EU-Förderprogramme auf den Weg gebracht worden, die hierauf Bezug nehmen
und diese umsetzen.5
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 223

Auf internationaler Ebene haben sich die Vereinten Nationen — aufbauend auf dem
1987 veröffentlichten Bericht einer World Commission on Environment and Develop-
ment (»Brundtland-Kommission«) — in der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 zum
Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung bekannt und seinerzeit ein globales Aktions-
6 Resolution der UN-General- programm »Agenda 21« beschlossen. Einen weiteren entscheiden-
Versammlung vom 25.09.2015, den Durchbruch hat das Nachhaltigkeitsprinzip durch die im Jahre
Transforming Our World: The 2015 verabschiedete UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwick-
2030 Agenda for Sustainable
Development, A/RES/70/1
lung erreicht.6 Die darin festgelegten 17 globalen Ziele für nach-
haltige Entwicklung, die Sustainable Development Goals (SDGs),
7 Der Kultur ist bislang kein
eigenständiges SDG gewidmet.
bilden mit ihren dazugehörigen 169 Unterzielen im Einzelnen die
Auch wenn kulturelle Bezüge ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen des
in vielen SDGs bestehen, sollte Nachhaltigkeitsprinzips ab, von der Hunger- und Armutsbekämp-
bei einer Fortschreibung der fung über Bildung für alle, saubere Energie, Ressourcen- und Kli-
UN-Agenda für die Zeit nach
2030 eine entsprechende Er- maschutz bis hin zu globaler Partnerschaft.7 Der Agenda-Prozess
gänzung angestrebt werden. wird auf UN-Ebene sowie in vielen Mitgliedstaaten der Vereinten
Denn Kultur ist das, was bleibt. Nationen durch politische Foren und Beratungsgremien sowie
Nicht ökonomische Leistun-
durch ein regelmäßiges Berichtsmonitoring begleitet.
gen, nicht militärische Siege,
sondern kulturelle Errungen- Die UN-Agenda 2030 ist als Resolution der UN-Generalversamm-
schaften bleiben auch nach lung zwar nur eine Empfehlung auf der Grundlage von Art. 10 der
Jahrhunderten im kollektiven UN-Charta und damit so genanntes »Soft Law«, also eine — völker-
Gedächtnis der Menschheit.
rechtlich nicht verbindliche — Absichtserklärung der Mitgliedstaa-
Kultur ist per se auf Nachhaltig-
keit angelegt, Nachhaltigkeit ten. Allerdings enthält sie zahlreiche Verweise auf völkerrechtlich
ist ein Wesenszug kulturellen verbindliche UN-Konventionen wie etwa den Menschenrechts-
Schaffens. Auf nationaler Ebe- pakten, den Frauen-, Behinderten- und Kinderrechtskonventio-
ne gibt es seit 2020 ein durch
die Beauftragte der Bundesre-
nen oder der Biodiversitätskonvention (Übereinkommen über die
gierung für Kultur und Medien biologische Vielfalt). Insoweit wird geltendes Völkerrecht teilwei-
initiiertes und gefördertes se operationalisiert und verstärkt, in dem im Wege einer politi-
Aktionsnetzwerk »Nachhaltig- schen Selbstverpflichtung die entsprechenden Konventionen mit
keit in Kultur und Medien«.
Siehe außerdem: Nachhaltig-
konkreten Zielerrichtungsschritten und -daten versehen sind. Zu-
keitsbericht der Be­auftragten dem können die SDGs bei der inhaltlichen Auslegung zwingender
der Bundesregierung für Kul- völkerrechtlicher Konventionen herangezogen werden. Schließlich
tur und Medien, Berlin 2020 nehmen zwischenzeitlich eine Vielzahl zwischenstaatlicher Ab-
↘ t1p.de/zy3v7
kommen, aber auch Rechtsdokumente der Europäischen Union
8 Dazu insgesamt: Nowrot,
wie auch nationale Rechtsvorschriften ausdrücklich auf die Nach-
­Karsten (2020): Das gesell­
schaftliche Transformations­ haltigkeitsziele der UN-Agenda Bezug und vermitteln ihnen durch
potential der Sustainable diese Inkorporation mittelbar eine rechtliche Verbindlichkeit. Dis-
Development Goals. Völker- kutiert wird vereinzelt bereits, ob das Prinzip der Nachhaltigkeit
rechtliche Rahmenbedin-
durch die breite weltweite Akzeptanz und Übernahme der SDGs
gungen und außerrechtliche
Nachhaltigkeitsvorausset-­ mittlerweile sogar als völkerrechtliches Gewohnheitsrecht ange-
zungen. Hamburg, S. 7 ff. mit sehen werden kann. Dies wird allerdings überwiegend wegen einer
weiteren Nachweisen letztlich doch notwendigen normativen Konkretisierungsbedürf-
↘ t1p.de/wnxmt
tigkeit und damit inhaltlichen Unbestimmtheit des Prinzips abge-
lehnt.8

Rechtliche Umsetzung der »Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie«


In Deutschland wurde erstmals zum Weltgipfel der Vereinten Nationen für
nachhaltige Entwicklung in Johannesburg, die 10 Jahre nach der Rio-Konferenz 2002
16
stattfand, durch die Bundesregierung eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie vorge-
224

legt. Diese wurde danach in regelmäßigen Abständen weiterentwickelt. Grundlegend


geschah dies 2017 zur Umsetzung der UN-Agenda 2030. Die »Deutsche Nachhaltig-
keitsstrategie« richtet sich seitdem an den 17 globalen Nachhaltigkeitszielen aus.9 Sie
beinhaltet nicht nur ambitionierte Maßnahmen im Inland, sondern auch in der Ent-
wicklungszusammenarbeit und Friedenssicherung. Deutschland nimmt nicht zuletzt
hierüber auch international Einfluss auf die weltweite Umsetzung der Ziele. Allerdings
stellt die Bundesregierung in der letzten, 2021 aktualisierten Fas-
9 Die Bundesregierung (Hg.)
sung ihrer Nachhaltigkeitsstrategie selbstkritisch fest, dass die (2021): Deutsche Nachhaltig-
Verwirklichung der weltweit und national gesteckten Zukunftszie- keitsstrategie. Weiterentwicklung
le angesichts von Klimawandel, Artensterben und steigenden Res- 2021. Rostock ↘ t1p.de/x452v
sourcenverbrauch sowie Gerechtigkeitsfragen zwischen Genera- 10 Siehe: ebenda,
tionen und Weltregionen in absehbarer Zeit höchst fraglich ist. Nur S. 11, 24 f., 27
wenn die Staatengemeinschaft sowie jeder einzelne Staat die Ge-
schwindigkeit und das Ambitionsniveau der Umsetzung der Agenda 2030 deutlich er-
höhen würden, könnten die SDGs noch im Jahr 2030 erreicht werden. Darauf hatte
im September 2019 auch bereits ein SDG-Gipfeltreffen in New York hingewiesen und
deshalb eine »Decade of Action and Delivery for Sustainable Development« (Dekade
für die Umsetzung der Agenda 2030) ausgerufen.10
Die »Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie« ist — wie die UN-Agenda 2030 — eine Absichts-
erklärung und damit kein rechtliches Instrument mit unmittelbarer Außenwirkung. Als
vom Bundeskabinett beschlossene Leitlinie enthält sie allerdings konkrete inhaltliche
Vorgaben für die ministerielle Willensbildung in den Bundesressorts sowie das Han-
deln der Bundesregierung insgesamt und entfaltet insoweit eine regierungsinterne
Bindungswirkung. Ob über den Hebel des Art. 3 Abs. 1 GG, also des aus dem Gleich-
heitssatz folgenden Grundsatzes der Selbstbindung der Verwaltung, einzelne inhaltli-
che Festlegungen der Nachhaltigkeitsstrategie durch ständige und gleichmäßige An-
wendung seitens der Bundesbehörden eine rechtliche Bindungswirkung und damit
Außenwirkung erlangen könnte, ist bislang — soweit ersichtlich — noch nicht unter-
sucht worden. Angesichts des überwiegend Ziele beschreibenden und auf anderen-
orts getroffene Entscheidungen und Maßnahmen der Bundesregierung verweisen-
den Charakters der Strategie dürfte dies kaum der Fall sein, völlig ausgeschlossen
erscheint es aber nicht.
Damit generell in der Rechtsetzung des Bundes das Nachhaltigkeitserfordernis hinrei-
chend beachtet wird, besteht seit 2009 nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung
der Bundesministerien (GGO) eine Verpflichtung, bei jedem Gesetz- und Verord-
nungsvorschlag vor der Beschlussfassung der Bundesregierung eine Nachhaltigkeits-
prüfung vorzunehmen. In der Begründung des Gesetz- oder Verordnungsentwurfs hat
das federführende Ressort, im Benehmen mit den anderen fachlich betroffenen Mi-
nisterien, als Teil der so genannten Gesetzesfolgenabschätzung »darzustellen, ob die
Wirkungen des Vorhabens einer nachhaltigen Entwicklung entsprechen, insbesonde-
re welche langfristigen Wirkungen das Vorhaben hat«. (§ 44 Abs. 1 S. 4, § 43 Abs. 1 Nr.
5 GGO, für Rechtsverordnungen entsprechender Verweis in § 62 Abs. 2 GGO). Als in-
ternes Verfahrensrecht der Bundesregierung gilt diese Darlegungslast bislang nicht
für Gesetzesentwürfe aus der Mitte des Deutschen Bundestages oder des Bundesrats;
eine Ergänzung deren Geschäftsordnungen erscheint angeraten.
Durch die Aufnahme in der Gesetzesbegründung fließt das Ergebnis der ministeriellen
Nachhaltigkeitsprüfung in die parlamentarischen Beratungen wie auch in den öffent-
lichen Diskurs über das Rechtsetzungsvorhaben ein. Für die spätere Auslegung des
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 225

