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Aus Mann ohne Eigenschaften

Von Robert Musil

... Kleider, aus dem Fluidum der Gegenwart herausgehoben und in ihrem
ungeheuerlichen Dasein auf einer menschlichen Gestalt als Form an sich betrachtet, sind
seltsame Rö hren und Wucherungen, wü rdig der Gesellschaft eines Nasenpfeils und
durch die Lippen gezogenen Rings; aber wie hinreißend werden sie, wenn man sie samt
den Eigenschaften sieht, die sie ihrem Besitzer leihen! Dann geschieht nicht weniger, als
wenn in einen krausen Linienzug auf einem Stü ck Papier der Sinn eines großen Worts
hineinfä hrt. Man stelle sich vor, die unsichtbare Gü te und Auserlesenheit eines
Menschen tauche plö tzlich als ein dottrig goldener, vollmondgroß schwebender
Heiligenschein hinter seinem Scheitelwirbel auf, wie es auf frommen, alten Bildern zu
sehen ist, wä hrend er am Korso spazierengeht oder bei einem Tee soeben Sandwiches
auf seinen Teller legt: es wä re ohne Zweifel eines der ungeheuersten und
erschü tterndsten Erlebnisse; und solche Kraft, das Unsichtbare, ja sogar das gar nicht
Vorhandene sichtbar zu machen, beweist ein gut gemachtes Kleidungsstü ck alle Tage!

Solche Gegenstä nde gleichen Schuldnern, die den Wert, den wir ihnen leihen, mit
phantastischen Zinsen zurü ckzahlen, und eigentlich gibt es nichts als Schuldnerdinge.
Denn jene Eigenschaft der Kleidungsstü cke besitzen auch Ü berzeugungen, Vorurteile,
Theorien, Hoffnungen, der Glaube an irgendetwas, Gedanken, ja selbst die
Gedankenlosigkeit besitzt sie, sofern sie nur kraft ihrer selbst von ihrer Richtigkeit
durchdrungen ist. Sie alle dienen, indem sie uns das Vermö gen leihen, das wir ihnen
borgen, dem Zweck, die Welt in ein Licht zu stellen, dessen Schein von uns ausgeht, und
im Grunde ist nichts anderes als dies die Aufgabe, fü r die jeder sein besonderes System
hat. Mit großer und mannigfaltiger Kunst erzeugen wir eine Verblendung, mit deren
Hilfe wir es zuwege bringen, neben den ungeheuerlichsten Dingen zu leben und dabei
vö llig ruhig zu bleiben, weil wir diese ausgefrorenen Grimassen des Weltalls als einen
Tisch oder einen Stuhl, ein Schreien oder einen ausgestreckten Arm, eine
Geschwindigkeit oder ein gebratenes Huhn erkennen. Wir sind imstande, zwischen
einem offenen Himmelsabgrund ü ber unserem Kopf und einem leicht zugedeckten
Himmelsabgrund unter den Fü ßen, uns auf der Erde so ungestö rt zu fü hlen wie in einem
geschlossenen Zimmer. Wir wissen, daß sich das Leben ebenso in die unmenschlichen
Weiten des Raums wie in die unmenschlichen Engen der Atomwelt verliert, aber
dazwischen behandeln wir eine Schicht von Gebilden als die Dinge der Welt, ohne uns
im geringsten davon anfechten zu lassen, daß das bloß die Bevorzugung der Eindrü cke
bedeutet, die wir aus einer gewissen mittleren Entfernung empfangen. Ein solches
Verhalten liegt beträ chtlich unter der Hö he unseres Verstandes, aber gerade das
beweist, daß unser Gefü hl stark daran teil hat.

Und in der Tat, die wichtigsten geistigen Vorkehrungen der Menschheit dienen der
Erhaltung eines bestä ndigen Gemü tszustands, und alle Gefü hle, alle Leidenschaften der
Welt sind ein Nichts gegenü ber der ungeheuren, aber vö llig unbewußten Anstrengung,
welche die Menschheit macht, um sich ihre gehobene Gemü tsruhe zu bewahren! Es
lohnt sich scheinbar kaum, davon zu reden, so klaglos wirkt es. Aber wenn man nä her
hinsieht, ist es doch ein ä ußerst kü nstlicher Bewußtseinszustand, der dem Menschen
den aufrechten Gang zwischen kreisenden Gestirnen verleiht und ihm erlaubt, inmitten
der fast unendlichen Unbekanntheit der Welt wü rdevoll die Hand zwischen den zweiten
und dritten Rockknopf zu stecken. Und um das zuwege zu bringen, gebraucht nicht nur
jeder Mensch seine Kunstgriffe, der Idiot ebensogut wie der Weise, sondern diese
persö nlichen Systeme von Kunstgriffen sind auch noch kunstvoll eingebaut in die
moralischen und intellektuellen Gleichgewichtsvorkehrungen der Gesellschaft und
Gesamtheit, die im Grö ßeren dem gleichen Zweck dienen. dienen. Dieses
Ineinandergreifen ist ä hnlich dem der großen Natur, wo alle Kraftfelder des Kosmos in
das der Erde hineinwirken, ohne daß man es merkt, weil das irdische Geschehen eben
das Ergebnis ist; und die dadurch bewirkte geistige Entlastung ist so groß, daß sich die
Weisesten genau so wie die kleinen Mä dchen, die nichts wissen, in ungestö rtem
Zustande sehr klug und gut vorkommen. Aber von Zeit zu Zeit, nach solchen
Zufriedenheitszustä nden, die man in gewissem Sinn auch Zwangszustä nde des Fü hlens
und Wollens nennen kö nnte, scheint das Gegenteil ü ber uns zu kommen oder, um es
gleichfalls in Begriffen eines Narrenhauses auszudrü cken, es setzt dann plö tzlich auf der
Erde eine gewaltige Ideenflucht ein, nach deren Ablauf das ganze Menschenleben um
neue Mittelpunkte und Achsen Achsen gelagert ist.

Die tiefer als der Anlaß reichende Ursache aller großen Revolutionen liegt nicht in der
angehä uften Unzuträ glichkeit, sondern in der Abnü tzung des Zusammenhalts, der die
kü nstliche Zufriedenheit der Seelen gestü tzt hat. Man kö nnte darauf am besten den
Ausspruch eines berü hmten Frü hscholastikers anwenden, der lateinisch »Credo, ut
intelligam« lautet und etwas frei sich etwa so ins zeitgenö ssische Deutsche ü bersetzen
lä ßt: Herr, o mein Gott, gewä hre meinem Geist einen Produktionskredit! Denn
wahrscheinlich ist jedes menschliche Credo nur ein Sonderfall des Kredits ü berhaupt. In
der Liebe wie im Geschä ft, in der Wissenschaft wie beim Weitsprung muß man glauben,
ehe man gewinnen und erreichen kann, und wie sollte das nicht vom Leben im ganzen
gelten?! Seine Ordnung mag noch so begrü ndet

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