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Essays und Verträge?


suhrkamp Taschenbuch
Wissenschaft
Technisch-ökonomisch ist die Moderne aus so
hartem Holz, daß Spiele mit ihrem Ende leicht
zu Spielereien werden; hingegen ist ihre mora­
lisch-politische Substanz, sind ihre liberalen
und demokratischen Traditionen so fragil, daß
Spiele mit ihrem Ende zu Spielen mit dem
Feuer werden. Die Überschreitung der Mo­
derne als Rückfall in die Barbarei ist eine reale
Möglichkeit.

ISBN 3-518-28695-1 DM 24.80

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I
suhrkamp taschenbuch
Wissenschaft 1095
Die Idee einer postmetaphysischen Moderne ist das gemeinsame Thema
der in diesem Band enthaltenen Arbeiten Albrecht Wellmers aus den letz­
ten fünfzehn Jahren. Die geschichtlichen Utopien in der Manischen
Tradition sind ebenso wie die Letztbegründungsprogramme in der Kanti-
schen Tradition Endspiele innerhalb der Metaphysik, die Dekonstruktio-
nen dieser Utopien und Letztbegründungsprogramme sind Endspiele mit
der Metaphysik. Und das Spiel mit dem Ende als einem letzten Telos - der ■
Geschichte, der Erkenntnis, des menschlichen Lebens - ist die Metaphy­
sik. Beckett hat das Ende dieses Spiels mit dem Ende als Spiel inszeniert,
eben als Endspiel; der Plural im Titel dieses Bandes steht nicht nur für die
Pluralität der oben genannten Assoziationen, sondern auch für die Tatsa­
che, daß das Endspiel mit der Metaphysik, wo es philosophisch gespielt
wird, nur im Plural gedacht werden kann: es hat vorerst kein absehbares
Ende. Das Beiwort »unversöhnlich« im Untertitel enthält eine Kritik und
zugleich eine Hommage an Adorno. In seinem Werk koexistieren die drei
eingangs genannten Arten von Endspielen in den komplexesten Konstel­
lationen schiedlich-unfriedlich miteinander.
Albrecht Wellmer, geb. 1933, ab 1974 Professor für Philosophie an der
Universität Konstanz, seit 1990 an der Freien Universität Berlin. In der
Reihe Suhrkamp taschenbuch Wissenschaft hat er bereits veröffentlicht:
Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach
Adorno (stw 532); Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei
Kant und in der Diskursethik (stw 578).
Albrecht Wellmer
Endspiele:
Die unversöhnliche Moderne
Essays und Vorträge

Suhrkamp
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Wellmer, Albrecht:
Endspiele: die unversöhnliche Moderne :
Essays und Vorträge /
Albrecht Wellmer. -
2. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp 1999
(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1095)
ISBN 3-518-28695-1
NE: GT

suhrkamp taschcnbuch Wissenschaft 1095


Erste Auflage 1993
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Satz und Druck: Wagner GmbH, Nördlingen
Printed in Germany
Umschlag nach Entwürfen von
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

2 3 4 S 6 7 - 04 03 02 01 00 99
Inhalt

Vorwort 9

I. NEGATIVE UND KOMMUNIKATIVE FREIHEIT

1. Frciheitsmodelle in der modernen Welt (1989) . . . . >5


2. Bedingungen einer demokratischen Kultur. Zur Debatte
zwischen »Liberalen« und »Kommunitaristen« (1992) 54
3. Bedeutet das Ende des »realen Sozialismus« auch
das Ende des Marxschen Humanismus?
Zwölf Thesen (1990) 81

4. Naturrccht und praktische Vernunft. Zur aporetischcn


Entfaltung eines Problems bei Kant, Hegel
und Marx (1978) 95

II. NACHMETAPHYSISCHE PERSPEKTIVEN

5. Wahrheit, Kontingenz, Moderne (1991) 157


6. Adorno, die Moderne und das Erhabene (1991) . . . 178
7. Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes (1988) . . . 204

8. Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute.


Fünf Thesen (1986) 224

III. ZEIT-BILDER

9. Ludwig Wittgenstein — Über die Schwierigkeiten


einer Rezeption seiner Philosophie und ihre Stellung zur
Philosophie Adornos (1991) 239
10. Der Mythos vom leidenden und werdenden Gott.
Fragen an Hans Jonas (1992) 2JO

11. Architektur und Territorium (1988) 257


12. Terrorismus und Gesellschaftskritik (1979) . . . , 2793

ANHANG

13. Hannah Arendt on Judgement: The Unwritten Doctrine


of Reason (1985) 3°9 i
Nachweise 331
Für die Eisbären
:■

. I ■


Vorwort

In dem vorliegenden Band sind Arbeiten aus den letzten fünfzehn


Jahren abgedruckt, deren gemeinsames Thema die Idee einer post­
metaphysischen Moderne ist. Die geschichtlichen Utopien in der
Marxschen Tradition sind ebenso wie die Letztbegründungspro­
gramme in der Kantischen Tradition Endspiele innerhalb der
Metaphysik, die Dekonstruktionen dieser Utopien und Letztbe­
gründungsprogramme sind Endspiele mit der Metaphysik. Und
das Spiel mit dem Ende als einem letzten Telos - der Geschichte,
der Erkenntnis, des menschlichen Lebens - ist die Metaphysik.
Beckett hat das Ende dieses Spiels mit dem Ende als Spiel insze­
niert, eben als Endspiel; der Plural im Titel dieses Bandes steht
nicht nur für die Pluralität der Assoziationen, die ich eben ge­
nannt habe, sondern auch für die Tatsache, daß das Endspiel mit
der Metaphysik, wo cs philosophisch gespielt wird, nur im Plural
gedacht werden kann: es hat vorerst kein absehbares Ende. Ich
will auch eine ironisch-polemische Komponente des Titels nicht
verschweigen; sic betrifft jene Spiele mit dem Ende der Moderne,
die in der jüngsten Vergangenheit Konjunktur hatten. Hier kom­
men auch die pejorativen Konnotationen des Wortes »Spiel« zu
ihrem Recht: technisch-ökonomisch ist die Moderne aus so hartem
Holz, daß Spiele mit ihrem Ende leicht zu Spielereien werden; hin­
gegen ist ihre moralisch-politische Substanz, sind ihre liberalen
und demokratischen Traditionen so fragil, daß Spiele mit ihrem
Ende zu Spielen mit dem Feuer werden. Die Überschreitung der
Moderne als Rückfall in die Barbarei ist eine reale Möglichkeit. -
Das Beiwort »unversöhnlich« im Untertitel enthält eine Kritik und
zugleich eine Hommage an Adorno. In seinem Werk koexistieren
die drei eingangs genannten Arten von Endspielen in den komple­
xesten Konstellationen schiedlich-unfriedlich miteinander. Es hat
mich immer gereizt, das produktive Dickicht dieser Konstellatio­
nen ein wenig zu lichten, selbst um den Preis, das Gespinst dialek­
tischer Subtilitäten in Adornos Texten hierbei gelegentlich zu zer­
reißen. Die Essays 6, 7, 8 und 9 dieses Bandes gehören in der
einen oder anderen Weise in diesen Zusammenhang.
Die im Teil 1 unter dem Obertitel »Negative und kommunikative
Freiheit« zusammengefaßten Aufsätze bilden, auf der Ebene der

9
politischen Philosophie, gewissermaßen das Korrelat meiner
Überlegungen zur Moralphilosophie in Ethik und Dialog (Frank­
furt 1986). »Freiheitsmodelle in der modernen Welt« ist mein
Versuch, den internen Zusammenhang zwischen liberalen Grund­
rechten und moderner Demokratie und hierin zugleich das Span­
nungsverhältnis zwischen »negativer« und »kommunikativer«
Freiheit aufzuweisen. Dieser 1989 geschriebene Aufsatz enthält
u. a. eine Auseinandersetzung mit älteren Positionen von Haber­
mas, die sich mit der Publikation von Habermas’ Faktizität und
Geltung nur scheinbar erledigt hat. Leider lassen sich in einer
Vorbemerkung die Punkte nicht aufführen, an denen sich meine
Einwände nicht erledigt haben (sie betreffen vor allem Habermas’
Vertrauen in die systematische Kraft des »Diskursprinzips«; ich
habe sie in zwei Fußnoten zu den ersten beiden Aufsätzen ange­
deutet). »Bedingungen einer demokratischen Kultur« nimmt Mo­
tive des älteren Aufsatzes, wenngleich unter veränderten Frage­
stellungen, wieder auf; neu ist der Versuch, auf normative
Konsequenzen hinzuweisen, die sich aus dem internen Zusam­
menhang zwischen Menschen- und Bürgerrechten ergeben. In
den zwölf Thesen zum Thema »Bedeutet das Ende des >realen
Sozialismus» auch das Ende des Marxschen Humanismus?« habe
ich Grundmotive der vorangehenden Aufsätze in einem etwas di­
rekter zeitgeschichtlich-politischen Sinne in eine Kritik des Marx­
schen Humanismus umgesetzt. Im Zusammenhang der drei eben
genannten Arbeiten stellt der bereits 1978 entstandene Aufsatz
»Naturrecht und praktische Vernunft« eher eine Vorarbeit dar,
von der ich mich heute in einigen ihrer Prämissen distanziere; ich
habe den Aufsatz deshalb mit aufgenommen, weil ich ihn in sei­
nen kritischen Resultaten und einer Reihe von Detailanalysen
immer noch als Hintergrund meiner späteren Überlegungen gel­
ten lassen möchte.
Der Teil 11 - »Nachmetaphysische Perspektiven« - enthält drei der
eingangs erwähnten Arbeiten (Nr. 6, 7 und 8), in denen ich versu­
che, mich kritisch und konstruktiv mit Grundmotiven Adornos
auseinanderzusetzen. In »Adorno, die Moderne und das Erha­
bene« steht eher die Ästhetische Theorie, in »Metaphysik im
Augenblick ihres Sturzes« eher die Negative Dialektik im Zen­
trum. In den Thesen zum Thema »Die Bedeutung der Frankfurter
Schule heute« habe ich Vermutungen über ein »rationalitätstheo­
retisches« Potential von Adornos Analysen formuliert, denen ich

10
in anderen Arbeiten bislang nur sporadisch und indirekt nachge­
gangen bin, auf die ich aber an anderer Stelle zurückzukommen
hoffe. Der erste Aufsatz des Teils n, »Wahrheit, Kontingenz, Mo­
derne«, enthält schließlich den Versuch einer wechselseitigen Kri­
tik von Rorty auf der einen Seite und Apel/Habcrmas auf der
anderen, bei der es zugleich um das Problem eines postmetaphy­
sischen Wahrheitsverständnisses und die Grundlagen einer libera­
len Kultur ohne letzte Grundlagen geht.
Den Zeit-Bildern des Teils in liegen Beiträge zu speziellen Gele­
genheiten zugrunde, denen ihr Gelegenheitscharakter deutlich
. anzumerken ist. Sic sind thematisch untereinander heterogen, va­
riieren aber sämtlich Grundmotive der Arbeiten aus Teil i und II.
Als Anhang habe ich eine ältere, auf Englisch geschriebene und
bisher nicht übersetzte Arbeit über Hannah Arendt in der Origi­
nalfassung aufgenommen; zum einen, weil sie thematisch in den
Kontext der hier abgedruckten Arbeiten (insbes. Essays i, z und
5) gehört, zum anderen, weil ich die große Bedeutung, die Han­
nah Arendts politische Philosophie für mich gehabt hat, in keinem
der vorangehenden Aufsätze gebührend gewürdigt habe - so
wollte ich ihr hier wenigstens einen kritischen Artikel widmen;
und schließlich habe ich noch ein sehr persönliches Motiv: Unter
meinen drei früheren Lehrern bzw. Kollegen aus der Generation
der jüdischen Emigranten (Adorno war einer meiner Lehrer,
Hans Jonas und Hannah Arendt waren eine kurze Zeit lang meine
älteren Kollegen an der New School for Social Research in New
York) habe ich Hannah Arendt, was die in der Person unmittelbar
faßbare intellektuelle und moralisch-politische Physiognomie be­
trifft, am meisten bewundert; deshalb sollte sie in einem Band, in
dem ich mich auf Adorno extensiv und auf Jonas wenigstens in
einem kleinen Artikel beziehe, nicht fehlen.
Aufsätze zur Sprachphilosophie habe ich in diesen Band nicht
aufgenommen. Ich habe vor, sie in näherer Zukunft zusammen
mit ein oder zwei neueren Arbeiten in einem weiteren Sammel­
band abzudrucken.
Mein besonderer Dank gilt Ina Gumbel, die nicht nur unermüd­
lich und zuverlässig die Texte geschrieben und neugeschrieben,
sondern auch in kritischen Phasen die Nerven behalten hat.

II
I.
Negative und kommunikative Freiheit
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i. Freiheitsmodelle in der modernen Welt

Die Frage, wie sich Freiheit in der modernen Welt verwirklichen


und sichern läßt, hat die europäische politische Philosophie über
die Jahrhunderte hinweg immer wieder inspiriert und beunruhigt.
Dies gilt zumindest für jene politischen Philosophen, die der Tra­
dition der Aufklärung im weitesten Sinne des Wortes zugerechnet
werden können. Zu den Philosophen in dieser Tradition der Auf­
klärung rechne ich etwa Locke, Rousseau, Kant, Hegel, Marx,
Mill, Tocqueville und, in unseren Tagen, Jürgen Habermas, Char­
les Taylor und John Rawls. Was diese Philosophen miteinander
verbindet, ist ein universalistisches Freiheitskonzept, verknüpft
mit einem starken Begriff der Menschenwürde und/oder der
Menschenrechte. Freilich hören die Gemeinsamkeiten hier auf;
die grundlegenden Differenzen betreffen die Frage, ob die Idee
der Freiheit eher »individualistisch« oder »kommunalistisch« ver­
standen werden sollte.1 Individualistische Freiheitstheorien sind
zentriert um einen Begriff grundlegender Rechte-, die Freiheit
wird verortet in den Grundrechten von Individuen. Kommunali-
stische Freiheitstheorien verorten demgegenüber die Freiheit in
einer intersubjektiven Form des Lebens; sie verstehen Freiheit
nicht in erster Linie (negativ) als Abwesenheit äußeren Zwanges,
also im Sinne eines rechtlich gesicherten Freiheitsspie/rawzns von
1 Meine Unterscheidung zwischen individualistischen und kommunali-
stischen Freiheitsbegriffen hat naturgemäß eine gewisse Affinität zu
Isaiah Berlins Unterscheidung zwischen »negativen« und »positiven«
Freiheitsbegriffen. Da ich im übrigen aber begrifflich ganz anders vor­
gehe als Berlin, sind die beiden Unterscheidungen zugleich bis zu einem
gewissen Grade inkommensurabel. Weiterhin entspricht meine Gegen­
überstellung von individualistischen und kommunaiistischen Freiheits­
begriffen bis zu einem gewissen Grade dem Gegensatz von »liberalen«
und »kommunitaristischen« Positionen. Da sich aber die entsprechen­
den Begriffsfelder nur innerhalb bestimmter Grenzen zur Deckung
bringen lassen, ziehe ich es vor, an dem Wort »kommunalistisch« fest­
zuhalten. Vgl. aber den Aufsatz »Bedingungen einer demokratischen
Kultur. Zur Debatte zwischen »Liberalen« und »Kommunitaristen«« in
diesem Band.

>5
Individuen, sondern (positiv) als eine normativ ausgezeichnete
Form des Lebens von Individuen-in-Gescllschaft. Kommunale
Freiheit ist in einem wesentlichen Sinne öffentliche Freiheit; in der
Tradition der Aufklärung war es vor allem der Begriff der Ver­
nunft, der die zentrale normierende Rolle beim Übergang von
einem (bloß) negativen zu einem positiven, kommunalistischcn
Freiheitsbegriff gespielt hat.
Individualistische und kommunalistischc Freiheitsverständnisse
erscheinen in der modernen politischen Philosophie durchaus
nicht immer als polare Gegensätze. Häufig verhalten sie sich viel­
mehr komplementär zueinander, so etwa in den Theorien von
Hegel, Mill und Tocqueville. Radikaler Individualismus und radi­
kaler Kommunalismus sind eher Grenzfälle; vielleicht könnte
man Robert Nozick einen radikalen Individualisten und Lenin
einen radikalen Kommunalisten nennen. Für gewöhnlich führen
dagegen individualistische Theorien zum Begriff einer demokrati­
schen Selbstorganisation der Gesellschaft (ein »kommunalisti-
sches« Element), während kommunalistische Theorien eo ipso
den Anspruch erheben müssen, individualistische Freiheitskon­
zeptionen gleichsam auf ihrem eigenen Felde zu überbieten, das
heißt aber: in sich »aufzuheben«. Besonders deutlich wird dies am
Beispiel von Marx; dessen Idee eines Reichs der Freiheit ist die
kommunalistische Antizipation einer nahezu schrankenlosen
Freiheit der Individuen.
Prägnanter wird der Gegensatz zwischen Individualismus und
Kommunalismus, wenn man ihn als einen Gegensatz anthropolo­
gischer Grundorientierungen begreift. Als solchen hat ihn etwa
Charles Taylor analysiert.2 Individualistische Theorien gehen
von einzelnen, gleichsam »vorsozialen« Individuen aus, denen sie
gewisse natürliche Rechte zuschreiben sowie die Fähigkeit zu
zweckrationalem bzw. strategisch-rationalem Handeln. Dement­
sprechend verstehen solche Theorien politische Institutionen als
legitim, sofern sie als Resultat eines Vertrags zwischen gleichen
und freien Individuen gedacht werden können. Freiheit ist hier
verstanden als die Freiheit zu tun, was ich tun will - was immer es
ist, das ich tun will -, und natürliche Rechte lassen sich verstehen
im Sinne von Kants Definition des Rechts in der Einleitung zur

2 Ch.Taylor: »Atomism«, in: Philosophy and the Human Sciences. Philo-


sophical Papers. Bd.a, New York: Cambridge University Press 1985.

i6
Rechtslehre der Metaphysik der Sitten: »Eine jede Handlung ist
recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines
jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze
zusammen bestehen kann.«3 Freiheit im Sinne von Kants »Frei­
heit der Willkür« wird oft auch als Freiheit im negativen Sinne
oder als negative Freiheit bezeichnet. Negative Freiheit, begrenzt
durch allgemeine Gesetze, die eine gleiche Freiheit aller garantie­
ren, ist der Grundgehalt natürlicher Rechte, während die Aufgabe
des Sozialvertrags in der Positivierung und institutionellen Absi­
cherung solcher natürlichen Rechte besteht.
Kommunalistische Theorien stellen demgegenüber die anthropo­
logische Grundprämisse der individualistischen Vertragskon­
struktionen in Frage.'1 Der kommunalistischen Gegenthese
zufolge ist die Idee eines vorsoziaien, rational seine je zufälligen
Zwecke verfolgenden Individuums nicht nur eine pure Fiktion -
was die Individualisten wohl zugeben würden —, sondern unter
Gesichtspunkten der politischen Theoricbildung eine unangemes­
sene und schlechte Fiktion. Wenn, so wird etwa ein Kommunalist
argumentieren, menschliche Individuen wesentlich soziale Indivi­
duen sind, wenn ihre Individualität das Produkt ihrer Sozialisie­
rung und nicht deren Ausgangspunkt ist; wenn die Kultur, die
Traditionen, die Lebensformen und die Institutionen einer Gesell­
schaft konstitutiv für die Individualität der Individuen sind, dann
müssen die individualistischen Theorien das Verhältnis von Indi­
viduum und Gesellschaft, von Subjektivität und Intersubjektivi­
tät, und daher auch das Problem der Freiheit bereits in ihren
Grundprämissen verfehlen. Die kommunalistische Grundinten­
tion ist, daß von individueller Freiheit überhaupt nicht geredet
werden kann außer durch einen internen und positiven Bezug auf
die Lebensformen und Institutionen einer Gesellschaft: Individu­
elle Freiheit ist eine kommunal ermöglichte Freiheit in dem Sinne,
daß die anderen nicht bloß die Grenze, sondern auch die Bedin­
gung der Möglichkeit meiner Freiheit sind. Der ursprüngliche Ort
der Freiheit wäre demnach nicht das vereinzelte Individuum, son­
dern die Gesellschaft als Medium einer Individuierung durch
Sozialisierung; Freiheit wäre zu denken als etwas, das nicht nur —
3 I. Kant: Metaphysik der Sitten, in: Werke in sechs Bänden (Hg. W. Wei-
schedel), Bd. iv, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgescllschaft 1956,
S.337.
4 Vgl. Ch. Taylor, a.a.O.

>7
als negative Freiheit - durch Institutionen begrenzt, sondern das -
als positive Freiheit - durch die Institutionen, Praktiken und Le­
bensformen einer Gesellschaft allererst ermöglicht und hervorge­
bracht wird. Da aber der soziale Zusammenhang als der Ort
positiver Freiheit nur durch die Individuen, die sein Teil sind, am
Leben erhalten, »reproduziert«, interpretiert und fortgebildet
werden kann, erweisen sich nun individuelle und »öffentliche«
Freiheit als unlösbar miteinander verknüpft; und dies bedeutet,
wie Taylor zeigt, daß der Freiheitsbegriff einen normativen Gehalt
bekommt, den er in individualistischen Konzeptionen nicht ha­
ben kann. Freiheit bezeichnet nicht mehr nur einen durch Rechte
definierten Handlungsspielraum, sondern eine normativ ausge­
zeichnete Form des Umgangs mit sich selbst und mit anderen,
eine Fähigkeit, unter den möglichen - individuellen oder kollekti­
ven - Zwecken die richtigen zu wählen; eine Freiheit, nicht nur zu
tun, was ich tun will, sondern auch zu wollen, was gut ist. Taylor
hat noch einmal sehr schön gezeigt, daß die Idee der - individuel­
len oder kollektiven - Selbstbestimmung eine normative Distink­
tion in sich bereits enthält: Selbstbestimmung meint vernünftige
Selbstbestimmung. Und hier kann das Wort »vernünftig« nicht
mehr nur »zweckrational« oder »strategisch rational« bedeuten
wie im individualistischen Modell; es bezeichnet vielmehr eine
deliberierende, reflektierende und kommunikative Vernunft, die
sich im rationalen Umgang mit intersubjektiven Geltungsansprü­
chen aller Art manifestiert,5 im reflektierten Selbstverhältnis der
Individuen ebenso wie im öffentlichen Diskurs, in den morali­
schen Urteilen der Individuen ebenso wie in den Formen gesell­
schaftlicher Solidarität und politischer Entscheidungsfindung.
Für den Kommunalisten existiert auch die Vernunft nur als kom­
munale, als kommunikative Vernunft; indem in den Ideen der
Freiheit und der Vernunft das intersubjektive, das kommunale
Element freigelegt wird, treten diese Ideen zugleich in einen inter­
nen Zusammenhang miteinander.
Individualistische und kommunalistische Freiheitstheorien ent­
werfen zwei miteinander unvereinbare Bilder jener rationalen Ak­
toren, um deren Freiheit es geht. Man könnte die individuali­
stischen Konzeptionen, deren erster wichtiger Vertreter Hobbes
war, charakterisieren durch einen anthropologischen »Atomis-

5 VgL Ch. Taylor, a.a.O.

18
mus«6 und einen »instrumentalistischen« Rationalitätsbegriff; in
erkenntnistheorctischer Hinsicht haben diese Konzeptionen eine
enge Affinität zurobjektivistischen (mechanistischen, physikalisti-
schcn) und anti-Aristotclischcn Tradition der modernen wissen­
schaftlichen Weltauffassung; politisch gesehen, so könnte man sa­
gen, reflektiert sich in ihnen die gesellschaftliche Perspektive und
das Sclbstverständnis jener revolutionären Klasse, die im moder­
nen Europa zur Dominanz kam: der Bourgeoisie. Die kommuna-
listischen Konzeptionen repräsentieren demgegenüber eine kriti­
sche Gegenströmung gegen den modernen Rationalismus: teils in
Anknüpfung an die Aristotelische Tradition, die in den individua­
listischen Naturrechtstheorien weitgehend verdrängt wurde, teils
als Ausdruck einer radikalen Kritik der Moderne, wie sie von
Rousseau und der deutschen Frühromantik zuerst formuliert wur­
de, teils schließlich durch Assimilation von Motiven aus jener radi­
kalen Kritik an der neuzeitlichen Subjekt- und Sprachphilosophie,
die in unserem Jahrhundert vor allem durch Wittgenstein und Hei­
degger initiiert wurde. Während die individualistischen Konzep­
tionen politischer Freiheit in engstem Zusammenhang stehen mit
der Selbst-Artikulation der modernen bürgerlichen Revolutionen
und der Legitimation der kapitalistischen Gesellschaft, haben die
kommunalistischen Konzeptionen durchweg einen kritischen Be­
zug nicht nur auf die anthropologischen Prämissen der individua­
listischen Theorien, sondern auch auf die Realität der modernen
bürgerlichen Gesellschaft. Hieran zeigt sich natürlich, daß die phi­
losophische Kritik des »Atomismus« oder des »possessiven Indivi­
dualismus«7 in der Regel zugleich dessen politische Kritik war;
und dies kann nur heißen, daß aus kommunalistischer Sicht die an­
thropologischen Prämissen der individualistischen Theorien zwar
philosophisch falsch, daß sie aber in einem gewissen Sinne in der
modernen bürgerlichen Gesellschaft praktisch wahr geworden
sind. Dementsprechend ist bis heute die Kontroverse zwischen
»Individualisten« und »Kommunalisten« eine politische Kontro­
verse über die Frage, welche Rolle bürgerliche Gesellschaft und
bürgerliche Demokratie im Hinblick auf die Verwirklichung von
Freiheit in der modernen Welt gespielt haben.
6 Der Ausdruck stammt von Ch. Taylor; vgl. a.a.O.
7 C. B. Macpherson: The Political Theory of Possessive Individualism,
New York: Oxford University Press 1962; dt.: Die politische Theorie
des Besitzindividualismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967.

i9
II.

Im Verlauf meiner idealtpyischen Skizze zweier entgegengesetzter


Typen der modernen politischen Philosophie habe ich bereits an­
gedeutet, daß ich, soweit es um die anthropologischen und episte­
mologischen Grundannahmen geht, auf der Seite der Kommuna-
listen stehe. Nun habe ich aber bereits darauf hingewiesen, daß
der Gegensatz zwischen Individualismus und Kommunalismus,
wenn man von Extremfällen absieht, eigentlich nur im Hinblick
auf solche anthropologischen und epistemologischen Prämissen
klare Konturen hat, während in den Gehalten der politischen Phi­
losophie Individualismus und Kommunalismus sich häufig kom­
plementär zueinander verhalten. Denkbar wäre, daß hierin eine
sachliche Nötigung zum Ausdruck kommt, nämlich die Nöti­
gung, auf der Ebene der politischen Philosophie die Antithese als
solche in Frage zu stellen oder jedenfalls neu zu definieren. Für
den Kommunalisten wäre dies die Nötigung, zwischen den an­
thropologisch-epistemologischen und den politischen Gehalten
des Individualismus schärfer zu unterscheiden, als dies in der
kommunalistischen Tradition - bis hin zu Charles Taylor - in der
Regel der Fall war.3 Für einen Kommunalisten stellt sich ja in
der Tat das Problem, daß öffentliche Feihcit und demokratische
Institutionen in der modernen Welt nur in jenen bürgerlichen Ge­
sellschaften - und zwar ungeachtet der philosophischen Defizite
ihrer Selbst-Auslegung - eine gewisse, wenngleich immer prekäre
Realität gewonnen haben, die in entscheidenden Zügen zugleich
dem individualistischen Modell entsprechen, insofern in ihnen die
Institutionalisierung von Grundrechten verknüpft war mit der
Freisetzung einer Sphäre strategischer - d. h. nicht solidarischer
oder »kommunikativer« - Interaktionen. Es muß eine geschichtli­
che Erfahrung zumindest analoger Art gewesen sein, die bereits
aus Hegel, der als radikal-romantischer Kommunalist begann, am
Ende einen kommunalistischen Verteidiger der bürgerlichen Ge­
sellschaft machte. Hegels Antwort auf die Frage, wie Freiheit in
der modernen Welt möglich sei, ist dementsprechend ein Versuch,
8 Vgl. jedoch inzwischen: Ch.Taylor: »Cross-Purposes: The Liberal-
Communitarian Debate«, in: N. Rosenblum (Hg.), Liberalem and the
Moral Life, Cambridge/Mass. und London 1989, wo Taylor zwischen
dem »ontologischen« und dem »advokatorischen« Aspekt des Problems
unterscheidet.

20
die politische Alternative von Individualismus und Kommunalis-
mus zu überschreiten. Ich glaube, daß diese Hcgelsche Antwort
trotz aller unübersehbaren Schwächen seiner Staatskonstruktion
in einigen Zügen bis heute unübertroffen geblieben ist. Des­
halb möchte ich Hegels Versuch einer Versöhnung von Individua­
lismus und Kommunalismus zum Ausgangspunkt meiner weite­
ren Überlegungen machen.
Hegels Grundstrategie war es bekanntlich, die Tradition des Na­
turrechts in einem kommunalistischen Begriff der »Sittlichkeit«
aufzuheben. Die Aufhebungsfigur bedeutet eine Affirmation und
eine Kritik des Naturrechts zugleich. Ich möchte im folgenden,
um den irreführenden Singular »das« Naturrecht zu vermeiden,
von einem naturrechtlichen Dispositiv sprechen; die Grundzüge
dieses naturrechtlichen Dispositivs habe ich in der Einleitung
skizziert. Hegels Affirmation des naturrechtlichen Dispositivs be­
sagt, daß er in der »naturrechtlichen« Verfassung der modernen
bürgerlichen Gesellschaft eine — im normativen Sinne - unhinter­
gehbare historische Realität erblickt. Hegels Kritik des natur­
rechtlichen Dispositivs besagt, daß die bürgerliche Gesellschaft,
sofern man sie nur sub specie ihrer naturrechtlichen Verfaßthcit
betrachtet, zugleich die Negation aller Formen kommunalen Le­
bens, die Negation gesellschaftlicher Solidarität, die Negation der
Kategorie Sittlichkeit ist. Die bürgerliche Gesellschaft, so wie He­
gel sie analysiert, ist eine Gesellschaft von Eigentümern, die
ungeachtet ihrer religiösen, rassischen oder politischen Unter­
schiede vor dem Gesetz gleich sind und die dementsprechend ein
durch allgemeine Gesetze sanktioniertes gleiches Recht haben,
ihre persönlichen Interessen und ihre idiosynkratischen Glücks­
vorstellungen zu verfolgen, ihren Lebensplan, ihren Beruf, ihren
Arbeitsplatz, Wohnsitz oder sozialen Lebensumkreis frei zu wäh­
len. Diese Rechtsstruktur der bürgerlichen Gesellschaft ist für
Hegel intern verknüpft mit einer kapitalistischen Marktökono­
mie, deren progressive und destruktive Dynamik Hegel bekannt­
lich bereits eindringlich analysiert hat. Die bürgerliche Gesell­
schaft bedeutet die Institutionalisierung allgemeiner und gleicher
»negativer« Freiheit; das heißt aber die Institutionalisierung von
Menschenrechten ebenso wie die Institutionalisierung eines allge­
meinen sozialen Antagonismus. In der naturrechtlichen Verfaßt-
heit der bürgerlichen Gesellschaft macht Hegel deren moralische
Zweideutigkeit sichtbar; als Gesellschaft allgemeiner und gleicher

21
Menschenrechte bedeutet diese Gesellschaft die Realisierung einer
conditio sine qua non aller möglichen politischen Freiheit in der
modernen Welt; als Gesellschaft eines allgemeinen sozialen Ant­
agonismus dagegen bedeutet diese Gesellschaft nicht nur die
Negation aller vormodernen Formen sozialer Solidarität, sondern
die Negation der Kategorie sozialer Solidarität, der Kategorie Sitt­
lichkeit. Wo sich die bürgerliche Gesellschaft »in ungehinderter
Wirksamkeit befindet«,9 gibt es keine kommunalen Bande mehr,
keine Sorge für das öffentliche Wohl, keine moralischen Skrupel,
die die soziale Zerstörung aufhaltcn könnten, deren Opfer die
Verlierer des allgemeinen Wettlaufs nach materiellen Gütern,
Macht, Geld und Glück sind.
Hegels Antwort auf diese moralische Zweideutigkeit der moder­
nen bürgerlichen Gesellschaft ist seine Theorie des Staates. Der
Staat bezeichnet für Hegel jene Sphäre substantieller Sittlichkeit,
in welcher der Antagonismus der bürgerlichen Gesellschaft aufge-
hoben ist, eine Sphäre der Relativierung, Kontrolle und Domesti­
zierung des sozialen Antagonismus und hierin zugleich einer
Wiederherstellung kommunaler Freiheit unter Bedingungen der
Modernität. In Wirklichkeit ragt nach Hegel die Sphäre kommu­
naler Sittlichkeit bis tief in die bürgerliche Gesellschaft hinein;
deren naturrechtliche Verfaßthcit ist ebensowohl Realität als auch
Schein. Hegels Grundidee ist, daß die naturrechtliche Verfaßthcit
der bürgerlichen Gesellschaft gar nicht angemessen in Kategorien
des naturrechtlichen Dispositivs verstanden werden kann. Die
bürgerliche Gesellschaft ist immer schon mehr und anderes, als sie
in ihrer naturrechtlichen Selbst-Artikulation erscheint. Denn die
Idee einer Gesellschaft von gleichen und freien Rcchtssubjekten,
die als Eigentümer auf dem Markt strategisch miteinander inter­
agieren, setzt nicht nur voraus, daß diese Rechtssubjekte einander
moralisch als Freie und Gleiche anerkennen, sie setzt vielmehr
auch politische und juridische Institutionen voraus, deren Funk­
tionieren nicht in Begriffen einer strategischen Handlungsrationa­
lität erklärt werden kann. Dies bedeutet aber, daß die Rechtssub­
jekte der bürgerlichen Gesellschaft immer schon mehr und
anderes sein müssen, als das naturrechtliche Modell zu denken

9 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (im folgenden


Rph), Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1986, §243, S. 389.

22
erlaubt. Hegel versucht die kommunalistischen Implikationen des
naturrcchtlichcn Dispositivs zu entfalten; er versucht zu zeigen,
daß die negative Freiheit der bürgerlichen Rcchtssubjekte gar
nicht kohärent denkbar wäre ohne ihre Integration in einen Zu­
sammenhang öffentlicher, kommunaler, »vernünftiger« Freiheit.
Die politischen Institutionen sind der Ort dieser kommunalen,
vernünftigen Freiheit; einer Freiheit, die mit der Sorge um das
öffentliche Wohl, mit der Entfaltung von Bürgertugenden, mit
öffentlicher Diskussion und der politischen Kontrolle der Öko­
nomie zusammengedacht werden muß. Die bürgerliche Gesell­
schaft als Verkörperung des naturrechtlichen Dispositivs erscheint
nun als nur eine Dimension der Sittlichkeit des modernen Staates,
nämlich als jene Dimension, in welcher das »Recht der Besonder­
heit«, die negative Freiheit der Individuen, ihre institutionelle
Verwirklichung gefunden hat. Für Hegel stellt diese Institutiona­
lisierung einer Sphäre negativer Freiheit eine notwendige Bedin­
gung »positiver«, politischer Freiheit in der Moderne dar; aber
frei im vollen Sinne vernünftiger Freihheit können die emanzi­
pierten Individuen nur als Bürger eines politischen Gemeinwe­
sens, als Staatsbürger sein.
Bevor ich auf das entscheidende Defizit der Hegelschen Staats­
konstruktion eingehe, möchte ich noch etwas zum »Recht der
Besonderheit« in Hegels politischer Philosophie sagen. Bekannt­
lich war für Hegel wie für viele seiner Zeitgenossen die athenische
Polis ein exemplarisches Modell der Institutionalisierung politi­
scher Freiheit. Am Modell der Polis konnte Hegel auch seine
These illustrieren, daß politische Freiheit nur als eine Form kon­
kreter Sittlichkeit Wirklichkeit haben kann. Die konkrete Sittlich­
keit eines Volkes ist - im Gegensatz zu dem, was Hegel
»Moralität« nennt - unlösbar verknüpft mit seinen Institutionen
und Traditionen, mit kollektiven Weltdeutungen und Selbstver­
ständnissen, mit gemeinsamen Gewohnheiten, Praktiken und
Wertorientierungen. Wenn aber die Individuen nur im Medium
einer Form konkreter Sittlichkeit zu dem werden können, was sie
sind, wenn ihr Selbstverständnis und ihre sozialen Beziehungen
immer schon geprägt sind durch eine intersubjektiv geteilte Form
des Lebens, dann werden auch ihre individuellen Interessen, ihre
Ambitionen, ihre praktisch-konkreten Wertungen, ihre Gefühle
der Selbstachtung, der Scham und Schuld in ihrer Tiefenstruktur
geprägt sein durch den objektiven Geist ihrer Gesellschaft. Umge-

23
kehrt bedeutet dies, daß die Idee der Freiheit in einer Gesellschaft
nur dauerhaft Fuß fassen kann, wenn sie zu einer Form konkreter
Sittlichkeit wird. Dies geschah in Hegels Beschreibung zum er­
stenmal in der großen Periode der athenischen Demokratie, »wo
der Geist herangcreift sich selbst zum Inhalt seines Wollens und
Wissens erhält, aber auf die Weise, daß Staat, Familie, Recht, Re­
ligion zugleich Zwecke der Individualität sind und diese nur
durch jene Zwecke Individualität ist.«10
Hegel nennt die griechische Form der Sittlichkeit »schön«. Schön
ist die griechische Form der Sittlichkeit in ihrer wechselseitigen
Durchdringung von Mythos, Kunst und Politik, durch welche sie
zugleich »verkörperter Geist« und »vergeistigte Sinnlichkeit«
ist.11 Diese Charakterisierung der griechischen Sittlichkeit - ein
ferner Nachhall des überschwenglichen Ältesten Systempro­
gramms des deutschen Idealismus - bedeutet beim späten Hegel
freilich zugleich die Charakterisierung ihrer Grenzen. Diese
Grenzen werden manifest in den Institutionen des Orakels und
der Sklaverei.12 Beide sind unvereinbar mit dem »Prinzip der
selbständigen Besonderheit« bzw. dem Prinzip der »subjektiven
Freiheit«,15 d.h. mit dem emanzipatorischen Grundprinzip der
modernen Welt. In seiner Kritik des Orakels und der Sklaverei
entfaltet Hegel zwei wesentliche Aspekte dieses Grundprinzips.
Der Einwand gegen die Sklaverei ist vertraut: Die Sklaverei, so
notwendig sie war für die griechische Form der Freiheit und
Gleichheit der Bürger, steht im Widerspruch zum Prinzip der
Freiheit und Würde aller als Menschen. Das Korrelat dieser Kritik
ist das Postulat allgemeiner und unveräußerlicher Menschen­
rechte. Wie schon betont, folgt Hegel in seiner juridischen und
institutionellen Explikation dieses Postulats ein gutes Stück Weges
der Tradition des modernen Naturrechts (bzw. der modernen po­
litischen Ökonomie). Menschenrechte sind in dieser Tradition
zentriert um Eigentumsrechte und ihre moralischen und juridi­
schen Implikationen. Indessen erschöpft sich das »Recht der
Besonderheit« nicht in diesen negativen Freiheitsrechten. Dies
io G.W.F.Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (im
folgenden Gph), in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. iz, Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1970, S. 275.
ti A.a.O.
12 A.a.O., S. jiof.
13 G.W.F.Hcgel, Rph, a.a.O., § 1S5, S. 342.

24
wird deutlich an Hegels Kritik des Orakels. Hegel charakterisiert
die Institution des Orakels als strukturelle Begrenzung des ratio­
nalen Diskurses und der rationalen Selbstverantwortung der Han­
delnden in der griechischen Polis. Selbstverantwortung ist das
Komplement von Selbstbestimmung; diese aber — das »aus sich
selbst Beschließen« - verlangt eine »festgewordene Subjektivität
des Willens, den überwiegende Gründe bestimmen«.14 Der
»schönen Individualität« der Griechen, die in der Mitte steht zwi­
schen der »Selbstlosigkeit des Menschen« und der »unendlichen
Subjektivität«,15 ist das Prinzip der Selbstbestimmung durch
»überwiegende Gründe« noch fremd. Die konkrete Sittlichkeit
der griechischen Polis ist die einer traditionalen Gesellschaft, die
»den Feind der Unmittelbarkeit, die Reflexion und Subjektivität
des Willens, noch nicht in sich« hat.16 Die Grenzen rationaler
Selbstverantwortung in der griechischen Polis, die die Institution
des Orakels anzeigt, bezeichnen zugleich einen irreduzibel dog­
matischen Charakter der griechischen Sittlichkeit; die mythologi­
schen Grundlagen der griechischen Welt- und Selbstdeutung, der
griechischen Demokratie, sind noch nicht zum möglichen Gegen­
stand rationaler Kritik geworden. Der dogmatische oder konven­
tionelle Charakter der griechischen Sittlichkeit ist die Bedingung
ihrer exemplarischen Schönheit. Deshalb mußte die griechische
Aufklärung, die in der Figur des Sokrates kulminierte, eine Auf­
klärung, in der zum erstenmal das »Prinzip der selbständigen
Besonderheit« geltend gemacht wurde, die griechische Welt »ins
Verderben« stürzen;17 in dem Augenblick, in dem das Bedürfnis
nach Begründung und Rechtfertigung sich auf die Grundlagen der
griechischen Sittlichkeit zu richten begann, mußten diese Grund­
lagen sich als brüchig erweisen. Insofern war nicht nur die sophi­
stische Aufklärung, sondern mehr noch der Sokratische Geist
Ferment einer Zersetzung der Polis; deren Vertreter hatten gute
Gründe, Sokrates zum Tode zu verurteilen. Im Sokratischen Geist
tritt das Prinzip der selbständigen Besonderheit nicht in seinen
juridischen, sondern in seinen moralischen und kognitiven
Aspekten in Erscheinung; nämlich als »das Recht, nichts anzuer­
kennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe«.18
14 G.W.F. Hegel, Gph, a.a.O., S. 310.
15 A.a.O., S. 293. r6 A.a.O., S. 308.
17 A.a.O., S.309; vgl. auch Rph, a.a.O., § 185.
18 G. W.F.Hegel, Rph, a.a.O., § 132, 8.245.

2S
Dieses Recht verlangt eine Form der politischen Legitimation, die
innerhalb der Grenzen der griechischen Polis nicht zugänglich
war; aus diesem Grunde war Platos Versuch, die Schönheit und
Wahrheit der griechischen Sittlichkeit im Medium des philosophi­
schen Gedankens noch einmal zu restaurieren, von allem Anfang
an paradox - er konnte nur zur repressiven Konzeption einer
Idealgesellschaft führen. »Platon in seinem Staate«, sagt Hegel,
»stellt die substantielle Sittlichkeit in ihrer idealen Schönheit und
Wahrheit dar; er vermag aber mit dem Prinzip der selbständigen
Besonderheit, das in seiner Zeit in die griechische Sittlichkeit her­
eingebrochen war, nicht anders fertig zu werden, als daß er ihm
seinen nur substantiellen Staat cntgcgenstellte und dasselbe bis in
seine Anfänge hinein, die es im Privateigentum [...] und in der
Familie hat [...] ganz ausschloß.«1’
Das Prinzip der selbständigen Besonderheit, darauf wollte ich
noch einmal hinweisen, hat für Hegel einen »internen« und einen
»externen« Aspekt. Im umfassenden Sinne verstanden ist es »das
Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des
Einzelnen, der subjektiven Freiheit«,20 ein Prinzip, das in He­
gels philosophischer Sicht der Geschichte zur weltbildenden
Macht wurde mit dem Christentum auf der einen Seite und dem
römischen Recht auf der anderen.21

III.

Nach allem, was ich bisher über die Prämissen von Hegels Kon­
struktion des modernen Staates gesagt habe, hätte beim späten
Hegel der Versuch nahegelegen, für moderne Gesellschaften den
Begriff einer demokratischen, universalistischen und säkularisier­
ten Form der Sittlichkeit zu konstruieren. Bekanntlich hat Hegel
diesen Versuch nicht unternommen. In mancher Hinsicht kommt
er einer entsprechenden Konzeption nahe, wenn er über die
Selbstverwaltung von Kommunen und Korporationen, über die
öffentliche Meinung, die Freiheit der Presse oder über parlamen­
tarische Repräsentation spricht. Hegels halbherzige Konzessio-

ij A.a.O., § 185, S. 342.


20 A.a.O.
21 A.a.O.

26
ncn an den demokratischen Geist der modernen westlichen Welt
sind jedoch immer verknüpft mit prinzipiellen Einwänden gegen
jeden Versuch, die Idee der Demokratie auf die moderne Welt
anzuwenden. Hegel verwirft die politische Interpretation natur­
rechtlicher Prinzipien, d.h. ihre Interpretation als Prinzipien
einer demokratischen Form der Willensbildung in modernen Ge­
sellschaften. Hegels philosophische Gründe für diese Zurückwei­
sung eines politisch verstandenen Naturrechts sind komplex, aber
letztlich wenig überzeugend. Seine beiden wichtigsten Argumente
sind: (r) ein »kommunalistischer« Einwand gegen die individua­
listische Anthropologie des Naturrechts; und (2) ein Hinweis auf
die Differenziertheit und Komplexität moderner Gesellschaften.
Dem ersten Argument zufolge ist der naturrechtliche Begriff der
Demokratie »abstrakt«, weil die anthropologischen Annahmen
des Naturrechts und das Prinzip negativer Freiheit unzureichend
sind, einen Begriff von Demokratie als Form konkreter Sittlich­
keit zu begründen. Dem zweiten Argument zufolge lassen die
Komplexität und die funktionale Differenzierung moderner Ge­
sellschaften, läßt insbesondere die Entstehung einer weitgehend
entpolitisierten Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft eine direkte
Demokratie im modernen Staate nicht zu. Während das erste Ar­
gument die im Begriff der »Sittlichkeit« implizierte Komplexität
gegen die Formalität des »abstrakten« Rechts ausspielt, spielt das
zweite Argument die Komplexität moderner Gesellschaften gegen
die im Begriff der direkten Demokratie implizierte Überschau­
barkeit kleiner, vormoderner Gesellschaften aus. Aber diese bei­
den Prämissen, zusammen mit Hegels Konklusion, ergeben
keinen gültigen Schluß: Hegel zeigt keineswegs, daß die universa­
listischen Prinzipien des Naturrechts sich nicht in einen demokra­
tischen Begriff der Sittlichkeit für moderne Gesellschaften »über­
setzen« lassen. Dies ist der blinde Fleck der Hcgelschen
Rechtsphilosophie. Für diesen blinden Fleck der Hegelschen
Rechtsphilosophie gibt es sicherlich mehrere Erklärungen: Eine
ist, daß Hegel, obwohl ein »kommunalistischer« Philosoph, den
Geist letztlich als Subjektivität und nicht als Intersubjektivität
begriff22; eine zweite Erklärung ist, daß Hegel keine unmittel-
22 Wie Vittorio Hösle gezeigt hat, hat Hegel den Übergang zu einem
intersubjektiven Begriff des Geistes nur auf der Ebene der »Realphilo­
sophie«, nicht aber in seiner Logik vollzogen. Dies würde, so Hösle,
die unaufgelösten Spannungen und Widersprüche zwischen Hegels

27
bare Erfahrung mit demokratischen Traditionen in der modernen
Welt hatte; eine dritte Erklärung wäre schließlich, daß der Begriff
einer posttraditionalen Form demokratischer Sittlichkeit in der
Tat begriffliche Schwierigkeiten bereitet: denn in ihm wäre die
Abwesenheit einer der Kritik entzogenen sittlichen »Substanz«
zusammenzudenken mit einer zur Gewohnheit, zur Tradition und
zur Lebensform geronnenen Form ethischer Toleranz, kritischer
Rationalität und demokratischer Selbstbestimmung. Eine demo­
kratische Sittlichkeit wäre eine Sittlichkeit zweiter Stufe; eine
Sittlichkeit jenseits des »Standpunkts] der Sittlichkeit, welche nur
Gewohnheit und Sitte ist und damit noch eine Partikularität im
Dasein«.23 Zwar ist Hegels Rechtsphilosophie der Versuch, den
Begriff einer Sittlichkeit jenseits des »Standpunkts der Sittlich­
keit« zu konstruieren; aber Hegel bleibt eigentümlich unent­
schlossen, wo es um die Frage geht, wie diese Sittlichkeit jenseits
der Sittlichkeit sich zur substantiellen Sittlichkeit traditionaler,
vormoderner Gesellschaften verhält. In seiner ingeniösen Ideali­
sierung des preußischen Staates bleibt er - ein Preuße.
Deshalb hatte Marx recht, wenn er in seiner Kritik des Hegelschen
Staatsrechts auf dem demokratischen Prinzip der modernen euro­
päischen Geschichte insistierte. »Die Demokratie«, sagt Marx,
»ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfas­
sung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der
Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen
Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein
eignes Werk gesetzt. Die Verfassung selbst erscheint als das, was
sie ist, freies Produkt des Menschen [...]« Und: »Die Demokratie
verhält sich zu allen übrigen Staatsformen als ihrem alten Testa­
ment [...]. In der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das
materielle Prinzip. Sie ist daher erst die wahre Einheit des Allge­
meinen und Besonderen.«24 Indes bleibt Marx’ eigene Artikula-

Logik und seiner »Realphilosophie« erklären. Aber es könnte ebenso


eine Erklärung dafür sein, daß auf der Ebene der »Rcalphilosophic«
selbst, nämlich in der Rechtsphilosophie, der Bereich der Intersubjek­
tivität den Zwängen einer Philosophie des absoluten Subjekts unter­
liegt und sich daher nicht im Sinne eines demokratischen Begriffs der
Sittlichkeit ausformulieren läßt. (Vgl. V. Hösle: Hegels System, 2 Bde.,
Hamburg: Meiner 1987.)
23 G. W. F. Hegel, Cph, a.a.O., S. 311.
24 K.Marx: »Kritik des Hegelschen Staatsrechts«, in: V/erke-Schriften-

28
tion der Idee der Demokratie »abstrakt« genau im Hegelschcn
Sinne. Seine Idee einer freien Assoziation der Produzenten, die
nach der Überwindung des Kapitalismus gemeinschaftlich ihren
Metabolismus mit der Natur regulieren würden, bezeichnet die
utopische Perspektive eines kollektiven Lebensprozesses, dessen
Einheit und Harmonie sich spontan aus der sozialen Interaktion
voll emanzipierter Individuen ergeben würde. Diese ehrwürdige
anarchistische Utopie enthält im Grunde eine transpolitische Deu­
tung der Idee der Demokratie; gegenüber einer solchen Deutung
aber erscheinen die oben erwähnten Argumente Hegels als durch­
aus überzeugend. In Marx’ Konzeption haben weder die »negati­
ven« Freiheiten noch politische Institutionen oder funktionale
und systemische Differenzierungen einen Platz. Marx hat das He-
gelsche Problem einer Institutionalisierung der Freiheit in der
modernen Welt nicht wirklich im Sinne eines kapitalismuskriti­
schen Demokratiebegriffs gelöst; am Ende hat er das Problem
bloß exorziert.25 Was er vom Kopf auf die Füße stellte, ist mehr
Rousseau als Hegel. Der Preis für diese Vernachlässigung der po­
litischen Dimension der Freiheit im Marxistischen Denken war
hoch, wie wir wissen; die Gesellschaften, die seine Utopie von der
Theorie in die Praxis zu übersetzen versuchten, waren am Ende
repressiver als der Hegelsche Staat es hätte sein können.
Es war nicht Marx, sondern Tocqueville, der die Hegelsche Frage
aufnahm, wie eine Verfassung der Freiheit in der modernen Welt
möglich sei. In Hegelschen Kategorien gesprochen, geht es Toc­
queville um die Bedingungen der Möglichkeit einer demokra­
tischen Form der Sittlichkeit unter Voraussetzungen eines for­
mal-egalitären Rechts. Natürlich ist Tocquevilles Analyse der
amerikanischen Demokratie keine direkte Antwort auf Hegels
Rechtsphilosophie. Soweit es aber um das Verständnis der post­
revolutionären Problematik und die Exposition des Freiheits­
problems geht, sind die Gemeinsamkeiten so stark, daß man
Tocquevilles Demokratie in Amerika sehr wohl als demokratie­
theoretisches Gegenstück zu Hegels Philosophie des Rechts lesen
könnte. Für beide Autoren war die Französische Revolution mit
ihrer internen Dialektik von Emanzipation und Repression die
Briefe (Hg. H.-J. Lieber/P. Furth), Bd. i, Darmstadt: Wissenschaft­
liche Buchgesellschaft 1962, S. 293.
25 Vgl. A.Wellmer: »Reason, Utopia, and the Dialectic of Enlighten-
ment«, in: Praxis International, Bd. in, 2 (Juli 1983).

29
entscheidende geschichtliche Erfahrung. Und die grundlegende
Frage, die beide sich stellten, war die Frage, wie eine Institutiona­
lisierung politischer, »öffentlicher« Freiheit unter Bedingungen
einer im rechtlichen Sinne egalitären bürgerlichen Gesellschaft
möglich sei, welche beide als das - zumindest der Tendenz nach -
unwiderrufliche Ergebnis der bürgerlichen Revolutionen ansa­
hen. Für beide, Hegel wie Tocqueville, bedeutete das Heraufkom­
men der bürgerlichen Gesellschaft den Einsturz der alten -
feudalen oder aristokratischen - politischen Ordnungen; beide
sahen in der bürgerlichen Gesellschaft vor allem die Institutiona­
lisierung einer egalitären, um Eigentumsrechte zentrierten Ord­
nung »negativer« Freiheit; beide anerkannten die emanzipatori­
sche Bedeutung der bürgerlichen Gesellschaft, nicht zuletzt im
Hinblick auf die Durchsetzung allgemeiner Individual- (»Men-
schen«-)Rcchte; und beide sahen schließlich deutlich, daß die
egalitäre Rechtsordnung der bürgerlichen Gesellschaft keines­
wegs gleichbedeutend war mit einer Institutionalisierung politi­
scher, öffentlicher Freiheit. Im Egalitarismus der bürgerlichen
Gesellschaft lauerten nämlich auf der einen Seite die Gefahren
eines neuen Despotismus - sei es der bürokratische Despotismus
eines zentralisierten modernen Staates oder der Despotismus
einer schrankenlosen Mehrheitsherrschaft; auf der anderen Seite
bedeutete die Durchsetzung allgemeiner, ums Eigentumsrecht
zentrierter Individualrechte in der bürgerlichen Gesellschaft ten­
denziell die Zerstörung aller überkommenen Grundlagen sozialer
Solidarität.
Bei Hegel findet sich diese Einsicht im Zusammenhang seiner Kri­
tik an einer politischen, d.h. demokratischen Interpretation der
Naturrechtstheorien. Im Kem besagt diese Kritik, daß ein ver­
nünftiger gemeinsamer Wille unmöglich aus einem Zusammen­
schluß atomistisch konzipierter Eigentümer entstehen kann,
deren soziale Beziehungen wesentlich durch die Auflösung jener
kommunalen, solidarischen Bande charakterisiert werden müs­
sen, durch welche die Individuen in früheren Gesellschaften mit­
einander verbunden waren. Tocqueville — obwohl weniger theore­
tisch orientiert als Hegel - benutzte dasselbe Argument; die
wesentliche Differenz zwischen ihnen ist im Grunde nur termino­
logischer Art: Weil für Tocqueville der Begriff »Demokratie« vor
allem die egalitäre Verwirklichung der »negativen« Freiheit in der
modernen bürgerlichen Gesellschaft bedeutete, wurde es für ihn


zum Problem, wie Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft
realisiert werden kann. Obwohl die geschichtliche Erfahrung des
Niedergangs des Geistes und der Institutionen der politischen
Freiheit im nachrevolutionären Frankreich der gemeinsame Aus­
gangspunkt von Hegels und Tocquevilles Reflexionen war, such­
ten sie in entgegengesetzten Richtungen nach Alternativen: Hegel
glaubte, daß er in einer idealisierten Preußischen Monarchie eine
gangbare Alternative gefunden hatte; Tocqueville dagegen wandte
sich einer Untersuchung der zweiten großen revolutionären Ge­
sellschaft seiner Zeit zu - der amerikanischen. Hier fand er, was
nicht nur der postrevolutionären französischen Gesellschaft, son­
dern allen großen kontinental-europäischen Staaten seiner Zeit
fehlte: einen Geist der Freiheit, der zu einem sittlichen Lebenszu­
sammenhang geworden war.
Ich habe diese Form eines sittlichen Lebenszusammenhanges frü­
her »demokratisch« genannt. Der Begriff »demokratisch« kann
hier sowohl im Sinne Tocquevilles als auch in dem eher traditio­
nellen Sinne Hegels verstanden werden: es handelt sich nämlich
um einen sittlichen Lebenszusammenhang egalitärer Gesellschaf­
ten (»demokratischer« Gesellschaften in Tocquevilles Sinn), und
es handelt sich um eine Form der Sittlichkeit, die auf einem uni­
versalistischen Prinzip individueller und kollektiver Selbstbestim­
mung beruht. Zu explizieren bleibt noch, was es heißt zu sagen,
daß Demokratie eine Form der Sittlichkeit im Sinne Hegels ge­
worden ist. Im Sinne einer solchen Explikation möchte ich an
einige wesentliche Aspekte von Tocquevilles Analyse erinnern.
Zunächst einige Worte zu Tocquevilles Konzeption der Freiheit
und ihrem Verhältnis zu dem, was ich Demokratie nennen werde.
Tocquevilles Konzeption der Freiheit ist kommunalistisch. Sie ist
untrennbar (i) von der Idee, daß Individuen gemeinsam über ge­
meinsame Angelegenheiten verhandeln und entscheiden; (2) von
der Idee einer diskutierenden Öffentlichkeit als des Mediums der
Klärung, Transformation und Kritik von individuellen Meinun­
gen, Präferenzen und Interpretationen; und (3) schließlich von
der Idee eines gleichen Rechts der Individuen, an der Gestaltung
und der Zielsetzung ihres kollektiven Lebens mitzuwirken. Die
negative Freiheit, die in den Strukturen der bürgerlichen Gesell­
schaft verkörpert ist, wird hier in die »positive« Freiheit gemein­
sam Handelnder transformiert. Im Medium dieser »positiven«
oder »vernünftigen« Freiheit werden auf einer neuen Ebene kom-

31
munalc Beziehungen zwischen Individuen wicderhergestcllt, die
als bloß unabhängige Eigentümer gerade durch das Fehlen solcher
Beziehungen charakterisiert sind. »Die Freiheit allein« sagt Toc­
queville, »[...] vermag die Bürger aus der Vereinzelung, in der
gerade die Unabhängigkeit ihrer Lage sie leben läßt, herauszuzie­
hen, um sie zu nötigen, sich einander zu nähern; sie, die Freiheit,
erwärmt und vereinigt sie jeden Tag aufs neue durch die Notwen­
digkeit, sich in der Behandlung gemeinsamer Angelegenheiten
miteinander zu besprechen, einander zu überzeugen und sich
wechselseitig gefällig zu sein. [...] sie allein läßt von Zeit zu Zeit
die Lust am behaglichen Leben durch tüchtigere und erhabenere
Leidenschaften verdrängen, bietet dem Ehrgeiz edlere Gegen­
stände als die Erwerbung von Reichtümern und erzeugt das Licht,
das es gestattet, die Laster und Tugenden der Menschen zu erken­
nen und zu beurteilen.«26
So viel scheint offensichtlich: Freiheit in diesem Sinne kann es nur
als eine Form von Sittlichkeit geben; d. h. als eine Form kommu­
naler Praxis, die die Institutionen einer Gesellschaft auf allen
Ebenen durchdringt und die für den Charakter, die Gewohnhei­
ten und die moralischen Gefühle der Bürger konstitutiv geworden
ist. Etwas dieser Art hat Tocqueville in den Institutionen und im
alltäglichen Leben des nachrevolutionären Amerika entdeckt. Ich
glaube, daß er recht hat, wenn er die tiefsitzenden Unterschiede
zwischen dem Verlauf der französischen und der amerikanischen
Revolution darauf zurückführt, daß die constitiaio libertatis in
den Vereinigten Staaten nicht von der Spitze der Gesellschaft aus­
ging - wie in der französischen Revolution -, sondern gleichsam
von der Basis. Die amerikanische Revolution war im Grunde nur
eine Revolution gegen eine Kolonialmacht, d. h. gegen die briti­
sche Krone, während die politischen und sozialen Strukturen, die
sich auf lokaler und regionaler Ebene während der Periode der
Kolonialregierung herausgebildet hatten, die radikalsten libertä­
ren Traditionen des kolonialen Mutterlandes selbst repräsentier­
ten. In diesem Sinne war die demokratische Republik auf der
Ebene von townships und regionalen Assoziationen schon lange
Realität, bevor sie zum Prinzip der amerikanischen Föderation
wurde. Eine lange Tradition der Selbstregierung in den townships

26 A.. de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution, Hamburg: Ro­
wohlt 1969, S. 13.

32
hatte jene politischen Erfahrungen, Einstellungen und Kenntnisse
hervorgebracht, ohne welche die amerikanische Revolution nicht
zur Konstitution einer egalitären demokratischen Republik hätte
führen können. »Die amerikanische Revolution mit ihrer Lehre
von der Volkssouvcränität«, sagt Tocqueville, »[brach] in den
townships aus und nahm von dorther den Staat in Besitz.«27
Und sie »war das Ergebnis einer reifen und reflektierten Vorliebe
für die Freiheit.«28
Ich werde hier nicht auf Details der faszinierenden Analyse von
Tocqueville eingehen; insbesondere werde ich nichts über die von
Tocqueville beschriebenen Institutionen der Selbstregierung auf
lokaler Ebene sagen, über Tocquevilles Reflexionen über die er­
zieherische Rolle des Geschworenengerichts oder über die Tei­
lung und Dezentralisierung der Macht in der amerikanischen
Verfassung. Tocqueville verhielt sich bekanntlich nicht unkritisch
gegenüber der amerikanischen Demokratie und sah sie keines­
wegs als Modell an, das man in europäischen Staaten einfach hätte
nachahmen können. Darüber hinaus gibt es - eineinhalb Jahrhun­
derte nach der Veröffentlichung von Tocquevilles Buch — eine
Reihe von Gründen, die amerikanische Demokratie nicht zu idea­
lisieren: die Geschichte der amerikanischen Demokratie ist auch
die Geschichte der politischen, sozialen und ökonomischen Aus­
grenzung. von Minderheiten und sie war auch die Geschichte
imperialistischer Ausbeutung und Einmischung. Dabei sollte aber
nicht vergessen werden, daß Hegels Diktum über die bürgerliche
Gesellschaft - »Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil
er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist«29 -
nirgendwo auf der Welt in größerem Ausmaß als ein Prinzip der
Bürgerrechte, d. h. als ein Prinzip politischer Freiheit Wirklichkeit
geworden ist als in den Vereinigten Staaten von Amerika. All das
jedoch ist in einem gewissen Sinn irrelevant im Hinblick auf die
philosophischen Fragen, um die es mir hier geht. Ich habe nämlich
nur auf Tocqueville verwiesen, um zu zeigen, daß es - Hegels
Einwänden zum Trotz - keinen Grund für die Behauptung gibt,
27 Wegen der schöneren Übersetzung zitiert nach Hannah Arendt: Über
die Revolution, München/Zürich: Piper 196}, S. 21 j. Vgl. Alexis de
Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, München 1976,
S. 64.
28 Vgl. A. de Tocqueville, a.a.O., S. 79.
29 G. W. F. Hegel, Rph, a.a.O., § 209, S. 360.

33
die universalistischen Prinzipien des Naturrechts seien nicht in
eine kommunalistische Konzeption politischer Freiheit übersetz­
bar; was Tocqueville tatsächlich zeigt, ist, daß Freiheit in der
modernen Welt nur als Form demokratischer Sittlichkeit gedacht
werden kann.
Tocquevilles Analyse hat eine besonders interessante Konse­
quenz. Wenn man versuchen wollte, diese Analyse in den syste­
matischen begrifflichen Rahmen von Flegels Rechtsphilosophie
zurückzuübersetzen, würde offensichtlich, daß die Grenzen zwi­
schen bürgerlicher und politischer Gesellschaft, die schon in
Hegels Analyse keineswegs scharf geschnitten waren, in der Tat
eher als fließend angesehen werden müssen. Denn der Geist einer
demokratischen Sittlichkeit - so es ihn überhaupt gibt - wird alle
Institutionen einer Gesellschaft durchdringen; folglich kann nicht
ein für allemal eine scharfe Grenze gezogen werden, die die
Sphäre »negativer« Freiheit klar von derjenigen »positiver«, öf­
fentlicher Freiheit trennen würde. Mit anderen Worten: eine
demokratische Sittlichkeit wird die Art und Weise beeinflussen, in
der die »negative« Freiheit von Eigentümern ausgeübt wird und
sozial zur Geltung kommt. Um das offensichtlichste Beispiel zu
nehmen: Die Sozialisierung von Produktionsmitteln muß immer
eine mögliche Option für eine demokratische Gesellschaft sein.
Bedeutet dies nun, daß eine kommunalistische Konzeption poli­
tischer Freiheit den ganzen Wahrheitsgehalt der Naturrechtstheo­
rien in sich aufhebt? Oder sollten wir annehmen, daß Hegels
begriffliche Strategie - die de facto (wenngleich in einem weniger
systematischen Sinn) auch die von Tocqueville und sogar die von
J.S. Mill ist und dergemäß die »negative« Freiheit des bürger­
lichen Individuums eine Sphäre von Rechten sui generis bezeich­
net, die in demokratischen Entscheidungsprozessen nicht zur
Disposition gestellt werden darf-einen Begriff des Rechts impli­
ziert, der sich nicht in eine demokratisch-kommunalistische Kon­
zeption aufheben läßt? Mit diesen Fragen komme ich zurück auf
meine anfänglichen Überlegungen über die Alternative von indi­
vidualistischen und kommunalistischen Freiheitsmodellen in der
Moderne.

