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Das neue Abenteuer 088

Gerhard Achterberg: Jeder kennt Pratton


Verlag Neues Leben, Berlin 1956

V 1.0 by Dumme Pute

Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/67/56)


Umschlagzeichnung: Fritz Ahlers, Prieros (Mark)
Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben
Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V15/30
Müde und abgespannt fuhr Kendall den Wagen in die
Garage. Es war ein heißer Sommertag. Drückende Gewit-
terschwüle lastete jetzt am Abend über Chikago. Kendall
schloß die Garage ab, überquerte den düsteren Hof und
war zu Hause. Er fühlte sich sehr müde. Kein Wunder, mit
fünfzig Jahren zählt man nicht mehr zu den Jüngsten! Und
es ist keine Kleinigkeit, einen heißen Hundstag lang in
dem brausenden Verkehr inmitten des Chikagoer Stein-
baukastens am Lenkrad zu sitzen.
Ein Brief lag im Kasten. Kendall warf ihn achtlos auf
den Tisch und ging in die Küche. "Der ewige Schreibkram
mit der Gewerkschaft", brummte er. "Die ehrenamtlichen
Posten sind die verantwortungsvollsten!"
Dennoch war er im Grunde stolz auf das Vertrauen sei-
ner Kollegen, die ihn zum Gewerkschafts- und Kassenbe-
vollmächtigten ihres Stadtbezirkes gewählt hatten. Natür-
lich, entscheidende Umwälzungen hatte er mit seinem
dauernden Kleinkrieg gegen die Lohndrückerei der Ver-
kehrsgesellschaften nicht herbeiführen können. Aber es
war doch jedesmal ein neuer Triumph, wenn bei diesem
oder jenem Unternehmerbetrieb eine weitere Herabset-
zung der Löhne verhindert werden konnte! Kendall erin-
nerte sich manch dankbaren Blicks seiner Berufskollegen.
Darum hatten sie ihn immer wieder gewählt, und schon
jahrelang verwaltete er gewissenhaft die Gelder der Ge-
werkschaftskasse.
Kendall wusch sich und verzehrte sein bescheidenes
Abendbrot. Danach blieb er noch eine Weile auf dem
Hocker in der Küche sitzen. Dies war so üblich bei ihm -
war gewöhnlich seine Feierabendstunde. Da konnte man
so gut über alles nachdenken. Unglaublich, was einem da
alles durch den Kopf ging .
Kendall lächelte wehmütig vor sich hin.
Er stammte aus Irland. Vor zwanzig Jahren war er mit
himmelwärts stürmenden Plänen in die Staaten gekom-
men. Damals war er noch eingesponnen gewesen von den
abenteuerlich-romantisch-verlogenen Erfolgsgeschichten,
die einem erzählten, daß man in Amerika sehr leicht und
schnell vom Tellerwäscher zum Dollarmillionär aufsteigen
könne. Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus .
Kendall zum Beispiel war froh, daß er nach vielem Auf
und Ab endlich als Schofför bei der Gewerkschaft blei-
bende Arbeit gefunden hatte.
Das war die Bilanz seines zwanzigjährigen Schaffens!
Und das auch nur mit Hilfe seiner Kollegen, die ihn in die
Gewerkschaft des internationalen Verbandes der Trade
Union Unity League [T. U. U. L. = Internationaler Arbei-
ter-Gewerkschaftsverband in den USA, der dem Weltge-
werkschaftsbund angeschlossen ist] gewählt hatten.
Gut! Mit all dem wollte Kendall zufrieden sein.
Schlimm war nur, daß das Schicksal ihn mit seiner
Tochter Mabel schwer prüfte. Mabel, seinem einzigen
Kind, das ihm nach dem Tode seiner Frau so viel bedeu-
tete. Mabel bereitete ihm Kummer und Sorge.
Eine dumme Geschichte mit dem Mädel!
Kendall wollte die unerfreulichen Gedanken darüber
vertreiben. Ihm fiel ein, daß er einen Brief bekommen
hatte. Er ging in die Stube und las das Schreiben:

Als Kassenbeauftragter für die Gewerkschaft der Taxi-


schofföre haben Sie bis morgen abend 3000 - in Worten:
dreitausend - Dollar bereitzuhalten. Sie werden das Geld
den Insassen des um 23 Uhr vor Ihrem Hause haltenden
Autos aushändigen. Weigerung oder Verständigung der
Polizei ist zwecklos.
PRATTON!