Gesetzes insgesamt oder einzelner Bestimmungen, nicht zuletzt durch die Gerich-
te, kann die parlamentarische Auseinandersetzung mit der Nachhaltigkeitseinschät-
zung der Bundesregierung Bedeutung erlangen und damit materielle Wirkung entfal-
ten. Maßstab für die Nachhaltigkeitsprüfung sind die an den 17 SDGs ausgerichteten
Ziele und Indikatoren der »Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie«. Um die Qualität der
Nachhaltigkeitsprüfung zu verbessern und gleichzeitig die Durchführung der Prüfung
zu erleichtern, wurde 2018 innerhalb der Bundesregierung ein IT-gestütztes Prüftool
eingeführt, die elektronische Nachhaltigkeitsprüfung (eNAP).11 2 Bundesländer, Nord-
rhein-Westfalen und Baden-Württemberg, wenden das Instrument der Nachhaltig-
keitsprüfung von Rechtssetzungsentwürfen ebenfalls bereits an.12
11 vgl. ebenda, S. 106; Bun-
desministerium des Innern Zwar wird seitens der Bundesressorts die Prüfpflicht zwischenzeit-
(2009): Arbeitshilfe zur Geset- lich formal weitgehend befolgt.13 Ob dieses Instrument allerdings
zesfolgenabschätzung, Berlin, tatsächlich in den letzten Jahren für eine bessere nachhaltige
S. 11 f.; Unterrichtung durch
Rechtsetzung gesorgt hat, bedarf noch eingehenderen Untersu-
die Bundesregierung, Bericht
über die Nachhaltigkeitsprü- chungen.
fung im Rahmen der Gesetzes- Immerhin hat der Begriff der Nachhaltigkeit auf breiter Front Ein-
folgenabschätzung, BT-Drs. zug in das Bundesrecht gezogen. Eine Recherche im Juris-Infor-
19/32709 vom 20.10.2021
mationssystem (März 2023) zu den Begriffen »Nachhaltigkeit« und
12 Siehe: Unterrichtung
»nachhaltig« in den Gesetzen und Verordnungen des Bundes seit
Bundesregierung a. a. O., S. 20
ff.; Merkelbach, Julia; Esken,
2000 ergibt rund 700 Treffer, wobei darin allerdings auch Dopp-
Andrea (2020): Erste Erfah- lungen und nicht mehr geltende Normen enthalten sind. Eine par-
rungen mit der Nachhaltig- allele Recherche im Bundesportal »Gesetze im Internet«, das nahe-
keitsprüfung für Gesetze und zu das gesamte aktuell geltende Bundesrecht (nicht nur Gesetze,
Verordnungen in NRW. Wup-
pertal, S. 24 ff.
sondern auch Verordnungen) abdeckt, bringt immerhin 434 Tref-
fer hervor.14
13 Siehe: Unterrichtung
Bundesregierung, a. a. O., Zentrale klassische Bereiche des Nachhaltigkeitsrechts sind das
S. 13 f.; Zur noch ausbaufähi­gen Umwelt-, Energie- und Planungsrecht, verstärkt auch das Sub-
Situation in den beiden Bun­ ventions-, Investitions- und Vergaberecht, das Wirtschafts-, Ge-
desländern: Merkelbach/
sellschafts- und Unternehmensrecht (»Corporate Social Repon-
Esken, a. a. O., S. 15 ff., 25 ff.
sibilty«), das Haushalts- und Finanzmarktrecht (»Sustainable
14 Ähnliches Ergebnis bei Finance«), das Steuer- und Abgabenrecht sowie das Recht der so-
einer Volltextrecherche zialen Absicherung. »Nachhaltigkeitsrecht« ist demzufolge kein ei-
bei ↘ buzer.de, Gesetze und
Verordnungen des deutschen
genständiges Rechtsgebiet, sondern ein Oberbegriff für über vie-
Bundesrechts im Internet. le Rechtsbereiche verstreute Nachhaltigkeitsbestimmungen in den
jeweiligen rechtlichen Regelungswerken.
Eine stichprobenhafte Sichtung jüngster Gesetz- und Verord-
nungsgebung des Bundes verdeutlicht die große Spannbreite betroffener Rechtsbe-
reiche: § 1a Personenbeförderungsgesetz, § 4 GAP-Direktzahlungs-Gesetz, § 1 IHK-
Gesetz, § 10 Stabilisierungsfondsgesetz, § 4 Investitionsgesetz Kohleregionen, § 59a
Filmförderungsgesetz, § 33 Kreislaufwirtschaftsgesetz, § 45h Wasserhaushaltsgesetz,
§ 4 Pflanzenschutzgesetz bzw. § 15b Gefahrstoffverordnung, § 6 Heizkostenverord-
nung, § 3 Verordnung zur Rückführung des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes,
§ 12 Bundes-Bodenschutz- und Altlastenverordnung, § 14a Kapitalanlage-Prüfungs-
berichte-Verordnung, alle neueren Berufsausbildungsverordnungen, wie z. B. § 4 Ver-
ordnung über die Berufsausbildung zum Friseur/zur Friseurin, und bereits in
der Verordnungsbezeichnung die Biomassestrom-Nachhaltigkeitsverordnung
oder die Biokraftstoff-Nachhaltigkeitsverordnung. Schon 2004 wurde im Übrigen ein
16
Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz beschlossen.
226

Nachhaltigkeitsprinzip und Grundgesetz


Während in der Schweiz, Österreich und zunehmend weiteren ausländischen Staaten
das Nachhaltigkeitsprinzip Verfassungsrang hat und es auch bereits in die Landes-
verfassungen von Schleswig-Holstein (Präambel) und Hessen (Art. 26c) aufgenom-
men ist,15 taucht im Grundgesetz der Begriff Nachhaltig(keit) expressis verbis bis-
lang nicht auf. Ein erster überparteilicher Anlauf 2006, ein entsprechendes Staatsziel
im Grundgesetz zu verankern, hatte keinen Erfolg; die politische und wissenschaftli-
che Diskussion hierüber ist allerdings nicht verstummt.16
Ein Wesenszug der Nachhaltigkeit, die Generationengerechtigkeit, hat immerhin für
den Bereich der Ökologie als Staatszielbestimmung schon 1994 Eingang ins Grund-
gesetz gefunden: nach Art. 20a GG hat der Staat die natürlichen Lebensgrundla-
gen »auch in Verantwortung für die künftigen Generationen« zu
15 Überblick: Kahl, Wolfgang
schützen. Bei der Umsetzung dieses Schutzauftrages sieht das (2021): Empfehlung für die
Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber explizit dem Nach- Aufnahme der Nachhaltigkeit
haltigkeitsprinzip verpflichtet. So sei der Gesetzgeber »gerade in in die Verfassung für das Land
Bezug auf das Nachhaltigkeitsprinzip gehalten, weitere Redukti- Nordrhein-Westfalen. Juristi-
sches Fachgutachten, Wupper-
onen beim Treibhausgasausstoß zu erreichen«.17 In seiner jüngs- tal Institut für Klima, Umwelt,
ten Grundsatzentscheidung zur Notwendigkeit eines stärkeren Energie, Wuppertal, S. 7 f., 12 f.
Klimaschutzes wird das Nachhaltigkeitsprinzip erstaunlicherwei- 16 Siehe: ebenda, S. 10 ff.
se nicht erwähnt. Das Bundesverfassungsgericht rückt begrifflich 17 BVerfG, Beschluss vom
die Verantwortung für künftige Generationen und damit — aller- 13.03.2007 — 1 BvF 1/05 -,
dings auch ohne dies so zu benennen — das Prinzip der Gene- BVerfGE 118, 79 (110); siehe
rationengerechtigkeit in den Mittelpunkt.18 Dabei geht es nicht auch: Bayerischer Verfassungs-
gerichtshof, Entscheidung
nur um den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, sondern vom 23.08.2012 — Vf. 4-VII-12 -,
als Leitsatz auch darum, »sie der Nachwelt in solchem Zustand juris, wonach Art. 3 Abs. 2
zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur Bayerische Verfassung mit dem
um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren dortigen Schutzauftrag für
die natürlichen Lebensgrund­
könnten«.19 Art. 20a GG zielt somit auch auf eine faire Verteilung lagen das Nachhaltigkeits­
von Umweltschutzlasten. Im Grundgesetz kommt dieser Gedan- prinzip enthält.
ke der Generationengerechtigkeit nochmals in den haushaltswirt- 18 Siehe: BVerfG, Beschluss
schaftlichen Bestimmungen zur Schuldengrenze zum Ausdruck. vom 24.03.2021, — 1 BvR
Die 2009 in Art. 109 Abs. 3, Art. 115 GG eingeführte Verpflichtung, 2656/18 —, BVerfGE 157, 30
in den Haushalten von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Ein- 19 Ebenda, Leitsatz 4, Satz 2
nahmen aus Krediten auszukommen (»Schuldenbremse«), soll vor 20 Statt vieler: Kahl, a. a. O.,
dem Hintergrund der bereits bestehenden hohen Staatsverschul- S. 21 ff.; Wieland, Joachim
dung eine weitere ungebremste Schuldenanhäufung zu Lasten (2016): Verfassungsauftrag für
Nachhaltigkeit. In: Zeitschrift
künftiger Generationen verhindern; die heutige Generation soll für Umweltrecht, S. 475 ff.;
also nicht auf Kosten künftiger Generationen leben. Che-Wei, Hsu (2022): Der Be-
Aus diesen beiden Stellen des Grundgesetzes ist ein umfassendes, griff der Nachhaltigkeit im
der Verallgemeinerung zugängliches verfassungsrechtliches Nach- deutschen Verfassungsrecht.
Dissertation, Tübingen, S. 26
haltigkeitsprinzip, vergleichbar etwa dem Rechtsstaats-, Demo- mit weiteren Nachweisen
kratie- und Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1, 3 GG, nicht ab-
leitbar.20 Das Nachhaltigkeitsprinzip hat zwar einen benennbaren
Kerngehalt, Ressourcenschonung und Generationengerechtigkeit, ist aber nach heu-
tigem Verständnis auf Ausgleich ökologischer, ökonomischer und sozialer Ziele an-
gelegt. Diese Mehrdimensionalität führt zu einer inhaltlichen Unbestimmtheit; das
Prinzip muss durch den Gesetz- und Verordnungsgeber im Wege eines Abwägungs-
vorgangs normativ konkretisiert werden. Es bildet damit keinen subsumtionsfähigen
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 227

Verfassungsrechtssatz, sondern — vergleichbar dem Prinzip der Gewaltenteilung oder


dem Subsidiaritätsprinzip — in seinem Kerngehalt zwar durchaus ein Rechtsprinzip,
aber »keine lex, sondern eine ratio legis«.21 Der Sinnzusammenhang hinter Art. 20a GG
und der grundgesetzlichen Verschuldungsgrenze wird erkennbar, zur Geltung als bin-
denden, vollziehbaren Rechtssatz bedarf das Leitprinzip der Nachhaltigkeit indes der
rechtlichen Normierung. Doch kann der Kerngehalt — Ressourcenschonung und Ge-
nerationengerechtigkeit — Relevanz bei der Gesetzesauslegung gewinnen wie zudem
bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit von staatlichen Maßnahmen, hier unter dem
Gesichtspunkt des schonendsten Eingriffs auch unter der Berücksichtigung der Be-
lange künftiger Generationen.

Gibt es ein Recht auf Nachhaltigkeit?