34
IV.

Um meine Fragen zuzuspitzen, möchte ich zunächst eine neuere


individualistische mit einer neueren kommunalistischcn Konzep­
tion von Freiheit kontrastieren. Ich nehme Nozick als Protagoni­
sten einer individualistischen und Habermas als Protagonisten
einer kommunalistischcn Konzeption. Habermas habe ich ausgc-
wählt, weil seine Theorie die anspruchsvollste und originellste
Rekonstruktion einer kommunalistischcn Freiheitskonzeption
darstellt, die es heute gibt; für Nozick habe ich mich entschieden,
weil sein Buch Anarchy, State, and Utopia die radikalste Verteidi­
gung einer individualistischen Konzeption ist, die ich kenne. Ich
werde hier keine Details diskutieren, auch nicht die anthropologi­
schen und epistemologischen Prämissen der beiden Autoren; was
letztere angcht, so denke ich, daß Habermas grundsätzlich recht
hat und daß Nozick sich grundsätzlich irrt. Was ich diskutieren
möchte, ist nur eine interessante formale Analogie zwischen den
beiden Theorien. Beiden, Nozick wie Habermas, geht cs um be­
stimmte /Wetaprinzipien der Freiheit, d. h. um Prinzipien, die nur
die formalen Bedingungen einer freien Gesellschaft definieren
und noch keine Inhalte - im Sinne von institutionellen Strukturen,
Lebensformen, Assoziationsformen etc. - spezifizieren. Im Falle
Nozicks sind diese Metaprinzipien Prinzipien negativer Freiheit,
die um Eigentumsrechte zentriert sind, im Falle von Habermas
handelt es sich um Prinzipien des rationalen Diskurses. In beiden
Fällen definieren die Metaprinzipien der Freiheit keinen utopi­
schen Zustand der Gesellschaft, sondern - wie Nozick es formu­
liert - einen »Rahmen für Utopien« (»a framework for utopias«),
eine »Meta-Utopie«.30 Die formalen Bedingungen der Freiheit
definieren in beiden Fällen die Bedingungen einer wesentlich plu­
ralistischen Gesellschaft; die Metaprinzipien buchstabieren aus,
welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit bestimmte Inhalte
legitim genannt werden können. Und sofern diese Bedingungen
erfüllt sind, wäre jeder Inhalt - z. B. institutionelle Arrangements,
Lebensformen, individuelle Entscheidungen, Handlungsweisen
etc. - legitim.
An diesem Punkt endet die Analogie; denn, wie nicht anders zu

30 R. Nozick: Anarchy, State, and Utopia, New York: Basic Books, 1974,
S. 312.

35
erwarten, werden bei Nozick und Habermas Form und Inhalte
auf sehr verschiedene Weisen miteinander verknüpft, je nachdem,
ob diese Verknüpfung durch Prinzipien des rationalen Diskurses
oder durch Prinzipien des Eigentumsrechts vermittelt ist. Die Me­
taprinzipien des rationalen Diskurses sind vor allem Prinzipien
der Institutionalisierung öffentlicher Freiheit und demokratischer
Willensbildung; aus der Perspektive dieser Metaprinzipien er­
scheinen Eigentumsrechte als möglicher Inhalt eines demokrati­
schen Konsenses. Die Metaprinzipien der Individualrechte sind
dagegen vor allem Prinzipien negativer Freiheit. Aus der Perspek­
tive dieser Metaprinzipien erscheint eine partizipatorische Demo­
kratie als möglicher Inhalt einer Abmachung (eines Vertrags)
zwischen bestimmten Mitgliedern der Gesellschaft. In den Wor­
ten von Nozick:
»Visionaries and crackpots, maniacs and saints, monks and libertines, ca-
pitalisis and communists and participatory democrats, proponents of
phalanxes (Fourier), palaces of labor (Flora Tristan), villages of unity and
Cooperation (Owen), mutualist communities (Proudhon), time Stores (Jo­
siah Warren), Bruderhof, kibbutzim, kundalini yoga ashrams, and so
forth, may all have their try at building their vision and setting an alluring
example.«31
Im Vergleich mit Habermas stellt Nozicks Vision, eine postmo­
derne Version der liberalen Utopie, eine verblüffende Umkehrung
von Form und Inhalt dar. Warum aber ist sie verblüffend und
nicht einfach absurd? Ich denke, es ließe sich leicht zeigen, daß sie
tatsächlich in mancher Hinsicht absurd ist, absurd nämlich in
Hinsicht auf die zugrunde liegenden anthropologischen, soziolo­
gischen und rationalitätstheoretischen Annahmen, und insbeson­
dere absurd, weil Nozick noch nicht einmal die Frage stellt, wie
die Bürger seiner liberalen Utopie sicherstellcn können, daß die
Metaprinzipien ihrer Freiheit in der richtigen Weise praktisch um­
gesetzt werden. Genau an diesem Punkt haben Locke oder Kant
eine Konzeption repräsentativer Regierung (und Hobbes eine
Konzeption des Staates als Leviathan) entwickelt. Prima facie und
aus philosophischer Sicht spricht alles gegen Nozicks liberale
Utopie; es scheint offensichtlich, daß eine kommunalistische Per­
spektive im Sinne von Habermas viel kohärenter ist, wenn man
eine formale Konzeption von Freiheit entwerfen will. Der Grund,

ji A.a.O., S.316.

36
weshalb ich in Nozicks Konstruktion trotzdem etwas für einen
Kommunalisten Interessantes (und nicht nur etwas Absurdes)
finde, ist, daß sie als Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft
im Hegelschcn Sinne verstanden werden kann. Wenn man sic aber
in diesem Sinn versteht, d. h. als Legitimation einer Sphäre nega­
tiver Freiheit im modernen Staat, einer Sphäre negativer Freiheit,
die strukturell unterschieden und in einem gewissen Sinn unab­
hängig ist von der kommunalen Sphäre öffentlicher Freiheit, dann
könnte man versuchen, Nozicks Konstruktion so zu verstehen,
wie Hegel die Konstruktionen des Naturrcchts verstand: nämlich
als Artikulation einer grundlegenden Dimension der Freiheit in
der modernen Welt, einer negativen Freiheit, durch welche ineins
die überkommenen Bande der Solidarität zwischen den Indivi­
duen zerstört und die Voraussetzungen für jene reflexive - univer­
salistische und demokratische - Form von Solidarität geschaffen
werden, die die einzig mögliche im modernen Staat ist. Die Frage,
die sich dann stellt, wäre, ob eine kommunalistische Konzeption
von Freiheit in Habermas’ Sinn dieser Dimension negativer Frei­
heit zureichend Rechnung tragen kann oder ob die liberale Ideo­
logie einen unabhängigen Wahrheitsgehalt hat, der explizit in eine
kommunalistische Konzeption von Freiheit implantiert werden
müßte.
Um zu erklären, was auf dem Spiel steht, werde ich zwischen drei
verschiedenen Möglichkeiten unterscheiden, wie das Problem der
Legitimation einer Sphäre negativer Freiheit aus einer kommuna-
listischen Perspektive behandelt werden kann. Die ersten beiden
Arten der Legitimation stellen den Primat der kommunalistischen
Perspektive, d. h. den Primat eines demokratisch verstandenen ge­
meinsamen Willens in keiner Weise in Frage; nur im Falle der
dritten Legitimationsart wird der Primat der kommunalistischen
Perspektive, wenngleich nicht wirklich in Frage gestellt, so doch
in ein neues Licht gerückt.
Die erste Art der Legitimation betont die Steuerungskapazitäten
eines freien Marktes. Die einzige Alternative zum ökonomischen
Steuerungsmechanismus des Marktes, die wir kennen, ist die
bürokratische Planung, und es scheint heute einen beinahe univer­
salen Konsens darüber zu geben, daß der Marktmechanismus weit
überlegen ist, soweit es um ökonomische Effizienz geht; und mit
»ökonomischer Effizienz« meine ich Effizienz hinsichtlich der
Produktion und Verteilung von Gütern (Gebrauchswerten) aus

V7
dem Gesichtspunkt der Bedürfnisse der potentiellen Verbraucher
dieser Güter. Im ökonomischen »Subsystem« moderner (west­
licher) Gesellschaften bestimmt Geld als ein »generalisiertes Me­
dium der Kommunikation« einen Typus von Interaktion und
Entscheidungsfindung hinsichtlich der Produktion und Vertei­
lung materieller Güter, der sich als viel flexibler und effizienter
erwiesen hat, als irgendein Typus »politischer« Interaktion und
Entscheidungsfindung es je sein könnte. Weil dies mehr oder we­
niger zum ökonomischen common sense in modernen Gesell­
schaften geworden ist, könnte man die marktförmige Organisa­
tion der Ökonomie leicht als Inhalt eines realen - oder zumindest
potentiellen - demokratischen Konsenses interpretieren. Am Pri­
mat der kommunalistischen Perspektive wird hier in einem direk­
ten Sinne festgehaltcn, da die Delegierung von Steuerungsfunktio­
nen an den Markt-als einer Sphäre negativer Freiheit-sowohl als
zumindest potentielles Resultat eines demokratischen Entschei­
dungsprozesses als auch durch einen solchen begrenzt aufgefaßt
werden kann. Diese Art der Legitimation einer Sphäre »strategi­
schen« ökonomischen Handelns ist jene, die Habermas in seine
Theorie des kommunikativen Handelns integriert hat.
Die zweite Art der Legitimation steht der ersten vergleichsweise
nahe, obwohl es bei ihr unmittelbar nur um das Problem distribu­
tiver Gerechtigkeit geht. Ich denke dabei an Rawls’ zweites Ge­
rechtigkeitsprinzip, demzufolge eine ungleiche Verteilung von
materiellen Gütern und Chancen nur dann gerecht ist, wenn sie
sich zum Vorteil der am meisten Benachteiligten auswirkt.52
Weil dieses Prinzip offensichtlich eine besondere Relevanz für
jene Ungleichheiten hat, die mit einer Marktökonomie verbunden
sind, vor allem mit der kapitalistischen Ökonomie, könnte es wie­
derum als Teil einer kommunalistischen Rechtfertigung einer
Sphäre negativer (ökonomischer) Freiheit gesehen werden.
Nur das dritte Argument für eine Sphäre negativer Freiheit stellt
ein besonderes Problem für die kommunalistische Perspektive
dar. Ich denke an die Art von Argument, wie Hegel cs gebraucht,
wenn er sich direkt auf die Tradition des Naturrechts beruft. Die­
ses Argument, das zwar mit den beiden anderen, die ich erwähnt
habe, kompatibel ist, unterscheidet sich von ihnen insofern, als es

32 J.Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt: Suhrkamp 1988,


4. Aufl., S. 81, 336 ff.

38
- um cs paradox auszudrücken - die positive Seite der negativen
Freiheit in den Vordergrund rückt. Negative - oder wie Hegel sie
nennen würde - »abstrakte« Freiheit wird hier als ein »Moment«
- und insofern auch als eine Voraussetzung - jener Form kommu­
naler Freiheit gesehen, die auf einer Anerkennung von Individual­
rechten beruht; es handelt sich genau um diejenige Handlungs­
freiheit (Kants Freiheit der Willkür), die begrifflich vorausgesetzt
werden muß, wenn kommunale Freiheit - d. h. vernünftige Frei­
heit- als eine Form von Freiheit möglich sein soll, die auf Einsicht
und freiwilliger Zustimmung basiert. Negative Freiheit - im Sinne
einer egalitären Institutionalisierung des abstrakten Rechts - ist in
der modernen Welt genau in dem Maße eine Voraussetzung kom­
munaler Freiheit, als sie zugleich Bedingungen bezeichnet, unter
denen die Individuen ein Recht haben, nicht vollkommen rational
zu sein. Denn nur wenn sie ein Recht haben, im Sinne eines kom­
munalen Begriffs von Rationalität nicht vollkommen rational zu
sein, kann ihre kommunale Rationalität ihre eigene Leistung, ihr
eigenes Werk, und kann kommunale Freiheit eine Manifestation
ihrer individuellen Freiheit werden. Negative Freiheit, verstanden
als ein Menschenrecht der Selbstbestimmung, impliziert in einem
bestimmten Sinn das Recht, selbstsüchtig, verrückt, exzentrisch,
unverantwortlich, provokativ, obsessiv, selbstdestruktiv, mono­
manisch etc. zu handeln; man muß nur einschränkend hinzufü­
gen, daß das, was aus einer bestimmten Perspektive als verrückt,
exzentrisch, abweichend - und sogar egoistisch - etc. erscheint,
aus einer anderen Perspektive - sogar aus der einer kommunalen
Rationalität - als vernünftig und gerechtfertigt erscheinen mag.
Für Hegel war die bürgerliche Gesellschaft - als die Sphäre der
institutionalisierten negativen Freiheit - »das System der in ihre
Extreme verlorenen Sittlichkeit«.33 Als eine Sphäre negativer
Freiheit verkörperte die bürgerliche Gesellschaft für Hegel jenes
Moment der Entzweiung im modernen Leben, welches er - im
Gegensatz zu Rousseau, den Frühromantikern und später Marx,
die darin den Skandal der Moderne sahen - als Preis für eine Wie­
derherstellung kommunaler Freiheit unter den Bedingungen der
Moderne ansah; d. h. unter Bedingungen emanzipierter Indivi­
dualität, universaler Menschenrechte und einer Emanzipation der
Wissenschaft, der Kunst und des Berufslebens von den politischen

33 G. W. F. Hegel, Rph, a.a.O., § 184, S. 340.

39
und religiösen Einschränkungen vormoderner Gesellschaften. Als
ein zu zahlender Preis war dies Moment der Entzweiung zugleich
die Voraussetzung jener modernen Form kommunaler Freiheit,
die im Gegensatz zur klassischen griechischen Sittlichkeit keine
Einschränkungen des rationalen Diskurses und der kritischen
Prüfung zulassen würde. Die bürgerliche Gesellschaft, als eine
Sphäre immer möglicher Entzweiung, ist für Hegel zugleich eine
Sphäre des Lernens und der Bildung der Individuen in einem
praktischen, kognitiven, moralischen und ästhetischen Sinn; in­
folgedessen hat sie eine positive Funktion für die Bildung von
Individuen, vor allem auch hinsichtlich der intellektuellen und
moralischen Qualifikationen, die sie als Bürger eines modernen
Staates erwerben müssen. Hegel wird dementsprechend sogar be­
haupten, daß der Verlust an kommunalen und solidarischen Be­
ziehungen, der in der antagonistischen Struktur der bürgerlichen
Gesellschaft zum Ausdruck kommt, im Grunde, d. h. aus der Per­
spektive der Sittlichkeit eines modernen, rationalen Staates nur ein
Schein ist.
Was nun diese Behauptung betrifft, so hatte Marx sicherlich recht,
wenn er sie als eine unausgewiesene Voraussetzung der Hegel­
sehen Konstruktion kritisierte. Marx verfehlte jedoch die Pointe
der Hegelschen Metakritik der romantischen Kritik der Moderne,
wenn er das Verhältnis von Wirklichkeit und Schein einfach um­
kehrte - Marx zufolge war die bürgerliche Gesellschaft die Wirk­
lichkeit und das Element der kommunalen Freiheit im modernen
Staat nur ein Schein. Denn die Substanz jener Metakritik ist un­
abhängig von Hegels idiosynkratischer Konstruktion des moder­
nen Staates. Sogar eine radikal demokratische Konzeption von
Sittlichkeit als der Form kommunaler Freiheit im modernen Staat
müßte den Wahrheitsgehalt von Hegels Kritik an romantischen
Versöhnungsutopien in sich aufnehmen. Der Wahrheitsgehalt die­
ser Kritik liegt darin, daß keine kommunale Freiheit in der
modernen Welt denkbar ist, die nicht auf der Institutionalisierung
einer gleichen negativen Freiheit für alle beruht.


V.

Zwei Fragen bleiben zu beantworten: (1) In welchem Verhältnis


stehen negative Freiheit und Eigentumsrechte? (2) In welcher
Weise berührt das dritte Argument für eine Sphäre negativer Frei­
heit ein kommunalistisches Verständnis des demokratischen Ge­
meinwillens?
(r)Was die erste Frage betrifft, so ist Hegels Konstruktion des
Verhältnisses ziemlich klar: Negative Freiheit kann nur existieren,
wenn sie in bezug auf die individuelle Person eine äußere Realität
hat.34 Deshalb kann sic nur in der Form eines Individualrechts
existieren, das sich auf jene Objekte bezieht, die ausschließlich
mir gehören. Wenn Menschenrechte an Individuen als Individuen
gebunden sind, dann müssen Eigentumsrechte individualisiert
werden — das ist der Kern des Hegelschen Arguments. Allerdings
ist das noch weit entfernt von der Rechtfertigung einer kapitalisti­
schen Ökonomie; eine andere Art von Argumenten, z. B. solche,
die der ersten und zweiten Art von Gründen für eine Marktöko­
nomie entsprechen, wie ich sie oben erwähnt habe, müßte hinzu­
genommen werden, wenn man eine spezifische Organisations­
form der Ökonomie rechtfertigen wollte. Es wäre offenbar
schwierig, eine scharfe Trennlinie zu ziehen zwischen jenen indi­
viduellen Eigentumsrechten, die im Begriff negativer Freiheit
impliziert scheinen, einerseits, und jenen Eigentumsrechten ande­
rerseits, deren Anerkennung und Institutionalisierung als Inhalt
eines demokratischen Konsenses in einer bestimmten Gesellschaft
verstanden werden könnte. Darüber hinaus ist es, wie Nozick zu
Recht betont, eine legitime Weise des Gebrauchs von Eigentums­
rechten, auf individuelle Eigentumsrechte zu verzichten, bei­
spielsweise zugunsten einer kommunalen Form von Eigentum.
Bedeutet dies, daß freiwillige Übereinkunft, d.h. ein »rationaler
Konsens«, trotz allem das grundlegende Legitimitätskriterium
hinsichtlich der Reichweite von individuellen Eigentumsrechten
ist? Und wenn dem so wäre, käme dies am Ende nicht doch einem
unbedingten Vorrang einer kommunalistischen Perspektive
gleich? Mit diesen Fragen wende ich mich jenen Problemen zu,
auf die ich in der zweiten Frage am Anfang dieses Abschnittes
hingewiesen habe.

34 A.a.O., § 4>> S. 102 ff.

41
(z) Meine bisherigen Überlegungen zeigen, daß es keine klar ge­
schnittenen Grenzen des möglichen Inhalts eines rationalen Kon­
senses über die Institutionalisierung von Individualrechten, z. B.
von Eigentumsrechten gibt - immer vorausgesetzt, daß natürlich
kein Konsens rational genannt werden kann, der genau jene Be­
dingungen in Frage stellen würde, unter denen allein ein rationaler
Konsens zwischen Bürgern erzielt werden kann. Diese Bedingun­
gen könnte man mit Hilfe von Metaprinzipien des rationalen
Diskurses zu beschreiben versuchen. Man muß sich aber klarma­
chen, daß man durch die Formulierung solcher Prinzipien nicht
auch schon ein Prinzip gleicher Individualrechte formuliert — ge­
schweige denn es »abgeleitet« - hätte. Das heißt aber, daß durch
die Angabe der Bedingungen eines rationalen Diskurses noch kei­
nesfalls jener normative Kern formuliert ist, der bei keiner Insti­
tutionalisierung von Individualrechten zur Disposition gestellt
werden darf, wenn nicht die Grundlagen eines demokratischen
Diskurses in Frage gestellt werden sollen. Entgegen einem einge­
fleischten Vorurteil sind die Bedingungen eines rationalen Diskur­
ses nicht identisch mit den Bedingungen eines demokratischen
Diskurses. Erstere lassen sich mit Hilfe eines Metaprinzips des
rationalen Dialogs formulieren, letztere nur mit Hilfe eines Prin­
zips gleicher Individualrechte; die Kategorie der Individualrechte
läßt sich aber aus keinem Rationalitätsprinzip begrifflich ableiten.
Habermas’ Versuch, den Primat der kommunalistischen Perspek­
tive dadurch zu sichern, daß er die Metaprinzipien des rationalen
Diskurses zur einzigen unhinterfragbaren Grundlage einer demo­
kratischen Konkretisierung von Individualrechten macht, muß
deshalb scheitern, weil die Prinzipien des rationalen Diskurses
nur in Verbindung mit dem Prinzip gleicher Individualrechte jene
unhintergehbare Grundlage darstellen kann, die von keiner demo­
kratischen Institutionalisierung und Konkretisierung negativer
Freiheit in Frage gestellt werden darf. Offensichtlich läßt sich die
normative Substanz moderner demokratischer Kulturen aus kei­
nem Begriff diskursiver Rationalität allein ableiten.35
Ich denke, daß Argumente dieser Art auch im Zentrum von He-
35 Dies hat Habermas inzwischen ausdrücklich anerkannt. Allerdings
glaube ich, daß auch die »Verschränkung« von »Diskursprinzip« und
»Rechtsform« nicht ausreichend ist für eine solche Ableitung. Vgl.
J. Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1992, insbes. S. 154 ff.

42
gels antiformalistischcr Strategie stehen. Wenn es richtig ist, daß
wir mehr als den Begriff rationaler Argumentation oder eines ra­
tionalen Konsenses brauchen, um die grundlegenden Bedingun­
gen eines rationalen politischen Konsenses in modernen Gesell­
schaften auszubuchstabieren, dann hat Hegel insbesondere in
Hinsicht auf die Naturrechtstheorien immer noch in einem zwei­
fachen Sinn recht: (r) in seinem Versuch, ein Wahrheitsmoment in
der »atomistischen« Konzeption natürlicher Rechte zu retten;
und (z) in seiner Weigerung, die Idee des Naturrechts in ein tran­
szendentales Prinzip kommunikativer Rationalität und kommu­
nikativer Freiheit zu übersetzen. Ein Indiz dafür, daß von einem
Prinzip der letzteren Art - sogar wenn cs im Sinne einer prozedu­
ralen Rationalitätskonzeption ausbuchstabiert wird — keine uni­
versalistische Konzeption negativer Freiheit direkt ableitbar sein
kann, ist, daß die negativen Freiheitsrechte - wie ich früher ange­
deutet habe —, in einem bestimmten Sinn sogar Rechte gegen die
Forderungen einer kommunalen Rationalität sind. Dies wird we­
niger paradox erscheinen, wenn wir berücksichtigen, daß die
Forderungen kommunaler Rationalität in jedem bestimmten
Kontext und zu jedem geschichtlichen Zeitpunkt eine Art öffent­
licher Definition in der Form von Institutionen, moralischen
Überzeugungen, öffentlicher Meinung etc. haben werden, eine
Art öffentlicher Definition, die jedoch offen für Kritik und mög­
liche Veränderungen sein und Platz für Dissens lassen muß. Aus
dieser Perspektive gesehen wäre negative Freiheit zumindest die
Freiheit, anderer Meinung zu sein und als Nonkonformist zu han­
deln. Es scheint aber offensichtlich, daß die Anerkennung ent­
sprechender Rechte ein essentieller Bestandteil einer jeden mög­
lichen Konzeption kommunaler Freiheit in der modernen Welt
sein muß. Natürlich würde ein »Kommunalist« wie Habermas
dem zustimmen. Die einzige kontroverse Frage wäre deshalb, ob
»vermittelnde« philosophische Argumente der Art, wie ich sie
hier — Hegels Strategie folgend - zu skizzieren versucht habe,
notwendig sind für eine angemessene Rekonstruktion unserer
weitgehend unkontroversen Intuitionen. Um meine These zu un­
termauern, daß ein universalistisches Prinzip negativer Freiheit
begrifflich nicht als Teil eines Begriffs kommunikativer Rationali­
tät in Habermas’ Sinn betrachtet werden kann, möchte ich zwei
weitere Anmerkungen zu dieser These machen.
(i) Vom Standpunkt einer prozeduralen Rationalitätskonzeption

43
i
'S

können wir ein universalistisches Prinzip der Menschenrechte


entweder als moralische Norm verstehen, die wir für den Inhalt
eines möglichen rationalen Konsenses halten, oder es als in den
Metaprinzipien der Rationalität impliziert betrachten. Im ersten
Fall müßten wir die Möglichkeit zugestehen, daß sich unsere uni­
versalistischen moralischen Intuitionen als falsch erweisen kön­
nen, weil ein rationaler Konsens zustande kommen könnte, der
diese Prinzipien negiert. Abgesehen davon, daß diese Interpreta­
tion zutiefst kontraintuitiv ist, könnte Habermas sie wohl kaum
akzeptieren. Gemäß der Logik seiner Position muß der Universa-
lismus deshalb in den »unvermeidbaren normativen Präsupposi-
tionen« des rationalen Diskurses impliziert sein, d.h. er muß ein
Teil der Metaprinzipicn der Rationalität sein. Aber wie könnte ein
Prinzip der Rationalität, sogar wenn es ein Prinzip »kommunikati­
ver« und/oder »diskursiver« Rationalität ist, irgend etwas über ein
Recht sagen, nicht rational zu sein? Die Pointe eines Prinzips der
Rationalität besteht darin, die Sphäre der rationalen Kommunika­
tion und des rationalen Diskurses - gleichsam von innen — zu be­
grenzen; es besagt gewissermaßen, daß wir kein »Recht« haben,
nicht rational zu sein, und es buchstabiert aus, was es ist, wozu wir
kein Recht haben. Wenn dieses Prinzip nun ein Prinzip a priori ist,
dann muß es für jeden möglichen Sprecher zu jeder Zeit gelten; es
kann keine möglichen Ausnahmen zulassen. Deshalb muß es sich,
wenn es denn so etwas wie ein Recht, nicht rational zu sein, gibt, um
eine andere Art von »Rechten« handeln. Ein Sprecher könnte sich
beispielsweise auf kein moralisches Recht berufen, die Forderun­
gen kommunaler Rationalität zu verletzen, (denn solche Rechte
kann es nicht geben). Wenn also überhaupt ein moralisches Recht
impliziert ist, dann muß es ein moralisches Recht sein, das nur in
terms der moralischen Verpflichtungen erklärt werden kann, die
andere Menschen bezüglich meiner Sphäre negativer Freiheit ha­
ben, d. h. eine moralische Verpflichtung, meine Sphäre negativer
Freiheit zu respektieren - selbst wenn ich die entsprechenden
Rechte in einer nicht rationalen Weise ausübe. Ein entsprechendes
Prinzip negativer Freiheit kann nicht Teil eines Metaprinzips der
Rationalität sein, obwohl es höchst plausibel wäre zu argumentie­
ren, daß ein rationaler Konsens über ein Prinzip dieser Art möglich
sein muß. Wie wir jedoch gesehen haben, erscheint dieser Ausweg
aus der Perspektive einer prozeduralen Rationalitätskonzeption als
verstellt. Interessanterweise ist dieser Ausweg nur dann offen,

44
’wenn wir uns den Zusammenhang zwischen dem Prinzip negativer
IFreiheit und der Möglichkeit eines rationalen Konsenses anders
'vorstellen. Das bringt mich zu meiner zweiten Anmerkung.
1(2) Rawls hat sein erstes Gerechtigkeitsprinzip, das als universali­
stisches Prinzip negativer Freiheit verstanden werden kann, als
den Inhalt eines rationalen Konsenses zwischen Individuen inter­
pretiert, die unter Bedingungen einer »original position« - d. h.
hinter einem »Schleier des Nichtwissens« - und auf der Grund­
lage rein strategischer Kalkulationen herauszufinden versuchen,
welche Art von grundlegenden sozialen Arrangements am besten
für sie wäre. Der Begriff der »original position« - eine begriffli­
che Fiktion — ist der Kunstgriff, den Rawls benutzt, um sicherzu­
stellen, daß die strategischen Kalkulationen der Individuen unter
den einschränkenden Bedingungen einer universalistischen Moral
durchgeführt werden.36 Aus diesem Grund kommt Rawls’ erstes
Gerechtigkeitsprinzip der Kantischen Definition von »Recht«
sehr nahe, die ich früher zitiert habe; noch näher kommt sie je­
doch der Hegelschen Konzeption des »abstrakten Rechts«. Der
interessante Punkt ist nun, daß der Konsens, um den es hier geht,
ein »transzendentaler« Konsens ist: Unter der Voraussetzung
einer Pluralität von Individuen mit unterschiedlichen Interessen
muß doch jedes einzelne Individuum, das rational seine eigenen
Interessen hinter einem Schleier des Nichtwissens verfolgt, zu
demselben Ergebnis kommen. Kein Diskurs zwischen den Indivi­
duen ist notwendig. Das ist ein »transzendentales« Argument
anderer Art als dasjenige, das in der Rechtfertigung der Metaprin­
zipien des rationalen Diskurses in Habermas’ Sinn impliziert ist;
d. h. das Prinzip, das Rawls zu begründen versucht, ist weder ein
Metaprinzip des rationalen Diskurses in Habermas’ Sinn, noch
eine spezifische moralische Norm, die der Inhalt eines möglichen
rationalen Konsenses (in Habermas’ Sinn) sein könnte. Es ist eher
ein Metaprinzip der Gerechtigkeit für Individuen, die eine maxi­
male Sphäre negativer Freiheit für sich wollen und bereit sind,
dieselbe Sphäre negativer Freiheit allen anderen zu gewähren.
Diese Individuen sind »abstrakte« Individuen und ihre Freiheit
insoweit eine »abstrakte« Freiheit.
36 »Mein Vorschlag ist der, die wichtigsten Parallelen zwischen dem Ur­
zustand und dem Blickwinkel hcrauszustellen, unter dem das intelli-
gible Ich die Welt sieht.« J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit,
a.a.O., S. 288.

45
Es ist nun interessant zu sehen, daß Rawls einer Prozedur zu
folgen versucht, die in einem gewissen Sinn derjenigen analog ist,
die Hegel gewählt hat. Rawls versucht nämlich zu zeigen, daß
seine »dünne« Konzeption von Gerechtigkeit, wenn man alle ihre
Implikationen bezüglich einer möglichen Institutionalisierung
durchdenkt, zu einer universalistischen Konzeption kommunaler
Freiheit im Sinne dessen führt, was ich eine demokratische Form
von Sittlichkeit genannt habe. Natürlich unterscheidet sich Rawls’
Prozedur deutlich von derjenigen Hegels, soweit es um den spe­
ziellen Übergang vom »abstrakten Recht« zur »konkreten Sitt­
lichkeit« geht; wobei der wichtigste Unterschied der ist, daß für
Rawls das erste Gercchtigkeitsprinzip, d. h. das Prinzip gleicher
Freiheit, direkt zu einem Prinzip gleicher politischer Partizipa­
tionsrechte führt.37 ich will hier nicht die Details der Rawls-
schen Konstruktion verteidigen; was ich an ihr aber bemerkens­
wert finde, ist, daß einer solchen Konstruktion keine Grenzen
bezüglich der möglichen begrifflichen und anthropologischen
»Auffüllung« der »abstrakten« Gerechtigkeitskonzeption gezo­
gen sind, die den Ausgangspunkt bildet; man könnte sogar einen
Begriff kommunikativer Rationalität in sie einschreiben. Folglich
ist es kein Problem, mit Rawls zu einer kommunalen Konzeption
von Freiheit zurückzukommen-, hierbei ist jedoch von Anfang an
garantiert, daß diese Konzeption kommunaler Freiheit eine für
die moderne Welt sein wird - denn die Konstruktion beginnt,
Kantisch, im Zentrum des modernen Bewußtseins, d. h. mit einer
universalistischen Konzeption von Recht und Moral. Deshalb
wird dieser Konstruktion von Anfang an eine Art Dualismus von
bürgerlicher Gesellschaft und Staat innewohnen, eine Art Dualis­
mus mit normativem Gehalt. Diesen normativen Dualismus
könnte man auch als den gemeinsamen Wahrheitsgehalt der poli­
tischen Philosophien von Hegel, Mill und Tocqueville sehen. Im
Gegensatz dazu enthält eine Konzeption kommunaler Freiheit,
die ausschließlich auf einer Konzeption kommunikativer Rationa­
lität aufruht, keinen solchen normativen Dualismus, und zwar
deshalb, weil ihr kein Prinzip negativer Freiheit einbeschrieben
ist. Dies ist natürlich auch der Grund, weshalb die »atomisti-
schen« Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft in Habermas’
Theorie nur aus der Perspektive einer notwendigen »Reduktion

37 A.a.O., S. 251.

46
von Komplexität« gerechtfertigt werden können, d. h. in Begrif­
fen eines »Stcucrungsproblcms« moderner Gesellschaften. Man
könnte jedoch argumentieren, daß vom Standpunkt eines Prinzips
negativer Freiheit nicht die Reduktion, sondern die Erzeugung
von Komplexität der versöhnende Zug jenes Aspekts von »Ent­
zweiung« ist, der für die moderne bürgerliche Gesellschaft konsti­
tutiv ist.
Meine Vorbehalte bezüglich der Möglichkeit der Begründung ei­
nes modernen Freiheitsbegriffs ausschließlich auf der Grundlage
eines prozeduralen Begriffs »kommunikativer« oder »diskursi­
ver« Rationalität sollten nicht mißverstanden werden. Ich glaube
nämlich, daß Habermas recht hat, wenn er einen solchen Rationa­
litätsbegriff als den normativen Kern jeder möglichen nachmcta-
physischcn Vernunftidee denkt. In einem wichtigen Sinn begreift
diese Rationalitätskonzeption die grundlegenden normativen
Strukturen des modernen Bewußtseins in sich. Ich habe lediglich
argumentiert, daß sic allein nicht ausreicht, um den vollen norma­
I
tiven Gehalt eines modernen Freiheitsbegriffs zu erklären. Ein
universalistisches Prinzip gleicher Menschenrechte ist ein mora­
lisches Prinzip, das - wie man mit Rawls und Habermas argumen- •
tieren könnte - der einzig mögliche Inhalt eines universalen
rationalen Konsenses über Menschenrechte ist. Weil jedoch die
Kategorie »abstrakter« oder »negativer« Freiheit - und somit ein
wichtiger Aspekt dessen, was wir mit Menschenrechten meinen —
nicht Teil eines Rationalitätsprinzips sein kann, scheint es, daß ein
Prinzip der Menschenrechte nicht direkt in einem Prinzip der Ra­ i
tionalität impliziert sein kann: Ein Prinzip der Menschenrechte ist
ein substantielles moralisches Prinzip, dessen Rechtfertigung sich
von der Rechtfertigung des Rationalitätsprinzips unterscheiden
muß. Zugleich aber ist ein Prinzip der Rechte nicht eine jener
spezifischen Normen, die in einem rationalen demokratischen
Konsens gerechtfertigt werden könnten: Als ein Meraprinzip der
Rechte kommt es eher einem Metaprinzip der Moral nahe und
definiert deshalb eine einschränkende Bedingung dessen, was der i
legitime Inhalt eines demokratischen Konsenses sein könnte.38
38 Daß diese einschränkende Bedingung zugleich eine »ermöglichende«
Bedingung des demokratischen Diskurses ist, habe ich hervorgehoben.
Wenn Habermas demgegenüber heute sagt, daß eine »ermöglichende«
Bedingung keine »einschränkende« Bedingung sein könne (vgl. J. Ha­ i
■-

bermas, a.a.O., S. 162), so verstehe ich den Sinn dieses Arguments


i
47
Genau in diesem Sinne definiert ein Prinzip der Menschenrechte
eine Bedingung der möglichen moralischen Legitimität eines de­
mokratischen Konsenses. Das, so scheint mir, ist der Wahrheits­
kern der Tradition der modernen Naturrechtstheorien von
Hobbes bis Rawls. Dieser Wahrheitskern der naturrechtlichen
Tradition muß in der Tat durch einen Begriff »kommunikativer«
und »diskursiver« Rationalität ergänzt werden, wenn er zum
»abstrakten« Kern einer modernen Konzeption »positiver«, kom­
munaler Freiheit werden soll, d.h. einer universalistischen Kon­
zeption demokratischer Sittlichkeit. Das Prinzip gleicher Frei­
heitsrechte und das Prinzip kommunikativer Rationalität sind
aufeinander angewiesen, aber sie »implizieren« einander in kei­
nem transparenten Sinn. Genau deshalb koinzidieren Freiheit und
Vernunft in der modernen Welt nicht - selbst wenn der Anspruch
auf Freiheit ein vernünftiger Anspruch ist und wenn das Telos
negativer Freiheit eine vernünftige, öffentliche Freiheit ist.

VI.

Auch wenn Freiheit und Vernunft in der modernen Welt nicht


koinzidieren, so gibt es doch - dies habe ich auch bisher schon
vorausgesetzt - einen internen Zusammenhang zwischen Haber­
mas’ Begriffen kommunikativer und diskursiver Rationalität auf
der einen Seite und der Idee kommunaler Freiheit auf der anderen.
Der Zusammenhang scheint offensichtlich: die Idee demokrati­
scher Selbstbestimmung verlangt einen öffentlichen Raum zwang­
loser Kommunikation und Diskussion ebenso wie institutionelle
Formen diskursiver Willensbildung. Individuelle Freiheitsrechte
werden hier in Rechte der politischen Partizipation »übersetzt«,
negative Freiheit wird in kollektive Selbstbestimmung »aufgeho­
ben«. Gerade deshalb könnte man versucht sein zu argumentie­
ren, daß kommunale Freiheit einfach diskursive Rationalität ist,
die eine Form von »Sittlichkeit« geworden ist, um noch einmal
Hegels Begriff zu benutzen. Die Plausibilität einer solchen Argu­
mentation hängt damit zusammen, daß eine prozedurale Konzcp-
nicht: Ein demokratischer Diskurs, der diese (ermöglichende) Bedin­
gung verletzen würde, wäre kein genuiner demokratischer Diskurs
mehr; insofern wird die »Souveränität des Gesetzgebers« sehr wohl
durch ihre ermöglichenden Bedingungen auch eingeschränkt.


tion von Rationalität in Habermas’ Sinn einen posttraditionalcn
if
Typus von ethischer Übereinstimmung - nämlich eine Überein­
stimmung über die A/efanormcn rationaler Argumentation - und i
incins damit ein Verfahren - und zwar das einzig mögliche Verfah­
ren - zur Wiederherstellung ethischer Übereinstimmung zwi­
schen freien und gleichen Individuen zu definieren scheint, wenn
i
einmal die traditionalcn ethischen Bindekräfte der Gesellschaft
sich zersetzt haben. Durch das Verfahren der Argumentation
würde Freiheit mit Solidarität und Rationalität verknüpft; eine
prozedurale Konzeption von Rationalität würde deshalb - so
könnte das Argument lauten — den normativen Kern einer post-
traditionalen Form von kommunaler Freiheit definieren.
Ich habe jedoch zuvor argumentiert, daß kein universalistisches
Prinzip »negativer« Freiheit wirklich - in einem transparenten
Sinn - in einer prozeduralen Konzeption von Rationalität »impli­
ziert« ist. Das heißt eben, daß Freiheit und Vernunft in der
Moderne nicht koinzidieren. Wenn das aber stimmt, kann ein pro­
zeduraler Rationalitätsbegriff auch nicht ausreichend sein, um
eine postkonventionellc Idee von Solidarität (»Brüderlichkeit«) zu
begründen. Eine postkonventionell verstandene Solidarität erfor- *
dert, daß wir einen Raum negativer Freiheit für alle anderen
wollen: einen Raum negativer Freiheit, der die Voraussetzung da­
für ist, daß wir das eigene Leben bestimmen und für die eigenen I
Entscheidungen die Verantwortung übernehmen können, und der
gleichzeitig die Freiheit einschließt, »nein« zu sagen und entspre­
chend zu handeln. Nur auf der Grundlage einer solchen Freiheit
sind symmetrische Formen wechselseitiger Anerkennung, sind
freiwillige Übereinkünfte und ist ein rationaler Konsens unter
Gleichen denkbar. Nur wenn eine prozedurale Konzeption von
Rationalität schon die Antizipation oder »Projektion« einer Le­
bensform implizieren würde, die sich als Verkörperung kommuni­
kativer und diskursiver Rationalität in einem idealen Sinne verste­
hen ließe (im Sinne einer »idealen Kommunikationsgemein­
schaft«), könnten wir eine Konzeption kommunaler Freiheit allein
auf eine Idee von Rationalität gründen. Ich glaube jedoch - und
habe an anderer Stelle zu zeigen versucht39 -, daß eine solche

39 A. Wellmer: Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei


Kant und in der Diskursethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986,
Abschnitte vn und vin.

49
•'
1
Idealisierung keinen Sinn macht. Was ich sagen will, ist nicht, daß
die Idee der Rationalität eine transzendentale Illusion enthält- wie
z. B. Derrida argumentieren würde-, d. h. daß sie auf Idealisierun­
gen basiert, die so unvermeidlich wie illusionär sind. Ich will viel­
mehr sagen, daß jene Idealisierungen mit den ihnen immanenten
begrifflichen Inkohärenzen nicht wirklich im Begriff der Rationa-
lität impliziert sind. Auchi aus diesem Grund kann die Idee kom-
munaler Freiheit, selbst wenn sie der rationalen Argumentation
einen privilegierten Platz mit Bezug auf die Wiederherstellung
und Erhaltung ethischer Konsense einräumen wird, nicht auf eine
prozedurale Konzeption von Rationalität reduziert werden.
Kommunale Freiheit ist eine Freiheit, die - durch die Institutio­
nen und Praktiken einer Gesellschaft, durch das Selbstverständ­
nis, das Interesse und die Gewohnheiten der Bürger — ein
gemeinsames Ziel geworden ist. Negative Freiheit verändert ihren
Charakter, wenn sie eine gemeinsame Angelegenheit wird. Denn
dann wollen wir nicht nur unsere je eigene Freiheit, sondern ein
Maximum an Selbstbestimmung für alle. Einen solchen gemeinsa­
men - und gemeinsam anerkannten - Raum der Selbstbestim­
mung kann es jedoch nur geben, wenn es einen institutionalisier­
ten Raum öffentlicher Freiheit gibt, in dem wir im Medium
öffentlicher Diskussion und demokratischer Praxis unsere Rechte
der Selbstbestimmung als politische Rechte wahrnehmen. Wäh­
rend negative Freiheit durch die Institutionen und Praktiken
kollektiver Selbstbestimmung in kommunale Freiheit transfor­
miert wird, ist solche kommunale Freiheit, wo sie existiert, not­
wendig selbstreflexiv: sie wird zu ihrem eigenen Zweck. Dies galt
in einem bestimmten Sinn schon für die griechische Polis, zumin­
dest wenn wir jenen Philosophen von Hegel bis zu Hannah
Arendt glauben, für die die griechische Polis das erste große Para­
digma politischer Freiheit war. Die Institutionen, Praktiken und
Gewohnheiten kommunaler Freiheit werden sich selbst zum
Zweck, wo sie für die Sclbstinterpretation, die Identität und die
praktischen Orientierungen der Individuen konstitutiv geworden
sind; denn wo dies geschieht, wird der Inhalt demokratischer Wil­
lensbildung nicht länger nur durch jene vorpolitischen Angele­
genheiten, Interessen und Konflikte bestimmt, die von außen in
die politische Sphäre hineingetragen werden (mit dem Ziel einer
gerechten oder pragmatisch sinnvollen Regelung); vielmehr wird
die kommunale Freiheit selbst zum Inhalt der Politik - nicht nur


im revolutionären Akt der constitutio libertatis, der für Arendt
immer das Paradigma politischen Handelns darstellte, sondern
auch in jener politischen Praxis, bei der es um die Sicherung, die
i
Neuinterpretation, die Verteidigung, Veränderung und Erweite­
rung des Raums öffentlicher Freiheit geht. Die constitutio liberta­
tis ist eine unabschließbare Aufgabe des politischen Handelns
unter Bedingungen öffentlicher Freiheit; das ist das Wahrheitsmo­
ment in Arendts ansonsten paradoxer Überzeugung, daß die
Sphäre politischen Handelns sich selbst zum Inhalt habe.40
Was die Selbstreflcxivität kommunaler Freiheit, wie wir sie schon
der griechischen Polis zuschreiben können, von der Selbstreflexi­
vität jeder modernen Form kommunaler Freiheit unterscheidet,
ist nicht nur, daß letztere auf der (universalistischen) Anerken­
nung eines »Rechts der Besonderheit« basieren muß, sondern
auch, daß sie noch in einem anderen Sinn sclbstreflexiv ist; näm­
lich im Sinne des Wissens darum, daß weder bestimmte normative
Gehalte noch die Interpretationen, auf denen sie basieren, gegen­
über der Möglichkeit rationaler Kritik immun sind. In einem
bestimmten Sinn - und das ist der Wahrheitsgehalt von Habermas’
Interpretation kommunaler Freiheit - ist jeder besondere norma­
tive Gehalt, jede spezifische institutionelle Regelung und jeder
bestimmte Zusammenhang von Interpretationen im Prinzip an­
fechtbar und für Revisionen offen. Deshalb definiert eine proze­ I-
i •.
durale Konzeption von Rationalität in der Tat eine wichtige
strukturelle Bedingung jeder modernen Form kommunaler Frei­ \
heit. Daß sie nur eine Bedingung definiert und uns noch keinen i <
zureichenden Begriff kommunaler Freiheit an die Hand gibt,
könnte man nun auch so ausdrücken: ein prozeduraler Begriff
von Rationalität kann uns zwar sagen, was vernünftige Freiheit
wäre, aber nicht, was vernünftige Freiheit wäre.

40 Vgl. beispielsweise H. Arendt: Über die Revolution, München/Zürich:


Piper 1963. Tatsächlich hat Arendt nicht wirklich (immer) die extreme
Position vertreten, die ich ihr hier zuschreibe. Vgl. z. B. ihre interessan­ I
ten Antworten auf eine Reihe von Fragen zu diesem Thema, die ihr
1972 während einer Konferenz über ihr Werk in Toronto gestellt wur­ I.
den. (In: M. A. Hill (Hg.): Hannah Arendt: The Rccoveryof the Public I. ■
World, New York: St. Martin’s 1979, S. 315 ff.) Arendt bestimmt hier
jene gemeinsamen Angelegenheiten als »politische«, für die es keine
klar definierten technischen Lösungen gibt und die deshalb ein ange­
messenes Thema für öffentliche Debatten sind (S. 317).

51
VII.

Wenn Freiheit in der modernen Welt einen normativen Dualismus


von »negativer« und »positiver«, d.h. kommunaler, Freiheit ein­
schließt, dann ist der universalistischen Idee von Freiheit selbst
eine dialektische Spannung einbeschrieben. Ich glaube, daß es
eben diese dialektische Spannung zwischen negativer und positi­
ver Freiheit ist, die sowohl Hegel als auch Tocqueville zu verste­
hen und zu analysieren versucht haben. Wir können diese
Spannung als eine Spannung zwischen Individualismus und Kom-
munalismus in der modernen Idee der Demokratie verstehen.
Negative Freiheit ist eine Voraussetzung kommunaler Freiheit in
der modernen Welt und zugleich eine mögliche Ursache von Des­
integrationen, eine Quelle von Konflikten, eine potentielle Bedro­
hung von solidarischen Beziehungen. Negative Freiheit repräsen­
tiert, wie schon Hegel es sah, das Element der Entzweiung, das
konstitutiv ist für jede moderne Form von kommunaler Freiheit.
Dies ist auch der Wahrheitsgehalt von Hegels Kritik an romanti­
schen Versöhnungsideen, einer Kritik, die retrospektiv auch als
eine Metakritik an Marx’ Kritik des bürgerlichen Individualismus
gelesen werden kann. Das »Projekt der Moderne«, dies ist der
Wahrheitsgehalt der Hegelschen Kritik, hat kein utopisches Tclos.
Hegel hat sich jedoch geirrt, wenn er eine politische Interpreta­
tion des Naturrechts zurückwies; denn eine demokratische Form
der Sittlichkeit ist, wie Tocqueville zeigt, die einzig mögliche
Form von »Versöhnung« für moderne Gesellschaften. Das Pro­
jekt der Moderne ist, politisch gesprochen, das Projekt einer
solchen Versöhnung zwischen negativer und kommunaler Frei­
heit. Gegen Marx und Hegel muß gesagt werden, daß dieses
Projekt ein unabschließbares, eines ohne letzte Lösungen ist, ein
Projekt, bei dem freilich immer wieder utopische Energien sich in
konkrete neue Lösungen verwandeln können. Gegen den ökono­
mischen Liberalismus ist zu sagen, daß ohne die Realisierung
einer vernünftigen, kommunalen Freiheit, d. h. einer demokrati­
schen Form von Sittlichkeit, negative Freiheit zur Karikatur wer­
den oder sich in einen Albtraum verwandeln muß.
Das Projekt der Moderne, so wie ich es hier verstanden habe, ist
zutiefst mit einer universalistischen Idee von Freiheit verbunden.
Freiheit gehört jedoch nicht zu jener Art von Dingen, die jemals
in einem definitiven Sinne realisiert werden können; das Projekt

52
der Moderne ist deshalb kein Projekt, das jemals »vollendet« sein
£
1:>
könnte. Die einzige Möglichkeit, dieses Projekt zu vollenden,
wäre die der Zerstörung oder der Selbstauslöschung der Mensch­ y
heit— eine Möglichkeit, die, wie wir wissen, nicht mehr undenk­
bar ist. Der unabschließbarc Charakter des Projekts der Moderne
N
impliziert das Ende der Utopie, wenn Utopie »Vollendung« im
Sinne einer definitiven Verwirklichung eines Ideals oder eines Te-
los der Geschichte bedeutet. Ein Ende der Utopie in diesem Sinne
meint nicht die Einsicht, daß wir nie imstande sein werden, das
Ideal vollständig zu realisieren, sondern die Einsicht, daß eben­
diese Idee einer endgültigen Realisierung eines idealen Zustands
mit Bezug auf die menschliche Geschichte keinen Sinn macht. Ein I
Ende der Utopie in diesem Sinn ist jedoch nicht gleichbedeutend
mit einem Ende der libertären Impulse, des moralischen Univer-
salismus und des demokratischen Revisionismus, die Teil des
Projekts der Moderne sind. Das Ende der Utopie sollte eher als
der Beginn einer neuen Sclbstrcflexion der Moderne verstanden
werden, eines neuen Verständnisses der radikalen Impulse des
modernen Geistes; es könnte als der Eintritt der Moderne in ihre
postmetaphysische Phase verstanden werden. Dieses Ende der
Utopie wäre keine Blockierung utopischer Energien; eher deren
Neuformierung, Transformation und Pluralisierung; denn kein
menschliches Leben, keine menschliche Leidenschaft, keine
menschliche Liebe wäre denkbar ohne einen utopischen Hori­
zont. Nur die Objektivierung solcher utopischen Horizonte zur
Idee eines geschichtlichen Zustands der Versöhnung kann »meta­
physisch« genannt werden. Und soweit utopischer Radikalismus
im Bereich der Politik mit solchen falschen Objektivierungen ver­
knüpft ist, kann auch er »metaphysisch« genannt werden. Im
r
i?
Bereich der Politik haben nur »konkrete« Utopien einen legitimen
Ort. Eine universalistische Idee kommunaler Freiheit jedoch ist
weder eine »abstrakte« noch eine »konkrete« Utopie. Sie bezeich­
net eher den normativen Horizont für konkrete Utopien, denn sie
definiert die Voraussetzungen dessen, was ein gutes Leben unter
den Bedingungen der Moderne genannt werden kann.

Übersetzt von Ruth Sonderegger


i?
i-
53 ?
2. Bedingungen
einer demokratischen Kultur
Zur Debatte zwischen
»Liberalen« und »Kommunitaristen«

I.

Das Thema unseres Kongresses - »Gemeinschaft und Gerechtig­


keit« - eröffnet eine Vielfalt von Assoziationen an die Geschichte
der modernen politischen Philosophie und Soziologie seit der
amerikanischen und französischen Revolution. In erster Linie
aber verstehe ich das Thema des Kongresses als eine etwas irrefüh­
rende deutsche Überschrift über die jüngste und noch andau­
ernde, weitgehend nordamerikanischc Debatte zwischen soge­
nannten Liberalen und sogenannten Kommunitaristen. Zwar
reichen die Wurzeln dieser Debatte tief zurück in die Geschichte
der modernen politischen Philosophie, aber die Debatte selbst hat
zugleich die Parameter der Diskussion über die politische Legiti­
mität der Moderne in produktiver Weise verschoben: sie hat
gleichsam eine Problematik, die so alt ist wie die moderne bürger­
liche Gesellschaft, eine Problematik, die schon Rousseau, die
Frühromantiker, Hegel, Marx und Tocqueville beunruhigte, auf
den neuesten Stand gebracht.
Im folgenden möchte ich an diese Debatte anknüpfen, und zwar
zunächst an einen Aspekt der Debatte, der eine Thematik betrifft,
die noch älter ist als die Revolutionen des 18. Jahrhunderts - sie
reicht zurück bis zur Zeit der europäischen Religionskriege und
zum Beginn des modernen Naturrechts. Einen Anlaß dafür, ge­
rade mit diesem Aspekt der Debatte zu beginnen, sehe ich in den
jüngsten Ausbrüchen des Nationalismus im Bereich des ehemali­
gen sozialistischen Staatensystems. Michael Walzer hat das heu­
tige Problem der nationalen, kulturellen oder ethnischen Identität
mit dem der konfessionellen Identität zur Zeit der europäischen
Religionskriege verglichen. Mit diesem Vergleich verbindet er die
Hoffnung, daß der nationale, kulturelle und ethnische Pluralismus
der modernen Welt dereinst in den Strukturen einer sich heraus­
bildenden Bürgergesellschaft friedlich aufgehoben werdet) könnte,

54
ähnlich wie cs mit dem konfessionellen Pluralismus der bürger­
lichen Frühzeit in den modernen Staaten des Westens mehr oder
weniger erfolgreich gelungen ist.1 Wenn man nun, wie Walzer dies
tun möchte, die Strukturen einer egalitären Bürgergcscllschaft dem
Partikularismus nationaler oder ethnischer Identitäten vorordnet,
so erinnert dies an ein Grundmotiv des modernen Naturrechts, das !
in der kommunitaristischen Kritik am Liberalismus merkwürdig
unterbelichtet geblieben ist. Gegenstand der letzteren Kritik ist
vor allem der »atomistischc« Individualismus der liberalen Theo­
rie, und zwar als das ideologische Spiegelbild der Pathologien und
Anomien der liberalen Gesellschaft. Walzers Erinnerung an die
europäischen Religionskriege hebt nun einen Aspekt der liberalen
Tradition hervor, der sich als Ausgangspunkt einer liberalen Me­
takritik am Kommunitarismus anbietet, und zwar weil der Indivi­
dualismus der liberalen Tradition hier nicht als Ausdruck eines
anthropologischen Atomismus, sondern als Ausdruck eines spe­
zifisch modernen Reflexions- und Emanzipationsschubes er­
scheint. Das liberale Selbst, so hat Walzer es ausgedrückt, ist ein
post-soziales, kein z>or-soziales Selbst:2 das scheinbar »ontologi­
sche« Problem daher, in Charles Taylors Worten, in Wirklichkeit
ein »advokatorischcs«.3
In Walzers Hinweis auf die Religionskriege ist ersichtlich bereits
eine Stellungnahme in der Debatte zwischen Liberalen und Kom-
munitaristen vorgezeichnet. Walzer bestreitet nicht das Recht der
kommunitaristischen Kritik an der liberalen Gesellschaft, er ver­
sucht aber die möglichen kommunitären Gegenkräfte zu den
Pathologien und Anomien der liberalen Gesellschaft an anderer
Stelle zu verorten als die Kommunitaristen, nämlich im Innern
der liberalen Tradition selbst. Diese Strategie finde ich einleuch­
tend; im folgenden möchte ich sie verteidigen und explizieren.

1 Vgl. Michael Walzer, »The Idea of Civil Society*, in: Dissent, Frühjahr
1991, S. 300.
2 Michael Walzer, »The Communitarian Critique of Libcralism*, in: Po­
litical Theory, Bd. 18, Nr. 1, Februar 1990, S. 21.
3 Zur Unterscheidung zwischen dem »ontologischen« und dem »advoka-
torischen« Aspekt der Debatte zwischen Liberalen und Kommunitari-
sten s. Charles Taylor, »Cross-Purposes: The Liberal-Communitarian
Debate«, in: Nancy Rosenblum (Hg.), Liberalism and the Moral Life,
Cambridge, Mass./London 1989, S. 159 ff.

55
Und zwar möchte ich dies in zwei Schritten tun: im ersten Schritt
wähle ich als Bezugspunkt-wie die Kommunitaristen es explizit
und die Liberalen in der Regel zumindest implizit tun - partiku­
lare Gesellschaften mit klar definierten Zugehörigkcitskritierien;
dies bedeutet, wenn wir uns zunächst auf moderne westliche Ge­
sellschaften beschränken, daß zugehörig diejenigen Menschen
sind, die Bürgerrechte haben - was auch immer die Kriterien sein
mögen, nach denen solche Bürgerrechte zuerkannt werden. Aus
der Wahl eines solchen Bezugspunktes folgt, daß Bürger- und
Menschenrechte klar unterschieden werden müssen. Der »Volks­
souverän« solcher Gesellschaften ist der Inbegriff aller Menschen
mit Bürgerrechten; was die übrigen Menschen betrifft, so werden
sie stillschweigend als Glieder eines anderen »Volkssouveräns«
betrachtet, und, zumindest theoretisch, mehr oder weniger ver­
nachlässigt. Mit anderen Worten: die Gesellschaften, die ich im
ersten Schritt meiner Überlegungen als Bezugspunkt wähle, sind
politisch-moralisch in sich abgeschlossen und nach außen hin klar
abgegrenzt. Natürlich handelt es sich hier um eine politisch-mo­
ralische Fiktion. Im zweiten Schritt meiner Überlegungen werde
ich erläutern, welche Konsequenzen sich aus der Auflösung dieser
Fiktion für eine angemessene Deutung der im ersten Schritt ge­
wonnenen Resultate ergeben.

II.

»Der Diskurs der Moderne«, so hat Habermas es formuliert4,


»hatte seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts unter immer wieder
neuen Titeln ein einziges Thema: das Erlahmen der sozialen Bin­
dungskräfte, Privatisierung und Entzweiung; kurz: jene Defor­
mationen einer einseitig rationalisierten Alltagspraxis, die das
Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Macht der
Religion hervorrufen.« Dieses Zitat erlaubt uns, den »Ort« der
liberalen und kommunitaristischen Positionen im philosophi­
schen Diskurs der Moderne zumindest in grober Weise zu bestim­
men: Als kommnnitaristisch können wir Positionen bezeichnen,
die auf der Annahme basieren, daß eine bloß auf die Garantie

4 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt


1985, S. 166.

56
individueller - liberaler, sozialer und demokratischer - Grund­
rechte fixierte Gesellschaft kein Äquivalent für die »vereinigende I
Macht der Religion« hervorbringen kann; hierfür wäre vielmehr
eine ebenso verpflichtende wie identitätsstiftende gemeinsame s
Konzeption des Guten vonnöten, ein kollektiv verbindlicher und
verbindender Wert- und Verständnishorizont, der allen individu­
ellen Rechten normativ vorgeordnet wäre und gleichsam erst
deren Grenzen und deren legitimen Anspruch bestimmen könnte.
Als liberal können wir demgegenüber Positionen bezeichnen, die
auf der Annahme basieren, daß erstens die liberalen und demokra­
tischen Grundrechte intern mit einer — zumindest potentiell -
solidaritätsstiftenden Konzeption eines gemeinsamen Guten ver­
knüpft sind, und daß zweitens in modernen Gesellschaften keine
darüber hinausgehende Konzeption des Guten zu einer für alle
Gesellschaftsmitglieder verpflichtenden Grundlage der gesell­
schaftlichen »Vereinigung« gemacht werden darf.
Nun operieren ja Liberale und Kommunitaristen auf dem Boden
derselben Gesellschaften, nämlich der liberalen und demokrati­
schen Gesellschaften Nordamerikas (und zunehmend auch: West­
europas). Ihr Dissens ist daher weitgehend ein Dissens innerhalb
gemeinsamer Wertorientierungen. Etwas vergröbernd könnte
man sagen, daß Liberale und Kommunitaristen jeweils verschie­
dene Aspekte derselben Tradition in den Vordergrund stellen:
Liberale betonen die Unhintergehbarkeit liberaler Grund- und
Freiheitsrechte, während die Kommunitaristen eher an den bür­
gerlichen Republikanismus der amerikanischen Frühzeit anknüp­
fen, also an die Tradition demokratischer Selbstregierung in
überschaubaren »communities« — d.h. Kommunen und Assozia­ ■>

tionen. Der Grunddissens ließe sich dann auch so beschreiben:


Liberale insistieren darauf, daß liberale und demokratische
Grund- und Freiheitsrechte allen Formen kommunaler oder kol­ ’i
lektiver Selbstbestimmung wie auch allen besonderen kulturellen,
ethnischen oder religiösen Traditionen und Identitäten vor­
zuordnen sind; Kommunitaristen argumentieren, daß nur im
Kontext kommunitärer Lebensformen - etwa der des »civic repu-
blicanism«5 — liberale Grundrechte einen nicht-destruktiven
$ Zur Debatte um den »civic republicanism« (auch »classical republica-
nism« oder »civic humanism«) vgl. exemplarisch Charles Taylor, a.a.O.,
insbes. S. 177 ff.; ders., Philosophical Papers 2, Cambridge 198$,
S. 334 f.; Roben N.Bellah u. a., The Good Society, insbes. Kap. 4: »Go-

57
II!' -
Sinn erhalten und daher legitim sein können. Für die Liberalen,
mit anderen Worten, bilden individuelle Freiheitsrechte den nor­
mativen Kern der modernen liberalen und demokratischen Tradi­
tion, während Kommunitaristen eher jene vergessenen Bedingun­
gen oder Voraussetzungen ans Licht heben möchten, unter denen
allein liberale Freiheitsrechte zu einem produktiven Moment in­
nerhalb kommunitärer Lebensformen werden können. Und noch
einmal ganz grob gesagt: Im Zweifelsfall werden die Liberalen auf
dem Schutz individueller Grundrechte bestehen; im Zweifelsfall
werden die Kommunitaristen der Integrität kommunitärer Le­
bensformen oder auch einem Recht auf kollektive Selbstbestim­
mung den Vorrang geben. Wenn man den Dissens so zuspitzt, und
wenn man sich nur für einen Moment die Komplexität der poli­
tisch-moralischen Probleme vor Augen führt, die sich allein schon
im Zusammenhang mit den heutigen nationalen und ethnischen
Konflikten auf der nördlichen Halbkugel stellen, dann wird sofort
klar, daß in einem praktischen Sinne der Dissens zur Zeit als kaum
auflösbar erscheinen muß. Eher ist zu vermuten, daß der Wider­
spruch zwischen den Desideraten nationaler, ethnischer oder
kultureller Selbstbehauptung auf der einen Seite, und der Forde­
rung nach individuellen Grundrechten auf der anderen, zur Zeit
gelegentlich Züge eines tragischen, d.h. nicht ohne moralische
Verletzungen auflösbaren Konflikts hat.6
Dies schicke ich vorweg, um fürs Folgende den wirklichen Stachel
des kommunitaristischen Arguments präsent zu halten. Zunächst
möchte ich aber, wie schon angekündigt, auf die Debatte als eine
interne Debatte liberaler Gesellschaften eingehen. Und zwar

vernment, Law, and Politics«; John Rawls, »The Priority of Right and
Idcas of the Good«, in: Philosophy and Public Affairs, 17, 1988, insbes.
S. 272 f.; Michael Walzer, »The Idea of Civil Society«, a.a.O., insbes.
S. 294 f. und S. 303 f.
6 Ich sage: gelegentlich; denn was die gegenwärtigen Ausbrüche nationa­
listischer oder rassistischer Barbarei in Europa, etwa auf dem Gebiet des
ehemaligen Jugoslawien oder auch in deutschen Ausländerpogromen,
betrifft, so kann von tragischen Konflikten kaum die Rede sein. In jenen
Ausbrüchen spielt ein legitimierendes Motiv kultureller Selbstbehaup­
tung keine Rolle mehr (oder allenfalls bei den Opfern). Eine Politik der
ethnischen Säuberung hat nichts mit der Verteidigung kommunitärer
Lebensformen zu tun; sie ist bestenfalls ein Symptom, schlimmstenfalls
ein Instrument ihrer Zerstörung.