Das Schreiben war mit der Maschine getippt. Nur die


Unterschrift war mit Tinte geschrieben. Doch dieser Name
genügte, Kendall einen Schrecken einzujagen. Seine
Hand, die den Brief hielt, zitterte merklich. "Die Schufte,
diese Schufte!" stieß er in unterdrückter Erregung hervor.
Sein Gaumen war trocken, die Zunge klebte im Mund.
Fahrigen Schrittes eilte er in die Küche und trank hastig
ein Glas Wasser. Dann las er das Schreiben abermals,
starrte auf die Unterschrift.
PRATTON!
Stünde dieser Name nicht da, hätte man das Schreiben
einfach vernichten können. Doch "Pratton" war kein
bloßer Name. Pratton war ein Begriff, der Terror, Angst
und Schrecken auslöste!
Im umfangreichen Buch der amerikanischen Kriminal-
geschichte stand Pratton auf einem besonderen Blatt. Er
galt seit einem Jahr als der gefährlichste Bandenführer. Ja,
nach allem, was bisher über seine Untaten bekannt war,
konnte man an die unseligen Zeiten eines Al Capone und
an andere berüchtigte Bandenhäuptlinge erinnert werden.
Wenn man seine verbrecherische Tätigkeit in einem Di-
strikt befürchten mußte, forderten die öffentlichen Banken
und Kassen Polizeischutz an. In einigen Zeitungen wurde
Pratton sogar als "Staatsfeind Nr. l" angeprangert. Seine
Laufbahn hatte in New York begonnen. Dort hatte er die
Anhänger einer sogenannten "Racketer-Bande" [Bezeich-
nung für die in den USA in den zwanziger Jahren erstma-
lig aufgetretenen organisierten Verbrecherbanden] um sich
geschart. Diese typisch amerikanischen Verbrecherorgani-
sationen erpressen von den Geschäftsleuten aller Wirt-
schaftszweige Tribute. Weigert sich das Opfer, so lernt es
die Brutalität, Hinterlist und Tücke der unerbittlichen
Bande kennen. Es findet sich unversehens zerschlagen und
zerschunden, mit Knochenbrüchen auf dem Straßenpfla-
ster wieder, während gleichzeitig die Ladeneinrichtung
oder das Geschäft durch Rowdys demoliert wird. Das
schafft Respekt, schüchtert andere Widerspenstige ein und
macht sie weich und zahlungswillig. Handelt es sich um
einen standhaften Mann, so wird er kurzerhand beiseite
gebracht.
Eine solche Schreckensherrschaft hatte sich Pratton in
New York aufgebaut. Die Polizei führte gegen ihn einen
erfolglosen Kampff bis Robert Ellis den Feldzug gegen
den Verbrecher eröffnete. Von diesem Tag an war Prattons
Verbrecherhandwerk in New York erledigt. Ellis stöberte
die Gangsterbande in ihren Schlupfwinkeln auf, ver-
sprengte sie und machte reinen Tisch. Damals galt er als
ein populärer Mann in den Staaten und wurde als Held
gefeiert. Die Paramount-Filmgesellschaft wollte ihn sogar
für eine Serie von blutrünstigen Gangsterfilmen ver-
pflichten, denn Ellis war zweiunddreißig Jahre alt und
kein häßlicher Mann. Doch Ellis schlug aus seiner Popula-
rität kein Kapital. Er verblieb im Kriminaldienst. Nur
eines ärgerte ihn: Er hatte die Bande wohl vernichtet,
jedoch Pratton selbst nicht fassen können. Der war ihm
damals entwischt und bemühte sich nun, in Chikago einen
neuen Verbrecherring zu organisieren.
Kendall kannte die Geschichte um Pratton und Ellis aus
den Zeitungen. Er lachte grimmig auf, warf das Erpres-
sungsschreiben auf den Tisch und wanderte unruhig im
Zimmer auf und ab.
"Dieser Satan, jetzt will er noch die Gewerkschaften
aussaugen", murmelte er erregt im Selbstgespräch. "Sogar
die kümmerlichen Beitragsgroschen der Schofföre sind
ihm gut genug. Wie genau der Lump über unser Konto-
guthaben Bescheid weiß! Und gerade in der letzten Ver-
sammlung wurde noch beschlossen, Freddy Brown eine
Unterstützung zukommen zu lassen, damit er seinen Un-
fall ausheilen kann und seine Familie nicht zu hungern
braucht! - Aber der Gangsterboß hat sich geirrt! Nicht
einen Cent kriegt der Schuft! Ich müßte sonst ein Hund
sein, der seine Peitsche trägt!"
Kendall dachte nicht daran, ihm anvertraute Gewerk-
schaftsgelder aus Angst um sein Leben zu verausgaben.
Die Folgen seines Entschlusses überdachte er nicht ein-
mal. Sollte er vielleicht die Polizei verständigen? Was
hatte das für einen Sinn, da er jetzt doch sicher von Prat-
tons Komplicen auf Schritt und Tritt beobachtet wurde!
Sollte er die Gewerkschaftsleitung unterrichten?
Auf einmal unterbrach Kendall seine Wanderung. Sein
Blick fiel auf den Wandkalender. Er trat nahe heran. Fast
wehmütig blickte er auf den mit Rotstift angekreuzten
morgigen Tag.
"Mabel! Morgen hat sie es geschafft", flüsternd beweg-
ten sich seine Lippen. Gleich darauf wandte er sich der
Tür zu, denn er hörte Schritte über den Hof kommen. Als
es klopfte, stand er schon an der Tür. Die Möglichkeit, daß
die Erpresser ihm vielleicht schon jetzt einen Besuch
abstatten könnten, schüchterte ihn nicht ein. Im Gegenteil
- er brannte auf eine Auseinandersetzung mit diesem
Gesindel.
Kendall riß die Tür auf. Eine große breitschultrige Ge-
stalt stand am Eingang und lehnte sich lässig gegen den
Türrahmen. Der Mann hatte die rechte Hand in der Ho-
sentasche vergraben. Mit den Lippen schob er einen Ziga-
rettenstummel von einem Mundwinkel in den andern. Er
trug einen verbeulten Hut, der ihm tief im Nacken saß und
der jeden Augenblick nach hinten herunterzufallen drohte.
,,'n Abend, alte Seele", grüßte er. Unaufgefordert trat der
Mann in den Flur, während er unbekümmert weitersprach:
"Wollte dich mal besuchen, Kendall. Liegt doch kein
Grund vor, daß man sich entfremdet."
Kendall war auf das Zusammentreffen mit einem Drei-
groschenrowdy aus Prattons Bande gefaßt gewesen. Nun
stand Michael Morris vor ihm, dieser verhaßte Bursche,
der seine Tochter in unsaubere Geschäfte verwickelt und
sie ins Gefängnis gebracht hatte. Diesen Besuch hatte der
Alte am wenigsten erwartet. Sein Gesicht nahm einen
bedrohlichen Ausdruck an.
Morris trat in die Stube, warf seinen Hut auf den Tisch
und flegelte sich auf einen Stuhl, die Beine weit ausstrek-
kend. Morris war noch jung, kaum Mitte Zwanzig. Er sah
eigentlich nicht häßlich aus. Aber da war ein abstoßender
Zug um seinen Mund, der auf einen kaltblütigen Zynismus
schließen ließ. Sein betont kraftmeierisches Auftreten
stempelte ihn zu einem schlechterzogenen, rüpelhaften
jungen Mann.
Der Alte stand hochaufgerichtet vor ihm und sah ihn mit
blitzenden Augen an. "Du besitzt noch die Frechheit,
hierherzukommen?" stieß er hervor. Nur mit Mühe konnte
er seinen Groll unterdrücken.
"Laß doch endlich den alten Ärger!" wollte Morris ihn
beschwichtigen. "Gerade heut' war doch die letzte Gele-
genheit, uns wieder zu vertragen. Ich weiß, hab' viel an
Mabel gutzumachen. Aber wenn sie morgen rauskommt,
besorg' ich ihr einen Job, bei dem sie gut verdienen wird.
Schließlich waren wir ja so halbwegs verlobt!"
Es schien, als habe Kendall auf eine solche Äußerung
gewartet. Er war mit zwei Schritten bei Morris, packte ihn
mit beiden Händen an den Schultern und drückte ihn
gegen die Zimmerwand.
"Morris!" schrie er ihn an. "Ich bin alt, aber noch nicht
alt genug, um dir nicht alle Knochen im Leib kaputtzu-
schlagen, wenn du Mabel künftig nicht in Frieden lassen
solltest. Sie weiß nun selber, was für ein Schuft du bist. Ihr
sind die Augen geöffnet worden. Und das ist gut so. Du
hättest sie sonst noch durch den übelsten Dreck der Straße
geschleift! Mabel hat keine Lust, wegen deiner schmutzi-
gen Geschäfte womöglich noch einmal ins Gefängnis zu
wandern. Das ist vorbei. Glaube ja nicht, daß sie noch ein
dummes Mädel ist wie früher!"
Kendall schüttelte Morris ein paarmal.
Dann ließ er ihn wutschnaubend los, griff den Hut vom
Tisch und warf ihn dem Burschen an den Kopf. Brum-
mend und murrend ging der hinaus wie ein Raufbold, der
eine unerwartete Abfuhr erhalten hat.
"Mabel wird es noch bereuen", knurrte er halb drohend
auf dem Flur. "In nächster Zeit verdiene ich mehr Geld, als
ihr je zusammengebracht habt!"
"Dein Geld, das du verdienst, stinkt!" rief Kendall ihm
hinterher. Morris schlich über den Hof an der Garage
vorbei auf die Straße. Dort spuckte er aus und schob sich
einen Kaugummi in den Mund.
"Laß nur, du alter Knacker. Wirst wohl schon gemerkt
haben, daß du mit deiner blöden Gewerkschaft auf der
Berappungsliste stehst!" knurrte er im Weitergehen.
Es war ein düsterer Vormittag, als Mabel Kendall aus
dem Frauengefängnis entlassen wurde. Den Himmel be-
deckten schwarze Wolken. Jeden Augenblick konnte eine
Regenflut hereinbrechen. Das schwarzeiserne Tor der
Strafanstalt hatte sich kaum hinter der Entlassenen ge-
schlossen, als auch schon die ersten schweren Tropfen
fielen.
Mabel stand allein auf der Landstraße und sah zum
dunklen Himmel empor. Kein schönes Begrüßungswetter,
dachte sie. Es kam ihr in den Sinn, wie oft sie während der
Haftzeit diese Stunde herbeigesehnt und dabei immer die
Vorstellung gehabt hatte, ihr Entlassungstag könnte nur ein
herrlicher Sommersonnentag sein.
Mabel war ein junges und hübsches Mädchen. Sie hatte
ein schmales feines Gesicht, das zierlich, aber nicht pup-
penhaft wirkte. Es war jetzt ein wenig zu blaß, zu straff
und angespannt. Sie war groß und schlank, mit geraden
Beinen, und ihre Bewegungen ließen einen sportgewand-
ten Körper vermuten. Auch die niedliche Stupsnase und
der etwas wuschlige Lockenkopf paßten zu ihr. Besonders
reizvoll waren ihre großen blitzenden Augen.
Prasselnder Regen setzte ein. Mabel hätte das Unwetter
im Gefängnis abwarten können. Aber nein, lieber durch-
weichen! Nur frei sein, wenn auch nur Minuten früher!
Rüstig schritt sie der Stadt zu, während der Regen wol-
kenbruchartig niederrauschte.
Obwohl Mabel die Nässe auf dem Körper spürte, die
regentriefenden Haare ihr in die Stirn fielen und ihre
durchweichten Schuhe bei jedem Schritt einen quietschen-
den Laut hören ließen, fühlte sie sich seit langer Zeit
endlich wieder glücklich und froh.
Vater wird mir nichts nachtragenf nein, das wird er nicht.
Aber wo finde ich neue Arbeit? überlegte sie. Ich kann
Vater nicht allzulange auf der Tasche liegen, gerade jetzt
nicht, wo ich alles selbst verschuldet habe. Aber er wird
mir nicht böse sein. Er weiß ja, es war nur Dummheit, daß
ich mich mit Morris eingelassen habe.
Im Gehen richtete Mabel das Gesicht empor und setzte
es absichtlich dem Regen aus. Sie empfand es als gerecht
und wohlverdient, daß sie hier, vom rieselnden Regen
durchnäßt, die pfützige Landstraße entlangpilgern mußte.
Wie war das überhaupt alles gekommen?
Vor knapp einem Jahr hatte sie Michael Morris kennen-
gelernt und ihn dem Vater als einen "good friend"[guten
Freund] vorgestellt. So fing es an, und mit gemeinsamen
Kinobesuchen und Tanzbelustigungen ging es weiter.
Vater allerdings hatte von dem Umgang mit Morris abge-
raten. Er mochte ihn von Anfang an nicht leiden, weil
Morris sich um keine ordentliche Arbeit bemühte. Der
hatte immer "einen Job in petto", sprach stets von Ge-
schäft und Erfolg und gab sich überhaupt wie ein gerisse-
ner Geschäftsmann und gewiegter Rechner. Außerdem
hatte er nur ein Lächeln für die Arbeit der sich ehrlich
abrackernden Menschen übrig. Dabei besaß er immer
Geld. Das hatte ihr imponiertf denn zu Hause reichte es
gerade zum Leben. Sie mußte mitverdienen, hatte eine
Beschäftigung als Garderobenmädchen in einem Lokal.
Dort hatte sie übrigens Morris kennengelernt. Er brachte
ihr öfter kleine Pakete, harmlose Päckchen, und be-
auftragte sie, diese an bestimmte Gäste des Lokals auszu-
händigen.
Manches Trinkgeld verdiente sie sich dabei bis die Poli-
zei diesem Rauschgifthandel auf die Spur kam. Morris war
als Mittelsmann bei dieser krummen Sache tätig, in die
nun auch Mabel verstrickt wurde. Das war damals mit
ihrer Verhaftung eine große Aufregung für sie gewesen
und ein schwerer Schlag für ihren Vater. Bei der Verhand-
lung vor dem Schnellgericht stritt Morris alles ab, log sich
raffiniert und skrupellos heraus. Nur zwei Besucher des
Lokals wurden verurteilt, ebenso Mabel mit sechs Mona-
ten Gefängnis. Das sei noch die mildeste Strafe in dieser
Angelegenheit, wie man ihr gesagt hatte . Nun war alles
das vorbei. Ein neues Leben mit besseren Vorsätzen
konnte beginnen.
Das Wiedersehen und die Begrüßung mit ihrem Vater
verliefen so, wie Mabel es sich in Gedanken vorgestellt
hatte. Zuerst standen sie sich stumm gegenüber. Dann ging
sie zu ihm hin und legte ihren Arm auf seine Schulter. Der
Vater nickte und brummte, sah streng, gnädig, verbittert
und alles miteinander aus und hatte selbst genug mit sich
zu tun, um seine durch das Wiedersehen aufgekommene
rührselige Stimmung zu verbergen. Seine betont poltrige
Art verscheuchte das zuerst Beklemmende und Bedrük-