Die Einhaltung rechtlich normierter Nachhaltigkeitsanforderungen in der Praxis zu
überwachen und durchzusetzen ist in erster Linie Aufgabe der dazu ermächtigten
staatlichen Stellen. Der Bürger kann nachhaltiges Handeln des Staates oder priva-
ter Dritter rechtlich nur einfordern, sofern er anderenfalls in sei-
21 So für das Subsidiaritäts-
prinzip: Isensee, Josef (2001): nen Rechten beschwert ist. Wenn Filme nur bei einer ökologisch
Subsidiaritätsprinzip und nachhaltigen Herstellung Förderhilfen erhalten können, bei Ge-
Verfassungsrecht. 2. Auflage, nehmigungen zur Personenbeförderung Nachhaltigkeitsziele zu
Berlin, S. 313
berücksichtigen sind oder Waldbesitzer ihren Wald nachhaltig zu
22 Siehe: §§ 2, 3 Umwelt- bewirtschaften haben, so fehlt es freilich, falls man nicht Adres-
Rechtsbehelfsgesetz; § 64
sat dieser Anforderungen ist, grundsätzlich an der eigenen indi-
Bundesnaturschutzgesetz;
Baden-Württemberg: Gesetz viduellen rechtlichen Betroffenheit. Es besteht in unserer Rechts-
über Mitwirkungsrechte und ordnung kein allgemeiner Anspruch des einzelnen Bürgers auf ein
das Verbandsklagerecht bestimmtes Handeln Dritter oder von Behörden — und damit auch
für anerkannte Tierschutzorga-
nisationen; § 3 Gesetz über
kein allgemeines Individualrecht auf Nachhaltigkeit.
Unterlassungsklagen bei Ver- Allerdings gibt es in einigen Rechtsgebieten, insbesondere im Um-
braucherrechts- und anderen welt- und Naturschutzrecht sowie auch im Tierschutz- oder Ver-
Verstößen braucherschutzrecht22 die Möglichkeit einer Verbandsklage. An-
23 BVerfG, Beschluss vom erkannte Vereinigungen oder Verbände können hier, ohne in
24.03.2021 — 1 BvR 2656/18 —, eigenen Rechten betroffen zu sein, gerichtlich die Interessen ih-
BVerfGE 157, S. 30 ff.
rer Mitglieder oder der Allgemeinheit geltend machen, wozu auch
die Beachtung nachhaltigkeitsrechtlicher Vorgaben gehören kann.
Die Möglichkeit, Nachhaltigkeitsziele im Interesse der Allgemeinheit einzufordern, be-
steht zudem für jedermann im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Bau-
leitplanung, den diversen Planfeststellungsverfahren etwa für Bundesfernstraßen,
Eisenbahnverkehrsanlagen oder Hochspannungsleitungen sowie Anlagen-Geneh-
migungsverfahren nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz.
Schließlich hat das Bundesverfassungsrecht in seiner Entscheidung zum Klimaschutz-
gesetz das rechtliche Instrumentarium, als Bürger eine stärkere ökologische Nach-
haltigkeit einzufordern, deutlich erweitert.23 Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge eine
allgemeine Schutzpflicht des Staates, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des
Klimawandels zu schützen. Eine Verletzung dieser objektivrechtlichen Schutzpflicht
stelle zugleich eine Verletzung dieses Grundrechts dar, gegen die sich Betroffene mit
Hilfe der Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzen könnten. Voraussetzung
für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen sei
zudem die Vereinbarkeit mit grundlegenden Verfassungsbestimmungen. Dazu zählt
16
das Bundesverfassungsgericht nunmehr die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG.
228

Diese begründet damit zwar für sich allein keine subjektiven Rechte, aber bildet künf-
tig einen Maßstab für den grundrechtlich gebotenen staatlichen Schutz von Leben
und Gesundheit. Diese Neujustierung des Bundesverfassungsgerichts eröffnet par-
tiell ein Recht auf ökologische Nachhaltigkeit.
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 229

16
230

Das Alleskönner-
Phlegma

Dr. Günther Bachmann


ist Berater in Nachhaltigkeitsfragen; zuvor
war er von 2001 bis 2020 beim Rat für Nach-
haltige Entwicklung tätig, seit 2007 als
Generalsekretär; zuvor war er u. a. von 1983
bis 2001 beim Umweltbundesamt tätig; von
2014 bis 2023 war er Honorarprofessor an der
Leuphana Universität Lüneburg; er ist im
Vorstand des Deutschen Nachhaltigkeitsprei-
ses und gehört dem Wissenschaftlichen
Beirat des Heinrich von Thünen-­Institut an.
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 231

Das Wichtigste der 17 UN-Ziele zur Nachhaltigkeit, englisch SDG, ist zugleich aber
auch etwas wie ein Aschenputtel. Kaum jemand spricht darüber. Die Frage nach Ins-
titutionen hört sich muffig an. Zumal SDG 16 selbst ideale Vorstellungen aufzählt, an
die niemand wirklich glaubt: Institutionen sollen inklusiv und partizipativ agieren, wir-
kungsvoll sein und darüber allzeit Rechenschaft ablegen; sie sollen den Rechtsstaat
sichern und leistungsfähig sein, der Öffentlichkeit sollen sie vollen Zugang zu alle-
dem gewähren. Das klingt nach Bullerbü. Selbst pure Effizienz kann die beiden Pole
von Kontrolle und Offenheit nicht vereinen. Die Staatsoberhäupter haben mit SDG 16
ein Alleskönner-Ideal beschlossen, das sie zu Hause kaum vorfinden und selbst kaum
anstreben. Man könnte meinen, das sei halt ein politischer Lapsus, aber tatsächlich
ist es ein Kern der politischen Kultur von Regierung und Zivilgesellschaft. Das macht
SDG 16 so interessant.
Erstmals überhaupt machen die SDGs die Nachhaltigkeit zu einem universellen ethi-
schen Grundwert. Und erstmals verbinden sie materielle Ziele — Kampf gegen Hun-
ger, mehr Umweltschutz — mit systemischer Governance. Der Beschluss der SDGs
macht das Jahr 2015 (zusammen mit dem Pariser Klimaabkommen) schon insgesamt
zu einem Lichtblick an multilateraler Politik, der heute unmöglich erscheint. Aber fast
wie ein Wunder greift SDG 16 die bis dato unantastbare Position an, die eine Einmi-
schung in nationale Institutionsfragen als neokolonial, übergriffig oder moralisch un-
zulässig und als Angriff auf die Souveränität abwehrt. Das gelang, indem SDG 16 eine
maximale Illusion starker Institutionen erhebt, die natürlich ungefährlich bleibt. Per-
fektion ist noch allemal eine wirksame Verhinderung wirklicher Transformation.
In New York trifft sich nun jährlich das High Level Political Forum (HLPF). Es führt die
Mitgliedstaaten institutionell zusammen, hat aber kein Beschlussrecht. Das HLPF hat
mehr aus sich gemacht, als zu Beginn vermutet. Aber es bleibt institutionell unvoll-
endet. Deshalb ist das HLPF auch kaum bekannt. Zu den Klimakonferenzen reisen bis
zu 45.000 Menschen an — und man mag durchaus zweifeln, ob das institutionell ge-
rechtfertigt ist —, während die Zahl der Teilnehmenden beim HLPF im Vergleich gera-
de einmal auf 5 Prozent kommt. Im ersten Fall berichten die deutschen Hauptmedien
aufgebauscht, in zweiten gar nicht — ein markanter Hinweis auf institutionelle Stärke.
SDG 16 stellt auf Vorstellungen institutioneller Stärke ab, die seit Max Weber gleich
geblieben sind, während sich alles andere geändert hat. Mittlerweile durchdringt
neue Kommunikation die Welt mit einer Inflation von Wissen und von unkontrollier-
ten Falschmeldungen. Mittlerweile haben wir harte Ziele zum Schutz der Natur, und
es gibt operative Aufgaben zur Dekarbonisierung und zur Verantwortung entlang von
Lieferketten. Mittlerweile liegen auch neue Ideen zum Institutionalismus vor, wie jene
zur Metagovernance des niederländischen UN-Beraters und Public-Affairs-Experten
Louis Meuleman. Generell spielt neben dem formalen, institutionellen Verwaltungs-
handeln der menschliche Faktor eine immer größere Rolle. Immer mehr ist in immer
kürzerer Zeit mit immer größeren Konsequenzen zu entscheiden; und das in Abstu-
fung auf allen Ebenen.
Bei der Implementation der SDG ist integriertes, ganzheitliches Denken in Netzwerken
und Regelkreisen gefragt, auch dann, wenn das zunächst nicht zur Silo-Hoheit von li-
nearen Hierarchien passt. Die persönliche ethische Verantwortung für das Erreichen
von SDGs wird honoriert; im öffentlichen Bereich mit Anerkennung und sozi-
alem Status, in Unternehmen zunehmend auch per Gratifikation. Ermutigung
und Gebote erweisen sich oft als wirkmächtiger als Verbote und Strafen. Das lernt
16
zwar jede Generation aufs Neue in Kindheit und Elternschaft. In der politischen Re-
232

alität wird es meist schnell vergessen. Die Leistung von Politik wird in Gesetzen und
Vorschriften gemessen; entsprechend akzeptiert die Zivilgesellschaft nur Gesetze
und Gerichtsurteile. Die Härte von Maßnahmen auf dieses Verständnis zu verkürzen
ist die politische Tiefenkultur.
Einen so weichen Faktor wie die Empathie — mit kommenden Generationen, mit Na-
tur, mit globalen Gemeingütern — in ein Regierungssystem zu bringen ist daher keine
ganz leichte Aufgabe. Sie wurde bisher auch nicht wirklich angegangen. So wichtig
die völkerrechtlichen Verträge (Kyoto, Paris) und die Beschlüsse der UN-Generalver-
sammlung (SDG, Agenda 2030) sind: Sie verpflichten zur Mitarbeit in bestimmten Pro-
zessen, nicht aber zum Ergreifen institutioneller Konsequenzen. Die Staaten bestim-
men ihre materiellen Verpflichtungen selbst (Emissionen, CO₂-Budget, Umsetzung
der SDG-Vorgaben). Mangelnde institutionelle Kraft gleicht man aus durch hohe Ziele
und detaillierte Berichterstattung. Das ist an sich nicht schlecht, verbirgt aber oft die
geringe Ambition bei der realen Umsetzung. Der Merksatz gilt nicht immer, aber lei-
der zu häufig: Moralischer Höhenflug kompensiert institutionellen Kriechgang. Um al-
lerdings gerecht zu sein: Mit diesem Problem schlagen sich alle herum, bis hin zu den
UN-Organisationen.

Deutschlands Plankton-Impuls
2001 hat die Bundesregierung die erste, ausschließlich für Zwecke der Nachhaltigkeit
zuständige Institution geschaffen, den Rat für Nachhaltige Entwicklung. Als unabhän-
gig arbeitendes Gremium von Stakeholdern berät er die Regierung und führt eigene
Projekte durch. Seit 2004 kontrolliert der Deutsche Bundestag mit einem parlamenta-
rischen Beirat für nachhaltige Entwicklung die Politik der Regierung, wiewohl das Up-
grade zu einem vollwertigen Ausschuss noch aussteht. Den Staatssekretärsausschuss
für nachhaltige Entwicklung lenkt die Nachhaltigkeitsstrategie. Das Statistische Bun-
desamt überwacht deren Indikatoren. Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex ist ein insti-
tutionelles Rahmenwerk zur Berichterstattung über Nachhaltigkeit, das Unternehmen,
Kommunen und Hochschulen nutzen. Für die Bildung für Nachhaltige Entwicklung,
BNE, gibt es eine föderale Plattform. Ähnliche Institutionen sind u. a. zu »Sustainable
Finance«, zum nachhaltigen Konsum, zur Forschung eingerichtet. Unternehmensbe-
zogene Interessen zur Nachhaltigkeit organisieren sich in mehrere Institutionen. Ein
Testballon für moderne Netzwerk-Institutionen sind die 4 Regionalen Netzstellen Nach-
haltigkeitsstrategie (RENN). Völlig freie Institutionen sind auf Grund von privatem En-
gagement entstanden, wie zum Beispiel der Deutsche Nachhaltigkeitspreis.
Die Bundesregierung stellt die Funktionalität der politischen Institutionen im Rahmen
der nachhaltigen Entwicklung in einer stattlichen Übersicht dar. Teils wird sie als hilf-
reich, teils als überkonstruiert wahrgenommen. Die Übersicht besagt ganz einfach,
dass Nachhaltigkeit alle angeht und dass sich alle normalen Einrichtungen der Spit-
zenpolitik auch um Nachhaltigkeitsziele kümmern. Als Gatekeeper wirken die beiden
Sonderinstitutionen, der Nachhaltigkeitsrat und der parlamentarische Beirat.
Das Netz von Impulsen und Beteiligungen erinnert an das Nahrungsnetz eines Ökosys-
tems. Im Mittelpunkt des Geschehens verwertet das Bundeskanzleramt diese Impulse.
Seine Position ähnelt der eines Endgliedes in der Nahrungskette, wie Haie und Wale
im Ozean. Wie deren Nahrungsnetz letztlich auf Plankton angewiesen ist, so beruht
die Nachhaltigkeitspolitik auf vielen kleinen Impulsen, Ergebnissen von Forschung
und auf dem Ehrenamt von vielen Menschen. Wie das Nachhaltigkeits-Plankton ent-
steht und wie man es mehrt, ist so wichtig, wie die Endstufe der Nahrungskette. Man
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 233

darf es nicht als gegeben hinnehmen. Dieses Plankton entsteht nicht aus Zielen, In-
dikatoren und Zuständigkeiten, sondern anhand von Narrativen, Emotionen, Sorge
und Pioniergeist, Vorbildern und Achtsamkeit. Welche Rolle Institutionen dabei spie-
len (können), ist eine offene Frage.