«• 5«
I
werde ich, zum Teil in Anknüpfung an Walzers überzeugendes
Resümee der Debatte,7 zu zeigen versuchen, wie - und wie weit
— das kommunitaristische Motiv in eine liberale Theorie integriert
werden kann. Ich hoffe, daß hierbei auch die Konturen der De­
batte, zumindest was die wesentlichen Streitpunkte betrifft, noch
schärfer hervortreten werden als bisher.
Ich hatte bereits auf einen Streitpunkt hingewicscn, der in einer
älteren Phase der Debatte eine wichtige Rolle spielte, insbeson­
dere im Zusammenhang der kommunitaristischcn Kritik an John 1
Rawls; der Streitpunkt betraf den sozialen Charakter des indivi­
duellen Selbst. Nun bin ich zwar mit Charles Taylor der Meinung,
daß der kommunitaristische Hinweis auf den sozialen Charakter
des individuellen Selbst nicht folgenlos bleiben kann für das Ver­
ständnis der liberalen Grund- und Freiheitsrechte - der »ontolo­
gische« Aspekt des Problems ist nicht unabhängig von seinem
»advokatorischen«;8 gleichwohl meine ich, daß Walzers Auflö­
sung der Kontroverse zunächst einmal in die richtige Richtung
weist. Das liberale Selbst, so sagte er, sei ein post-soziales, kein
•uor-soziales Selbst; postsozial aber ist das liberale Selbst natürlich
nicht im Sinne einer Unabhängigkeit von sozial geprägten Identi­
täten, Lebensformen und Traditionen, sondern im Sinne einer
reflexiven Distanz zu allen partikularen Identitäten, Lebensfor­
men und Traditionen. Konstitutiv für diese reflexive Distanz ist
freilich eine Tradition zweiter Ordnung, eben jene Tradition mo­
derner westlicher Gesellschaften, deren normative Substanz die
liberalen Theoretiker zu reformulieren versuchen. Liberale und
demokratische Grundrechte bilden den Kern dieser Tradition.
Walzer zeigt nun, daß die kommunitaristische Kritik der liberalen
Gesellschaft kohärent nur auf dem Wege einer kritischen An­
knüpfung an die liberale Tradition formuliert werden kann. Der
richtig verstandene Kommunitarismus wäre der richtig verstan­
dene Liberalismus; denn
»the language of individual rights - voluntary association, pluralism, tole- .r
ration, Separation, privacy, free speech, the carecr open to talents, and so
on- is simply inescapable. Who among us seriously attempts to escape? If

7 Michael Walzer, »The Communitarian Critique of Liberalism«, a.a.O.;


vgl. auch ders., »The Idea of Civii Society«, a.a.O.
8 Vgl. Charles Taylor, »Cross-Purposes: The Libcral-Communitarian
r ■'I
Debate«, a.a.O., S. 161, 181. •! 1
■i: / !ii
59
| li
we rcally arc situated selvcs, as the second communitarian critique holds,
then our Situation is largely captived by that vocabulary.«’
Walzers Argument hat eine doppelte Pointe: Auf der einen Seite
weist er die Kommunitaristen darauf hin, daß in »unserer« - das
heißt hier: in der amerikanischen - politischen Tradition die Spra­
che der Grundrechte eine zentrale Rolle spielt; deshalb macht
zumindest hier die polemische Gegenüberstellung von situierten
Individuen und abstrakt-individualistischen Grundrechten keinen
Sinn. Auf der andern Seite möchte Walzer darauf hinweisen, daß
kommunitärc im Sinne von demokratisch-partizipatorischen
Praktiken ein wesentlicher Teil eben dieser selben Tradition sind.
Walzers zentrales Argument wird daher sein, daß liberale und de­
mokratische Grundwerte wechselseitig aufeinander verweisen
und das Recht der kommunitaristischen Kritik der liberalen Ge­
sellschaft vor allem darin liegt, daß sie den internen Zusammen­
hang zwischen liberalen Grundrechten und demokratischer Parti­
zipation einklagt. In die liberale Tradition selbst ist ein
kommunitäres Korrektiv eingebaut; und zwar derart, daß die li­
beralen Grundwerte auf eine extensive demokratische Partizipa­
tion angewiesen sind, d. h. auf eine Form demokratischer Sittlich­
keit - wie ich es in vielleicht paradoxer Anknüpfung an Hegel
nennen möchte. Aber so wie die liberalen Grundwerte auf demo­
kratische Partizipation angewiesen sind, so ist umgekehrt die
moderne Demokratie auf liberale Grundrechte angewiesen. De­
mokratie ist ein zugleich liberales und kommunitäres Projekt; die
moderne Idee der Demokratie bezeichnet eine Form kommunitä-
rer Praxis, die sich gewissermaßen auf gleicher Augenhöhe befin­
det mit den liberalen Grundwerten: beide setzen in gleichem
Maße den geschichtlichen Bruch mit substantiell fixierten Formen
des Gemeinschaftslebens voraus. Und nur im Medium demokra­
tischer Partizipation lassen sich jene kommunikativen Bande zwi­
schen den Individuen zwanglos wiederhcrstellen und erneuern,
die in einer Gesellschaft, wo »alles Stehende und Ständische ver­
dampft«, zu zerreißen drohen. Freilich lassen sich im Medium
demokratischer Partizipation und einer nicht-blockierten öffent­
lichen Kommunikation keine substantiellen Gemeinsamkeiten
mehr auf Dauer stellen. In einer liberalen und demokratischen

9 Michael Walzer, »The Communitarian Critique of Liberalism«, a.a.O.,


S. 14.

6o
:i
Gesellschaft ist keine Idee des guten Lebens, sind keine substan­
tiellen Wertorientierungen oder kulturellen Identitäten vor Kritik
und Revision sicher, nicht einmal die Interpretationen jenes libe­
ralen und demokratischen Konsenses, der die einzig mögliche
Grundlage einer modernen Form demokratischer Sittlichkeit ist.
In diesem Sinn ist die moderne Demokratie wesentlich transgres-
siv und ohne festen Boden.
An dieser Stelle könnte der Verdacht eines schlechten Zirkels ent­ .1
stehen: ich habe ja angedeutet, daß der demokratische Diskurs in
liberalen Grundrechten verankert sein muß und daß zugleich nur
im Medium des demokratischen Diskurses die Deutung und Insti­
tutionalisierung der Grundrechte fortgeschrieben werden kann.
Indes glaube ich, daß es sich hier um einen unvermeidlichen
praktischen und nicht um einen schlechten theoretischen Zirkel
handelt. Dies möchte ich erläutern durch eine Gegenüberstellung
und wechselseitige Relativierung von Rawls’ und Habermas’ Be­
gründungsstrategien.10 Für Rawls sind liberale Grundrechte, für

io Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975; Jür­
gen Habermas, »Ist der Herzschlag der Revolution zum Stillstand
gekommen? Volkssouveränität als Verfahren. Ein normativer Begriff
der Öffentlichkeit?«, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.),
Die Ideen von 1789, Frankfurt 1989. Meine Einwände gegen Haber­
mas haben sich durch seine neuen Überlegungen in seinem (nach der
Abfassung dieses Artikels erschienenen) Buch Faktizität und Geltung,
Frankfurt 1992, Kap. 111 (»Zur Rekonstruktion des Rechts: Das Sy­
stem der Rechte«), zum Teil erledigt, und zwar insofern Habermas
jetzt die liberalen Grundrechte gleichsam in das Demokratieprinzip
cinbaut (vgl. a.a.O., S. 154-157). Allerdings ändert sich hierdurch
nichts an dem hier behaupteten praktischen Zirkel. Mein Einwand ge­
gen Habermas würde sich jetzt verschieben auf seine Ableitung der
liberalen Grundrechte aus einer Anwendung des Diskursprinzips auf
die Rechtsform. Im Diskursprinzip selbst steckt nämlich nach wie vor
die problematische Prämisse, daß nur eine egalitäre Distribution von
Grundrechten (konsens-) rational sein könne. Dies gilt sicherlich un­
ter Voraussetzungen einer liberalen Kultur; ich sehe aber keinen ■

Grund dafür zu behaupten, daß es in irgendeinem prägnanten - und sei


es formalpragmatischen - Sinne a priori gilt. Die hier implizit vertre­
tene Auffassung, daß es für die egalitären Grundrechtsprinzipicn I •
moderner Demokratien gute Gründe gibt, ist daher keineswegs gleich­
bedeutend mit einer These der Art, daß sich solche guten Gründe
schon aus der bloßen Anwendung eines formalen Diskursprinzips auf
die Rechtsform ergeben könnten.
• . - • ■■ ■

61
Ti
’j ’f
Habermas demokratische Kommunikations- und Tcilhabcrcchte
fundamental. Rawls sieht in den demokratischen Partizipations­
rechten einen besonderen Ausdruck der liberalen Grundrechte,
die als letzter Maßstab jeder Form demokratischer Partizipation
vorgeordnet bleiben; Habermas sieht demgegenüber in der gleich­
berechtigten Teilnahme aller am demokratischen Diskurs das
fundamentale Legitimitäts- oder »Gerechtigkeits«-Prinzip mo­
derner Gesellschaften, das allen besonderen Ausformulierungen
liberaler Grundrechte vorgeordnet bleibt.11 Erst im Medium des
demokratischen Diskurses kann somit nach Habermas entschie­
den werden, was - über die gleichen Kommunikations- und
Teilhaberechte hinaus - jeweils als liberales Grundrecht gelten
soll. In einer subtileren Form werden hier noch einmal die Diffe­
renzen zwischen Locke und Rousseau ausgetragen; und in gewis­
sem Sinne bezeichnet die Differenz zwischen Rawls’ liberaler und
Habermas’ demokratischer Theorie die interessanteste, weil fort­
geschrittenste Version des Streits zwischen Liberalen und Kom-
munitaristen. Nun glaube ich, daß Rawls und Habermas beide
recht und unrecht haben: Rawls hat insoweit recht, als der demo­
kratische Diskurs nicht die Grundlage seiner eigenen Realität aus
sich heraus erzeugen kann. Es gibt keinen prästabilierten Konsens
aller vernünftigen Wesen; damit ein demokratischer Diskurs, der
seinen Namen verdient, überhaupt in Gang kommen kann, müs­
sen liberale Grund- und Freiheitsrechte vorweg gewährleistet,
d. h. zu einer sozialen und institutionellen Realität geworden sein.
Diese Voraussetzung demokratischer Diskurse könnte man nur
dann - theoretisch - vernachlässigen, wenn man von der - fal­
schen - Annahme ausginge, das demokratische Prinzip gleicher
Kommunikations- und Teilhaberechte bezeichne so etwas wie den
idealen Endpunkt eines vollkommen herrschaftsfreien Diskurses
und hierin zugleich einen Bewertungsmaßstab für reale Gesell­
schaften. Wenn dies aber nicht so ist, dann kann, was »gleiche
Kommunikations- und Teilhaberechte« jeweils bedeuten soll, nur
im Kontext eines ganzen Systems von Rechten, Praktiken und
Institutionen bestimmt werden. - Habermas hat aber auch recht
gegen Rawls: Wenn jede Auslegung und jede Institutionalisierung
von Grundrechten den Index einer geschichtlichen Situation, die
Spuren vergangener Konflikte und eine bestimmte Interpretation

11 Vgl. Habermas, a.a.O., S. 16 ff.

62
!. '■

gesellschaftlicher Bedürfnisse und Möglichkeiten in sich enthält, j. • ;


dann kann der demokratische Diskurs auch vor seinen eigenen
Grundlagen nicht haltmachcn. Es gibt ja keine Instanz außerhalb
des demokratischen Diskurses - weder Philosophen noch Verfas­
sungsgerichte die hier unanfechtbare und der Kritik entzogene
Entscheidungen treffen könnten. Also können nur im Medium
des demokratischen Diskurses dessen eigene Grundlagen gesi­
chert und auf Dauer gestellt werden. Denken läßt sich dies nur
dann, wenn man den demokratischen Diskurs nicht nur als ein
Netzwerk von Institutionen und Assoziationen sicht, sondern zu­
gleich als ein Netzwerk von Öffentlichkeiten. Öffentlichkeit ist
nämlich jenes Prinzip, durch welches zwei verschiedene und glei­
chermaßen wichtige Bedeutungen des Prinzips gleicher Kommu­
nikationsrechte in einen praktikablen Zusammenhang gebracht
werden können. Nach der ersten Bedeutung geht es wirklich um
Teilnahme- und RederecAte; für diese gilt, was ich oben über
Grundrechte allgemein gesagt habe: sic werden immer nur im
Kontext eines Systems von Rechten, Institutionen und Praktiken
eine bestimmte, einklagbare Form haben können. Die zweite Be­
deutung des Prinzips ist eine unmittelbar moralische: hier geht es
nämlich um das Recht eines jeden darauf, daß seine - oder ihre -
Stimme im demokratischen Diskurs angemessen zur Geltung
kommt. Nur wenn die Stimme eines jeden - einer jeden - Betroffe­
nen im demokratischen Diskurs angemessen repräsentiert ist, kön­
nen demokratische Entscheidungen gerecht sein. Das Prinzip der
Öffentlichkeit enthält nun eine Art Operationalisierung des Zu­
sammenhangs zwischen den beiden möglichen Bedeutungen des
Prinzips gleicher Kommunikationsrechte, und zwar, wie mir
scheint, die einzig mögliche, da das Prinzip in seiner zweiten Be­
deutung aus begrifflichen Gründen gar nicht institutionalisierbar
ist. Freilich liegt auf der Hand, daß die beiden unterscheidbaren
Bedeutungen des Prinzips zugleich begrifflich aufs engste mitein­
ander verknüpft sind. Denn daß die Stimme aller Betroffenen im
demokratischen Diskurs zur Geltung kommen soll, heißt zugleich,
daß die Betroffenen ihre Stimme, wo immer möglich, selbst und in
eigener Entscheidung, d. h. in einem realen Diskurs sollen zur Gel­
tung bringen können. Genau hierin sind die dynamischen und
transgressiven Potentiale der liberalen Demokratie begründet.
Der transgressive Charakter der modernen Demokratie - der na­
türlich nicht unabhängig ist vom transgressiven Charakter der

63
modernen Ökonomie, Wissenschaft und Kunst — ist somit be­
gründet in einer eigentümlich instabilen, auf kein letztes Funda­
ment zurückverweisenden Verknüpfung liberaler mit demokrati­
schen Prinzipien. In dieser Verknüpfung ist aber zugleich ein
Spannnngsverhdltnis zwischen liberalen Grundrechten und de- 1
mokratischer Praxis angelegt. Im Schutz der liberalen Grund- r
rechte konstituiert sich nämlich ein liberales Selbst, das transgres-
siv ist in einem für kommunitäre Lebensformen, auch solche
demokratischer Art, potentiell bedrohlichen Sinne. Die liberalen 1
Freiheitsrechte sind, wie Walzer eindrücklich zeigt, zugleich >
Rechte zur Trennung, zur Verweigerung, zum Rückzug, zum
Neuanfang, zur Entzweiung.12 Als Individualrechte der Ent­
zweiung und der Transgression sind die liberalen Grundrechte
einerseits die Bedingung der Möglichkeit einer posttraditionalen
Form demokratischer Sittlichkeit, andererseits aber auch ein po­
tentieller Sprengsatz für kommunitäre Lebensformen. Sie sind die
Grundlage für den transgressiven Charakter der modernen De­
mokratie und zugleich ein anti-kommunitäres Potential moderner
Lebensformen. »Liberalism«, sagt Walzer, »is a self-subverting
doctrine; for that reason, it really does require periodic commu-
nitarian correction.«13 Diese kommunitäre Korrektur kann aber
nur den Sinn einer Wiederbelebung, Stärkung und Ausweitung
jener demokratischen Partizipationsformen haben, deren Korrelat
und Lebenselement eben die liberalen Grundwerte sind. »The
communitarian correction of liberalism«, so Walzer, »cannot be
anything other than a selective reinforcement of those same values
or, to appropriate the well-known phrase of Michael Oakeshott, a
pursuit of our intimations of community within them.«H
Die »intimations of community« in den liberalen Grundwerten
selbst finden ihre Realisierung in den dezentralen und pluralen
Strukturen einer demokratischen »civil society« — einem Netz­
werk autonomer Assoziationen, Institutionen und Öffentlichkei­
ten unterhalb der Ebene des Staates. Und nur wo dies geschieht,
wo also eine demokratische Sittlichkeit die vielstimmige Prosa des
Alltagslebens durchdringt, können liberale Grundrechte und de­
mokratische Legitimitätsform sich zur politischen Einheit eines
12 Vgl. Walzer, »The Communitarian Critique of Liberalism«, a.a.O.,
S. 11 ff.
13 A.a.O., S. 15.
14 A.a.O.

64
zugleich liberalen und demokratischen Gemeinwesens verbinden.
Der demokratische Staat benötigt den Pluralismus und die politi­
sche Kultur einer demokratischen Bürgergesellschaft als sein Le-
benselcment; umgekehrt kann nur im Rahmen eines demokrati­
schen Staates eine demokratische Bürgergcsellschaft sich entfalten:
»Only a democratic state can crcate a democratic civil society; only a
dcmocratic civil society can sustain a democratic state. The civility that
makes democratic politics possiblc can only be learned in the associational
networks; the roughly equal and widely dispersed capabilities that sustain
the networks have to bc fostered by the democratic state.«15
Man sollte das kritische Potential der Überlegungen von Walzer
nicht unterschätzen. Es sind die Überlegungen eines demokrati­
schen Sozialisten, der die liberale Tradition radikalisierend beim
Wort nimmt. Noch stärker als Rawls hat Walzer die kommunitä-
ren Implikationen des liberalen Dispositivs herausgearbeitet;
hierin setzen beide die Tradition eines »kommunitären« Liberalis­
mus fort, wie er sich in Ansätzen schon bei John Stuart Mill und
Tocqueville, in radikalerer Form bei John Dewey findet. Ihre
Strategie ist aber auch der Strategie Hegels in seiner Rechtsphilo­
sophie verwandt: schon Hegel versuchte ja zu zeigen, daß die
Verwirklichung der liberalen Grundrechte nur denkbar sei als die
Verwirklichung einer modernen Form kommunitärer Sittlichkeit.
Was Walzer und Rawls, zusammen mit den eben genannten libe­
ralen Theoretikern, unwiderruflich von Hegel trennt, ist ihre
demokratietheoretische Ausformulierung des kommunitären
Aspekts der modernen Freiheit. Ein anderer Grundgedanke He­
gels aber kehrt bei Walzer in veränderter Form wieder: Hegel
hatte ja die bürgerliche Gesellschaft als »System der in ihre Ex­
treme verlorenen Sittlichkeit« beschrieben16 - eine Beschreibung
übrigens, in der die kommunitaristische Kritik am Liberalismus
gleichsam in nuce enthalten ist. Dem Moment der Entzweiung,
das nach Hegels Analyse im latenten Atomismus der bürgerlichen
Gesellschaft enthalten ist, entspricht bei Walzer das anti-kommu-
nitäre Potential in den liberalen Grundrechten. Das Recht zur
Entzweiung bezeichnet ein integrales Moment moderner Freiheit;
es ist eng verknüpft mit dem, was man »negative« Freiheitsrechte

1$ Vgl. Michael Walzer, »The Idea of Civil Society«, a.a.O., S. 302.


16 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke,
Bd. 7, Frankfurt 1970, § 184, S. 340.

65

I
genannt hat. In dem berühmten Paragraphen 273 der Rechtsphi­
losophie hat Hegel nun die These vertreten, daß Demokratie im
modernen Staat nicht möglich sei, weil sie - wie er im Anschluß an
Montesquieu sagt - die Tugend der Bürger als ihre Grundlage
voraussetze; sei aber das »Recht der Besonderheit« einmal aner­
kannt-wie es mit der Institutionalisierung liberaler Grundrechte
in der modernen Gesellschaft geschieht -, so werde hierdurch
auch die mögliche Grundlage demokratischer Regierungsformen
zerstört. Dies Argument Hegels war schon zur Zeit seiner For­
mulierung im Grunde obsolet, d. h. durch die Wirklichkeit zu­
mindest der amerikanischen Demokratie überholt. Wenn man dies
Argument aber nur ein wenig anders formuliert und dabei be­
rücksichtigt, daß Hegel ja vormoderne Formen einer demokrati­
schen Republik vor Augen hatte, dann entpuppt es sich als
Vorwegnahme der vielleicht wichtigsten anti-kommunitaristi- :
sehen Argumente von Rawls und Walzer. Ich meine ihre Argu­
mente gegen den »civic republicanism« von Kommunitaristcn wie
Taylor oder Bellah.17 Wenn ich diesen Argumenten eine beson- 1
dere Bedeutung beimesse, dann deshalb, weil in ihnen - gleichsam
jenseits aller Vorgefechte etwa über den sozialen Charakter des j
Selbst oder die Priorität des Guten oder Richtigen - die vielleicht
entscheidende Differenz zwischen Liberalen und Kommunitari- ’
sten zum Vorschein kommt. Und zwar handelt es sich um zwei
unterschiedliche Verständnisse dessen, was partizipatorische De­
mokratie und was »demokratische Sittlichkeit« in modernen Ge­
sellschaften bedeuten können. »Republicanism«, sagt Walzer -
und ganz ähnlich hätte es auch Hegel formulieren können -, »is an
integrated and unitary doctrine in which cnergy and commitment
are focused primarily on the political realm. It is a doctrine adap-
ted (in both its classical and ncoclassical forms) to the needs of
small, homogeneous communities, where civil society is radically
undifferentiated.«18 Diese Form des Republikanismus verliert
ihre Grundlage, wenn - wie es in der liberalen Gesellschaft ge­
schieht - die Konzepte des guten Lebens, die Wertorientierungen
und Identitätsentwürfe sich vervielfältigen und privatisieren.
Denn jetzt kann das gemeinsam geteilte öffentliche Gute - näm-

vj Vgl. Fußnote 5.
18 Michael Walzer, »The Communitarian Critique of Liberalism«, a.a.O.,
S. 20.

66
lieh das in den liberalen und demokratischen Institutionen selbst
verkörperte gemeinsame Gute - erstens nur noch als Kreuzungs­
punkt einer Vielfalt miteinander konkurrierender Ideen des guten
Lebens verstanden werden, und es kann eben deshalb zweitens
nicht mehr als der allein privilegierte Ort des guten Lebens ver­
standen werden. Ich denke, daß Rawls’ These von der Priorität
des Richtigen gegenüber dem Guten letztlich nichts anderes zum
Ausdruck bringt als diese Relativierung des gemeinsam geteilten,
öffentlichen Guten gegenüber der Vielfalt individueller oder auch
in freiwilligen Assoziationen verfolgter Sinn- und Lebensent­
würfe.19 Das gemeinsame Gute läßt sich nur bestimmen durch
Angabe der normativen Bedingungen - d. h. der liberalen und de­
mokratischen Prinzipien unter denen die exzentrische Vielfalt
der je individuellen oder besonderen Entwürfe des Guten egalitär
sich entfalten kann.
Solche Überlegungen müssen nun aber auch den Begriff einer
»demokratischen Sittlichkeit« affizieren, wie ich ihn mehrfach -
gleichsam in naiv-paradoxer Anknüpfung an Hegel - gebraucht
habe. Der Begriff meint eine Habitualisierung liberaler und demo­
kratischer Verhaltensweisen, wie sie nur durch den Gegenhalt in
entsprechenden Institutionen, Traditionen und Praktiken Zustan­
dekommen und sich reproduzieren kann. Der Begriff meint im
Grunde nichts anderes als die soziale Verkörperung liberaler und
demokratischer Prinzipien in einer politischen Kultur. »Die Sitt­
lichkeit«, in Hegels unübertrefflicher Formulierung,
»ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußt­
sein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so
wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage
und bewegenden Zweck hat, - der zur vorhandenen Welt und zur Natur
des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit. «20
Was nun am Begriff einer demokratischen Sittlichkeit paradox
scheint, ist, daß er nicht »substantiell«, sondern »formal« oder, in
einem Terminus von Habermas, »prozedural« zu bestimmen
wäre. Denn cs gibt keine sittliche Substanz jenseits des demokra­ I ■
tischen Diskurses, die sich in einer für alle verbindlichen Form, sei a
es philosophisch, sei es theologisch, begründen oder zementieren !<
i
19 So explizit in John Rawls, »The Priority of Right and Ideas of the
Good«, a.a.O., S. 272 f.
20 Hegel, a.a.O., § 142, S. 292.
i
67
i

ließe. Also müssen cs die Bedingungen des demokratischen Dis­


kurses selbst sein, die den Kern einer demokratischen Sittlichkeit
definieren.
Da zu diesen Bedingungen eine Garantie, und zwar eine jeweils in
bestimmter Weise institutionalisierte Garantie, individueller
Grund- und Freiheitsrechte gehört, mag es freilich als irreführend
erscheinen, wenn man von einem prozeduralen Kern der demo­
kratischen Sittlichkeit spricht. Es ist aber schwer, ein besseres
Wort zu finden; denn worum es geht, ist eine Art des Umgangs
(auch) mit (unauflösbaren) Dissensen, Heterogenitäten und Kon­
flikten, wie sie für moderne Gesellschaften, die zugleich liberal
und differenziert sind, strukturell unvermeidbar sind. Man muß
sich - gegenüber kontextualistischen Einwänden - nur vor Augen
halten, daß natürlich jeder kommunikative oder diskursive Um­
gang mit Dissensen oder Konflikten, und zwar ebenso wie jedes
formale demokratische Verfahren, seine jeweils bestimmten kon­
textuellen Voraussetzungen hat und unter jeweils konkreten kon­
textuellen Anforderungen steht. Man könnte das Wort » prozedu­
ral« dann etwa so erläutern: es bezeichnet einen Modus des
Umgangs mit Konflikten und Dissensen, bei dem die Orientie­
rung an den normativen Bedingungen des demokratischen Dis­
kurses selbst zwar nicht den einzigen, wohl aber den einzigen
unhintergehbaren Leitfaden der Urteilsbildung definiert.
Daß die sittliche Substanz moderner Gesellschaften auf einen pro­
zeduralen Kern zusammenschrumpfen muß, bedeutet zugleich,
daß sie mit keiner emphatischen Idee eines versöhnten Ganzen
mehr kompatibel ist; diese Idee wird vielmehr tendenziell totali­
tär. Dies ist, aus der Perspektive des Übergangs zur Moderne, die
»Tragödie im Sittlichen«, die Hegel in der Konstitutionsge­
schichte der modernen Freiheit aufdeckte;21 und das heißt zu­
gleich als Ingrediens jeder modernen Form der Sittlichkeit, die
sich auf die allgemeine und wechselseitige Anerkennung eines
Rechts der Besonderheit gründet. Das »Bedürfnis der Vereini­
gung« wäre dann, was die Gesellschaft im Ganzen betrifft, nur
noch durch die demokratische Teilhabe aller an den vielfach abge­
stuften Entscheidungs- und Kommunikationsprozessen der Ge­
sellschaft zu befriedigen, bis hin zu dem von Habermas beschrie-

21 Vgl. G.W.F. Hegel, Ȇber die wissenschaftlichen Behandlungsarten


des Naturrechts ...«, in: Werke, Bd. z, Frankfurt 1986.

68
bencn Wechselspiel zwischen autonomen Öffentlichkeiten und
den von ihnen »belagerten« zentralen politischen Institutionen.
Der Begriff einer demokratischen Sittlichkeit definiert somit nicht
schon einen bestimmten Inhalt des guten Lebens, sondern nur die !
Form einer zugleich egalitären und kommunikativen Koexistenz
einer Vielfalt miteinander konkurrierender Ideen des Guten. Und
das heißt zugleich, daß das politische Leben nicht mehr nur der
einzige oder privilegierte Ort des guten Lebens sein kann. Das
gemeinsame Gute einer demokratischen Lebensform kann zwar
nicht existieren, ohne zugleich ein Zweck zu sein; insofern geht cs
in der kommunitären Praxis demokratischer Teilhabe immer auch
um die Sicherung und Erweiterung ihrer eigenen Grundlagen - in
der demokratischen Sittlichkeit wäre, in Hegels Worten, ein
»freier Wille« verkörpert, »der den freien Willen will«.22 Aber
dieser freie Wille schließt unter Bedingungen der Moderne we­
sentlich ein »Recht der Besonderheit« ein, d. h. ein zentrifugales
Moment der Entzweiung, der Negativität, der konfliktreichen
Pluralisierung des Guten; und hierdurch wird es unmöglich, De­
mokratie und bürgerliche Tugenden noch einmal zu einem sub­
stantiellen Ganzen im Sinne des »civic rcpublicanism« zusam­
menzuschließen. Als differenzierte ist die liberale Gesellschaft
zugleich fragmentiert; und dieser Fragmentierung der Gesell­
schaft entspricht eine Fragmentierung des liberalen Selbst, dessen
persönliche Identitätsentwürfe immer nur riskante und revidier­
bare Synthesen disparater Erfahrungen, Bedürfnisse, Loyalitäten,
Wertorientierungen und sozialer Identitäten sein können. Das li­ v1
berale Selbst ist entwurzelt. Sein Ort ist nicht eine territorial
begrenzte Gemeinschaft, die seine ganze Loyalität beanspruchen
könnte; sein Ort ist vielmehr der in Zeit und Raum wandernde
Knotenpunkt eines variablen Geflechts freiwilliger Assoziationen
und Loyalitäten, die nicht territorial, sondern thematisch, beruf­
lich und personal bedingt sind. Bezogen auf das Ganze der
demokratischen Republik sind die liberalen Individuen, wie Wal­
zer es ausdrückt, immer nur »intermittently virtuous; they are too
caught up in particularity«.23 Das heißt auch, daß sie die Span­
nung zwischen den kommunitären und den anti-kommunitären
Potentialen des liberalen Dispositivs in sich selbst austragen müs-

22 Hegel, Werke, Bd. 7, a.a.O., § 27, S. 79.


23 Michael Walzer, »The Idea of Civil Society«, a.a.O., S. 299.

69
sen; sie verkörpern variable Balancen von demokratischer Soiida-
Solida-
rität und liberaler Exzentrik, von sozialer Verantwortlichkeit und
partikularistischer Selbstsorge. Ihre Tugenden aber sind nichts als
der Ausdruck einer Habitualisierung liberaler und demokrati- |
scher Verhaltensweisen und lassen sich daher gewissermaßen i
selbst nur »prozedural« bestimmen. Es sind insbesondere Tugen- I
den eines gewaltfrei-kommunikativen Umgangs mit Dissensen, :
Konflikten, Heterogenitäten und Entzweiungen ebenso wie sol­
che eines Lebens ohne letzte Synthesen und ultimative Lösungen.
Die kommunikative Vernunft solcher »tugendhaften« Liberalen
und ihr demokratischer Diskurs sind prinzipienorientiert und ra­
dikal kontextualistisch zugleich, ihr Engagement für die demo­
kratische Republik ist distanziert und doch notfalls von tödlichem
Ernst, und in ihren sozialen Beziehungen können sie sich exzen­
trisch und solidarisch in einem verhalten. Kurz: sie sind Freunde
des Allgemeinen, Liebhaber der Unübersichtlichkeit und Artisten
der Differenz.

III.

Das Bild einer liberalen und demokratischen Kultur, wie ich es


skizziert habe, ist natürlich zu schön, um wahr zu sein. Es ist kein
Bild existierender Gesellschaften; nicht weil es eine Utopie wäre-
in irgendeinem prägnanten Sinne des Wortes sondern weil es
eine Reihe von Problemen als gelöst unterstellt, die in keiner exi­
stierenden Gesellschaft wirklich gelöst sind. Bisher habe ich im
Grunde nur zu zeigen versucht, wie das kommunitaristische
Grundmotiv durchzuführen wäre, wenn es denn überhaupt unter
Bedingungen moderner Gesellschaften als zugleich realistisch und
nicht-reaktionär gelten soll. Unter den Problemen, die ich bisher
vernachlässigt habe, möchte ich »interne« und »externe« vonein­
ander unterscheiden. Die externen Probleme werden mich zum
anfangs angekündigten zweiten Schritt meiner Überlegungen füh­
ren. Zunächst aber ein Wort zu den internen Problemen: Es liegt
auf der Hand, daß liberale und demokratische Grundrechte unzu­
reichend für die Konstitution einer Form »demokratischer Sitt­
lichkeit« sind, wenn sie nicht in angemessener Form mit sozialen
Grundrechten verknüpft sind. Man könnte sagen: der Wert der
liberalen und demokratischen Grundrechte für die betroffenen


Individuen hängt von ihrer angemessenen Verknüpfung mit sozia­
len Grundrechten ab; aber natürlich kann vom gemeinsamen
Guten einer liberalen und demokratischen Kultur nicht ernsthaft
die Rede sein, wo die liberalen und demokratischen Grundrechte
für ganze Klassen von Menschen nur geringen Wert haben. Sicher­
lich wäre cs verwegen zu behaupten, daß das Problem der sozialen
Grundrechte in irgendeiner existierenden Gesellschaft angemes­
sen gelöst worden sei; wenn ich es vernachlässigt habe, so deshalb,
weil ich es - soweit man es wirklich als ein internes Problem der
reichen Gesellschaften des Westens ansehen kann - für praktisch
lösbar halte, und weil es andererseits - soweit es als praktisch
unlösbar erscheint - im Grunde schon mit jenen externen Proble­
i
men zusammenhängt, auf die ich gleich zu sprechen komme. Ich
möchte nur anmerken, daß ich - soweit es die philosophisch­
begriffliche Seite des Problems betrifft - in Walzers Überlegungen
zum Problem distributiver Gerechtigkeit in seinem Buch Spheres ■

ofJustice2* den zur Zeit überzeugendsten Vorschlag für eine For­


mulierung des Problems sehe. Als Teil dieses Vorschlags sehe ich
die Forderung nach Garantie eines sozial adäquaten Grundein­
kommens, d. h. eines Grundeinkommens, das ausreichend wäre,
um dasjenige Maß an Autonomie und Selbstachtung für alle zu
ermöglichen, ohne welches die liberalen und demokratischen
Grundrechte zumindest für die Betroffenen ihren Wert verlieren
müßten. Freilich ist zu vermuten, daß dies elementare Problem
sozialer Gerechtigkeit aufs engste zusammenhängt mit dem Pro­
blem einer demokratischen Domestizierung und Transformation
i X5
der kapitalistischen Ökonomie. Es wäre pervers, im Zusammen­
bruch des Realsozialismus bloß einen Triumph des Kapitalismus
zu sehen. Angemessener wäre es anzunehmen, daß durch das
Ende des Realsozialismus die Kapitalismuskritik sich potentiell
wieder dorthin verlagert, wohin sic eigentlich gehört: ins Innere
der liberalen Gesellschaften. Das Ende des Realsozialismus ist das
Ende einer falschen Alternative; vielleicht könnte es zugleich die
Chance bedeuten, tiefliegende Selbstverständlichkeiten der kapi­
talistischen Ökonomie, die die Funktionsweise des Kapital­
eigentums betreffen und die durch die pure Existenz des Realso­
zialismus lange Zeit faktisch der Kritik entzogen waren, mit
neuen begrifflichen Mitteln in Frage zu stellen. Ich kenne mich in

24 Michael Walzer, Spheres ofJustice, New York 19S3.

71
diesem Problemfeld nicht aus, sehe aber sowohl in den Überle­
gungen Walzers als auch vor allem in neueren Überlegungen
Kambartels25 vielversprechende Hinweise darauf, daß es wo­
möglich doch noch zu einer produktiven Aufhebung der Marx- ■
sehen Kapitalismuskritik in den Kontext einer liberalen und
demokratischen Theorie kommen könnte. Ohne Bändigung der
destruktiven Energien der kapitalistischen Ökonomie wird es, so­
viel scheint sicher, auch keine Zukunft für die liberalen und
demokratischen Gesellschaften des Westens geben; aber mit dieser
Bemerkung bin ich bereits bei jenen Problemen angelangt, die ich
als »externe« bezeichnet habe.
Es geht mir auch im Folgenden nur um das Thema »Gemeinschaft
und Gerechtigkeit«, d.h. um das Thema des Streits zwischen Li­
beralen und Kommunitaristen. Ich bin also vor allem an begriff­
lichen und normativen Klärungen interessiert; dies muß ich vor­
wegschicken, damit nicht der falsche Eindruck entsteht, ich wollte
einen Beitrag zur praktischen Lösung der heutigen Weltprobleme
leisten. Der begriffliche und normative Zusammenhang, der mich
interessiert, betrifft das Verhältnis zwischen Bürger- und Men­
schenrechten. Die empirischen Annahmen, die ich hierbei mache,
sind durchweg trivialer Art; sie entstammen gewissermaßen dem
Repertoire eines aufmerksamen Zeitungslesers.
Ich habe bisher argumentiert, daß nur egalitär verstandene
Grund- und Teilhaberechte den Boden einer demokratischen Sitt­
lichkeit, und daher auch den normativen Kern eines »gemeinsa­
men Guten« in modernen Gesellschaften bilden können. Hierbei
habe ich innerhalb der Fiktion operiert, von der ich am Anfang
gesprochen habe: nämlich der Fiktion in sich geschlossener und,
zumindest was die Zugehörigkeit betrifft, nach außen hin klar
abgegrenzter Gesellschaften. Zu solchen Gesellschaften gehört
ein Volk, das sagen kann »Wir sind das Volk«, wobei dieser Volks­
souverän als der Inbegriff aller Menschen mit Bürgerrechten
definiert ist. Bürgerrechte, so verstanden, sind exklusiv. Durch sie
werden die Menschen in zwei Klassen geteilt: solche mit Bürger­
rechten (in einer bestimmten Gesellschaft), und solche ohne Bür­
gerrechte (in dieser Gesellschaft). Natürlich ist die faktische
Exklusivität von Bürgerrechten keine Fiktion. Die Fiktion, von

2j Friedrich Kambartel, »Ideologie, Pluralismus und moralische Univer­


salität«, Ms.

72
der ich gesprochen habe, liegt vielmehr in der Annahme, man
könne das Problem der politischen Legitimität, und daher auch
das Streitthema »Gemeinschaft und Gerechtigkeit«, zureichend
durch Bezugnahme auf partikulare Gesellschaften - etwa solche
des Westens - behandeln. Es handelt sich also, so könnte man
auch sagen, um eine normative Fiktion. Daß in der politischen
Philosophie der Neuzeit - bis hin zur jüngsten Debatte zwischen
Liberalen und Kommunitaristen - diese normative Fiktion eine so
beherrschende Rolle gespielt hat, hängt natürlich damit zusam­
men, daß nicht nur ihr Thema - die interne Ordnung moderner
Gesellschaften, Grundrechte des Bürgers gegenüber dem Staat,
Ressourcen der Solidarität unter Bedingungen der Modernität
usw. — entsprechend definiert war, sondern daß diese Begrenzung
des Themas auf partikulare Gesellschaften weitgehend mit der po­
litischen Grammatik eines Systems souveräner National- oder
Verfassungsstaaten übereinstimmte. Freilich ist von den drei gro­
ßen Revolutionen der Moderne - der amerikanischen, der franzö­
sischen und der russischen - jeweils ein starker universalistischer
Impuls ausgegangen, der mit dem Bewußtsein verknüpft war, daß
das, was in diesen Revolutionen versucht wurde, für alle zeitge­
nössischen Gesellschaften exemplarisch sei und daher eigentlich
erst durch die Ausbreitung der Revolution seine Vollendung fin­
den könne. Dieser den modernen Revolutionen inhärente univer­
salistische Impuls ist in der Geschichte aller drei Revolutionen
unendlich pervertiert worden; und es ist wohl nicht zuletzt diese
unendliche Pervertierung universalistischer Impulse in der moder­
nen Geschichte, welche den Begriff einer universalistischen Moral
vielerorten zum Reizthema gemacht hat. Gleichwohl glaube ich,
daß in dem universalistischen Impuls der modernen Revolutionen
etwas Zwingendes steckt. Dies Zwingende kommt nicht nur in
der begrifflichen Verknüpfung zwischen Menschen- und Bürger­
rechten in der amerikanischen und französischen Revolution zum
Ausdruck, es kommt auch noch in der Überzeugung von Marx
und den russischen Revolutionären zum Ausdruck, daß die Revo­
lution nur als Weltrevolution gelingen könnte. Allzulange hat man
jene universalistischen Impulse entweder als Ideologien miß­
braucht oder als Utopien mißverstanden; ich glaube, daß sie,
richtig verstanden, vielmehr ein politisch-moralisch-ökonomi­
sches Minimum bezeichnen, ohne dessen globale Verwirklichung
die liberalen und demokratischen Gesellschaften des Westens sich i
73
auf längere Sicht weder faktisch noch moralisch werden am Leben
erhalten können. Und das heißt natürlich, daß sich auch das Pro­
blem der politischen Legitimität in modernen Gesellschaften ohne
Berücksichtigung seines universalistischen Kontextes gar nicht
mehr angemessen stellen läßt. Diese starken Thesen möchte ich
abschließend erläutern.
Ich gehe von der trivialen Tatsache einer faktischen »Globalisie­
rung« aller politischen, ökonomischen und technologischen Pro­
zesse in der heutigen Welt aus. Diese Globalisierung von Politik,
Ökonomie und Technologie bedeutet zunächst einmal, daß etwa
»lokale« politische oder ökonomische Entscheidungen, selbst wo
sie demokratisch getroffen werden, immer mehr Menschen und
Gesellschaften mitbetreffen, die am Zustandekommen dieser Ent­
scheidungen keinen Anteil haben. Eine Antwort auf dieses Fak­
tum sind natürlich die supranationalen Zusammenschlüsse wie die
Europäische Gemeinschaft. Aber natürlich weiß jeder, daß sich
bisher etwa der Antagonismus zwischen reichen und armen Län­
dern durch diese supranationalen Zusammenschlüsse nur auf
höherer Ebene - und gleichsam mit einem höheren Organisa­
tionsgrad - reproduziert. Es spielt daher für mein Argument keine
Rolle, ob wir als partikularen Bezugspunkt einer politischen Phi­
losophie souveräne National- oder Verfassungsstaaten oder aber
etwa die Europäische Gemeinschaft nehmen. Meine These ist viel­
mehr, daß keine Wahl eines solchen partikularen Bezugspunktes
mehr zu angemessenen normativen Orientierungen führen kann.
Und zwar meine ich nicht nur die doch irgendwie triviale Tatsa­
che, daß die internationale Verflechtung von Politik und Ökono­
mie, die explosive Interdependenz von reichen und armen
Ländern, die Gefahr einer globalen Umwekkatastrophe sowie die
internationale Realität gewaltiger Flüchtlings- und Auswanderer­
ströme eine Reihe von praktischen und moralischen Problemen
erster Ordnung bezeichnen, mit denen die liberalen und demo­
kratischen Gesellschaften des Westens konfrontiert sind; ich
meine vielmehr, daß durch die Konfrontation mit diesen Proble­
men der in der modernen liberal-demokratischen Tradition immer
schon enthaltene begriffliche Zusammenhang zwischen partikula­
ren Bürgerrechten und universalen Menschenrechten zum ersten­
mal zu einer wirklich dramatischen internen Herausforderung für
die westlichen Gesellschaften wird. Ich will versuchen, diese Her­
ausforderung genauer zu charakterisieren.

74
Die Herausforderung ergibt sich in einem doppelten Sinne aus
dem internen Zusammenhang zwischen Menschenrechten und
demokratischen Bürgerrechten. Auf der einen Seite läßt sich die I
Idee der Menschenrechte, wie schon Kant sah, nicht von dem
Gebot ihrer juridischen Positivierung abtrennen.26 Solange man
Gesellschaften als mehr oder weniger gegeneinander abgeschlos­
sen betrachten kann, ergeben sich aus diesem Gebot kaum Ver­
pflichtungen demokratischer Gesellschaften gegenüber den Men­
schen anderer Gesellschaften oder Kulturen. Ganz anders verhält 1
es sich, wenn sich - wie es heute angesichts riesiger Flüchtlings­
ströme der Fall ist - unabweisbar die Frage stellt, ob unsere
Anerkennung ihrer Menschenrechte bloße Rhetorik bleiben oder
praktische Handlungsfolgcn haben soll. Genauer gesagt, diese
Frage stellt sich nicht mehr nur als eine Frage der individuellen
Moral, sondern als Frage an das Rechtssystem. Gesellschaften
können gewissermaßen nur auf der Ebene ihres Rechtssystems
moralisch agieren. Dementsprechend gilt für jene wachsende Pro­
blemzone, wo es weder um die Regelung der internen Angelegen­
heiten demokratischer Gesellschaften noch direkt um deren
Verhältnis zu anderen Gesellschaften geht, daß das oben erwähnte
Positivierungsgebot die Form einer Herausforderung an das
Rechtssystem der reichen demokratischen Gesellschaften an­
nimmt. Diese müssen, gemäß der universalistischen Logik ihres
demokratischen Selbstverständnisses, in irgendeiner Form die
Menschenrechte von Nicht-Bürgern in ihrem eigenen Rechtssy­
stem zur Geltung bringen. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist
eine Antwort auf diese Nötigung; eine andere, ihrer Zeit voraus­
greifende Antwort war das bisherige deutsche Asylrecht, durch
welches — wegen seiner partiellen Verwischung des Unterschieds
zwischen Menschen-und Bürgerrechten - die deutsche Verfassung
eine Zeitlang zumindest an einem wichtigen Punkte liberaler und
progressiver war als die übrigen demokratischen Verfassungen des
Westens.27 Wie auch immer aber eine moralisch und pragmatisch

16 Vgl. Albrecht Wellmer, »Naturrecht und praktische Vernunft«, in die­


sem Band Abschn. tv und v.
17 Ich will mich hier nicht in die Diskussion über den Asylrechts-Artikel f
16 des deutschen Grundgesetzes einmischen. Allerdings glaube ich,
daß cs für die Deutschen spezielle Gründe gegeben hätte, die jeder
kennt, gerade diesen Teil ihrer Verfassung nicht zu ändern. Gar nicht

75
angemessene Lösung des Asylproblems im europäischen Kontext
ausschen könnte, eines scheint klar: die Genfer Flüchtlingskon-
vcntion und das bisherige deutsche Asylrecht befinden sich im
Einklang mit einem wachsenden normativen Druck auf die rei­
chen demokratischen Gesellschaften, Menschenrechte von Nicht-
Bürgern als kodifizierte Individualrechte gleichsam in ihren eige­
nen Rechtssystemen zur Geltung zu bringen. Diese Nötigung zu
einer partiellen Verwischung des Unterschieds zwischen Men­
schen- und Bürgerrechten auf der Ebene von Individualrechten
innerhalb demokratischer Rechtssysteme hat aber ein in der Logik
demokratischer Diskurse angelegtes Gegenstück, bei dem es vor
allem um die Beziehung zwischen reichen und armen Gesellschaf­
ten, das heißt um die kollektiven Interessen der letzteren und
hiermit zugleich, zumindest indirekt und potentiell, um die Siche­
rung von Individualrechten innerhalb dieser Gesellschaften geht.
Auf der anderen Seite nämlich gehört es zur Logik des demokra­
tischen Diskurses in liberalen Gesellschaften, daß in diesem Dis­
kurs die Stimme all derer müßte zur Geltung kommen, die von
grundlegenden politischen Entscheidungen betroffen sind. Man
muß dies nur einmal aussprechen, um einen leichten Schwindel zu
verspüren. Freilich wurden demokratische Entscheidungen in ge­
wissem Sinne immer so verstanden, zumindest derart, daß die
Stimme aller Betroffenen im demokratischen Diskurs wenigstens
virtuell repräsentiert sein müsse. Was neu ist, ist lediglich, daß
infolge der Globalisierung von Politik und Ökonomie der Kreis
der von unseren Entscheidungen Betroffenen sich in schwindeler­
regender Weise ausgeweitet hat. Es liegt aber auf der Hand, daß
eine Repräsentation der Stimme aller Betroffenen in angemessener
Weise nur verwirklicht werden könnte, wenn alle Betroffenen ihre
Stimme unter Bedingungen gleicher Teilhaberechte und gleicher
Anerkennung faktisch erheben und zur Geltung bringen könnten.
Dies aber wäre denkbar nur in einer liberal und demokratisch
verfaßten Weltgescllschaft.
Was ich vorschlage, ist somit eine Kantische Deutung der Tiefen­
grammatik des modernen demokratischen Diskurses. Meine
These ist, daß die Kantische Idee eines weltbürgerlichen Rechts­
zustandes dem modernen demokratischen Diskurs als notwen-

zu reden von den guten Gründen, die es gegen eine Kapitulation der
SPD vor dem Rcchtspopulismus der Regierungsparteien gegeben hätte.

76
digc Idee einbeschrieben ist; und zwar nicht als Idee eines
utopischen Endzustandes der Geschichte, sondern eher als die
Idee eines politisch-moralischen Minimums, ohne dessen Reali­
sierung keine liberale und demokratische Gesellschaft sich sicher 1
fühlen darf vor der Möglichkeit einer schuldhaften Sclbstzerstö-
rung. Natürlich liegt die begriffliche Schwierigkeit, die mit dieser
Idee verbunden ist, darin, daß sie - anders als gewöhnliche mora­
lische Ansprüche - keinen eindeutigen normativen Adressaten
und keinen pragmatisch eindeutigen normativen Sinn hat: sie
kann ja offensichtlich weder bedeuten, daß alle von unseren Ent­
scheidungen Betroffenen gleiche demokratische Rechte in unseren
Gesellschaften erhalten sollten, noch kann sie bedeuten, daß die
demokratischen Gesellschaften den Rest der Welt nach liberalen
und demokratischen Prinzipien reformieren sollten. Der norma­
tive Sinn jener Idee ist nicht der einer Handlungsanweisung,
sondern der eines Gerechtigkeitsprinzips, dessen Gültigkeit nicht
davon abhängt, daß wir wissen, wie es zu realisieren wäre und wie
wir hier und jetzt in seinem Sinne handeln sollten. Ein Wissen
darum, was zu realisieren im Sinne der für unsere Gesellschaften
konstitutiven Moral- und Rechtsprinzipien notwendig und gebo­
ten wäre, heißt, innerhalb eines normativen Horizonts zu han­
deln, durch welchen Prioritäten und Begründungslasten auch für
eine pragmatisch operierende Politik neu verteilt werden. Auch
wenn die Perspektive einer liberalen und demokratischen Wcltge-
sellschaft vorerst noch unrealistisch ist, so ist sie doch - in wie
schwacher und verzerrter Form auch immer - an vielen Stellen
bereits normativ wirksam; und hieran zeigt sich, wie mir scheint,
daß sie in der Tat dem demokratischen Diskurs der Moderne als
eine notwendige Idee einbeschrieben ist. Freilich bleibt der in die­
sen demokratischen Diskurs eingebaute universalistische An­
spruch zugleich eine Quelle der ideologischen Rechtfertigung
partikularer Interessen; eine Fortschreibung des Marxschen Ideo- !
logieverdachts gegenüber den liberalen Prinzipien der Moderne,
insbesondere im Hinblick auf den heutigen Gegensatz zwischen
reichen und armen Ländern, widerspräche daher keineswegs der
hier erläuterten normativen Perspektive, sie ließe sich vielmehr als
deren Komplement verstehen. In einem eigentümlichen Sinne -
I
I
nicht im Sinne einer Utopie, aber vielleicht im Sinne einer Über­
lebensbedingung westlicher Demokratien - bleibt am Ende auch
Marx’ kategorischer Imperativ in Kraft: nämlich »alle Verhältnisse
(
77
umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknech­
tetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«28
Ich habe die Perspektive einer Welt-Bürger-Gescllschaft als den
normativen Horizont der liberalen und demokratischen Traditio­
nen der Moderne deshalb ins Spiel gebracht, weil ich nicht sehen
kann, wie anders als aus einer solchen Perspektive die Herstellung
eines kohärenten Zusammenhangs zwischen Menschen- und Bür­
gerrechten sich sollte denken lassen. Die Perspektive einer Welt-
Bürger-Gescllschaft bezeichnet die Aufhebung des Unterschieds
zwischen Menschen- und Bürgerrechten - oder doch die Aufhe­
bung jener entscheidenden Differenz zwischen beiden, die dafür
verantwortlich ist, daß für die überwiegende Mehrzahl der Men­
schen heute unsere Anerkennung ihrer Menschenrechte kaum
etwas wert, weil praktisch folgenlos ist. Nun stößt die Betonung
der universalistischen Implikationen des liberalen und demokrati­
schen »Dispositivs« heute fast zwangsläufig auf zwei miteinander
zusammenhängende Einwände: erstens auf den Einwand, daß
universalistische Prinzipien nutzlos sind, wo cs um die Lösung
praktischer Probleme hier und jetzt geht; und zweitens auf den
Einwand, daß solche Prinzipien, wo sie praktisch wirksam wer­
den, mit einer Unterdrückung von Differenzen, mit einer Unter­
drückung des »Nicht-Identischen« - sei es in der eigenen
Gesellschaft, sei es mit Bezug auf fremde Kulturen - notwendig
verbunden sind. Diese Einwände können sich auf eine lange Ge­
schichte des ideologischen Mißbrauchs universalistischer Prinzi­
pien berufen; insofern sind sie ernst zu nehmen. Gleichwohl halte
ich die Argumente, auf die sie sich zumeist stützen, für zutiefst
fragwürdig. Was den ersten Einwand betrifft, so scheint mir offen­
sichtlich, daß Universalismus und Kontextualismus keine begriff­
lichen Gegensätze sind; was den zweiten Einwand betrifft, so
würde ich behaupten, daß sich eine »Politik der Differenzen« - ob
nun mit Bezug auf kulturelle Minoritäten oder mit Bezug auf
nicht-westliche Kulturen - gar nicht kohärent praktizieren läßt
ohne den Hintergrund universalistischer Moral- und Rechtsprin­
zipien. Insofern bezeichnet die Perspektive einer Welt-Bürger-
Gescllschaft die Bedingung auch noch eines friedlichen kulturel-

18 Karl Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einlei­


tung», in: Werke - Schriften - Briefe, Bd.i (Hg. H.J. Lieber und
P. Furth), Darmstadt 1962, S. 497.

78
I
len Pluralismus in der modernen Welt. Dies bedeutet aber zu­ i
gleich noch einmal eine Verstärkung der liberalen gegenüber der
kommunitaristischcn Position. Aus der Perspektive einer - als
möglich unterstellten - Welt-Bürger-Gcsellschaft wird evident,
was aus der Perspektive nationalstaatlichcr Demokratien undeut­
lich bleiben mag: daß nämlich das einzig gemeinsame Gute im
Sinne eines für alle verpflichtenden Guten nur in der Verwirk­
lichung und Verteidigung jener liberalen und demokratischen
Prinzipien liegen kann, die den einzig möglichen Schutz vor der
gewaltsamen Zerstörung der jeweils besonderen Traditionen und
kulturellen Identitäten bilden könnten. Es wird evident, mit ande­
ren Worten, daß alle kollektiven Identitäten nationaler, kultureller
oder religiöser Art unter Gesichtspunkten einer politischen Moral
allenfalls etwas Vorletztes sein können. Es ist freilich nicht zu
leugnen, daß eine solche Aufhebung des Besonderen im Allgemei­
nen ohne moralische Verletzungen kaum denkbar ist; es spricht
vielmehr alles dafür, daß mit dem Übergang zu einem weltbürger-
lichcn Rechtszustand auch die »Tragödie im Sittlichen« sich im
weltweiten Maßstab wiederholen wird, da die Relativierung der
besonderen kulturellen Traditionen zugleich ihre Transformation
und partielle Entmächtigung bedeutet. Dies ist der Preis der Mo­
derne; aber es ist der Preis für etwas, was für niemand auf der Welt
heute überhaupt noch zur Wahl gestellt ist. Nicht die Relativie­
rung und partielle Entmächtigung der besonderen kulturellen
Traditionen steht heute noch zur Wahl; zur Wahl steht nur, ob
diese Relativierung des Besonderen produktiv gemacht werden
wird in den Freiheitsräumen einer pluralistischen weltbürger­
lichen Kultur, oder ob die defensiven Reflexe der reichen Länder
oder die aggressiven Reflexe derer, die ihre kollektive Identität
bedroht sehen, zu einem weltbürgerlichen Kriegszustand und zur
Zerstörung der liberalen Demokratien führen werden.
Ein weltbürgerlicher Rechtszustand erscheint als die einzig mög­
liche Auflösung des Widerstreits zwischen Menschen- und Bür­
gerrechten. Es wäre ein Zustand, in dem das Prinzip der I
freiwilligen Assoziation universell geworden wäre: ein Wechsel
der Staatsbürgerschaft wäre nicht leichter oder schwerer als heute
ein Wechsel des Wohnorts, des Berufs, der Universitätszugehörig­
keit oder die Scheidung einer Ehe. Dies wäre nicht das Paradies; cs
wäre nur die Verallgemeinerung von Privilegien, die wir heute
schon genießen.

79
Der Zweifel, ob nicht diese Perspektive eine pure Utopie bezeich­
net, ist der Zweifel, ob nicht die Tage der liberalen Demokratien
gezählt sind.

8o
3. Bedeutet das Ende des »realen Sozialismus«
auch das Ende des Marxschen Humanismus?
Zwölf Thesen

Der Titel meines Vortrags, der aus zwölf Thesen besteht, scheint -
trotz seiner Frageform - auf die unsinnige Möglichkeit hinzudeu­
ten, der Zusammenbruch eines politisch-ökonomischen Systems,
des sogenannten realen Sozialismus, könne über die Wahrheit
einer philosophischen Theorie entscheiden. Freilich, wenn es um
Marx geht, ist der Gedanke an eine solche Möglichkeit so unsin­
nig auch wieder nicht, denn es war ja Marx selbst, der - in den
Feuerbach-Thesen - die gelingende Paxis zum Kriterium theoreti­
scher Wahrheit machen wollte. Also zumindest gemessen an
diesen Marxschen Kriterien theoretischer Wahrheit wäre ein Zu­
sammenhang der eben angedeuteten Art durchaus denkbar. Was,
aus marxistischer Perspektive, gegen einen Zusammenhang zwi­
schen dem Scheitern des Realsozialismus und einem Scheitern des
Marxschen Humanismus spricht, ist lediglich der Umstand, daß
die Praxis des Realsozialismus sich kaum als authentische Praxis
im Sinne des Marxschen Humanismus verstehen läßt. Die beiden
Dinge — jene Praxis und diese Theorie -, haben, so scheint es,
nichts miteinander zu tun, außer daß jene Praxis die Marxsche
Theorie zum Zwecke der Legitimation eines autoritären, partei­
bürokratischen Herrschaftssystems mißbrauchte. Der Realsozia­
lismus also als Mißbrauch, als Perversion der Marxschen Theorie.
Diese Perspektive, die heute die Perspektive vieler Linker ist, ent­
hält sicherlich viel Wahres. Zugleich ist es aber eine durch und 1
durch defensive, eine hilflose, ja sogar eine konservative Perspek­
tive. Es ist eine Perspektive, die das Denken zu blockieren und die
theoretische Auseinandersetzung mit dem Scheitern des kommu­
nistischen Jahrhunderttraums zu behindern droht. Produktiv, so
scheint mir, wäre ein neuer kritischer Blick auf die Marxsche
Theorie, und zwar nicht zuletzt auf den von der Praxis des Real­
sozialismus scheinbar am weitesten entfernten und immer wieder !
gegen ihn ins Feld geführten Teil dieser Theorie: den Marxschen
Humanismus. Ich glaube, daß selbst zwischen diesem Teil der I
Marxschen Theorie und der Praxis des Realsozialismus ein zwar

8i
! •

u
nicht intendierter, aber doch interner Zusammenhang besteht.
Und dies ist bereits meine
These r. Der sogenannte Marxsche Humanismus läßt sich von
dem utopischen Horizont der Marxschen Theorie und Praxis
nicht trennen - und dies gilt nicht nur für die Theorie und Praxis
des »realen Sozialismus«, sondern auch für das Selbstverständnis
und die emanzipatorischen Impulse großer Teile des »westlichen«
Marxismus. Zwischen dem utopischen Horizont der Marxschen
Theorie und der repressiven Praxis des Realsozialismus besteht
aber durchaus ein interner Zusammenhang. Wenn deshalb der kri­
tische Impuls des Marxschen Humanismus gerettet werden soll,
wird er sich nicht in der Form des Marxschen Humanismus retten
lassen.
These 2: Ich unterscheide zwischen zwei Grundformen des
Marxschen Humanismus. Die erste findet sich vor allem in den
Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten, die zweite exem­
plarisch in dem Aufsatz »Zur Judenfragc«. Die erste Form des
Marxschen Humanismus ist zentriert um die Kategorien der Ar­
beit, des Privateigentums, der Entfremdung - des Arbeiters von
seinem Produkt und von seiner Tätigkeit - und der Wiederaneig­
nung der in der menschlichen Arbeit entäußerten »Wesenskräfte«
des Menschen »durch und für den Menschen«; nämlich durch die
Aufhebung des Privateigentums im Kommunismus.
»Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als
menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des
menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollstän­
dige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Ent­
wicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesell­
schaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als
vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus =
Naturalismus; er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen
dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflö­
sung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegcnständ-
lichung und Sclbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit,
zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Ge­
schichte und weiß sich als diese Lösung.«1
Diese erste Form des Marxschen Humanismus enthält gleichsam
den normativen Kern - oder den normativen Keim - von Marx’

i Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Werke, Bd.i,


Darmstadt 1962, S. 593 f.

8z
späterer Kritik der politischen Ökonomie. Die zweite Form des
Marxschen Humanismus ist demgegenüber zentriert um Marx’
Kritik des bürgerlichen Staates, d. h. seine Kritik an der Spaltung
des modernen Staatsbürgers in einen egoistischen Bourgeois und
einen abstrakten Citoyen. Ein charakteristisches Zitat möchte ich
für meine vorletzte These aufsparen. Natürlich hängen die beiden
Grundformen des Marxschen Humanismus aufs engste miteinan­
der zusammen. Das Problem des Marxschen Humanismus liegt
geradezu in diesem internen Zusammenhang zwischen seinen bei­
den Grundformen.
These j: Was die beiden Grundformen des Marxschen Humanis­
mus miteinander verbindet, ist die radikale Kritik an jener Form
»negativer« Freiheit, die nach der Hegclschen Analyse konstitutiv
ist für die moderne bürgerliche Gesellschaft, und daher für den
modernen Staat. Ökonomisch bedeutet dies die Kritik an der ka­
pitalistischen Form der Warenproduktion, juridisch-politisch be­
deutet es die Kritik an der Institutionalisierung gleicher und
allgemeiner Menschenrechte als der Basis des modernen Staates.
Marx kehrt Hegels Konstruktion des Zusammenhangs zwischen
diesen beiden Dimensionen der modernen Gesellschaft - Privatei­
gentum und Menschenrechte - um: Während Hegel das Moment
der Entfremdung oder der sittlichen Entzweiung, das er in der
Institution des Privateigentums und daher in der kapitalistischen
Form der Warenproduktion anerkennt, als notwendigen Preis für •1

die Institutionalisierung einer post-traditionalen Form individuel­


ler Freiheit versteht, sieht Marx in der Institutionalisierung von
Menschenrechten nur den juridischen Ausdruck einer entfremde­
ten ökonomischen Basisstruktur: Nicht die Entzweiung der sitt­
lichen Totalität ist, wie bei Hegel, der Schein, der sich auflöst,
wenn man nur versteht, wie die Entzweiung der Menschen in der
bürgerlichen Gesellschaft in der konkreten Sittlichkeit des Staates
aufgehoben ist; vielmehr erscheint nun diese von Hegel behaup­
tete Sittlichkeit des modernen Staates selbst als der Schein, wel­
cher die Unsittlichkeit der durch die ökonomische Basis deter­
minierten Sozialbeziehungen der Menschen im Kapitalismus
verhüllt. Eine Umkehrung also des Verhältnisses von »Basis« und
»Überbau«, von Realität und Schein.
These 4: Mit dieser begrifflichen Grundoperation seiner Theorie
fällt Marx aber zwangsläufig hinter grundlegende Einsichten He­
gels zurück. Diese Einsichten lassen sich durchaus aus dem pro- I
»3
blcmatischen Gesamtzusammenhang der Hegelschen Philoso­
phie, in der es bekanntlich keine Theorie der modernen
Demokratie gibt, herauslösen. Die Grundeinsicht Hegels ist, daß
eine kommunale, die Menschen untereinander verbindende Sitt­
lichkeit in der modernen Gesellschaft nur möglich und denkbar
ist auf dem Hintergrund einer Emanzipation der Individuen,
durch welche zugleich ein Moment der »Entzweiung« — nämlich
der gleichen negativen Freiheit aller - in der Grundstruktur der
Gesellschaft institutionell verankert wird. Entzweiung und Ver­
söhnung treten in ein Spannungsverhältnis zueinander, das sich
durch keine Utopie radikaler Versöhnung - das heißt: einer wie­
der unmittelbar gewordenen kommunalen Sittlichkeit — mehr I
auflösen läßt. An diesem Grundfaktum eines Spannungsverhält­ !
I.
nisses zwischen individueller und kommunaler Freiheit in der
modernen Welt prallt jeder Versuch ab, es noch einmal im Sinne
einer Hegelschen Aufhebungsfigur geschichtlich auflösen zu wol­
len: Man könnte statt dessen auch sagen, daß eine vernünftige,
d. h. kommunale Freiheit in der modernen Welt nur möglich ist
auf der Grundlage einer Freisetzung von Entzweiungen, Dishar­
monien und Kontingenzen - ob es sich nun um die »entzweien­
den« Folgen negativer Freiheitsrechte, das Spannungsverhältnis
von Marktökonomie und Demokratie, um die agonalen Aspekte
des ökonomischen, kulturellen oder politischen Wettbewerbs
oder um das Moment der Vorläufigkeit und Kontingenz in der
Lösung tiefgreifender moralischer, juridischer oder politischer
Konflikte geht. Dies macht die unhintergehbare Negativität der
modernen Gesellschaft aus; der Versuch, diese Negativität in einer
wieder unmittelbar kommunalen, d.h. kommunistischen Form
der Sittlichkeit geschichtlich aufzuheben, ist nur um den Preis
einer Zerstörung individueller und kommunaler Freiheit möglich.
Dies ist die traurige Lehre, die aus dem Zerfall des »realen Sozia­
lismus« zu ziehen wäre.
These 5: Hegel hat die entsprechende Aufhebungsfigur nicht ge­
schichtlich-temporal, sondern begrifflich gedacht: Der moderne
Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee. Dieser These gegen­
über hatte der junge Marx scheinbar leichtes Spiel, wenn er - in
der Kritik des Hegelschen Staatsrechts - gegen Hegel darauf insi-'
stierte, daß »alle Staatsformen zu ihrer Wahrheit die Demokratie
haben und daher eben, soweit sie nicht Demokratie sind, unwahr

84
sind.«2 »Die Demokratie«, so sagt er, »verhält sich zu allen üb­
rigen Staatsformen als zu ihrem alten Testament.«3 In immer
wieder neuen Wendungen versucht Marx die Demokratie als eine
das soziale Leben im Ganzen durchdringende Wirklichkeit ge­
meinsamer Selbstbestimmung von politischen Organisationsfor­
men der Gesellschaft abzuheben, in denen die »politische Ver­
fassung« dem »irdischen Dasein« des »Volkslebens« als eine
quasi-religiösen Sphäre gegenübersteht. Dies wäre ein Thema ge­
wesen, das zu verfolgen - gegen Hegel zu verfolgen - sich gelohnt
hätte. Bei Marx wird es am Ende unter der Wucht der Kapitalan­
alyse begraben: dieser Analyse zufolge mußte es sich nämlich
letztlich von selbst erledigen. Übrig blieb das die gesamte marxi­
stische Tradition tief belastende schiefe Entsprechungsverhältnis
von kapitalistischer Warenproduktion und bloß formaler Demo­
kratie. Die Frage, welches denn eine substantielle, wirkliche, mehr
als formale Form der Demokratie wäre, mußte aufgrund der vor­
hin genannten Umkehrungsoperation (Basis - Überbau) - d. h.
aus rein begriffsstrategischen Zwängen - als müßig erscheinen: es
galt ja nur, die Basis umzuwälzen. Hierin war die ungeheure Di­
vergenz zwischen utopischem Anspruch und praktischer Politik
bereits vorprogrammiert: Das Reich der Freiheit mußte zur ab­
strakt-utopischen Perspektive, seine Verwirklichung zu einem
real-sozialistischen Alptraum werden.
These 6: Weder Marx noch Hegel haben das Problem der Demo­
kratie richtig aufgefaßt: der Gegensatz beider bezeichnet eine
falsch gestellte Alternative. Dies ist vermutlich kein Zufall, da bei­
den — Marx wie Hegel - die geschichtliche Erfahrung demokrati­
scher Lebensformen fehlte. Dementsprechend korrespondiert der
Gegensatz zwischen Hegel und Marx einer für die kontinental­
europäische politische Tradition charakteristischen Opposition
von »Rechts« und »Links«, welcher der gemeinsame Boden einer
demokratischen und liberalen Lebensform bis heute noch immer
wieder gefehlt hat. Ich möchte, einen Terminus Hegels aufgrei­
fend, von einer »demokratischen Sittlichkeit« sprechen. Ein sol­
cher Begriff hätte weder in der Hegelschen noch in der Marxschen
Theorie einen Platz, da er die radikalen Konnotationen des Marx-
i

2 Karl Marx, »Kritik des Hegelschen Staatsrechts«, in: Werke, Bd. 1, ’r *'■ r
a.a.O., S. 294.
3 A.a.O., S. 293.
4;
I
85
sehen Demokraticbegriffs mit dem bei Hegel konservativ gemein­
ten Begriff »substantieller Sittlichkeit« verknüpft. Hinweise dar­
auf, wie sich ein solcher Begriff demokratischer Sittlichkeit
verstehen ließe, finden sich bei Alexis de Tocqueville.
These 7: Tocquevilles »Demokratie in Amerika« ließe sich als de­
mokratietheoretisches Gegenstück zu Hegels Rechtsphilosophie
lesen. (Hierbei spielt es keine Rolle, daß Tocqueville den Begriff
der Demokratie selbst anders verwendet als Hegel und Marx,
nämlich zur Bezeichnung der egalitären Züge und Tendenzen der
postrevolutionären Gesellschaften.) Tocquevilles Ausgangspro­
blem war identisch mit demjenigen Hegels: es war das Problem,
wie für die - im juridischen Sinne - egalitäre bürgerliche Gesell­
schaft, die beide - Hegel und Tocqueville - als das unwiderruf­
liche Resultat der bürgerlichen Revolutionen ansahen, eine Ver­
fassung der Freiheit gefunden werden könnte, durch welche die
Emanzipation der Individuen - die zugleich ihre Atomisierung
bedeutete - in einer neuen Form sozialer Solidarität und gemein­
samer Selbstbestimmung, kurz: in einer neuen Form kommunaler
Sittlichkeit aufgehoben werden könnte. Wie Hegel enttäuscht
vom Gang und von den Resultaten der Französischen Revolution,
wandte Tocqueville sich der Neuen Welt zu. Hier fand er eine
Verfassung der Freiheit vor, in der die universalistischen und ega­
litären Prinzipien der Französischen Revolution sich verbunden
hatten mit den Selbstverständlichkeiten, Traditionen und Ge­
wohnheiten lokaler und föderaler Formen der Selbstrcgierung, zu
denen die öffentliche Diskussion politischer Fragen ebenso ge­
hörte wie die Partizipation aller an der Regelung der gemeinsamen
Angelegenheiten. Die Demokratie - nicht im Tocquevilleschen
Sinne, sondern im Sinne einer Form egalitär kollektiver Selbstbe­
stimmung - war hier verankert in den moralischen Reflexen, in
den Gefühlen und in einem über lange Zeit akkumulierten Wissen
der Bürger. Die Revolution hatte sich gleichsam von unten, kon­
struktiv, auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt und auf diese
Weise zu einer »Constitutio Libertatis« geführt, zu der cs in der
Französischen Revolution deshalb nicht hatte kommen können,
weil der republikanischen Umwälzung des Staatsapparates ein
Widerlager in demokratischen Lebensformen und Traditionen
fehlte. Was der Französischen Revolution fehlte - und was allen
großen kontinentaleuropäischen Staaten jener Zeit fehlte - war
der Boden einer demokratischen Sittlichkeit, auf dem die revolu-

86
tionären Prinzipien mit den Erfahrungen, Institutionen und Prak­
tiken des Alltags sich hätten verbinden können.
Es geht mir hier nicht um eine Idealisierung der amerikanischen
Demokratie - zumal nicht der heutigen obwohl ich den tradi­
tionellen Anti-Amerikanismus der europäischen Linken für ein
Symptom ihrer Blindheit gegenüber der Bedeutung der demokra­
tischen Frage ansehe. Worum es mir geht, ist die begriffliche
Alternative, die Tocquevilles Analyse eröffnet. Tocqueville hat ei­
nen klaren Begriff kommunaler Freiheit oder - wenn Sie wollen -
»demokratischer Sittlichkeit«. Zugleich erkennt er - wie schon
Hegel - das Spannungsverhältnis an zwischen den atomisierenden
Tendenzen einer egalitären bürgerlichen Gesellschaft, in der die
Emanzipation der Individuen zugleich die Emanzipation des Pri­
vateigentums war, und jeder möglichen Form kommunaler Frei­
heit in der modernen Welt. Tocqueville gibt einen Erfahrungsbe­
richt, in dem Licht- und Schattenseiten der amerikanischen
Demokratie einander die Waage halten; gegenüber allen alternati­
ven politischen Organisationsformen der Moderne aber erscheint
die amerikanische Demokratie als weltgeschichtlicher Fortschritt.
Denn in ihr wurde zum ersten Mal der radikale Traditionsbruch
der Moderne, der in den bürgerlichen Revolutionen zum Aus­
druck kam, zum Ausgangspunkt der Erfindung, Einübung und
experimentellen Konkretisierung einer egalitären Verfassung der
Freiheit für die moderne Welt. Und Freiheit bedeutet hier beides:
die durch Grundrechtsgarantien geschützte »negative« Freiheit
eines privaten pursuit of happiness und die öffentliche, kommu­
X
nale Freiheit eines demokratischen, selbstbestimmten gemeinsa­
men Lebens.
These 8: Das schon von Hegel diagnostizierte, spannungs- und
krisenreiche Ergänzungs- und Komplcmentärverhältnis von »ne­
gativer« und »positiver«, von individueller und politischer Frei­
heit in der modernen Gesellschaft ist von Habermas reformuliert
worden als Komplementärverhältnis von System und Lebenswelt.
Auch die systemische Organisationsform impliziert - wie die In­
stitutionalisierung des abstrakten Rechts bei Hegel - eine partielle
Negation kommunikativer Verkehrsformen, eine Negation
»kommunaler Sittlichkeit«. Aus der Perspektive der Lebenswelt i '■
liegt die Rechtfertigung der systemischen Strukturen - Markt und
Bürokratie - in deren überlegener Stcuerungskapazität, die durch i
keine kommunikative Organisationsform erreicht werden