kende der Situation.
"Ich hab' dir immer gesagt, du solltest dem Lumpen
Morris den Laufpaß geben. Na ja, jetzt wird's wohl rei-
chen! Himmelherrgott, wie siehst du blaß aus! War wohl
die Zeit über sehr schlimm, nicht? Habt ihr wenigstens gut
zu essen gehabt? Ist ja Quatsch! Im Gefängnis - und gut
zu essen! Na, setz dich erst mal!"
So redete Kendall mit seiner zurückgekehrten Tochter.
Er wollte streng sein, konnte es jedoch nicht übers Herz
bringen. Sie saßen in der Stube und hatten sich zur Feier
des Tages Kuchen gegönnt. Kendall berichtete über das
Auftauchen von Morris. "Wenn dieser Strolch noch einmal
das Haus betritt, schlage ich ihm die Knochen entzwei!"
polterte er.
"Ach, Vater! An den denke ich nicht", sagte Mabel leise,
beschämt. "Es macht mir nur Sorge, woher ich nun wieder
Arbeit bekomme."
"Ja, damit ist es zur Zeit schlecht bestelltf aber fürs erste
kannst du mir den Haushalt machen."
Mabel räumte still das Geschirr in die Küche.
Für Kendall war heute ein Feiertag. Er hatte sich von der
Gewerkschaft beurlauben lassen, obwohl eigentlich eine
wichtige Sonderfahrt auf dem Terminkalender stand. Denn
da mußte unbedingt Klarheit im Lohnbüro bei den Fleisch-
werken geschaffen werden, damit die Fernfahrer endlich
ihre Nachtstunden bezahlt bekämen. Es könnte sonst sein,
daß diese hundsgemeine Lohndrückerei auf andere Betrie-
be übergreifen würde. Es war sowieso für alle Schofföre
schon schwer genug, sich trotz Arbeit und Verdienst über
Wasser zu halten. Die Gewerkschaft half, wo sie konnte.
Kendall selbst sorgte für die gerechte Verteilung von
lohnenden Sonderfahrten. Er wurde deswegen auch von
der anderen Transportgewerkschaft, die dem katholischen
Block seines Bezirkes angehörte, oftmals angefeindet und
seine gemeinnützige Handlungsweise als "kommunist-
isch" bezeichnet.
Kendall saß allein in der Stube. Er rauchte seine Pfeife
und las das Erpressungsschreiben Prattons zum wieder-
holten Male. Dreitausend Dollar Gewerkschaftsgelder also
wollte man aus ihm herausschinden! Kendall hatte keine
Gegenmaßnahmen getroffen, weder die Polizei noch die
Gewerkschaftsleitung verständigt. Was sollte er die Kolle-
gen da hineinziehen. Und die Polizei? Das war ja doch
zwecklos! Heute konnte sie ihn vielleicht beschützen.
Aber morgen schon würde Pratton, von Rachsucht getrie-
ben, erst recht sein brutales Gangstergesindel auf ihn
hetzen! Prattons Arbeitsweise war allzu bekannt und
gefürchtet. Jeden Dollar krampfte er zusammen, um die
Macht seiner Unterwelt aufzubauen und Geldmittel für
größere Jobs in die Hand zu bekommen. Das alles wußte
Kendall, las er täglich in den Zeitungen. Und er wußte
auch, daß Prattons Mittelsmänner heute keine dreitausend
Dollar von ihm bekommen würden! Das konnte er niemals
und unter keinen Umständen verantworten, das wäre eine
Versündigung an Arbeitergroschen! Er kannte alle Schof-
före seines Bezirkes und wußte, wie schwer es diesen oft
fiel, die Beiträge bei dem kärglichen Verdienst zu entrich-
ten. Und er kannte auch die stolze Befriedigung, wenn
diesem oder jenem in Zeiten der Not, des Unglücks oder
der Arbeitslosigkeit von der Gewerkschaft eine Unterstüt-
zung gewährt wurde. Nein - und abermals nein! Dreitau-
send Dollar ließen sich gerechter verteilen, als sie dem
Abschaum der Menschheit aus Feigheit in die Hand zu
drücken. Das war und blieb Kendalls Standpunkt!
Seine Tochter weihte er nicht ein. Warum sollte er Mabel
beunruhigen? Sie konnte ihm doch nicht helfen .
Langsam brach die Dämmerung herein. Ein Wagen fuhr
in den Hof. Der Schofför, der heute den zweiten Gewerk-
schaftswagen gefahren hatte, kam ins Haus und ließ vom
Alten sein Fahrtenbuch mit einem Prüfungsvermerk ver-
sehen.
"Hab' den Wagen in die Garage gefahrenf sie muß aber
noch abgeschlossen werden", sagte der Schofför.
"Schon gut, das mache ich selbst", antwortete Kendall
kurz. Er war heute nicht zum Reden aufgelegt.
Als sich der Schofför verabschiedet hatte, sah Kendall
auf die Uhr. Es fehlte noch eine halbe Stunde bis zur
angesetzten Zeit. Wie langsam die Minuten dahinkrochen!
Mabel hantierte in der Küche und klapperte mit Geschirr.
"Du kannst schlafen gehen, ich muß noch aufbleiben",
sagte Kendall zur offenstehenden Küchentür hin.
Mabel ging auf ihr Zimmer.
Der Alte schaltete das Licht aus. Er trat ans Fenster und
spähte über den dunklen Hof zur erleuchteten Einfahrt hin.
Unbeweglich stand er da und starrte hinaus. Insgeheim
gewahrte er, wie Unruhe und Erregung ihn befielen. Eben-
so langsam wie die Zeit verstrich beschlich ihn eine Art
Fiebrigkeit und Nervosität. Die Dunkelheit und Stille der
Nacht versuchten den Alten in seinem Entschluß einzu-
schüchtern, ihn wankend und furchtsam zu machen. In
allen bekannten Fällen war es für die Betreffenden nicht
gut ausgegangen, wenn sie sich dem Prattonterror wider-
setzt hatten. Es wurde auch gemunkelt, daß schon andere
Verbände und Gewerkschaften der Stadt dieser Mordbren-
nerbande tributpflichtig sein sollten. Doch Kendall pochte
auf seine Ehre, blieb hart und entschlossen. Nur diesem
Gesindel gegenüber nicht feige sein und schlappmachen!
Die Zimmeruhr schlug elfmal. Kendall erwachte aus sei-
ner Starrheit. Von weit her schallte das Motorengeräusch
eines Autos. An der erleuchteten Einfahrt sah Kendall
einen geschlossenen Wagen vorfahren und halten. Er
tappte im Dunkeln aus dem Haus und schritt, draußen ab-
sichtlich laut auftretend, über den Hof zur Einfahrt. Ein
paar Schatten bewegten sich im Innern des Wagens. Als
Kendall in den Lichtkreis trat, wurde ein Fenster des
Autos heruntergelassen.
"Komm näher, Kendall!" ertönte eine rauhe Befehls-
stimme. "Hast du das Geld mitgebracht?"
"Es lohnt nicht, näher zu kommen, Boys!" rief der Alte.
"Ihr kriegt von mir keinen Cent. Bestellt das eurem Boß!"
Pause und Schweigen. Die Stille wurde nur von dem
leise summenden Geräusch des leer laufenden Motors
unterbrochen. Dann vernahm Kendall einen unterdrückten
Fluch. Eine Hand mit einem Revolver fuhr durch das
Wagenfenster.
"Schießt doch, ihr feigen Hunde, schießt doch! Einen
wehrlosen Mann abzuknallen ist keine Heldentat!" rief er
laut und kreischend. Seine Stimme überschlug sich.
Doch es fiel kein Schuß. Dafür ruckte der Wagen an,
fuhr im Rückwärtsgang eine Kurve zur Hofeinfahrt und
bremste für einen Augenblick an der offenstehenden Ga-
ragentür. Gleichzeitig wurde aus dem Wageninnern ein
Gegenstand in die Garage geschleudert. Splitterndes Glas
klirrte. Der Wagen setzte sich sofort wieder in Bewegung,
fuhr dicht an Kendall vorbeif lenkte auf die Straße und
raste mit hoher Geschwindigkeit davon.
Aus dem Garageninnern ertönte plötzlich ein ohrenbe-
täubender Knall. Ein greller Feuerschein zuckte für Se-
kunden auf und erleuchtete blitzartig den Hofplatz. Eisen-
teile flogen durch die Luft und krachten gegen das Well-
blech der Garage. Eine Explosion von der Wirkung einer
krepierenden Handgranate war erfolgt. Kendall taumelte
gegen die Wand.
Innerhalb einer kurzen Zeit hatte sich eine neugierige
Menschenmenge auf dem Hof angesammelt. Gaffend,
fragend, gestikulierend stand sie herum, starrte in das
Garageninnere und bestaunte die Trümmer des durch die
Explosion vernichteten Gewerkschaftsautos. Fetzen des
Verdecks und Teile der gesprengten Karosserie lagen bis
in den Hof verstreut.
Kendall stand neben den Trümmern des ihm anvertrau-
ten Gewerkschaftsautos. Seine Gesichtsfarbe wurde ab-
wechselnd weiß und gelb. Vor lauter Wut und Aufregung
sah er nahezu beängstigend aus.
"Ausgerechnet der neueste, der beste Wagen, erst vor
einem Monat von der Gewerkschaft angeschafft", stam-
melte er vor sich hin.
Mabel, durch die Detonation aus dem Schlaf geschreckt,
stürzte, nur notdürftig bekleidet, aus dem Haus. Fas-
sungslos stand sie neben ihrem Vater. Sie konnte von all
dem Geschehenen nichts begreifen. Ihn zu fragen wagte
sie nicht.
Kendall kroch jetzt in der Garage umher, umschlich den
Trümmerhaufen des zerfetzten Autos. Schließlich kam er
wieder heraus und wollte die neugierigen Gaffer vom Hof
jagen.
Mabel hörte einige Wortbrocken aus der Menge:
"Sprengkörper ins Auto geschleudert! - Prattons Bande!
- Erpressung!" Das alles verwirrte und ängstigte sie nur
noch mehr.
Ein Polizist tauchte auf. Es war nicht leicht für ihn, den
Tatbestand zu ermitteln. Die unbeteiligten Gaffer taten
wichtiger als Kendall. Und der gab dem Polizisten eine
grobe Abfuhr. "Was hier los ist! Hahaha! Nichts Besonde-
res! Prattons Bande hat eine Bombe in unser Auto ge-
schmissen, der Rest vom Wagen liegt verstreut im Hof!
Kein Grund zur Aufregung - kommt alle Tage vor! Die
Polizei notiert den Fall und wälzt dicke Akten. Alle Ver-
brechen werden gewissenhaft in Statistiken erfaßt - nur
die Gangster nicht! Es ist eine Schande! Ja, eine Schan-
de!" rief der Alte. Sein Zorn über die Ohnmächtigkeit der
Polizei gegen die Prattonganster machte ihn unbeherrscht.
"Nur immer ruhig, wir haben auch unseren Ärger",
lenkte der Polizist beruhigend ein und zog sein Dienstbuch
hervor. "Wir können nicht wissen, daß Sie bedroht wer-
den, wenn Sie uns keine Anzeige erstatten. Das müssen
Sie doch einsehen, Mann!"
"Nennen Sie mir einen Fall, in dem Sie jemand vor
Prattons Halunken schützten!" donnerte Kendall wieder
los. Er nahm kein Blatt vor den Mund in seinen Schmä-
hungen gegen die Polizei, den Staat und über die Zustände
im allgemeinen. Mabel beruhigte ihren Vater, so gut sie es
vermochte. Endlich gab der Alte dem Polizisten doch ein
paar Hinweise, machte einige Angaben. Dann ging er wie
gleichgültig und unbeteiligt ins Haus zurück.
Mabel blieb bis zuletzt auf dem Hof. Als auch der Poli-
zist sich entfernt hatte, schloß sie das Garagentor. Sie
wollte ins Haus eilen, zuckte jedoch plötzlich zusammen
und blieb wie erstarrt stehen, als sich eine schattenhafte
Gestalt von der finsteren Wand loslöste und auf sie zukam.
"Mabel, ich bin's", raunte eine bekannte Stimme. Laut-
los schlich Michael Morris heran und hielt sie fest.
"Was willst du?" stieß sie atemlos hervor. "Wenn Vater
kommt und dich hier sieht, gibt es ein Unglück. Man hat
ihm heute etwas Furchtbares zugefügt!"
"Gerade darum bin ich gekommen", zischelte Morris.
"Ich weiß, dein Alter sollte Gewerkschaftsgelder heraus-
rücken. Der Starrkopf hat sich geweigert. Dabei sind es
doch nicht einmal seine eigenen Dollars! Das kommt
jedem teuer zu stehn! Mit Prattons Leuten kann man sol-
che Mätzchen nicht machen!"
Mabel verkrampfte ihre Hand in den Kragen des lose
übergeworfenen Mantels. "Verschwinde sofort! Was willst
du von mir? Du bringst nur Unglück über uns! Ich will mit
dir nichts mehr zu schaffen haben!"
"Ich will dir und deinem Vater helfen. Aber du mußt zu
mir halten. -
Ich habe auch Arbeit für dich. Eine verdienstreiche Sa-
che. Gleich morgen können wir anfangen."
"Ich will nichts mit dir zu tun haben!"
"Begreife doch: Dein Vater hat sich uns widersetzt! Man
wird ihn umlegen! Ich aber kann euch helfen, habe Ver-
bindung zu jenen Kreisen.
Aber bitte, wenn du keinen Wert darauf legst, daß dein
Vater leben bleibt ."
Mabel sah, wie Morris mit dem Daumen seiner zur Faust
geballten Hand eine eigenartige, kurze Abwärtsbewegung
machte, die das Furchtbare seiner Drohung nachdrücklich
unterstrich. Sie zitterte am ganzen Körper. Sollte das alles
schreckliche Wahrheit sein, was Morris da so kaltschnäu-
zig redete?
"Natürlich mußt du helfen!" beschwor sie ihn. "Es darf
Vater nichts geschehen. Du mußt alles tun ." Voller
Angst und Verzweiflung stammelte Mabel diese Worte.
Morris trat nahe zu ihr heran und faßte sie mit beiden
Händen um die Hüfte. Durch den dünnen Mantel spürte er
ihren bebenden Körper.
"Na also, warum nicht gleich so", flüsterte er, und seine
Mundwinkel zuckten verächtlich. "Ich werde für deinen
Alten ein gutes Wort einlegen. Wird schon in Ordnung
gehen. Aber paß gut auf: Morgen um zehn Uhr treffen wir
uns hier draußen an der Ecke. Wir machen ein Eis-
ladengeschäft auf. Und rede vor allem nicht mit deinem
Alten darüber. Der meckert sowieso immer dazwischen.
Klar?"
Mabel riß sich von Morris los und lief ins Haus. Sie zit-
terte, ihr Atem ging keuchend und stoßweise. Auf Zehen-
spitzen schlich sie über den Flur. Die Tür zur Stube stand
einen Spalt offen, ein Lichtschein fiel heraus. Mabel sah
ihren Vater am Tisch sitzen und apathisch vor sich hin
starren. Sein Gesicht wirkte wie zusammengeschrumpft.
Mabel wagte nicht mehr, zu ihm hineinzugehen. In ih-
rem Zimmer warf sie sich schluchzend auf das Bett und
vergrub ihren Kopf in das Kissen.