Die Institutionen-Lücke
Der Rechtsstaat organisiert sich im Allgemeinen durch Institutionen der Gesetzge-
bung (Legislative), der Rechtsprechung (Judikative) und der exekutiven Tätigkeiten
(Gubernative, in Deutschland einschließlich der föderalen und kommunalen Einrich-
tungen). Erstmalig seit 2002 hat diese institutionelle Landschaft umfassende, quan-
tifizierte Ziele mit Legislatur-übergreifender Dauer.
Mittlerweile ist es politisch gelernt, dass Nachhaltigkeitsziele aufgestellt werden. Für
das Verfolgen der Ziele hat der politische Jargon das Codewort »Zuständigkeit« und
meint damit, dass Ziele und institutionelle Kapazitäten zusammengehören. Automa-
tisiert ist der Zusammenhang allerdings noch nicht. So kann es passieren, dass das
Ziel »klimaneutral bis xy« zwar ubiquitär ist und weit in die private Wirtschaft reicht,
ohne dass Details zur Zählweise festgelegt sind, ohne Qualitätssicherung und ohne
»Zuständigkeit«.
Institutionen sind auch Parteien, Vereine oder Verbände, NGOs, öffentlich-rechtliche
Medien und Forschungseinrichtungen. Unternehmen in öffentlichem Besitz und Stadt-
werke sind ein Zwitter. Institutionsgleiche Vereinbarungen sind auch die mentalen In-
frastrukturen wie die politische Kultur, das Konsensprinzip, die Streitkultur, die inter-
generative Erinnerungskultur.
Dass hierbei überall mehr Nachhaltigkeit nötig wäre, ist bis in höchste Ämter demokra-
tischer Staaten unbestritten. Das »Wie« bleibt indessen (mitunter wohl auch: gezielt)
unklar. Die dem Anthropozän angemessene Institutionalisierung von Pflichten, Risi-
ken und Prozessen steht noch aus. Vielfach fehlen solche Zuschnitte von Institutio-
nen. Ihr Fehlen fällt nicht besonders auf. Das muss, dank SDG 16, aber nicht so blei-
ben. 3 Beispiele:

1. Klimakompensation: Der Markt für freiwillige Kompensationsmaßnahmen


versagt, während eine glaubwürdige und effektive Kompensation mit
dem globalen Süden nötiger denn je ist. Die Politik ist gefragt, den Markt zu
ordnen. Sie müsste dafür einen Treuhand-Mechanismus Klima schaffen,
der Unternehmen und Kommunen solche Klima-Zertifikate zur Verfügung
stellt, die auf Qualität geprüft sind.
2. Gemeinschaft: Nachhaltigkeit erfordert gemeinschaftliches Handeln und
­Kooperation, aber hier fehlt die institutionelle Konsequenz auf allen Ebenen.
Eine staatliche Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern zur grünen
­Infrastruktur und zur nachhaltigen Beschaffung müsste den notwendigen
institutionellen Rahmen setzen.
3. Kultur: Das Rollenfach, das der Kulturpolitik im Rahmen von SDG 16 zukommt,
ist weitgehend unbesetzt. Es wird Zeit für eine BioMenta als neue Form der
­documenta, die den Trilog zwischen Mensch, Technik und Natur künstlerisch
­institutionalisiert.
16
SDG 16 meint zwar nur die Institutionen des öffentlichen Raums, aber nichtsdestowe-
niger sind die analogen Fragen auch bei Konzernen aktuell, weil Nachhaltigkeit jetzt
234

für viele von ihnen verbindlich wird: Wird der CEO oder der CFO (Chief Financial Of-
ficer) zuständig oder wählt man eine andere Federführung? Soll die Zuständigkeit zen-
tral oder dezentral organisiert werden? Wie dynamisch muss die Transformation or-
ganisiert werden?
Dabei gilt es immer im Auge zu behalten, gegen was und wen es eigentlich geht. Wenn
irgendetwas in den letzten 30 Jahren dynamisch institutionalisiert wurde, dann die
Umweltzerstörung und die fürsorgliche Vernachlässigung von Milliarden junger und
alter Menschen. Korruption, Bestechung, Diebstahl und Steuerhinterziehung sowie
illegale Finanz- und Waffenströme erreichen Multi-Milliarden Höhe. Ganze Staats-
regierungen legalisieren das organisierte Verbrechen und sammeln obendrein von
harmlosen Geldgebern noch Entwicklungsetats für die Armen ein, während sie Atom-
bomben und Mega-Rüstung finanzieren. Demgegenüber sind Don Corleone und Al
Capone nicht mehr als ein schummrig beleuchteter Bolzplatz im Vergleich zur Cham-
pions League. Dennoch hilft das SDG 16. Man muss es als Steilvorlage für neues Den-
ken sehen und als Instrument zur Veränderung von Institutionen nutzen.
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 235

16
236

L’art pour l’art und


(Kultur)Verantwor-
tung — zwischen

Olaf Zimmermann
ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates
und Herausgeber von Politik & Kultur; er ist
Sprecher der Initiative kulturelle Integration,
Mitherausgeber von Zeitzeichen — Evangeli-
sche Kommentare zu Religion und Gesellschaft
sowie Vorsitzender des Stiftungsbeirats der
Kulturstiftung des Bundes.
Pflicht
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 237

»Demokratie braucht Inklusion« — unter dieser Überschrift hat der Beauftragte der
Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel,
seine Amtszeit in der 19. und 20. Legislaturperiode gestellt, und ich würde ergän-
zen »Nachhaltigkeit braucht Inklusion«. Die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN-Agenda
2030 umfassen alle Bereiche des Lebens, angefangen von der Bekämpfung von Ar-
mut (Ziel 1) über den Einsatz gegen Hunger (Ziel 2), über Gesundheit und Wohlerge-
hen (Ziel 3), Zugang zu Bildung (Ziel 4), Erreichen von Geschlechtergleichheit (Ziel 5),
Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen (Ziel 6), bezahlbarer und sauberer
Energie (Ziel 7), menschenwürdiger Arbeit und Wirtschaftswachstum (Ziel 8), Indus-
trie, Innovation und Infrastruktur (Ziel 9), weniger Ungleichheiten (Ziel 10), nachhalti-
gen Städten und Gemeinden (Ziel 11), nachhaltigem Konsum und Produktion (Ziel 12),
Maßnahmen zum Klimaschutz (Ziel 13), dem Leben unter Wasser (Ziel 14) sowie dem
Leben an Land (Ziel 15) zum Ziel 16 »Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen.
Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, al-
len Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschafts-
pflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen.« Abgeschlossen
wird die UN-Agenda 2030 mit Ziel 17, in dem es um Partnerschaften zur Erreichung
der Ziele geht.
Die Nachhaltigkeitsziele 16 und 17 sind jene, in denen es um die Operationalisierung
der in den vorherigen Zielen postulierten Grundsätze geht. Insbesondere Ziel 16 zielt
darauf ab, wie eine Gesellschaft beschaffen sein muss, die nachhaltig ist. Es ist eine
Gesellschaft, die im Frieden lebt, Gerechtigkeit verwirklicht und starke Institutionen
hat. Eine Gesellschaft, die die nachhaltige Entwicklung fördert, mithin den vorheri-
gen 15 Zielen verpflichtet ist. Nachhaltigkeitsziel 16 ist meines Erachtens eines der an-
spruchsvollsten Ziele der UN-Agenda 2030. Es ist ein Ziel, das wenig mit Glanz, dafür
sehr viel mit strategischer Planung und Pflicht1 zu tun hat.
Die wesentliche Aufgabe im Nachhaltigkeitsziel 16 besteht in meinen Augen darin, die zu-
vor genannten Ziele zusammenzuführen und -denken. Wissenschaft, Politik, Verwal-
tung, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen denken und arbeiten sehr oft in
Zuständigkeiten oder »Silos«. Die einen sind für Ökologie, die anderen für Bildung, die
nächsten für Geschlechtergerechtigkeit und die übernächsten für
1 Wie wichtig für mich der
Begriff »Pflicht« in der poli­ Kultur zuständig. Dieses »Silodenken« gilt es mit Blick auf die Um-
tischen Arbeit ist, habe ich im setzung der Nachhaltigkeitsziele zu überwinden. Vielmehr müssen
Buch »Mein kulturpolitisches die Verbindungen zwischen einzelnen Zielen geschaffen und ver-
Pflichtenheft« (Zimmermann
deutlicht werden, dass Nachhaltigkeit umfassend zu verstehen ist.
2023) dargelegt.
Das erfordert in vielen gesellschaftlichen Bereichen ein Umdenken,
denn nach wir vor assoziieren viele mit Nachhaltigkeit vor allem ökologische Nachhal-
tigkeit oder im Kulturbereich, die nachhaltige — sprich vor allem dauerhafte — Förde-
rung von Projekten und Institutionen. Ein solcher Nachhaltigkeitsbegriff greift zu kurz.
Ich will dies an einigen Beispielen verdeutlichen.