»7 1
könnte. Andererseits stellen die systemischen Strukturen auf­
grund ihrer Eigendynamik eine Bedrohung kommunikativer Ver­
kehrsformen und daher auch eine Bedrohung der Demokratie dar.
Aus der Perspektive des System-Lebcnswelt-Dualismus verwan­
delt sich die Frage »Wie ist Sozialismus möglich« in die Frage
»Wie ist eine demokratische Domestizierung und Kontrolle sy­
stemischer Strukturen - Markt und Bürokratie - möglich?« Ha­
bermas plausible Antwort auf diese Frage ist, daß eine solche
Domestizierung und Kontrolle systemischer Strukturen nur
durch eine Ausweitung und Radikalisierung demokratischer
Praktiken und Institutionen möglich ist. An dieser Stelle erscheint
die alte marxistische Gegenüberstellung von formeller und sub­
stantieller Demokratie in einem neuen Lichte. Die Pointe dieser
Unterscheidung kann nicht sein, daß auf die Ablösung der for­
mellen durch eine substantielle Demokratie - etwa auf dem Weg
einer Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmit­
teln - hingearbeitet wird; die Pointe kann vielmehr nur darin
liegen, daß eine Demokratie, die in parlamentarischen Institutio­
nen eine bloß »formelle« Realität hat, durch Infiltration aller
Lebensbereiche mit demokratischen Praktiken, Gewohnheiten
und Aktionsformen ausgeweitet und radikalisiert und hierdurch
»substantiell« wird. Es geht weder um die Erfindung und Institu­
tionalisierung eines Systems »direkter« Demokratie noch um die
Abschaffung der demokratischen Institutionen, die Abschaffung
des Staates. Vielmehr geht es um die Herstellung eines produktiv­
komplementären Wechselverhältnisses zwischen formeller und
informeller Demokratie, zwischen institutionalisierten und nicht­
institutionalisierten Formen demokratischer Praxis, wobei das
Wort »demokratische Praxis« hier die Fähigkeit oder doch den
guten Willen der Beteiligten einschließen soll, in jeweils spezifi­
schen Problemlagen und in jeweils konkreten Kontexten erfin­
dungsreich und experimentell situationsangemessene Lösungen
bzw. Formen gemeinsamen Handelns zu finden. Im übrigen
steckt im Begriff der formalen oder formellen Demokratie eine oft
übersehene Zweideutigkeit: Der Begriff kann zum einen eine
Form der Demokratie meinen, die bloß auf der Ebene formeller
Institutionen real ist. »Substantiell« im Gegensatz zu bloß »for­
mell« wäre in diesem Falle eine Demokratie, die eine das Leben
der Gesellschaft, die Gewohnheiten, Reflexe und Gefühle der In­
dividuen durchdringende informelle Realität gewonnen hat. Ge-

88
nau hierauf zielte auch der Begriff »demokratische Sittlichkeit«
ab, den ich vorhin ins Spiel gebracht habe. Mit dem Begriff einer
bloß formalen Demokratie kann aber zum anderen auch eine
Form der Demokratie gemeint sein, die sich auf die Anerkennung
formal-allgemeiner Rechts- und Freiheitsprinzipien gründet. In ■

diesem Falle könnte unter einer »substantiellen« Demokratie nur


eine Form der Demokratie verstanden werden, in der die Geltung
der liberalen Rechts- und Freiheitsprinzipien irgendwelchen als
substantiell vernünftig deklarierten Inhalten eines gemeinsamen
oder »Volks«-Willens untergeordnet würde. Daß dies nur in der
Form einer Diktatur oder eines autoritären Systems möglich ist,
liegt in der Logik dieses Demokratiebegriffs; was wir inzwischen
gelernt haben, ist, daß es sich auch empirisch so verhält. Die Ver­
wirklichung einer substantiellen Demokratie bedeutet in diesem
Falle die Abschaffung der individuellen sowohl als auch der öf­
fentlichen, der kommunalen Freiheit. Die Zweideutigkeit, von der
ich sprach, ist die Zweideutigkeit des Manschen Humanismus
selbst. Es ist eine tiefe, begrifflich angelegte Zweideutigkeit dieses
Humanismus; dieser enthält nicht die notwendigen kategorialen
Differenzierungen in sich, um jener Zweideutigkeit zu entgehen.
These 91 Wenn meine bisherigen Überlegungen richtig sind, dann
ist eine Rechtfertigung systemischer Organisationsstrukturen
durch ihre überlegene »Steuerungskapazität« im Falle der Markt­
ökonomie zumindest unvollständig. Die Steuerungskapazität des
hI
Marktes - mit seinem charakteristischen Steuerungsmedium
»Geld« — müßte nämlich noch einmal auf einen normativen Hin­
tergrund zurückbezogen werden, von dem her einige Kriterien
!I
■ ■>

ihrer Überlegenheit erst sichtbar werden. Überlegen ist die I:


Marktökonomie der Planwirtschaft nicht zuletzt deshalb, weil sie
— im günstigen Falle — eine materielle Grundlage schafft für die jj u
Institutionalisierung einer »negativen« Freiheit, d.h. jener Frei­
heit, die es Individuen oder auch Gruppen von Individuen er­
laubt, ihrem jeweils eigenen pursuit of happincss nachzugehen:
ohne Geld und Markt, so könnte man vergröbernd sagen (und
sollte sogleich hinzufügen: ohne ein menschenwürdiges Mini­
mum an Eigentum), keine Wahl und Handlungsfreiheit beim Ver­
folg des eigenen Glücks, des jeweils eigenen guten Lebens. Genau
hierin liegt - so hat es auch Hegel gesehen - der Zusammenhang
zwischen Privateigentum und Menschenrechten. Wenn es aber
ohne eine Institutionalisierung einer allgemeinen und gleichen

8? 1


I
»negativen« Freiheit auch keine öffentliche, keine kommunale
Freiheit in der modernen Welt geben kann, dann gibt cs zwischen
Privateigentum und öffentlicher Freiheit vielleicht doch nicht nur
ein Spannung!-, sondern auch ein F«„dier«ngsverhältnis. So ha­
ben es große liberale Theoretiker wie Tocqueville und John Stuart
Mill gesehen; hierin, zumindest in der klaren Formulierung des
Problems, sind sie Marx weit überlegen. Der Punkt, an dem Marx
jenen liberalen Theoretikern überlegen bleibt, betrifft gleichsam
das andere Ende des Zusammenhangs zwischen Marktökonomie
und Lebenswelt: Hier geht es nicht um Markt und Geld als Basis
individueller Freiheit, sondern um die von einer kapitalistischen
Marktökonomie ausgehende Bedrohung individueller und öffent­
licher Freiheit - nicht zu reden von der Bedrohung der natürli­
chen Lebensgrundlagen. Es geht also nicht um die überlegene
Steuerungskapazität des Marktes, sondern um das Moment der
Blindheit gegenüber dem öffentlichen Wohl, das in ihn eingebaut
ist, also die Notwendigkeit seiner demokratischen Domestizie­
rung und Kontrolle. In der einen Richtung gesehen, hat der Markt
gleichsam selbst eine normative Dimension, in der anderen Rich­
tung gesehen ist er normativ blind und bedarf einer demokrati­
schen Kontrolle. Hierin wird noch einmal ein anderer Aspekt
jenes Spannungs- und Komplementärverhältnisses zwischen »ne­
gativer« und »öffentlicher« Freiheit in der modernen Welt deut­
lich, von dem ich oben gesprochen habe.
These io: Ich habe behauptet, daß die Dynamik des kapitalisti­
schen Marktes nicht durch dessen Abschaffung, sondern nur
durch eine entsprechende Dynamisierung der demokratischen In­
stitutionen, Praktiken und Traditionen gebändigt werden könnte.
Es bleibt die Frage, ob und wie das sozialistische Projekt - oder
doch ein authentischer Kern des sozialistischen Projekts - sich in
die hier entworfene Perspektive aufheben ließe. Natürlich ist jenes
Projekt in dieser Perspektive, wenn man sie richtig versteht, be­
reits aufgehoben, denn ein zentrales Ziel der sozialistischen Tradi­
tion war immer die gesellschaftliche Kontrolle des ökonomischen
Reproduktionszusammenhangs der Gesellschaft. Wenn man die­
ses Ziel nicht mehr in Begriffen einer sozialistischen Planwirt­
schaft ausbuchstabieren kann - und man kann es offenbar nicht
mehr -, dann wird gleichsam von selbst die Demokratie zum ei­
gentlichen Leitbegriff einer möglichen sozialistischen Program­
matik. Freilich geht die sozialistische Programmatik nicht in der


Idee einer demokratischen Kontrolle der Ökonomie auf. Zusätz­ I

liche Aspekte dieser Programmatik betreffen — um nur einige i

Stichworte zu nennen - soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, ■

Chancengleichheit, das Recht auf ein soziales Minimum, wie das


Recht auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Nun sind ja die
hier bezeichneten Aspekte der sozialistischen Programmatik seit
langem in die politische Diskussion und zum Teil in die soziale
Wirklichkeit der kapitalistischen Gesellschaften eingegangen. De­
ren demokratische und liberale Organisationsformen haben sich,
was die Verwirklichung von sozialistischen Teilzielen betrifft, als
effizienter erwiesen als die der sogenannten sozialistischen Gesell­
schaften. Insofern möchte ich behaupten, daß der authentische
Kern der sozialistischen Programmatik nur innerhalb der demo­
kratischen Programmatik überleben kann; und dies heißt eben,
daß unter den beiden Begriffen »Demokratie« und »Sozialismus«
derjenige der Demokratie zum Leitbegriff geworden ist - oder
doch werden muß. Dies, so glaube ich, ist die positive Lehre, die
die Linke aus dem Zusammenbruch des »realen Sozialismus« zie­
hen sollte.
These 11: Ich kehre noch einmal zum Marxschen Humanismus
zurück, genauer zu Marx’ Artikel über die Judenfrage, gegen des­
sen radikale Kritik an der revolutionären Idee der Menschen­
rechte ich in meinen bisherigen Thesen verschwiegenermaßen
polemisiert habe. Am Ende des ersten Teils dieses Artikels heißt
es: »Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten
Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in
seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in sei­
nen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst
wenn der Mensch seine >forces propres« als gesellschaftliche
Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche
Kritik nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich
trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation voll­
bracht.«4
Im Blick auf diese großartige - und großartig zweideutige - Pas­
sage möchte ich mein distanziertes Verhältnis zum Marxschen
Humanismus, so wie es aus den bisherigen Thesen hervorgeht,
noch einmal erläutern: Die Zweideutigkeit der zitierten Passage
äußert sich darin, daß man sie sowohl im Sinne der in meinen

4 Karl Marx, »Zur Judenfrage«, in: Werke, Bd. i, a.a.O., S. 479. 5

91
Thesen vorgcschlagenen Perspektive als auch in einem orthodox­
marxistischen Sinne lesen kann. Der Kontext der Marxschen
Theorie legt die letztere Lesart nahe; selbst wenn man sich auMen
Kontext der Frühschriften beschränkt - d.h. gleichsam auf den
noch nicht durch die objektivistischen und szientistischen Züge
der späteren Theorie deformierten Marxschen Humanismus
läßt sich in der zitierten Passage kaum der begriffliche Kern eines
geschichtlich angemessenen Freiheitsentwurfs für die moderne
Welt entdecken. Um einen solchen begrifflichen Kern in ihr zu
entdecken, muß man die Passage gleichsam aus ihrem philosophi­
schen Kontext herausdrehen und sie aus einer Marx im Grunde
fremden politisch-philosophischen Perspektive betrachten. Was
dann bleibt, ist freilich die Einsicht, daß politische Freiheit eine
Illusion bleiben muß, solange sie nicht auch im Alltags- und Ar­
beitsleben der Individuen ihre Spuren hinterlassen hat, d. h. zu
einer Form demokratischer Sittlichkeit geworden ist. Freilich ver­
ändert sich durch eine solche Lesart der geschichtsphilosophische
Horizont der Marxschen Passage auf einschneidende Weise: es
löst sich nämlich die Idee des Endpunktes einer vollbrachten
menschlichen Emanzipation auf. Alles was ich bisher gesagt habe,
deutet darauf hin, daß es einen solchen Endpunkt vollbrachter
menschlicher Emanzipation nicht geben kann. Es gibt geschicht­
liche Niveaus der Emanzipation, die immer zugleich ein neues
Niveau der Problemkonfigurationcn und des Problembewußt­
seins bezeichnen. Und im übrigen gibt es bessere und schlechtere
Lösungen, gelingende und mißlingende Versuche, ein gutes Leben
zu führen, stärkere und schwächere Formen der Verankerung de­
mokratischer Traditionen im Bewußtsein, in der Praxis und in den
Einstellungen der Menschen. Was es schließlich gibt, sind die
Möglichkeiten einer produktiven Ausweitung oder einer schlei­
chenden oder gewaltsamen Zerstörung demokratischer Lebens­
formen. Solcherart sind die Alternativen, mit denen die Länder
Europas nach dem Ende des »realen Sozialismus« konfrontiert
sind. Für eine angemessene Beschreibung dieser Alternativen sind
die Kategorien des Marxschen Humanismus nicht mehr sehr hilf­
reich. Der kritische Impuls dieses Humanimus läßt sich nur retten
auf dem Wege einer radikalen Verwandlung. Der Marxsche Hu­
manismus muß heute gleichsam bis zur Unkenntlichkeit verfrem­
det werden, damit sein Authentisches wieder kenntlich werden
kann.
These 12: Das Grundproblem des Marxschen Humanismus liegt
in der in ihn begrifflich eingebauten utopischen Perspektive:
»Utopie« ist hier wörtlich zu verstehen: Begriffe wie »Aufhebung
der Entfremdung«, vollständige »Aneignung des menschlichen
Wesens durch und fiirden Menschen«, »vollendeterHumanismus
= Naturalismus«, Auflösung des Rätsels der Geschichte usw. -
solche Begriffe bezeichnen einen Ort vollkommen erfüllter Zeit,
vollständiger Transparenz, bruchlos gelingenden Lebens, vollen­
deter Solidarität; und das heißt: einen Ort jenseits der Geschichte,
einen Nicht-Ort. Von der spekulativ-geschichtsphilosophischen
Denkfigur, wonach ein dialektischer Umschlag in der realen Ge­
schichte zum Erreichen dieses Nicht-Ortes, der Utopie, führen
sollte, hat die Marxsche Theorie sich nie wieder ganz befreien
können. Das Urbild dieses Nicht-Ortes stammt aus jenen Erfah­
rungen erfüllter Zeit - der Kunst, der Liebe, der mystischen
Entrückung, der revolutionären Aktion -, die gleichsam ins Kon­
tinuum geschichtlichen Lebens cingesprengt sind wie Versprechen
der Erlösung und die diesem geschichtlichen Leben seine utopi­
schen Horizonte verleihen. Aber es wäre ein Denkfehler, jene
Versprechen wörtlich, das heißt aber: politisch zu verstehen; es
würde eine insgeheime Ästhetisicrung des Politischen bedeuten -
nicht im Sinne des Faschismus, sondern im Sinne der Frühroman­
tik. Kunstwerke, Augenblicke erfüllter Zeit mögen vollkommen
sein; die geschichtliche Wirklichkeit wird es nie sein, weil die Auf­ •I
hebung ihrer Negativität die Aufhebung ihrer Zeitlichkeit wäre.
Hegels Einsichten in die konstitutiven Entzweiungen der Mo­
derne bedeuten nur eine gcschichtsphilosophische Konkretisie­
rung dieses Zusammenhangs zwischen Zeitlichkeit und Negativi­
tät. Wenn man demgegenüber die Geschichte sub specie einer
Vollendbarkcit des Sinns, sub specie einer möglichen Vollkom­
menheit menschlicher Lebensformen betrachtet, kann man dem,
was an ihr unvollkommen ist, nicht mehr gerecht werden; am
Ende auch den wirklichen Menschen nicht mehr und ihrer Einzig­
keit, ihrer Alterität und ihrem Recht. Dies ist das Inhumane am
Marxschen Humanismus, oder besser gesagt: das Potential seiner
Inhumanität. Kritisches Denken heute und jede Form alternati­
ver, subversiver oder radikaler politischer Praxis müßte sich dieses
Rests von Inhumanität entledigen. Dies, so scheint mir, wäre die
beste mögliche Rettung des Marxschen Humanismus. i;
93 -■
Abschließend kehre ich noch einmal zur Titclfrage meines Vor­
trags zurück: Es hätte des Zusammenbruchs des Realsozialismus
nicht bedurft, um die Thesen zu formulieren, die ich Ihnen vorge­
tragen habe. Insofern wäre die Frage - »Bedeutet das Ende des
realen Sozialismus auch das Ende des Marxschen Humanismus?«
natürlich mit »nein« zu beantworten. So eng kann ja der Zusam­
menhang zwischen realer Geschichte und den Schicksalen von
Theorien nicht sein: der Marxsche Humanismus war am Ende,
bevor die sozialistischen Systeme zusammenbrachen. Gleichwohl
läßt der geschichtliche Vorgang - ich meine die Revolutionen und
Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa - das theoretische Ter­
rain nicht unverändert; und zwar deshalb, weil erst durch diese
Umwälzungen sichtbar geworden ist - auf jeden Fall für die
Augen vieler westlicher Linker-, wie unbegründet die verschwie­
gene Hoffnung auf eine Revolutionierung dieser Systeme in Rich­
tung auf einen authentischen Sozialismus, die Hoffnung auf eine
Transformation des »realen« in einen Sozialismus mit mensch­
lichem Antlitz war. Zumindest für jene, die diese Hoffnung noch
hatten, muß - und sollte - die Enttäuschung dieser Hoffnung eine
Erschütterung ihres theoretischen Koordinatensystems bedeuten.
Nur wenn sie sich dieser Erschütterung ihrer Grundkategorien
stellen, werden sie davor gefeit sein, unterderhand zu Reaktionä­
ren zu werden.

94
4. Naturrecht und praktische Vernunft
Zur aporetischen Entfaltung
eines Problems bei Kant, Hegel und Marx*
(1978)

Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen ist so alt wie die
Geschichte menschlicher Sprache und menschlicher Institutionen.
Beide nämlich setzen die Existenz von Regeln und Normen vor­
aus; die Anerkennung von Regeln aber impliziert die Unterschei­
dung zwischen dem, was der Regel entspricht, und dem, was
gegen sie verstößt, kurz, die Unterscheidung zwischen Sein und
Sollen. Die Differenz zwischen beiden ist die Voraussetzung der
Ethik. Eine ethische Fragestellung aber gibt es erst, seitdem die
Übereinstimmung von Handlungen mit den faktisch geltenden
Normen einer Gesellschaft nicht mehr als letzte Instanz einer
»Rechtfertigung« dieser Handlungen anerkannt wird. In der
abendländischen Geschichte ist die Rechtfertigungsproblematik
in zwei verschiedenen Richtungen radikalisiert worden: (1) durch
die Frage nach der Legitimität, d. h. »Gerechtigkeit« der Normen
selbst, und (2) durch die Frage nach dem sittlichen Wert, d. h. der
»Gerechtigkeit« der Handelnden. In beiden Fällen handelt es sich
um die Entdeckung einer Differenz zwischen Sein und Sollen
gleichsam auf einer höheren Reflexionsstufe: Bei der ersten Frage
geht cs um die Differenz zwischen dem, was als Norm faktisch
gilt, und dem, was als »gerechte« Norm gelten sollte, bei der zwei­
ten Frage um die Differenz zwischen dem faktischen und dem
* Die folgende Arbeit, bereits 1978 geschrieben, aber erst 1986 in E. An-
gehrn/G. Lohmann (Hg.), Ethik und Marx, Königstcin/Ts.: Athenäum,
veröffentlicht, war ursprünglich geplant als erster Teil einer Abhand­
lung über »Ethik und Kritische Theorie«; anstelle des zweiten Teils
entstand dann eine eigenständige Abhandlung: Ethik und Dialog,
Frankfurt am Main 1986, in der ich mich von einigen diskursethischen
Prämissen des älteren Aufsatzes verabschiedet habe. Unter anderen Ge­
sichtspunkten mag der Aufsatz gleichwohl von Interesse sein als Vorar­
beit zu den in diesem Band vorangegangenen Essays.

95

L
normativ geforderten Verhältnis des Handelnden zu den von ihm
befolgten Normen. Es geht, kurz gesagt, um die Kritik und Be­
gründung von Normen einerseits, um die Bewertung von- Motiven
andererseits. Daß zwischen beiden Fragestellungen ein interner
Zusammenhang besteht, blieb weder der klassischen griechischen
noch der christlichen Ethik verborgen; beide thematisierten ihn
freilich in je verschiedener Weise und mit radikal verschiedenen
Akzentsetzungen. Für beide läßt sich indessen gleichermaßen sa­
gen, daß sie einen Standard der »Gerechtigkeit« von Normen und
Handlungen in Anspruch nehmen, der jenseits des durch faktisch
vorgefundene Normen etablierten Standards liegt. In diesem
Punkt entsteht die Ethik im Sinne der europäischen philosophi­
schen Tradition und damit in zwei Problemzonen: Die Sittlichkeit
des Individuums ist nicht länger garantiert dadurch, daß es die
Institutionen und Normen des Gemeinwesens gleichsam in sich
hineinnimmt: die Trennung von Legalität und Moralität, die Eta­
blierung der Gewissensinstanz. Und die Normen und Institutio­
nen der Gesellschaft hören auf, ihre Legitimität aus ihrer
gleichsam naturalen Faktizität zu beziehen: die Trennung von Le­
galität und Legitimität.
Die europäische Moralphilosophie ist die Ausarbeitung dieser
beiden Probleme in den Dimensionen der Individualethik und der
politischen Philosophie. Hegels Philosophie ist der letzte große
Versuch, die inzwischen auseinandergetretenen Bereiche der
Ethik und der politischen Philosophie wieder zu vereinigen: er
weist die Nichtigkeit eines moralischen Bewußtseins nach, das
sich von der konkreten Sittlichkeit eines politischen Gemeinwe­
sens gelöst hat; er weist andererseits aber auch die Nichtigkeit von
Institutionen nach, die das Recht der Subjektivität verletzen: Das
Problem des guten Lebens läßt sich nur durch die Versöhnung von
Besonderem und Allgemeinem in der konkreten Sittlichkeit des
Staates lösen.
Hegel glaubte freilich, daß diese Einsicht nur möglich sei als die
Anerkennung der Wirklichkeit der sittlichen Idee im vorhandenen
Staate. Seine Einsicht, daß die Autonomie des Individuums nur
wirklich sein könne auf dem Boden einer vernünftig gewordenen
Polis, war erkauft mit der Illusion, daß die Versöhnung von Be­
sonderem und Allgemeinem die Wahrheit des preußischen Staates
sei. Mit dem Zerfall dieser Illusion war aber auch Hegels Versuch,
Ethik und Gesellschaftstheorie wieder zu vereinen, nachhaltig

96
diskreditiert. Zwar lebt noch Marx’ Kritik der politischen Ökono­
mie von der Hcgclschen Problemstellung; aber das positivistische
Auseinanderfallen von normativer Ethik und empirischer Gcsell-
schaftstheorie war auch in der Wirkungsgeschichte der Marxschen
Theorie nicht aufzuhalten. Angesichts von Hegels Diskreditie­
rung des moralischen Standpunkts jedoch bedeutete das, daß
zumindest tendenziell eine positivistisch mißverstandene Gesell-
schafts- und Geschichtstheorie zur Begründungsinstanz in nor­
mativen Fragen wurde. Nicht bei Marx selbst, wohl aber in der
marxistischen Tradition gibt es wiederholt diesen phänomenalen
»naturalistischen Fehlschluß« vom Sein auf das Sollen, verbunden
mit einer Reduktion des Sollens auf das Sein.
Die Philosophen und Soziologen der Frankfurter Schule haben
demgegenüber von allem Anfang an versucht, die Hcgelsche Pro­
blemstellung innerhalb der Marxschen Theorie zu rehabilitieren
und zur Geltung zu bringen. Sie verstanden diese Theorie wieder
als eine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und Ideologie in
Form einer empirischen Theorie. In einem szientistisch geworde­
nen Zeitalter mußte dies als ein außerordentlich paradoxer Ver­
such erscheinen: als der Versuch nämlich, einen emphatischen
Begriff praktischer Vernunft im Rahmen einer empirischen Theo­
rie zur Geltung zu bringen. Ein solcher Versuch ließe sich gegen
den Vorwurf einer schlechten Subjektivität, d. h. eines Mangels an
Wissenschaftlichkeit, offenbar nur dann verteidigen, wenn gezeigt
werden könnte, daß dieser die Theorie leitende Vorgriff auf prak­
tische Vernunft den Theoretiker vorweg mit seinem Gegenstand,
der Gesellschaft, verbindet. Dann und nur dann ließe sich sagen,
daß die normativen Voraussetzungen der Theorie dem Gegen­
stand angemessen und nicht von außen an ihn herangetragen
worden sind; und nur dann ließe sich der Anspruch aufrechterhal­
ten, daß die Vereinigung von Moralphilosophie und politischer
Philosophie im Rahmen einer empirisch gewordenen Sozialwis­
senschaft noch aufrechterhalten werden kann.
Lassen Sie mich die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und
kritischer Theorie zunächst präzisieren. Diese Frage betrifft zum
einen das Problem der normativen Voraussetzungen, zum andern
das der historischen Perspektiven einer an Marx orientierten
Theorie der Gesellschaft und Geschichte. Jene philosophische
Ethik, die Hegel in den Rahmen der politischen Philosophie zu­
rückzuholen versucht hatte, war eine universalistische Ethik;

97
Kant hatte sic am radikalsten und konsequentesten formuliert.
Das Grundprinzip dieser Ethik ist die Gleichheit und wechselsei­
tige Anerkennung aller Menschen als vernünftiger Wesen. Der
kategorische Imperativ ist die Formulierung dieses Prinzips als
eines von allen vernunftbegabten Wesen immer schon anerkann­
ten Prinzips für die Beurteilung von Handlungen und Motiven:
eines Standards, kurz, für die Beurteilung der moralischen Digni­
tät der Individuen und ihrer Beziehungen zueinander. Hegel
erkennt den Universalismus dieser Ethik durchaus an; ja, er er­
kennt an, daß das moralische Bewußtsein mit Notwendigkeit
universalistisch werden muß, da ein solches Bewußtsein seinen
einzig möglichen Bezugspunkt in dem Umfang seines eigenen Be­
griffes hat: dem Bereich der mit Vernunft begabten Wesen. Hegel
kritisiert diese Ethik jedoch als abstrakt in einem doppelten Sinne:
(1) Der Universalismus der Kantischen Ethik ist leer-, indem Kant
nämlich die Ethik auf ein formales Prinzip, eben den kategori­
schen Imperativ, reduziert, kann diese Ethik - und das ihr ent­
sprechende moralische Bewußtsein - Inhalte nicht mehr aus sich
heraus generieren. Sie bleibt daher angewiesen auf die Inhalte, die
ihr in Form gesellschaftlicher Normen, Bedürfnisse und Interpre­
tationen des »guten Lebens« vorausgesetzt sind oder die ihr durch
die wie auch immer bestimmte Willkür der Individuen gleichsam
untergeschoben werden; als bloß formale erweist sie sich gegen­
über dem jeweils vorausgesetzten Lebenszusammenhang der Ge­
sellschaft als heteronom. (2) Die Kantische Ethik geht von einem
strukturellen und unauflösbaren Konflikt zwischen Vernunft und
Sinnlichkeit aus. Dabei entgeht Kant (a), daß sittliches Handeln
nur möglich ist, wo das Allgemeine (der Vernunft) zum besonde­
ren Interesse des Individuums geworden ist und wo andererseits
das Individuum in seinem vernunftbestimmten Handeln zugleich
seine Besonderheit befriedigt; (b) daß diese Versöhnung von Be­
sonderem und Allgemeinem, von partikularem Interesse und den
Forderungen der Vernunft immer schon - in gewissen Grenzen -
stattgefunden hat, wo die Institutionen und Normen einer Gesell­
schaft in die Motivationsstruktur von Individuen »eingewandert«
sind. - So wenig Hegel die Unterscheidung zwischen den Dimen­
sionen des Seins und des Sollens leugnet, so sehr insistiert er doch
darauf, daß die Sinnlichkeit der Individuen immer schon auch
vernünftig geworden, die Vernunft immer schon auch mit der
|l Sinnlichkeit sich verbündet haben muß; andernfalls nämlich müß-

98

• 1
I
ten die Forderungen der praktischen Vernunft zu einem gegen­
über der Wirklichkeit kraftlosen Sollen herunterkommen. Und
genau das ist die andere Seite eines noch nicht über sich selbst
aufgeklärten moralischen Bewußtseins: es hält einer schlechten
Wirklichkeit ein leeres Ideal entgegen. Somit schwankt es zwi­
schen vernunftloser Anpassung und vernunftloscm Widerstand.
Indem Hegel den Versuch unternimmt, die universalistische Ethik
Kants in die politische Philosophie zu integrieren, zeigt er zwei­
erlei: (i) daß die Bildung des vernünftigen, ethisch »richtigen«
Willens die vernünftige Sittlichkeit eines intersubjektiven Lebens­
zusammenhanges zu ihrem Boden und zu ihrer Bedingung hat;
(2) daß die »Wirklichkeit der sittlichen Idee« nur gedacht werden
kann als die Versöhnung des Vernunftinteresscs mit der Intention
auf Glück, als Versöhnung des Besonderen und des Allgemeinen.
Ungeachtet der Hcgelschen Invektiven gegen den Glücksan­
spruch der Individuen in seiner Geschichtsphilosophie enthält
seine politische Philosophie doch eine Rehabilitierung des von
Kant geleugneten Wahrheitsmoments des Eudämonismus in der
Ethik.
Im Vorstehenden sind, wie ich meine, einige der Voraussetzungen
bezeichnet, die in die Konstruktion der Marxschen Theorie von
allem Anfang an eingehen. Vorausgesetzt ist ihr die normative
Idee einer zwanglosen wechselseitigen Anerkennung aller und, in
solcher Anerkennung, einer Versöhnung des Besonderen und des
Allgemeinen; kurz, ein Begriff praktischer Vernunft, den Marx
sich von Hegel vorgeben läßt - freilich, indem er ihn kritisch wen­
det. Aufgrund dieser kritischen Wendung bestimmen die norma­
tiven Voraussetzungen der Theorie zugleich deren historische
Perspektive und ihren praktischen Sinn. Marx hält freilich an zwei
weiteren Hcgelschen Voraussetzungen fest: (1) daß der in die
Theorie eingehende Begriff praktischer Vernunft auch in die Kon­
stitution ihres Gegenstandes vor aller Theorie schon eingegangen
ist; daß daher in den normativen Voraussetzungen der Theorie
5
zugleich eine Bedingung ihrer möglichen Objektivität beschlos­
sen liegt; und (2) daß der Vorgriff auf die Freiheit aller nicht die
Postulierung eines Ideals sein kann, daß er vielmehr nur als die
Entschlüsselung eines dem Geschichtsprozeß immanenten Sinnes
legitimiert werden kann, eines Sinnes, dessen Realisierung nur auf
dem Weg über das Gcltendmachen partikularer Interessen ge­
dacht werden kann. Die Idee, so drückt Marx es aus, muß zum

99
materiellen Interesse werden, um die Massen zu ergreifen. Indem
nun aber Freiheit nicht mehr als existierender Begriff, sondern als
der utopische Horizont des Gcschichtsprozesscs erscheint, ändert
sich gleichwohl aufs neue die Konstellation von Ethik und Gesell­
schaftstheorie. Ich möchte kurz die Probleme bezeichnen, die sich
aus dieser veränderten Konstellation ergeben: (i) bedarf die Idee
einer Verwirklichung praktischer Vernunft in einer vernünftigen
Organisation der Gesellschaft selbst einer neuen Rechtfertigung;
denn ihre Rechtfertigung und Explikation bei Hegel hängen aufs
engste mit der These zusammen, daß die »sittliche Idee« im mo­
dernen Staat zur Wirklichkeit geworden sei. Eine gewisse Rehabi­
litierung Kants gegen Hegel scheint unter diesen Umständen
unvermeidlich. (2) Indem die Versöhnung von Moralität und Le­
galität zur utopischen Perspektive wird, verliert die Ethik - man
muß sagen: aufs neue - ihren Boden in der Sittlichkeit der beste­
henden Verhältnisse. Will man gleichwohl nicht hinter Hegels
Kritik des moralischen Standpunktes zurückfallen, so kann jetzt
nur noch die Theorie der Gesellschaft selbst jene Funktionen der
Vermittlung zwischen abstrakten Prinzipien und konkretem Han­
deln übernehmen, ohne welche der moralische Wille in dem
Eigensinn und der substanzlosen Leere bloßer Gesinnung verblei­
ben müßte. Hiermit ergibt sich aber, daß die marxistische
Rezeption und Kritik Hegels von vornherein belastet ist mit der
Gefahr zweier gleichermaßen schlechter Alternativen: der Gefahr
der Rückkehr zu einer von der politischen Theorie wieder ge­
trennten »bloßen« Ethik und der oben erwähnten Gefahr des
ethischen Reduktionismus. (3) Das dritte Problem schließlich, das
mit den beiden zuerst genannten aufs engste zusammenhängt, er­
gibt sich daraus, daß eine kritisch gewendete Theorie der Gesell­
schaft in ihrer Kritik des falschen Bewußtseins zugleich immanent
und transzendent verfahren muß: Sie muß immanent verfahren,
will sie ihrer eigenen Voraussetzung treu bleiben, daß der Vorgriff
auf die Verwirklichung praktischer Vernunft die Theorie vorgän­
gig mit ihrem Gegenstand verbinde. Als immanente Kritik über­
führt sie das falsche Bewußtsein seiner Unwahrheit, indem sie
dieses Bewußtsein an seinen eigenen Ansprüchen mißt. Die Theo­
rie muß in der Kritik des falschen Bewußtseins zugleich transzen­
dent verfahren, solange der Maßstab ihrer Kritik nicht gesell­
schaftlich wirklich geworden, d.h. von den Individuen als die
Wahrheit ihres falschen Bewußtseins anerkannt worden ist. Wie-

100
derum läßt sich an dieser Stelle die Gefahr zweier schlechter
Alternativen aufzeigen, von denen eine kritische Theorie im Sinne
der Marxschen bedroht ist: der Gefahr einer Überanstrengung der
Theorie als eines Vehikels diskursiver Aufklärung einerseits; der
Gefahr einer Verdinglichung der aufzuklärenden Individuen von
Seiten einer die Wahrheit der Geschichte verwaltenden Elite ande­
rerseits. Und wiederum scheint die Gefahr einer Verselbständi­
gung nicht assimilierter Hcgelscher Systemfragmente im Rahmen
einer kritischen Gesellschaftstheorie - mit den entsprechenden
Konsequenzen entweder idealistischer oder stalinistischer Art —
auf die Notwendigkeit einer teilweisen Rehabilitierung Kants zu
verweisen.
Die Lösungen der drei genannten Probleme, die sich aus der ge­
genüber der Hegeischcn Theorie veränderten Konstellation von
Ethik und Gesellschaftsthcorie ergeben, hängen miteinander zu­
sammen: Die Rechtfertigung und Explikation der normativen
Voraussetzungen der kritischen Theorie müssen nämlich zugleich
den Status einer philosophischen Ethik klären, die weder Hegels
Kritik des moralischen Standpunkts vergißt noch sich in die Nor­
mativität des Faktischen flüchtet. Sie müssen weiterhin die Bedin­
gungen der Möglichkeit einer Ideologiekritik klären, die weder
ihren Anspruch auf Objektivität aufgibt noch ihre eigenen Maß­
stäbe (und damit zugleich ihre Objekte) verdinglicht. Diese not­
wendige Klärung ist, wie ich meine, weder auf dem Weg einer rein
philosophischen Analyse noch - das versteht sich - durch bloß
empirische oder historische Untersuchungen zu leisten. Der Cha­
rakter des Problems selbst deutet vielmehr auf eine Konstellation
von Philosophie und Sozialwissenschaft, bei der beide Seiten ihre
Unabhängigkeit aufgegeben haben - eine Konstellation nun in der
Tat, für die schon die Marxsche Theorie selbst ein eindrucksvolles
Beispiel bietet. Marx selbst hat freilich die obengenannten »meta­
theoretischen« Probleme seiner Theorie nicht eigens thematisiert;
vielleicht hätte er es getan, hätte er in ihnen den theoretischen
i
Reflex durchaus praktischer Probleme erkannt - ich meine Pro­
bleme, die in der Geschichte des Sozialismus wie in der der
Sozialwissenschaft zu hoher moralischer, politischer und wissen-
schaftstheorctischer Brisanz gelangen sollten.

l '

ji:
101
I
’l II.

Jürgen Habermas und K. O.Apel haben im Rahmen einer Aus­


einandersetzung mit der positivistischen, hermeneutischen und
systemtheoretischen Sozialwisscnschaft während des vergangenen
Jahrzehnts einen großangelegten Versuch unternommen, das Pro­
blem der Begründung und Explikation der normativen Vorausset­
zungen einer kritischen Sozialwissenschaft in dem oben bezeich­
neten Sinne zu lösen. In Anknüpfung an neuere Entwicklungen in
der Linguistik und Sprachphilosophie hat insbesondere Haber­
mas eine universalpragmatische Theorie der Sprache entworfen,
die die Rolle eines metatheoretischen Fundaments der Sozialwis­
senschaft übernehmen soll. Auf der Ebene dieser Sprachtheorie
expliziert er die normativen Ideen der Wahrheit, Freiheit und
Gerechtigkeit als wechselseitig miteinander verknüpfte, quasi­
transzendentale Fundamentalnormen, die in die Strukturen
sprachlicher Kommunikation konstitutiv eingelassen sind. Die
Explikation dieser Fundamentalnormen hat Habermas in Form
einer Diskurstheorie der Wahrheit einerseits, einer kommunikati­
ven Ethik (die zugleich eine Theorie der Gerechtigkeit ist) ande­
rerseits, unternommen. Die auf diese Weise gewonnene Begrün­
dung und Präzisierung der Ideen zwangloser wechselseitiger
Anerkennung autonomer Subjekte und einer »unverzerrten«
Kommunikation zwischen ihnen benutzt Habermas, um auf den
f verschiedenen Ebenen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung
den Zusammenhang zwischen empirischer Analyse und normati­
ven Voraussetzungen in die Konstruktion der theoretischen Kate­
gorien und Grundannahmen einzubringen.
Was nun die systematische Explikation der normativen Vorausset­
zungen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung betrifft, so ließen
sich Habermas’ und Apels Vorschläge zur Begründung einer
kommunikativen oder »Diskurs«-Ethik verstehen als Versuch,
den wahren, d.h. nicht-ideologischen Kern der universalistischen
Ethik Kants, des modernen Naturrechts, wie auch zentraler Prin­
zipien der Aufklärung gegenüber einer positivistischen wie histo­
rischen Kritik im Sinne eines gleichsam in die Struktur sprach­
I
licher Verständigung eingelassenen und daher in sprachlicher
Verständigung notwendig implizierten Systems von Normen,
Präsuppositionen und Antizipationen zu deuten. Gegenüber den
Prinzipien der Kantischen Ethik und des modernen Naturrechts

102

1
! 'S
bedeutet dies insbesondere den Versuch einer »Aufhebung« jener
Prinzipien in einem Diaiogbcgriff praktischer Wahrheit; dabei er­
scheint dann das Prinzip einer zwanglosen diskursiven Einigung
Li
aller, die sprechen können - und das heißt zugleich: das Prinzip
einer zwanglosen Einigung aller als Gleicher und Freier - als letz­
ter Legitimations-»Grund« normativer Geltungsansprüche. Ha­
bermas hat in diesem Zusammenhang — und zwar gleichermaßen
bezogen auf die Dimensionen der »Moralität« wie der »Legalität«
- von einem »prozeduralen Legitimitätstypus der Neuzeit« ge­
sprochen; einem prozeduralen Legitimitätstypus, der, wenn seine
universal-pragmatische bzw. transzendentalpragmatische Deu­
tung durch Habermas und Apel angemessen wäre, als zur Struk­
tur sprachlicher Verständigung überhaupt gehörig - wenn auch
nicht als von den Sprechern immer schon explizit anerkannt -
interpretiert werden dürfte. Ich möchte im folgenden zunächst
versuchen, einige Motive für die Entwicklung einer kommunika­
tiven Ethik durch Rekurs auf die Verlagerung der Naturrechts­
problematik von Kant bis Marx deutlich zu machen, um
sodann1 die Frage nach dem genaueren Sinn und der Begründ­
barkeit einer solchen Ethik zu erörtern.

III.

Gegen das Kantische Moralprinzip ist bekanntlich immer wieder


- so insbesondere schon von Hegel - der Einwand erhoben wor­
den, es sei »leer« und könne von sich aus keine Inhalte generieren,
d. h. aber auch, es sei mit jedem Inhalt vereinbar. Zweifellos gibt
es viele Kantische Formulierungen, die diesen Einwand geradezu
herausfordern; insbesondere jene Formulierungen, in denen Kant
behauptet, es komme unter moralischen Gesichtspunkten allein
auf die Form der Maximen an, d. h. darauf, ob sie sich »zur allge­
meinen Gesetzgebung schicken« oder nicht.2 Nun scheint mir
aber klar, daß in solchen Formulierungen die Grundintention der
Kantischen Moralphilosophie nur gebrochen zum Ausdruck
kommt. Deren »Formalismus« läßt sich nämlich auf der Ebene

1 Vgl. hierzu das in der Vorbemerkung Gesagte.


2 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke in 6 Bünden (Hg.
W. Weischedel), Darmstadt 1956ff.: Bd.iv, S. 136.

io3
!

einer logischen Analyse von Sätzen gar nicht ausreichend charak­


terisieren; hierzu bedarf es vielmehr einer Bezugnahme auf han­
delnde Subjekte, von denen in Frage steht, ob sie «wollen können,
daß eine Maxime (ihrer) Handlung ein allgemeines Gesetz
werde«? Dafür, daß ich etwas als ein allgemeines Gesetz wollen
kann, ist es aber nur eine notwendige und keine hinreichende Vor­
aussetzung, daß ich es als allgemeines Gesetz denken kann. Um
den formalen Charakter des Kantischen Moralprinzips richtig zu
verstehen, müssen wir daher noch die Frage beantworten, wie
denn ein Handelnder hcrausfindet, ob er eine Handlungsmaxime
als allgemeines Gesetz wollen kann.
Der m.E. überzeugendste Versuch, diese Frage im Sinne einer
Rehabilitierung des Kantischen Moralprinzips zu beantworten,
stammt von John R. Silber? Silber zeigt, daß wir den Formalis­
mus der Kantischen Ethik als einen prozeduralen Formalismus
sehen müssen; dementsprechend wäre der Kategorische Imperativ
als ein Prinzip der Urteilsbildung zu verstehen, d. h. als Prinzip
eines Verfahrens der Vermittlung von Besonderem und Allgemei­
nem für Handelnde in konkreten Situationen. Silber beantwortet
die oben gestellte Frage, indem er das von Kant in seiner Ethik
explizit herangezogene Konsistenzprinzip verknüpft mit einer
»Maxime der Urteilskraft«, wie Kant sie im § 40 der Kritik der
Urteilskraft formuliert hatte. Dort unterscheidet Kant zwischen

F drei »Maximen des gemeinen Menschenverstandes«: »1. Selbst­


denken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich
selbst einstimmig denken.« Die zweite Maxime bezeichnet Kant
auch als Maxime der Urteilskraft; ihr folgt jemand, »wenn er sich
über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen
so viele andere wie eingeklemmt sind, wegsetzt, und aus einem
allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann,
daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes
Urteil reflektiert.«5 Nun scheint es genau eine solche Maxime
der Urteilskraft zu sein, auf die wir rekurrieren müssen, wenn wir

3 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. iv, S. 54.
4 J. R. Silber, »Procedura! Formalism in Kant’s Ethics«, in: Review of
Metaphysicsxxvm, Nr. 2, 1974, S. 197ff.; deutsch: »Verfassungsforma-
lismus in Kants Ethik«, in: G. Funke (Hg.), Akten des 9. Internationa­
len Kant-Kongresses (Mainz 1974), Teil in, Berlin 1975, S. 149 ff.
5 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke, Bd.v, S. 391.

104
verstehen wollen, wie ein Handelnder herausfindet, ob er eine
Handlungsmaxime als allgemeines Gesetz wollen kann. Die Kan-
tischen Beispiele für Anwendungen des Kategorischen Imperativs
sind freilich geeignet, diesen Sachverhalt zu verdunkeln. Immer­
hin gibt Kant aber zu erkennen, daß zumindest in einigen jener
Fälle, in denen die Frage der Vcrallgemeinerungsfähigkeit von
Maximen nicht bloß ein logisches Problem ist, die Beantwortung
dieser Frage für den Handelnden nur möglich ist, indem er die
Perspektive der von seinem Handeln Betroffenen einnimmt.6
Herauszufinden, ob eine Maxime als allgemeines Gesetz gewollt
werden kann, bedeutet dann aber herauszufinden, ob eine Hand­
lungsweise aus der Perspektive aller Betroffenen als gerechtfertigt
angesehen werden kann. Im Sinne dieser Interpretation könnte
man sagen, daß der Kategorische Imperativ ein implizit dialogi­
sches Prinzip darstellt, welches fordert, daß der Handelnde in
seinen moralischen Erwägungen die von seinem Handeln Betrof­
fenen zu Wort kommen läßt, und daher den Gehalt eines mögli­
chen rationalen Konsenses mit ihnen zu bestimmen versucht.
Kant hatte m. E. völlig recht, wenn er unterstellte, daß wir in
vielen Fällen praktisch durchaus in der Lage sind, über die Mög­
lichkeit eines solchen Konsenses richtig zu urteilen. Er täuschte
sich aber über die Bedeutung dieser Voraussetzung: und hier
scheint das eigentliche Problem seiner Moralphilosophic zu lie­
gen, ein Problem, welches durch den eingangs erwähnten Ein­
wand gegen das Kantische Moralprinzip eher verdeckt als ver­ I
deutlicht wird.
Ich möchte diesen Punkt in vier Schritten erläutern. (1) Prima
facie ist der Kategorische Imperativ so konstruiert, daß er jedem
Handelnden ein Kriterium der Unterscheidung zwischen mora­
lisch richtigem und moralisch falschem Handeln a priori an die
Hand gibt; und zwar ein Kriterium, welches auf eine monologi­
sche Anwendung hin angelegt ist in dem Sinne, daß der »gemeine
Menschenverstand« eines jeden Handelnden ausreicht, für sich al­
lein zwischen »gut« und »böse« in einer täuschungsfreien Weise
zu unterscheiden. Versteht man den Kategorischen Imperativ in
dieser Weise, so folgt daraus, daß einer, der ernsthaft oder aufrich­
tig nach diesem Prinzip handelt, erstens nicht zu beliebigen

6 Vgl. etwa I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke,


Bd. tv, S. 52-54.

i°5

5
Resultaten kommen kann, und zweitens, daß er das moralisch L
Richtige tun wird. (2) Dieselbe Auffassung läßt sich nur noch in =
einem eingeschränkten Sinne vertreten, wenn man sich den impli­ i
zit dialogischen Charakter des Kategorischen Imperativs klarge­ I

macht hat. Denn obwohl man nach wie vor wird sagen müssen, -
daß einer, der aufgrund einer ernsthaften moralischen Überlegung
im Sinne dieses Moralprinzips handelt, in einem Sinne des Wortes
das »Richtige« tut, wird man jetzt zwischen zwei Bedeutungen
von »moralisch richtig« unterscheiden müssen; in einem zweiten
I
Sinne des Wortes wird nur der »richtig« handeln, der einen mög­ 1
lichen rationalen Konsens der von seinem Handeln Betroffenen
richtig antizipiert. (3) Ein entsprechendes Problem braucht nicht
aufzutauchen, solange in einer Gruppe von Handelnden Interpre­
tationen von Bedürfnissen und eine intersubjektive Normierung
I
von Formen der Reziprozität nicht strittig sind, solange also, mit
Hegel zu sprechen, eine Form »konkreter Sittlichkeit« die inter­
subjektive Geltung moralischer Entscheidungen garantiert. In
diesem Falle kann man sagen, daß ein vorgängiger Konsens eine
zureichende Basis für die Antizipation möglicher Konsense dar­
stellt. (4) Sobald aber diese Voraussetzung nicht mehr gilt oder in
Frage gestellt wird, bekommen erstens moralische Entscheidun­
gen ein hypothetisches Moment, und zweitens wird deutlich, daß
die Möglichkeit, in einem verläßlichen Sinne moralisch richtige
r Entscheidungen zu treffen, in einer eigentümlichen Weise von der
Möglichkeit abhängt, auf einen bereits eingespielten zwanglosen
Konsens sich zu verlassen. Das im Kategorischen Imperativ impli­
zit enthaltene Prinzip des Handelns im Sinne eines antizipierten
Konsenses erweist sich damit zugleich als ein normatives Prinzip
für die Ordnung intersubjektiver Beziehungen. Kant hat diesen
Gedanken durch die Idee eines »Reichs der Zwecke« zum Aus­
druck gebracht; freilich hat er sich nicht klargemacht, daß die
Fähigkeit, als Glied eines möglichen Reichs der Zwecke zu han­
deln, etwas mit der partiellen Wirklichkeit eines solchen Reichs
der Zwecke zu tun hat; und daß daher ein monologisch erzeugba­
res, sicheres praktisches Wissen in seinem Sinne nur dann allge­
mein möglich wäre, wenn das Reich der Zwecke wirklich wäre.
Daß Kant sich auf die in seinem Moralprinzip angelegten Konse­
quenzen nicht wirklich eingelassen hat, kommt am stärksten darin
zum Ausdruck, daß in zentralen Partien seiner ethischen Theorie
5 eine im logisch-semantischen Sinne »formalistische« Betrach-

106
!■
tungswcisc in den Vordergrund rückt; indem Kant das dialogische
Moment seines Moralprinzips unterdrückt, kann er zugleich die
in diesem dialogischen Moment beschlossenen Probleme vermei­
den - freilich um den Preis eines Formalismus, gegen den sich nun
in der Tat der Vorwurf der Inhaltslosigkeit erheben läßt. Macht
man dagegen den implizit dialogischen Sinn des Kategorischen
Imperativs explizit, so wird klar, daß dieser zugleich eine Anwei­
sung enthält, auf eine kritische Überprüfung von Bedürfnisinter­
pretationen und Formen der Reziprozität, die bei einer restrikti­
ven Interpretation als nicht problematisierbare Basis seiner
Anwendung gelten müssen.
Da Kant den in seinem Moralprinzip angelegten »prozeduralen
Formalismus« nicht wirklich entfaltet, ist er gezwungen, inhaltli­
che Bestimmungen teilweise doch wieder von außen an die mora­
lische Reflexion heranzutragen; in diesem Sinne verstehe ich etwa
den Stellenwert naturteleologischer Argumente in einigen seiner
Standardbeispiele. Daneben gibt es aber eine andere Argumenta­
tionsebene seiner praktischen Philosophie, auf der er unmißver­
ständlich klarmacht, daß der Kategorische Imperativ immer schon
kritisch auf die »Basis« seiner Anwendung - normierte Formen
der Reziprozität — zurückbezogen ist; ich denke an die Verknüp­
fung von Ethik und Rechtsphilosophie. Aus einer Analyse der
Verknüpfung von Ethik und Rechtsphilosophie bei Kant sollte
sich daher zumindest eine indirekte Bestätigung der hier vertrete­
nen Interpretationen des Kantischen Moralprinzips gewinnen
lassen; zugleich wird eine Analyse des Kantischen Rechtsbegriffs
- so hoffe ich — einen tieferliegenden Grund dafür aufweisen, daß
das in der Kantischen Ethik angelegte Dialogprinzip bei Kant
selbst am Ende unterdrückt bleibt.

IV.

Ich möchte hier nicht die bekannten Formulierungen Kants wie­


derholen, in denen er das Verhältnis von ethischer und juridischer
Gesetzgebung bestimmt; ich möchte vielmehr direkt auf einige
Homologien und Unterschiede zwischen beiden Formen der Ge­
setzgebung hinweisen, um sodann zu erläutern, wie sie wechsel­
seitig aufeinander bezogen sind.
Ethik und Rechtslehre kommen überein in dem, was man als Prin-

107
I
!
zip der Univcrsalisierung von Normen bezeichnen könnte. Inso­
fern spiegelt die Formalität des Kantischen Rechtsbegriffs direkt
den formalen Charakter des Kategorischen Imperativs. Nun ist
die juridische Gesetzgebung eine Gesetzgebung für Handlungen,
während die ethische eine für Maximen des Handelns (bzw. des
Willens) ist. Der Unterschied zwischen beiden betrifft daher zu­
nächst einmal das Verhältnis des Handelnden zu seinen Handlun­
gen: Während für den Begriff des Rechts die »Beweggründe« des
Handelnden außer Betracht bleiben, stehen diese im Zentrum der
moralischen Gesetzgebung. Aus der entsprechenden Unterschei­
dung zwischen der »Legalität« und der »Moralität« von Handlun­
gen ergeben sich freilich auch inhaltliche Unterschiede hinsicht­
lich der beiden Arten von Gesetzgebung. Das kann man sich
zunächst einmal klarmachen, indem man die beiden Ideen eines
praktisch-vernünftig gewordenen intersubjektiven Lebenszusam­
menhangs, die Kant jeweils aus dem Begriff der Moral und aus
dem des Rechts ableitet, zueinander in Beziehung setzt: ich meine
die Idee eines »Reichs der Zwecke« und die einer »reinen Repu­
blik«. Kant konstruiert den Unterschied so, daß eine Positivie-
rung des Vernunftrechts denkbar wäre ohne eine entsprechende
»Moralisierung« der Staatsbürger;7 ja, er nimmt an, daß die
Etablierung eines bürgerlichen Rechtszustandes empirisch-psy­
chologisch die Voraussetzung ist für einen moralischen Fortschritt
der Menschengattung. Im übrigen bezeichnet die Idee eines
I Reichs der Zwecke nicht im selben Sinne wie die einer reinen
Republik eine praktisch-geschichtliche Aufgabe für die Men­
schengattung: Nur von der letzteren dürfen wir annehmen, daß
sie unter Bedingungen der Endlichkeit wenigstens annäherungs­
weise realisiert werden kann. Insofern aber der moralisch Han­
delnde als Glied eines möglichen Reichs der Zwecke handelt,
können wir die »Gesetzgebung« im Reich der Zwecke zu der
einer vollendeten Republik in Beziehung setzen: Das Verhältnis
beider stellt sich, grob gesprochen, so dar, daß Rechtspflichten
immer auch moralische Pflichten wären, während das rechtlich
Erlaubte nicht immer auch moralisch möglich wäre. Inhaltlich
gesprochen, so könnte man deshalb sagen, schränkt die mora­
lische Gesetzgebung den Bereich möglichen Handelns stärker ein
als die juridische Gesetzgebung, während sie andererseits dem als

7 Vgl. etwa I. Kant, Der Streit der Fakultäten, Werke, Bd. vt, S. 365 f.

108
Recht Geltenden überhaupt erst einen genuinen Verpflichtungs­
charakter verleiht.
Kant zufolge - und darin liegt das Hobbesianischc Moment seiner
Rechtstheorie - gilt nun aber dies Verhältnis zwischen Recht und
Moralität auch unter der Bedingung von Rechtsverhältnissen, die
dem a priori konstruierten Begriff des Rechts nicht entsprechen.
Einer durch die staatliche Gewalt sanktionierten Verletzung »na­
türlicher« Rechte entspricht kein Naturrecht des Widerstands auf
Seiten der in ihren natürlichen Rechten Verletzten (ein solches Na­
turrecht würde dem entsprechen, was wir ein moralisches Recht
nennen würden), geschweige denn eine moralische Pflicht zu Ak­
ten des Widerstands. Die Positivierung natürlicher Rechte ist -
juridisch und daher auch moralisch gesprochen - Sache derer, die
das positive Recht der Gesetzgebung auf ihrer Seite haben. Man
mißversteht freilich diese konservative Pointe der Kantischcn
Rechtsphilosophie, wenn man nicht die Gcgenrcchnung sicht, die
Kant den Inhabern einer »ungerechten« Staatsgewalt aufmacht:
Denn mögen diese auch gegenüber den Unterdrückten juridisch
»im Recht« sein, so sind sie ihnen gegenüber doch moralisch im
Unrecht - d. h. die Verletzung oder Unterdrückung des angebore­
nen Rechts auf gesetzliche Freiheit im Sinne eines universalisti­
schen Rechtsprinzips widerspricht dem vom Kategorischen Im­
perativ Geforderten. Kant nimmt nicht nur den Revolutionären,
sondern auch den Unterdrückern das gute Gewissen. Daraus er­
gibt sich aber eine nicht unwichtige »moralische Asymmetrie«
zwischen Unterdrückung und Revolution. Denn während im
Falle einer ohne Not aufrechterhaitenen ungerechten Herrschaft
ein moralischer Rechtsstreit unter den beteiligten Parteien durch­ il
aus denkbar wäre, gilt das nicht mehr im Falle des Widerstands
oder der Revolution gegen eine solche Herrschaftsordnung: der
Unterdrücker hat sich ja gleichsam als erster freiwillig der Positio­
nen begeben, von denen aus er die Aktionen der Unterdrückten
hätte moralisch kritisieren können. Sofern man daher den nahelie­
genden Schritt tut und einen Begriff des moralischen »Anspruchs«
bzw. »Rechts« gleichsam im Schnittpunkt der Kantischen Be­
griffe der »moralischen Pflicht« und des »natürlichen Rechts«
konstruiert, könnte man sagen, daß in der Konsequenz seiner
Überlegungen Revolutionen gegen ungerechte Unterdrückung als
moralische »Ausnahmesituationen« angesehen werden müßten;
und zwar so, daß die Grundlagen einer moralisch verstandenen

io9
Reziprozität zeitweilig außer Kraft gesetzt wären, weil die mora­
lischen Pflichten der einen Seite moralischen Ansprüchen der
anderen Seite nicht mehr zugeordnet werden können.
Wie immer man aber zu einer solchen Extrapolation Karitischer
Gedanken stehen mag, auf jeden Fall ist festzuhalten, daß wegen
der Verknüpfung von Rechts- und Moralbegriff der Kantische
Rechtsbegriff einen auch moralisch relevanten Maßstab der Kritik
und Distanzierung von jeweils geltendem Recht an die Hand gibt.
Aus dieser Verknüpfung von Rechts-und Moralbegriff ergibt
sich nämlich die ethische Auszeichnung eines republikanischen
Rechtszustandes, auf den - in den Grenzen des jeweils geltenden
Rechts - hinzuwirken zugleich moralische Pflicht ist.8 Dieser
Rechtszustand wäre der eines positivierten Vernunftrechts und
demgemäß, seiner allgemeinsten Bestimmung nach, dadurch aus­
gezeichnet, daß in ihm »die Freiheit der Willkür eines jeden mit
jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen
bestehen kann«.9 Von einer solchermaßen eingegrenzten Frei­
heit sagt Kant, sie sei das »einzige, ursprüngliche, jedem Men­
schen Kraft seiner Menschheit, zustehende Recht«.10 Nun
verlangt aber der Übergang von einem bloßen Prinzip der Rechts-
allgemeinheit zum Zustand eines öffentlichen (Zwangs-) Rechts
für Kant zugleich die Einführung eines zweiten Rechtsprinzips;
im Unterschied zum Prinzip der Rechtsallgemeinheit könnten wir
dies Prinzip des öffentlichen Rechts als Konsensprinzip bezeich­
nen. Ein dem Vernunftbegriff des Rechts entsprechender Zustand
öffentlichen Rechts ist nämlich der eines Staates, in dem »der
übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über
alle und alle über jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der
allgemeine vereinigte Volkswillc gesetzgebend« ist.11 Die mora­
lische Idee eines »Reichs der Zwecke« hat somit in dem Postulat
I'
der Herbeiführung eines republikanischen Rechtszustandes ihr
praktisch-politisches Gegenstück. Beide Ideen - die der politi­
schen Republik und die eines Reichs der Zwecke - erläutern
einander wechselseitig, auch wenn die Differenz zwischen beiden
j für Kant unaufhebbar bleibt.
8 I. Kant, Ȇber den Genieinspruch: Das mag in der Theorie richtig
sein, taugt aber nicht für die Praxis«, Werke, Bd. vi, S. 144.
9 I. Kant, Metaphysik der Sitten, Werke, Bd.iv, S. 337.
10 A.a.O., S. 345.
11 A.a.O., S. 432.

110

J
V.

Nach diesen Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Ethik


und Rechtslehrc bei Kant möchte ich nun näher auf die Bedeu­
tung der beiden oben aufgeführten Rechtsprinzipien sowie auf
ihren Zusammenhang eingchen. Dabei interessiert zunächst das
Prinzip der Allgemeinheit als das vor jedem Eintritt in einen Zu­
stand öffentlichen Rechts fundamentale Rechtsprinzip (des Pri­
vat- bzw. Naturrcchts). In der Forderung nach Allgemeinheit der
Gesetze, so dürfen wir vermuten, steckt die Formulierung eines
Gerechtigkeitsprinzips: Freiheit nach allgemeinen Gesetzen be­
deutet gleiche Freiheit für alle. Was aber bedeutet gleiche Freiheit
für alle? Bei der Beantwortung dieser Frage greift Kant-wie nach
ihm Hegel - auf eine für das Naturrecht charakteristische Kon­
struktion des Zusammenhangs zwischen Freiheit und Privatei­
gentum zurück. Dabei spielt es in unserem Zusammenhang keine
Rolle, daß für Kant - anders als für Locke oder auch für Hegel -
die »Formierung« der Naturgegenstände nicht der oder auch nur
ein ausgezeichneter Modus ursprünglicher Aneignung von Besitz
ist; wichtig ist nur, daß Kant, wie Locke und Hegel, von einem
allgemeinen Recht aller Menschen auf Aneignung von und Verfü­
gung über Naturgegenstände(n) ausgeht, um dann in einem zwei­
ten Schritt das Naturrecht der Verfügung über Sachen auf die
Ebene intersubjektiver Beziehungen zu projizieren: d.h. in ein
Naturrecht auf (nicht unrechtmäßig, d.h. mit Gewalt) erworbe­
nes Eigentum und die entsprechenden Grundsätze eines gewaltlo­
sen Tauschverkehrs zu erweitern. Von daher versteht sich dann,
was gleiche »Freiheit der Willkür eines jeden« - zumindest auf der
I
für den Kantischen Staat fundamentalen Ebene des Privatrechts -
bedeutet: nämlich gleiches Recht der Verfügung über Eigentum.
Nun wußte Kant natürlich, daß von ursprünglicher Aneignung in
der Gesellschaft seiner Zeit praktisch keine Rede mehr sein
konnte; die Unterscheidung zwischen rechtmäßiger und unrecht­
mäßiger Verfügung über Sachen fällt daher im wesentlichen - d. h.
abgesehen von einer erst derivativ bestimmten legitimen Verfü­
gung des Staates über Privateigentum - mit der Unterscheidung
zwischen gewaltlosem Tauschverkchr einerseits und der Aus­
übung von Betrug und Gewalt andererseits zusammen. Was aber
gewaltlosen Tauschverkehr von Betrug und Gewalt unterscheidet,
erläutert Kant unter Rekurs auf die Adam Smithsche Version der

III

Ii i
Arbeitswertlchre im Sinne einer Norm des Äquivalcntcntauschcs
- wobei die Äquivalenz der getauschten Werte gesichert wird
durch »das öffentliche Urteil über den Wert ... einer Sache, im
Verhältnis auf die proportionierte Menge desjenigen, was das all­
gemeine stellvertretende Mittel des Fleißes ... ist«.12 Dement­
sprechend steht im Zentrum seiner Lehre von den Vertragsarten,
und damit gewissermaßen im Zentrum seiner Rechtslehre, ein
»intellektueller Begriff des Geldes«, der gleichsam die a priori
konstruierbare Norm angibt, an welcher die Willkür privater
Tauschakte sich orientieren muß, damit der Tauschverkehr im
Ganzen als »gewaltlos« soll verstanden werden können.
Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Idee des Äquivalenten­
tausches kritisch eingchen. Ich möchte vielmehr auf die charakte­
ristische Inkonsequenz hinweisen, mit der Kant den Eigentümer
der beginnenden kapitalistischen Produktionsweise aus dem ur­
sprünglichen Eigentümer gleichsam gcwalt- und bruchlos hervor­
gehen läßt. Die Gewaltlosigkeit einer logischen Konstruktion
muß an dieser Stelle die eigentlich geforderte Gewaltlosigkeit
einer historischen Genese substituieren. Nur so kann der fakti­
sche Privateigentümer zum Träger all der Rechte erklärt werden,
die dem fiktiven zugesprochen wurden. Die Figur stammt von
Locke; sie wiederholt sich bei Hegel. Die Unschuld der Kon­
struktion ist freilich historisch erklärlich: Für ein sich gerade
emanzipierendes Bürgertum war Gewalt vor allem durch feudale
P' Vorrechte, absolutistische Willkür und Einschränkungen des
freien Tauschverkehrs repräsentiert, der Warentausch daher das
eine gesellschaftlich relevante Modell zwangloser intersubjektiver
Beziehungen (das andere war durch »die zum Publikum versam­
melten« Privatleute und Gelehrten gegeben13). Die Konstruk­
tion bleibt indes nicht ohne Folgen. Sie markiert nämlich,
zusammen mit der an sie anschließenden Interpretation des
Tauschverkehrs, den Punkt, an dem Ethik und Rechtslehre bei
Kant ideologisch werden.
Bevor ich diese These genauer erläutere, möchte ich zunächst auf
den »Übergang« vom Privatrecht zum öffentlichen Recht und da­
mit auf den Zusammenhang zwischen den beiden oben erwähnten
Rechtsprinzipien eingehen. Dabei wird sich zeigen, daß die Kan-

12 A.a.O., S. 403.
13 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962.

112
3 • ■
aii ...
tische Rechtskonstruktion ihrer immanenten Logik nach zu Kon­
sequenzen führt, die mit der zuvor durchgeführten »metaphysi­
schen Deduktion« eines Eigentumsbegriffs letzten Endes unver­
einbar sind.
Der Übergang vom Privatrecht zum öffentlichen Recht ergibt sich
aus der Funktionsbestimmung des Staates; für Kant besteht die
Funktion des Staates - »der Idee nach« - in der Etablierung und
Sicherung eines Rechtszustandes, in dem das Prinzip der Rechts­
gleichheit aller verwirklicht ist. »Alles Recht (besteht, A. W.) bloß
in der Einschränkung der Freiheit jedes anderen auf die Bedin­
gung ..., daß sic mit der meinigen nach einem allgemeinen
Gesetze zusammen bestehen könne, und das öffentliche Recht (in
einem gemeinen Wesen) (ist, A. W.) bloß der Zustand einer wirk­
lichen diesem Prinzip gemäßen und mit Macht verbundenen
Gesetzgebung . ..«H Von der Gesetzgebung aber sagt Kant, daß
sie - in letzter Instanz - nur dem »vereinigten Willen des Volkes
zukommen« kann.15 Was soll das heißen? Für Kant ist diese
Forderung einer Gesetzgebung durch den vereinigten Volkswillcn
offenbar zunächst einmal eine direkte Konsequenz des zuvor ex­
plizierten Rechtsbegriffs. Dieser Rechtsbegriff ist ja ein Begriff a
priori praktischer Vernunft; daher sind die Gesetze, die dem Prin­
zip der Allgemeinheit genügen, genau jene, über die ein Konsens
zwischen den vernünftigen Gliedern eines »gemeinen Wesens«
möglich sein muß. Kant macht diesen Zusammenhang zwischen
Rcchtsbegriff und »Konsensprinzip« in einer Anmerkung zu sei­ '■ * 4
ner Schrift Zum Einigen Frieden klar, wenn er sagt: »Vielmehr ist
meine äußere (rechtliche) Freiheit so zu erklären: sie ist die Befug­
nis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich
meine Beistimmung habe geben können.«16
Kant sagt freilich nicht »... zu denen ich meine Beistimmung ge­
geben habe«-, die »kontrafaktische« Formulierung legt es daher
zunächst nahe, seine Forderung lediglich als eine Forderung an
den Gesetzgeber (wer immer es sei) zu verstehen, »daß er seine
Gesetze so gebe, als sic aus dem vereinigten Willen eines ganzen
Volkes haben entspringen können.«17 Indes erschöpft sich der
14 I. Kant, »Über den Gemeinspruch ...«, Werke, Bd.vi, S. 14S.
15 I. Kant, Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. iv, S. 432.
16 I. Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Werke,
Bd. vi, S. 204.
17 I. Kant, Ȇber den Gemeinspruch .. Werke, Bd.vi, S. 153.