Colonel Randolph, Polizeichef des Chikagoer Hauptkri-


minalamtes, schritt unruhig in seinem Arbeitszimmer
umher. Die Inspektoren Kelling und Higgins, die zur
täglichen Berichterstattung erschienen waren, blickten
mißmutig drein. Sie machten den Eindruck von Männern,
die mit ihrer Arbeit nicht zufrieden sind. Ein schlimmer
Rapport heute . "So geht die Angelegenheit nicht wei-
ter", sagte Colonel Randolph und machte eine kurze ener-
gische Handbewegung. Er war ein kleiner untersetzter
Mann, ungemein beweglich und sehr redegewandt. "Also,
so geht es nicht weiter. Prattons Schandtaten häufen sich
mit jedem Tag. Unsere Polizeibehörde verliert die Ach-
tung bei der Bevölkerung. Wir müssen endlich zu einem
Erfolg kommen, wenn sich die Sache nicht zu einem
Skandal auswachsen soll!"
Die beiden Inspektoren tauschten einen scheuen Blick
miteinander aus.
Kelling ergriff das Wort: "Wir versuchen alles. Nichts
wird unterlassen oder vergessen. Unsere Männer vom
Fahndungsdienst und vom Überfallkommando sind Tag
und Nacht auf den Beinenf sie bekommen kaum genügend
Schlaf. Eine Razzia jagt die andere. Systematisch werden
die verdächtigen Stadtteile durchstöbert. Die Bevölkerung
ist zur Mitarbeit aufgerufen. Fünftausend Dollar Beloh-
nung sind für die Ergreifung Prattons ausgesetzt. Unzähli-
ge Gerüchte und Hinweise, die uns von der Bevölkerung
herangetragen werden, müssen nachgeprüft werden. Wir
tun alles, was in unseren Kräften steht."
Colonel Randolph unterbrach seine Zimmerwanderung,
blieb vor dem Schreibtisch stehen und klopfte mit den
Fingerknöcheln auf die Tischplatte. "Aber was nützt das
alles, wo bleibt das Resultat? Ein Mörder und Erpresser
lebt mit seiner Bande frei inmitten unserer Millionenstadt!
Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind auf der Straße kennt
den Gesuchten. Überall hängt sein Steckbrief aus - eine
große Belohnung lockt! Und dennoch sollte er nicht auf-
zuspüren und festzunehmen sein?"
Während Randolph sich mit dem Taschentuch die Stirn
abtupfte, wagte Inspektor Higgins einzuwenden: "Es ist
tatsächlich leichter, einen unbekannten Mörder durch
Kombinationen, Fingerabdrücke und überlegte Schlußfol-
gerungen zu überführen. Man kann hierbei die Ver-
brecheralben durchsuchen, die Sammlung der Fingerab-
drücke zu Hilfe nehmen und sich womöglich noch mit
praktizierenden Psychiatern [Facharzt für Geistes- und
Gemütskrankheiten] und Graphologen [Handschriften-
kundiger] in Verbindung setzen und in neunundneunzig
von hundert Fällen den Täter ausfindig machen. Dies alles
ist bei Pratton überflüssig." "Wir reden und kommen nicht
weiter", sagte Colonel Randolph unwirsch. Er sah auf
seine dickprotzige Armbanduhr. "In zehn Minuten wird
Mr. Ellis hier sein. Er wurde uns vom Hauptkriminalamt
New York in besonderer Mission zugeteilt. Natürlich
bezieht sich diese besondere Mission einzig und allein auf
den Fall Pratton. Warten wir also Mr. Ellis' Erscheinen ab.
Mir wurde mitgeteilt, daß er bei all seiner Tüchtigkeit als
Kriminalist auf dem Gebiete der Gangsterbekämpfung ein
sehr eigenwilliger Charakter sein soll. Dennoch wollen wir
um eine gute Zusammenarbeit mit ihm bemüht sein."
Randolph hatte kaum ausgesprochen, als es schon an der
Tür klopfte und Ellis ins Zimmer trat. Er war ein stattli-
cher Mann. Braune Augen hatte er, hell und leuchtend wie
Bernstein. Durch seine natürliche, ungezwungene Art
wirkte er beinahe jungenhaft.
Nach der Begrüßung und Vorstellung setzten sich die
Männer um Randolphs Schreibtisch. Ellis ließ sich in
großen Zügen über die Pläne für die Ergreifung Prattons
berichten. Randolph breitete einen Chikagoer Stadtplan
aus und erklärte die bisherige Arbeitsweise. Die Aus-
führungen konnten Ellis jedoch nur eine ungenügende
Übersicht verschaffen.
"Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit", sagte der Po-
lizeichef zum Schluß gewollt freundlich. "Die Stärke
unseres Kriminaldienstes beruht ja auf dem Prinzip der
kollegialen Zusammenarbeit."
"Für uns ist das selbstverständlich", stimmte Ellis zu,
den anzüglichen Ton überhörend. "Aber auch mit der
Bevölkerung müßte man eine kollektive Zusammenarbeit
anstreben. Die breite Masse ist angesichts all dieser ver-
brecherischen Auswüchse schon empört genug. Sie fragt
sich: Kann oder will man nichts hiergegen unternehmen?
Es ist eine Schande für uns, meine Herren Kriminalisten,
eine Schande für den Staat und somit für jeden Bürger."
Die Männer hörten aufmerksam zu. Hier sprach ein
Mann, der keine unverbindliche Unterhaltung zu führen
gewohnt war, sondern der eigene unliebsame Gedanken
hatte und sie auch aussprach.
Colonel Randolph atmete tief auf, gleichsam seufzend,
wie ein abgekämpfter Mensch, der es nach langer Mühe
aufgegeben hat, die Welt zu ändern. "Es wird immer Ver-
brecher geben", meinte er.
Ellis zog die Schultern hoch. "Aber müssen die Verbre-
chen ein solches Ausmaß annehmen? Es ist nicht nur
Aufgabe der Polizei, einen kleinen Dieb, der mit knurren-
dem Magen einen Mundraub begeht, zu bestrafen. Wir
brauchen keine Überfallkommandos und keine Radio-
Polizei-Patrouillen, um einen Dieb oder Heiratsschwindler
zur Strecke zu bringen! Diese kostspieligen Polizeiappa-
rate sollten mehr zur Bekämpfung des Bandenunwesens
eingesetzt werden! Unsere Aufgabe sollte es eher sein,
Verbrechen zu verhindern, anstatt geschehene aufzuklä-
ren!"
"Ich höre schon jetzt, daß Sie Ihrem Beruf leidenschaft-
lich verschrieben sind, Mr. Ellis." Colonel Randolph
lächelte. "Sie müssen jedoch berücksichtigen, daß in
unserm Land jedem Bürger die größtmöglichen Freiheiten
garantiert sind und daß diese Freiheiten auch sehr leicht
von minderwertigen Subjekten ausgenutzt und mißbraucht
werden."
Ellis schüttelte den Kopf. "Das hat mit Freiheit nichts
mehr zu tun. Woran liegt es, daß Amerika in dem Ruf
steht, das Land mit der höchsten Zahl an begangenen
Kriminalverbrechen zu sein? Was ich jetzt sage, könnte
böswillig mißverstanden werden - doch ich spreche es
freimütig aus: Auf der Jagd nach Dollars kämpft hier jeder
gegen jeden. Der Stärkere triumphiert über den Schwäche-
ren. Und das alles wird noch in Presse, Rundfunk und
Film verherrlicht. Die Sensationsblätter umgeben Pratton
mit dem Nimbus des Heldenhaften, bewundern ihn mehr,
als daß sie ihn anprangern. Diese Gangsterverherrlichung
muß einfache Gemüter verwirren und auf falsche Bahnen
lenken!"
Schweigen erfüllte den Raum, ehe er weitersprach. "Es
ist ja schon soweit, daß die Bevölkerung kein Vertrauen
mehr zu uns hat. Ich las zum Beispiel in der Zeitung, daß
gestern nacht im Michigan-Bezirk der Personenwagen
einer Kraftfahrergewerkschaft durch einen Sprengkörper
demoliert worden ist, weil man sich einer Erpressung
Prattons widersetzte!"
"Der Fall ist mir bekannt", fiel Inspektor Kelling ein.
"Es ist von jenem Gewerkschaftskassierer unterlassen
worden, uns über den erhaltenen Drohbrief zu informie-
ren. Wie hätten wir da rechtzeitig eingreifen und den
Anschlag verhindern sollen? Außerdem steht der Mann
selbst nicht in dem besten Ruf ."
"Wieso?" wollte Ellis wissen.
"Der Mann - Kendall ist sein Name - hat eine leiten-
de Funktion in seinem Berufsverband, der wiederum einer
kommunistisch verdächtigen Gewerkschaft angegliedert
ist", sagte Kelling mit einem bedeutsamen Augenauf-
schlag.
Ellis sah nachdenklich vor sich hin. Es dauerte eine
Weile, ehe er antwortete: "Jedenfalls ist es unsere Pflicht,
alle Bürger ohne Unterschied gegen derartige Gewaltakte
zu schützen. An diesem Beispiel sehen wir es: Pratton
versucht nicht nur die Geschäftswelt, sondern auch die
Gewerkschaften zu erpressen. Mir sind sogar ein paar
Fälle bekannt, in denen namhafte Gewerkschaftsführer aus
Angst um ihr Leben den Prattongangstern große Geldbe-
träge auslieferten."
"Ich bin überzeugt, daß wir mit Ihrer Hilfe Pratton das
Handwerk legen werden", schloß Randolph die Unterre-
dung.
Ellis ließ sich noch am gleichen Tag in alle Abteilungen
des großen Präsidiums einführen. Er machte sich mit
seinen Mitarbeitern bekannt, ließ sich die Zusammenarbeit
mit den einzelnen Bezirksrevieren erklären und sprach mit
den Detektiven und Polizisten wie mit alten Freunden.
Später besichtigte er den Archivraum mit den Verbrecher-
alben. Überall stöberte er herum und nahm Verbindungen
auf.
Dann vertiefte er sich in die Stapel von Protokollen über
die nicht aufgeklärten Verbrechen der letzten Zeit. Es
interessierten ihn nur jene Fälle, bei denen unzweifelhaft
Pratton seine Hand im Spiel hatte.
Da war auch die Angelegenheit mit dem Gewerkschaf-
ter, ein dünnes Aktenstück mit nur drei oder vier Proto-
kollseiten. Darin stand vermerkt, daß Kendall keine An-
zeige erstattet und auf polizeilichen Schutz verzichtet
hatte.
Das schien Ellis bedeutsam. Man durfte nichts außer
acht lassen, wollte man Pratton auf die Spur kommen. Auf