Behinderung
Die Mehrzahl der Menschen, die eine Behinderung haben, erwerben diese im Laufe
ihres Lebens. Fast 90 Prozent der schwerbehinderten Erwerbstätigen haben ihre Be-
hinderung im Laufe ihres Berufslebens erfahren. Dennoch konzentriert sich
die Diskussion um die Inklusion von Menschen mit Behinderung vor allem auf
jene Gruppe, die von Geburt an behindert sind. Das soll nicht heißen, diese Gruppe
16
zu vernachlässigen — im Gegenteil, es gilt hier die Teilhabe an Bildung so zu ermögli-
238

chen, dass möglichst eine Berufsausbildung und -tätigkeit an die Schullaufbahn an-
geschlossen werden kann. Es bedeutet aber ebenso, sich viel stärker mit jener großen
Gruppe auseinanderzusetzen, die ihre Behinderung im Laufe ihres Lebens erwirbt. Sie
müssen weiter im Arbeitsmarkt bleiben oder neu integriert werden.2 Bestehende Hilfs-
maßnahmen gilt es stärker bekannt zu machen und sie ggf. auszuweiten. Gerade im
Kulturbereich besteht noch viel Nachholbedarf. Menschen mit Behinderungen wurden
in den letzten Jahren zwar zunehmend als Publikum entdeckt, als Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter sind sie aber noch nicht so präsent, wie es von einer inklusiven Ge-
sellschaft zu erwarten ist. Durchgängig angekommen ist das Thema noch nicht, und
vor allem mangelt es an der beruflichen Integration von Menschen mit Beeinträchti-
gungen. Die Bundesagentur für Arbeit berichtet regelmäßig anhand der gesetzlichen
Vorgaben über die berufliche Integration von Schwerbehinderten. Der Anteil der Er-
werbstätigen mit Schwerbehinderung an der Gesamtbevölkerung beträgt 4,5 Prozent.
Die Initiative kulturelle Integration3 hat in einer Befragung von vom Bund geförderten
Kulturinstitutionen zur Diversität, die im Jahr 2021 erschienen ist,
2 Siehe hierzu auch mein
unter anderem auch danach gefragt, wie viele Mitarbeitende mit Beitrag »Kulturarbeit zwischen
Beeinträchtigungen in diesen Einrichtungen arbeiten. Im Durch- Traumjob und Prekariat« in
schnitt beschäftigten die vom Bund geförderten Kulturinstitutio- diesem Band.
nen 4 Prozent Mitarbeitende mit Behinderungen. Damit erreichen 3 Die Initiative kulturelle

sie fast den oben genannten Durchschnittswert der schwerbehin- Integration wurde auf Initiative
derten Berufstätigen. Die Werte unterscheiden sich allerdings je des Deutschen Kulturrates,
des Bundesministeriums des
nach Größe der Kulturinstitutionen beträchtlich. Während Kultur- Innern, des Bundesministe-
institutionen mit einem kleineren Mitarbeiterstab oft keine Behin- riums für Arbeit und Soziales,
derten beschäftigten, liegt der Wert bei den größeren Kulturein- der Kulturstaatsministerin
und der Integrationsbeauf-
richtungen mit mehr als 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit tragten im Jahr 2016 ins Leben
6 bis 10 Prozent über dem Durchschnittswert, was sehr positiv ist. gerufen. Ihr gehören 28 Insti­
Von den befragten Kulturinstitutionen haben 27 Prozent einen Be- tutionen und Organisationen
hindertenbeauftragten. Darüber hinaus haben 47 Prozent angege- aus verschiedenen gesell­
schaftlichen Bereichen an.
ben, dass sie eine ungleiche Verteilung mit Blick auf die Diversität
4 United Nations High
von Menschen mit Behinderungen in der Mitarbeiterschaft sehen
Commissioner for Refugees
(Priller, Schrader, Schulz 2021). Hier besteht offenbar ein Bewusst- (2022): Mid-Year Trends 2022
sein dafür, dass noch Luft nach oben ist. Eine nachhaltige Gesell- ↘ t1p.de/2p0xg
schaft wird der Inklusion von Menschen mit Behinderungen mehr
Aufmerksamkeit schenken müssen.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Arbeitskräfte


Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) weist im Halbjahresbericht 20224 103 Millionen
weltweit gewaltsam vertriebene Menschen aus. Verglichen mit dem Jahresendstand
2021 bedeutet diese Zahl einen Anstieg um 13,6 Millionen Menschen, die sich auf der
Flucht befinden, Asyl suchen, Binnenvertriebene oder anderweitig schutzbedürftig
sind. Die Zahl der gewaltsam Vertriebenen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen.
Grund sind Kriege, Bürgerkriege, aber auch mangelnde Perspektiven und die Flucht
vor Auswirkungen der Klimakrise. Wenn es der Weltgemeinschaft nicht gelingt, die
Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, steht zu befürchten, dass Flucht und Vertreibung
weiter zunehmen werden. Neben der traumatischen Situation für die aktuell von Flucht
und Vertreibung Betroffenen sind die Folgen für die nachwachsende Generation dra-
matisch. Es bedeutet, dass Kinder und Jugendliche wenig Chancen auf ausreichende
Ernährung, Unterkunft, Schulbildung und damit Perspektiven für ihre Zukunft haben.
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 239

Deutschland gehörte laut UNHCR im Jahr 2021 zu den 5 größten Aufnahmeländern


für Flüchtlinge. Nur die Türkei und Kolumbien haben mehr Flüchtlinge aufgenommen.
Auf Deutschland folgen Pakistan und Uganda.5 Kolumbien liegt nach Syrien an zwei-
ter Stelle der Länder, die die höchste Zahl an Binnenflüchtlingen aufweisen. Die meis-
ten Flüchtlinge weltweit stammen aus Syrien (6,8 Millionen), Venezuela (5,6 Millionen),
Ukraine (5,4 Millionen), Afghanistan (2,8 Millionen) und dem Sudan (2,4 Millionen).
Unter den 5 Ländern, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen, ist Deutschland eine ge-
festigte Demokratie, die zu den weltweit führenden Industrienationen zählt. Deutsch-
land hat — trotz mancher Probleme im Einzelnen — die Ankunft
5 Die Türkei hat 3,7 Millionen
Flüchtlinge aufgenommen, einer großen Anzahl von Flüchtlingen in den Jahren 2015 und ins-
Kolumbien 2,5 Millionen, Deut- besondere 2016, insbesondere aus Syrien, sehr gut gemeistert.
schland 2,2 Millionen, Pakistan Auch wenn der Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise holprig
und Uganda je 1,5 Millionen.
war, ist das Diktum der damaligen Bundeskanzlerin Angela Mer-
6 Initiative kulturelle Integ­ kel »Wir schaffen das« eingetreten. Es wurde geschafft dank der
ration (2017): Zusammen-
Mitwirkung vieler, insbesondere der Kommunen, der Religions-
halt in Vielfalt. These 7, Berlin
↘ t1p.de/4g0k7 gemeinschaften, den Schulen, aber auch vieler Vereine und bür-
gerschaftlich Engagierter vor Ort. Gerade dieses breit gefächer-
te, bürgerschaftliche Engagement von der Hausaufgabenhilfe, der Unterstützung bei
Behördengängen, beim Sport, in der Kultur usw. beweist die große Solidarität der
Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger.
Dies ließ in breiten Kreisen der Gesellschaft die Gewissheit wachsen, dass Deutschland
ein Einwanderungsland ist und dies auch selbstbewusst vertreten kann. Die in der In-
itiative kulturelle Integration zusammengeschlossenen 28 Organisationen formulier-
ten hierzu bereits 2017 als These 7 »Einwanderung und Integration gehören zu unse-
rer Gesellschaft« der 15 Thesen »Zusammenhalt in Vielfalt«.6 Zugleich ist Deutschland,
wie andere Industrienationen auch, dringend auf Einwanderung angewiesen. Unser
Land steht in Konkurrenz zu anderen Ländern um die besten Talente. Diese werden
aber nur dann nach Deutschland kommen, wenn sie hier Chancen und Entwicklungs-
möglichkeiten für sich und ihre Familien sehen.
Eine inklusive Gesellschaft ist nur dann nachhaltig, wenn sie die Ankommenden integ-
riert. Das gilt für Asylsuchende und Flüchtlinge ebenso wie für Arbeitskräfte, die im
Ausland angeworben werden sollen. Es kommen Menschen in unser Land. Nachhal-
tigkeitsziel 16 bedeutet überdies, nicht nachzulassen mit den Bemühungen, Frieden
in der Welt zu stiften, und mit der Beendigung von Kriegen eine der wesentlichen Ur-
sachen für Flucht und Vertreibung einzudämmen. Das heißt auch, die Gesprächsfä-
den zu »Unrechtsstaaten«, auch wenn es schwerfällt, nicht abreißen zu lassen.

Demografische Veränderung
Bereits seit vielen Jahren verändert sich die demografische Zusammensetzung in
Deutschland. Der Anteil der jungen Menschen an der Gesamtbevölkerung nimmt ab,
und dafür wächst der Anteil der Älteren. Die »Boomer«, also die geburtenstarken Jahr-
gänge in Deutschland zwischen 1955 und 1964, sind die ausgemachte Problemgruppe.
Als Kinder schon waren sie zu viele, die Schulklassen und Hochschulen waren überfüllt,
Ausbildungsplätze Mangelware. Als sie auf den Arbeitsmarkt drängten, war der Stel-
lenmarkt leer gefegt. Bei vielen »Boomern«, und ich will mich da nicht ausneh-
men, hat sich eine Ellenbogenmentalität festgesetzt. Sie wurden notgedrun-
gen zu Kämpfern, zum Ersten, weil sie in der großen Masse von Mitboomern sichtbar
16
sein wollten, und zum Zweiten, weil sie ihren Platz im Berufsleben nur fanden, wenn
240

sie sich gegen die vielen Mitbewerber durchsetzten.7 Jetzt droht die nächste Gefahr
durch die »Boomer«, ihr Renteneintritt. Die Erzählung lautet, dass die »Boomer« den
Jungen den Wohlstand rauben, weil sie, die Jungen, die Rente der 7 Siehe hierzu mein Beitrag
»Boomer« zahlen müssen. Vergessen wird dabei, dass das Renten- »#OKBoomer« vom
system auf einem Generationenvertrag beruht und auch die »Boo- 31.08.2022 ↘ t1p.de/ydvkc
mer« ihren Beitrag durch Zahlung in die Rentenversicherung ge-
leistet haben.
Doch abseits von Polemik oder Larmoyanz verändert sich eine Gesellschaft, wenn ein
erheblicher Teil eher zurückblickt als nach vorne, weil ihre Lebenszeit sich dem Ende
zuneigt. Selbstverständlich wird es Auswirkungen haben, wenn ein großer Teil der
Gesellschaft Unterstützung benötigt oder einfach häufiger das Gesundheitssystem
in Anspruch nehmen muss, als es bei jungen Menschen der Fall ist.
Ich bin dennoch fest davon überzeugt, dass eine inklusive, nachhaltige Gesellschaft sich
auch daran messen lassen muss, wie die verschiedenen Generationen zusammenle-
ben. Dazu gehört ohne Zweifel, auch im fortgeschrittenen Alter den eigenen Lebens-
stil infrage zu stellen.

Demokratie
Demokratische Gesellschaften leben von Auseinandersetzungen, vom Streit um den
besten Weg, vom Aushalten von Meinungen, die nicht der eigenen entsprechen. De-
mokratie ist eine anstrengende Staatsform, weil sie immer wieder verlangt, dass Mehr-
heiten sich bilden und zugleich die Rechte von Minderheiten respektiert werden.
Zur Demokratie gehört, dass alle Menschen Zugang zu demokratischen Entscheidungs-
prozessen haben, dass sie mitreden, mitbestimmen können, dass eine Gesellschaft
inklusiv ist und niemanden ausgrenzt, sondern vielmehr die gesamte Gemeinschaft
in den Blick nimmt. Demokratie braucht auch starke staatliche und zivilgesellschaft-
liche Institutionen, die wie in Nachhaltigkeitsziel 16 gefordert, rechenschaftspflich-
tig und inklusiv sein müssen.