1'3
Sinn des Konsensprinzips nicht in dieser Forderung; Kant ist
nämlich offenbar der Meinung, daß ein Zustand öffentlichen
Rechts erst dann dem Vernunftbegriff des Rechts entspricht, wenn
die Gesetzgebung im Rahmen einer republikanischen Verfassung
durch repräsentative Gesetzgebungskörperschaften erfolgt.18
Aus dem Begriff des Rechts resultieren nicht nur Forderungen an
jeden faktischen Gesetzgeber; aus ihm folgt vielmehr auch die
normative Auszeichnung derjenigen Verfassung, die der Idee einer
Gesetzgebung durch den vereinigten Volkswillen empirisch am
nächsten kommt: und das ist eine republikanische Verfassung, die
den Delegierten des Volkes das Recht zur Gesetzgebung ein­
räumt. Das Konsensprinzip muß daher noch einen anderen Sinn
und eine andere Begründung haben als oben angedeutet.
Man könnte zunächst an eine pragmatische Begründung denken:
Die empirische Chance, daß die Gesetzgebung dem Begriff des
Rechts entspricht und daß öffentliche Diskurse und öffentliche
Kritik sich in Akten der Legislative niederschlagen, ist dann am
größten, wenn durch Verallgemeinerung politischer Rechte eine
gleichmäßige Partizipation der Bürger an der Gesetzgebung gesi­
chert wird. Hierdurch würde sich zugleich die Chance ergeben,
einen Zustand inneren und äußeren Friedens auf Dauer zu si­
chern. Natürlich weiß Kant, daß auch in diesem Falle einer nicht
bloß fingierten, sondern faktischen Gesetzgebung durch den
»vereinigten Volkswillen« die Gesetzgebung nicht auf allen Ebe­
nen Ausdruck eines allgemeinen und faktischen Konsenses sein
kann; aber eine zumindest indirekt konsensuelle Legitimation von
Rechtsnormen ließe sich in diesem Falle dadurch sichern, daß
über die Grundnormen der gesellschaftlichen Organisation und
über die Verfahren der Gesetzgebung ein Konsens herbeigeführt
würde.
Nun fehlt es zwar bei Kant nicht an pragmatischen Überlegungen
der eben angeführten Art; es hieße aber den systematischen An­
spruch seiner republikanischen Staatsidec zu verfehlen, wollte
man sie auf solche pragmatischen Überlegungen reduzieren. In
der Tat gibt es, soweit ich sehen kann, bei Kant zumindest zwei
systematische Gründe für die Erweiterung des Prinzips der
L Rechtsallgemeinheit zum Konsensprinzip einer republikanischen

■;..
18 Vgl. I. Kant, »Über den Gemeinspruch ...«, Werke, Bd.vi, S. 152;
sowie Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. iv, S. 464.
H
114
i:
I
Staatsidee. Beide Male handelt es sich um Gründe, die sich aus der
in dem apriorischen Rechtsbegriff selbst beschlossenen Forde­
rung seiner empirischen »Darstellung« - d. h. seiner politischen
Verwirklichung - immanent ergeben. Den ersten Grund nennt
Kant im § 46 der Metaphysik der Sitten, wenn er sich auf den
Grundsatz des »volenti non fit injuria« beruft.” »Nun ist es,
wenn jemand etwas gegen einen andern verfügt, immer möglich,
daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich
selbst beschließt.«20 Da es aber der Zweck des Staates ist, gegen
die Möglichkeit des Unrechttuns (und Unrecht-lcidens) wirksame
Vorsorge zu treffen, ist die Forderung einer Gesetzgebung durch
den vereinigten Volkswillcn eine direkte Konsequenz der Forde­
rung, aus dem vorrcchtlichen in einen »öffentlich gesetzlichen
Zustand« einzutreten.21 Der den öffentlichen Gesetzen anhaf­
tende Zwangscharakter bedeutet nur dann einen wirklichen
Schutz gegen das Unrecht, wenn in den Gesetzen selbst eine
wechselseitige Verpflichtung der Staatsbürger zum Ausdruck
kommt, etwas als Recht anzuerkennen. - Der zweite Grund hängt
noch unmittelbarer mit dem Übergang vom RcchtsZ>egr<Or zum
positiven Recht zusammen. An dieser Stelle muß nämlich der
Rechtsbegriff gleichsam reflexiv gewendet werden: das Postulat
einer Einschränkung der »Freiheit der Willkür« eines jeden nach
einem allgemeinen Gesetz bedeutet jetzt, wo Handlungen zweiter
Ordnung ins Spiel kommen - nämlich Akte einer rechtsverbind­
lichen Normierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, von
denen im »vorrechtlichen« Zustande noch keine Rede sein konnte
- daß Rechtsgleichheit der Individuen qua Staatsbürger gefordert
werden muß - d. h. gleiches Recht zur Festlegung eines gemeinsa­
men und für alle verbindlichen Willens. Die einzige Möglichkeit
einer allgemeinen Verwirklichung dieses Rechts besteht aber in der
Herbeiführung eines Konsenses aller - zumindest über die
Grundnormen einer positiven Rechtsordnung, durch welche zu­
gleich die Gleichheit der politischen Rechte aller auf Dauer gesi­
chert sein muß.
Das Konsensprinzip des Kantischen Staatsrechts ergibt sich somit
als zwingende Konsequenz aus der Forderung nach Positivierung

19 I. Kant, Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. iv, S. 432.


20 A.a.O.
21 A.a.O., S. 422-425; 430f.

HJ
des Prinzips der Rechtsallgemeinheit. Zwischen der Rechtsgleich­
heit der Bourgeois und der Rechtsgleichheit der Citoyens besteht
ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang. Seiner systema­
tischen Konzeption nach ist der Kantische Staatsbegriff daher
durchaus radikal republikanisch; die Radikalität dieser Konzep­
tion wird nur darum leicht übersehen, weil Kant sich so entschie­
den gegen den Versuch verwahrte, eine Legitimation revolutio­
närer Programme aus ihr abzuleiten. Man würde aber den
systematischen Stellenwert der entsprechenden, eher defensiv­
konservativen Partien seines Staatsrechts mißverstehen, wollte
man aus ihnen ableiten, daß Kant es mit dem Prinzip der Gesetz­
gebung durch den vereinigten Volkswillen nicht wörtlich gemeint
habe.
Aus der Notwendigkeit eines Übergangs von einem Prinzip der
Rechtsallgemeinheit bzw. Rechtsgleichheit zu einem Konsens-
prinzip des öffentlichen Rechts ergibt sich nun abcr eine wichtige
Folgerung: das Allgemeinheitsprinzip - für sich genommen als ein
formales Prinzip - reicht nicht aus, um die Angemessenheit von
positiven Gesetzen an den Begriff des Rechts zu beurteilen; es
formuliert eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung
für die »Legitimität« von Gesetzen. Von diesen ist nämlich zusätz­
lich zu fordern, daß sie ihren Inhalten nach den »vereinigten
Willen« der Staatsbürger zum Ausdruck bringen. Anders ausge­
drückt: Das formale Prinzip selbst schlägt mit der Forderung
seiner Positivicrung in ein materiales - oder vielleicht besser: ein
»prozedurales« Prinzip um; es verlangt nämlich auch noch die
Herbeiführung eines Konsenses über jene Interessen und Bedürf­
nisse, hinsichtlich derer eine Rechtsgleichheit aller verwirklicht
li werden soll.
Eigentümlicherweise hat Kant genau diese Konsequenz seiner
Rechtslehre nicht in ihrer vollen Tragweite erkannt. Den Grund
dafür können wir indes jetzt angeben: Er hatte die entsprechende
! »Leerstelle«, die in seiner Theorie des öffentlichen Rechts bleibt,
schon zuvor, nämlich in seiner Analyse des Privatrechts, durch die
Einführung eines zweiten, unabhängigen Begründungsgangs aus­
zufüllen versucht. Die »metaphysische Deduktion« eines Eigen­
tumbegriffs im Sinne der Naturrechtstradition gestattet es ihm,
die grundlegenden Inhalte eines möglichen allgemeinen Konsen­
I ses schon bei der Ausarbeitung des Rechtsbegriffs, d.h. auf der
Ebene einer Analyse des Privatrechts, a priori festzulegcn. Ich

116

L
hatte zuvor behauptet, daß an dieser Stelle Kants Rechtslehre
»ideologisch« wird. Diese Behauptung läßt sich jetzt präzisieren:
Ideologisch ist die Beziehung zweier von Kant in seiner Rechts­
lehre benutzten Modelle der Freiheit und Gleichheit zueinander,
nämlich eines »Diskursmodclls« auf der einen Seite, eines »Markt­
modells« auf der anderen. Das Diskursmodell wird durch das
Marktmodell scheinbar »von innen her« eingeschränkt; in Wahr­
heit beruht diese Einschränkung des Diskursmodelis aber auf
einer »externen« Ableitung des Marktmodclls, welches durch das
Diskursmodell dann gleichsam eine sekundäre Legitimation er­
hält.
Um beide Modelle bruchlos miteinander zur Deckung bringen zu
können, mußte Kant unterstellen, entweder daß die Eigentums­
verteilung in der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft
als durch ursprünglichen Erwerb, Arbeit oder Tauschverkehr zu­
stande gekommen gedacht werden könne, oder aber daß ein von
feudalen bzw. absolutistischen »Verzerrungen« befreiter bürger­
licher Tauschverkehr zu einer Verteilung des Eigentums nach
Maßgabe des Fleißes und des Talentes der Individuen führen
könne und müsse. Nun scheint mir in der Tat, daß schon die
logische Konstruktion des Eigentumsbegriffs ein bestimmtes Vor­
urteil hinsichtlich der historischen Genese der Eigentums'uertet-
lung in der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck bringt;22
wichtiger aber ist wohl, daß in Kants Rekonstruktion des bürger­
lichen Tauschverkehrs ein Vorurteil hinsichtlich der Entwick­
lungsperspektiven der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck
kommt - daß nämlich Kant, wie R. Saage bemerkt hat, »auf die
egalisierende Wirkung des Marktes« setzt,23 der gewissermaßen
nachträglich die ursprüngliche, gleichmäßige Besitzverteilung, die
durch die gewaltsame Usurpation des Adels gestört worden war,
wiederherstellen sollte. Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich
das partikulare Interesse der Eigentümer zugleich als ein poten­
tiell universelles, d. h. als konsensfähiges Interesse verstehen.

22 Vgl. K. Marx und F. Engels, Die Deutsche Ideologie, in: K.Marx,


Frühe Schriften, Bd. n, (Hg. H.-J. Lieber und P. Furth), Darmstadt
1971, S. 94: »Im Privatrecht werden die bestehenden Eigentumsver­
hältnisse als Resultat des allgemeinen Willens ausgesprochen.« Vgl.
unten Abschn. vm.
23 Vgl. R. Saage, Eigentum, Staat und Gesellschaft hei Immanuel Kant, i
Stuttgart 1973, S. 153. i'
”7

riL. L
■I

Nur Unterstellungen der eben bezeichneten Art lassen es am


Ende auch verständlich erscheinen, daß Kant eine im 17. und
18.Jahrhundert zwar durchaus übliche, uns aber eher absonder­
lich erscheinende Unterscheidung zwischen »aktiven« und »passi­
ven« Staatsbürgern im Sinne einer Differenzierung der politischen
Rechte von Eigentümern und Nicht-Eigentümern in eine Meta­
physik des Rechts aufnehmen konnte.24 Erst nachdem einer
durch »Fleiß, Talent und Glück«, wie Kant sagt, zum Eigentümer
geworden ist, soll er als »Selbständiger« eine eigene, nicht vom
Willen eines andern abhängige Stimme zur Bildung eines vereinig­
ten Volkswillens abgeben dürfen. Diese Differenzierung von
Rechten erscheint als legitim im Sinne des Kantischen Rechtsbe­
griffs, sofern nur jedem das Recht zugestanden wird, Eigentümer
(d.h. Selbständiger) zu werden; sie erscheint darüber hinaus als
notwendig, weil das Konsensprinzip immer schon eine Unter­
scheidung voraussetzt zwischen denen, die imstande sind, ihre
eigenen Interessen rational zu vertreten, und denen, die hierzu
noch nicht imstande sind: Die Qualifikation zum Staatsbürger
kann nur als Resultat eines Bildungsprozesses zur Selbständigkeit
gedacht werden. Ideologisch wird diese Differenzierung von
Rechten nur deshalb, weil Kant, entsprechend der Verquickung
eines Marktmodells mit einem Diskursmodcll der Freiheit und
Gleichheit, für den zur Autonomie des Staatsbürgers führenden
Bildungsprozeß die zur Selbständigkeit des Besitzbürgers füh­
rende ökonomische Karriere substituiert. Daß beides zusammen­
falle - in dieser Unterstellung kommt das ideologische Moment
der Kantischen Rechtslehre am deutlichsten zum Ausdruck.
Eine strukturelle Homologie zwischen Ethik und Rechtslehre bei
Kant besteht somit auch darin, daß ein in beiden gleichermaßen
angelegtes Konsens- bzw. Dialogprinzip am Ende unterdrückt
bleibt. »Formal« in einem schlechten Sinn bleiben Ethik und
Rechtslehre deshalb, weil Kant den in seinem Begriff praktischer
Vernunft angelegten »prozeduralen Formalismus« an entschei­
denden Punkten stillstellt zugunsten eines bloß noch logisch­
semantischen Formalismus. Dieser kann zu bestimmten inhalt­
lichen Festlegungen nur noch führen, wenn Inhalte von außen an
ihn herangetragen werden. Ideologisch aber werden Ethik und
Rechtslehre darin, daß sie solchen Inhalten - insbesondere den

24 Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, Werke, Bd.iv, S. 433.

118

L
Strukturprinzipien der kapitalistischen Produktionsweise - den
Schein einer Legitimation aus reiner praktischer Vernunft ver­
schaffen.
Nimmt man dagegen die in der Kantischen Ethik und Rcchtslchre
angelegten Konsensprinzipien ernst, so erhebt sich sofort die
Frage, ob sich nicht hieraus die Notwendigkeit einer Ncubestim-
mung des Verhältnisses von Rechts- und Moralbegriff ergibt.
Hierbei stehen nicht analytische Distinktionen wie die zwischen
der »Legalität« und der »Moralität« von Handlungen in Frage,
desgleichen nicht die Unterscheidung zwischen einer Sphäre -
derjenigen der Handlungen selbst -, in der Konformität mit Ge­
setzen äußerlich erzwungen werden kann, und einer anderen
Sphäre - derjenigen der »Beweggründe« für Handlungen -, in der
Konformität mit dem Gesetz (d.i. dem Moralgesetz) nicht er­
zwungen werden kann. Was vielmehr in Frage steht, ist, ob die
beiden normativ ausgezeichneten Strukturen von Intcrsubjcktivi-
tät, die in den Begriffen der Moralität und des Rechts jeweils
mitgedacht sind, hinsichtlich der Möglichkeiten einer empirischen
Realisierung als voneinander unabhängig zumindest gedacht wer­
den können. In der einen Richtung hat Kant diese Frage unmiß­
verständlich mit Nein beantwortet: Ein Reich der Zwecke,
gedacht als ein Reich der Natur, setzt die Wirklichkeit eines
»Staats der Idee nach« voraus. In der anderen Richtung hat Kant
die Frage dagegen bejaht: Die Verwirklichung einer reinen Repu­
blik kann - und sollte - gedacht werden als etwas von der
I
»Moralisicrung« der Staatsbürger unabhängig Mögliches. Im
Sinne des hier unternommenen Rekonstruktionsversuchs ließe
sich die Auffassung nun aber nur dann rechtfertigen, wenn sich
dem Moral- und dem Rechtsbegriff zwei voneinander verschie­
dene Typen der Konsensbildung zuordnen ließen. Die Unter­
scheidung, die sich hier aufdrängt, ist die zwischen einem
diskursiv herbeigeführten Konsens - d. h. einem Konsens, der auf
Gründen beruht, die für alle Beteiligten gleichermaßen einsichtig
sind - auf der einen Seite, und einem Konsens, der sich gleichsam
einer Konvergenz der strategischen Kalkulationen voneinander
unabhängiger Individuen verdankt, die nur ihre eigenen Interes­
sen im Auge haben, auf der anderen Seite. Die Unterscheidung
i
zwischen diesen beiden Typen der Konsensbildung entspricht in
der Tat dem Unterschied zwischen dem Grundgedanken der Kan­
tischen Ethik auf der einen Seite, und der Grundfigur der moder-

119
nen naturrechtlichen Vertragskonstruktionen seit Hobbes auf der
anderen. Nun ist es aber gerade für Kants Re-interpretation der
naturrcchtlichcn Vertragsthcoricn des Staates kennzeichnend, daß
er diese Vertragstheorien in einer explizit normativen Wendung
mit dem Grundprizip seiner Ethik verknüpft; diese Wendung des
Gedankens aber ist mit dem Festhalten an einer »strategischen«
Auffassung des Gesellschaftsvertrages nicht länger vereinbar: In
der Kantischen Perspektive bekommt die Idee des Gesellschafts­
vertrages - wie auch moderne Rekonstruktionsversuche, wie der
von Rawls, deutlich zeigen - einen irreduzibel normativ-ethischen
Gehalt.
So berechtigt daher Kants analytische Distinktionen auch sein
mögen, sie lassen sich nicht im Sinne einer Unterscheidung zwi­
schen zwei in der Wirklichkeit voneinander unabhängigen Typen
praktischer Rationalität festhalten. Genau an diesem Punkte hat
Hegel zu Recht die Kantische Konstruktion des Verhältnisses von
Recht und Moralität in Frage gestellt. Freilich hatte der Mangel an
Konsequenz in der Verknüpfung von Recht und Moralität bei
Kant seine guten Gründe. Da nämlich das »abstrakte Recht« bei
Kant bereits durch das Postulat seiner Positivierung einen unmit­
telbar politischen Gehalt gewann, war es a limine mit einem Typus
praktischer Rationalität in Verbindung gebracht, der über die bloß
strategische Rationalität warenproduzierender und warentau­
schender Privateigentümer hinausging; da es andererseits von
einem Marktmodell der Freiheit und Gleichheit her interpretiert
wurde, konnte ihm nur der entsprechende Typus strategischer Ra­
tionalität zugeordnet werden. Dementsprechend konnte Kant die
Positivierung des Vernunftrechts auf der einen Seite als eine mora­
lische Aufgabe bezeichnen, und auf der andern Seite doch be­
haupten, daß die praktische Lösung dieser Aufgabe auch einem
»Volk von Teufeln« möglich sein müsse - »wenn sic nur Verstand
haben«.25 In der Gegenüberstellung von Recht und Moral - von
I einer diesseitigen Republik und einem jenseitigen Reich der
Zwecke-kommt bei Kant am Ende eine fragwürdige Tendenz zur
Versöhnung der intelligiblen mit der empirischen Ordnung der
Dinge zum Ausdruck. Dementsprechend würde ich meinen, daß
i gerade die Starrheit der Kantischen Distinktionen mit den ideolo­
gischen Aspekten seiner Rechts- und Moralphilosophie zusam-

2$ 1. Kant, »Zum Ewigen Frieden«, Werke, Bd.vi, S. 224.


i
120
n
menhängt. Eine Kritik an dem Gebrauch, den Kant von diesen
Distinktionen macht, muß denn auch - so meine ich - in eine
andere Richtung zielen als die Hegelsche Kritik; sie muß, anders
als diese, darauf abzielen, die emanzipatorisch-kritischen Impulse
der Kantischen Rechts- und Moralphilosophie gegen deren ideo­
■ |

logische und schlecht formalistische Einkleidungen bei Kant


überhaupt erst voll zur Geltung zu bringen.
Als nächstes möchte ich auf die eigentümliche Verlagerung der
Naturrechtsproblematik zuerst in der Hegelschen Rechtsphiloso­
phie und dann in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie eingehen.

VI.

Hegel behandelt die traditionelle Materie des Naturrechts be­


kanntlich unter dem Titel des »abstrakten Rechts« im ersten Teil
seiner Rechtsphilosophie. Er schränkt dessen Anwendungsbereich
freilich von vornherein entscheidend ein, indem er die naturrecht­
lichen Vertragstheorien des Staates als illegitime Anwendungen
naturrechtlicher Prinzipien zurückweist und als deren allein legi­
timen Geltungsbereich die Sphäre des privatrechtlichen Verkehrs
der Individuen untereinander als Eigentümer bestimmt. Freilich
bezeichnet auch für Hegel das abstrakte Recht jene Sphäre, in der
eine nach allgemeinen Gesetzen geregelte »Freiheit der Willkür«
zum Dasein kommt. Diese Freiheit ist zwar bloß formell; gleich­
wohl ist sie für Hegel eine conditio sine qua non konkreter
Sittlichkeit unter Bedingungen von Modernität.
Gegen Hegels Behandlung des abstrakten Rechts ließen sich ähn­
liche Einwände geltend machen wie gegen Kants Behandlung des
Privatrechts. Indes möchte ich dies Problem hier beiseite lassen
und erst im nächsten Abschnitt darauf zurückkommen, und zwar
bei Gelegenheit einer Diskussion der Marxschen Kritik am Na­
turrecht. An dieser Stelle möchte ich lediglich - und zwar gleich­
sam von außen — die Frage nach der Substanz der Hegelschen
Argumente gegen demokratische Verfassungsformen erörtern,
Argumente, die aufs engste mit seiner Kritik an den naturrecht­
lichen Vertragskonstruktionen des Staates Zusammenhängen.
Das Grundargument Hegels gegen eine naturrechtlich-demokra­
tische Auffassung des Staates findet sich, am Anfang des dritten
Abschnitts der Rechtsphilosophie, in seiner Polemik gegen Rous-
seaus Konzeption des vernünftigen Allgemeinwillens.

121

I
»Indem er den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens (wie
nachher auch Fichte) und den allgemeinen Willen nicht als das an für sich
Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinschaftliche, das aus
diesem einzelnen Willen als bewußtem hervorgehe, faßte, so wird die Ver­
einigung der Einzelnen im Staat zu einem Vertrag, der somit ihre Willkür,
Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat...
Gegen das Prinzip des einzelnen Willens ist an den Grundbegriff zu erin­
nern, daß der objektive Wille das an sich in seinem Begriffe Vernünftige ist,
ob es von Einzelnen erkannt und von ihrem Belieben gewollt werde oder
nicht, — daß das Entgegengesetzte, die Subjektivität der Freiheit, das Wis­
sen und Wollen, das in jenem (Rousseauschen - A. W.) Prinzip allein
festgehalten ist, nur das eine, darum einseitige Moment der Idee des ver­
nünftigen Willens enthält, der dies nur dadurch ist, daß er ebenso an sich
als daß er für sich ist.«26
Hegel insistiert darauf, daß das Modell autonom Verträge schlie­
ßender Privatleute nur eine begrenzte Gültigkeit, und zwar im
Rahmen eines bereits konstituierten Staates, hat. Es taugt daher
nicht, um dessen normativen Ordnungen eine letzte Geltungs­
grundlage zu verschaffen. Diese normativen Ordnungen gehen
vielmehr in ihrem Geltungsanspruch notwendigerweise über das
von den partikularen Interessen und der subjektiven Einsicht »na­
türlicher« Individuen her Begründbare immer schon hinaus.
In diesem Argument kommt zunächst einmal sicherlich eine
wichtige Einsicht Hegels zum Ausdruck: Eine Sphäre des ab­
strakten Rechts, d. h. eine Gesellschaft autonom miteinander Ver­

i' träge schließender Privatleute, konnte sich allererst im Medium


eines bereits durch Institutionen geregelten gemeinsamen Lebens
i; konstituieren - sich gleichsam aus ihm herausdifferenzieren. Der
1 i, »Naturzustand« des modernen Naturrechts, das sieht Hegel, be­
r, zeichnet in Wirklichkeit den geschichtlichen Zustand einer von
den Fesseln des Feudalsystems und des Absolutismus emanzipier­
ten bürgerlichen Gesellschaft.
Das bedeutet aber zweierlei: (1) Ein durch politische Institutionen
garantierter Rechtszustand ist die Bedingung der Möglichkeit
einer allgemein gewordenen Rechts- und Vertragsfähigkeit der In­
dividuen wie einer dauerhaften Geltung von Verträgen. (2) Der in
den Vertragskonstruktionen des Naturrechts unterstellte »natür-

26 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (im folgenden:


Rph), Werke in zwanzig Bänden (Hg. E. Moldenhauer und K.M. Mi­
chel), Bd. 7, Frankfurt 1970, § 258.

122
liehe« — d. h. vorpolitische — Mensch ist, sowohl was seine instru­
mentelle Rationalität als auch was seine Motivationsstruktur
anbetrifft, eine nur innerhalb bestimmter Grenzen sinnvolle theo­
retische Fiktion: eine Fiktion, die gewonnen ist durch Abstrak­
tion von jenen umfassenden Lebenszusammenhängen rechtlicher,
politischer, religiöser und moralischer Art, in die auch der Eigen­
tümer der bürgerlichen Gesellschaft eingebunden bleibt und die
ihn als vertragsfähigen Eigentümer erst hervorbringen. Eine sol­
I
che Fiktion kann aber weder historisch noch geltungslogisch zur
Grundlage einer das Eigentum garantierenden staatlichen Ord­
nung gemacht werden. Dann muß aber auch der »Zweck« eines
Staates, der diesen Namen verdient, über die bloß partikularen
Zwecke der Individuen qua Eigentümer immer schon hinausge­
hen.
Mit anderen Worten: Der »Zweck« des Staates läßt sich nicht un­
ter Rekurs auf die Zwecke und Interessen wrpolitischer Indivi­
duen rekonstruieren. Zwar gehört es zu den Funktionen insbe­
sondere des modernen Staates, eine Rechtssphäre zu garantieren,
die eine gleiche »Freiheit der Willkür« für alle Individuen qua
Eigentümer ermöglicht; aber diese Funktion wird mißverstanden,
wenn man sie nicht im Zusammenhang sieht mit der fundamenta­
leren Funktion des Staates, ein gutes und gerechtes Leben für die
Individuen als moralisch Handelnde und als Staatsbürger zu er­
möglichen. Deshalb ist der seine privaten Zwecke verfolgende und
darin anerkannte und beschützte Bourgeois zwar ein Produkt des
modernen Staates, er ist aber nicht die ganze Wahrheit dieses Staa­
tes. Dieser wäre nichts als die Wiederherstellung des Naturzu­
standes, ginge er nicht in seinen institutionellen Strukturen über
das von den Privatinteressen der Individuen her Einsehbare im­
mer schon hinaus. Aus diesem Grunde kann man diese Indivi­
duen nicht zu letzten Bezugspunkten einer Konstruktion des im
Staate zu realisierenden vernünftigen Allgemeinen machen; viel­
mehr ist es die im Staate realisierte konkrete Sittlichkeit, die allein
ein vernünftiges Leben der Individuen - und als dessen Moment
eine gleiche »Freiheit der Willkür« für alle - ermöglichen kann.
Die in den Vertragskonstruktionen des Naturrechts zum Aus­
druck kommende »atomistische« Auffassung des Staates ist nun
freilich für Hegel nicht einfach »falsch«; Hegel gesteht vielmehr
zu, daß die atomistische Auffassung gesellschaftlicher Beziehun­
gen ein der Struktur der modernen bürgerlichen Gesellschaft

123
notwendig anhaftender Schein sei. Diese Interpretation des Na­
turrechts als des theoretischen Ausdrucks eines der Struktur der
bürgerlichen Gesellschaft anhaftenden »notwendigen Scheins«
sollte von Marx in einer charakteristischen Weise im Sinne einer
7deo/ogiekritik des Naturrechts radikalisiert werden. Was Marx
als notwendigen Schein analysiert, ist freilich nicht mehr nur der
atomistische Charakter gesellschaftlicher Beziehungen in der mo­
dernen bürgerlichen Gesellschaft, sondern zugleich deren Inter­
pretation im Sinne einer Grundnorm der Freiheit und Gleichheit;
was für Marx hinter der erscheinenden Oberfläche dieser Gesell­
schaft als deren tragender Grund sichtbar gemacht werden muß,
ist daher nicht mehr ein die Gegensätze versöhnender Staat, son­
dern die wahre Form dieser Gegensätze: nämlich eine antagonisti­
sche Beziehung zweier sozialer Klassen (s. unten Anschn. vm).
Der letzte Hinweis enthält bereits einen Vorgriff auf spätere Über­
legungen. Ich möchte zunächst noch einmal zurückfragen, wie­
weit die eben erläuterten Argumente Hegels gegen naturrechtliche
Vertragskonstruktionen des Staates Kants explizit normative Re-
interpretation dieser Konstruktionen treffen. Sicherlich gibt es bei
Kant kein Gegenstück zu den Hegelschen Einsichten in den
strukturellen Zusammenhang zwischen Recht, Moralität und Sitt­
lichkeit, und damit in den geschichtlich-intersubjektiven Charak­
ter gesellschaftlicher Lebensprozesse. Was aber den entscheiden­
den Punkt der bisher erörterten Argumente Hegels anbetrifft, so
kann man schwerlich sagen, daß sie sich nicht auch im Kantischen
Bezugssystem formulieren ließen. Für Kant ist ja der »Zweck« des
Staates die Etablierung und Sicherung einer universalistischen
Rechtsordnung; ein Zweck, der sich auf die partikularen Zwecke
einer Vielzahl von Eigentümern nicht reduzieren läßt, der viel­
mehr durch Prinzipien praktischer Vernunft a priori den Indivi­
duen aufgegeben ist.27 Dabei benutzt Kant die Fiktion des
Gesellschaftsvertrages, um die normative Idee einer »reinen Re­
publik«, das heißt letztlich die Idee einer zwanglosen gemeinsa­
men Willensbildung aller Bürger, zu explizieren. Es geht ihm in
diesem Zusammenhang weder um die Rekonstruktion der Entste­
hung staatlicher Institutionen noch um eine geltungslogische Re­
duktion ihres normativen Anspruchs auf die partikularen Interes­
sen »natürlicher« Einzelner. Vielmehr geht es ihm um ein a priori

27 Vgl. I. Kant, Ȇber den Gemeinspruch .. Werke, Bd. vi, S. 144.

124
zu postulierendes Resultat der menschlichen Gattungsgeschichte
im Sinne einer allgemein konsensfähig gewordenen Rechtsord­
nung. Flierbci sollte man übrigens nicht vergessen, daß die Idee
11
des Gesellschaftsvertrages in den bürgerlichen Republiken seiner I I
Zeit ja bereits den Status einer institutionellen Fiktion gewonnen
hatte; sie war gleichsam historisch wirksam geworden in dem
Sinne eines in den republikanischen Verfassungen sich nieder­ i
schlagenden - wie immer auch nur fingierten - Einverständnisses
autonomer Bürger über eine vernünftige Organisation ihres ge­
meinsamen Lebens.
Obwohl nicht zu bestreiten ist, daß Kant die »Vernünftigkeit« des
Staates von der Vernünftigkeit der einzelnen Individuen her kon­
struiert — insofern mag man seine Auffassung »atomistisch« nen­
nen - scheinen die bisher erörterten Hcgelschcn Argumente seine
Position nicht wirklich zu treffen. Nur geht es freilich Hegel um
mehr als bloß um eine Kritik naturrechtlicher Begründungen mo­
derner demokratischer bzw. (im Kantischen Sinne) republikani­
scher Staatsauffassungen; es geht ihm um den Nachweis, daß in
diesen Staatsauffassungen - d. h. in der politischen Interpretation
naturrechtlicher Prinzipien als solcher - ein fundamentales Miß­
verständnis der Funktion und des möglichen Geltungsbereichs
solcher Prinzipien zum Ausdruck kommt. Es geht ihm, kurz ge­
sagt, um eine Kritik an der politischen Idee demokratischer
Selbstbestimmung eines Volkes. Ich möchte versuchen, die ent­
sprechenden Argumente Hegels gleichsam aus dem System der
Rechtsphilosophie herauszulösen und zu unseren bisherigen Be­
trachtungen in Beziehung zu setzen.

VH.

Man könnte Hegels Überlegungen zunächst einmal folgenderma­


ßen paraphrasieren: Die Idee einer durch die Einsicht und den
Willen der einzelnen Individuen »hindurchgehenden« oder sich
vermittelnden Vernünftigkeit des Staates (d. h. für Hegel die
Wahrheit des aufklärerisch-republikanischen Prinzips im Natur­
recht) kann nur gedacht werden als die konkrete Sittlichkeit eines
organisch in sich gegliederten Staates, dessen Vernünftigkeit als
ein dem subjektiven Bewußtsein immer schon Gegenüberstchen-
des und es gleichsam Konstituierendes von diesem erst nachträg-

i*5 : j
lieh als Geist von seinem Geiste anerkannt werden kann. Das
subjektive Bewußtsein kommt gegenüber der konkreten Vernünf­
tigkeit und Sittlichkeit des Staates immer schon zu spät - das
gehört zu seinem Begriff als dem eines einzelnen Individuums: Es
kann sich diese Vernünftigkeit daher zwar durch Einsicht zu eigen
machen; es kann sie aber nicht aus sich hervorzubringen bean­
spruchen.
Hat man aber erst einmal die staatlichen Institutionen anstelle der
einzelnen Individuen als den Ort konkreter Vernünftigkeit be­
stimmt, so liegt es nahe, das Postulat einer politischen Gleichheit
als Bürger, und damit das Postulat, daß alle ein gleiches Recht
haben sollten, an der Beratung und Beschließung der gemeinsa­
men Angelegenheiten teilzunehmen, als eine »leere Abstraktion
des Verstandes« zurückzuweisen. Was für Hegel an diesen Postula-
ten wahr ist, ist, daß die Individuen im Staat sich in ihren beson­
deren Interessen sollen befriedigt finden können und daß nichts für
sie gelten solle, was sie nicht als gültig einsehen können. Versteht
man die Postulierung dieser »Grundrechte« der Bürger im moder­
nen Staat aber im Sinn einer Forderung nach demokratischen For­
men der Machtkonstitution und Machtkontrolle, so liegt dem in
Hegels Augen wiederum der gedankenlose Mißbrauch eines Mo­
dells zugrunde, das allein auf der Ebene des abstrakten Rechts sinn­
voll ist: des Modells einer Vielzahl vereinzelter Individuen, die ein
gleiches Recht haben, ihre jeweils zufälligen und partikularen
I'' Zwecke zu verfolgen und im Rahmen dieser Zwecke miteinander
zu Vereinbarungen zu kommen. Wollte man dies Modell zur
Grundlage der staatlichen Organisation machen, so bedeutete dies
die Auslieferung des Staates an partikulare Interessen und subjekti­
ve Willkür, so wie sie für die Individuen im Rahmen jenes Modells
charakteristisch sind. »Demokratische Willensbildung« setzt so­
mit für Hegel die Herauslösung der Individuen aus genau jenen in­
stitutionellen Zusammenhängen voraus, in denen sich so etwas wie
vernünftige Autonomie erst konstituieren könnte. Solchermaßen
auf ihre eigene Partikular!tat zurückgeworfen, wären die Individu­
en aber unfähig geworden, einen vernünftigen Allgemeinwillen ge­
meinsam hervorzubringen. Das praktische Ergebnis könnte nur
Chaos oder Terror sein.
In dem Fehler der naturrechtlichen Vertragsthcorien des Staates
steckt für Hegel somit zugleich das proton pseudos der demokra-
tichen Gleichheitspostulate: nämlich die Reduktion des vernünf-

116

I;
11
tigen Gesamtwillens, der sich im Staate manifestiert, auf die
Partikularität der Einzelwillen. Die fortdauernde Differenz zwi­
schen beiden bleibt für Hegel eine ontologische Notwendigkeit.
»Bei der Freiheit muß man nicht von der Einzelheit, vom einzelnen Selbst­
bewußtsein ausgehen, sondern nur vom Wesen des Selbstbewußtscins,
denn der Mensch mag es wissen oder nicht, dies Wesen realisiert sich als
selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen nur Momente sind:
es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist, sein Grund ist die
Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft.«28
Nun möchte ich die hier stilisiert wiedergegebenen Argumente
Hegels nicht in ihrem systematischen Kontext diskutieren. Ich .■

möchte vielmehr eine indirekte Methode wählen und drei Teilargu­


mente isolieren, die von diesen systematischen Überlegungen ab­
gedeckt werden und die ihrerseits diesen Überlegungen erst ihren
präzisen Sinn im Rahmen einer am Ende konservativen Staatsphi­
losophie geben. Im Zusammenhang der gegenwärtigen Untersu­
chung verdienen sie es, voneinander unterschieden zu werden.
(1) Mit dem ersten Argument verweist Hegel auf die spezifische
Komplexität moderner Staaten sowie auf den Umstand, daß durch
die Emanzipation der Individuen im neuzeitlichen Staate das Pro­
blem einer Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem eine —
verglichen etwa mit antiken Republiken - qualitativ neue Bedeu­
tung erhält. »Tugendhafte Gesinnung« - für Hegel, der sich auf
Montesquieu beruft, das »Prinzip der Demokratie« - reicht näm­
lich bei einem »ausgebildeten Zustand der Gesellschaft« nicht
mehr als Prinzip des Staates aus; es bedarf vielmehr einer in Insti­
tutionen objektivierten Vernunft, um die freigewordenen und

I
t
auseinanderstrebenden »Mächte der Besonderheit« mit dem allge­
meinen Zweck des Staates zu versöhnen. Institutionelle Garantien
dafür, daß Einsicht in das objektiv Notwendige und Kompetenz ■
I
in Sachfragen in staatlichen Angelegenheiten zur Geltung kom­
men, gibt es aber unter diesen Umständen nur, wenn Elemente
der Selbstverwaltung und der Repräsentation - deren Wichtigkeit
Hegel keineswegs abstreitet — gleichsam »balanciert« werden
durch eine starke staatliche Administration, die das Allgemein­
interesse vertritt. In diesem Sinne polemisiert Hegel gegen die
naturrechtlich-demokratische Interpretation repräsentativer Kör­
perschaften; insbesondere gegen die Ansicht,

18 Rph, § 258, Zusatz.

127
»daß die Abgeordneten aus dem Volk oder gar das Volk es am besten
verstehen müsse, was zu seinem Besten diene, und daß es den ungezweifelt
besten Willen für dieses Beste habe. Was das erstere betrifft, so ist vielmehr
der Fall, daß das Volk, insofern mit diesem Worte ein besonderer Teil der
Mitglieder eines Staates bezeichnet ist, den Teil ausdrückt, der nicht weiß,
was er will. Zu wissen, was man will, und noch mehr, was der an und für
sich seiende Wille, die Vernunft, will, ist die Frucht tiefer Erkenntnis und
Einsicht, welche eben nicht Sache des Volks ist ... die höchsten Staatsbe­
amten haben notwendig tiefere und umfassendere Einsicht in die Natur
der Einrichtungen und Bedürfnisse des Staats sowie die größere Geschick­
lichkeit und Gewohnheit dieser Geschäfte und können ohne Stande das
Beste tun .. ,«2’
Man kann diese Argumentation Hegels, wie ich meine, auf zwei
verschiedenen Stufen der Allgemeinheit diskutieren, auf denen sie
ein jeweils unterschiedliches Gewicht erhält. Auf der ersten Stufe,
die zunächst die von Hegels eigener Analyse und daher auch die
der traditionellen marxistischen Kritik ist, erhalten seine Argu­
mente ihr Gewicht von seiner Analyse des abstrakten Rechts bzw.
der bürgerlichen Gesellschaft her. Auf dieser Stufe verlangt eine
Kritik der Hegelschen Argumente eine Kritik seiner Rezeption
des Naturrechts durch eine Kritik der politischen Ökonomie (s.
dazu unten unter (3) sowie Abschn.vtn). Auf diesem Wege hat
schon Marx Hegels konservative Schlußfolgerungen ad absurdum
geführt. Auf einer zweiten Stufe könnte man Hegels Argumente
lesen als Teil eines frühen Versuchs, das für »moderne« Gesell­
schaftssysteme charakteristische Spannungsverhältnis zwischen
Tendenzen individueller Emanzipation und demokratischer
Selbstverwaltung einerseits und solchen administrativer Zentrali­
sierung und Steuerung andererseits, theoretisch zu bewältigen.
Mir scheint, daß Hegels Argumente allein auf dieser Stufe der
Verallgemeinerung heute noch von Interesse sein könnten. Im­
merhin handelt es sich hier um ein Systemproblem moderner
Gesellschaften, das noch nirgendwo auf der Welt zugunsten de­
mokratischer Formen der Machtkonstitution und Machtkontrolle
gelöst worden ist. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man He­

i gels Argumente (zusammen mit den unter (2) zu diskutierenden


Argumenten) als den Versuch werten, eine Art »Sinnlosigkeitsver­
dacht« gegen radikal-demokratische Ideologien zu begründen
(nicht ganz unvergleichbar gewissen Argumenten, wie sie heute

29 Rphy § 30t.
I 128
im Rahmen von systemtheoretischen Analysen der Gesellschaft
vorgebracht werden). Wollte man Hegels Argumente auf dieser
Stufe der Allgemeinheit diskutieren, so müßte man ersichtlich zu­
nächst einmal einen angemessenen theoretischen Kontext bereit­
stellen; es liegt auf der Hand, daß ich das im Rahmen dieses
begrenzten Rekonstruktionsversuches nicht einmal versuchen
kann.
(2) Das zweite Argument Hegels richtet sich gegen eine »ab­
strakte« und »atomistische« Auffassung des Verhältnisses zwi­
schen Individuum und Staat in demokratischen Konzeptionen
einer Gesetzgebung durch das Volk. Gegenüber solchen Auffas­ I
sungen insistiert Hegel darauf, daß der »konkrete Staat« ein
organisch »in seine besonderen Kreise gegliedertes Ganze(s)« ist;
in einem solchen »Staatsorganismus« kann der Einzelne niemals
nur als Einzelner in Erscheinung treten, sondern immer nur als
Mitglied eines Standes, einer Gemeinde, einer Korporation usw.
So heißt es z. B. im § 303 der Rechtsphilosophie'.
»Dies geht gegen eine andere gangbare Vorstellung, daß, indem der Privat­
stand zur Teilnahme an der allgemeinen Sache in der gesetzgebenden
Gewalt erhoben wird, er dabei in Form der Einzelnen erscheinen müsse,
sei es, daß sie Stellvertreter für diese Funktion wählen oder daß gar selbst
jeder eine Stimme dabei exerzieren solle. Diese atomistische, abstrakte
Ansicht verschwindet schon in der Familie wie in der bürgerlichen Gesell­
schaft, wo der Einzelne nur als Mitglied eines Allgemeinen zur Erschei­
nung kommt. Der Staat aber ist wesentlich eine Organisation von solchen
Gliedern, die für sich Kreise sind, und in ihm soll sich kein Moment als
eine unorganische Menge zeigen. Die Vielen als Einzelne, was man gern
unter Volk versteht, sind wohl ein Zusammen, aber nur als die Menge -
eine formlose Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementa­
risch, vernunftlos, wild und fürchterlich wäre.«
Konsequenterweise kritisiert Hegel die Auffassung, die Abgeord­
neten der Stände seien als Repräsentanten von »Einzelnen« bzw. li
»einer Menge« anzusehen,30 um schließlich jede neuzeitlich-de­
mokratische Auffassung von Repräsentation überhaupt in Frage
zu stellen: »Das Repräsentieren hat damit auch nicht mehr die
Bedeutung, daß einer an der Stelle eines anderen sei, sondern das
Interesse selbst ist in seinem Repräsentanten wirklich gegenwär­
tig, so wie der Repräsentant für sein eigenes objektives Element da

30 Rph, § 311.

129
ist.«31 Dementsprechend wird die Wahl der Repräsentanten ent­
weder »etwas Überflüssiges« oder aber es »reduziert sich auf ein
geringes Spiel der Meinung und der Willkür«.32
Es scheint mir klar, daß Hegels Argumentation seine konservati­
ven Schlußfolgerungen keineswegs rechtfertigt. Halbwegs plausi­
bel erscheinen diese bloß, solange man von Hegels zugleich
kritischer und affirmativer Analyse des »Verlusts der Sittlichkeit«
in der bürgerlichen Gesellschaft ausgeht und seine von daher be­
gründete Kritik an der bürgerlich-repräsentativen Demokratie
gleichsam in umgekehrter Richtung zu Ende zu denken versucht.
In diesem Falle bedeutet die Kritik an der »abstrakten« und
»atomistischen« Auffassung der Individuen qua Staatsbürger die
Kritik an der Verwechslung von Bourgeois und Citoyen. Da ich
auf die Bedeutung von Hegels Analyse der bürgerlichen Gesell­
schaft für seine Demokratie-Kritik weiter unten noch zu sprechen
komme (s. unter (3)), möchte ich auf diese, gleichsam historisch­
spezifische Interpretation seines Arguments hier nicht weiter ein­
gehen. Es bleibt dann noch ein verallgemeincrbarer Kern des
Arguments übrig, das sich jetzt etwa so formulieren ließe: Kollek­
tive Willensbildungsprozesse, die den Anspruch auf Vernünftig­
keit erheben, können - zumindest unter Bedingungen komplexer
Gesellschaften - nur im Rahmen eines Systems von Institutionen
stattfinden, das immer auch ein System abgestufter kollektiver
Identitäten und Zugehörigkeiten bzw. ein System differentieller
IF Rechte sein muß. Das ließe sich auch so formulieren: Die Idee,
daß alle einzeln, als Gleiche und Freie, jeweils zusammenkom­
men, um über die gemeinsamen Angelegenheiten zu beraten und
vernünftig zu entscheiden, stellt eine »leere Abstraktion des Ver­
I,
standes« dar, nicht in dem Sinne, daß sie eine schlechte empirische
Realität gegen sich hat, sondern im Sinne einer Begriffsverwir­
rung. Während es nämlich für den Gedanken abstrakter Rechts­
gleichheit ein mögliches empirisches Modell gibt - die Eigentums­
ordnung der bürgerlichen Gesellschaft -, gibt es für eine
konsequent zu Ende gedachte Idee demokratischer Gleichheit
kein mögliches empirisches Modell; jeder Versuch, diese Idee zu
realisieren, muß daher in Chaos und Terror enden.
Mir scheint dieser Gedanke Hegels ebenso richtig wie irreführend
J
J 31 A.a.O.
32 A.a.O.

130
zu sein. Richtig ist er, sofern er auf den kategorialen Unterschied
zwischen einem - man möchte sagen: transzendentalen - Prinzip
demokratischer, d. h. zwangloser kollektiver Willcnsbildung und
seinen möglichen Institutionalisierungen verweist. Falsch ist er,
sofern er ein prinzipielles Argument gegen demokratische For­ !
men der Machtkonstitution und Machtkontrolle im modernen
Staat darstellcn soll; Hegels Argumente gegen eine »atomistisch«
verstandene Demokratie ließen sich, wie mir scheint, ebensogut
zugunsten eines »organisch gegliederten« Rätesystems wenden I
wie zugunsten einer konstitutionellen Monarchie preußischen
Zuschnitts.
(3) Das stärkste Argument für seine Kritik an naturrechtlichen
Demokratievorstellungen gewinnt Hegel schließlich aus seiner
Analyse der bürgerlichen Gesellschaft. Mit dieser Analyse bezieht
Hegel eine eigentümlich ambivalente Stellung zur Tradition des
Naturrechts und zur bürgerlichen Revolution. Einerseits sieht er
nämlich in der Positivierung des Naturrechts in der bürgerlichen
Gesellschaft die Verwirklichung allgemeiner Menschenrechte (vgl.
§ 209: »der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude,
Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist«) und ineins da­
mit die Verwirklichung des Prinzips »der selbständigen in sich
unendlichen Persönlichkeit« wie des Rechts auf »selbständige
Entwicklung der Besonderheit.«33 Andererseits aber sieht er
deutlicher als die Naturrechtsthcoretiker vor ihm, daß die bürger­ i
liche Gesellschaft einer wahrhaften Versöhnung von Besonderem
und Allgemeinem, d. h. von partikularem Interesse und dem
Zweck eines vernünftig geordneten, gemeinsamen Lebens der
Bürger, von sich aus nicht fähig ist. Diese Zwiespältigkeit Hegels
- oder vielmehr die von ihm diagnostizierte Zwiespältigkeit der
bürgerlichen Gesellschaft - ist der Grund dafür, daß er auf der
einen Seite nicht ansteht, die Errungenschaften der bürgerlichen
Revolution zu feiern, um sich doch auf der anderen Seite einer
politischen Interpretation des Naturrechts im Sinne einer demo­
kratischen Selbstregierung der Bürger, so wie sie als Verbindung
von Menschen mit Bürgerrechten in der amerikanischen und fran­
zösischen Revolution proklamiert wurde, zu verweigern. Der
»Verlust der Sittlichkeit«,34 als der die bürgerliche Gesellschaft

33 Rph, § 18$.
34 Vgl. Rph, § 181.

»31
auch erscheint, kann nämlich in Hegels Augen nur durch die sub­
stantielle Sittlichkeit eines von dem Bewegungsprinzip dieser
Gesellschaft unabhängigen und sie gleichsam umgreifenden und
in sich aufhebenden Staates kompensiert werden.
Da die bisher erörterten Argumente Hegels ihren genauen Stellen­
wert innerhalb seiner politischen Theorie erst auf dem Hinter­
grund seiner Analyse der bürgerlichen Gesellschaft gewinnen,
möchte ich die eigentümliche Ambivalenz dieser Analyse noch
etwas verdeutlichen. Die bürgerliche Gesellschaft, so betont He­
gel, leistet eine Vermittlung von Besonderheit und Allgemeinheit
auf der Ebene der »Verständigkeit«. Die Individuen dieser Gesell­
schaft sind wesentlich »Privatpersonen, welche ihr eigenes Inter­
esse zu ihrem Zwecke haben«.35 Die Verfolgung dieses Zweckes
hat aber das Allgemeine einer rechtlich abgesicherten Eigentums­
ordnung zur Bedingung. Dies Allgemeine erscheint freilich den
Bürgern lediglich als ein Mittel »zum Zweck des Besonderen«.36
Hiermit ist die strategische Ausgangsposition der naturrecht­
lichen Vertragskonstruktionen von Hobbes bis Locke bezeichnet.
Der durch den Gesellschaftsvertrag konstituierte Rechtszustand
erscheint als ein Mittel im Interesse der Sicherung von Leben und
Eigentum jedes Einzelnen. Indem aber das »Prinzip der Beson­
derheit« sich auf diese Weise »für sich zur Totalität entwickelt«37
- und zwar in dem doppelten Sinne, daß die »Anderen« nur noch

I’
I•
»Mittel zum Zweck des Besonderen« sind und daß diese antago­
nistische Beziehung der Individuen zueinander universell wird -,
I• geht es zugleich »in die Allgemeinheit über«. Allein in dieser,
gleichsam aus ihm herausgebrachten Allgemeinheit, so fügt Hegel
hinzu, hat das »Prinzip der Besonderheit« seine »Wahrheit und
das Recht seiner positiven Wirklichkeit.«38 Die Wahrheit ist
nämlich, daß eine solche Reduktion des Allgemeinen auf seine für
die partikularen Zwecke der Individuen instrumentelle Funktion
ein bloßer Schein ist - freilich ein der bürgerlichen Gesellschaft
notwendig anhaftender Schein.39 In Wahrheit ist das »Interesse
der Idee« an diesem universell gewordenen System der Selbst­
sucht ein Interesse, das freilich
jj Rph, § 187.
36 Rph, § 182.
37 Rph, § 186.
38 Rph, § 186.
39 Vgl. Rph, § 181, Zusatz.


33 2
»nicht im Bewußtsein dieser Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft als
solcher liegt, ... der Prozeß, die Einzelheit und Natürlichkeit derselben
durch die Naturnotwendigkeit ebenso als durch die Willkür der Bedürf­
nisse zur formellen Freiheit und formellen Allgemeinheit des Wissens und
Wollens zu erheben, die Subjektivität in ihrer Besonderheit zu bilden.»40
Was den Individuen gleichsam ohne ihr Wissen und Wollen ge­
schieht, ist, daß in den Sphären der Kultur, der Wissenschaft und !
des Rechts die Intersubjektivität allgemeiner Gesichtspunkte und
Standards und damit die Reziprozität einander als Gleicher Aner­
kennender in sie hincingcbildet wird. »Verständigkeit« ist der
1
Titel für diese in der bürgerlichen Gesellschaft wirklich werdende
»Form der Allgemeinheit«.41 Zwar dürfen wir in ihr nicht schon
die »Wirklichkeit der sittlichen Idee« sehen; aber doch ist sie de­
ren Voraussetzung.
Nun müßte Hegel eigentlich unterstellen, daß der Schein eines
»instrumentellen« Nutzens der bürgerlichen Rechtsordnung für
die partikularen Zwecke der Individuen die bürgerliche Gesell­
schaft als ganze durchdringt - wenn anders der Legitimitätsan­
spruch dieser Rechtsordnung in den Augen der von ihr Betrof­
fenen auf Dauer eine Grundlage haben soll. Er müßte also
unterstellen, daß durch die zum gesellschaftlichen System gewor­
dene Selbstsucht aller, und zwar gleichsam hinter dem Rücken der
Individuen, zugleich - aufs Große und Ganze gesehen - das Wohl
aller befördert wird.
Indes wird Hegels Analyse an diesem Punkt zweideutig. Er
schwankt nämlich insgeheim, wie ich meine, zwischen zwei ver­
schiedenen Modellen der emanzipierten bürgerlichen Tauschge­
sellschaft, deren eines auf die klassische, politische Ökonomie
zurück-, deren anderes auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie
vorverweist. Auf der einen Seite steht ein Konkurrenzmodell ar­
beitender Eigentümer, die, indem sie allesamt nur für die Befrie­
digung der eigenen Bedürfnisse tätig sind, zugleich wechselseitig
die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse der anderen hervor­
f
bringen. Auf der anderen Seite steht das Modell einer Klassenge­
sellschaft, in der die Produktion von Reichtum und Luxus auf der
einen Seite mit der Erzeugung von Armut und Elend auf der an­
deren Seite verbunden ist und die, wie Hegel dann auch sagen

40 Rph, § 187.
41 A.a.O.

>33 b !
K0
wird, »durch diese ihre Dialektik ... über sich hinausgetrieben«
wird.42
Im Sinne des ersten Modells könnte man etwa die folgenden Äu­
ßerungen Hegels verstehen:
»In dieser Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedi­
gung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur
Befriedigung der Bedürfnisse aller andern um, - in die Vermittlung des
Besonderen durch das Allgemeine als dialektische Bewegung, so daß, in­
dem jeder für sich erwirbt, produziert und genießt, er eben damit für den
1
Genußn der 1
übrigenJ produziert
!
und■ L_ 43
erwirbt.«43
Hier denkt man unwillkürlich an die »invisible hand« Adam
Smiths, auf den Hegel dann auch an anderer Stelle verweist: dort
nämlich, wo er vom »Verstand« als der für die bürgerliche Gesell­
schaft charakteristischen Form der Allgemeinheit gleichsam in
objektiver Wendung spricht, nämlich im Sinne des »in ihr wirksa­
men und sie regierenden Verstand(es)«.44 Dieser in der bürger­
lichen Gesellschaft »regierende Verstand« erlaubt es, sie durch
Aufspüren ihrer allgemeinen Bewegungsgesetze wissenschaftlich
zu erfassen. Hinter der scheinbaren Regellosigkeit und Willkür
einzelner, durch Selbstsucht bestimmter Handlungen der Indivi­
duen steht die Notwendigkeit allgemeiner, wissenschaftlich erfaß­
barer Gesetze: die bürgerliche Gesellschaft ist die Sphäre formel­
ler Allgemeinheit auch darin, daß sie möglicher Gegenstand einer
r Gesetzeswissenschaft ist. Den Status dieser Wissenschaft, der
»Staatsökonomie«, vergleicht Hegel mit der Newtonschen Him­
melsmechanik.45 Wenn Hegel im gleichen Paragraphen von dem
Verstand als dem »Scheinen der Vernünftigkeit in dieser Sphäre
der Endlichkeit« spricht, so dürfen wir das, wie ich meine, im
Sinne aller drei bisher erörterten Aspekte der für die bürgerliche
Gesellschaft charakteristischen »formellen Allgemeinheit« verste­
hen:
(1) im Sinne einer Bildung der Subjektivität zur formellen Allge­
meinheit in den Sphären des Rechts, der Wissenschaft und der
Kultur; (2) im Sinne einer Vermittlung des Wohles aller durch die
Selbstsucht der Einzelnen; (3) im Sinne der Erkennbarkeit der

42 Rph, § 246.
43 RPh< § '99-
44 Rph, § 189.
4$ Vgl. Rph, § 189, Zusatz.

134
G .
Bewegungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft durch eine no-
mologisch verfahrende Verstandeswissenschaft. Dieses »Scheinen
der Vernünftigkeit« entkräftet auf der einen Seite den Schein einer
bloß antagonistischen Beziehung der Individuen zueinander im
»System der Bedürfnisse«; auf der anderen Seite erzeugt cs freilich
zugleich den Schein eines sich selbst bereits als Vernunft aufspie­ i
lenden Verstandes.
Dieser letztere Schein wird nun aber in dem zweiten Modell der
i
bürgerlichen Produktionsweise, das bei Hegel angelegt ist, schon
durch die interne Dynamik dieser Produktionsweise in Frage ge­
stellt. In diesem Modell kann nämlich von einer Vermittlung des
Wohles aller durch die Selbstsucht der Einzelnen nicht mehr die
Rede sein; die Idee einer solchen Vermittlung nimmt vielmehr
■I
jetzt - so könnte man sagen - den Charakter eines ideologischen
Scheins an. So sagt Hegel etwa: 1
»Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit
befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung
und Industrie begriffen. - Durch die Verallgemeinerung des Zusammen­
hangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für
diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der
Reichtümer — denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte
Gewinn gezogen - auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Ver­
einzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die
Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse ,..«46
Hegel weist auch bereits darauf hin, daß die Integration einer pau-
perisierten industriellen Reservearmee in den bürgerlichen Pro­
duktionszusammenhang nach dessen eigener Logik nicht mehr
möglich ist. »Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Über­
maße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug
ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt,
dem Übermaße an der Erzeugung des Pöbels zu steuern.«'17 Hier
erhält Hegels Diktum, der bürgerlichen Gesellschaft als einem
»System der Bedürfnisse« hafte ein »Rest des Naturzustands« an,
eine neue Bedeutung, denn es hängt offenbar von der sozialen
i
Position der Einzelnen ab, ob sie ihr »besonderes Wohl« im
Kampfe aller gegen alle mit Aussicht auf Erfolg besorgen können.
Schon aufgrund der internen Dynamik der bürgerlichen Produk-

46 Rph, § 243.
47

'35
tionsweisc bedarf es daher einer »öffentlichen Macht«,48 die
allein dafür Sorge tragen kann, daß nicht nur die »Sicherheit der
Person und des Eigentums«, sondern auch die »Sicherung der
Subsistenz und des Wohls des Einzelnen, - daß das besondere
Wohl als Recht behandelt und verwirklicht sei.«49
Die zuletzt zitierten Passagen der Rechtsphdosophie machen be­
reits deutlich, daß für Hegel eine politische »Verlängerung« der
bürgerlichen Gesellschaft in einen naturrechtlich konzipierten
Staat schon unter Gesichtspunkten materieller Gerechtigkeit frag­
würdig erscheinen mußte. Wenn nämlich das die bürgerliche
Rechtsordnung tragende partikulare Interesse der Eigentümer am
Schutz des Eigentums sich als partikulares Interesse auch in dem
Sinne erwies, daß seine Durchsetzung mit der Erzeugung einer
Klasse von Nicht-Eigentümern unvermeidlich zusammenhing,
dann war von den im demokratischen Staat zu politischen Bür­
gern sich aufschwingenden Bourgeois eine Versöhnung von Be­
sonderem und Allgemeinem nicht einmal im Sinne einer Vertre­
tung gemeinsamer materieller Interessen zu erwarten, geschweige
denn im Sinne einer Verwirklichung substantieller Sittlichkeit.
In Hegels Analyse bleibt die bürgerliche Gesellschaft eine un­
überschreitbare letzte Etappe in der Emanzipationsgeschichte der
Menschheit. Gerade darum bedarf sie der »Aufhebung« in einem
von ihrem Interessenantagonismus unabhängigen Staat, der der in
ihr verletzten Vernunft zu ihrem Recht verhilft. Diese Aufhebung
der bürgerlichen Gesellschaft in der substantiellen Sittlichkeit des
Staates konnte Hegel bezeichnenderweise freilich nur an einem
weltgeschichtlich bereits anachronistischen Staate - der konstitu­
tionellen Monarchie Preußens — exemplifizieren. Die von den
Bürgern nicht kontrollierte Gewalt dieses Staates bleibt, den In­
tentionen Hegels entgegen, das Signum einer Aufhebung, die
nicht dialektisch, sondern gewaltsam ist. Erst Marx sollte einen,
der Hegelschen Analyse kongenialen, alternativen Weg beschrei­
I ten, indem er die Kritik bereits auf jener Ebene ansetzte, auf der
Hegel noch gutgläubig die Tradition des Naturrechts fortgesetzt
hatte: derjenigen des abstrakten Rechts.
f Versuchen wir zu resümieren: Von Hegels Argumenten gegen eine
demokratisch verstandene Volkssouveränität bleibt - bringt man

48 Rph, § 235.
49 Rph, § 230.

i; 136
einmal die auf seiner Analyse der bürgerlichen Gesellschaft basie­
renden Motive in Abzug - vor allem jenes Argument zurück, mit
dem er den Verfechtern demokratischer Forderungen eine bc-
griffsblindc »Subjcktivicrung« der Idee einer Verwirklichung von
Freiheit und Vernunft im Staate vorwirft. Immanent ließe sich
dieser Einwand nur im Systemzusammenhang der Hcgelschen
Philosophie diskutieren. Ich gehe aber davon aus, daß geschicht­
liche Erfahrungen seit der Zeit Flegels den Gedanken einer im
Staate objektiv gewordenen Vernunft, deren bloße Momente oder
Akzidenzien die Individuen sind, und damit zugleich Hegels spe­
kulative Überwindung des aufklärerischen und naturrechtlichen
»Subjektivismus« so nachhaltig diskreditiert haben, daß, systema­
tisch gesehen, nur einer der zwei folgenden Wege noch offen­
bleibt: Entweder wir erkennen Hegels Kritik als zwingend an,
verabschieden aber damit zugleich die Idee einer Verwirklichung
praktischer Vernunft im gesellschaftlichen Zusammenleben der
Menschen; nicht so sehr, weil eine schlechte Wirklichkeit sich
unseren Idealen nicht fügt, sondern eher, weil uns ein lange Zeit
unbemerkter »transzendentaler Schein« in der Tiefengrammatik
unserer Sprachen endlich bewußt geworden wäre - ein transzen­
dentaler Schein, der die europäischen Aufklärer bis hin zu den
Marxisten dazu verführte, einem Trugbild nachzujagen. Oder
aber wir versuchen, das Wahrheitsmoment im aufklärcrisch-na-
turrechtlichen »Subjektivismus« gegenüber der Hcgelschen Kritik
neu zu bestimmen und damit zugleich die Hegelsche Einsicht in
den geschichtlich-intersubjcktiven Charakter praktischer Ver­
nunft in eine, wie auch immer hermeneutisch gebrochene, Kanti-
sche Perspektive zurückzuholen.
Nach den bisherigen Erörterungen versteht sich von selbst, daß
J
ich den zweiten Weg für den richtigen halte. Bevor ich aber in
diesem Sinne an die Überlegungen des vorigen Abschnitts an­
knüpfe, möchte ich mich, wie bereits angekündigt, der Marxschen
Kritik des Naturrechts zuwenden.

137

\L
VIII.