den riesigen Polizeiapparat allein durfte man sich nicht
verlassen. Die große Polizeimaschine zitterte und stampfte
im Leerlauf. So fieberhaft in den verschiedenen Abteilun-
gen auch gearbeitet werden mochte: Im Fall Pratton war
nur Stückwerk dabei herausgekommen! Hier mußten neue
Wege beschritten werden, sonst war mit keinem Erfolg zu
rechnen. Das konnte Ellis sich an den fünf Fingern abzäh-
len und wußte er auch aus Erfahrung. Darum hielt er es für
wichtig, den Gewerkschaftskassierer einmal persönlich
aufzusuchen.
Ellis befand sich im Michigan-Stadtteil, er stand vor dem
Kendallschen Grundstück. Das Tor zur Hofeinfahrt war
verschlossen. Ärgerlich wollte Ellis fortgehen. Da stutzte
er über die vielen Taxiwagen, die in dieser sonst einsamen
Straße parkten. Wo mochten die Schofföre sein?
Er klopfte noch einmal an das Wellblech zur Toreinfahrt.
Da erschien Kendall. Ellis gab sich als Kriminalist zu
erkennen, das machte aber keinen Eindruck auf den Alten.
"Schon wieder einer von der Polizei - zur Abwechs-
lung mal in Zivil, als Geheimer!" knurrte er, ohne Ellis auf
den Hof zu lassen.
"Ich komme in Ihrem Interesse, Mr. Kendall", sagte Ellis
höflich. "Ich habe Achtung vor Ihnen. Sie haben sich
durch Prattons Erpressung nicht beirren lassen und den
Schweinehunden widerstanden. Man hat Ihnen Schutz für
Ihre persönliche Sicherheit angeboten. Sie haben darauf
verzichtet. Warum, Mr. Kendall?"
"Ich brauche keine Hilfe von einer unfähigen Polizei. Es
stinkt zum Himmel, wenn man in einer Stadt nicht einmal
ohne Furcht leben kann, weil man sich gegen ein Räuber-
gesindel auflehnt!"
Ellis blickte dem Alten fest in die Augen.
"Das ist auch meine Ansicht", sagte er und hielt ihm
zum Gruß die Hand hin.
Der musterte ihn abschätzend, doch dann schlug er in die
dargereichte Rechte ein. Ellis mußte ihm wohl sympa-
thisch seinf er sah auch nicht aus wie die üblichen Ge-
heimpolizisten, die einem ein Loch in den Bauch fragen
und so tun, als sei man selber verdächtig. Mit diesem
Mann konnte man wohl ein vernünftiges Wort reden.
"Ich brauche keinen Polizeischutz, denn ich fürchte
Pratton und sein Gesindel nicht!" erklärte der Alte. Das
hörte sich überzeugt anf da lag eine Ruhe und Sicherheit in
den Worten, die nur jemand haben kann, der sich seiner
Kraft bewußt ist. Ellis horchte unwillkürlich auf.
"Können Sie das so bestimmt sagen?" fragte er.
"Ja, das kann ich! Wenn die Polizei machtlos ist, so muß
man sich auf eigene Faust gegen das Gangsterpack schüt-
zen!"
Ellis sah den Alten ungläubig an. Der öffnete nun das
Tor und ließ ihn auf den Hof. "Hier, sehen Sie! Ich bin
nicht allein! Alle meine Kollegen stehen mir zur Seite.
Über hundert Schofföre aus meinem Bezirk. Die gehen für
mich durch dick und dünn, auf die ist Verlaß!"
Was Ellis auf dem Hof sah, überraschte ihn noch mehr.
Da standen wahrhaftig wohl an die hundert Männer in
einem Halbkreis beisammen. Alle trugen sie jenes blaue
baumwollene Hemd mit offenem Kragen, das zur typi-
schen Kleidung der Taxischofföre gehört. Die Versamm-
lung sollte gerade beendet werden, denn einer der Männer
fragte Kendall: "Noch etwas Besonderes? Wir haben es
eilig, versäumen sonst Fahrgäste."
"Es ist alles besprochen. Ich danke euch, daß ihr ge-
kommen seid und mir helfen wollt", verabschiedete Ken-
dall die Männer.
Ellis' Verwunderung wurde zur Neugier. Er mußte unbe-
dingt erfahren, was hier vor sich ging. Das hatte sicher
auch für ihn Bedeutung. Hier spielten Zusammenhänge
mit, die er nicht kannte. Wenn es ihm gelänge, das Ver-
trauen des knurrigen Alten zu gewinnen, so könnte er
vielleicht Wichtiges erfahren .
Als alle Schofföre gegangen waren, kam Kendall wieder
zu ihm heran. Die Sympathie, die Ellis für den Alten
empfand, mußte wohl auf Gegenseitigkeit beruhen, denn
Kendall zeigte sich jetzt aufgeschlossen und gesprächig.
"Denken Sie nicht, daß hier eine Verschwörung gegen
die Staatsgewalt ausgebrütet wird! Meine Kollegen wollen
mir bloß helfen, damit ich Mabel, meine Tochter, wieder-
finde. Die ist mir nämlich gestern aus dem Haus gelaufen.
Und zwar nicht aus freien Stücken, sondern weil Morris,
dieser Schuft und Gangster, sie bedroht und unter Druck
gesetzt hat." Ellis empfand auf einmal das Bedürfnis zu
rauchen. Er zog Pfeife und Tabak aus der Tasche und bot
Kendall von seinem goldgelben Virginiashag an: "Bitte,
rauchen Sie eine Pfeife mit mir. Sie sind ein Mann, vor
dem die amerikanische Polizei den Hut abnehmen müßte!"
Der Alte überhörte die Anerkennung und lächelte schief.
Während er rauchte und erzählte, wurden Ellis die Zu-
sammenhänge klar: Da war von der Tochter Mabel und
einem gewissen Morris die Rede. Und alles deutete darauf
hin, daß dieser Morris mit den Prattongangstern in Ver-
bindung stand. Kendall konnte sogar beweisen, daß nur
Morris die Bande von der Gewerkschaftskasse unterrichtet
und er auch Mabel unter irgendwelchen Drohungen wieder
auf seine Seite gezogen hatte. Mabel war seit gestern
verschwunden. Kendall hatte nun eine Versammlung der
Taxischofföre seines Bezirkes einberufen. Die meisten von
ihnen kannten Mabel von Kind an und auch Morrisf und
sie sollten nun in allen Stadtteilen nach ihnen Ausschau
halten und sie suchen.
"Sind Sie auch sicher, daß dieser Morris mit den Prat-
tongangstern unter einer Decke steckt?" erkundigte sich
Ellis.
"Kein Zweifel! Mabel war doch früher mit ihm befreun-
det - und ich hab's noch obendrein halbwegs geduldet.
Morris, müssen Sie wissen, ist ein Kerl zum Ausspucken!
Der allein hat mir Pratton auf den Hals gehetzt!"
Ellis wurde nachdenklich. Er sog intensiv an seiner Pfei-
fe und paffte den Tabaksrauch in dicken Schwaden aus.
Etwas Wichtiges mußte ihm durch den Kopf gehen. Ja,
einen Augenblick zögerte er sogar, bevor er sagte: "Ken-
dall, wollen Sie und Ihre Gewerkschaft mit mir zusam-
menarbeiten? Das ist keine fixe Idee! Sie haben mich
überhaupt erst auf diesen großartigen Gedanken gebracht!
Ich meine, wenn Sie mit Ihren Schoffören zusammenar-
beiten und ich als Polizeimann mit Ihnen - beim Ster-
nenbanner! Das ist eine handfeste Sache! Ich denke, wenn
nicht weiterhin Gesetzlosigkeit und Terror in unserer Stadt
herrschen sollen, so muß die Bevölkerung zur tatkräftigen
Mitarbeit gewonnen werden. Und ich kann mir keine
besseren Mitarbeiter als Ihre Taxischofföre denken! Die
durchstreifen Tag und Nacht alle Bezirke Chikagos. Die
sind besser als unsere sogenannten ,Fliegenden Kolonnen',
die Funkwagen der Radio-Polizei-Patrouillen, weniger
auffällig im Stadtbild und hundertfach beweglicher. Es
liegt klar auf der Hand, daß wir Pratton eher auf die Spur
kommen, wenn wir uns zu gemeinsamer Arbeit zusam-
menschließen!"
Nun schien Kendall nachzudenken. Er streifte Ellis von
der Seite mit einem prüfenden Blickf wie ein Zwinkern
mit den Augenlidern sah es aus. Dann lächelte er wie ein
erfahrener Mann, der den ungestümen Optimismus eines
Jungen nicht dämpfen will.
Er brauchte nicht zu antworten, denn im Flur klingelte
das Telefon. Kendall ging hinein und führte ein kurzes
Gespräch. Was ihm soeben mitgeteilt wurde, versetzte ihn
offenbar in Erregung. Er forderte Ellis auf einzutreten,
seine Augen glänzten, als er sagte:
"Da ruft Jimmy an - das ist unser pfiffiger Negerschof-
för aus dem 7. Bezirk-und gibt Bescheid, daß er Mabel
unterm Waker-Drive in einer Eiskonditorei gesehen hat.
Sie steht dort mit weißer Schürze hinterm Ladentisch und
verkauft Eisportionen! Wenn ich nicht genau wüßte, daß
sie mit dem Morris zusammen ist, so könnte man glauben,
das Mädel hat eine anständige Arbeit gefunden. Aber
sobald Morris dabei ist, steckt eine hundsföttische Gaune-
rei dahinter. Wie gut, daß ich jetzt Telefonanschluß habe!
Wurde erst gestern von der Gewerkschaft angelegt!" Ellis
nickte nur. Er kam aus dem Staunen nicht heraus. Wie gut
die Organisation der Schofföre klappte! Diese Nachfor-
schung und Ermittlung über Mabel zum Beispiel hätte die
Polizei nicht prompter erledigen können. Einfach fabel-
haft, wie die Schofföre ihren Gewerkschaftsführer Kendall
in selbstverständlicher "Hilfsbereitschaft unterstützten!
"Unternehmen Sie mit Ihren Leuten nichts Voreiliges",
bat Ellis den Alten. "Ich werde versuchen, mit Ihrer
Tochter Verbindung aufzunehmen. Haben Sie ein Foto von
ihr?"
Kendall kramte aus einer Schublade eine Fotografie her-
vor. Ellis prägte sich das Mädchengesicht gut ein. Bevor er
sich verabschiedete, ließ er Kendall noch einen kurzen
Brief für Mabel schreiben. "Den werde ich ihr geben,
damit das Mädel Vertrauen zu mir haben kann", meinte
Ellis. "Manchmal reden die Kinder offener zu Fremden als
zu den Eltern. Und verlassen Sie sich darauf, Kendall: Ab
heute bürge ich dafür, daß Ihrer Tochter nichts Unrechtes
mehr geschieht!"
Ellis und Kendall trennten sich wie zwei alte Freunde.