Kulturverantwortung
L’art pour l’art gilt in der Kunst, nicht aber die gesellschaftliche Verantwortung von
Künstlerinnen und Künstlern, nicht für Kulturmanagerinnen und -manager und vie-
len anderen Kulturschaffenden. Wir alle stehen gemeinsam in der Pflicht, eine nach-
haltige und inklusive Gesellschaft zu befördern.
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 241

Literatur

Priller, Eckhard; Schrader, Malte;


Schulz, Gabriele; et al. (2021): Bericht
zur Diversität in Kultur­institutionen —
eine Analyse in bundesgeförderten Ein-
richtungen. In: Diversität in Kulturins-
titutionen 2018—2020. Herausgegeben
von Olaf Zimmermann für die Initiative
kulturelle Integration, Berlin, S. 18—101 16
Zimmermann, Olaf (2023): Mein
kulturpolitisches Pflichtenheft. Berlin
242

und Nachhaltigkeit
Kulturelle Vielfalt

Prof. Christian Höppner


ist Präsident des Deutschen Kulturrates;
er ist Cellist und Dirigent sowie Hoch-
schullehrer für Cello an der Universität der
Künste Berlin; er ist Generalsekretär des
Deutschen Musikrates, Mitglied im Rund-
funkrat der Deutschen Welle und Mitglied
der Deutschen UNESCO-Kommission.
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 243

Als im Jahr 2005 die »UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der
Vielfalt kultureller Ausdrucksformen« (kurz Konvention Kulturelle Vielfalt) in Paris ver-
abschiedet wurde, wurde ein Meilenstein internationaler Kulturpolitik erreicht. Die
Konvention Kulturelle Vielfalt war innerhalb eines kurzen Zeitraums erarbeitet worden.
Erst 2003 hatte die UNESCO-Vollversammlung einer Expertinnen- und Expertengrup-
pe unter Federführung der deutschen Völkerrechtlerin Sabine von Schorlemmer den
Auftrag erteilt, eine Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt zu erarbeiten. Hin-
tergrund war die angestrebte weitere Liberalisierung des Handels mit Dienstleistun-
gen und Gütern im Rahmen des GATS (Allgemeines Abkommen über den Handel mit
Dienstleistungen). Viele Akteure des Kulturbereiches befürchteten, dass die öffentli-
che Kulturförderung eingeschränkt, die indirekte Kulturförderung wie die Buchpreis-
bindung infrage gestellt oder aber ausländische private Kulturunternehmen Anspruch
auf öffentliche Kulturförderung in Deutschland erheben könnten. Insbesondere hin-
sichtlich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bestand die Sorge, dass er in seinen
Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt werden könnte. Beabsichtigt war eigent-
lich, ein Instrument zu schaffen, dass die gleiche Wirkkraft wie Handelsabkommen
entfalten kann. Diese Zielrichtung musste bereits während des Erarbeitungsprozes-
ses aufgegeben werden.
Dennoch ist die 2005 verabschiedete und im Jahr 2007 in Kraft gesetzte Konvention
Kulturelle Vielfalt im kulturpolitischen Kontext von hoher Bedeutung. Allein die Rati-
fikationsgeschwindigkeit von 2 Jahren war enorm. Sowohl die Europäische Union als
auch die Bundesrepublik haben die Konvention Kulturelle Vielfalt ratifiziert. Woraus
folgt, dass sie sowohl mit Blick auf die Handelspolitik als auch die
1 Nach dem Amtsantritt
von Donald Trump als Präsident Kulturpolitik an die Grundsätze der Konvention Kulturelle Vielfalt
der Vereinigten Staaten von gebunden sind. Besonders wichtig war diese Bindung bei den Ver-
Amerika wurden die Verhand­ handlungen um das Handels- und Dienstleistungsabkommen TTIP
lungen von Seiten der EU-
zwischen der EU-Kommission und den USA in den Jahren 2013 bis
Kommission auf Eis gelegt und
bislang nicht wieder aufge- 2016.1 Verhandlungsführerin für die EU-Mitgliedsstaaten ist wie
griffen. bei allen internationalen Handelsabkommen die EU-Kommission.
2 Übereinkommen über Erst der massive Druck, insbesondere von Seiten des Deutschen
den Schutz und die Förderung Kulturrates und seiner Mitglieder, führte dazu, dass die damalige
der Vielfalt kultureller Aus- Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD gegenüber der EU-Kom-
drucksformen. ↘ t1p.de/qke3e
mission rote Linie bei den Verhandlungen erreichte, um die kultu-
relle Vielfalt zu schützen.
Eine der Kernaussagen der Konvention Kulturelle Vielfalt ist der Doppelcharakter von
Kultur oder wie es in der Konvention Kulturelle Vielfalt heißt: »dass kulturelle Aktivitä-
ten, Güter und Dienstleistungen sowohl eine wirtschaftliche als auch eine kulturelle
Natur haben, da sie Träger von Identitäten, Werten und Sinn sind, und daher nicht so
behandelt werden dürfen, als hätten sie nur einen kommerziellen Wert«.2

Der Konvention Kulturelle Vielfalt liegen 8 leitende Grundsätze zugrunde und zwar:

– Grundsatz der Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten


– Grundsatz der Souveränität



Grundsatz der gleichen Würde und der Achtung aller Kulturen
Grundsatz der internationalen Solidarität und Zusammenarbeit
Grundsatz der Komplementarität der wirtschaftlichen
16
und kulturellen Aspekte der Entwicklung
244

– Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung


– Grundsatz des gleichberechtigten Zugangs
– Grundsatz der Offenheit und Ausgewogenheit

Kulturelle Vielfalt im Inland


Mit Blick auf den Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung ist in der Konvention Kul-
turelle Vielfalt formuliert: »Die kulturelle Vielfalt stellt einen großen Reichtum für Ein-
zelpersonen und Gesellschaften dar. Der Schutz, die Förderung und der Erhalt der
kulturellen Vielfalt sind eine entscheidende Voraussetzung für nachhaltige Entwick-
lung zu Gunsten gegenwärtiger und künftiger Generationen.«3
Mit diesem Grundsatz wird eine Verbindung zu der 10 Jahre später verabschiedeten UN-
Agenda für nachhaltige Entwicklung geschlagen, und es wird bereits hier verdeutlicht,
dass kulturelle Vielfalt und nachhaltige Entwicklung Hand in Hand gehen. Daraus folgt
beispielsweise, dass hinsichtlich des Schutzes der kulturellen Vielfalt zumindest Vor-
sorge vor Naturkatastrophen getroffen werden muss, um das materielle Erbe zu erhal-
ten. Der Schutzgedanke der Konvention Kulturelle Vielfalt reicht allerdings noch weiter.
Er schließt das immaterielle Kulturerbe und die Kulturorte ein. Das bedeutet konkret,
dass Kulturorte und Kulturgüter vor Katastrophen so geschützt werden müssen, dass
sie keinen Schaden nehmen und ihre Entwicklung gesichert wird.
3 s. o.
Über den Katastrophenschutz hinaus gebietet die Konvention Kul-
turelle Vielfalt, dass Maßnahmen ergriffen werden, um die Viel- 4 Der Deutsche Museums-
bund widmet z. B. 2023 seine
falt von Kultur in Deutschland zu sichern. Die Corona-Pandemie Jahrestagung dem Thema
in den Jahren 2020 bis 2023 hat gezeigt, wie verletzlich die Kul- Klimaschutz in Museen und hat
tur ist. Dank diverser Unterstützungsprogramme der Länder und hierzu einen Leitfaden Klima-
des Bundes — hier ist besonders »Neustart Kultur« zu erwähnen — schutz im Museum veröffent-
licht. ↘ t1p.de/63vth
konnte die kulturelle Infrastruktur gesichert werden. Stipendi-
5 Die Deutsche Theater­
enprogramme für Künstlerinnen und Künstler sicherten die wirt- technische Gesellschaft stellt in
schaftliche Basis dieser am meisten vulnerablen Gruppe aus dem einem Green Book zusammen,
Kultursektor. wie Theater nachhaltig arbeiten
Zum Themenspektrum der Nachhaltigkeit gehören aber genauso die können und gibt zahlreiche
praxisnahe, technische Hinweise
Fragen, wie Kultureinrichtungen nachhaltig arbeiten können, wie für mehr Nachhaltigkeit im Be-
sie den Klimaschutz in ihre Arbeit selbstverständlich implemen- trieb. ↘ t1p.de/yiwrv
tieren4, wie die Gebäude den Anforderungen an Klimaschutz und 6 / 7 s. o.
sparsamen Energieverbrauch5 gerecht werden können und wie
die 17 Nachhaltigkeitsziele zu einem selbstverständlichen Arbeits-
instrument in den Kulturbetrieben werden. Zum Schutz und zur Förderung der Viel-
falt kultureller Ausdrucksformen gehört elementar, die Kulturorte klimafest zu ma-
chen, sie gegebenenfalls energetisch zu sanieren und insgesamt den Betrieb unter
Nachhaltigkeitsgesichtspunkten auf den Prüfstand zu stellen.

Kulturelle Vielfalt international


Vielfach unbeachtet in den Debatten um die Konvention kulturelle Vielfalt ist der
Grundsatz der internationalen Solidarität und Zusammenarbeit. Dort steht: »Die in-
ternationale Zusammenarbeit und Solidarität sollen darauf abzielen, alle Länder, ins-
besondere die Entwicklungsländer, in die Lage zu versetzen, ihre Mittel des kulturel-
len Ausdrucks auf lokaler, nationaler Ebene zu schaffen und zu stärken; dies umfasst
ihre Kulturwirtschaft, unabhängig davon, ob diese gerade entsteht oder bereits län-
ger besteht.«6
Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen 245

Diese entwicklungspolitische Komponente der Konvention Kulturelle Vielfalt wird mei-


nes Erachtens viel zu wenig beachtet. Viel zu sehr wird die Konvention Kulturelle Vielfalt
als Instrument gesehen, die bestehende — zumeist öffentlich unterstützte — kulturel-
le Infrastruktur im Inland zu sichern. Viel zu wenig wird beachtet, dass es darum geht,
die kulturelle Vielfalt weltweit zu schützen und die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen
zu fördern. Hierzu zählt unter anderem, den Zugang kulturwirtschaftlicher Akteure aus
dem globalen Süden zu den Kulturmärkten des Nordens zu verbessern. Ihnen Chan-
cen zu eröffnen, Kultur, das heißt insbesondere auch Kulturgüter und -dienstleistun-
gen zu exportieren. Handelsabkommen, die die Märkte abschotten, sind einem sol-
chen Austausch abträglich und verhindern geradezu die nachhaltige Entwicklung in
den Ländern des globalen Südens.
In der Konvention Kulturelle Vielfalt heißt es im Grundsatz der Offenheit und Ausgewo-
genheit: »Beschließen Staaten Maßnahmen, um die Vielfalt kultureller Ausdrucksfor-
men zu unterstützen, so sollen sie danach streben, in geeigneter Weise die Offenheit
gegenüber anderen Kulturen der Welt zu fördern und sicherzustellen, dass diese Maß-
nahmen im Einklang mit den durch dieses Übereinkommen verfolgten Zielen stehen.«7
Dieser Grundsatz unterstreicht, dass der Schutz der kulturellen Vielfalt in einem glo-
balen Kontext gesehen werden muss. Damit wird einmal mehr deutlich, dass die Kon-
vention Kulturelle Vielfalt wie auch UN-Agenda 2030 eine weltweite Bedeutung und
Dimension haben. Jeder Staat, jeder Akteur und letztlich auch jeder Einzelne ist ge-
fordert, seinen Beitrag zur Umsetzung dieser weltweit geltenden Vereinbarungen zu
leisten. Zugleich gilt es bei der Umsetzung darauf zu achten, dass diese nicht zu Las-
ten Dritter geschieht.
Dieses veränderte Denken, das über den eigenen Tellerrand hinausreicht, Expertise aus
anderen Disziplinen einbezieht, ist die wirkliche Herausforderung und Chance der
Konvention Kulturelle Vielfalt und der UN-Agenda 2030. Zusammen arbeiten, zusam-
men denken und zusammen handeln sollte die Umsetzungsdevise sein.