Marx’ Kritik der politischen Ökonomie soll hier erörtert werden


unter dem Gesichtspunkt einer Kritik naturrechtlichcr Denkwei­
sen als der Legitimationsform bürgerlicher Klassenherrschaft,
d. h. also unter dem Gesichtspunkt einer Ideologiekritik am
Naturrecht. Die Marxsche Kritik an der Ideologie des Äquivalcn-
tentausches läßt sich nämlich zugleich verstehen als Kritik an
der Legitimationsfunktion des im Naturrecht behaupteten Zu­
sammenhangs zwischen Freiheit, Gleichheit und Privateigentum.
Dieser Zusammenhang, das zeigt Marx’ Analyse der »Tiefen­
struktur« des Äquivalententausches, ist ebenso real wie schein-
haft. Er bestimmt daher nicht zufällig das Selbstverständnis der
revolutionären Bourgeoisie; als ein mit den materiellen Grundla­
gen der bürgerlichen Gesellschaft verbundener »notwendiger
Schein« stellt er vielmehr die naturgegebene Legitimationsbasis
der bürgerlichen Klassenherrschaft dar.
Die Kritik der politischen Ökonomie destruiert diesen ideologi­
schen Schein, der dem Zusammenhang zwischen Freiheit, Gleich­
heit und Privateigentum anhaftet, durch eine zugleich nach drei
Richtungen vorgetriebene Analyse der kapitalistischen Produk­
tionsweise; entsprechend dem in den bürgerlichen Theorien im­
mer schon angelegten Zusammenhang zwischen der Auffassung
der Struktur, der Genese und der Entwicklungsperspektiven dieser
Produktionsweise. Gegenüber den Theorien des modernen Na­
turrechts und der klassischen politischen Ökonomie bedeutet das
'i bei Marx freilich zugleich eine radikale Htslorisierung der bürger­
lichen Produktionsweise; mit dem Schein der Gerechtigkeit wird
dieser Produktionsweise zugleich der Schein der Natürlichkeit ge­
nommen. So gelingt es Marx nachzuweisen, daß das kapitalisti­
sche System in allen drei Zeitdimensionen - hinsichtlich seiner
gegenwärtigen Struktur, seiner Vorgeschichte und seiner Ent­
wicklungsmöglichkeiten - nicht bloß zufälligerweise, d. h. aus
externen Gründen, von jener Norm gewaltfreier Intersubjektivi­
tät abweicht, als deren Realisierung das Marktmodell eines freien
I Tauschverkehrs zwischen rechtlich gleichgestellten Privateigentü-
i mern den bürgerlichen Theoretikern gegolten hatte. Marx zeigt
nämlich dreierlei: (1) Ein auf Tauschbeziehungen zwischen Pri­
vateigentümern basierendes System allgemeiner Freiheit und
Gleichheit setzt notwendig die Ausbeutung der Lohnarbeit durch

138
I:
das Kapital voraus; es stellt daher - seinem ideologischen An­
spruch zum Trotz - eine Form der Klassenherrschaft dar. (2) Die
Entstehung der »ursprünglichen Akkumulation« kann nicht als
die Geschichte einer friedlichen Aneignung der Natur durch ar­
beitende Individuen und eines gewaltlosen Austausches ihrer i I
Arbeitsprodukte verstanden werden; sie ist vielmehr wesentlich
eine Geschichte gewaltsamer Expropriation, der Plünderung und
des Betrugs, kurz, eine Geschichte sozialer und politischer Ge­
walt. (3) Ihrer internen Logik nach führt die Entfaltung der
kapitalistischen Produktionsweise nicht etwa zu einer Vermitt­
lung des Wohles aller durch die Selbstsucht der Einzelnen, son­
dern zu einem sich verschärfenden Klassengegensatz zwischen
Kapitalisten und Proletariern, zu ökonomischen Krisen und zur
Verelendung der Arbeiter.
Da die erste der angeführten Thesen das Zentrum der Marxschcn
Kritik am Naturrecht bezeichnet, möchte ich sic etwas ausführ­
licher erläutern. Dabei müssen wir zunächst festhaltcn, daß Marx
den Zusammenhang zwischen Freiheit, Gleichheit und Eigentum
keineswegs bestreitet; er erkennt ihn vielmehr zunächst als einen
durchaus realen und notwendigen Zusammenhang an, um erst in
späteren Schritten der Analyse den eigentümlichen ScZteincharak-
ter dieses Zusammenhangs bloßzulegen. Ich möchte das durch ein
längeres Zitat aus den Grundrissen verdeutlichen, aus dem auch
hervorgeht, wie eng und gleichsam affirmativ Marx zunächst an
Hegels Analyse des abstrakten Rechts bzw. der bürgerlichen Ge­
sellschaft anknüpft:
»In der Tat«, so heißt es bei Marx, »soweit die Ware oder die Arbeit nur
noch als Tauschwert bestimmt ist, und die Beziehung, wodurch die ver­
schiedenen Waren aufeinander bezogen werden, als Austausch dieser
Tauschwerte gegeneinander, ihre Gleichsetzung, sind die Individuen, die
Subjekte, zwischen denen dieser Prozeß vorgeht, nur einfach bestimmt als
Austauschende. Es existiert absolut kein Unterschied zwischen ihnen, so­
weit die Formbestimmung in Betracht kommt, und dies ist die ökonomi­
sche Bestimmung, die Bestimmung, worin sie in dem Verkehrsverhältnis
zueinander stehen; der indicator ihrer gesellschaftlichen Funktion oder
gesellschaftlichen Beziehung zueinander. Jedes der Subjekte ist ein Aus­
tauschender; d. h. jedes hat dieselbe gesellschaftliche Beziehung zu dem
anderen, die das andere zu ihm hat. Als Subjekte des Austausches ist ihre
Beziehung daher die der Gleichheit. Es ist unmöglich, irgendeinen Unter­ I
schied oder gar Gegensatz unter ihnen auszuspüren, nicht einmal eine
Verschiedenheit. Ferner die Waren, die sie austauschen, sind als Tausch-

■39


werte Äquivalente oder gelten wenigstens als solche ... Die Subjekte sind
im Austausch nur füreinander durch die Äquivalente, als gleichgekende
und bewähren sich als solche durch den Wechsel der Gegenständlichkeit,
worin das eine für andere ist. Da sie nur so als Gleichgeltende, als Besitzer
von Äquivalenten und Bewahrer dieser Äquivalenz im Austausch fürein­
ander sind, sind sie als Gleichgeltende zugleich Gleichgültige gegeneinan­
der; ihr sonstiger individueller Unterschied geht sie nichts an; sie sind
gleichgültig gegen alle ihre sonstigen individuellen Eigenheiten. Was nun
den Inhalt angeht außerhalb dem Akt des Austausches, der sowohl Setzen
als Bewähren der Tauschwerte wie der Subjekte als Austauschender ist, so
kann dieser Inhalt, der außerhalb der ökonomischen Formbestimmung
fällt, nur sein: (i) die natürliche Besonderheit der Ware, die ausgetauscht
wird. (2) Das besondere natürliche Bedürfnis der Austauschenden, oder

I
beides zusammengefaßt, der verschiedene Gebrauchswert der auszutau­
schenden Waren. Dieser, der Inhalt des Austausches, der ganz außerhalb
seiner ökonomischen Bestimmung liegt, so, weit entfernt die soziale
Gleichheit der Individuen zu gefährden, macht vielmehr ihre natürliche
Verschiedenheit zum Grund ihrer sozialen Gleichheit... Soweit nun diese
natürliche Verschiedenheit der Individuen und der Waren derselben (Pro­
dukte, Arbeit etc. sind hier noch gar nicht verschieden; sondern existieren
nur in der Form von Waren ...) ... das Motiv bilden zur Integrierung
dieser Individuen, zu ihrer gesellschaftlichen Beziehung als Austau­
schende, worin sie sich als Gleiche vorausgesetzt sind und bewähren^
kommt zur Bestimmung der Gleichheit noch die der Freiheit hinzu. Ob­
wohl das Individuum A Bedürfnis fühlt nach der Ware des Individuums B,
bemächtigt es sich derselben nicht mit Gewalt, noch vice versa, sondern sie
erkennen sich wechselseitig an als Eigentümer, als Personen, deren Willen
ihre Waren durchdringt. Danach kommt hier zunächst das juristische Mo­
ment der Person herein und die Freiheit, soweit sie darin enthalten ist.
Keines bemächtigt sich des Eigentums des anderen mit Gewalt, jedes ent­
äußert sich dessen freiwillig. Aber dies ist nicht alles: Das Individuum A
dient dem Bedürfnis des Individuums B vermittels der Ware a, nur inso­
( fern und weil das Individuum B dem Bedürfnis des Individuums A
vermittels der Ware b dient und vice versa. Jedes dient dem anderen, um
sich selbst zu dienen; jedes bedient sich des andren wechselseitig als seines
Mittels ... Damit ist also die vollständige Freiheit des Individuums ge­
setzt: Freiwillige Transaktion; Gewalt von keiner Seite; Setzen seiner als
Mittel, oder als dienend, nur als Mittel, um sich als Selbstzweck, als das
Herrschende und Übergreifende zu setzen; endlich das selbstsüchtige In­
! teresse, kein darüberstehendes verwirklichend; der andre ist auch als
ebenso sein selbstsüchtiges Interesse verwirklichend anerkannt und ge­
wußt, so daß beide wissen, daß das gemeinschaftliche Interesse eben nur in
der Doppclseitigkeit, Vielfältigkeit und Verselbständigung nach den ver­
schiedenen Seiten, der Austausch des selbstsüchtigen Interesses ist. Das

140

i
5 Hj
allgemeine Interesse ist eben die Allgemeinheit der selbstsüchtigen Inter­ i
essen. Wenn also die ökonomische Form, der Austausch, nach allen Seiten
hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der Inhalt, der Stoff, individueller
wie sachlicher, der zum Austausch treibt, die Freiheit. Gleichheit und
Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwer­
ten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive,
reale Basis aller Gleichheit und Freiheit.***
Diese Analyse des Zusammenhangs zwischen Freiheit, Gleich­
heit, Eigentum und Äquivalententausch klingt, wie schon ange­
deutet, beinah wie eine Rekapitulation Hegclscher Analysen. Und
so wie im Zentrum der Hegeischcn und auch schon der Kanti- I
schen Behandlung des Naturrechts, ein, wie Kant es ausdrückte,
»intellektueller Begriff« des Geldes auftaucht, fügt Marx an der
angegebenen Stelle wenig später hinzu: »Da das Geld erst die Rea­
lisierung des Tauschwertes ist, und erst bei entwickeltem Geldsy­
stem das System der Tauschwerte sich realisiert hat oder umge­
i
kehrt, so kann das Geldsystem in der Tat nur die Realisierung
dieses Systems der Freiheit und Gleichheit sein.«51
Marx bestimmt nun freilich den »Schein«-Charakter dieses Sy­
stems der Freiheit und Gleichheit in anderer Weise als Hegel:
Nicht die selbstsüchtige Beziehung der Individuen zueinander ist
der Schein, der diesem System mit Notwendigkeit anhaftet;
»scheinhaft« sind vielmehr die Zwanglosigkeit und Gerechtigkeit
des Äquivalententausches selber. Soweit dieser nämlich den Aus­
tausch lebendiger Arbeitskraft gegen geronnene Arbeit betrifft,
d. h. soweit sie die Tauschbeziehung zwischen freien Lohnarbei­
I
tern und Kapitalisten betrifft, in welcher die lebendige Arbeits­
kraft zum Gebrauchswert für die Produktion von Tauschwerten
wird, versteckt sich — das zeigt Marx durch seine Radikalisierung
der Arbeitswerttheorie - unter der Oberflächenform des Äquiva­
lententausches eine Beziehung ganz anderer Art: eine Beziehung
nämlich, die durch die Aneignung fremder Arbeit ohne Austausch
charakterisiert ist. Das soll nun nicht etwa bedeuten, daß der
Äquivalententausch in der bürgerlichen Gesellschaft entgegen
dem Anschein doch nicht vollkommen realisiert ist; Marx zeigt
vielmehr, daß gerade durch die Ausbildung des Äquivalcntentau-
sches zur beherrschenden Form gesellschaftlicher Beziehungen
50 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974,
S. 152-156.
51 A.a.O., S. 157.

141

L 1
die entschädigungslose Aneignung fremder Arbeit durch die Ei­
gentümer von Kapital zur Notwendigkeit wird. Der Äquivalen­
tentausch kann sich als gesellschaftliches System nur realisieren,
indem er die Negation jener Voraussetzungen hervorbringt, von
denen er seine legitimatorische Funktion im bürgerlichen Natur­
recht bezogen hatte: nämlich die Negation des Zusammenhangs
von Arbeit und Eigentum. Der Äquivalententausch realisiert sich
als gesellschaftliches System, sobald das Privateigentum die Form
des industriellen Kapitals annimmt; das Kapital kann sich aber <t/s
Kapital nur konstituieren und reproduzieren, indem cs den
Nichteigentümer hervorbringt.
-Dieser Austausch von Äquivalenten geht vor, ist nur die oberflächliche
Schicht einer Produktion, die beruht auf der Aneignung fremder Arbeit
ohne Austausch, aber unter dem Schein des Austausch*. Dieses System des
Austauschs beruht auf dem Kapital als seiner Grundlage, und, wenn es
getrennt von ihm betrachtet wird, wie es sich an der Oberfläche selbst
zeigt, als selbständiges System, so ist dies bloßer Schein, aber ein notwen­
diger Schein. Es ist daher nicht länger zu verwundern, daß das System der
Tauschwerte-Austausch von durch die Akte gemessenen Äquivalenten-
umschlägt oder vielmehr als seinen versteckten Hintergrund zeigt A»erg-
nung fremder Arbeit ohne Austausch, völlige Trennung von Arbeit und
Eigentum. Das Herrschen nämlich des Tauschwerts selbst und der Tausch­
werte produzierenden Produktion unterstellt fremdes Arbeitsvermögen
selbst als Tauschwert - d. h. Trennung des lebendigen Arbeitsvermögens
von seinen objektiven Bedingungen; Verhalten zu denselben — oder zu
seiner eigenen Objektivität - als fremdes Eigentum; Verhalten zu densel­
ben in einem Wort als Kapital.«52
Die Realisierung des auf Eigentum und Äquivalentcntausch basie­
renden Systems der Freiheit und Gleichheit ist somit zugleich,
und notwendigerweise, die Realisierung eines Systems der Aus­
beutung und Ungleichheit; die Ausbildung des Privateigentums
zur alles beherrschenden Grundlage der gesellschaftlichen Bezie­
hungen ist zugleich die Produktion einer Klasse von Nichteigen-
tümem.
Von dieser Marxschen Kritik der Ideologie des Äquivalenten-
tauschs her läßt sich der Hegelschen Relativierung der bürger­
lichen Gesellschaft eine durchaus ironische Pointe abgewinnen.
Im Paragraphen 181 der Rechtsphilosophie, betitelt Ȇbergang der
Familie in die bürgerliche Gesellschaft«, spricht Hegel von der

$2 A.a.O., S. 409.

142
bürgerlichen Gesellschaft als dem Zustand »verlorener« Sittlich­
keit, um dann diesen Verlust der Sittlichkeit als einen »Schein« zu
charakterisieren. Im Zusatz heißt cs:
»Jetzt aber tritt das Verhältnis ein, daß das Besondere das erste für mich
bestimmende sein soll, und damit ist die sittliche Bestimmung aufgehoben.
Aber ich bin eigentlich darüber im Irrtum, denn indem ich das Besondere
festzuhalten glaube, bleibt doch das Allgemeine und die Notwendigkeit
I
l !I’
R
des Zusammenhangs das Erste und Wesentliche: ich bin also überhaupt
auf der Stufe des Scheins, und indem meine Besonderheit mir das Bestim­
mende bleibt, das heißt der Zweck, diene ich damit der Allgemeinheit,
welche eigentlich die letzte Macht über mich behält.« ■

Dies Allgemeine aber, dem die selbstsüchtigen Individuen in der


bürgerlichen Gesellschaft gleichsam in unfreiwilliger Selbstlosig­
keit dienen, ist - das erweist Marx’ Kritik des Äquivalententau­
sches - nicht der sittliche Lebenszusammenhang des Staates,
sondern der Reproduktionsprozeß des Kapitals.
Nun wäre freilich zu fragen: In welchem Sinne trifft denn eigent­
lich die Marxsche Analyse, insbesondere seine Erklärung der
Mchrwertproduktion das Legitimationssystem der bürgerlichen
Gesellschaft? Ich war davon ausgegangen, daß Marx’ Theorie, so­
weit sie Ideologiekritik ist, als Entfaltung der inneren Widersprü­
che zwischen Anspruch und Wirklichkeit der bürgerlichen Ge­
sellschaft gelesen werden kann. Zu fragen wäre also, inwiefern
denn von einem solchen Widerspruch — anders als etwa im Sinne
theorie-immanenter Widersprüche der älteren politischen Öko­
nomie - die Rede sein kann, wenn doch die für die Produktion des
Mehrwerts notwendige unbezahlte Aneignung fremder Arbeit
weder gegen die Prinzipien des »abstrakten Rechts« noch gegen
die des Äquivalententauschcs verstößt? Hier könnte man ja ein­
wenden, daß Marx die bürgerliche Gesellschaft an einer Gerech­
tigkeitsnorm mißt, die nicht die ihre ist; so daß etwa seine Kritik
insgesamt von dem Hegelschen Verdikt über solche materiellen
Gerechtigkeitspostulate betroffen wäre, die sich - Ausgeburten
eines »leeren Verstandes« - an die Stelle der allein sinnvollen for­
mellen Glcichheitspostulate des abstrakten Rechts zu setzen ver­
suchen.
An dieser Stelle muß daran erinnert werden, daß ja erst Hegel die
Freiheit und Gleichheit der Eigentümer von der politischen Frei­
heit der Bürger gleichsam »abzutrennen« versuchte, während für
das in den bürgerlichen Revolutionen wirksam gewordene Natur-

»43

1
recht gerade die Verbindung der privatrechtlichen mit der politi­
schen Freiheit und Gleichheit kennzeichnend war. Das bedeutet
aber - wie wir am Beispiel Kants sehen daß im bürgerlichen
Legitimationssystem das »Marktmodell« freier Eigentümer von
dem »Diskursmodell« frei und öffentlich diskutierender und de­
mokratisch entscheidender Bürger nicht zu trennen ist - wenn
freilich auch das letztere Modell durch das erstere in einem ent­
scheidenden Punkte eingeschränkt bleibt. Das »Marktmodell« der
Freiheit und Gleichheit bezieht überhaupt seine eigentümliche
ideologische Sprengkraft erst aus der Verbindung mit dem, was
Habermas den »prozeduralen Legitimationstypus der Neuzeit«
genannt hat. Das ist ja eigentlich auch der Sinn der Vertrags­
konstruktionen des Naturrechts. Von daher gesehen leben aber
naturrechtliche Legitimationen der emanzipierten bürgerlichen
Gesellschaft von der Unterstellung, daß die bürgerliche Eigen­
tums- und Produktionsordnung als das Resultat einer freien
Übereinkunft aller zu Eigentümern bestimmten Produzenten -
das heißt in letzter Instanz: aller Bürger - zumindest gedacht wer­
den könne. Das ist auch der Grund, weshalb in naturrechtlichen
Eigentumstheorien von Locke bis Hegel die Frage des »ursprüng­
lichen Erwerbs« bedeutungsvoll wird; die dem Tauschverkehr der
Eigentümer ursprünglich zugrunde liegende Entstehung und Ver­
teilung des Eigentums bedarf nämlich selbst noch einmal der
h'; Rechtfertigung. Noch in demjenigen Unterabschnitt des ersten
Teils der Hegelschen Rechtsphilosophie, der über die »Besitz­
I; nahme« handelt, taucht dieses Legitimationsproblem der natur­
rechtlichen Eigentumstheorien wieder auf; hieran wird aber
deutlich, daß selbst bei Hegel das abstrakte Recht noch nicht
gänzlich aus dem Begründungs- und Legitimationszusammen­
hang der naturrechtlichen Vertragstheorien herausgefallcn war.
Wir dürfen somit unterstellen, daß die naturrechtlichc Legitima-
tionsform der bürgerlichen Waren- und Tauschgesellschaft von
einer Interpretation ihrer historischen Genese — wie übrigens auch
von einer Interpretation ihrer historischen Folgen - im Sinne eines
materiellen Gerechtigkeitsprinzips nicht abgelöst werden kann.
John Locke hat diesen Zusammenhang am klarsten und zugleich
naivsten formuliert. Im 5. Kapitel seines Second Treatise on Go­
vernment postuliert er den ursprünglichen Zusammenhang zwi­
schen Arbeit und Privateigentum. Die ursprüngliche Form des
I1 Äquivalententausches wäre dementsprechend der Austausch von
1

144
!
5 . ”

Arbeitsprodukten zwischen zwei gleichermaßen produzierenden


Eigentümern gewesen. Für den Ursprung der Ungleichheit des
Eigentums gibt Locke zwei verschiedene Gründe an: (1) Die
Menschen sind von Natur aus nicht gleichermaßen fleißig und
rational; obwohl nun aber die Erde und ihre Früchte den Men­
H
schen von Gott gemeinsam gegeben worden sind, geschah dies 1
doch nicht in der Absicht, daß die Faulen auf Kosten der Fleißigen
leben sollten; sondern »he gave it to the use of the industrious and
rational - and labor was to bc his title to it - not to the fancy or
covetousness of the quarrelsome and contcntious.«55 (2) Durch
die Einführung des Geldes - nach Locke eine stillschweigende
Vereinbarung, einem Stück Metall einen gewissen (Tausch-)Wert
beizumessen - wurde es sinnvoll und legitim, Eigentum über das
Maß des vom Eigentümer Konsumierbaren hinaus zu akkumulie­
ren. Es wurde sinnvoll, weil Geld nicht - wie andere Naturpro­
dukte—seinen »Gebrauchswert« durch natürliche Verrottung mit
der Zeit verliert; und es wurde legitim, weil die Akkumulation
von Reichtum zu einer Kultivierung des Landes und einer Ratio­
nalisierung der Arbeit führte derart, daß - wie Locke im Blick auf
das zeitgenössische Amerika sagt - »a king of a large and fruitful
territory there feeds, lodges, and is clad worse than a day-laborer
in England.«5'1 Dabei setzt Locke bereits voraus, daß der »Wert«
der Gebrauchsdinge so gut wie ausschließlich durch die in ihnen
verausgabte Arbeit hervorgebracht wird;55 aber nur auf der er­
sten Stufe des Naturzustandes entspricht dem eine Proportionali­
tät von tatsächlich verausgabter Arbeit und individuell angeeigne­
tem Eigentum; später wird, durch die Einführung des Geldes,
eine stillschweigende Vereinbarung getroffen, die eine Ungleich­
heit des Eigentums auch unabhängig von diesem natürlichen Maß
der Ungleichheit legitimiert. . II
Demgegenüber zeigt Marx, daß die Quantität der verausgabten 11
Arbeit erst an dem Punkt gesellschaftlich wirklich zum Maße des
Reichtums geworden ist, an dem die Arbeitenden nicht mehr die
Produkte ihrer Arbeit, sondern ihre Arbeitskraft verkaufen, und i
an dem die Eigentümer ihr Eigentum durch die Aneignung frem­
der Arbeit vermehren: an dem Punkt, in Kürze, an dem die
5j J. Locke, Two Treatises of Civil Government, London 1964, S. 132 f.;
deutsch: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt 1977.
54 A.a.O., S. 136.
55 A.a.O.

145

I r
Arbeitskraft zum Gebrauchswert für die Produktion von Tausch­
werten geworden ist. Marx zeigt, mit anderen Worten, daß der in
das Naturrccht eingegangene Zusammenhang zwischen Arbeit,
Privateigentum und Austausch von Äquivalenten erst an dem
Punkte zur beherrschenden gesellschaftlichen Wirklichkeit ge­
worden ist, an dem der Arbeitende zum Nicht-Eigentümer, das
Eigentum zur Nicht-Arbeit und die Beziehung beider aufeinan­
der zur Beziehung zwischen Lohnarbeit und Kapital geworden
ist. Die Trennung des Eigentums von der Arbeit ist somit die lo­
gische und historische Voraussetzung für die Realisierung des im
Naturrecht und in der klassischen politischen Ökonomie postu­
lierten Zusammenhangs von Arbeit und Eigentum. Daraus folgt
aber, daß sich die Genese des bürgerlichen Privateigentums nicht
als Geschichte der Aneignung von Eigentum durch Arbeit und
Tausch rekonstruieren läßt; als einer Geschichte der Trennung
von Arbeit und Eigentum kann ihr vielmehr das Moment der Ge­
walt, des Raubes und der Plünderung, das Marx in ihr nachweist,
nicht äußerlich sein. Das soll heißen: die in der Entstehung der
bürgerlichen Gesellschaft historisch feststellbare Gewalt verliert
den Charakter systematischer (legitimatorischer) Irrelevanz,
wenn in der Struktur der bürgerlichen Produktionsweise ein Mo­
ment fortdauernder Gewalt nachgewiesen werden kann. Der
Schein der »Natürlichkeit«, der dieser Produktionsweise anhaf­
tete, bewirkte unter anderem auch, daß deren wirkliche Vorge­
schichte vergessen werden durfte. Marx rehabilitiert gleichsam die
Erinnerung an die Spuren der Gewalt in der Geschichte der bür­
gerlichen Gesellschaft, indem er das Fortdauern der Gewalt in
ihrer Struktur sichtbar macht. Nur aus diesem Grunde besteht ein
kritisches Verhältnis zwischen Marx’ historischer Rekonstruktion
i vorbürgerlicher Eigentumsformen und Hegels logischer Kon­
struktion des bürgerlichen Eigentumsbegriffs. Nachdem nämlich
die Kritik an der Ideologie des Äquivalcntentausches der Hegel­
sehen Konstruktion und ihrem Legitimationsanspruch den Boden
entzogen hat und nachdem gezeigt worden ist, daß ein politisches
- d. h. ein Herrschafts-Verhältnis bis in die Fundamente des bür­
I gerlichen Privatrechts hineinragt, kann durch die »faktische Ge­
nese« ein in der logischen Konstruktion unterdrücktes Moment
der Gewalt in der Geschichte der bürgerlichen Eigentumsord­
nung namhaft gemacht werden.
Zur ideologischen Rechtfertigung des bürgerlichen Privateigen-
I.

I46
tums gehört die Verschleierung jenes Moments der Gewalt, das in
seine Konstitution eingegangen war. Aus diesem Grund gehört
die »Historisierung« der bürgerlichen Gesellschaft - hier zu­
nächst im Sinne einer Rekonstruktion ihrer Vorgeschichte und
einer Erklärung der »ursprünglichen Akkumulation« - mit zur
Idcologickritik des kapitalistischen Systems. Die einzige Legiti­
mationsmöglichkeit, die diesem System, von hier aus gesehen, I :i
noch bliebe, läge in einer Rechtfertigung seiner historischen Fol­
gen. Nun hat Marx eine entsprechende historische Rechtfertigung
des Kapitalismus durch seine gesellschaftlichen Folgen in der Tat
immer wieder verteidigt; freilich nicht im Sinne der bürgerlichen
Theoretiker, deren Illusionen er vielmehr nachhaltig zerstört: Die
Logik der Kapitalbcwegung erlaubt keine Rückkehr zu einer
Ordnung der Gesellschaft, die zugleich kapitalistisch und gerecht
im Sinne des naturrechtlichen Legitimitätsprinzips einer Verein­
barung Freier und Gleicher wäre. Sie bewirkt vielmehr die Entfes­
selung einer Dynamik von Kapitalkonzentration, Krisen und
Massenelend; einer Dynamik zugleich der Entfaltung von Pro­
duktivkräften, die erst durch die Überwindung der bürgerlichen
Eigentumsordnung unter die rationale Kontrolle des »assoziierten
Produzenten« gebracht werden könnte.

IX.

Die Kritik der politischen Ökonomie zerstört den Schein der Ge­
waltlosigkeit, der dem System des Äquivalententausches und
I
damit zugleich dem bürgerlichen System der Freiheit und Gleich­
heit anhaftet. Versteht man sie in diesem Sinne, d. h. als eine
immanent verfahrende Ideologiekritik der bürgerlichen Gesell­ i
schaft, so läßt sich unschwer dartun, daß sie von der impliziten (
Bezugnahme auf genau jene Idee gewaltloser wechselseitiger An­
erkennung lebt, als deren Realisierung das bürgerliche System der
Freiheit und Gleichheit sich ausgab. Es versteht sich dann von
. I
selbst, daß der von Marx propagierte Kommunismus einer klas­
senlosen Gesellschaft sich aus dem Kritikzusammenhang seiner
Theorie nur verstehen und legitimieren läßt im Sinne einer Über­
bietung und Radikalisierung der bürgerlichen Demokratie, d. h.
Iff

aber im Sinne einer Positivierung eines gleichsam vom Boden des


bürgerlichen Privateigentums losgelösten Naturrechts.
II
147
’ I
I

Nun steckt aber in einer solchen Interpretation von ideologiekri­


tischen Gehalten der Marxschcn Kapitalanalyse ohne Zweifel eine
Vereinfachung. Genaugenommen widerspricht sie sogar dem ex­
pliziten Selbstverständnis des reifen Marx, der sich ja von der
»kritischen Theorie« seiner junghegelianischen Anfänge längst
losgesagt hatte. Normative Voraussetzungen im Sinne eines radi­
kalisierten bürgerlichen Naturrechts, wie sie vom jungen Marx
noch explizit formuliert werden, sind beim späten Marx in
eine spekulativ-geschichtsphilosophische Rahmenkonstruktion
gleichsam abgewandert. Daraus ergibt sich eine höchst problema­
tische »Arbeitsteilung« zwischen empirisch-wissenschaftlicher
I
Kapitalanalyse und Residuen einer spekulativen Geschichtslogik
beim späten Marx: Marx’ - mißlungener - Versuch, die Existenz
I ■
I
einer sowohl objektiven als auch subjektiven Systemschranke des
Kapitalismus wissenschaftlich nachzuweisen,56 ist zugleich ein
mißlungener Versuch, die beiden disparaten Perspektiven mitein­
ander zur Deckung zu bringen, ein mißlungener Versuch, mit
anderen Worten, die revolutionstheorctisch-geschichtsphiloso-
phischen Grundfiguren seiner philosophischen Frühphase empi­
risch-wissenschaftlich einzulösen. Für eine Reflexion auf norma­
tive Voraussetzungen der wissenschaftlichen Analyse selbst bleibt
in einer solchen Konstruktion kein Platz; diese ist objektivistisch
in einem doppelten Sinn: einmal im Sinne einer »wertfreien« em­
pirischen Wissenschaft, zum andern im Sinne einer revolutions­
theoretisch gewendeten spekulativen Geschichtslogik.
Demgegenüber gehe ich von der Voraussetzung aus, daß das nor­
mative Fundament der Marxschen Ideologiekritik am Naturrecht
gegen die objektivistischen Züge seiner Revolutionstheorie erst
wieder zur Geltung gebracht werden muß. Der junge Marx hatte,
wie schon gesagt, die normativen Voraussetzungen seiner kriti­
schen Gesellschaftstheorie noch mehr oder weniger explizit for­
muliert. Zur Verdeutlichung möchte ich aus zwei bekannten
Texten zitieren, aus der Kritik des Hegelschen Staatsrechts und aus
dem Aufsatz Z«rJudenfrage. Da die polemische Stoßrichtung der
beiden Arbeiten verschieden ist, sind auch die Akzente in den
zitierten Passagen verschieden gesetzt: Gegen Hegel argumentiert
Marx für die Demokratie als die »Wahrheit aller anderen Staats-

$6 Vgl. hierzu R. P. Sicferle, Die Revolution in der Theorie von Karl Marx,
Frankfurt 1979.

148
formen«,57 gegen Bruno Bauer polemisiert er gegen die Be-
schränktheit der bürgerlichen Demokratie.58
In der Kritik des Hegelschen Staatsrechts heißt es:
»Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die
Verfassung nicht nur an sich., dem Wesen nach, sondern der Existenz, der
Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen,
das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eigenes Werk gesetzt.
Die Verfassung erscheint als das, was sie ist, freies Produkt des Menschen
... In der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das materielle
Prinzip. Sie ist daher erst die wahre Einheit des Allgemeinen und Beson­
deren ... Es versteht sich übrigens von selbst, daß alle Staatsformen zu
ihrer Wahrheit die Demokratie haben und daher eben, soweit sie nicht die
Demokratie sind, unwahr sind.«59
Demgegenüber macht Marx sich in dem Aufsatz Zur Judenfrage
die Hegelsche Analyse der bürgerlichen Gesellschaft gewisserma­
ßen zu eigen, indem er aber davon ausgeht, daß Hegel das durch
die bürgerliche Revolution hervorgebrachte Verhältnis von Staat
und bürgerlicher Gesellschaft auf den Kopf gestellt hat.
»Die politische Revolution«, so heißt cs dort, »löst das bürgerliche Leben
in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren
und der Kritik zu unterwerfen. Sie verhält sich zur bürgerlichen Gesell­
schaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des
Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehens, als zu einer nicht weiter
begründeten Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis.«60
Was nun diese Naturbasis betrifft, so ist nicht das Fehlen eines
allgemeinen Inhalts, wie Hegel noch sagen konnte, ein »Schein«;
es ist vielmehr so, daß die politische Emanzipation der bürger­
lichen Gesellschaft zugleich die Emanzipation dieser Gesellschaft
»von dem Schein selbst eines allgemeinen Inhalts« ist. Denn »das
politische Gemeinwesen wird jetzt offen »zum bloßen Mittel« zur
Erhaltung der Rechte des Bourgeois,
»der citoyen zum Diener des egoistischen homme erklärt, die Sphäre, in
welcher der Mensch sich als Gemeinwesen verhält, unter die Sphäre, in
welcher er sich als Teilwesen verhält, degradiert, endlich nicht der Mensch
als citoyen, sondern der Mensch als bourgeois für den eigentlichen und f li
wahren Menschen genommen...«61
r 1
H
57 K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: Frühe Schriften, Bd. 1
(Hg. H.J. Lieber und P. Furth) Darmstadt 1962, S. 294.
58 K. Marx, »Zur Judenfrage«, in: Frühe Schriften, Bd. 1, a.a.O., S. 478.
59 K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, a.a.O., S. 293 f.
60 K. Marx, »Zur Judenfrage«, a.a.O., S. 478.
61 A.a.O., S. 475. i
149 ; iS
■» '
Die Bürgerrechte, durch welche scheinbar eine Sphäre freier kol­
lektiver Selbstbestimmung etabliert wird, sind in Wirklichkeit
nichts als ein Mittel zur Erhaltung der Menschenrechte - die aber
ihrerseits nichts sind als Rechte des Menschen, »wie er Mitglied
der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatin­
teresse und seine Privatwillkür zurückgezogen und vom Gemein­
wesen abgesondertes Individuum ist«.62 Daher ist mit der
französischen Revolution »der wirkliche Mensch ... erst in der
Gestalt des egoistischen Individuums, der wahre Mensch erst in
der Gestalt des abstrakten citoyen anerkannt.«63 In dieser Aner­
i kennung des wahren Menschen in der Gestalt des abstrakten
Citoyen steckt gleichwohl ein Versprechen: das Versprechen näm­
lich, daß der Citoyen anstelle des Bourgeois zum wirklichen
Menschen und zur Grundlage des Gemeinwesens werde.
»Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger
in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen
Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnis­
sen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine »forces
propres< als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher
die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft
von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.«64
Nun möchte ich keineswegs behaupten, daß Marx in den hier
zitierten Arbeiten das Problem einer Scheidung der ideologischen
)■ von den emanzipatorischen Gehalten der naturrechtlichen Legiti­
mationsbasis der bürgerlichen Gesellschaft in unzweideutiger

I: Weise gelöst hätte. Gerade indem er nämlich die bürgerliche Ge­


sellschaft noch in eher anthropologisch-moralischen als in ökono­
mischen Kategorien beschreibt, bleibt seine Kritik an der bürger­
lichen Republik und am Status der Menschen- und Bürgerrechte
in den Verfassungen des revolutionären Bürgertums merkwürdig
unscharf: Sie gerät zu einer Kritik des bürgerlichen Egoismus statt
zu einer Analyse der bürgerlichen Klassenherrschaft. Es bleibt
daher auch unklar, welchen politisch-institutionellen Sinn die
Überwindung der Trennung zwischen Bourgeois und Citoyen ha­
! ben könnte im Vergleich zur politischen Form der bürgerlichen
Republik und zu den Grundrechtsgarantien der bürgerlichen Ver-
i
62 A.a.O., S.474.
63 A.a.O., S. 478.
64 A.a.O., S. 479.

150

i
f1
Fassungen. Freilich hätte Marx sich dies Problem in präziser Weise
erst nach Ausarbeitung der Kritik der politischen Ökonomie stel­
len können; es bedurfte einer systematischen Kritik des bürger­
lichen Eigentumsbegriffs, um das Gewebe, das die ideologischen
mit den emanzipatorischen Gehalten des bürgerlichen Legitima­
tionssystems verband, an der richtigen Steile zu durchtrennen. ? *
Aus den oben erwähnten Gründen hat Marx sich dies Problem t-1.»
freilich auch nach Ausarbeitung seiner ökonomischen Theorie
nicht ernsthaft gestellt. Seine objektivistischen Prämissen nötigen
ihn vielmehr, das Problem am Ende zu leugnen. Wo es sich gleich­ ■ i
wohl geltend macht, bedient sich Marx - wie mir scheint - einer :!
höchst problematischen, von ihm selbst nicht durchschauten
Doppelstrategie: Auf der einen Seite spielt er einen »entideologi­ i
sierten« naturrechtlichen Legitimitätsbegriff gegen die bürger­
liche Gesellschaft und ihren Apologeten Hegel aus, um auf der
anderen Seite zugleich einen geschichtsmaterialistisch gewendeten
Hegel gegen die »formalen« Demokratie- und Legitimitätsbe­
griffe des Naturrechts in Anspruch zu nehmen. Wäre diese Ver­
mutung richtig, so bedeutete das, daß Marx die Hcgelsche Kritik
naturrechtlicher Vertragstheorien und die damit verbundene gel­
tungslogische »Relativierung« universalistischer, formaler Rechts­
prinzipien in einer durchaus problematischen Weise mit seiner
eigenen Ideologiekritik des bürgerlichen Naturrechts amalgamiert
hätte. Letztere lebt von Voraussetzungen, die - weil politischen
Interpretationen des Naturrechts verpflichtet - von der Hegel­
sehen Kritik wohl als »leere Abstraktionen des Verstandes« hätten
zurückgewiesen werden müssen; während umgekehrt jene Hegel-
sche Kritik mit der in ihr angelegten Ersetzung eines »formellen«
durch einen »substantiellen« Freiheitsbegriff - wenn man ihr die
liberale Basis eines im Sinne des »abstrakten Rechts« geregelten
J
Tauschverkehrs von Privateigentümern entzieht - schwerlich an­

ders als um den Preis eines geschichtsmetaphysischen Voluntaris­


mus in eine revolutionäre Gesellschaftstheorie integriert werden
könnte. Die Wirkungs- und Interpretationsgeschichte der Marx­
I
sehen Theorie spricht, so meine ich, in der Tat dafür, daß es Marx

I
nicht gelungen ist, das relative Recht — und Unrecht - der Hegel­
sehen Kritik am Naturrecht zu seiner eigenen Ideologiekritik des
Naturrechts in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Hierin

'i
liegt sicherlich einer der Gründe dafür, daß in dem breiten
Spektrum miteinander rivalisierender, auf Marx sich berufender

15 1

■ T
Konzeptionen einer sozialistischen Transformation moderner Ge­
sellschaften auch einigermaßen konträre Positionen - autoritär­
bürokratische ebenso wie radikal-demokratische — relativ pro­
blemlos an Elemente des Manischen Denkens anknüpfen konnten.

X.

Unser Rückblick auf die Rezeption und Kritik des Naturrechts


bei Kant, Hegel und Marx hat gezeigt, daß die Frage nach dem
»rationalen« Kern des Naturrechts bei keinem dieser Autoren
eine befriedigende Antwort findet. Bei Kant, dessen Transforma­
tion des Naturrechts in Vemunftrecht den politischen Intentionen
des aufklärerischen Naturrechts am nächsten kommt, gibt es noch
keinen Versuch einer Scheidung der »rationalen« von den »ideolo­
gischen« Gehalten des Naturrechts; aus diesem Grunde bleibt
sein Versuch einer rationalen Rekonstruktion naturrechtlicher
Prinzipien durch die dogmatische Voraussetzung eines vernunft­
rechtlich nicht einlösbaren Eigentumsbegriffs blockiert. Hegel,
der ebenfalls an dieser Voraussetzung festhält, erkennt zwar, daß
sich auf der Basis des bürgerlichen Eigentumsbegriffs die politi­
schen Intentionen des Naturrechts nicht einlösen lassen; er zieht
aber daraus den fragwürdigen Schluß auf die Unhaltbarkeit dieser
Intentionen und stellt damit am Ende die politischen Errungen­
schaften der bürgerlichen Revolutionen in Frage. Marx schließlich
kehrt die Hegelsche Kritik am Naturrecht gleichsam um, indem er
den ideologischen Charakter der bürgerlichen Trias »Freiheit,
Gleichheit, Eigentum« bloßstellt; dabei entgleitet ihm aber unter
der Hand deren rationaler Kem.
Natürlich bedarf die Unterstellung, die den bisherigen Interpreta­
tionen zugrunde lag, daß sich nämlich aus der Erbmasse des
! modernen Naturrechts so etwas wie ein »rationaler Kern« heraus­
lösen lasse, noch einer eingehenderen Begründung. Immerhin
■i' dürfte aber klar sein, daß es sich hierbei nicht um eine willkürliche
Voraussetzung handelt; diese Voraussetzung bezeichnet vielmehr
einen den Theorien von Kant, Hegel und Marx gemeinsamen Aus­
gangspunkt sowie auch ein diesen Theorien gemeinsames Pro­
blem. Dies Problem bleibt am Ende ungelöst; und dabei läßt sich,
wie die bisherigen Überlegungen gezeigt haben, die Beziehung
zwischen den drei hier erörterten Positionen keineswegs im Sinne

I ■5*
ft !•11 -
eines unzweideutigen Erkenntnisfortschrittes von Kant über He­
gel zu Marx rekonstruieren. Es scheint vielmehr, daß das kritische
Potential dieser drei Positionen zum Naturrecht nur dann voll zur
Geltung kommen würde, wenn man sie wechselseitig aneinander
sich abarbeiten ließe. Die Aufgabe, die sich dann stellte, wäre die
einer »rationalen Rekonstruktion« des Naturrechts von einer Po­
sition her, die sich gewissermaßen als ein gemeinsamer Flucht­
punkt der Theorien von Kant, Hegel und Marx müßte darstellen
lassen.

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'1

>53


II.
Nachmetaphysische Perspektiven

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II

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Wahrheit, Kontingenz, Moderne
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i.

Wenn wir kommunizieren, etwas vortragen oder schreiben, erhe­


ben wir unvermeidlicherweise Wahrheitsansprüche oder - da viel­ i 1:
leicht nicht jeder im Falle von moralischen oder ästhetischen I Hl
Geltungsansprüchen von »Wahrheit« reden möchte - Geltungsan­
sprüche verschiedener Art. Ich habe gerade selbst einen Geltungs­
anspruch erhoben. Wenn ich aber ernsthaft einen Geltungsan­
spruch erhebe, dann erwarte ich, daß jede/r andere gute Gründe
hätte, mir zuzustimmen, vorausgesetzt, sie/er versteht, was ich ge­
sagt habe, und hat genügend Kenntnisse, Kompetenz und Urteils­
kraft etc. In diesem Sinn unterstelle ich, daß der von mir erhobene
Geltungsanspruch ein guter Kandidat für ein intersubjektives Ein­
verständnis ist, das auf guten Gründen beruht. Wenn aber jemand
mit guten Gründen Einwände gegen das erhebt, was ich behaupte,
dann müßte ich meinen Geltungsanspruch zurücknehmen oder
zumindest zugeben, daß Zweifel daran angebracht sind. All dies
scheint ziemlich trivial; aber wie wir wissen, sind es solche Trivia­
litäten, die im Zentrum der interessantesten philosophischen
Kontroversen stehen. Wenn man beginnt darüber nachzudenken,
was ein gutes Argument oder eine überzeugende Erfahrungsevi­ (
denz ist, oder wenn man sich überlegt, aufgrund welcher Kriterien
wir entscheiden können, was ein gutes Argument oder eine über­
zeugende Evidenz ist, dann verliert man leicht den Boden unter
den Füßen; vor allem, wenn man sich klarmacht, wie schwer es
sein kann, in solchen Dingen Einverständnis zu erzielen. Man
könnte etwa die folgende Frage stellen: Angenommen, es gibt ei­
nen unauflösbaren Dissens bezüglich der Möglichkeit, Wahrheits­
i

’!?!
I
ansprüche zu begründen, bezüglich der Standards der Argumen­
tation oder der Überzeugungskraft von Erfahrungsevidenzen -
etwa zwischen Mitgliedern verschiedener sprachlicher, wissen­
schaftlicher oder kultureller »communities« -, dürfen wir dann
l:
gleichwohl unterstellen, daß es - irgendwo - die richtigen Stan­
dards oder Kriterien, d. h. eine objektive Wahrheit mit Bezug auf
die entsprechenden Probleme gibt? Oder sollten wir annehmen,
daß Wahrheit immer »relativ« ist auf bestimmte Kulturen, Spra­
chen, Gesellschaften oder sogar Personen? Die zweite Alternative, I

I57 I
der Relativismus, scheint inkonsistent, während die erste, der
Wahrheits-»Absolutismus«, metaphysische Annahmen zu impli­
zieren scheint. Ich möchte dies die »Antinomie der Wahrheit«
nennen. Während der letzten Jahrzehnte sind beträchtliche philo­
sophische Anstrengungen darauf gerichtet gewesen, diese Antino­
mie der Wahrheit aufzulösen: auf der einen Seite durch Versuche
zu zeigen, daß der Absolutismus keine Metaphysik impliziert, auf
der anderen durch entsprechende Versuche zu zeigen, daß die Kri­
tik am Absolutismus nicht zwangsläufig zum Relativismus führt.
Wichtige Vertreter der ersten Argumentationsstrategie sind
j'i H. Putnam, K. O. Apel und J. Habermas; der vielleicht wichtigste
Vertreter der zweiten Position ist R. Rorty. Ich will an dieser Stelle
nicht auf Derridas Position eingchen, derzufolge Wahrheit ein
hoffnungslos metaphysischer Begriff ist, wobei es aber für Der-
rida keinen direkten Weg aus der Metaphysik gibt, da wir offen­
sichtlich nicht ohne den Wahrheitsbegriff auskommen können.
Demgegenüber stimmen die zuerst genannten Philosophen darin
überein, daß der Wahrheitsbegriff sehr wohl in einem nichtmeta­
physischen und nichtrelativistischen Sinn verstanden werden
kann. Freilich erheben Putnam, Apel und Habermas gegen Rorty
den Vorwurf des Relativismus, während Rorty seinen Kritikern
vorwirft, Metaphysiker zu bleiben. Diese interessante Konstella­
tion zeigt, wie ich glaube, einmal mehr, daß die Antinomie der
Wahrheit sich nicht so einfach auflösen läßt.
Im folgenden werde ich meine eigene Auflösung der Antinomie
vorschlagen, und zwar auf dem Wege einer Kritik an der Art,
in der die Alternativen durch Putnam, Apel und Habermas
einerseits und Rorty andererseits formuliert worden sind. Wenn
man Putnam, Apel und Habermas in einem Atemzug nennt, läuft
man natürlich Gefahr, die erheblichen Differenzen zwischen ih­
ren philosophischen Positionen zu verwischen. Es läßt sich aber
behaupten, daß ihnen eine bestimmte begriffliche Strategie ge­
meinsam ist, die darin besteht, Wahrheit in Begriffen einer »not­
wendigen Idealisierung« zu explizieren. Hierin liegt der Kern

I
ihrer Kontroverse mit Rorty. Die nachfolgende Argumentation
ist ein Versuch, diese Kontroverse neu zu beschreiben.
Putnam hat Wahrheit als rationale Akzeptierbarkeit unter er­
kenntnismäßig idealen Bedingungen1 erklärt; Habermas erläutert
i Putnam, Hilary: Vernunft, Wahrheit, Geschichte, Frankfurt (Suhrkamp)
i; 1982, S. 83. Siehe auch Fußnote 2.
='
i58

i
Wahrheit als Gehalt eines rationalen Konsenses unter Bedingun­
gen einer idealen Sprechsituation.2 Apel schließlich hat zu Recht
darauf hingewicsen, daß Putnams und Habermas’ Erläuterungen
des Wahrheitsbegriffs komplementär sind; denn einerseits muß I
die Idee erkenntnismäßig idealer Bedingungen sich auf eine Ge­
meinschaft von Sprechern beziehen, wenn sie nicht leer oder
metaphysisch werden soll, andererseits kann eine ideale Kommu­
nikationsstruktur allein keine ausreichende Garantie für Wahrheit
n
sein: es muß darüber hinaus sichergestcllt sein, daß die Beteiligten
in einer solchen Kommunikationssituation über die relevanten : |
Argumente und Erfahrungen tatsächlich verfügen. Deshalb hat
Apel versucht, Putnams und Habermas’ Vorstellungen zu kombi­
i |
nieren und Wahrheit als letztgültigen Konsens einer idealen Kom­
munikationsgemeinschaft zu explizieren. In dieser Auffassung
wird das Konsensprinzip der Wahrheit mit einem Peirceschen
Konvergenzprinzip verknüpft, das nicht nur auf naturwissen­
schaftliche Erkenntnis, sondern auch auf moralische und herme­
neutische Wahrheitsansprüche bezogen wird? Charakteristisch
für alle drei Versuche, Wahrheit als rationale Akzeptierbarkeit un­
ter idealen Bedingungen zu explizieren, ist folgendes: die Ideali­
sierungen, auf die die Klärung des Wahrheitsbegriffs angewiesen
zu sein scheint, müssen schon auf der Ebene alltäglicher Kommu-

2 Ursprünglich in: »Wahrheitstheorien*, in: Fahrenbach, Helmut (Hg.):


Wirklichkeit und Reflexion, Pfullingen (Neske) 1973. Wiederabge­
druckt in: Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie
des kommunikativen Handelns, Frankfurt (Suhrkamp) 1984. Vgl. insbe­
sondere S. 174—183. Ich werde weiter unten unterscheiden zwischen
einer »starken« und einer »schwachen« Interpretation der Idee »not­
wendiger Idealisierungen«. Habermas hat ursprünglich einer starken
Interpretation dieser Idee zugeneigt; ich glaube, daß er heute mehr oder
weniger mit der schwachen Interpretation übereinstimmt, die ich hier
verteidigen werde. Ähnliches gilt im übrigen für Hilary Putnam. Vgl.
etwa sein Vorwort zu: Realism with a Human Face, Cambridge, Mass, !i. .
und London (Harvard Univ. Press.) 1990, S.vm. Putnam betont hier ■ i.
ausdrücklich, daß er eine (in meinem Sinne) »starke« Interpretation sei­
ner Idealisicrungsidee niemals vertreten hat.
3 Vgl. insbes. Apel, Karl-Otto: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahr­
heit und Letztbegründung«, in: Philosophie und Begründung (Hg.
Forum für Philosophie Bad Homburg), Frankfurt (Suhrkamp) 1986, ■i
Abschnitt iv.i (S. 139-150) und iv.3 (S. 151-163). Vgl. auch unten Fuß­
note 5.

>59
nikation beziehungsweise des argumentativen Diskurses als wirk­
sam unterstellt werden, und zwar als »notwendige Präsuppositio-
nen«.
Die Idee notwendiger Idealisierungen, die im Wahrheitsbegriff
impliziert sind, soll die Unterscheidung zwischen rationaler Ak­
zeptierbarkeit (oder dem rationalen Konsens) hier und jetzt und
der rationalen Akzeptierbarkeit (oder dem rationalen Konsens)
überhaupt sicherstellen. Es handelt sich also um die Differenz
zwischen Wahrheit überhaupt (Wahrheit im absoluten Sinn) und
dem, wovon wir auf der Grundlage von Argumenten, Kriterien
und Evidenzen, über die wir hier und jetzt verfügen, glauben, daß
es wahr ist (oder darin übereinstimmen, daß es wahr ist). Nun
denke ich, daß sehr wohl eine gewisse Unterscheidung dieser An
zur logischen Grammatik unseres Wahrheitsbegriffs gehört.
Einerseits nämlich können wir Wahrheitsansprüche nur auf der
li Grundlage derjenigen Argumente und Evidenzen rechtfertigen,
über die wir jeweils verfügen, und andererseits können sich unsere
Argumente und Evidenzen im Prinzip immer als ungenügend her­
ausstellen, so daß wir also immer gezwungen sein können, unsere
Wahrheitsansprüche zu revidieren: Der Wahrheitsbegriff impli­
ziert eine notwendige Beziehung zu möglichen Argumenten oder
Evidenzen, auf welche Wahrheitsansprüche sich gründen können,
und er impliziert einen Überschuß über alle Argumente und Er­
fahrungsgründe, über die eine bestimmte Sprachgemeinschaft zu
einer bestimmten Zeit verfügt.
I Es ist die Interpretation eben dieser Differenz zwischen Wahrheit
und rationaler Akzeptierbarkeit durch Putnam, Apel und Haber­
mas, welche Rorty zurückweist.4 Mit anderen Worten, Rorty
weist die Vorstellung von im Wahrheitsbegriff implizierten »not­
wendigen Idealisierungen« zurück, und er kritisiert darüber hin­
aus die These, daß wir notwendigerweise eine Art »Konvergenz«
in unserer Suche nach der Wahrheit annehmen müssen. Was den
zweiten Einwand betrifft, hat Rorty meiner Meinung nach recht.
Ich glaube jedoch, daß wir nur durch eine Reformulierung seines
ersten Einwands über die schlechte Alternative »Objektivismus«

4 Rorty, Richard: »Solidarität oder Objektivität?«, in: ders.: Solidarität


oder Objektivität?, Stuttgart (Reclam) 1988, und: »Pragmatismus, Da­
vidson und der Wahrheitsbegriff«, in: Picardi, Eva, und Joachim Schulte
(Hg.): Die Wahrheit der Interpretation, Frankfurt (Suhrkamp) 1990.

I i6o
i
versus »Relativismus« hinauskommen können, die genau das be­
zeichnet, was ich die »Antinomie der Wahrheit« genannt habe.
Ich möchte im folgenden zeigen, daß die Idee »notwendiger Idea­
lisierungen«, die im Erheben von Wahrheitsansprüchen impliziert
sind, auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden kann: in
einem starken oder »totalisicrenden« und in einem schwachen
oder »lokalisierenden« Sinn. Wenn man die Idee in einem starken
Sinne versteht, wird sic »metaphysisch« (wobei das Wort »meta­
physisch« im Sinne Derridas zu verstehen ist); wenn man sie in
ihrem schwachen Sinn versteht, wird sie unproblematisch und -
wie ich versuchen werde zu zeigen - nicht nur immun gegenüber
Rortys Einwänden, sondern zugleich ein Schlüssel zu einer Auf­
lösung der Antinomie, welche Rortys »ethnozentrischcr« Auflö­
sung überlegen wäre.
Als erstes Beispiel wähle ich Putnams Idcalisierungsthesc. Wenn ! 4
man den Begriff »erkenntnismäßig idealer Bedingungen« vor dem
Hintergrund einer präsupponierten Konvergenz in der Suche
nach Wahrheit versteht, dann, so scheint mir, müssen hiermit Er­
kenntnisbedingungen gemeint sein, unter denen die volle und
ganze Wahrheit zugänglich wäre. Selbst wenn man den Begriff nur
im Sinne einer regulativen Idee verstünde, wäre es doch die Idee
eines absoluten Wissens, d. h. aber die Idee einer Sicht der Welt
gleichsam vom Standpunkt Gottes. Nun hat Apel meiner Mei­
nung nach völlig recht, darauf zu bestehen, daß die im Wahrheits­
begriff implizierte regulative Idee- wenn denn eine impliziert ist-
nicht nur als epistemische, d. h. als eine auf den Fonschritt der
wissenschaftlichen Erkenntnis bezogene Idee verstanden werden
darf.5 Wenn man nämlich die verschiedenen Dimensionen von
Wahrheit oder Geltung berücksichtigt, wenn man zudem berück­
sichtigt, daß Wahrheit immer auf eine Sprachgemeinschaft und die
4
| ii I
Möglichkeit eines rationalen Konsenses in einer solchen Sprach­
gemeinschaft bezogen ist, dann muß sich die im Wahrheitsbegriff
i
;• f
implizierte regulative Idee auf ideale epistemische, moralische und
kommunikative Bedingungen gleichermaßen beziehen. Die regu- >1'
5 Vgl. z. B.: Apel, Karl-Otto: »Szientismus oder transzendentale Herme­
neutik? Zur Frage nach dem Subjekt der Zeicheninterpretation in der
Semiotik des Pragmatismus«, in: ders.: Transformation der Philosophie,
Bd. n: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfun (Suhr­
kamp) 1973, S. zt 5 ff. Ebenda: »Das Apriori der Kommunikationsge­
meinschaft«, S. 429 ff.

i6i
lative Idee, die im Wahrheitsbegriff impliziert ist, wird so zur Idee
eines letzten Konsenses in einer idealen Kommunikationsgemein­
schaft. Hier wird die Idee der vollständigen, der »absoluten«
Wahrheit mit der einer moralisch vollkommenen Ordnung und
der einer vollkommen transparenten Kommunikationssituation
verknüpft. Diese Idee einer idealen Kommunikationsgemein­
schaft ist aber genau in Derridas Sinn metaphysisch, denn wenn
man alle ihre Konsequenzen ausbuchstabiert, wird sie zur Idee
einer Kommunikationsgemeinschaft, die »dem Spiel und der
Ordnung des Zeichens«6 entkommen wäre; zur Idee eines Zu­
stands vollkommener Transparenz, absoluten Wissens und mora­
lischer Vollkommenheit - kurz: einer Kommunikationssituation,
die die Zwänge, die Opazität, die Fragilität, die Temporalität und
die Materialität endlicher menschlicher Kommunikationsformen
hinter sich gelassen hätte. Derrida hat zu Recht darauf hingewie­
sen, daß in solchen Idealisierungen die Bedingungen der Möglich­
keit dessen, was idealisiert wird, negiert werden. Ideale Kommu­
nikation wäre Kommunikation jenseits der Bedingungen der
»differance« - um mit Derrida zu sprechen -, und deshalb Kom­
munikation außerhalb und jenseits der Bedingungen der Möglich­
keit von Kommunikation. Insoweit die Idee der idealen Kommu­
nikationsgemeinschaft jedoch die Negation der Bedingungen
endlicher menschlicher Kommunikation einschließt, impliziert sie
die Negation der naturhaften und historischen Bedingungen
menschlichen Lebens, der endlichen menschlichen Existenz. Ich
denke, Nietzsche hat als erster darauf hingewiesen, daß solche
Ideen am Ende ununterscheidbar werden von der des Nirwanas;
ideale Kommunikation wäre der Tod der Kommunikation. Die
Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft bleibt selbst
dann paradoxal, wenn sie nur als regulative Idee verstanden wird,
der in der Welt nie etwas Wirkliches entsprechen kann; denn es
gehört zum Sinn dieser Idee, daß sie uns darauf verpflichtet, auf
ihre Realisierung hinzuarbeiten. Das Paradoxe daran ist, daß wir
darauf verpflichtet wären, die Realisierung eines Ideals anzustre­
ben, dessen Realisierung das Ende der menschlichen Geschichte
wäre. Das Ziel ist das Ende; diese paradoxale Struktur bringt zum

6 Derrida, Jacques: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs
der Wissenschaften vom Menschen«, in: Die Schrift und die Differenz^
Frankfurt (Suhrkamp) 1976, S. 441.

162

1
■ I

Ausdruck, daß Apcls Erklärung der Wahrheit immer noch meta-


physisch ist. I
Nebenbei sei bemerkt, daß Dcrrida, soweit cs um die im Wahr­
heitsbegriff implizierten notwendigen Idealisierungen geht,
durchaus mit Apel übercinstimmt. Im Unterschied zu Apcl be­
tont er jedoch den metaphysischen Charakter dieser Idealisierun­
gen. Wo Apel ein letztes Fundament unserer Verpflichtung auf
(DIE) Wahrheit sieht, sieht Derrida eine (vorerst) unvermeidliche
I
metaphysische, eine logozentrische Infizierung selbst unserer All­
tagssprache; dies war der Grund seiner Wendung von der Tran­
szendentalphilosophie zur Dekonstruktion. Auch diese Alterna­
tive finde ich nicht überzeugend. Deshalb werde ich eine andere
Lektüre jener »notwendigen Idealisierungen« Vorschlägen, welche
nach Putnam, Apcl und Habermas im Begriff der Wahrheit bzw.
in der wahrheitsorientierten Kommunikation impliziert sind.
Ich will wieder mit Putnam beginnen. Wenn die Idee erkenntnis­
mäßig idealer Bedingungen nicht in jenem totalisierendcn futuri­
schen Sinn verstanden werden kann, den ich oben nahegelegt
habe, dann bleibt als einzig akzeptable Lesart die folgende: Immer
wenn wir Wahrheitsansprüche auf der Grundlage guter Argu­
mente und überzeugender Evidenzen erheben, dann unterstellen
wir die hier und jetzt gegebenen Erkenntnisbedingungen im fol­
genden Sinn als ideal: Wir unterstellen, daß in Zukunft keine
neuen Argumente oder Evidenzen auftauchen werden, die unse­
ren Wahrheitsanspruch infrage stellen würden. Das heißt aber
nichts anderes als zu sagen, daß wir unseren Wahrheitsanpruch für
gut begründet, unsere Argumente für wirklich gut, unsere Evi­
denzen für zwingend halten. Wollte man dies eine Idealisierung
nennen, so wäre es gleichsam eine »performative« Idealisierung;
d. h. eine Idealisierung, die sich wesentlich darin zeigt, daß wir
uns darauf verlassen, daß unsere Gründe und Evidenzen gut oder
überzeugend sind. Und sich darauf verlassen, daß Gründe gut und
Evidenzen überzeugend sind, heißt die Möglichkeit auszuschlie­
ßen, daß sie sich im Lauf der Zeit als problematisch herausstellcn
könnten. Sobald wir aber auf unsere Praxis wahrheitsorientierter
Kommunikation und Argumentation reflektieren, müssen wir na­
türlich einräumen, daß wir nie die Möglichkeit ausschließen kön­
nen, daß neue Argumente oder neue Erfahrunen uns zwingen •b:
könnten, Wahrheitsansprüche zu revidieren. Dieses reflexive Be­
wußtsein der Fallibilität unserer Wahrheitsansprüche könnte auch

163
als Bewußtsein dessen verstanden werden, daß sich die Erkennt­
nisbedingungen, die wir jeweils für ideal halten, am Ende als nicht
ideal herausstellen könnten. Wenn wir weiterhin auf die verschie­
denen Möglichkeiten reflektieren, hinsichtlich derer unsere Wahr­
heitsansprüche infrage gestellt werden können, dann können wir
nun auch zwischen verschiedenen Aspekten der im Erheben von
Wahrheitsansprüchen implizierten »Idealisierungen« unterschei­
den. Was wir sagen, kann z.B. als unklar, vage oder konfus
kritisiert werden; die entsprechende »Idealisierung« besteht
darin, daß wir uns darauf verlassen, daß unsere Sprache klar, ver­
ständlich, »transparent« ist. Oder es könnte unser ganzes Vokabu­
lar, eine Theorie, ein Sprachspiel, einige unserer grundlegenden
begrifflichen Unterscheidungen in Frage gestellt werden: die dieser
Kritik entsprechende »Idealisierung« bestünde in unserem Ver­
trauen darauf, daß die Sprache, die wir sprechen, »in Ordnung«
ist, so wie sie ist. Wenn wir die »notwendigen Idealisierungen« in
diesem performativen Sinn verstehen, dann implizieren sie durch­
aus keinen totalisierenden Vorgriff auf eine zukünftige Realisie­
rung oder Approximation idealer Wissens- oder Kommunika­
tionsbedingungen. Ich möchte vielmehr behaupten, daß die
totalisierenden Vorstellungen einer idealen Grenze des Wissens
oder der Kommunikation nur Resultat einer objektivistischen
Fehldeutung von Idealisierungen ist, welche wesentlich performa-
tiv sind. Die Frage ist natürlich, ob man überhaupt von Idealisie­
p rungen sprechen sollte. Denn eben dieser Begriff der Idealisierung
scheint einen idealen Maßstab oder einen idealen Grenzwert na­
hezulegen, und genau an dieser Stelle entstehen die Verwirrungen,
i auf die ich oben hingewiesen habe. Ich möchte die gerade aufge­
worfene Frage diskutieren, indem ich auf die »pragmatischen«
Idealisierungen eingehe, auf die sich Apel und Habermas konzen­
triert haben, d. h. Idealisierungen, die die intersubjektive Struktur
der Kommunikation und/oder des argumentativen Diskurses be­
treffen.
Ich konzentriere mich auf Habermas’ Begriff der idealen Sprech­
situation, den ich als bekannt voraussetze. Die Idee der Wahrheit
kann nach Habermas nicht von der eines rationalen Konsenses
getrennt werden, wobei ein Konsens rational wäre, wenn er unter
Bedingungen einer idealen Sprechsituation zustandekäme.7 Nun

7 Vgl. jedoch oben Fußnote

164
habe ich bereits Apels These erwähnt, daß der rationale Konsens
in Habermas’ Sinn keine hinreichende Bedingung für Wahrheit
sein kann. Deshalb werde ich Habermas’ Idee nur im Sinne einer
notwendigen Idealisierung diskutieren, die in jeder ernsthaften
Argumentation involviert ist. Auf diese Idee läßt sich nun über­
tragen, was ich früher über Putnams Begriff erkenntnismäßig
idealer Bedingungen gesagt habe: Wenn wir nämlich einen Kon­
sens erzielen, von dem wir glauben, daß er auf guten Gründen
beruht, dann gehen wir natürlich davon aus, daß keine Argumente
unterdrückt worden sind bzw. kein Diskursteilnehmer daran ge­
hindert wurde, relevante Gegenargumente vorzubringen. Auch
hier handelt es sich um eine performative Idealisierung, die sich
prinzipiell immer als falsch herausstellen kann, weil wir retro­
spektiv externe oder interne Zwänge entdecken können, die einige
- oder alle - Sprecher daran hinderten zu sagen, was sie unter
anderen Umständen hätten sagen können. Auch diese Idealisie­
rung würden wir mißverstehen, wenn wir sie als Antizipation
einer idealen Kommunikationssituation (Apels falsche Lesart)
oder wenn wir sie als ideale Norm rationaler Argumentation ver­
stünden, die als »Maßstab« verwendet werden könnte, um die
Rationalität von Konsensen gleichsam von außen zu »messen«. Es
gibt jedoch eine wichtige Differenz zwischen Putnams und Ha­
bermas’ Idealisierungsbegriff: In Diskurssituationen Argumente
zu unterdrücken heißt Menschen zu unterdrücken. Daher stellt
die Idealisierung, die nach Habermas in der Argumentationspra­
xis impliziert ist, eine Art Brücke zwischen Rationalitätsforde-
rungen und moralischen Forderungen dar. Sie birgt ein normati­
ves Potential in sich, das sich im Zusammenhang zwischen der
modernen Idee der Demokratie und der eines öffentlichen
Raumes politischer und moralischer Diskurse zeigt. Auch wenn
es - entgegen dem, was Habermas immer angenommen hat -
keinen direkten Zusammenhang zwischen universalpragmati­
schen Strukturen der Kommunikation und einer universalisti­
schen Idee von Demokratie und Menschenrechten gibt, sind die
Ideen der Wahrheit und der rationalen Argumentation ersichtlich
auf vielfältige Weise mit den demokratischen und liberalen Ideen
der Moderne verknüpft. Wie dem auch sei, an genau dieser Stelle
läßt sich zeigen, weshalb der Begriff der »Idealisierung« als sol­
cher irreführend ist: Wenn man diesen Begriff auf Strukturen der
Kommunikation oder Argumentation bezieht, so wird er fast un-

165 i
r

vermeidlich eine ideale Struktur bezeichnen, die wir als normati­


ven Maßstab zur Beurteilung realer Kommunikationsstrukturen
verwenden und von der wir hoffen können, sie zu einem zukünf­
tigen Zeitpunkt der Geschichte - zumindest annähernd - in der
Welt zu realisieren. Die Idee einer solchen idealen Struktur von
Intersubjektivität macht jedoch keinen Sinn. Dies erst verleiht den
\ Einwänden Nietzsches, Derridas und Rortys gegen die idealisie­
i: renden Konstruktionen der Philosophie wirkliches Gewicht.
Wenn man aber die performativen Präsuppositionen des Redens
und Argumentierens in terms von »notwendigen Idealisierungen«
interpretiert, hat man den scheinbar unschuldigen Schritt in Rich­
tung einer Objektivierung jener Präsuppositionen schon getan.
Auch Derrida noch macht jenen Schritt - freilich nur um zu zei­
gen, daß jene Idealisierungen ebenso notwendig wie unmöglich
sind. Gegen Derrida, Apel, Putnam und Habermas möchte ich -
vielleicht etwas paradox - behaupten, daß jene Idealisierungen in
der Tat notwendig, daß sie aber genau genommen keine Idealisie­
rungen sind.

II.

Im Lichte meiner schwachen Verteidigung dessen, was ich die


»Strategie der Idealisierungen« nennen möchte, werde ich jetzt
einige von Rortys »ethnozentrischen« Thesen diskutieren. Offen­
sichtlich bringt mich meine schwache und sozusagen kontextuali-
stische Verteidigung der »Idealisierungsstrategien« zumindest in
mancher Hinsicht in die Nähe von Rortys Ethnozentrismus. Ich
c glaube aber, daß Kontingenz etwas weniger Dramatisches ist, als
Rorty uns glauben machen will. Ich möchte dies durch einige
Überlegungen zu Rortys These über die »Kontingenz einer libe­
ralen Gesellschaft«8 und, allgemeiner gesprochen, durch Über­
legungen über den Zusammenhang von Kontingenz und Moderne
zeigen.
Ich habe oben unterschieden zwischen jenen performativen Prä­
suppositionen, die dem entsprechen, was manche Philosophen
»notwendige Idealisierungen« genannt haben, einerseits und un-

8 Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt (Suhr­


kamp) 1989, Kapitel 3: »Die Kontingenz des Gemeinwesens«, S. 84 ff.