Anschließend begab sich Ellis zum Waker-Drive. Er


schlenderte die 34. Straße hinunter, konnte aber den Eisla-
den nicht sogleich entdecken. Er stand schon am Ende der
Straße, als er hinter einer mit grellen Farben bemalten
Fensterscheibe einen Mädchenkopf sah. Da war der Lok-
kenkopf, die energische Kinnpartie und auch die Stupsna-
se! Kein Zweifel: Mabel Kendall!
Ellis betrat den Laden, Es war eine von den vielen Eis-
dielen, die in den Hundstagen in den Städten wie Pilze aus
der Erde schießen ein kleiner, primitiv ausgestatteter
Raum.
Ellis hockte sich auf einen der vor dem Verkaufstisch
stehenden Schemel und bestellte einmal Vanilleeis. Mabel
Kendall schob ihm die Eisschale hin, kassierte das Cent-
stück und bediente weiter. Ellis beobachtete sie. Als sie
wieder in seine Nähe kam, versuchte er ein Gespräch mit
ihr anzuknüpfen. Das Mädchen ließ sich nicht darauf ein,
wollte sich sofort entfernen. Da beugte Ellis sich ein we-
nig über den Verkaufstisch zu ihr hin und sagte leise:
"Ich soll Ihnen Grüße von Ihrem Vater ausrichten, Miß
Kendall. Er ist besorgt um Sie, weil Sie ihn verlassen
haben."
Furcht und Zweifel spiegelten sich in dem Gesicht Ma-
bel Kendalls. Sie blickte unstet umher, und ihr Mund blieb
ein wenig geöffnet. Sie antwortete nicht, ließ ungeschickt
einen Löffel fallen und sah verängstigt zur Tür des Neben-
raumes hin. Seltsam, wie sehr das Mädchen die Fassung
verliert, dachte Ellis. Wie kann sie nur so scheu und ver-
ängstigt sein?
"Kann ich Sie sprechen? Ich bin ein Freund Ihres Va-
ters", sagte Ellis und schob ihr schnell den Brief über den
Tisch zu.
Ihre Verwirrung wurde zur Bestürzungf es war ihr anzu-
merken, wie sie innerlich mit sich rang. Wieder blickte sie
scheu zur halb offenstehenden Tür des Nebenraumes hin,
als fühle sie sich von dort belauscht.
"Ich kenne Sie nicht, und Sie können mich nicht spre-
chen", flüsterte sie furchtsam, während sie sich hastig
umwandte und ein paar Schritte zur Tür ging. Den heim-
lich aufgenommenen Brief hielt sie unter einem Servierta-
blett verborgen.
Gleich darauf kam ein Mann aus dem Nebenraum und
stellte einen Eisbottich auf den Tisch. Sein forschender
Blick überflog die im Raum anwesenden Gäste. Es kam
Ellis vor, als ruhe der mißtrauische Blick des Mannes
länger als erforderlich auf ihm, ehe er den Laden wieder
verließ.
Mabel machte sich emsig hinter dem Verkaufstisch zu
schaffen, obwohl kein Gast zu bedienen war. Eine Falte
zog sich über ihre Stirn. Ihre kleine Oberlippe war ein
wenig aufgeworfen, und man sah die weißen Zähne da-
hinter.
Ellis löffelte sein Eis. Das merkwürdige Verhalten des
verwirrten Mädchens ließ auf nichts Gutes schließen. Wie
gehetzt und gequält sie aussieht, ging es ihm durch den
Kopf. Aber ich darf nicht länger hierbleiben, wenn ich
nicht auffallen will. Außerdem kann ich vorerst doch
nichts ausrichten.
Als er sein Eis verzehrt hatte - Mabel war nicht mehr in
seine Nähe gekommen -, verließ er den Laden. Nach-
denklich stand er nun auf der Straße.
Das Nachbargebäude zum Eisladen war ein größeres
Bürohausf die Räume im Erdgeschoß gehörten zu einer
Bank. "PHILADELPHIA-DEPOSITENBANK - ZWEIG-
STELLE CHIKAGO" las Ellis auf dem Firmenschild.
Dabei kamen ihm absonderliche Gedanken. Es fiel ihm
ein, daß es auch seine Aufgabe sei, Vorsichtsmaßnahmen
für den Schutz der öffentlichen Kassen und Banken zu
treffen. In New York hatte Pratton mit seiner Bande am
hellichten Tag einmal eine Bank geplündert.

Am Nachmittag hatte Ellis noch eine Unterredung mit


Colonel Randolph und den Inspektoren Kelling und Hig-
gins.
"Wir müssen erkennen, daß unsere bisherige Arbeits-
methode gegen die Gangster wenig Erfolg verspricht",
erklärte er. "Besondere Verbrecher müssen auch besonders
bekämpft werden. Es wird meine nächste und dringendste
Aufgabe sein, die tatkräftige Mitarbeit der Bevölkerung zu
gewinnen!"
" . aber . aber, mein lieber Ellis! Haben Sie die aus-
geschriebenen fünftausend Dollar Belohnung vergessen?"
unterbrach ihn Randolph nervös und machte eine ihm
eigene fahrige Handbewegung.
Ellis fuhr fort: "Nein, ich habe die ausgesetzte Beloh-
nung nicht vergessen. Nur, ich halte nicht viel davon. Ich
verstehe unter ,tatkräftiger Mitarbeit der Bevölkerung'
etwas anderes. Seit heute ist mir zum Beispiel bekannt,
daß Menschen in dieser Stadt sich bereits zusammenge-
schlossen haben, um sich selbst gegen die Gangster zur
Wehr zu setzen. Es handelt sich nicht etwa um eine Anzahl
beliebig zusammengewürfelter Männer, die es vielleicht
bloß auf die Belohnung abgesehen haben, sondern es
handelt sich um eine gewerkschaftlich organisierte Be-
rufsgruppe von Taxischoffören in einem Chikagoer Be-
zirk. Es ist einleuchtend, daß uns diese Männer eine große
Hilfe sein können. Unser Polizeiapparat wird dadurch
erheblich verstärkt. Wir wären dann in der Lage, Kräfte
für besondere Aktionen abzuzweigen. Die Aufgabe der
Taxischofföre könnte gleichzusetzen sein mit der Arbeit
einer ganzen Abteilung unseres motorisierten Überwa-
chungsdienstes. Ja - es kommt noch ein Plus hinzu, das
die Taxifahrer unseren Polizisten voraushaben: Sie tau-
chen unauffällig im Straßenverkehr unter, sie sind mit
ihren Wagen Tag und Nacht in allen Stadtteilen unterwegs.
Über hundert Mann sind es bereits im Michigan-Bezirk.
Wenn es gelingt, die gesamten Gewerkschaftsbezirke für
den Kampf gegen Pratton zu gewinnen, so kann die Bande
kein größeres Verbrechen mehr vorbereiten, ohne daß man
rechtzeitig auf sie aufmerksam wird. Ich werde mir über
diesen Plan noch den Kopf zerbrechen."
Eisiges Schweigen war die Antwort. Kelling und Hig-
gins tauschten nur einen vielsagenden Blick miteinander
aus. Colonel Randolph fingerte unnütz an seiner sowieso
gutsitzenden Krawatte. "Um welche Gewerkschaft handelt
es sich?" fragte er endlich. Es lag etwas Lauerndes, Ver-
stecktes in dieser Frage.
"Es handelt sich um die Gewerkschaft der Taxischofföre
im Michigan-Bezirk, ein gewisser Kendall hat die Initiati-
ve ergriffen. Der Anlaß dazu war ein Erpressungsversuch.
Die Leute greifen zum Selbstschutz, weil sie sich auf uns
allein nicht verlassen wollen ."
Colonel Randolph brannte sich gierig eine Zigarette an,
machte einen tiefen Lungenzug und blies den Rauch durch
Mund und Nase. "Davon muß ich entschieden abraten",
erklärte er bestimmt. "Wenngleich ich Ihre besondere
Mission im Hinblick auf den Fall Pratton auch respektiere,
Mr. Ellis, so müssen sich alle Ihre Maßnahmen doch mit
unserer allgemeinen Dienstordnung in Einklang bringen
lassen. Der Umstand jedoch, daß Sie die Zusammenarbeit
mit einer als radikal bekannten Gewerkschaftsgruppe
anstreben, macht aus dieser vielleicht dienstlichen Zweck-
mäßigkeit eine äußerst heikle politische Aktion. Wir dür-
fen auf keinen Fall aus der Reihe tanzen, müssen vielmehr
bestrebt sein, alles zu vermeiden, was der Demokratie
unseres Landes entgegenwirkt. Von diesem Standpunkt
aus betrachtet, lehne ich in jedem Fall eine offizielle Zu-
sammenarbeit mit der Gewerkschaft der Taxifahrer ab!"
Es dauerte eine geraume Weile, ehe Ellis das Gehörte
vollends begriff. Er fand, daß Colonel Randolph mehr die
Ansichten eines behäbigsatten Bürgers als die eines ver-
antwortungsbewußten Polizeichefs vertrat. Ellis war ent-
täuscht. Er hatte, wenn auch nicht begeisterte Zustim-
mung, so doch keine offene Ablehnung seines Plans er-
wartet. Himmelherrgott! Es konnte dabei doch absolut
keine Rolle spielen, daß diese Gewerkschaft in bestimm-
ten Kreisen als nicht gesellschaftsfähig galt, nur weil es
sich um eine Arbeiterorganisation mit eigenen sozialen
Grundsätzen handelte! Unmöglich, so zu denken, wenn
alles Streben darauf gerichtet sein mußte, die Stadt von
den Schrecken einer Unterweltbande zu befreien!
"Dann werde ich inoffiziell um die Zusammenarbeit mit
den Taxischoffören bemüht sein", erklärte Ellis, sich
ruckartig von seinem Platz erhebend. Er hielt es für
zwecklos, seinen Mitarbeitern heute noch mehr darüber zu
sagen.
Als er in seinem Arbeitszimmer allein war, öffnete er das
Fenster und ließ frische Luft herein. Eine geraume Weile
stand er da und dachte über die Zusammenhänge nach.
Verdammt! Da konnte man durch den eigenen Arbeitseifer
sogar als "Roter" verdächtigt werden. Man war in letzter
Zeit scharf hinter solchen Leuten her. Waren sie noch
gefährlichere Staatsfeinde als Pratton und seine Bande?
Ellis lachte grimmig auf. Er kam sich wie kaltgestellt und
abgesägt vorf und dazu noch von einer Gesellschaft, der er
rechtschaffen und pflichteifrig zu dienen sich bemühte.
Trotz allem wollte er sich nicht entmutigen lassen. Er
würde die Mitarbeit der Gewerkschaft anstreben. Diesen
Männern war es in Fleisch und Blut übergegangen, für ihr
Recht zu kämpfen und kollektiv zu handeln! Bei ihnen
fand man wahrhaftig mehr Verständnis und Solidarität als
bei den Spießern der piekfeinen Sippschaft!
Ellis traf einige neue Anordnungen, telefonierte mit den
verschiedenen Abteilungen, einmal sogar mit Kendall. Er
berichtete von dem merkwürdigen Verhalten Mabels in der
Eiskonditorei. - Ob er Morris etwa gesehen habe? - Ja,
das könnte der Mann aus dem Nebenraum gewesen sein,
vor dem Mabel so scheu und furchtsam gewesen sei! -
Sie hätten diesem Lumpen gleich den Eisbottich über den
Schädel hauen sollen! - ereiferte sich der Alte am Tele-
fon. Ellis mahnte zur Besonnenheit. Keine übereilten
Bravourstücke jetzt! Zwei Kriminalisten aus dem Präsidi-
um würden den Eisladen Tag und Nacht bewachen. Das
hätte er bereits angeordnet. Dann erkundigte er sich über
den organisatorischen Aufbau innerhalb des Taxifahrbe-
triebes, über die Parkplätze, Fahrtrouten und sonstigen
Haltestellen in den einzelnen Stadtteilen. Ellis überprüfte
und koordinierte seinen Plan. Er verglich an Hand der
Chikagoer Stadtkarte die von den einzelnen Polizeistellen
überwachten Reviere mit jenen der von den Schoffören
kontrollierbaren Bezirke und erkannte, daß erst mit Hilfe
der Taxifahrergewerkschaft ein wirklich engmaschiges
Kontrollnetz aufgebaut werden konnte.