16
Partnerschaften
17 zur Erreichung
der Ziele

Umsetzungsmittel stärken
und die globale Partner-
schaft für nachhaltige Ent-
wicklung wiederbeleben
248

Süd, verringert werden?


zwischen den Ländern,
Wie kann Ungleichheit
insbesondere Nord-

Bernd Bornhorst
ist Mitglied der Geschäftsführung von
Misereor; er ist Vorstandsmitglied der
Katholischen Zentralstelle für Entwick-
lungshilfe, Mitglied in der Sachverständi-
gengruppe »Weltwirtschaft und Sozial-
ethik« der Deutschen Bischofskonferenz,
im Kuratorium des Bremer Solidaritäts-
preises und der Kommission »Justitia et
Pax«; von 2013 bis 2021 war er Vorsit-
zender des »Verband Entwicklungspolitik
und Humanitäre Hilfe deutscher Nicht­
regierungsorganisationen« (VENRO).
Partnerschaften zur Erreichung der Ziele 249

Das Jahr 2023 markiert die Halbzeit bei der Umsetzung der Agenda 2030 und ihrer
Ziele für Nachhaltige Entwicklung (SDGs). Im September soll der SDG-Gipfel der Ver-
einten Nationen in New York einen Aufbruch in eine neue Phase der beschleunigten
Umsetzung der Globalen Nachhaltigkeitsziele einläuten. Ein wesentlicher Teil der Um-
setzung bildet dabei das SDG 17 zu Globalen Partnerschaften für Nachhaltige Ent-
wicklung. Doch angesichts einer »Kaskade von Krisen« (UN-Generalsekretär António
Guterres) rückt die Verwirklichung der Agenda 2030 und ihrer Ziele für nachhaltige
Entwicklung für viele Staaten im Globalen Süden in noch weitere Ferne. Denn die Welt
befindet sich weiterhin in einer Art Dauerkrisenmodus. Die Auswirkungen der mehrfa-
chen Klima-, Energie-, Ernährungs- und Coronakrise treffen insbesondere die Armen
und Marginalisierten in den Partnerländern von Misereor besonders hart. Derzeit lei-
den 345 Millionen Menschen akut Hunger, bis zu 828 Millionen sind laut der UN-Welt-
ernährungsorganisation (FAO) von Ernährungsunsicherheit betroffen. Auch aufgrund
der durch den Krieg in der Ukraine gestiegenen Energiepreise haben Millionen armer
Menschen weltweit nicht genügend Energie für ein würdevolles und nachhaltiges Le-
ben zur Verfügung.

Dramatische Zunahme von Ungleichheit weltweit


Besonders schwer wiegt allerdings die dramatische Zunahme globaler Ungleichhei-
ten. Fast die Hälfte der Menschheit — 3,2 Milliarden Menschen — lebt in Armut, das
heißt von weniger als 5,50 US-Dollar am Tag. Auf der anderen Seite nimmt die Kon-
zentration von Reichtum und Vermögen in den Händen einer privilegierten Elite im-
mer weiter zu: In den letzten 10 Jahren haben die Milliardärinnen und Milliardäre ihr
Vermögen verdoppelt, und es ist damit sechsmal so schnell gewachsen wie das der
ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung zusammen.
Die multiplen Krisen haben auch die Schuldenlast im Globalen Süden weiter erhöht: 136
von 152 im Schuldenreport 2023 untersuchten Staaten im Globalen Süden sind kri-
tisch verschuldet, 40 von ihnen sehr kritisch. 90 Prozent der extrem armen Menschen
weltweit leben in kritisch oder sehr kritisch verschuldeten Ländern. Finanzielle Mittel,
die in den Schuldendienst fließen, stehen nicht zur Verfügung, um die immer weiter-
wachsende Armut, die Klimakrise und den fortschreitenden Hunger zu bekämpfen.
Laut einem Bericht der Vereinten Nationen zur Entwicklungsfinanzierung sind 2021
weltweit 77 Millionen Menschen zusätzlich in extreme Armut gefallen, und eine gan-
ze Reihe von Ländern konnte ihr Wohlstandsniveau von 2019 noch nicht wieder errei-
chen. Zudem lasten die weltweit steigenden Zinsen schwer auf den Staatshaushalten
der Länder des Globalen Südens und absorbieren knappe Ressourcen, die für nach-
haltige Entwicklung, die Überwindung von Armut und die Sicherung öffentlicher Gü-
ter fehlen. Die Zinswende ist gewissermaßen die Zeitenwende der Entwicklungsfinan-
zierung. Schließlich tragen Kapitalflucht und mangelnde Liquidität auf den globalen
Finanzmärkten dazu bei, dass Entwicklungsländer schwerer neue Finanzmittel für In-
vestitionen in einen nachhaltigen wirtschaftlichen Umbau und die sozialökologische
Transformation investieren können.
Auch unsere Art zu leben trägt zu mehr Ungleichheit bei. Nach wie vor leben wir im Glo-
balen Norden weit über unsere Verhältnisse und verbrauchen einen Großteil der glo-
balen Ressourcen. Ein weiterhin ungebremster Ressourcenkonsum trägt zur Verlet-
zung von Menschenrechten in der Landwirtschaft und im Bergbau und der Zerstörung
der Schöpfung weltweit bei. Papst Franziskus ruft uns angesichts dieser Not zu einer
ökologischen Umkehr auf, weil das bestehende Wirtschaftssystem bankrott
17
250

ist. Ihm geht es aber nicht um eine kleine Veränderung. Es geht um eine grundsätzli-
che Abkehr von bisherigen Modellen. Es ist jetzt an der Zeit, neue nachhaltige Wege
des Wirtschaftens einzuschlagen, die sich nicht an der Maximierung von Produktion,
Konsum und Gewinn orientieren, sondern am Weltgemeinwohl und der Bewahrung
der Schöpfung. Eine sozial und ökologisch gerechte Wirtschaftspolitik muss zum Ab-
bau sozialer Ungleichheiten beitragen, anstatt diese zu vertiefen, und gleichzeitig die
ökologischen Fragen, den Planeten und seine Grenzen, im Blick behalten.
Die Menschheit sieht sich derzeit einer Reihe schwerwiegender politischer, ökonomi-
scher und ökologischer Herausforderungen gegenüber. Misereor ist überzeugt, dass
ohne ein verantwortliches internationales Handeln und einen tiefgreifenden gesell-
schaftlichen Wandel diese nicht zu bestehen sein werden. Misereor betrachtet die
Herausforderungen des Klimawandels, der Welternährung, von Krieg und Gewalt und
die zunehmende Macht von Wirtschafts- und Finanzakteuren vor allem aus der Pers-
pektive der Armen und Rechtlosen heraus. Globale Lösungsansätze können nicht ein-
fach auf der Basis eines »Weiter so!« formuliert werden. Wandel oder Transformati-
on heißt aus Sicht der katholischen Soziallehre vor allem, die Menschenrechte für alle
Menschen weltweit zu achten und zu schützen. Dieser gesellschaftliche Wandel kann
mit dem Begriff des »Weltgemeinwohls« beschrieben werden. Papst Franziskus hat in
seiner Umwelt- und Gerechtigkeitsenzyklika »Laudato Si« klar gemacht, dass Freiheit,
Verantwortung und Teilhabe ungerecht verteilt sind. Franziskus fordert verbindliche
Schritte hin zu einer Transformation zu zukunftsfähigen Gesellschaften und den da-
mit verbundenen politischen Weichenstellungen — hin zu einer nachhaltigen und ge-
rechteren Gesellschaft und zu einem globalen solidarischen Miteinander.

Renaissance der nachhaltigen


Entwicklungsfinanzierung
Im Kampf gegen globale Ungleichheiten müssen wir aber auch die Umsetzung der
Agenda 2030 beschleunigen und mehr Mittel für die Finanzierung globaler Nachhal-
tigkeitspolitiken mobilisieren. Die Finanzierungslücke für die verbliebene Dekade der
SDGs wird noch weiter anwachsen, laut Schätzungen der OECD auf 4,2 Billionen US-
Dollar pro Jahr. Der ungedeckte Finanzierungsbedarf der SDGs im Globalen Süden
wurde bereits vor der Coronakrise vonseiten der UN auf 2,5 Billionen US-Dollar jähr-
lich geschätzt. Weltweit brauchen wir jetzt einen erneuerten globalen Konsens für
eine starke Entwicklungsfinanzierung. Denn in Zeiten hoher Zinsen gewinnt nicht nur
die einheimische Finanzierung nachhaltiger Entwicklung über gesteigerte Steuerein-
nahmen an Bedeutung, sondern auch die externe Finanzierung durch Zuschüsse aus
der öffentlichen Entwicklungsfinanzierung (ODA). Wir brauchen im Halbzeitjahr 2023
einen neuen globalen Konsens für die Finanzierung nachhaltiger Entwicklung und die
Erreichung der Agenda 2030.

Mehr internationale Steuergerechtigkeit


Eine progressive Steuerpolitik ist — national wie international — dabei eine der wich-
tigsten Stellschrauben, um Ungleichheit und Armut wirksam abzubauen. Politische
Entscheidungen der letzten Jahrzehnte haben zu massiven Steuerentlastungen von
Unternehmen und Vermögenden geführt, während Steuern und Abgaben für Bür-
gerinnen und Bürger kontinuierlich gestiegen sind. Die neoliberale Wirtschafts- und
Finanzpolitik ging davon aus, dass Wohlstandseffekte automatisch auch zu den är-
meren Bevölkerungsschichten durchsickern würden. Das Gegenteil war der Fall. Mitt-
Partnerschaften zur Erreichung der Ziele 251