166

I 'il

sercm reflexiven Bewußtsein der Fallibilität all unserer Geltungs­


ansprüche (einschließlich unserer Diskurspräsuppositionen) an­
dererseits. Ich vermute, daß Rorty mir darin zustimmen würde,
daß dieses reflexive Bewußtsein der Fallibilität ein Moment dessen
ist, was er als moderne liberale Kultur beschrieben hat. Dieses
Fallibilitätsbcwußtsein ist eng mit der von Rorty beschriebenen
»Anerkennung von Kontingenz« verbunden - der Kontingenz
unserer Sprache, unserer Weltorientierung, unserer Kultur, unse­
rer Institutionen. Es scheint offensichtlich, daß eine solche Aner­
kennung von Kontingenz Folgen für unseren Umgang mit
Geltungsansprüchcn aller Art hat. Insbesondere wird sie auf die
performative Dimension des Redens und Argumentierens selbst
zurückwirken. Wenn uns der Weg zur Letztbegründung ebenso
versperrt ist wie die Hoffnung auf eine letzte Versöhnung ver­
wehrt - und hierin sieht Rorty zu Recht die Konsequenzen der
»Anerkennung von Kontingenz« -, dann verlieren alle Formen
von Dogmatismus und Fundamentalismus ihre Grundlage. Dar­
über hinaus werden wir in Kontroversen, in denen es keine
intersubjektiv zwingenden Argumente oder Evidenzen gibt - man
denke an bestimmte moralische Konflikte, an Gerichtsentschei­
dungen, den Golfkrieg, historische Erklärungen - nicht immer
davon ausgehen können, daß es im jeweiligen Fall eine absolute
Wahrheit gibt: irgendwo am Ende der Geschichte, aus der Sicht
Gottes, im letzten Konsens. Wenn wir aber nicht länger davon
ausgehen können, daß eine absolute Wahrheit in jedem Falle exi­
stiert - auch wenn wir uns ihrer vielleicht hier und jetzt noch nicht
sicher sein können -, und zwar deshalb nicht, weil diese Unter­
stellung durch kritische Reflexion auf die Bedingungen der Mög­
lichkeit wahrheitsorientierten Redens und Argumentierens de-
struiert wurde (nämlich durch die Anerkennung von Kontin­
genz), dann muß dies Konsequenzen für unseren Umgang mit
kontroversen Problemen der oben genannten Art haben: z. B. ein
Mehr an Toleranz, die Bereitschaft, Überzeugungen zu revidie­
ren, die Bereitschaft, mit Pluralitäten zu leben, die Bereitschaft,
nach neuen Beschreibungen oder Interpretationen alter Probleme
zu suchen, oder die Bereitschaft, auf das zu hören, was andere zu
sagen haben. Wenn die Anerkennung von Kontingenz schließlich
'I
die Anerkennung impliziert, daß »endliche, sterbliche, zufällig
existierende menschliche Wesen« den Sinn ihres Lebens aus nichts
anderem herleiten können als aus »anderen endlichen, sterblichen,

167

;i
zufällig existierenden menschlichen Wesen«,’ dann muß jeder
Versuch, theologisch, metaphysisch oder szientifisch inspirierte
Sinnentwürfe gesellschaftlich verbindlich zu machen, als zutiefst
diskreditiert erscheinen. Wenn aber die Anerkennung von Kon­
tingenz, d. h. die Destruktion der Metaphysik — einschließlich der
li metaphysischen Residuen mancher moderner Verständnisse von
Rationalität - die Destruktion der intellektuellen Grundlagen von

s Dogmatismus, Fundamentalismus, Intoleranz und Fanatismus


impliziert, dann gibt es einen tiefen und interessanten Zusammen­
hang zwischen den Argumenten für Kontingenz und denen für
eine liberale Kultur. Diesen Zusammenhang möchte ich im fol­
genden untersuchen.
Zunächst einmal ist offensichtlich, daß die Kritik des Fundamen­
talismus und der Metaphysik, die zur Anerkennung von Kontin­
genz führt, sich auch auf unser Verständnis der demokratischen
und liberalen Prinzipien der Moderne auswirken muß. Wir kön­
nen nämlich nicht länger davon ausgehen, daß es einen Archime­
dischen Punkt - beispielsweise die Idee der Vernunft — gibt, in
dem jene Prinzipien fest verankert wären. Insofern könnte man
Rorty zugestehen, daß die einzige Möglichkeit, die Prinzipien,
Praktiken und Institutionen einer liberalen Gesellschaft zu
»rechtfertigen«, darin besteht, unsere tiefsten Überzeugungen,
moralischen Orientierungen und begrifflichen Unterscheidungen
in möglichst kohärenter Weise zu rekonstruieren. Diese Art von
Rekonstruktion wird immer in einem gewissen Sinne zirkulär
sein, da sie nicht von einem Punkt aus durchgeführt werden kann,
der jenseits der politischen und moralischen »Grammatik« unse­
rer eigenen Kultur läge; in diesem Sinne wird die Rechtfertigung
»ethnozentrisch« bleiben. Das soll heißen - und dies ist, was
Rorty betonen möchte -, daß die Sprache, die politische und mo­
ralische Grammatik, die Praktiken und Institutionen einer Kultur
nicht als ganze (und gleichsam von außen) gerechtfertigt werden
können, da das »Rechtfertigungsspiel« jeweils nur innerhalb eines
bestimmten Sprachspiels einen klaren Sinn hat, nicht aber im Hin­
blick auf ein Sprachspiel als ganzes.
Obwohl diese These in einem bestimmten Sinn offensichtlich zu­
trifft - wenn wir nämlich anerkennen, daß cs keinen Archime­
dischen Punkt außerhalb unserer eigenen Sprache oder Kultur •

9 Rorty, a.a.O., S. 86 (Übersetzung geändert).

168
iI:jl
gibt ist durchaus nicht klar, was sic tatsächlich impliziert. Zu­
nächst scheint klar zu sein, daß wir ein Sprachspiel, ein Ensemble
von Praktiken, Institutionen, Prinzipien oder begrifflichen Un­
terscheidungen nur dadurch »rechtfertigen« können, daß wir sie
von innen her zu klären, zu rekonstruieren oder kohärent zu ma­
chen versuchen. Dies gilt selbst für die Mathematik, denn nie­
mand könnte den Witz der mathematischen Praxis, den Sinn
mathematischer Begriffe oder die Kraft bestimmter Argumente
oder Beweise verstehen, der nicht in diese Praxis einsozialisiert
worden wäre. Analoges gilt offenbar dann, wenn es um die Recht­
i’il
fertigung eines Ensembles von politischen Prinzipien, Praktiken
und Institutionen wie jener einer demokratischen und liberalen
■ }
Tradition geht. In diesem Fall ist das Problem der »Sozialisation«
sogar noch dramatischer als in dem der Mathematik, da das prak­
tische Wissen, das zum Verstehen der Prinzipien, Institutionen
und Praktiken einer liberalen Kultur gehört, »habits of the hcart«
einschlicßt, d. h. moralische Urteile, emotionale Reaktionen und
eine Verflechtung von moralischen Urteilen mit emotionalen Re­
aktionen und Interpretationsmustern. Auch hier kann eine in­
terne Klärung oder Rekonstruktion der politischen »Grammatik«
einer liberalen Kultur unmöglich eine Rechtfertigung der Prinzi­
pien und Praktiken jener Kultur für diejenigen sein, die nicht in
einem gewissen Sinn in diese Praktiken schon einsozialisiert wor­
den sind.
Die Frage ist, ob all dies heißt, daß demokratische und liberale
Prinzipien nur ein mögliches politisch-moralisches »Sprachspicl«
unter anderen festlegen, vielleicht mit der Besonderheit, daß un­
sere moralischen Prinzipien uns zur Respektierung der Anders-
heit anderer Kulturen nötigen, während dies umgekehrt nicht der
Fall zu sein braucht. Diese Frage ist äußerst komplex, und ich
denke, daß sie nicht mit einem einfachen »ja« oder »nein« beant­
wortet werden kann; ich glaube aber, daß ein qualifiziertes »nein«
sich rechtfertigen läßt - und mit Rechtfertigung meine ich jetzt
keine Rechtfertigung bloß für uns, sondern eben Rechtfertigung,
Punkt. Ich möchte dies erläutern, indem ich nach und nach das
Bild vervollständige, das ich eben skizziert habe. ■T
Zunächst einmal sollte klar sein, daß die internen »Rekonstruktio­
nen«, »Klärungen« und »Rechtfertigungen«, von denen ich ge­
sprochen habe, durchaus voneinander abweichen können. Interne
Rekonstruktionen liberaler und demokratischer Prinzipien kön-

169

i 11J
nen konservativ oder radikal sein, und zwischen »radikalen« -
d. h. kritischen - Rekonstruktionen liberaler Prinzipien und der
kommunitaristischen Kritik daran gibt es vielleicht keine klare
Grenze. Hieran zeigt sich, daß die Art von Kultur, auf die wir uns
hier beziehen, kein abgeschlossenes Sprachspicl ist, sondern eines,
das sich auf der Grundlage seiner eigenen Prinzipien auf sich
selbst kritisch und verändernd beziehen kann. Wenn ich im fol­
genden von liberalen und demokratischen Prinzipien spreche,
dann denke ich immer auch an dieses kritische Potential, das den
entsprechenden Institutionen und Praktiken als Spannung zwi­
schen dem, was ist, und dem, was sein sollte, immanent ist. Ich
habe mein Verständnis liberaler und demokratischer Prinzipien an
anderer Stelle erläutert.10 Hier sollte der Hinweis genügen, daß
ich diese Prinzipien wesentlich als gegen soziale Ungerechtigkeit,
Diskriminierung von Minderheiten, Sexismus, Kulturimperialis­
mus oder -»hegemonismus«, Manipulation der Öffentlichkeit
oder soziale Gewalt (social violence) gerichtet verstehe; d. h. ich
verstehe diese Prinzipien - wie wohl auch Rorty - nicht als Recht­
fertigung des Status quo in unseren Gesellschaften. Dabei gehe ich
davon aus, daß es gute Argumente - d. h. unserer Kultur imma­
nente Argumente - gibt, diese Prinzipien in einem kritischen Sinn
zu verstehen.
Mein zweiter Argumentationsschritt - ein Schritt, den ich in mei­
ner kurzen Überlegung zu den verschiedenen Möglichkeiten, die
politische Grammatik einer liberalen Kultur zu rekonstruieren,

I' schon vorbereitet habe betrifft die Abstraktion, die der Unter­
scheidung zwischen unserer Sprache (oder Kultur) und ihrer
Sprache (oder Kultur) zugrunde liegt. Diese Abstraktion besitzt
eine suggestive Kraft, die sie zugleich äußerst irreführend macht.
Es stimmt natürlich, daß ich meine Sprache - beziehungsweise die
mit ihr verbundenen Praktiken - nicht jemandem gegenüber
rechtfertigen kann, der ein völlig anderes Sprachspiel »spielt«: Es
gibt keine Meta-Normen, keine Metasprache, in bezug auf die
einer von uns den anderen überzeugen könnte. Das ist so ein­
leuchtend wie trivial. Die eigentlich interessanten Fälle sind je­
doch offensichtlich nicht diejenigen, in denen jemand ein Ensem­
ble von sprachlichen und außersprachlichen Praktiken gegenüber

io Wellmer, Albrecht: »Freiheitsmodelle in der modernen Welt«, siehe


S. 15 ff. in diesem Band.

I7o
dem Angehörigen einer anderen Kultur zu rechtfertigen versucht
(eine ziemlich künstliche, um nicht zu sagen absurde Idee), son­
dern jene Fälle, in denen verschiedene, sich teilweise überlap­
pende Vokabulare miteinander konfrontiert sind, und vor allem
Fälle, in denen neue Vokabulare in der Auseinandersetzung mit
alten Problemen entstehen (und mit der Sprache, in der diese Pro­
bleme bisher formuliert wurden). Nun würde ich aber behaupten,
daß jede interessante Argumentationssituation Elemente einer
solchen Konstellation enthält. Denn sogar in unserer eigenen
Sprache können wir für gewöhnlich einzelne Argumente nicht
isolieren, und je interessanter und bedeutsamer die Argumente
sind, desto weniger entsprechen Argumentationen einem forma­
len Begriff von Rationalität, d. h. einem Modell deduktiver Ablei­
tung. In unsere gewöhnliche Argumentationspraxis sind immer
schon holistische, innovative und »Differenz«-Momcnte eingelas­
sen: Wir müssen beim Argumentieren häufig erst den Kontext
erzeugen, durch den Argumente die Kraft gewinnen, die sie haben
können; Argumentationen schließen oft den Versuch ein, ein altes
Problem oder eine vertraute Situation in einem neuen Licht er­
scheinen zu lassen. Demzufolge ist ein »holistisches« Element von
Neubeschreibungen und Innovationen Bestandteil der interessan­
teren Formen unserer gewöhnlichen Argumentationspraxis. Es ist
weiterhin so, daß das Sprechen einer »gemeinsamen Sprache« -
wenn damit nicht nur die elementarsten Formen linguistischer
Übereinstimmung gemeint sind - oft nicht der Ausgangspunkt
einer Argumentation ist, sondern - wenn alles gutgeht - deren
Resultat. Man könnte dies das »Differcnz«-Moment unserer all­
täglichen Argumentationspraxis nennen. Deshalb würden wir die
Pointe dieser Praxis verfehlen, wenn wir sie in terms eines gemein­
samen Systems von starren Regeln und Kriterien interpretierten,
das semantisch abgeschlossen ist. Nur wenn wir die Reichweite
rationaler Argumente im Sinne eines solchen starren Regelsy­
stems interpretierten, könnte die Unterscheidung zwischen Be­
gründungen »innerhalb« einer Sprache und der Begründung einer
Sprache von außen gleichbedeutend werden mit der Unterschei­
dung zwischen einem Bereich möglicher Argumente und einem
Bereich, in dem keine Argumente mehr möglich sind. Die interes­
santesten Fälle liegen jedoch gleichsam zwischen diesen Extre­
men. Daß diese interessanten Fälle überhaupt möglich sind, hängt
natürlich damit zusammen, daß wir immer versuchen können, die

I71
Dinge aus der Perspektive anderer zu sehen, daß wir uns mit
neuen Vokabularen oder Sichtweisen vertraut machen können,
daß wir gelegentlich zwei Sprachen gleichzeitig sprechen und daß
wir versuchen können herauszufinden, ob ein neues Vokabular
oder eine neue Beschreibung alte Erfahrungen erhellen oder un­
sere alten Probleme lösen kann. Dieses »Ausprobieren« mag Zeit
beanspruchen; Argumentationen beziehen sich immer auf einen
Kontext von Erfahrung, Praxis und Reflexion zurück; neue Argu­
mente können zu neuen Erfahrungen führen, genauso wie neue
Erfahrungen uns neuen Argumenten zugänglich machen oder un­
ser Verständnis bekannter Argumente verändern können.
Wenn dies alles - annähernd - richtig ist, dann kann Rationalität-
in einem relevanten Sinne des Wortes — nicht an der Grenze ge­
schlossener Sprachspiele enden (denn so etwas gibt es nicht); dann
aber ist die »ethnozentrische« Kontextualität jeder Argumenta­
tion durchaus mit dem Erheben von kontexttranszendierenden
Geltungsansprüchen zu vereinbaren, d. h. von Geltungsansprü­
chen, die den - lokalen oder kulturellen - Kontext transzendieren,
in dem sie erhoben werden und in dem sie allein gerechtfertigt
werden können. Es macht also durchaus Sinn zu sagen, daß die
der Argumentation immanenten performativen Präsuppositionen
sich nicht nur auf den lokalen Kontext beziehen, in welchem
Wahrheitsansprüche jeweils erhoben werden, und daß Geltungs­
ansprüche jeden partikularen Kontext transzendieren. In genau

I diesem Sinn würde ich Habermas’ Beschreibung der Dialektik


von Kontextimmanenz und Kontexttranszendenz zustimmen,
einer Dialektik, die in der Praxis geltungsorientierten Sprechens
und geltungsorientierter Argumentation wirksam ist.11 Es ist ge­
nau das richtige Verständnis dieser Dialektik, welches uns den
Wahrheitsgehalt jener »Idealisierungsstrategien« zugänglich
macht, die ich anfangs diskutiert habe.
Wenn wir das Vorangehende auf Rortys These zur Kontingenz
einer liberalen Gesellschaft beziehen, dann wird diese Kontingenz
in einem neuen Licht erscheinen; und zwar wird sie weniger dra­
matisch erscheinen, als Rorty sie darstellt, da eine liberale Kultur

- noch weniger als andere Kulturen - als ein geschlossenes Sprach-

ii Vgl. Habermas, Jürgen: »Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer
= Stimmen«, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt (Suhr­
kamp) 1988. Siehe insbes. S. 174-179.

2 172
-
spiel verstanden werden kann. Diese Kultur hat - in der zeitlichen
Vertikale betrachtet - eine Geschichte und - in der zeitlichen Ho­ j
rizontale — ein Außen. In bezug auf beide Dimensionen der i
»Andersheit« - die uns beide in einem jeweils bestimmten Sinne
zugänglich sind - gibt es eine ganze Reihe guter und interessanter
Argumente für demokratische und liberale Prinzipien und Insti­
tutionen: man denke an die Geschichte der modernen Revolutio­
nen, die Arbeiten von Kant, Tocqueville, Mill oder Paine, die
»Federalist Papers«, an die Erfahrungen von Totalitarismus, Na­
tionalismus, Rassismus, Antisemitismus oder von religiösem und
politischem Fundamentalismus. Weitere Argumente lassen sich
aus einer internen und kritischen Rekonstruktion der Werte, Prin­
zipien und Selbstintcrpretationen gegenwärtiger liberaler Gesell­
schaften gewinnen. Wenn wir nur die Idee einer Letztbegründung
!
demokratischer und liberaler Prinzipien aufgeben, d. h. einer Be­
gründung, die nicht schon Gebrauch machen würde von der
Grammatik einer demokratischen und liberalen Politik, und wenn
wir— historische und andere - Erfahrungen in der Argumentation
zulasscn, dann zeigt sich uns ein dichtes Netzwerk von Argumen­
ten zur Begründung und kritischen Weiterentwicklung demokra­
tisch-liberaler Prinzipien und Institutionen. Diese Argumente
werden zwar kaum einen fanatischen Nationalisten oder religiö­
sen Fundamentalisten überzeugen; aber die Tatsache allein, daß
meine Argumente nicht jeden überzeugen, muß nicht bedeuten,
daß sie keine guten Argumente sind - diese Trivialität sollte man,
wie ich meine, nicht vergessen, selbst wenn es einen enormen Un­
terschied macht, ob man sie selbstkritisch versteht oder nicht.
Es ist ein Kennzeichen demokratisch-liberaler Gesellschaften -
solange es in ihnen noch eine irgend lebendige politische Kultur
gibt -, daß eine öffentliche Diskussion über die Interpretation von
Verfassungsprinzipien — z. B. über den Sinn von Grundrechten,
über zivilen Ungehorsam oder über das richtige Verhältnis zwi­
schen individuellen Freiheiten und sozialer Gerechtigkeit - ein
zentraler Bestandteil der politischen Kultur ist. Es scheint eine
Eigentümlichkeit demokratischer und liberaler Prinzipien und In­ :!
stitutionen zu sein, daß sie nur am Leben erhalten werden kön­
nen, wenn sie im Medium des öffentlichen Diskurses und der
politischen Auseinandersetzung immer wieder neu interpretiert
I
i
f'

und definiert werden. D. h., eine liberale Kultur zeichnet sich da­
durch aus, daß der öffentliche Diskurs über die Grundprinzipien :I
173 jj
d
i
dieser Kultur eine konstitutive Rolle für den politischen Prozeß
selbst gewinnt. Liberale Prinzipien sind gewissermaßen selbstre-
flexiv: Indem sie allen Bürgern gleiche Rechte und Freiheiten
garantieren, garantieren sie ihnen zugleich gleiche Rechte und
Freiheiten mit Bezug auf die Teilnahme an jenem öffentlichen
iS Diskurs, in dem immer wieder ausgehandelt werden muß, was der
Inhalt dieser gleichen Rechte und Freiheiten sein soll. Nun scheint
es mir aber ziemlich offensichtlich, daß es einen nicht-kontingen­
ten Zusammenhang zwischen dieser Selbstreflexivität liberaler
Prinzipien, d.h. der konstitutiven Rolle des öffentlichen Diskur­
ses für demokratisch-liberale Gesellschaften einerseits und der
»Anerkennung von Kontingenz« in Rortys Sinn andererseits
gibt.
Rorty selbst macht auf diesen Zusammenhang mit der interessan­
ten - und, wie ich glaube, richtigen - Bemerkung aufmerksam,
daß die »destruktiven« Konsequenzen der fortschreitenden Auf­
klärung, insbesondere jene, die zur »Anerkennung von Kontin­
genz« geführt haben, das Projekt einer demokratisch-liberalen
Gesellschaft nicht etwa unterminieren, sondern es im Gegenteil
auf eine tragfähigere Grundlage stellen.12 Insbesondere behaup­
tet Rorty, daß das Scheitern aller Versuche, Letztbegründungen
zu finden - einschließlich der Letztbegründung einer liberalen
Gesellschaft - für die liberalen Institutionen spricht und nicht
gegen sie. Aus dieser These folgt aber, daß es Argumente für de­
mokratische und liberale Prinzipien und Institutionen gibt, die
nicht in irgendeinem interessanten Sinn des Wortes ethnozentrisch
sind. Denn offensichtlich kann die Kontingenzthese nicht so ver­
standen werden, als träfe sie nur auf eine moderne liberale Kultur
zu; vielmehr handelt es sich um eine philosophische These, die die
Bedingungen der Möglichkeit einer Begründung von Wahrheits­

j ansprüchen überhaupt betrifft.13 Während die Anerkennung

12 Vgl. Rorty, Richard: a.a.O., S. 102 ff.


13 Diese Behauptung hat eine gewisse Affinität zu Apels These, wonach
das Fallibilismusprinzip nicht als selbstbezüglich verstanden werden
darf (»Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegrün­
dung«, a.a.O., S. 178—184). Ich glaube jedoch nicht, daß das Fallibilis­
musprinzip oder auch die »Anerkennung von Kontingenz« zu den
notwendigen Präsuppositionen der Argumentation als solcher gehört.
D. h., meine These ist weniger anspruchsvoll als diejenige Apels: Was
□ ich sagen will, ist, daß die Kontingenzthese, wenn man sie ernst

3 3 74

=
von Kontingenz jedoch zutiefst subversive Folgen für die Kultur
haben muß, die religiös fundiert oder um eine mythologische oder
auch »szientifische« Weitsicht zentriert ist, verwandeln sich ihre
subversiven Folgen hinsichtlich aller Versuche einer Letztbegrün­
dung in zusätzliche Argumente für die demokratischen und libe­
ralen Prinzipien der Moderne. Vielleicht könnte man von einer
negativen Rechtfertigung jener Prinzipien sprechen. Diese nega­
tive Rechtfertigung wird freilich keine Letzzbegründung sein.
Eher wird sie eine negative Rechtfertigung in dem Sinne sein, daß
sie die intellektuellen Grundlagen von Dogmatismus, Fundamen­
talismus, Autoritarismus sowie von moralischer und rechtlicher
Ungleichheit zerstört; sowie dadurch, daß sie in eins damit demo­
kratische und liberale Institutionen als die einzigen auszeichnet, in
denen die Anerkennung von Kontingenz mit einer zwanglosen
öffentlichen Reproduktion von Legitimität vereinbar ist. Für
diese These gibt es eine Reihe von Gründen, von denen ich im
folgenden drei wichtige hervorheben möchte.
(t) Jene Prinzipien sind - wenn man sie universalistisch versteht
(und so sollte man sie verstehen, pace Rorty) - die einzigen, die
mit der Anerkennung irreduzibler Andersheit - in Hinsicht auf
Überzeugungen, Lebensformen, Formen der Identität - vereinbar
sind und die es - zumindest begrifflich - erlauben, gleiche Rechte
mit der Respektierung von Andersheit und Differenz zusammen­
zudenken. In diesem Sinne setzt selbst eine »Politik der Diffe­
renz« (politics of difference) den moralischen Universalismus

nimmt, nur so verstanden werden kann, daß sie für alle möglichen
»Sprachspiele« gilt und deshalb nicht nur mit fundamentalistischen I
Sclbstinterprctationen unserer eigenen Kultur unvereinbar ist, sondern
ebenso mit entsprechenden Selbstinterpretationen anderer Kulturen.
Dann gibt es aber offenbar Argumente, die man nicht sinnvoll gebrau­
chen kann, ohne einen universalen Geltungsanspruch zu erheben, d. h.
einen Geltungsanspruch, dessen Anwendungsbereich nicht nach Belie­
ben »ethnozentrisch« eingeschränkt werden kann. Wenn daher aus der
»Anerkennung von Kontingenz« gute Argumente für eine liberale
Kultur folgen, dann gibt es Argumente für eine liberale Kultur, die
nicht ethnozentrisch in irgendeinem interessanten Sinne des Wortes
sind - selbst wenn man zugesteht, daß bestimmte Argumente nur kon-
f
/1

tingenterweisc zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbar sein und


verstanden werden können. Wenn dies aber zutrifft, werden liberale !
und demokratische Prinzipien viel weniger kontingent erscheinen, als
Rorty annimmt. ?

175
1
voraus, der den demokratischen und liberalen Prinzipien der Mo­
derne zugrundcliegt.
(2) Da jene Prinzipien in dem oben genannten Sinn selbstreflexiv
sind, verlangen sie die Institutionalisierung eines öffentlichen
Raumes — oder eines Raums von öffentlichen Räumen —, in wel­
chem der genaue Gehalt jener Prinzipien, ihre Anwendung und
Institutionalisierung immer wieder im Medium politischer und

kultureller Diskurse bestimmt und neubestimmt werden muß,
wodurch er zugleich eine Sache des öffentlichen Interesses werden
kann. Ein solcher »kommunaler« Raum öffentlicher Freiheit
scheint aber das einzig mögliche Substitut für jene Formen sub­
stantiell begründeter sozialer Solidarität zu sein, die das Charak­
teristikum traditionaler Gesellschaften waren; d.h. das einzig
mögliche Substitut, wenn einmal die traditionalen Grundlagen so­
zialer Solidariät durch eine Aufklärung zerstört worden sind, die
am Ende zur »Anerkennung von Kontingenz« geführt hat.
(3) Die demokratischen und liberalen Prinzipien sind in einem
gewissen Sinne rWeta-Prinzipien. Nach der Zerstörung der sub­
stantiellen Grundlagen von traditionalen Formen gesellschaft­
licher Solidarität definieren diese Prinzipien nicht einfach einen
neuen substantiellen Konsens, der beispielsweise einen religiösen
Konsens ersetzen würde. Sie bezeichnen vielmehr eine Möglich­
keit des gewaltfreien Umgangs mit unauflösbaren Dissensen in
substantiellen Fragen und somit eine Möglichkeit, Konsens und
Solidarität auf einer abstrakteren Ebene wiederherzustcllen,
gleichsam einen »prozeduralen« anstelle eines »substantiellen«
Konsenses. Ich gebe zu, daß diese Unterscheidung eine relative
und irreführende ist, da z. B. die »Prozedur« des Dialogs keine
;i Prozedur im eigentlichen Sinne des Wortes ist und da der »proze­
durale« Wert des Dialogs mit den substantiellen Werten der
Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit zusammenhängt. Was mir

j vorschwebt, ist ein dynamisches Ineinandergreifen von formalen


Prozeduren und Institutionen einerseits und informeller politi­
scher Diskurse und einer informellen politischen Praxis anderer­
seits; ein Incinandergreifen, durch welches jene substantiellen
j Werte ebenso öffentliche Angelegenheiten wie öffentliche Pro­
jekte werden können. In diesem Sinn ist das, was ich im Gegen­
satz zu einem »substantiellen« einen »prozeduralen« Konsens

i genannt habe, das Charakteristikum einer Gesellschaft, die ihre


Legitimität nur reproduzieren kann, indem sie sich beständig im

I 176
r'

Medium politischer und kultureller Diskurse transformiert und


verändert.
Während die Anerkennung von Kontingenz - wie ich zu zeigen
versucht habe — neue Argumente für demokratische und liberale
Prinzipien und die um sie zentrierten Institutionen schafft, bleibt
sie dennoch eine Anerkennung von Kontingenz. Die nicht elimi­
nierbare Kontingenz verweist jedoch nicht auf einen Mangel an
guten Argumenten für liberale und demokratische Prinzipien, sie
bezeichnet vielmehr das Moment der Kontingenz in allen Versu­
chen, diese Prinzipien erfolgreich zu institutionalisieren, am Le­
ben zu erhalten und in eine Form demokratischer »Sittlich­

keit«14 zu übersetzen. Im übrigen können demokratische und
liberale Gesellschaften infolge sozialer Spannungen oder ökologi­
scher Zerstörungen, rassistischer oder ethnischer Konflikte, in­ !
folge der Zunahme von Gewalt, ökonomischer Krisen oder der
Konsequenzen eines ökonomischen Imperialismus zusammen­
brechen oder sich auflösen. Wenn dies einträte, würde sich auch
die moralische Substanz demokratischer und liberaler Praktiken
und Institutionen auflösen. Hier endet die Kraft guter Argu­
mente: Argumente können nur zeigen, warum wir vernünftiger­
weise nicht wollen können, daß dies eintritt.
Übersetzt von Ruth Sonderegger

14 Ich glaube, cs hat nichts Paradoxes an sich, wenn wir die formalen
Prinzipien und prozeduralen Werte, die ich oben erwähnt habe (in dem
Sinne, in dem ich sie erklärt habe), als die »Substanz« einer modernen
11
Form »substantieller Sittlichkeit« verstehen. Obwohl spezifische Tra­
ditionen, Geschichten und Projekte immer eine wichtige Rolle für die
Konstitution individueller und kollektiver Identität spielen werden,
können diese besonderen Grundlagen von Identität nicht den substan­
tiellen Kern einer demokratischen und liberalen Form von Sittlichkeit
bilden. Insoweit nämlich eine solche Form von Sittlichkeit die Respek­
I
tierung von Differenz und »Andersheit« fordert, verlangt sie zugleich
eine reflexive Distanz zu jeder partikularen Tradition, Geschichte und
zu jedem partikularen Projekt. D. h., sie fordert die Anerkennung von
Kontingenz (vgl. auch: Wellmer, Albrecht: »Models of Freedom in the
Modern World«, a.a.O.).

i77
6. Adorno, die Moderne
und das Erhabene

»Wahrheit hat Kunst als Schein des Scheinlosen«, resümiert


Adorno in einer zentralen Passage der Ästhetischen Theorie.1 An
anderer Stelle sagt er: »Im Aufgang eines Nicht-Seienden, als ob
i es wäre, hat die Frage nach der Wahrheit der Kunst ihren An­
stoß.«2 Und: »Weil aber der Kunst ihre Utopie, das noch nicht
Seiende, schwarz verhängt ist, bleibt sie durch all ihre Vermittlung
hindurch Erinnerung, die an das Mögliche gegen das Wirkliche,
das jenes verdrängte, etwas wie die imaginäre Wiedergutmachung
der Katastrophe Weltgeschichte, Freiheit, die im Bann der Neces-
sität nicht geworden, und von der ungewiß ist, ob sie wird [...].
Die ästhetische Erfahrung ist die von etwas, was der Geist weder
von der Welt noch von sich selbst schon hätte, Möglichkeit, ver­
hießen von ihrer Unmöglichkeit. Kunst ist das Versprechen des
Glücks, das gebrochen wird.«3
Diese Sätze enthalten den Kern von Adornos versöhnungsphilo­
sophischer Interpretation des Kunstschönen. Das Kunstwerk hat
seinen Wahrheitsgehalt darin, daß es zur »Spiegelschrift« eines
schwarz verhüllten Absoluten, zur Spiegelschrift der Versöhnung
wird.4 Hierin ist es zugleich Schein des Scheinlosen, eines
Nichtseienden, Schein einer Epiphanie des Absoluten.5 Dieser
1 ■ Schein einer Epiphanie des Absoluten gehört zur Struktur der
»genuinen ästhetischen Erfahrung den authentischen Kunstwer­
ken gegenüber«;6 der Wahrheitsgehalt der Kunst ist von ihrem
Scheincharakter unabtrennbar. Der konstitutive Zusammenhang

1 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften,


Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 199 (im folgenden zitiert als ÄT).
2. ÄT, S. 128.
j Ebd., S. 204 f.
4 Vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia, in: Gesammelte Schriften,
Bd.4, Frankfurt a. M. 1980, S. 281.
5 Vgl. ÄT, S. 159.
6 Ebd.

178
1
I
zwischen Wahrheit und Schein der Kunstwerke bestimmt zwei
aporctischc Konstellationen, die nach Adorno für die Kunst der
Moderne charakteristisch sind. Die erste dieser aporctischen Kon­
stellationen betrifft das Verhältnis von Kunst und Philosophie, die
zweite ist innerästhetischcr Art: sie betrifft die Möglichkeit einer
authentischen Kunst in einen) Zustand vollendeter Negativität. II
Die aporetische Konstellation von Kunst und Philosophie meint
Adorno, wenn er sagt: »Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven
Erkenntnis, aber dafür hat sic es nicht; die Erkenntnis, welche
I
Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables.«7 Das, was
die im emphatischen Jetzt sich verlierende ästhetische Erfahrung
»hat«, ist die Anschauung der Welt im Lichte der Erlösung; aber
befangen im ästhetischen Schein, versteht die ästhetische Erfah­
rung nicht den verweisenden Bezug des Kunstwerks auf ein
Nicht-Präsentes, noch nicht Seiendes, will heißen, sic versteht den
Schein nicht, dem sie erliegt. Deshalb muß ihr die philosophische
Reflexion zu Hilfe kommen; nur diese kann der ästhetischen Er­
fahrung sagen, was sie erfährt, kann im ästhetischen Schein die
Spiegelschrift des Absoluten entziffern und hierdurch den Wahr­
heitsgehalt des Kunstwerks, als das der ästhetischen Erfahrung
qua Erfahrung Inkommensurable, zur Sprache bringen. Indes
kann die Philosophie der ästhetischen Erfahrung auch wieder
nicht wirklich sagen, was sic ihr zu sagen versucht; ans Medium
des identifizierenden Begriffs gebunden, kann sie das Absolute -
ein Nicht-Seiendes, das doch nicht Nichts sein soll - nur umkrei­
sen, auf es hindeuten, als den nicht sichtbaren und nicht denkba­
ren Fluchtpunkt alles Denk- und Sagbaren indirekt, ex negative, h»
sichtbar zu machen versuchen. Anders als bei Kant ist für Adorno
nicht nur die Darstellbarkeit, sondern auch die Denkbarkeit des
Absoluten problematisch geworden. Deshalb bedarf die Philoso­
:■ Ii
phie der Kunst ebensosehr, wie die Kunst der Philosophie bedarf.
Beide verhalten sich zueinander wie Anschauung und Begriff in
der Kantischen Philosophie, nur daß das Verhältnis zwischen An­
j
schauung und Begriff hier die Sphäre der Ideen, das Absolute
betrifft, das sich der Anschauung ebenso entzieht wie dem Be­
griff. Nur im aporetischen Verweisungszusammenhang von ästhe­
tischer Erfahrung und philosophischem Begriff wird die schwache <!
Spur eines scheinlos Absoluten sichtbar. N
i
7 Ebd., S. 191. :I
179
bl
läi
Die zweite der aporetischen Konstellationen, von denen ich
sprach, ist eine der künstlerischen Produktion selbst. Der konsti­
tutive Zusammenhang zwischen Wahrheit und Schein des Kunst­
werks wird in der Moderne zunehmend zu einem innerästhe­
tischen Problem, an dem die Kunst um ihrer Authentizität willen
sich abzuarbeiten genötigt wird und das gleichsam das Gesetz
ihres Fortschreitens in sich enthält. Was die philosophische Refle­
xion der ästhetischen Erfahrung als Blindheit ankreidet, beunru­
higt die künstlerische Produktion als ästhetisches Problem von
innen her; um der Wahrheit willen wird sie zur Revolte gegen den
ästhetischen Schein getrieben, dem sic doch nicht entrinnen kann.
Wahrheit und Schein bezeichnen die zwei Pole dessen, was
Adorno ästhetische »Stimmigkeit« nennt; aber Wahrheit und
Schein widerstreiten einander zugleich. Die große Kunst will
wahr sein, so Adornos These; ästhetisches »Stimmen« ist nur un­
ter der Bedingung solcher Wahrheit möglich - deshalb muß die
Kunst sich gegen den ästhetischen Schein kehren, gegen alles, was
an ihr illusionär ist. Gleichwohl versucht sie vergeblich, ihren
Scheincharaktcr loszuwerden, da das, was sie als Kunst ausmacht,
ästhetische Stimmigkeit, untrennbar ist vom ästhetischen Schein.
Dies ist die Antinomie der modernen Kunst, die zugleich insge­
heim ihr Bewegungsgesetz bestimmt.

II.
1
Indem der Bezug auf ein Absolutes, das »schwarz verhüllt« ist,
i zum Bewegungsgesetz der modernen Kunst wird, wird diese - für
Adorno - zu einer Kunst des Erhabenen. Hierauf ist verschie­
dentlich hingewiesen worden, zuletzt ausführlich von Wolfgang
i Welsch.8 »Das Erhabene«, sagt Adorno, »das Kant der Natur
vorbehielt, wurde nach ihm zum geschichtlichen Konstitucns von
Kunst selber. Das Erhabene zieht die Demarkationslinie zu dem,
1 was später Kunstgewerbe hieß.«’ Im Gegensatz zu Welsch
glaube ich aber, daß die Kategorie des Erhabenen bei Adorno eine
i zentrale Stelle innerhalb seiner versöhnungsphilosophischen

2 8 Wolfgang Welsch, »Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erha­


- benen«, in: Das Erhabene, hg. von Christine Pries, Weinheim 1989.
= 9 ÄT, S. 293.

180

Konstruktion der Kunst besetzt hält; diese ist als versöhnungsphi­


losophische Konstruktion der Kunst zugleich eine Ästhetik des

II
Erhabenen. Dies bedeutet zugleich, daß das Schöne und das Erha­
bene bei Adorno einander nicht in der gleichen Weise entgegenge­
setzt sind wie bei Kant; eher sind die beiden Kategorien einander
entgegengesetzt wie die zwei Pole ästhetischer Stimmigkeit, wie
Wahrheit und Schein. Statt dessen könnte man auch sagen, daß das
Erhabene bei Adorno eine Möglichkeitsbedingung dessen be­
i
zeichnet, was in der modernen Kunst noch Schönheit genannt
werden mag; es wird zum Konstituens des Kunstschönen. Dieser
in der Tat zentrale Gedanke Adornos hat etwas Einleuchtendes;
man wird ihn aber nicht durch eine einfache Operation aus dem
versöhnungsphilosophischen Kontext herauslösen können, in
dem Adorno ihn entwickelt hat. Will man ihn jenseits dieses Kon­
texts fruchtbar machen - und ich stimme mit Lyotard und Welsch
darin überein, daß er nur so sich fruchtbar machen ließe—, so muß
man das Koordinatensystem von Adornos Ästhetik im Ganzen in
Bewegung versetzen. Ich habe früher einmal von der Notwendig­
keit einer »stereoskopischen« Lektüre Adornos gesprochen.10
Die folgenden Überlegungen sind der Versuch einer solchen
stereoskopischen Lektüre Adornos am Beispiel seiner Kategorie
des Erhabenen.
Zentral für Adornos Interpretation des Erhabenen ist, daß dieses
zum Konstituens der modernen Kunst nur werden konnte, indem
sich zugleich »die Zusammensetzung der Kategorie erhaben« ver­
änderte.11 »Durch ihre Transplantation in die Kunst wird die

I
Kantische Bestimmung des Erhabenen über sich hinausgetrie­
ben.«12 Zur Erläuterung knüpft Adorno an den berühmten
Ausspruch Napoleons an, vom Erhabenen zum Lächerlichen sei
nur ein Schritt:
!

H
»An Ort und Stelle«, so Adorno, »meinte der Satz grandiosen Stil, pathe­
tischen Vortrag, der, durchs Mißverhältnis zwischen seinem Anspruch
und seiner möglichen Erfüllung, meist durch ein sich einschleichendes
Pedcstrcs, Komik bewirke. Aber das an Entgleisungen Visierte trägt im
Begriff des Erhabenen selbst sich zu. Erhaben sollte die Größe des Men-

10 Albrecht Wellmer, »Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästheti­


sche Rettung der Moderne«, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und
Postmoderne, Frankfurt a. M. 1985, S.44.
11 ÄT, S. 295.
r
12 Ebd.

181
sehen als eines Geistigen und Naturbezwingenden sein. Enthüllt sich
jedoch die Erfahrung des Erhabenen als Selbstbewußtsein des Menschen
von seiner Naturhaftigkeit, so verändert sich die Zusammensetzung der
Kategorie erhaben. Sie war selbst in ihrer Kantischen Version von der
Nichtigkeit des Menschen tingiert; an ihr, der Hinfälligkeit des empiri­
schen Einzelwesens, sollte die Ewigkeit seiner allgemeinen Bestimmung,
des Geistes aufgehen. Wird jedoch Geist selbst auf sein naturhaftes Maß
gebracht, so ist in ihm die Vernichtung des Individuums nicht länger po­
sitiv aufgehoben. Durch den Triumph des Intelligiblen im Einzelnen, der
geistig dem Tod standhält, plustert er sich auf, als wäre er, Träger des
Geistes, trotz allem absolut. Das überantwortet ihn der Komik. Dem Tra­
gischen selbst schreibt avancierte Kunst die Komödie, Erhabenes und
Spiel konvergieren.«13
Das Motiv der Natur im Geist bezeichnet die zentrale Pointe von
Adornos Kritik an Kants Unterscheidung zwischen der empiri­
schen und der intelligiblen Welt. Adorno hat diese Kritik insbe­
sondere in den »Meditationen zur Metaphysik« der Negativen
Dialektik entwickelt. Kants Begriff des Intelligiblen, so zeigt
Adorno dort, ist unvereinbar mit dem Begriff eines Geistes, der an
individuierte Einzelwesen und daher an Leib und Sprache gebun­
den ist. Insofern wäre der Begriff des Intelligiblen, wäre der
Begriff eines intelligiblen Ich eine bloße »Luftspiegelung« des
Denkens; nicht nur ohne empirische Realität, sondern brüchig
schon als bloß Gedachtes. Hierin liegt nach Adorno das Wahr­
heitsmoment der empiristischen und naturalistischen Aufklärung.
Was Adorno am Begriff des Intelligiblen gleichwohl zu retten ver­
sucht, ist die Utopie eines versöhnten Geistes, das Absolute als ein
noch nicht Seiendes. Der Begriff eines solchen Absoluten aber,
i der in sich die Ideen der Freiheit, der Unsterblichkeit, eines
Reichs der Zwecke beschließen müßte, ist, wie schon betont, für
Adorno ein aporetischer Begriff, »einzig negativ zu denken«.
Das »Eingedenken der Natur im Subjekt«, das schon die Dialek­
i tik der Aufklärung als Figur der Versöhnung von Geist und Natur
postulierte, wird beim späten Adorno, in seinem Versuch einer
kritischen Rettung von Kants kritischer Metaphysik, doppeldeu­
tig: Es steht für die überschwengliche Hoffnung auf die Resurrek-
tion einer im Medium des Geistes mit sich versöhnten Natur
ebenso wie für die Naturverfallenheit des Geistes. In der zuletzt
zitierten Passage aus der Ästhetischen Theorie geht es um letzteres,

13 Ebd., S. 295.

i >82
I

um die Naturvcrfallenhcit, die Hinfälligkeit des Geistes. Was bei


Kant als intclligible Sphäre der Naturvcrfallenhcit der empiri­
schen Einzelwesen entzogen bleibt, enthüllt sich als selber natur­
verfallen. Nicht die intclligible Welt ist das Umgreifende eines an
Sprache und Leib gebundenen endlichen Geistes, sondern eine
sinnfremde Natur; gleichsam ein Abgrund, der sich inmitten der
Welt sprachlich erschlossenen Sinns öffnet, ein Abgrund des
Sinns. Adorno rehabilitiert die Kategorie des Erhabenen aus dem
Geiste Becketts. Die Erfahrung der Hinfälligkeit des empirischen
Subjekts, der Überforderung seiner Vermögen, wird jetzt zur Er­
fahrung der Hinfälligkeit des intelligiblcn Subjekts selbst. Auf den
Prozeß, der diesem in Becketts »Endspiel mit der Subjektivi­
tät«14 gemacht wird, spielt Adorno an, wenn er auf die Konver­
genz von Tragödie und Komödie, von Erhabenem und Spiel in der
avancierten Kunst verweist.
1
Wie kann aber aus der Destruktion der Kantischcn Polarität von
endlichem und inteliigiblem Ich, an der ja nach Kant allein das
Gefühl des Erhabenen sich entzünden kann, ein neues Erhabenes,
das Erhabene der modernen Kunst resultieren? Adorno gibt auf
diese Frage zwei Antworten: eine Antwort aus dem Horizont
eines versöhnungsphilosophischen Begriffs der Moderne, eine an­
dere aus dem Horizont eines postmetaphysischen Begriffs der
Moderne. Beide Antworten berühren sich in der Idee des »Stand­
haltens«, in der das Pathos von Kants Begriff des Erhabenen
nachhallt. Für Adorno bezeichnen im übrigen die beiden Antwor­
ten nur zwei verschiedene Aspekte einer einzigen Antwort; es
bedarf einer stereoskopischen Lektüre, um in dieser einen Ant­
wort zwei verschiedene Antworten sichtbar zu machen.
Der ersten, versöhnungsphilosophischen Antwort Adornos zu­
folge wäre der Ort des modernen Erhabenen die ins Unermeß­
liche gewachsene Spannung zwischen der Realität und einer
schwarz verhüllten Ütopie, zwischen einem Zustand vollendeter
Negativität und dem Zustand der Erlösung. Hier, so könnte man
sagen, ist es das Kunstwerk, das, indem es die Negativität der
Wirklichkeit ungemildert in sich hineinläßt, der Übermacht einer
sinnlosen Realität im Namen eines noch nicht seienden Absolu­
ten, des versöhnten Geistes, standhält. In einer Formulierung
i ■ ,

14 Gabriele Schwab, Samuel Becketts Endspiel mit der Subjektivität,


Stuttgart 1981,

>8J i
■■
Adornos: »Um inmitten des Äußersten und Finstersten der Rea­
lität zu bestehen, müssen die Kunstwerke, die nicht als Zuspruch
sich verkaufen wollen, jenem sich gleichmachcn. Radikale Kunst
heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz.«15
Daß es hier wirklich um das Erhabene der modernen Kunst geht,
erhellt aus einer anderen Formulierung Adornos: »Erbe des Erha­
benen ist die ungemiiderte Negativität, nackt und scheinlos wie
einmal der Schein des Erhabenen es verhieß.«16
Die zweite Antwort Adornos auf die oben gestellte Frage loka­
lisiert demgegenüber das Erhabene der modernen Kunst im Span­
nungsfeld zwischen der »Explosion metaphysischen Sinns«17 in
der Moderne und der Emanzipation des Subjekts. Die beiden Pole
dieses Spannungsfeldes bezeichnen zwei Seiten dessen, was
Adorno auch als »Fortschritt des Bewußtseins« in der Moderne
thematisiert. Hier geht es nicht um die Dialektik von Subjektivie-
rung und Verdinglichung, um die Dialektik der Aufklärung also,
und daher auch nicht um die Polarität von vollendeter Negativität
und versöhntem Geist; es geht vielmehr um den Preis, den die von
Tradition und Konvention sich emanzipierenden Subjekte für ihre
Emanzipation zu zahlen haben: Es geht um den internen Zusam­
menhang zwischen dem Verlust objektiv verbürgten Sinns und der
Emanzipation der Subjekte. Es ist diese zweite Antwort Adornos,
an die ich anknüpfen möchte. Hierbei übergehe ich, daß Adorno
selbst, und zwar über die These vom dialektischen Zusammenhang
zwischen Subjektivierung und Verdinglichung, die »Explosion
metaphysischen Sinns« mit der geschichtlichen Herbeiführung ei­
nes Zustands vollendeter Negativität begrifflich kurzgeschlossen
hat. Ich habe diesen begrifflichen Kurzschluß, durch welchen
Adornos Philosophieren gewissermaßen unter einen versöh­
nungsphilosophischen Systemzwang gerät, an anderer Stelle kriti­
i siert.18 Adorno hat keinen angemessenen Begriff sprachlicher
Intersubjektivität entwickelt, der es ihm erlaubt hätte, die Entzau­

i5'
r
berung der Welt - die »Explosion metaphysischen Sinns« — mit
der Möglichkeit eines Gewinns an kommunikativer Rationalität
zu verknüpfen. Sobald man aber die Möglichkeit einer solchen
I;
15 ÄT, S. 65.
16 Ebd., S. 296.
17 Vgl. Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, in: Gesammelte Schrif­
ten, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1974, S. 2S2.
18 Vgl. Wellmer, »Wahrheit, Schein, Versöhnung«, a.a.O.

184
! |
Verknüpfung zuläßt - die Argumente dafür finden sich vor allem
bei Habermas erweisen sich die beiden Antworten Adornos als
durchaus verschieden. Die zweite Antwort, richtig verstanden,
impliziert nicht die erste, versöhnungsphilosophische; vielmehr
enthält sie Elemente eines postmetaphysischen Begriffs des Erha­
benen, durch welchen Adornos Ästhetische Theorie sich einer ■I
kommunikationstheorctischcn Deutung öffnet. Eine solche Deu­
tung wird freilich auch der ersten Antwort Adornos, der versöh­
nungsphilosophischen, einen neuen Sinn geben können: Der
Zustand vollendeter Negativität, der einem schwarz verhüllten
Absoluten korrespondiert, ist der Zustand der Welt nach der Ex­
plosion des metaphysischen Sinns, einer Welt, die von Versöhnung
abgeschnitten ist; aber dies Abgeschnittensein von Versöhnung,
i
richtig ins Auge gefaßt, ist nicht die Katastrophe des Geistes, als die
Adorno es verstand. Es bezeichnet vielmehr den Aggregatzustand
j
-i
eines als endlich sich erfassenden Geistes, der, in seine Endlichkeit
sich vertiefend, zugleich seine Potentiale als die einer kommunika­ . i
tiven Vernunft neu entdecken und entfalten könnte. Retrospektiv
ließe Adornos Kritik des identifizierenden Denkens sich lesen als
das Exerzitium einer solchen Neuentdeckung und Neuentfaltung
des endlichen Geistes als kommunikativer Vernunft.

III.

Adorno sprach von einer »Transplantation« des Erhabenen in die


Kunst; einer Bewegung zur Moderne hin, die er am Ende des
18.Jahrhunderts cinsetzen läßt.” Das Eindringen des Erhabe­
nen in die Kunst bringt diese in »ansteigenden Konflikt mit dem
Geschmack«, also mit dem Desiderat des »Schönen« im Sinne des
Kantischen Gcschmacksurteils. Drei Bestimmungen des Kunster­
habenen, in denen es den Desideraten des Geschmacks zuwider­
läuft, tauchen bei Adorno immer wieder auf: eine energetische, i-1
eine strukturelle und eine cntwicklungslogische; alle drei Bestim­
mungen berühren sich in der Tat mit Merkmalen des Erhabenen
im Sinne Kants.
i !
Unter energetischen Gesichtspunkten erscheint das Kunsterha­ ■

bene als schockierend, ergreifend, erschütternd, überwältigend.

ij
I
rj Vgl. ÄT, S. 292. !
185
Versteht man den Augenblick der ästhetischen Erfahrung als den
einer verdichteten Präsenz, durch welche das Zeitkontinuum der
gewöhnlichen Erfahrung suspendiert wird, so tritt hier ein Stück
Gewaltsamkeit hinzu, das in den Binnenraum der ästhetischen
Distanz einbricht und das Subjekt, je nachdem, aus sich her-
ausschleudcrt, in einen Schwindel oder in Unruhe oder in Er­
schütterung versetzt. Freilich geschieht dies unter Bedingungen
ästhetischer Distanz: Ästhetisch ist die Erschütterung, das Aus-
sich-Heraustreten des Ich nur, wo dieses zugleich in gespannte­
ster Konzentration bei sich bleibt. »Das Ich bedarf, damit es nur
um ein Winziges über das Gefängnis hinausschaue, das es selbst
ist, nicht der Zerstreuung, sondern der äußersten Anspannung;
das bewahrt Erschütterung, übrigens ein unwillkürliches Verhal­
ten, vor der Regression. Kant hat in seiner Ästhetik des Erhabe­
nen die Kraft des Subjekts als dessen Bedingung getreu darge­
stellt.«20
Strukturell betrachtet ist das Kunsterhabene die Negation unge­
brochener ästhetischer Synthesis, das heißt der bruchloscn
Durchdringung von Sinnlichem und Geistigem im Sinne des idea­
listischen Schönheitsbegriffs. Negation der schönen Form also,
des Maßes, der Balance, der widerspruchslosen Einheit, der Har­
monie, letztlich: des schönen Scheins. »Die Male der Zerrüttung
sind das Echtheitssiegel von Moderne«, sagt Adorno.21 In ihnen i
kommt im Kunstwerk eine Wirklichkeit zur Erscheinung, die sich
Desideraten eines sinnvollen Zusammenhangs nicht mehr fügt.
Das Kontingente, das Sinnfremde, das Absurde, das aus dem Uni­
r versum sprachlichen Sinns Ausgeschlossene, weil Disparate,
Nicht-Integrierbare, gleichsam der sinnferne Untergrund sprach­
lich erschlossenen Sinns - all dieses läßt die moderne Kunst in
»ungemilderter Negativität«, wie Adorno sagt, in sich hinein und
macht hierduch »Bruchstellen« sichtbar, »den Riß durch die Seele
und durchs Ganze der Welt«, wie Monika Steinhäuser es am Bei­
spiel von Bildern Caspar David Friedrichs formuliert hat.22 Die
Kunst öffnet sich einer Erfahrung der Welt, die sich nicht mehr
auf einen letzten, übergreifenden Sinn hin auslegt, sondern den
Einbruch des Sinnfremden in die Welt sprachlich erschlossenen
20 Ebd., S. 364.
21 Ebd., S. 41.
22 Monika Steinhäuser, »Im Bild des Erhabenen«, in: Merkur 487/88,
Sept./Okt. 1989, S. 824.

186
Sinns, den Abgrund des Sinnfernen inmitten der Welt des Sinns
aushält. Nicht durch Versöhnung der Widersprüche, sondern da­
durch, daß sie diese zur Sprache bringt,23 durch die »Kommuni­
kation des Unkommunizierbaren«, lichtet die Kunst das Dunkel
der Welt, wird sie als erhabene zur schönen, zur Quelle ästhe­
tischer Lust.
■Daß die finstersten Momente der Kunst etwas wie Lust bereiten sollen,
ist nichts anderes, als daß Kunst und ein richtiges Bewußtsein von ihr
Glück einzig noch in der Fähigkeit des Standhaltens finden. Dies Glück i
strahlt von innen her in die sinnliche Erscheinung. Wie in stimmigen
Kunstwerken Geist noch dem sprödesten Phänomen sich mitteilt, es
gleichsam sinnlich errettet, so lockt seit Baudelaire das Finstere als Anti­
these zum Betrug der sinnlichen Fassade von Kultur auch sinnlich. Mehr
Lust ist bei der Dissonanz als bei der Konsonanz; das läßt dem Hedonis­
mus Maß für Maß widerfahren.«24
Unter entwicklungslogischen Gesichtspunkten schließlich be­ : 1
zeichnet das Eindringen des Erhabenen in die Kunst eine Tendenz .' 1
zu fortschreitender Vergeistigung der modernen Kunst. Diese
Tendenz zur Vergeistigung korrespondiert einem Eindringen I
sinnferner Matcrialschichten in die Kunst, gleichsam einer Ten­
denz zur Entgeistigung. Die Öffnung der Kunst gegenüber dem
Geistfremden, gegenüber der sinnfernen Rückseite der Welt
sprachlich erschlossenen Sinns, bedeutet zugleich ein Anwachsen
ihrer konstruktiven und reflexiven Züge. In ihnen bekundet sich
die Kraft eines emanzipierten Subjekts, das sich ungeschützt
durch ästhetische Konventionen der Erfahrung des Nicht-Identi­ t
schen überläßt, um sie ästhetisch zu objektivieren. Vergeistigung
bedeutet daher zugleich ein Anwachsen der Spannung zwischen
geistigen und geistfernen, zwischen konstruktiven und mimeti­
schen, zwischen reflexiven und »elementarischen« Zügen in der
modernen Kunst. Für Adorno ist die moderne Kunst, sowohl in
ihren einzelnen Produktionen als auch im Spannungsfeld ihrer
Produktionen insgesamt, der Prozeß, der sich zwischen diesen
beiden Polen, dem Geistigen und dem Geistfernen, abspielt. i
»Das Rimbaudsche Postulat des radikal Modernen ist eines von Kunst, die
in der Spannung von spleen et ideal, von Vergeistigung und Obsession
!
durchs Geistfernste sich bewegt. Der Primat des Geistes in der Kunst und

23 ÄT, S. 294.
24 Ebd., S. 66 f.

>87
das Eindringen des zuvor Tabuierten sind zwei Seiten des gleichen Sach­
verhalts [...] Vergeistigung vollzieht sich nicht durch Ideen, welche die
Kunst bekundet, sondern durch die Kraft, mit der sie intcntionslose und
ideenfeindlichc Schichten durchdringt. Nicht zuletzt darum lockt das Ver­
femte und Verbotene das künstlerische Ingenium. Die neue Kunst von
Vergeistigung verhindert, wie die banausische Kultur es will, mit dem
Wahren, Schönen und Guten weiter sich zu beflecken.«25
Adorno entwirft hier eine Perspektive, aus der die moderne Kunst
als die ästhetische Realisierung dessen erscheint, was Kant im Be­
griff des Erhabenen meinte: »Kants Theorie des Erhabenen ante-
zipiert am Naturschönen jene Vergeistigung, die Kunst erst leistet.
Was an der Natur erhaben sei, ist bei ihm nichts anderes als eben
die Autonomie des Geistes angesichts der Übermacht des sinn­
lichen Daseins, und sie setzt erst im vergeistigten Kunstwerk sich
durch.«26 Wenn Adorno hier von der Autonomie des Geistes
spricht, dann müssen wir freilich seine Kritik an Kants Begriff des
Intelligiblen, und daher auch an Kants Begriff des Erhabenen, mit
hinzudenken. Ich werde später auf die Frage zurückkommen, was
diese Einschränkung bedeutet. Vorerst sei nur bemerkt, daß
Adorno hier durchaus vom Geist als endlichem, von dem seiner
Naturhaftigkeit bewußten Geiste spricht. In den offiziellen Lesar­
ten Adornos wird für gewöhnlich verdeckt, daß Adorno in seiner
Theorie der ästhetischen Moderne - im Gegensatz zu zentralen
Thesen der Dialektik der Aufklärung - einen internen Zusam­
menhang konstruiert zwischen der Emanzipation des modernen
Subjekts, dem Zerfall verbindlicher ästhetischer Konventionen
und Traditionen, und einem sich schärfenden Bewußtsein des
Geistes von seiner Naturhaftigkeit. Der Fortschritt des Bewußt­
seins, in dem der Sturz der Metaphysik sich ankündigt, bedeutet
einen Fortschritt des Geistes zum Bewußtsein der eigenen Natur­
haftigkeit. Die moderne Kunst ist das Eingedenken der Natur im
Subjekt, gebunden an die Kraft eines Subjekts, das der Erfahrung
der eigenen Naturhaftigkeit standzuhalten vermag.
»Die Entfesselung des Elementarischen war eins mit der Emanzipation des
Subjekts und damit dem Selbstbewußtsein des Geistes. Es vergeistigt als
Natur die Kunst. Ihr Geist ist Selbstbesinnung auf sein eigenes Naturhaf-
tes. Je mehr Kunst ein Nichtidentisches, unmittelbar dem Geist Entgegen­
gesetztes in sich hineinnimmt, desto mehr muß sie sich vergeistigen.
25 Ebd., S. 144.
I 26 Ebd., S. 143.

i88
Umgekehrt hat Vergeistigung ihrerseits der Kunst zugeführt, was, sinnlich
nicht wohlgefällig und abstoßend, dieser zuvor tabu war; das sensuell
nicht Angenehme hat Affinität zum Geist.«27
Ein eigentümlicher Zusammenhang zwischen dem Eindringen des

I
Erhabenen in die moderne Kunst und den emanzipatorischen Im­
pulsen der Moderne wird an dieser Stelle sichtbar. Die »Entgren­
zung« der Kunst, die Adorno unter dem Titel ihrer »Vergeisti­
gung« analysiert, korrespondiert jener Entgrenzung der Diskurse,
die Habermas in der kommunikativen Verflüssigung von Traditio­ !
nen, in der kommunikativen Rationalisierung der Lebenswelt
konstatiert hat. Mehr noch: Beide Prozesse stehen unter einem
Gesetz anwachsender Individuierung, durch welche allein jener i •.
Zerfall objektiv verbindlichen Sinns kompensiert werden kann,
welcher die Bedingung der Emanzipation der Subjekte - in mora­
lischer und kognitiver nicht weniger als in ästhetischer Hinsicht -
ist. Unter dem Gesichtspunkt der Erzeugung von ästhetischem
n
Sinn ist Vergeistigung der Kunst daher zugleich der Name für eine
»ansteigende Individuierung« des je einzelnen Kunstwerks. Die
experimentellen, konstruktiven und reflexiven Züge der moder­
nen Kunst sind das Medium solcher Individuierung bei Adorno,
ganz ähnlich wie die experimentellen, diskursiven und reflexiven
Züge einer rationalisierten Lebenswelt das Medium einer sozialen
Individuierung bei Habermas sind. Im Subtext der Ästhetischen
Theorie, und zwar genau an jenen Stellen, an denen Adorno das
Eindringen des Erhabenen in die moderne Kunst analysiert,
zeichnet sich eine Alternative zur These vom dialektischen Zu­
sammenhang zwischen Subjektivierung und Verdinglichung ab,
also zur Grundthese der Dialektik der Aufklärung; wollte man i
die Umrisse dieser Alternative benennen, so könnte man sagen,
daß an die Stelle eines dialektischen Zusammenhangs zwischen
Subjektivierung und Verdinglichung ein interner Zusammenhang
zwischen ästhetischer, kognitiver und moralisch-praktischer Auf­
klärung tritt. Moderne Kunst, moderne Wissenschaft und Philo­
sophie und die mit einer universalistischen Moral verknüpfte
moderne Demokratie rücken in ein Verhältnis wechselseitiger 11
Korrespondenzen und Ergänzungen: Ästhetische, kognitive und
moralisch-praktische Aufklärung werden faßbar als die verschie­
denen Felder, in die sich der emanzipatorische Impuls der Mo-

27 Ebd., S. 292.

189
I
i
■ J
derne verzweigt hat, ohne daß in dieser Verzweigung und der mit
ihr einhergehenden Differenzierung der Wert- und Rationalitäts­
sphären schon ein Sieg der instrumentellen Vernunft gesehen
werden dürfte. Rückt man aber die Vergeistigung der Kunst in
einen solchen Zusammenhang, setzt man also die Emanzipation
der Subjekte im Sinne Adornos in Relation zur Veränderung kom­
munikativer Beziehungen zwischen Subjekten in einer post-tradi-
tionalen Gesellschaft, so liegt es nahe, in der Assimilation
geistferner Erfahrungs- und Realitätsschichten durch die moderne
Kunst zugleich ein Potential der Öffnung von kommunikativen
Beziehungen und des Selbstverhältnisses ästhetischer Rezipienten
in Richtung auf die sinnfernen, tabuierten, ausgegrenzten und dis­
paraten Momente ihrer Erfahrung zu sehen. Die Emanzipation
der Kunst stünde in Relation zu einer möglichen kommunikativen
Verflüssigung der gesellschaftlichen Beziehungen und der Selbst­
verständnisse von Individuen: nicht als deren Vorschein, sondern
als deren Korrelat, ebenso Medium wie auch Manifestation jenes
Fortschritts des Bewußtseins, den Adorno immer wieder mit dem
Eindringen des Erhabenen in die moderne Kunst verknüpft.
Die drei Merkmale des modernen Erhabenen, so wie ich sie bei
Adorno unterschieden finde, bezeichnen insgesamt eine Bewe­
gung der Selbsttranszendenz der Kunst unter Bedingungen ihrer
Autonomie. In technischer Hinsicht bedeutet dies einen beständi­
gen Zwang zur Innovation, durch welchen die Bewegung der
Kunst mit derjenigen der kapitalistischen Warenproduktion kom­
I muniziert. »Explosion ist eine ihrer Invarianten«, sagt Adorno,
»antitraditionalistische Energie wird zum verschlingenden Wir­
I'1 bel.«28 Im Zwang zur Innovation kommt aber zugleich die
■: Nötigung zum Ausdruck, immer wieder die Grenze dessen zu
überschreiten, was die Kunst jeweils geworden ist, das heißt aber:
den existierenden Begriff der Kunst zu überschreiten, so wie er
sich in ihren zum Kulturgut neutralisierten Produktionen abgela­
gert hat. Kunst war niemals bloß schöner Schein; aber unter
Bedingungen ihrer Autonomie muß sie das Mehr, das sie immer
schon war, in ihre eigene, das heißt ästhetische Regie nehmen. Sie
muß an ihrem eigenen Begriff, sie muß an den Grenzen ihrer
Autonomie rütteln, sofern sie jenem emphatischen Anspruch ge­
nügen will, den sie an sich selbst stellen muß, solange sie über-

-I 18 Ebd., S. 41.