Es ging auf Mitternacht.


Mabel Kendall stand im dunklen Laden am Fenster. Sie
lugte durch das kleine Loch im Vorhang auf die nächtliche
Straße und lauschte auf die Geräusche von draußen. So
hatte Morris es ihr befohlen. Sie wurde von Angst und
Verzweiflung gepeinigt. Mein Gott, in welch unheilvolle
Verstrickung war sie geraten! Wie konnte sie von dem
verhaßten Morris loskommen? Aber es ging ja um die
Sicherheit, um das Leben ihres Vaters! Darum allein war
sie Morris wieder gefolgt und auch, weil er versprochen
hatte, keine unsauberen Geschäfte mehr zu machen. Der
Eisladen war ja auch ordentlich registriert und auf ihren,
auf den Namen Mabel Kendall eingetragen. Morris aller-
dings hatte alles bezahlt: die Ladenmiete, die Einrichtung,
die Lizenzgebühren.
Aber was hatte sie während der wenigen Tage und
Nächte alles erlebt! Das allnächtliche geheimnisvolle
Treiben im Eisladen zerrte an ihren Nerven. Was hier vor
sich ging, war so unheimlich wie ein Spuk.
Jeden Abend wiederholte sich das gleiche Geschehen:
Kurz vor Ladenschluß betraten in Abständen noch mehre-
re Männer das Lokal. Nachdem der letzte uneingeweihte
Gast die Konditorei verlassen hatte, die Tür verschlossen
und das Fenster verhängt worden war, begann die eigentli-
che Arbeit. Der Kokoslaüfer am Boden wurde aufgerollt
und die Kellerluke freigelegt. Dann stiegen die verwegen
aussehenden Männer in die Kellerräume hinab. Morris gab
Anweisungenf er war der Boß. Der Keller war hell er-
leuchtet, die Lampen abgeblendet. Kein Lichtstrahl konnte
nach oben in den Laden fallen. Und unten hantierten die
Männer mit Spaten, Spitzhacken und Brecheisenf einer
arbeitete mit einem elektrischen Steinbohrerf zwei der
Männer trugen die mit Sandmassen und Steingeröll ge-
füllten Korbgeflechte in den anschließenden Nebenkeller.
Noch ahnte Mabel die Hintergründe des nächtlichen
Treibens nicht. Aber es war ihr klar, daß Morris mehr denn
je dem Gangstertum angehörte. Die Eröffnung der Eis-
konditorei konnte nur ein Vorwand gewesen sein, um sie
unwissend einer dunklen Sache dienen zu lassen.
Mabel zuckte zusammen und lauschte nach draußen. Sie
glaubte das leise Geräusch von schleichenden Schritten
vernommen zu haben und schob den Fenstervorhang um
einen Spalt beiseite. Tatsächlich! Da draußen schlich
langsam die schattenhafte Gestalt eines Mannes vorbei,
und es schien, als habe er den Kopf direkt zum Fenster
gewandt. Vielleicht wurde der Eisladen schon überwacht?
Alles war hier unheimlich! Ebenso die Geschichte mit
dem Mann, der ihr gestern einen Brief vom Vater zuge-
schoben hatte . "Mabel! Warum hast Du Dich wieder mit
Morris eingelassen?" stand darin. "Wenn Du Deinem
Vater nicht vertraust, so vielleicht dem Überbringer dieses
Schreibens. Ich habe von der Gewerkschaft den Telefon-
anschluß 2B 2436 bekommen. Unter dieser Nummer
erreichst Du immer Deinen - Vater."
Mabel hockte sich auf einen Schemel. Sie vergrub ihr
Gesicht in den Händen. Ich muß einen Entschluß fassen.
Wenn ich mich nicht aufraffe, versinke ich hier im Sumpf,
versuchte sie sich Mut zu machen. Wenn Morris sie nur
nicht ständig umschleichen und bewachen würde! Keinen
Augenblick ließ er sie unbeobachtet. Sie war ja so
schlimm dran wie eine Gefangene!
"Was gibt's? Etwas vorgefallen?"
Morris stand plötzlich hinter ihr. Wie oft in den Nächten,
so hatte er sich auch jetzt wieder lautlos aus dem Keller
heraufgeschlichen.
Mabel zischte ihn an: "Was erschreckst du mich immer?
Du treibst es noch so weit, bis ich weglaufe!"
"Wir haben schon einmal darüber gesprochen. Du kannst
gehen, wirst deinen Vater dann aber kaum lebend zu Hau-
se antreten! Wir haben eben unsere eigenen Gesetze. Und
vergiß nicht: Der Laden hier ist auf deinen Namen einge-
tragen."
Morris verschwand wieder durch die Kellerluke.
"Zum Teufel! Wir kriegen den Sand und die Steine nicht
verstaut", hörte sie ihn unten fluchen. "Auf jeden Fall
müssen wir tiefer ausschachten, wenn wir auf den Tresor-
raum stoßen wollen."
Mabel hatte richtig verstanden: Tresorraum! Wie Schup-
pen fiel es ihr von den Augen. Es gab keinen Zweifel mehr
darüber, was Morris und seine Komplicen vorhatten! Der
Eisladen war ein bloßer Vorwand, um einen längst ge-
planten Bankeinbruch auszuführen! Darum also war dieser
genau neben dem Bankhaus gelegene Laden gepachtet
worden!
Die Erkenntnis traf Mabel wie ein Schlag. Nein, sie
durfte sich nicht in ein Verbrechen verstricken lassen!
Der Fernsprecher schnarrte. Morris stürzte herbei und
meldete sich. Dann gab er mit gedämpfter Stimme einen
Bericht: "Der Stollen ist genügend abgesteift und gangbar.
Ja, wir arbeiten das letzte Stück vorsichtiger. Morgen
nacht können wir durchbrechen. Es bleibt dabei, Chef!"
Morris legte den Hörer auf und schnalzte mit der Zunge.
"Der Chef ist mit mir zufrieden", er grinste hämisch zu
Mabel hin. "Bis morgen noch, mein Püppchen, dann ge-
hört der Eisladen dir allein!" Er kicherte leise, tapste zur
Kellerluke und verschwand.
Mabel lauschte nach untenf sie mußte hören, was Morris
dort besprach. Beim Allmächtigen! Es fiel der Name
Pratton! Kein Zweifel: Morris hatte soeben mit Pratton
gesprochen!
Mabel fühlte ihr Herz bis zum Hals pochen. Ich muß
ruhig bleiben, ermahnte sie sich. Für morgen nacht ist also
der Bankeinbruch geplant. Ich muß handeln, dann wird
noch alles gut! Sie dachte an den Brief ihres Vatersf die
wenigen Zeilen darin gaben ihr Mut und Hoffnung. Und
hatte ihr Vater von der Gewerkschaft nicht einen Fern-
sprechanschluß bekommen? Unter allen Umständen mußte
sie versuchen, morgen heimlich anzurufen!