lerweile räumt sogar der Internationale Währungsfonds ein, dass Steuersenkungen


für Reiche keine positiven Effekte für den Rest einer Gesellschaft haben. Und die
Weltbank geht davon aus, dass ohne konzertierte Maßnahmen zur Verringerung glo-
baler Ungleichheiten die SDGs bis 2030 nicht zu erreichen sein werden.
Vorrangig müssen jetzt Maßnahmen gegen die internationale Steuerhinterziehung und
den schädlichen Steuerwettbewerb zwischen Staaten vorangetrieben werden. Dazu
zählen global koordinierte Schritte zur Förderung von progressiven Steuersystemen
durch die Nutzung von Vermögens- und Erbschaftssteuern, gerechten Digitalsteuern,
wirksamen Mindestsätzen für Unternehmenssteuern, innovative steuerpolitische Inst-
rumente wie die Finanztransaktionssteuern und schließlich die Abschöpfung von Kri-
sengewinnen durch Finanztransaktionssteuern und andere Instrumente.
Berechnungen des Netzwerks Steuergerechtigkeit zufolge klafft alleine im deutschen
Steuersystem eine Gerechtigkeitslücke von mindestens 75 bis 100 Milliarden Euro
jährlich. Ein Vergleich zwischen 1998 und 2015 zeigt: Vor allem durch sinkende Steu-
ersätze für Unternehmensgewinne und hohe Einkommen auf der einen Seite und die
Finanzierung durch eine höhere Umsatzsteuer auf der anderen Seite ist das deutsche
Steuersystem um die Jahrtausendwende noch einmal deutlich ungerechter gewor-
den. Für die Trendwende zur Verringerung von Ungleichheit in Deutschland bedarf es
eines entschieden politischen Umsteuerns. Der Abbau ungerechter Steuerprivilegien
für Reiche und umweltschädlicher Steuervorteile muss ebenso wie der Kampf gegen
Steuerhinterziehung und Geldwäsche ins Zentrum einer fortschrittlichen gerechtig-
keitsorientierten Politik rücken. Das Fehlen einer Vision für eine sozial und ökologisch
gerechte Steuerreform ist derzeit eine der größten Leerstellen in der Politik der ge-
genwärtigen Bundesregierung.
Doch auch international bedarf es einer umfassenden Transformation der internationa-
len Steuer- und Finanzarchitektur, um ein weiteres Auseinanderdriften reicher und är-
merer Staaten zu vermeiden. Um die institutionellen Voraussetzungen für mehr Steu-
ergerechtigkeit global zu stärken, sollte die Bundesregierung sich für die Schaffung
einer internationalen Steuerorganisation und eine umfassende Konvention für die Zu-
sammenarbeit in der Steuerpolitik unter dem Dach der Vereinten Nationen einsetzen.
Dies würde die Vereinten Nationen befähigen, wirksame internationale Regeln gegen
Steuerflucht und schädlichen Steuerwettbewerb zugunsten von Entwicklungsländern
zu treffen. Konkret geht es um eine ausreichende Besteuerung grenzüberschreitender
Gewinne transnationaler Konzerne durch faire internationale Doppelbesteuerungs-
und Informationsabkommen, eine wirksame globale Mindestbesteuerung auch von
Digitalkonzernen, innovative steuerpolitische Instrumente, wie die Finanztransakti-
onssteuer oder Steuern auf den Verbrauch natürlicher Ressourcen, und die Stärkung
schlagkräftiger Steuerverwaltungen in Ländern des Globalen Südens.

Stärkung öffentlicher Haushalte im Globalen Süden


Im Gegensatz zu Steuern besteht die besondere Bedeutung der öffentlichen Entwick-
lungszusammenarbeit (ODA) darin, durch direkte Finanztransfers aus dem wohlha-
benderen Globalen Norden in den Globalen Süden unmittelbar für den Abbau von Un-
gleichheiten, die Überwindung von Armut und den Schutz öffentlicher Güter wirksam
zu werden. Deutschland hat zwar das international bestehende Ziel, mindestens 0,7
Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) für Entwicklungsfinanzierung zur Verfü-
gung zu stellen, in den letzten Jahren viermal erreicht. Faktisch ist dieser Wert als In-
dikator für die tatsächlichen Finanzzuschüsse für Länder im Globalen Süden
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aber nur begrenzt aussagekräftig, da neben Schuldenerlassen weiterhin Ausgaben für


Studierende aus Entwicklungsländern in Deutschland oder für Geflüchtete — auch
aus der Ukraine — im ersten Jahr ihres Aufenthalts die Entwicklungszusammenarbeit
aufblähen. Zudem droht in den kommenden Jahren ein dramatischer Einbruch der
deutschen Entwicklungsfinanzierung auf 0,66 Prozent des BNE oder weniger. Nach
Berechnungen des Verbands Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe (VENRO) muss
Deutschland in den kommenden Jahren dagegen rund 7 Milliarden Euro mehr für die
Entwicklungszusammenarbeit und die Humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen, um ei-
nen Strohfeuereffekt zu vermeiden und seinen internationalen Verpflichtungen aus der
Agenda 2030 auch langfristig nachzukommen.

Drückende Schuldenlast verschärft Ungleichheiten


Auch ein politischer Ausweg aus der Globalen Schuldenkrise ist 2023 dringender
denn je, um Ungleichheiten zu verringern. Die fällig werdenden Schuldendienstzah-
lungen an ausländische Gläubiger befinden sich auf dem höchsten Stand seit Ende
der 1990er Jahre. Besonders betroffen sind sehr kritisch verschuldete Staaten. In drei
Vierteln dieser Länder übersteigen die Schuldendienstverpflichtungen die Gesund-
heitsausgaben. Notwendig ist jetzt ein neuer Schuldenmanagementkonsens, der die
Staatshaushalte hochverschuldeter Länder rasch entlasten und so öffentliche Mittel
für die Finanzierung der SDGs und die Verringerung von Ungleichheit freisetzen kann.
Neben der Schaffung eines international längst überfälligen Staateninsolvenzverfah-
rens für hochverschuldete Staaten im Globalen Süden zählen dazu außerdem Schul-
denmoratorien und -erlasse für von den Folgen des Klimawandels besonders betroffe-
ne Staaten oder der Aufbau eines transparenten Schuldenregisters als Voraussetzung
für eine nachhaltige Schuldentragfähigkeit. Die Hauptverantwortung für die Lösung
der Schuldenkrise liegt dabei bei den G7- und EU-Staaten, da ein großer Teil der For-
derungen gegenüber hochverschuldeten Niedrig- und Mitteleinkommensländern von
privaten und multilateralen Gläubigern in ebendiesen Staaten gehalten werden.

Neuer Konsens im Kampf gegen globale Ungleichheit


Die kommenden Jahre sind entscheidend dafür, ob es der internationalen Staatenge-
meinschaft gelingen kann, einen Kurswechsel für einen neuen Konsens für die Über-
windung globaler Ungleichheit zu beschließen. Dazu muss der bevorstehende Gip-
felmarathon beitragen: Im September 2023 soll der zweite SDG-Gipfel der Vereinten
Nationen Maßnahmen zur Beschleunigung der SDG-Erreichung beschließen, im Sep-
tember 2024 dann der sogenannte »Zukunftsgipfel« die multilaterale Zusammenar-
beit zur Lösung globaler Krisen und die Verwirklichung der Agenda 2030 vorantreiben.
Der Schlüssel für die politische Lösung der gegenwärtigen Krise der Entwicklungs-
finanzierung — und damit der Test für den politischen Willen zur Überwindung der
globalen Ungleichheit — liegt aber bei der vierten internationalen Entwicklungsfinan-
zierungskonferenz im Jahr 2025. Denn dann kann die hier vorgeschlagene Reform-
agenda zur Mobilisierung zusätzlicher Mittel für nachhaltige Entwicklung und für eine
strukturpolitische Transformation der internationalen Finanzarchitektur für mehr Ge-
rechtigkeit und Teilhabe Realität werden. Den politischen Willen dazu vorausgesetzt.
Partnerschaften zur Erreichung der Ziele 253

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Ohne Kultur
keine Nachhaltigkeit
Herausgegeben von
Olaf Zimmermann und
Hubert Weiger

1. Auflage 2023
Redaktionsschluss: Mai 2023

Deutscher Kulturrat e. V.
Chausseestraße 10
10115 Berlin
post@kulturrat.de
kulturrat.de

Redaktion
Gabriele Schulz
Gefördert aus Mitteln der Beauf-
Gestaltung tragten der Bundesregierung für
4S, Berlin Kultur und Medien.

Illustration Die Deutsche Nationalbibliothek


Jan Stöwe, München verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie;
Schrift
detaillierte biblio­grafische Angaben
GT Walsheim
sind über dnb.de abrufbar.
Druck
Diese Buch wurde auf Recycling-
Offizin Scheufele, Stuttgart
papier gedruckt (Cradle to Cradle
Bindung Certified® Silver, FSC® Recycled,
Idupa Schübelin, Owen EU Ecolabel, Blauer Engel). Der
Einband besteht aus ungebleich-
Papier
tem Sulfatzellstoff und Altpapier
Enviro Nature, 115 g/m2
(FSC® Mix). Bei Format und Umfang
Twin Kraft, 300 g/m2
wurde auf möglichst w
­ enig Ver-
ISBN schnitt geachtet. Die Produktion
978-3-947308-40-8 erfolgte in Deutschland.
Olaf Zimmermann
Zweiter Bildungsweg, anschließend Volontariat
zum Kunsthändler. Danach arbeitete er als Kunst-
händler und als Geschäftsführer verschiedener
Galerien. 1987 gründete er eine Galerie für zeitge-
nössische Kunst in Köln und Mönchengladbach.
Seit März 1997 ist Zimmermann Geschäftsführer
des Deutschen Kulturrates. Zudem ist er Heraus­
geber und Chefredakteur von Politik & Kultur, der
Zeitung des Deutschen Kulturrates und Publizist.
Er ist Vorsitzender des Beirates der Stiftung Digitale
Spielekultur und Vorsitzender des Stiftungsbei-
rates der Kulturstiftung des Bundes, Sprecher der
Initiative kulturelle Integration und Mitheraus-
geber von Zeitzeichen — Evangelische Kommen-
tare zu Religion und Gesellschaft.

Hubert Weiger
Studium der Forstwirtschaft, Promotion an der
Universität München. Seit 1994 Honorarprofessor
an der Universität Kassel, Gründungsmitglied
des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland
(BUND), von 1975 bis 2008 Mitglied des Wissen-
schaftlichen Beirats des BUND, von 2007 bis 2019
Vorsitzender des BUND, seither E
­ hrenvorsitzen-
der. Von 2013 bis 2022 Mitglied im Rat für Nach-
haltige Entwicklung der Bundesregierung, von Juni
2018 bis Februar 2019 Mitglied der Kommission
für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung
der Bundesregierung (Kohlekommission), seit
2019 Präsident der Deutschen Naturschutzaka-
demie auf der Burg Lenzen.
2015 hat die Weltgemeinschaft die Agenda 2030 für nach­-
haltige Entwicklung verabschiedet. In 17 Nachhaltigkeits­zielen
hat sie konkrete Zielvereinbarungen getroffen.
Wo stehen wir heute? Wie können die Nachhaltigkeitsziele
erreicht werden? Wie kann Armut und Hunger beendet werden?
Wie kann Gesundheit und Wohlergehen für alle gewährleistet
werden? Wie kann hochwertige ­Bildung für alle zugänglich
gemacht werden? Was ist zu tun für Geschlechtergleichheit?
Wie kann der Zugang zu Wasser, zu Sanitäreinrichtungen, zu
sauberer Energie ermöglicht werden? Wie können menschen­
würdige Arbeit und Wirtschaftswachstum Hand in Hand gehen
und Ungleichheiten entgegengewirkt werden? Wie werden
Städte nachhaltiger, was bedeutet nachhaltiger Konsum und
welche Maßnahmen müssen zum Klimaschutz ergriffen werden?
Wie kann der Schutz der Ozeane und der Landöko­systeme
gelingen? Mit diesen und weiteren Fragen befassen sich ausge-
wiesene Expertinnen und Experten aus Kultur, Umwelt- und
Naturschutz, Gewerkschaften, Wirtschaft und Wissenschaft
unter der Überschrift »Ohne Kultur keine Nachhaltigkeit«.

Das Buch kann


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PDF geladen werden. 978-3-947308-40-8

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