Der Kriminalist, den Ellis mit der Überwachung des


Eisladens beauftragt hatte, berichtete: "Der Mann sowie
das Mädchen, die Eisverkäuferin, haben das Haus zu
keiner Stunde verlassen. Gegen Abend betraten sechs
Männer den Laden und kamen erst im Morgengrauen -
um 4.15 Uhr - wieder heraus. Die Ermittlungen über die
Personalien dieser Männer sind noch nicht abgeschlossen.
Sonst, auch bei der Bank, keine besonderen Vorkommnis-
se!"
Ellis rieb sich nachdenklich das Kinn. Der Verdacht be-
stätigte sich. Im Eisladen stimmte etwas nicht. Aber noch
galt es abzuwarten. Ellis war gutgelaunt. Vorerst wollte er
Kendall noch einmal aufsuchen, um mit ihm Näheres über
die geplante Zusammenarbeit zu besprechen. -
Der Alte begrüßte Ellis in freudiger Erregung und teilte
ihm sogleich eine Neuigkeit mit: "Stellen Sie sich vor:
Mabel hat mich vor knapp einer Stunde angerufen! Sie
sagte, ich hätte von Anfang an recht gehabt: Morris sei
und bliebe ein Gangster! Sie will mich heute nacht in einer
ungemein wichtigen Sache nochmals anrufen - und dann
müßte ich unverzüglich handeln! Was sagen Sie dazu, Mr.
Ellis!"
Die Nachricht überraschte und erfreute Ellis zugleich.
"Ich habe das Gefühl, daß wir heute nacht noch allerhand
erleben werden", sagte er. "Manche Dinge nehmen von
selbst den richtigen Verlauf. Natürlich bleibe ich unter
diesen Umständen heute nacht bei Ihnen, Mr. Kendall!"
In der Tat überstürzten sich in dieser Nacht die Ereignis-
se. Um 23.40 Uhr schrillte das Telefon bei Kendall. Ehe
Ellis, der gerade auf dem ausgebeulten Matratzensofa in
der Stube ein wenig ruhen wollte, aufspringen konnte,
hatte der Alte den Hörer schon am Ohr.
Mabel meldete sich mit vor Erregung zitternder Stimme.
Leise, wie im Flüsterton gesprochen, vernahm Kendall die
Worte seiner Tochter. Abgehackt und stoßweise kamen die
Worte: Einbruch - Pratton hier - schnell kommen.
Darauf schwieg die flüsternd vibrierende Stimme des
Mädchens. Kendall riß den Hörer an das andere Ohr. Aber
nur noch ein Knacken war in der Leitung zu hören. -
Einen Augenblick starrte der Alte Ellis mit großen Au-
gen an. Dann wählte er die Nummer der Zentralgewerk-
schaft. Seine Gestalt straffte und reckte sichf diszipliniert
stand er am Apparat. Niemand hätte ihm seine Erregung
anmerken können. Klar und deutlich gab er seine über-
legte Anweisung: "Im Eisladen unterm Waker-Drive in der
34. Straße geschieht ein Verbrechen! Pratton ist dabei!
Alle Schofföre aus unserem Bezirk müssen sofort dorthin
und die Straße blockieren! Ich wiederhole ."
Als er den Hörer auflegte, sah er Ellis triumphierend an.
"Auf meine Leute kann ich mich verlassen", rief er in
unbändiger Freude. "Unsere Nachrichtenübermittlung
klappt tadellos. In wenigen Augenblicken wissen schon
alle Fahrdienstbereitschaften unseres Bezirkes Bescheid.
Außerdem sind alle Parkplätze durch direkten Fernsprech-
anschluß erreichbar. Los, Ellis, hin zum Eisladen!" feuerte
er ihn an. Der kam sofort in Schwung.
"Stopp!" rief Ellis, während er schon die Wählerscheibe
drehte und an das Haupt-Überfallkommando die gleiche
Alarmmeldung durchgab.
"So, jetzt kann's losgehen! Gleiche Chancen für alle! Es
wird sich zeigen, ob die Polizei oder Ihre Gewerkschaft
diesen Wettkampf gewinnt!"
So flink und lebendig wie in diesem Augenblick, da
Kendall auf den Hof lief und den Gewerkschaftswagen
anfuhr, hatte Ellis ihn noch nicht gesehen.
"Wenn ich daran denke, daß Pratton im Eisladen ist .!"
frohlockte Ellis. Er fuhr mit der Hand durch seinen wirren
Haarschopf. Die ausgelöste Spannung hatte auch ihn
ergriffen.
Eine Hetzjagd durch die nächtlichen Straßen der Stadt
begann. Kendall fuhr wie der Teufel. Er bot seine ganze
Fahrkunst auf. Ellis, der neben ihm saß, schloß in den
Kurven die Augen. Dieses tollkühne Tempo! An der Ecke
zur 34. Straße hielt Kendall. Ellis sprang aus dem Wagen
und lief zum Eisladen. Er stand vor dem verdunkelten
Fenster. Da wurde von drinnen der Vorhang zurückgezo-
gen. Aus der Dunkelheit des Raumes auftauchend, er-
schien hinter der Scheibe Mabel Kendall, die mit stummer
Gebärde ein Zeichen gab, wieder in der Finsternis ver-
schwand und wenige Augenblicke später auf die Straße
herausstürzte. In fiebernder Hast schloß sie die Tür wieder
und zog den Schlüssel ab. Sie atmete in großer Erregung
- wie ein Keuchen hörte es sich an.
Ellis wollte sie stützen. Doch da kam schon Kendall her-
bei, dem sie sich sogleich zuwandte. Was sie atemlos
hervorstieß, war eine Ergänzung der telefonischen Nach-
richt: Ja, Pratton sei selbst im Ladenkeller und leite mit
Morris den Durchbruch zum Tresorraum der Bank. Doch
jetzt seien sie eingeschlossen und gefangen wie in einer
Mausefalle, brauchten nur festgenommen zu werden! Aber
jeden Augenblick könnten ihre Flucht und der Verrat
bemerkt werden - dann sei es zu spät!
Kendall schüttelte den Kopff und in der Aufwallung sei-
nes Triumphes drückte er seine Tochter an sich.
Nein, es war nicht zu spät! Denn jetzt rollten bereits pau-
senlos die Taxi heran. Im abgeblendeten Scheinwerferlicht
schoben sich die Autos aus der Ost- und Westrichtung in
die Straße. Einzelne Wagen drängten nach vorn, schlän-
gelten sich mit erstaunlicher Steuerungskunst dazwischen,
jeden Meter der Asphaltstraße ausfüllend. Die Kette der
anrollenden Taxi riß nicht ab. Immer neue Wagen kamen
heran.
In der Nähe des Eisladens schoben sich die Fahrzeuge
über den Fahrdamm auf den Gehsteig. Die Straße glich
einem riesigen Parkplatz, war an dieser Stelle in der ge-
samten Breite verstopft, verrammelt und blockiert, einem
lückenlosen Absperrgürtel gleich.
Kendall leitete diesen Aufmarsch seiner Kollegen wie
ein siegesgewisser Feldherr. Er stand an der Einfahrt zur
34. Straße und lenkte die ankommenden Wagenreihen,
schleuste sie über die holprige Bordsteinkante auf den
Bürgersteig. Immer mehr stauten sich die Autokolonnen.
Es war die größte und merkwürdigste Auffahrt-Demon-
stration der Chikagoer Taxifahrer!
Und von weit her heulten die Sirenen der Wagen des
Überfallkommandos und der Radio-Polizei-Patrouillen
auf, die, von Ellis alarmiert, erst jetzt ankamen und durch
die schnelleren Taxischofföre keine Vorfahrt mehr be-
kommen konnten.
"Beim Sternenbanner! Die gesamte motorisierte Chi-
kagoer Polizei hätte das nicht zuwege gebracht!" rief Ellis
voller Begeisterung. Er klemmte sich durch die engen
Zwischenräume inmitten der dicht zusammengeschobenen
Fahrzeuge, um die herbeieilenden Polizisten des Überfall-
kommandos zu informieren. Ellis brauchte sich nicht
auszuweisen. Der Führer des Kommandos erkannte ihn
sofort, obwohl er durch diese haarsträubend verkehrswid-
rige Autoauffahrt-Massierung verwirrt und kopflos war. Er
fügte sich auffallend schnell den Befehlen Ellis'. Was hier
geschah, war einmalig in der amerikanischen Polizeige-
schichte!
Ellis gruppierte die Polizisten und ließ sie die Pistolen
schußbereit halten.
Er raunte dem an seiner Seite stehenden Negerschofför
Jimmy, der als eifrigster Mann sich von Anfang an in die
Reihe der Polizeiwagen gedrängt hatte, etwas zu. Und auf
sein Handzeichen leuchteten die Autoscheinwerfer blitz-
artig und grell auf, kreuzten sich, fielen konzentriert auf
den Ladeneingang. Die Tür war verschlossen. Ellis sah
sich nach Mabel um. Sie gab ihm den Schlüssel. Ellis
betrat als erster den Laden. -
Finsternis starrte ihm entgegen.
Kein Schuß fiel bisher - ein Wunder.
Die Taschenlampen der nacheilenden Polizisten durch-
leuchteten den Raum. Keine Menschenseele! - Fühlten
sich die Gangster so sicher, oder hatten sie beim Anblick
der undurchdringlichen Autoabsperrkette keinen Aus-
bruchsversuch mehr gewagt?
Ellis, der mit vorgehaltener Pistole voranging, stolperte
auf einmal. Er war gegen die über den Fußboden vorste-
hende Kellerluke gestoßen. Das schien das Alarmsignal
für die im Keller eingesperrten Gangster zu seinf denn
plötzlich entstand unter dem Fußboden ein Tumult, ein
Poltern und Krachen, vermengt mit Flüchen aus rauhen
Männerkehlen. Gleich darauf peitschte eine Abwehrsalve
aus Maschinenpistolen gegen die Kellerluke. Ein Knattern
und Bersten von splitterndem Holz schlug herauf. Ein
Polizist, der an Ellis' Seite gestanden hatte, torkelte zu-
rück, strich sich mit der Hand über das schmerzverzerrte
Gesicht, das im Nu blutüberströmt war.
Der Lärm unten verstärkte sich. Ein höllisches Getüm-
mel herrschte im Keller. Die Gangster verbarrikadierten
sich!
Die Lichtkegel der Taschenlampen huschten gespenstig
durch den Laden. Ellis stieß mit dem Fuß den Deckel der
Kellerluke beiseite. Ein großer quadratischer Lichtkegel
fiel durch das Dunkel. Im selben Augenblick prasselte
eine Salve von unten herauf. Ellis duckte sich sofortf doch
als er sich wieder aufrichten wollte, traf ihn ein scharfkan-
tiges von der Ladendecke abgebröckeltes Putzstück an die
Schläfe. Er wankte um einen Schritt zurück. Ein Polizist
trat an seine Stelle und warf eine Gasbombe in den Keller.
Ein dumpfer Knall erfolgte, und gleich darauf setzte eine
ungestüme Rauchentwicklung ein. Man hörte die Gangster
unten brüllen, husten und keuchen. Pratton feuerte seine
Komplicen an. Doch diesmal mußte jeder Widerstand
aussichtslos bleiben. Wie aus einem Schornstein stiegen
dicke beißende Rauchschwaden aus der Kelleröffnung
nach oben - Schwefelqualm verseuchte die Luft. Man
mußte die Augen schließen und zurückweichen.
"Tränengas! Wir kriegen die Bande schon ausgeräu-
chert!" rief ein Polizist.
Noch einmal setzten die verzweifelten Gangster zu ei-
nem Ausbruchsversuch an. Plötzlich stürzten aus dem
Qualm des Kellerzugangs zwei Mann mit vorgehaltener
Maschinenpistole nach oben und feuerten blindlings um
sich. Ellis hatte rechtzeitig das Kommando zum Hinlegen
gegeben. Die Geschosse schlugen gegen die Wand und
durch die Fensterscheibe in die Karosserie eines Autos.
Das war der Auftakt zu einem kurzen, aber heftigen
Kampf.
Als am Ende die sich mit erhobenen Händen ergebenden
Gangster aus dem Laden wankten und in Handschellen
gelegt wurden, erkannte Ellis auch Pratton unter ihnen.
Sein brutales und jetzt blutverschmiertes Gesicht, von
einem grellen Autoscheinwerfer angestrahlt, hatte einen
verzerrten und seltsam verbissenen Ausdruckf als er an der
langen Absperreihe der Taxifahrer vorüberwankte, flak-
kerte sein Blick. Er wollte es nicht wahrhaben, daß seine
Festnahme durch die Chikagoer Taxischofföre entschieden
worden war. -
Ellis überwachte den Abtransport der Gangster. Da hörte
er auf einmal von der Mitte des Fahrdamms her, wo die
Autos am gedrängtesten standen und die Absperrung am
dichtesten war, eine laute wohlbekannte Stimme: "Platz
da! Lassen Sie uns durch!" Es war Colonel Randolph aus
dem Präsidium, der nun mit den beiden Inspektoren Kel-
ling und Higgins erschien.
"Das ist ja das großartigste Stück in unserer Kriminalge-
schichte!" kam es sprudelnd über die Lippen des Polizei-
chefs. Als er Ellis' ansichtig wurde, ging er sofort zu ihm
hin. Seine etwas pausbackigen Wangen zitterten. Bevor er
sprach, holte er wie ein Asthmatiker tief Luft. "Sagen Sie
selbst, Mr. Ellis: Wie kam dieser glänzende Erfolg zustan-
de?"
Ellis paffte aus seiner eben angerauchten Pfeife und
antwortete scheinbar freundlich: "Dieser glänzende Erfolg
kam dadurch zustande, weil ich mehr an die einfachen
Menschen glaubte als Sie!"

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