- 190
0
haupt ästhetischen Sinn erzeugen und nicht zur Reproduktion des
Immergleichcn herunterkommen will. In den Avantgardebewe­
gungen der modernen Kunst ist diese Nötigung zur Selbstüber­
schreitung der Kunst vielfach mißverstanden worden als Forde­
rung nach einer Entkunstung der Kunst, nach Aufhebung der
5
1
Kunst im Leben. Noch Adorno meinte - und genau an dieser
Stelle wird seine Philosophie der Kunst zur Philosophie der Ver­
söhnung »die geschichtliche Perspektive eines Untergangs der
Kunst« sei »die Idee eines jeden einzelnen« Kunstwerks.2’ Da
Adorno aber wußte, daß ein von der Kunst selbst inszenierter
»Untergang« der Kunst unter den gegebenen geschichtlichen Be­
dingungen keinesfalls jene letzte Aufhebung der Kunst = Versöh­
nung, sondern nur Anpassung ans Bestehende bedeuten könnte,
insistierte er zugleich, rebus sic stantibus, auf der Autonomie der !■ li
Kunst als Bedingung ihrer fortdauernden »Methexis an Versöh­
nung«. Indessen scheint die Alternative als solche falsch zu sein: So
r'
wenig wir die Nötigung zur Selbstüberschreitung der Kunst aus
der Perspektive einer letzten Versöhnung deuten können, so wenig
können wir sic überhaupt sinnvoll als Imperativ einer Sclbstaufhe-
bung der Kunst im Leben deuten. Der entgrenzende Impuls der
Kunst wäre vielmehr mit ihrer Autonomie zusammenzudenken;
nicht als Impuls, der auf eine magische Verwandlung der Gesell­
schaft im Ganzen zielt, sondern als Impuls, durch den allein das der
Kunst eigentümliche Potential zur immer erneuten magischen Ver­
wandlung der Welt am Leben erhalten werden kann. Kann sich die­ (I
ser entgrenzende Impuls nicht auf ein absolutes Jenseits: die Welt
im Stande der Erlösung, richten, so müssen Transzendenz und
Immanenz, Negation und Affirmation in ihm zusammengedacht
werden: Entgrenzung und Verwandlung der Welt als Selbst-Über­
schreitung und Selbst-Affirmation eines endlichen Geistes.
Wenn man die Selbstüberschreitung der Kunst nicht auf eine
letzte Selbstüberschreitung hin auslegt, so verliert auch Adornos
These eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen authentischer
Kunst und Massenkultur in der fortgeschrittenen Moderne ihre
philosophische Grundlage. In Adornos Gleichungen »authenti­
sche Kunst = Negation = Wahrheit« und »Massenkukur =
Affirmation = Lüge« steckt ein Stück philosophischer Präforma­
tion der ästhetischen Kritik, die einer vorbehaltlosen ästhetischen

29 Ebd., S. 199.

191
Erfahrung nicht standhält. Eine Kunst, deren entgrenzender Im­
puls nicht das ganz Andere, Versöhnung, meint, sondern sich
kritisch und affirmativ zugleich auf die geschichtliche Welt zu­
rückwendet, aus der er stammt, wird auch keine festen Grenzen
zwischen »höherer« und »niederer« Kultur akzeptieren können.
Daß diese in Wirklichkeit häufig diffusen, variablen und durchläs­
sigen Grenzen in der fortgeschrittenen Moderne zugleich die
Grenzen zwischen dem ästhetisch potentiell Gelungenen und
dem ästhetisch a priori Mißlungenen seien, zwischen dem Au­
thentischen und dem Nicht-Authentischen, zwischen Wahrheit
und Lüge, ist eine geschichtsphilosophische Annahme, die durch
ästhetische Erfahrung nicht wirklich gedeckt ist. Deshalb können
auch diese Grenzen für die avancierte Kunst zur Provokation wer­
den, sie zu überschreiten.30
Die Nötigung zur Selbstüberschreitung der Kunst ist, wie gesagt,
mit ihrer fortdauernden Autonomie zusammenzudenken. Nur als
autonome kann die Kunst jedes über den bloß schönen Schein
hinausschießende Mehr noch erzeugen, durch welches für Augen­
blicke die Welt im Stande ihrer Entzauberung verzaubert, die
ausgetrockneten Flußläufe sprachlicher Kommunikation überflu­
tet und die Sinngehäuse der alltäglichen Welt zum Erzittern
gebracht werden mögen. Dieses Mehr haben wir bisher mit
Adorno als Erhabenes - im Gegensatz zum bloß (formal) Schö­
nen -, als Geistiges - im Gegensatz zum bloß sinnlich Wohlgefäl­
ligen -, als schockhaft Ergreifendes - im Gegensatz zum bloß
Geschmackvollen - charakterisiert. Nun ist aber bereits bei Kant
■<
im Begriff des Kunstschönen ein solches Mehr mitgcdacht: Das
Kunstschöne als Ausdruck ästhetischer Ideen fällt ja keineswegs
zusammen mit dem Schönen im Sinne der Analytik des reinen
Geschmacksurteils. »Geist« ist schon bei Kant die Kategorie,
durch die er das Kunstschöne vom bloß Geschmackvollen unter­
scheidet. Selbst die Idee einer Kommunikation des Unkommuni­
zierbaren, der Darstellung eines Nicht-Darstellbaren, wie sie bei
Adorno - und nach Adorno bei Lyotard - als Charakteristikum
des Kunsterhabenen auftritt, ist bereits in Kants Idee des Kunst­
schönen impliziert. Andererseits scheint es gute Gründe dafür zu

30 Soviel ist wahr an der postmodernistischen Infragestellung der Grenz­


9 ziehungen zwischen »hoher« und »niederer« Kunst, zwischen Avant­

garde und Massenkultur.

=
-
geben, daß bei Kant, was die Kunst betrifft, der Begriff des Schö­
nen gegenüber dem des Erhabenen leitend bleibt: Kunstwerke
sind, als gemachte, weder grenzen- noch formlos und auch keine
Gegenstände realer Furcht; was auch immer an ihnen erhaben
genannt werden mag, sic scheinen doch, als begrenzte Objekte,
unter Bedingungen zu stehen, unter denen ästhetische Lust zu­
nächst einmal die am Geformten, also Lust am Schönen sein wird.
Auch bei Adorno bleibt die Kategorie des Schönen insofern lei­
tend, als die Realisierung des Kunsterhabenen an die Bedingung
ästhetischer Stimmigkeit geknüpft bleibt; das Erhabene bedeutet
eine Modifikation, eine Intensivierung des Schönen, nicht dessen ■ ■!

reale Negation wie bei Kant. Wir sollten deshalb, in einem letzten
Schritt, noch einmal genauer fragen, worin bei Adorno, jenseits
aller formalen Analogien, das Recht zur Anknüpfung an Kants
Begriff des Erhabenen begründet sein könnte.

IV.

Ich hatte früher behauptet, daß Adorno die Kategorie des Erha­
benen aus dem Geiste Becketts rehabilitiert. In Becketts Endspiel
wird in Adornos Deutung die Explosion des metaphysischen
Sinns ästhetisch objektiviert, nämlich als ästhetische »Konstruk­
tion der Sinnlosigkeit«. Solche ästhetische Konstruktion der Sinn­
losigkeit ist der Ort des Standhaltens gegenüber der Übermacht
der Negativität, der Ort des Erhabenen. Das Einfallstor für das
Erhabene in der modernen Kunst ist nicht ein Absolutes, das i
nicht darstellbar ist (also ein Absolutes im Sinne Kants), sondern
das Verschwinden des Absoluten, der Tod Gottes. In zwei be­
kannten Formulierungen hat Nietzsche das Erhabene auf das
»Entsetzliche« und das »Unverständliche« bezogen;31 dem ent­
spricht bei Baudelaire das Bild des Abgrunds. Das Entsetzliche,
das Unverständliche, der Abgrund - diese Worte bezeichnen nicht
hI
mehr eine übermächtige, schreckeneinflößende, unermeßliche
Natur, die unterm Blick des intelligiblen Subjekts doch klein
I
wird; sie bezeichnen vielmehr eine Natur, die auch das intelligible
Subjekt und seine geschichtliche Welt noch umgreift: Der Ab­
I
31 Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. 1 hg. von Karl Schlechta, Darmstadt
1960, S. 49 und 238.
I
<93
j
:i
gründ ist ein Abgrund der Sinnferne inmitten des sprachlichen
Sinns. Dieser Abgrund bezeichnet ein negatives Absolutes, das
Nichts, gleichsam die Leerstelle, die das Absolute der Metaphysik
hinterlassen hat. Wie schon in der Pauiinischcn Theologie ist bei
Adorno der Name dieses negativ Absoluten der Tod. Der Tod als
Letztes ist die Krise des Sinns; und zwar als Krise des metaphysi­
schen Sinns zugleich die Krise alles sprachlichen Sinns, da durch
die Explosion des metaphysischen Sinns zugleich alle diejenigen
für das Leben des sprachlichen Sinns konstitutiven Bedingungen
in Frage gestellt werden, durch welche das Leben des sprachlichen
Sinns mit den Ideen der Wahrheit, der Autonomie und der Ver­
nunft verknüpft ist. Es ist diese Nietzschesche Perspektive, die
Adorno sich zu eigen macht und die er zugleich als unerträglich
zurückweist; in dieser zugleich affirmativen und kritischen Stel­
lung zu Nietzsche wird er zum Versöhnungsphilosophen. Drama­
tisch heißt es in der Negativen Dialektik: »Wäre der Tod jenes
Absolute, das die Philosophie« - hier ist natürlich Heidegger ge­
meint- »positiv vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts,
auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit
irgend sich denken.«32 Für Adorno bedeutet dies, wie schon
früher betont, daß das Standhalten gegenüber der Negativität des
Daseins nur im Namen eines Absoluten möglich ist, das zwar
schwarz verhüllt, aber doch nicht Nichts ist. Zwischen Sein und
Nichtsein des Absoluten bleibt ein unendlich dünner Spalt, durch
den ein schwacher Lichtschimmer fällt: Licht von einem Absolu­
ten, das erst werden soll. Und was für das Absolute gilt, gilt
ebenso für das Ich: Auch dessen Nichtigkeit, Korrelat der Explo­
F sion metaphysischen Sinns, soll nicht das letzte Wort sein. Das
Wort »Ich« ist der Name einer utopischen Hoffnung; ihm korre­
spondiert nichts Seiendes; erst im Stande der Erlösung dürften die
Menschen »Ich« zu sich sagen. Dies ist die aporetische Konstella­
tion, in der das Erhabene bei Adorno seinen versöhnungsphilo­
sophischen Ort hat.
Was bleibt von diesem Begriff, wenn man die versöhnungsphilo­
sophische Spitze von Adornos Philosophie kappt, wenn man die
Wurzelfäden durchschneidet, durch die diese Philosophie sich aus
einem abwesenden Absoluten nährt? Konstitutiv für das Erha-
j

32 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften,
Bd. 6, Frankfurt a. M. 1973, S. 364.

« 194
bene in all seinen Varianten ist eine Polarität, eine produktive
Spannung zwischen einem virtuell bedrohten, in seinen Vermögen ■

überforderten, in Schwindel versetzten Ich und einem gerade in


dieser Erfahrung der Fragilität, des Schreckens, des Schwindels
lustvoll sich affirmierenden Ich. Kant deutete diese Polarität als
die von empirischem und intelligiblem Ich. Indes ist leicht zu se­ I' '!
hen, daß es, zumindest wo es um die Kunst geht, eines intelligi-
blen Ich, im Kantischen Sinne, daß es der Idee des Absoluten
nicht bedarf, um jene Polarität begreiflich zu machen. Denn in der 1
gelingenden ästhetischen Artikulation des Negativen, der »Macht
der Negativität«, erfahren die Subjekte ja unmittelbar ihre artiku- ’i
lative, weltbildende und kommunikative Macht gegenüber dieser
Macht der Negativität. Deshalb kann die Erfahrung der Negativi­
tät hier in ästhetische Lust sich verwandeln. So hat es schon
Nietzsche gesehen: In der gelingenden ästhetischen Artikulation
des Sinnlosen und Grauenvollen verwandelt das Entsetzen sich in
ästhetische Lust. Und im Grunde sieht Adorno cs ebenso: Die
Lust des Erhabenen ist das Glück des Standhaltens, der Kommu­
nikation des Unkommunizierbaren. Die Idee der Versöhnung fällt
aus dieser Gleichung heraus. Es ist also gar nicht die Kategorie des
modernen Erhabenen, die der Idee der Versöhnung bedarf; viel­
mehr ist es Adornos radikaler Begriff der Negativität, der auf
Versöhnung als sein Korrelat verweist. Adornos Opposition ge­
gen Nietzsche betrifft nicht die Ästhetik, sondern die Ethik.
Nietzsche hatte seine Destruktion der Metaphysik zugleich als
eine Destruktion der Ideen der Wahrheit und des moralisch Guten
verstanden. Hiergegen opponiert Adorno: Im Namen jener Ideen
postuliert er am Ende der Negativen Dialektik »Solidarität mit
Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes«. In seinem Versuch i !
einer kritischen Rettung der Metaphysik bleibt Adorno aber in
eigentümlicher Weise den Prämissen von Nietzsches Destruktion
der Metaphysik verhaftet. Er muß daher, um der Idee der Wahr­ ■

heit und des richtigen Lebens willen und gleichsam in einem


Gestus ohnmächtigen Protests, gegen Nietzsche behaupten, daß
der Bezug der Geschichte auf einen ihr jenseitigen Ort der Ver­ ii
söhnung trotz allem die Wahrheit der Metaphysik sei; demgegen­
über hatte Nietzsche mit guten Argumenten behauptet, dieser Ort
der Versöhnung jenseits der Geschichte könne nur das Nirwana
sein. Indes handelt cs sich letztlich um eine falsche Alternative;
beide, These wie Gegenthese, Nietzsches anti-moralische Affir-

>95
mation der Endlichkeit wie Adornos negativistische Rückkehr
zur Theologie, bleiben, wie sich zeigen läßt, den problematischen
Prämissen der neuzeitlichen Subjektphilosophie verhaftet. Erst
deren Destruktion erlaubt es, für das, was Kant im Begriff des
Intelligiblcn dachte, einen Ort jenseits der Metaphysik zu finden
und hierdurch zugleich die falsche Alternative zu überwinden, die
sich in der Opposition Adornos gegen Nietzsche auftut. Hierauf
komme ich gleich zurück.
Was hat dies aber mit den Problemen der Ästhetik, mit dem Pro­
blem des Erhabenen zu tun? Nur soviel, daß in Frage steht, wie
denn das ästhetische Subjekt, das die Erfahrung des Erhabenen
macht, in der Welt des kommunikativ geteilten Sinns steht. Kants
Antwort ist klar: Im Gefühl des Erhabenen empfinden die Sub­
jekte ihre Freiheit als moralische Subjekte. Nietzsche und Adorno
sehen hierin eine metaphysische Illusion oder, was auf dasselbe
hinausläuft, eine bürgerliche Ideologie. Nur ihre Konsequenzen
sind verschieden: Während Nietzsche die Ideen der Wahrheit und
Freiheit verabschiedet, versucht Adorno, sie als utopische Hoff­
nung zu retten. Dies ist die falsche Alternative, von der ich oben
gesprochen habe; nämlich die Alternative von Ästhetizismus und
Messianismus. Es ist eine falsche Alternative, die Bedeutung und
den Rang des Ästhetischen und daher den Ort der Kunst in der
Moderne betreffend. Wir können daher den Begriff eines moder­
nen Erhabenen, oder den Ort des Erhabenen in der ästhetischen
Moderne, nicht wirklich klären, ohne diese falsche Alternative
aufzulösen. Dies bringt mich zurück zu der Frage, wie sich für
das, was Kant im Begriff des Intelligiblen dachte, ein Ort jenseits
der Metaphysik finden ließe.
In gewissem Sinne, so denke ich, hatte Adorno recht, wenn er für
das Absolute, wenn er für das intelligible Ich einen Ort zwischen
I Sein und Nicht-Sein suchte. Die Subjekt-Objekt-Dialektik aber
ließ hier als ein Drittes nur die Idee eines künftigen Seins zu.
Schon Kant aber hatte, und zwar vor jeder kritischen Metaphysik,
jenen Ort zwischen Sein und Nicht-Sein überzeugender als den
eines praktischen Seins bestimmt: Es »gibt« Freiheit in der Welt,
sofern wir nur unter der Idee der Freiheit handeln können. Dies
Sein der Freiheit bezeichnet keinen Zustand der Versöhnung, es
bezeichnet vielmehr einen Seinsmodus der Welt sprachlich er­
-i schlossenen Sinns, durch welchen diese objektivierender Erkennt­
nis im strikten Sinn unzugänglich bleiben muß, ihr als ein

196
Nicht-Sein erscheinen muß. Bei Kant bleibt dieser fruchtbare Ge­
danke freilich noch eingehüllt in ein Gewebe bcwußtscinsphilo-
sophischer Voraussetzungen; erst die neuere Philosophie - ich
denke vor allem an Heidegger, Wittgenstein und die amerikani­
schen Pragmatisten - hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, !h ’
den Kantischen Gedanken sprachphilosophisch zu reformulieren l-l 1
und hierdurch zugleich zu verallgemeinern. Der Gedanke besagt
dann — und so findet er sich in besonders klarer Form bei Haber­
mas —, daß das Sein des sprachlichen Sinns, der Freiheit, der
Wahrheit, der Vernunft ein performatives Sein ist, ein Sein, das
sich erst in der performativen Einstellung sprachlich kommuni­
zierender Subjekte konstituiert und nur in ihr sich erhält. Haber­
mas hat dieses performative Sein der Sprache durch ein Netzwerk
von Geltungsansprüchen, Unterstellungen und Anerkennungsbe­
ziehungen charakterisiert, die für sprachliche Kommunikation ’l

konstitutiv sind. Wir können sprachlich nicht kommunizieren,


ohne einander als sprach- und handlungsfähige Wesen anzuerken­
nen; umgekehrt ist es eben diese wechselseitige Anerkennung als
sprach- und handlungsfähige Wesen, die für unsere Sprach- und
Handlungsfähigkeit konstitutiv ist. Hierzu gehört die Vertausch­
barkeit der Perspektiven von »Ich« und »Du«: Nur im Medium
der Anerkennung durch andere kann ich - als der Andere des
Anderen - auf mich selbst zurückkommen, kann ich mich als ein
Ich verstehen, dem seine Handlungen zugerechnet und dem Ra­
tionalität zugemutet wird. Wir können ferner sprachlich nicht
kommunizieren, ohne wechselseitig Geltungsansprüche zu erhe­
ben, die ihrem Sinne nach zugleich kontextgebunden und kon­
texttranszendierend sind, die also in ihrer Kontextualität zugleich
unbedingt sind und sich, so könnte man sagen, an eine ideale - im
Sinne einer unbegrenzten - Kommunikationsgemeinschaft rich­
ten.
Man könnte das performative Sein des sprachlichen Sinns am Bei­
spiel des Verstehens von Äußerungen und Texten bzw. am Zusam­
menhang zwischen Bedeutung und Geltung verdeutlichen. Dies
ist das Feld, in dem sich in der modernen Sprachphilosophie - bei
Wittgenstein nicht weniger als etwa bei Gadamer - die Kritik am
objektivistischen Mißverständnis des Seins des sprachlichen Sinns
zuerst entzündet hat. Sowohl Gadamers These vom Moment der
Applikation im Verstehen als auch Wittgensteins Erläuterung der
Bedeutung von Worten durch ihren Gebrauch in der Sprache ver-

197
weisen auf das performativc Sein des sprachlichen Sinns: Diesen
»gibt« es nur aus der Perspektive von Sprechern, die sich in der
Sprache miteinander über etwas verständigen, gleichsam aus einer
an Geltung orientierten Gebrauchsperspektive. Sprachlicher Sinn
bildet und erhält sich im Gelingen und Mißlingen sprachlicher
Kommunikation; freilich gibt es keine — dem performativen Sein
der Sprache entzogenen - externen Maßstäbe solchen Gelingens
oder Mißlingens. Was es gibt, sind nur die internen Korrektive der
sprachlichen Praxis selbst: Das Gelingen sprachlicher Kommuni­
kation muß sich außerhalb ihres eigenen Kontextes und aus der
Perspektive Dritter, also im Zusammenhang des Lebens ebenso
wie vor dem Forum einer prinzipiell nicht begrenzbaren Kommu­
nikationsgemeinschaft, bewähren. Durch die Idee der Wahrheit ist
ein kritischer Maßstab in die Welt sprachlichen Sinns eingebaut;
ein kritischer Maßstab aber, der weder ein ideales Sein jenseits der
Sprache noch eine ideale Form sprachlicher Verständigung meint,
sondern der nichts als die sclbst-transzendierende Kraft der in
einer Sprache jeweils verkörperten Vernunft bezeichnet. Was wir
im Vollzug der sprachlichen Kommunikation unterstellen: Die
Möglichkeit der Verständigung und die Transparenz des Sinns
darf nicht als Vorschein einer »letzten« Verständigung, eines voll­
ständig transparent gewordenen Sinns, einer letzten Versöhnung
mißverstanden werden. Dies Mißverständnis vielmehr ist die Me­
taphysik: eine objektivistische Fehldeutung des performativen
Seins des sprachlichen Sinns; vielleicht auch - so jedenfalls sieht es
Derrida - ein transzendentaler Schein, der dem Leben des sprach­
lichen Sinns anhaftet.
Das performative Sein des sprachlichen Sinns ist die Sphäre des­
sen, was Kant das Intelligible nannte. Dies Reich des Intelligiblen
— wenn wir hier weiterhin den Kantischen Ausdruck verwenden
wollen - ist in der Tat ein Reich jenseits der Natur, sofern wir
unter »Natur« das objektivierbare Sein im Sinne Kants verstehen.
Zugleich aber ist es ein Teil der Natur, weil es an die Intersubjek­
tivität endlicher »natürlicher« Wesen geknüpft ist. Das performa­
tive Sein des Geistes und mit ihm das Reich des Intelligiblen ist
endlich, vom Tode begrenzt. Ihm fehlt die messianische Kraft, das
Dunkel der Welt im Ganzen zu erhellen, die Erfahrungen der
Kontingenz, der moralischen oder existenziellen Sinnlosigkeit,
des Scheiterns, des unauflösbaren Konflikts oder der Zerbrech­
lichkeit des Subjekts und aller intersubjektiven Beziehungen in

198

einem höheren oder »Mcta«-Sinn aufzuheben. Das intclligiblc


Subjekt ist nur als empirisches Subjekt, zerbrechlich selbst in sei­
ner Subjekthaftigkeit, vom Tode bedroht und ohne Hoffnung auf
Erlösung.
Gleichwohl existiert dies empirische Subjekt als empirisches Sub­
jekt, als individuiertes Ich, nur sofern es in die »intelligible« Welt r?
sprachlichen Sinns hineingewachsen ist und in ihr sich hält; aus­
gesetzt den Forderungen von Vernunft und Moral, die für sein
Subjekt-Sein konstitutiv sind und denen es sich niemals ganz ent­
ziehen kann, ohne die Bedingungen seiner empirischen Existenz,
als der eines individuierten Ich, in Frage zu stellen. Die Menschen j
sind also wirklich Bürger zweier Welten; nur daß die intelligible
Welt, das heißt die öffentliche, intersubjektive Welt sprachlich er­
schlossenen Sinns, von der Welt der Natur umschlossen wird, mit
Heidegger könnte man sagen: von der Erde »durchragt« wird.
Die »Erde« soll hier stehen ebenso für das Sinnliche am sprachli­
chen Sinn, den sinnlichen Boden des Sinns, wie für das Andere des
Sinns, das Abgründige des Sinns. Das Andere des Sinns - Natur­
ist der Boden und der Abgrund der sinnhaft erschlossenen
Welt.33 Die Natur selbst hat den Doppelcharaktcr des Versöh­
nenden und des Abgründigen. Als Abgrund des Sinns aber ist sie
eine ständige Bedrohung der Welt kommunikativ geteilten Sinns,
das Mal ihrer Fragilität. Wenn man noch an einem Begriff des
Erhabenen festhalten will, der irgend mit dem Kantischen zusam­
menhängt, so wäre hier, wenn irgendwo, der Ort des Erhabenen
in der modernen Kunst. Der Gegensatz, die Polarität, die unauf­
lösbare Spannung, an der das Gefühl des Erhabenen sich entzün­
den kann, wäre eine im intelligiblen Subjekt selbst; nämlich die li 1
Spannung zwischen einem Abgrund von Sinnferne oder Wider­
sinn, der das intelligible Subjekt der Sprache als nichtig sich !:
33 Christoph Menke (Die Souveränität der Kunst, Frankfurt a. M. 1991)

h11
bezieht die Doppelfigur »Grund-Abgrund* auf das Schöne (»Das
Schöne, das wir als Grund wie Abgrund unserer ästhetischen Verste­
hensversuche erfahren ...«, S. 184). Hiermit ist die These verknüpft,
daß »die ästhetische Negativitätserfahrung [...] die Subversion der
Möglichkeit zu verstehender Erfahrung zur Erfahrung« bringt
(S. 264). Die ästhetische Erfahrung selbst bedeutet die Krise des Sinns.
Meine Differenz zu Menke-Eggers’ brillanten Überlegungen betrifft y 1
die Konstruktion des Verhältnisses zwischen ästhetischer Negativität !
und kommunikativ geteiltem Sinn.

199
erfahren läßt, und dessen Standhalten gegenüber der Übermacht
der Negativität, durch welches es noch die Erfahrung seiner Nich­
tigkeit in die Welt kommunikativ geteilten Sinns aufhebt und
hierin über die eigene Nichtigkeit sich erhebt. Der Ort des Erha­
benen wäre nicht der Gegensatz zwischen dem empirischen und
intelligiblen Ich, nicht der Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und
Vernunft, sondern ein Gegensatz im »intelligiblen« Ich selbst:
Dieses ist nichtig und erhaben zugleich.
In den »Malen der Zerrüttung«, die nach Adorno das »Echtheits­
siegel« der ästhetischen Moderne sind, spricht die Kunst aus, daß
die Welt nicht mehr zu einem Sinnganzen sich zusammenfügen
läßt. Indem sie es aber ästhetisch tut, Medium einer reflexiven
Lust, bringt sie zugleich die endliche Welt des kommunikativen
Sinns zum Erglühen, bringt ihre Farben zum Leuchten. Und in­
dem sie das Endliche, das Abgebrochene, das Abgründige des
Sinns und seiner sprachlichen Subjekte in ästhetischen Sinn ver­
wandelt, wirkt sie zugleich erhellend auf die Welt sprachlichen
Sinns zurück. Es sind ja die gewöhnlichen Subjekte, Bewohner
einer Tagwelt sprachlich erschlossenen, kommunikativ geteilten
Sinns, die ästhetische Erfahrungen machen. Treten sie für Augen­
blicke aus dem Zeit- und Sinnkontinuum dieser Tagwelt heraus,
so kehren sie auch wieder dorthin zurück; was ihnen ästhetisch
geschieht, geschieht ihnen immer auch als Subjekten einer kom­
munikativen Praxis, auf welche die ästhetische Erfahrung erhel­
lend, erweiternd, sinnbildcnd und sinn-erschütternd zurück­
wirkt. Die Kunst ist ein Teil der intelligiblen Welt, wodurch diese

r zu ihren Rändern und Abgründen hin sich öffnet, Eingedenken


der Natur im Subjekt; indem sie den Schrecken des Sinnfernen in
ästhetische Lust verwandelt, erweitert sie zugleich die Grenzen
des sprachlichen Sinns.

i Wenn man freilich das Erhabene der modernen Kunst nicht mehr
aus einem Horizont antizipierter Versöhnung versteht, so wird

I zugleich fraglich, ob man wirklich die authentische moderne


Kunst mit einer Kunst des Erhabenen gleichsetzen darf. In Wirk­
I
lichkeit ist ja das Ineinander von ekstatischen und kontemplativen

I
=,
Momenten, das die ästhetische Erfahrung auszeichnet, nicht ge­
bunden daran, daß im Kunstwerk das Unverständliche als das
Schreckliche vergegenwärtigt und gebannt wird. Kommunikation
des Unkommunizierbaren, Darstellung eines nicht Darstellbaren
sind vielmehr Merkmale der Kunst, in welchen sie alle Aspekte

3 200
möglicher Weltcrfahrung umgreift. Die wcltcrschließcnde, verge­
genwärtigende und erfahrungsverändernde Kraft der Kunst
äußert sich darin, daß sie den in der alltäglichen Erfahrung zer­
streuten Sinn sammelt, verdichtet und transformiert, dem Un­
greifbaren und Flüchtigen zur Dauer verhilft, das der Sprache sich ä! I
Entziehende zur Sprache bringt, das nicht Gesehene sichtbar und
das nicht Gehörte hörbar macht. Insofern hat sie es immer gleich­
sam mit der Rückseite der Welt sprachlich erschlossenen Sinns zu ■I
tun. Indes ist das Sinnferne, das Kontingente, ist der Abgrund des
Sinns nicht nur das »Unverständliche als das Schreckliche«, son­
K

dern zugleich Natur als ein Ort möglichen Glücks. Im Abgrund


des Sinnfernen, der sich inmitten der Welt sprachlichen Sinns auf­ 1 i
tut, wartet auch die Lust. Schrecken und Lust der Endlichkeit sind
nicht ohne einander; hierin hatte Nietzsche gegen Adorno recht.
Worin Adorno gegen Nietzsche recht hat, das ist, daß die Welt des
sprachlichen Sinns, wenn das Geflecht intersubjektiver Anerken­
nung zerreißt, zur Hölle werden muß. Es ist eine Möglichkeit, die
wir niemals ausschlicßen können, sondern gegen die wir nur die in
der Welt sprachlichen Sinns trotz ihrer Fragilität beschlossene
Kraft der Versöhnung aufbieten können, eine Kraft, die heute nur
noch in den Institutionen und Gewohnheiten post-konventionel­
ler demokratischer Lebensformen sich erhalten und erneuern
kann. Indem Adorno den Zustand der modernen Welt vom
Grenzfall Auschwitz her als einen Zustand vollendeter Negativi­
tät konstruierte, hat er aber gerade jene Kräfte der Versöhnung
verfehlt, die nach der »Explosion metaphysischen Sinns« allein
verhindern können, daß die Welt sich dem Bilde von Auschwitz
angleicht: Die Hoffnung auf totale Versöhnung entwertet jede ge­ h
schichtlich mögliche Versöhnung. Zu dieser aber, der geschicht­ r i
> ;■

lich möglichen Versöhnung, gehört ein Moment der Entzweiung h


hinzu: kein Glück der Freiheit ohne Polarität von Versöhnung
und Entzweiung, von Lust und Schmerz des Nicht-Identischen.
Adorno wollte diese Wahrheit Hölderlins und Hegels nur als
Wahrheit über die Kunst akzeptieren; deshalb konnte er in der
ästhetischen Dissonanz nur die virtuelle Negation der realen Dis­
sonanzen sehen, ein »standhaltendes Negieren«, durch welches
die Kunst für ihn zur erhabenen wurde. : !|
Wenn man dagegen, wie ich es hier versucht habe, Adornos Be­
griff des modernen Erhabenen von dem von Adorno selbst beton­
H
b
ten Zusammenhang zwischen der »Explosion metaphysischen

201

l)l
Sinns« und der Emanzipation des Subjektes her rekonstruiert,
dann läßt sich die These, die moderne Kunst sei erhaben, das heißt
von der Grundfarbe schwarz, nicht länger aufrechterhalten. Ge­
wiß, die Kunst im Zeitalter einer nach-metaphysischen Moderne
befindet sich unwiderruflich jenseits eines Begriffs von Schönheit,
der das sinnliche Scheinen der Idee, der einen höheren Sinn, eine
letzte Versöhnung der Widersprüche meint. In diesem Sinne mag
das Erhabene zum Konstituens aller modernen - oder postmoder­
nen - Kunst geworden sein. Ein so verstandenes Erhabenes aber
muß nicht von der Grundfarbe schwarz sein - sowenig wie der
Verzicht auf eine letzte Versöhnung Verzweiflung bedeutet. Daß
in der ästhetischen Konstruktion der Sinnlosigkeit »Erhabenes
und Spiel konvergieren«, wie Adorno sagt, könnte auch in einem
anderen Sinne verstanden werden als bei Adorno, der diesen Ge­
danken auf die schwarze Komik Becketts bezieht. Etwa so, daß
die Kunst das Spiel der Welt zur Erscheinung bringt, den Ge­
schichtsraum in einen Naturraum zurückverwandelt und hierin
die Abgründigkeit des sprachlichen Sinns nicht nur in ihrer Nega­
tivität, sondern zugleich in ihrer Produktivität erfahrbar macht.
Die Erfahrung solcher Kunst könnte die ekstatische Erfahrung
einer Überschreitung des Sinns sein: Kunst als Nachahmung des
Naturschönen. Innerhalb der modernen Musik gibt es eine Tradi­
tionslinie, die Debussy mit Strawinsky, Messiaen und Ligeti
verbindet; eine Traditionslinie, mit der Adorno, der präokkupiert
war durch die deutsch-österreichische Tradition eines dynamisch­
expressiven Konstruktivismus, nie so recht etwas anzufangen
wußte. Der tiefere Grund mag sein, daß Adorno an einer Hegel­

r sehen Bestimmung der Musik festhielt, wonach die Wurzel der


Musik der expressive menschliche Sprachlaut, die menschliche
j
i
Lautgeste ist.34 Charakteristisch für die Musik jener anderen
Traditionslinie ist aber, daß in ihr, um mit Hegel zu reden, nicht
die »Sphäre der subjektiven Innerlichkeit« sich in Tönen entäu­
ßert, daß nicht das Subjekt, sondern daß die Dinge zum Tönen
gebracht werden, die Welt als Klangraum ersteht. Gegenüber der
! Finalität einer subjektzentrierten Zeitlichkeit treten Farbe, rhyth­
mische Komplexität und Räumlichkeit der Musik hier in einer

i nicht mehr finalen Objekthaftigkeit in den Vordergrund; der Na-

34 Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik m, in: Werke,


Bd. 15, Frankfurt a.M. 1970, S. 144L, 149-I52-

= 202
turraum der Geschichte wird hörbar gemacht, Musik tendenziell
zur Nachahmung des Naturschönen - und sei es eines mathema­
tisch-technisch erzeugten, d.h. bereits künstlichen »Naturschö­
nen« wie der Fraktale im Falle Ligetis.35 Und doch genügt auch
diese Musik allen Desideraten des Modernen im Sinne Adornos:
Sie ist hochgradig konstruktiv und individuiert in ihrer Sprache
und ihren technischen Verfahren; und sie hat der Musik ganz neue
Erfahrungs- und Materialschichten erschlossen, insbesondere sol­
che aus außereuropäischen Kulturen. Im übrigen sind die Grenz­
linien zwischen den beiden genannten Traditionen der modernen
Musik längst unscharf geworden; ich habe sic vor allem deshalb
unterschieden, weil Adorno dazu neigte, die eine der beiden aus
dem Kanon der modernen Kunst auszugrenzen. An solchen Stel­
len zeigt sich, daß die Ästhetik der Negativität am Ende auch mit
einer ästhetischen - und nicht nur mit einer philosophischen -
Blickverengung verknüpft ist. Das ließe sich auch an anderen Bei­
spielen zeigen; notorisch ist Adornos schiefes Verhältnis zum Jazz
und zum Film.
Freilich stammt die Idee einer Nachahmung des Naturschönen
durch die Kunst von Adorno selbst. Man könnte versucht sein zu
sagen, daß alle Elemente einer nachmetaphysischen Ästhetik der
Moderne bei Adorno versammelt sind, nur in einer durch die Op­
tik der Versöhnungsphilosophie verzerrten Anordnung. Seine
Ästhetik ist ein Zögern auf der Schwelle, populär gesagt, zur Post­
moderne, ernsthafter gesagt, zu einem nachmetaphysischen Be­
griff der Moderne. Den Ästhetiken der Postmoderne ist sie immer
noch überlegen. Aber fruchtbar machen läßt sie sich heute nur
noch, wenn man sie entschlossen verfremdet; oder anders gesagt,
wenn man sie über jene Schwelle stößt, auf der sie zögert: die
Schwelle zu einer nachmetaphysischen Moderne. Dies wäre eine
i
Moderne, die im Sturz der Metaphysik nicht nur den Verlust,
sondern auch die Befreiung erkennt: die Befreiung von der Illu­
sion und dem Terror eines irgend objektivierbaren letzten und
umfassenden Sinns; eine Moderne, die der Metaphysik um so we­
niger bedürfte, je mehr sie die Wahrheit der Metaphysik in den
Strukturen ihrer Weltlichkeit aufgehoben hätte.
35 Vgl. Denys Bouliane, »Stilisierte Emotion. György Ligeti im Ge­
spräch«, in: Musik-Texte, 28/29, März 1989; Denys Bouliane, »Geron­
nene Zeit und Narration. György Ligeti im Gespräch«, in: Neue
Zeitschrift für Musik, Mai 1988.

20}

i,
7. Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes

i.

In seinen »Meditationen zur Metaphysik«, dem letzten Kapitel


der Negativen Dialektik, hat Adorno den Begriff eines Denkens
jenseits der Metaphysik zu entfalten versucht. Dieser Begriff
bleibt bei ihm aporetisch. Was nämlich den Namen »Denken«
verdient, muß nach Adorno am transzendierenden Impuls der
Metaphysik partizipieren; dieser aber sperrt sich gegen die Form
des begrifflichen Denkens. Wie fast immer bei Adorno resultiert
die Aporie aus einer doppelbödigen Argumentation: Zum einen
zeigt er, daß der »Sturz« der metaphysischen Ideen unwiderruf­
lich ist, zum anderen argumentiert er, daß die Wahrheit der
Metaphysik erst im Augenblick ihres Sturzes faßbar wird. Der
Augenblick dieses Sturzes ist, in einem weiteren Sinne verstanden,
die letzte Etappe der europäischen Aufklärung seit Kant, in einem
engeren Sinne verstanden, das Verbrechen von Auschwitz als der
Augenblick der Vollendung und Selbstdurchstreichung dieser
Aufklärung.
Die »Meditationen zur Metaphysik« sind eine einzige Auseinan­
dersetzung mit Kants kritischer Rettung der Metaphysik. An ihr
demonstriert Adorno, weshalb der Sturz der Metaphysik unwi­
derruflich ist, und an ihr bejaht er zugleich, und von ihr über­
nimmt er noch einmal den Gestus des kritischen Rettens. Ich
möchte zunächst den destruktiven Aspekt seiner Argumentation
erläutern. Adornos Kritik richtet sich gegen Kants Grenzziehung
zwischen den Bereichen des Empirischen und des Intelligiblen,
die Bedingung von Kants kritischer Rettung der Metaphysik. Und
zwar weist Adorno auf eine Antinomie im Begriff des Intelligiblen
hin, die, anders als die Kantischen Antinomien, nicht nur unver­
meidlich, sondern auch unauflösbar ist; eine Antinomie daher, die
mit der Erkennbarkeit der intelligiblen Welt zugleich deren Denk­
barkeit in Frage stellt. Die Antinomie besteht darin, daß den
transzendentalen Ideen objektive Realität nicht zukommen kann
und daß ihnen, sollen sie Ausdruck eines sinnvollen Gedankens
sein, Realität doch zukommen muß. Daß den transzendentalen
Ideen keine objektive Realität zukommt, daß ihnen keine mög-

204
liehe Erfahrung korrespondiert, hat Kant selbst eindringlich ge­
zeigt. Adorno zeigt demgegenüber, daß sie als bloße Gedanken
leer wären, wenn sie nicht von möglicher Erfahrung her, das heißt
f!
sub specie einer ihnen zumindest möglichen objektiven Realität,
gedacht würden. Die Doppeldeutigkeit des Kantischcn Ideenbe­
griffs wird faßbar im Übergang von der Kritik der reinen Vernunft
zur Kritik der praktischen Vernunft. Im Lichte der praktischen
Vernunft nämlich erscheinen die Ideen von Gott, Freiheit und fi
Unsterblichkeit nicht mehr bloß als regulative Ideen, sie werden
vielmehr zu konstitutiven Ideen, »indem sie Gründe der Möglich­
(■ i
keit sind, das notwendige Objekt der reinen praktischen Vernunft
(das höchste Gut) wirklich zu machen* (I. Kant, KrdprV, A244).
Damit das »höchste Gut« als ein mögliches Wirkliches gedacht
werden kann, müssen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als
Ö
wirklich — wenngleich unerkennbar - gedacht werden. Als Namen
von Wirklichem aber lassen sich diese Ideen nur deshalb denken,
weil sie ihrem Sinne nach immer schon - in einer von Kant un­
durchschauten Weise - auf mögliche Erfahrung, oder auf die
Bedingungen möglicher Erfahrung, bezogen sind. Sic setzen näm­
lich in je verschiedener Weise den Begriff eines individuierten
geistigen Wesens bzw. den einer Welt individuierter geistiger We­
sen voraus; im Begriff eines geistigen Wesens aber, so wie wir
allein ihn denken können, ist seine Leiblichkeit, sind also Raum
und Zeit und mögliche Erfahrung immer schon impliziert. Diese
Naturhaftigkcit, diese Leiblichkeit individuierter geistiger Wesen
wird in den zentralen Begriffen, in denen Kant das Reich des In-
telligiblen denkt, insgeheim vorausgesetzt und zugleich als eine
notwendige Voraussetzung geleugnet. Die Doppeldeutigkeit der I
transzendentalen Ideen - zwischen einer »regulativen« und einer
»konstitutiven« Bedeutung, zwischen Transzendenz und Imma­
nenz - erklärt sich daraus, daß der Begriff des Intclligiblen nicht
nur ein Jenseits der erkennbaren Natur, sondern zugleich ein Jen­ ■

seits der bösen Natur (und einer sinnlosen Geschichte) bezeich­ ■ '

net. Als Jenseits der bösen Natur steht das Reich des Intelligiblen
für eine unendliche Aufgabe, vor die endliche Vernunftwesen sich
gestellt sehen - die Verwirklichung des höchsten Guts, die Über­
windung der Naturhaftigkeit des Willens -, sowie für die Mög­
lichkeit einer Lösung dieser Aufgabe, für die aus der geschicht­
lichen Erfahrung allein sich keine Anhaltspunkte gewinnen
ließen. Da die Aufgabe unabweisbar ist, muß den Ideen von Gott,

20J
Freiheit und Unsterblichkeit Wirklichkeit zukommen; denn nur
wenn ihnen Wirklichkeit zukommt, kann die Aufgabe selbst sinn­
voll und kann sie zugleich Index eines Sinns der natürlichen und
geschichtlichen Welt sein. Dieser Zirkel von Postulaten bringt
nicht mehr eine erkenntniskritische, sondern eine praktisch-teleo­
logische Verknüpfung der intelligiblen mit der empirischen Welt
zum Ausdruck. Das Intelligible bezeichnet Grund und Zielpunkt
dieser Teleologie. Nur wenn der Grund - Gott, Freiheit, Unsterb­
lichkeit-wirklich ist, kann das Ziel eine Möglichkeit bezeichnen.
Dieses Ziel wird bei Kant durch eine Reihe von Grenzbegriffen
bezeichnet, wie diejenigen eines »vollkommen guten« oder »heili­
gen« Willens, eines Reichs der Zwecke, des höchsten Guts, des
Reichs Gottes usw., in denen die empirische Welt sich gleichsam
auf die intelligible hin übersteigt. Alle diese Grenzbegriffe sind
paradox darin, daß sie einen für sinnliche Vernunftwesen unend­
lich approximierbaren Grenzwert nur dadurch bezeichnen kön­
nen, daß sie im Grenzwert der Vollkommenheit selbst die
Bedingung der Natürlichkeit durchstreichen. An dieser Paradoxie
hat auch der Begriff eines »reinen Vernunftwesens« teil: Er be­
zeichnet ein Telos endlicher Vernunftwesen, deren Unvernünftig­
keit er negiert; er bezeichnet somit ein Ideal der Vernünftigkeit.
Aber in der Formulierung des Ideals sind zugleich alle jene Bedin­
gungen negiert, unter denen die endlichen Vernunftwesen allein
individuierte, d. h. wirkliche Vernunftwesen sein können: Natür-
lickeit, Leiblichkeit, Sinnlichkeit, Wille. Auf verschiedenen Stufen
wiederholt sich somit die Doppeldeutigkeit der Begriffe, in denen
Kant das Reich des Intelligiblen denkt: Sie transzendieren die
Grenzen möglicher Erfahrung und meinen doch mögliche Erfah­
rung. Dies gilt auch noch für die Idee der Unsterblichkeit der
Seele. Adorno spottet über den »Spiritismus« einer Metaphysik -
auch noch der Kantischen -, die die Lehre der Unsterblichkeit nur
um den Preis totaler Vergeistigung, eben nur für die Seele, zu
retten weiß. »Hoffnung aber heftet sich, wie in Mignons Lied, an
den verklärten Leib. Metaphysik will davon nichts hören, nicht
mit Materiellem sich gemein machen... Die idealistische Kon­
struktion jedoch, die den Erdenrest auszuscheiden vorhat, wird
wesenlos, sobald sie jene Egoität gänzlich ausmerzt, die Modell
= des Begriffs Geist war... Die christliche Dogmatik, welche die
Erweckung der Seelen mit der Auferstehung des Fleisches zusam­
mendachte, war metaphysisch folgerechter, wenn man will: auf-

206
geklärter als die spekulative Metaphysik; so wie Hoffnung
leibhafte Auferstehung meint und durch deren Vergeistigung ums t
Beste sich gebracht weiß.«1
Kants Versuch, die Wahrheit der Metaphysik, und mit ihr die der
Theologie, kritisch zu retten, muß aus der Perspektive Adornos H
scheitern, weil die Grenzziehung zwischen dem, was erkennbar
und dem, was bloß denkbar und denknotwendig, aber nicht er­
kennbar ist, weil also letztlich der Begriff des Intelligiblcn selbst
aporetisch bleiben muß. Kants Philosophie erweist sich als ohn­
mächtig gegenüber dem Strudel fortschreitender Aufklärung, in
den die metaphysischen Ideen hineingezogen sind.
So gilt auch für die Kantische Form der Metaphysik noch einmal,
was Kant der älteren vorwarf: Ihre Ideen sind »Luftspiegelungen
des Denkens«; sie stehen nicht nur für Unerkennbares, sondern
für Undenkbares; sie sind das Imaginäre des Denkens, ein Traum
der Vernunft. Soweit gibt Adorno sogar der positivistischen Auf­ i 1
klärung recht. Indes ist der geschichtliche Augenblick, in dem die
Metaphysik als Theorie von der Aufklärung unwiderruflich ins
Unrecht gesetzt ist, für Adorno zugleich der Augenblick einer
möglichen Rettung ihres Wahrheitsgehalts. Die Wahrheit der Me­
taphysik wird erst im Augenblick ihres Sturzes faßbar. Erst in
dem Augenblick nämlich, in dem alle objektivistischen und apo­
logetischen Ansprüche der Metaphysik, in denen sie das Erbe der
Theologie als Ideologie angetreten hatte, zuschanden geworden
sind, wird das an ihr sichtbar, was sie unwiderruflich von falscher
Aufklärung scheidet und worin sie sich dieser - auch wo sie sich
ihr in der Form des philosophischen Systemdenkens anpaßte —
immer schon entgegengesetzt hatte. Aber nicht nur wird erst im
N
Augenblick ihres Zerfalls - dem geschichtlichen Augenblick der
voll entwickelten Moderne - der Wahrheitsgehalt der Metaphysik
sichtbar; vielmehr wird im gleichen Augenblick auch deutlich,
weshalb das Bedürfnis nach Metaphysik unabweisbar ist für ein
Bewußtsein, das sich als Bewußtsein nicht selbst durchstreichen
will. In dieser paradoxen Zuspitzung des Problems steckt eine
Bündelung von Motiven, durch welche Adornos Meditationen !!
zur Metaphysik in eine vieldeutige Nähe sowohl zur Religionskri­
tik des jungen Marx, zur Metaphysik-Kritik des Poststrukturalis- ;1
1 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: Ges. Schriften, Bd. 6, Frankfurt I
1973, S.393.

207
mus als auch zur Relativismus-Kritik der Transzendentalpragma­
tik rücken. Diesen Verwandtschaftsbeziehungen möchte ich im
folgenden ein Stück weit nachgehen.
Adorno sieht den Wahrheitsgehalt der Metaphysik in ihrem alles
bloß Bestehende auf ein Absolutes hin transzendierenden Impuls.
Dieser transzendierende Impuls ist nichts anderes als das »tran­
szendierende Moment« in allem Denken, ohne das nach Adorno
die Idee der Wahrheit - die er, scheinbar un-kantisch, als die
»oberste« unter den metaphysischen Ideen bezeichnet2 - nichtig
wäre. Wenn ich sage: scheinbar un-kantisch, so will ich damit
andcuten, daß Kants Versuch, den Wahrheitsbegriff gleichsam un­
terhalb der Ebene der Vernunftideen abzuhandeln, durchaus im­
manent sich in Frage stellen ließe. Adorno spielt auf diese
Möglichkeit an, wenn er aus Kants Idcenlehre die These heraus­
liest, »ohne Metaphysik sei Theorie nicht möglich«? Wenn
Adornos These zum metaphysischen Charakter des Wahrheits­
begriffs richtig ist, dann versteht sich von selbst, daß seine Vertei­
digung des Wahrheitsbegriffs - und darum geht es ihm -
aporetische Züge annehmen muß. Vielmehr: sie wird zur Entfal-
tung einer Aporie; und indem Adorno diese Aporie entfaltet,
versucht er zugleich das Aporetische der Kantischen Metaphysik
als Spur einer Einsicht zu lesen, durch welche Kant sich am Ende
seinen idealistischen wie seinen positivistischen Überwindern als
überlegen erweist.
Für Adorno koinzidiert die Möglichkeit der Wahrheit mit der ei­
nes objektiven Sinns. Mit der Idee der Wahrheit ist daher Dauer in
einem doppelten Sinne postuliert: zunächst die der Wahrheit
selbst; »denn es ist ein Moment der Wahrheit, daß sie samt ihrem
Zeitkern dauere; ohne alle Dauer wäre keine, noch deren letzte
Spur verschlänge der absolute Tod«? Dann aber auch die der
lebendigen Subjekte,/«? die die Wahrheit ist. Denn »der Gedanke,
der Tod sei das schlechthin Letzte, (ist) unausdenkbar«? »Wäre
der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv vergebens be­
schwor, so ist alles überhaupt nichts, auch jeder Gedanke ins
Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit irgend sich denken«.6
2 A.a.O., S. 394.
3 A.a.O., S. 377.
4 A.a.O., S. 364.
5 A.a.O.
6 A.a.O.

208
Der Gedanke, daß in der Idee der Wahrheit der Tod nicht nur
metaphorisch - als der des Wahren sondern buchstäblich ne­
giert wird, bringt ein theologisches Motiv mit Kant und gegen
Kant zur Geltung. Kantisch ist der von Adorno unterstellte Pri­
mat der praktischen über die theoretische Vernunft und der
Anschluß an die Kantische Postulatenlehre, die Adorno, in einer
charakteristischen Wendung, freilich nicht auf die Besserung der
Täter, sondern auf das Leiden der Opfer bezieht: »Daß keine in­
nerweltliche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit wi­ I :
derfahren zu lassen; daß keine ans Unrecht des Todes rührte, 1
bewegt die Kantische Vernunft dazu, gegen Vernunft zu hoffen.
Das Geheimnis seiner Philosophie ist die Unausdenkbarkeit der
Verzweiflung«.7 Un-kantisch dagegen, gegen Kant gedacht, ist
es, wenn Adorno im theologischen Motiv ein materialistisches zur
Geltung bringt, das auf die Verweltlichung des transzendierenden
Impulses abzielt. Der Gang der Geschichte nötigt die Metaphysik
zum Materialismus, gegen den sie einmal konzipiert war;8 nötigt
sie, auf den »Schauplatz des Leidens« herabzusteigen, die »soma­
tische, sinnferne Schicht des Lebendigen«,5 nachdem in den
Lagern »alles Beschwichtigende des Geistes ... ohne Trost ver­
brannte«.10 Der transzendierende Impuls meint nicht ein Jen­
seits der geschichtlichen Welt, sondern eine andere Verfassung der
Welt. Der Fluchtpunkt der Entmythologisierung - erst der Theo­
logie, dann der Metaphysik - ist eine Konstellation von Imma­
nenz und Transzendenz, die ebenso denknotwendig wie undenk­
bar ist. »Was von Entmythologisierung nicht getroffen würde,
wäre kein Argument... sondern die Erfahrung, daß der Gedanke,
der sich nicht enthauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee
einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid ab­
geschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerru­
fen wäre.«11
Dies ist Adornos Version der Marxschen Religionskritik, dieser
auch darin verwandt, daß die Entzauberung der Welt, daß der
Zerfall aller religiösen und metaphysischen Sinngarantien im Pro­
zeß der kapitalistischen Modernisierung als Voraussetzung einer
7 A.a.O., S. 378.
8 A.a.O., S. 3 58.
9 A.a.O.
10 A.a.O.
11 A.a.O., S. 395.

209

J
j
I Verweltlichung der Metaphysik erscheint. Im Lichte dieser reflek-
tierteren Wiederholung der Marxschen Religionskritik nun er­
scheinen die Aporien Kants als Spuren einer Einsicht, die sich
entgegen Kants Meinung anders als aporetisch gar nicht formulie­
ren läßt. Die Zweideutigkeiten der Kantischen Ideenlehre, auf die
ich anfangs hingewiesen habe, haben nach Adorno ihr Recht
darin, daß das Absolute weder als Seiendes - das wäre Metaphysik
als Ideologie - noch als Nicht-Seiendes - das wäre Positivismus als
Denkverbot — gedacht werden kann. In immer wieder neuen Wen­
dungen wiederholt Adorno diesen Gedanken im Schlußabschnitt
der Negativen Dialektik. So sagt er über Kant: »Genötigt von der
Konvergenz aller Gedanken in einem Absoluten, beließ er es nicht
bei der absoluten Grenze zwischen dem Absoluten und dem Sei­
enden, die zu ziehen er nicht minder genötigt war. Er hielt an den
metaphysischen Ideen fest und verbot dennoch, vom Gedanken
des Absoluten, das einmal sich verwirklichen könne wie der ewige
Friede, überzuspringen in den Satz, das Absolute sei darum.«12
Oder, prägnanter: »Der Begriff des in teil igiblen Bereichs wäre der
von etwas, was nicht ist und doch nicht nur nicht ist«;13 und:
»Der Begriff des Intelligiblen ist weder einer von Realem noch
einer von Imaginärem. Vielmehr aporetisch.«14 Indes beläßt
Adorno es am Ende doch nicht bei der Aporic. Für einen kurzen
Augenblick läßt er vielmehr alle dialektische Vorsicht fahren und
ergibt sich ungeschützt der Spekulation. Und zwar nutzt er einen
Hegelschen Einwand gegen Kant, um ganz un-hegelisch die
I Denkbarkeit eines materialistisch gewendeten Begriffs der Tran­
szendenz, einer materialistisch gewendeten Versöhnungshoff­
nung, darzutun. Adorno kritisiert Kants Doktrin des »unzerstör­
baren Blocks«, d.h. seine Lehre von ein-für-allemal gegebenen
Formen der Anschauung und der Erkenntnis, aus denen das
menschliche Bewußtsein, gleichsam zu ewiger Haft in ihnen ver­
urteilt,15 prinzipiell nicht solle hinaustreten können. Hegels
r Kritik am Kantischen Dualismus von Form und Inhalt hat das
Dogmatische an dieser Kantischen Konzeption aufgewiesen. »Die
Formen«, so folgert Adorno, »sind nicht jenes Letzte, als das
Kant sie beschrieb. Vermöge der Reziprozität zwischen ihnen und
r
12 A.a.O., S. 378.
13 A.a.O., S.385.
14 A.a.O., S. 384.
15 A.a.O., S. 378.

210

?
dem seienden Inhalt entwickeln sie sich auch ihrerseits. Das ist
jedoch unvereinbar mit der Konzeption des unzerstörbaren
Blocks. Sind die Formen einmal, wie es in Wahrheit bereits der
Auffassung vom Subjekt als ursprünglicher Apperzeption gemäß
wäre, Momente einer Dynamik, so kann ihre positive Gestalt so
wenig für alle künftige Erkenntnis stipuliert werden wie irgend­
einer der Inhalte, ohne die sic nicht sind und mit denen sie sich
verändern.«'6 Es ist, als ob mit diesem Gedanken für Adorno
sich ein schmaler Türspalt öffnete, durch welchen ein schwacher
Lichtschein von der Erlösung her auf die verdunkelte Welt fiele,
genug, um Kants metaphysischem Agnostizismus das Recht eines
letzten Worts zu bestreiten. Statt »wir können es nicht wissen«:
»wir wissen es noch nicht«. »Das naive Bewußtsein, dem wohl
auch Goethe zuneigte: man wisse es noch nicht, aber vielleicht
enträtsele es sich doch noch, ist an der metaphysischen Wahrheit
näher als Kants Ignoramus.«17 Zwar hütet Adorno sich auch an
dieser Stelle vor einem »Übergang zur Affirmation«,18 aber der
Stellenwert seiner Überlegung ist dennoch eindeutig: der ge­
schichtliche Charakter der Erkenntnisformen dient ihm als Argu­
ment dafür, daß eine materialistisch verstandene Hoffnung auf
Erlösung den Einspruch der aufgeklärten Vernunft nicht zu fürch­
ten braucht.
Indes macht gerade Adornos Rückgriff auf ein Hegelsches Argu­
ment gegen Kant den Punkt sichtbar, an dem er Kant nicht
kritisch über-, sondern vorkritisch «verbietet. Zwar kann der
Hinweis auf die Möglichkeit einer zukünftigen Veränderung un­
serer Denk- und Anschauungsformen den Gedanken plausibel
i
machen, daß das aporetische Verhältnis von Notwendigkeit und
Unmöglichkeit der Metaphysik, so wie es sich für Adorno dar­ ! !
stellt, für die Philosophie nichts Letztes, nicht ihr letztes Wort
sein muß: die Aporie könnte etwa zum Verschwinden kommen,
indem die Philosophie über die Begriffe, Probleme oder Prämis­
sen hinauskommt, aus denen die Aporie mit scheinbarer Notwen­
digkeit resultierte, oder indem sie die Fragen neu formuliert, die
scheinbar nur aporetische Antworten zuließen. Aber nur um den
Preis philosophischer Naivität könnte man aus dem geschicht-

16 A.a.O., S. 378 f.
17 A.a.O., S. 279.
18 Vgl. a.a.O., S. 378.

21 I
liehen Charakter unserer Denk- und Anschauungsformen schlie­
ßen, daß das Absolute als Versöhnung - oder daß die absolute
Versöhnung - eine geschichtliche Wirklichkeit werden könnte.
Wir können nämlich schon jetzt wissen, daß wir das, was wir als
Wirkliches nicht einmal konsistent denken können, auch nicht als
Wirkliches antizipieren können; daher könnte die Auflösung der
Aporie, könnte die Enträtselung des Rätsels gerade das nicht be­
deuten, was Adorno als noch-nicht-seiendes Absolutes zu denken
versucht: die Erfüllung einer messianischen Hoffnung durch
Transfiguration der geschichtlichen Wirklichkeit. Würde sich die
Hoffnung auf Erlösung in der Geschichte erfüllen, so wäre, was
sich erfüllt hätte, nicht die Hoffnung auf Erlösung (sondern die
auf ein erfülltes Leben). Wäre dagegen, was sich erfüllte, wirklich
die Hoffnung auf Erlösung, so wäre hierdurch jedenfalls kein
neuer Zustand der Geschichte bezeichnet.
Es zeigt sich hier, daß Adornos Versuch, Marx’ Kritik der Reli­
gion durch eine materialistische Aneignung der Theologie zu
überbieten, in einem unheilbaren Widerstreit zwischen materiali­
stischen und metaphysischen (sprich: theologischen) Motiven
gefangen bleibt. Im Medium des Begriffs ließe sich dieser Wider­
streit nur auflösen durch den Rückgang zu einer vorkritischen
Metaphysik. Aber alles, was Adorno je gedacht hat, ist gegen die
Möglichkeit eines solchen Rückgangs gedacht. Deshalb konnte er
den undenkbaren Gedanken der Versöhnung am Ende nur noch
an die ästhetische Erfahrung überweisen. Da diese aber aus eige­
ner Kraft nicht beglaubigen kann, was der philosophischen Kritik
nicht standhält, konnte Adorno andererseits doch nicht auf den
Versuch verzichten, den ästhetisch verschlüsselten Versöhnungs­
gedanken auch philosophisch zu entschlüsseln. Negative Dialek­
tik und Ästhetische Theorie verweisen aporetisch aufeinander; in
diesem aporetischen Verweisungszusammenhang aber zirkuliert
in Wahrheit ein Stück - nicht kritisch geretteter, sondern - unauf­
gearbeiteter Metaphysik, das Adorno weder aufgeben noch offen
einbekennen mochte.

S 212
II.

Wenn, wie Adorno behauptet, der Wahrheitsbegriff unter den me­


taphysischen Begriffen der »oberste« ist, dann wird mit der Idee
der Versöhnung auch der Wahrheitsbegriff unhaltbar, »Wahrheit«
gleichsam ein Traum, den die Vernunft von sich selbst träumt. So
hatte es schon Nietzsche gesehen, mit dem Adorno sich in den
»Meditationen zur Metaphysik« insgeheim auseinandersetzt.
Adornos Verteidigung des Wahrheitsbegriffs bedeutet im Hin­
blick auf Nietzsche den Versuch einer Umkehrung der Vorzei­
i
chen; man denke nur an Nietzsches bekannte Formulierung, »daß
auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimeta­ i
physiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den
ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-
Glaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit
ist, daß die Wahrheit göttlich ist...«19 Beiden, Nietzsche wie
Adorno, geht es nicht um die gewöhnliche propositionale oder
Tatsachenwahrheit; diese sollte nach Adorno vielmehr bloß
»Richtigkeit« heißen, während Nietzsche sie, ganz analog, dem
»Würfelspiel der Begriffe« zuordnet, innerhalb dessen »Wahrheit«
heißt, »jeden Würfel so zu gebrauchen, wie er bezeichnet ist, ge­
nau seine Augen zu zählen, richtige Rubriken zu bilden und nie
gegen die Kastenordnung und gegen die Reihenfolge der Rang­
klassen zu verstoßen«.20 Aber weshalb sollte, so möchte man aus
der Sicht der modernen Sprachphilosophie fragen, ein solcher
Wahrheitsbegriff nicht ausreichen? Ich werde auf diese Frage spä­
ter zurückkommen, möchte aber schon hier versuchen, eine vor­
läufige Antwort zu geben: »Wahrheit«, als eine dem »Würfelspiel
der Begriffe« immanente Eigenschaft, ist pluralistisch; so viele
Wahrheiten wie Sprachspiele, Paradigmen, Begriffssysteme oder i'

I
Weltdeutungen. Wäre dies alles, wäre also jede Wahrheit »relativ«
zu einem sprachlichen Bezugssystem, das als solches nicht noch
einmal unter Gesichtspunkten der »Wahrheit« und »Unwahrheit«
beurteilt werden könnte, so gäbe es nur Wahrheiten, aber nicht die
Wahrheit. So leicht aber auch eine solche Schlußfolgerung einem
modernen Relativisten von der Zunge gehen mag, so widersinnig
19 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke, Bd.n (Hg.
1
K. Schlechta), Darmstadt 1960, S. 208.
20 F. Nietzsche, »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«,
in: Werke, Bd.ni, a.a.O., S. 315.

2I3
muß sie erscheinen, wenn man ihre Konsequenzen bedenkt. Sie
besagt ja, daß Wahrheit eine Frage der Perspektive ist, und jede
Perspektive unter Gesichtspunkten der Wahrheit so gut wie jede
andere. Dann aber kommt es »in Wahrheit« auf die Wahrheit nicht
an; die Wahrheit, und mit ihr die Vernunft, wird radikal entwertet.
Die Idee der Wahrheit wäre so etwas wie ein transzendentaler
Schein, nämlich »die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte
Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte«.21 Jeder Ge­
danke, auch jeder Gedanke Nietzsches, setzt diese Idee unver­
meidlich voraus, da es unmöglich ist, innerhalb eines sprachlichen
Bezugssystems zu denken und zugleich, im Akt des Denkens, den
Gedanken auf dieses sprachliche Bezugssystem zu relativieren.
Gleichwohl wäre es das Denken selbst, das am Ende im Zeichen
der Wahrheit die Idee der Wahrheit bestreiten müßte. Eine solche
Kritik der Wahrheit im Namen der Wahrheit ließe sich zwar nicht
ohne pragmatischen Selbstwiderspruch formulieren; aber dies al­
lein wäre noch kein Argument gegen sie, sofern die Kritik wirk­
lich eine unhaltbare Voraussetzung in der Idee der Wahrheit
namhaft gemacht hätte. Wäre aber die Kritik richtig, so ließe sich
auch der Verdacht, daß hinter dem Willen zur Wahrheit ein Wille
zur Macht sich verberge, nicht mehr als unsinnig abtun. Nietzsche
besaß Mut, Phantasie und Konsequenz genug, um die Folgepro­
bleme seiner Metaphysik-Kritik nicht zu verharmlosen; dies vor
allem unterscheidet ihn von den meisten modernen Relativisten.
Ich habe angedeutet, weshalb Adornos Versuch, mit der Idee der
»Versöhnung« zugleich einen »starken« Wahrheitsbegriff gegen
Nietzsche und den Positivismus zu retten, scheitern mußte. Die
eigentlich interessante Frage ist aber, weshalb Adorno sich zu
dem unmöglichen Versuch genötigt sah, ein marxistisches mit ei­
nem theologischen Motiv zusammenzuzwingen, um die Wahrheit
zu retten. Ich glaube, die Antwort auf diese Frage ist, daß Adorno
in seiner Kritik des »identifizierenden Denkens« sich so stark von
Prämissen der Nietzscheschen Begriffskritik abhängig gemacht
hatte, daß er deren Konsequenzen nur durch einen Gewaltstreich
abwehren konnte. Die von Adorno postulierte Solidarität mit Me­
taphysik im Augenblick ihres Sturzes22 meint im Grunde Treue
zur Idee der Wahrheit. Aber ist es wirklich so, daß wir der Meta-

21 F. Nietzsche, Werke, Bd.m, a.a.O., S. 844.


22 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 400.

2I4
physik nicht entkommen können, solange wir an der Wahrheit
fcsthalten? Und was hieße es genau, diese Frage mit >Ja< zu beant­
worten? Zwei Fragen, bei denen wir uns, wie es scheint, mit
Adornos Antworten nicht zufrieden geben können. Ich möchte
deshalb, um diese Fragen ein Stück weiter zu klären, kurz auf die
Fortführung und Neuformulicrung von Adornos (und Nietz­
sches) Problematik in der neueren sprachphilosophischen Diskus­
sion, und zwar insbesondere bei Apel, Habermas und Derrida
eingehen. Natürlich kann es sich bei den folgenden Verweisen nur
um grobe Stilisierung handeln. Ich hoffe aber zumindest zu einer
Präzisierung der beiden oben gestellten Fragen zu gelangen.
Apel, Habermas und Derrida sind sich einig in der Kritik der
Bewußtseinsphilosophie, der gegenüber sie die Sprachlichkeit der
Vernunft und damit zugleich die sprachliche Konstitution des Be­
wußtseins zur Geltung bringen. Sie sind sich ferner einig darin,
daß ein »starker« Wahrheitsbegriff in den Grundstrukturen der
sprachlich verfaßten Vernunft angelegt ist. Während aber Apel
und Habermas diesen Wahrheitsbegriff neu zu explizieren und
hierdurch zugleich aus seiner Verschränkung mit der Tradition der
Metaphysik herauszulösen versuchen, betrachtet Derrida den
Wahrheitsbegriff als einen jener metaphysisch infizierten Grund­
begriffe — andere wären etwa »Bedeutung« und »Verstehen« —, die
zwar, weil in die Grammatik unserer Sprachen eingebaut, unaus­
weichlich, die aber nichtsdestoweniger illusionär sind. Mich inter­
essiert hier vor allem der für unser Problem zentrale bedeutungs­
theoretische Aspekt von Derridas Philosophie, den er schon früh,
in Auseinandersetzung mit der Husserlschen Phänomenologie
und der strukturalistischen Sprachtheorie, ausgearbeitet hat. Un­
ter bedeutungstheoretischen Gesichtspunkten gibt es einige be­ ’s

merkenswerte Ähnlichkeiten zwischen Derridas Kritik an Hus­


serls Zeichentheorie in Die Stimme und das Phänomen und
! ]
Wittgensteins Kritik an der Zeichentheorie des Tractatus in den
Philosophischen Untersuchungen. In einem gewissen Sinne sind
sogar die Schlußfolgerungen vergleichbar: Beide, Wittgenstein
und Derrida, kritisieren die Vorstellung, daß sprachliche Zeichen
1 I!
’l

gleichsam von einem Bewußtsein mit Bedeutung gefüllt und hier­


durch Träger von Bedeutungsmfentionen werden, und beide »ver­
orten« statt dessen sprachliche Bedeutungen (1) horizontal, im
Verweisungszusammenhang einer Gesamtheit von sprachlichen
Zeichen und (2) - vertikal - in einer prinzipiell unabschließbaren

215
Iteration der 7.eichcnvertuendieng. Im Gegensatz zu Wittgenstein
jedoch, der die Paradoxien der intentionalistischen Bedeutungs­
theorie auflöste, indem er den Begriff des Bedeutungsverstehens
in terms eines praktischen Regelwissens erläuterte, hält Derrida
am intentionalistischen Standard der »Präsenz« von Bedeutungen
für ein Bewußtsein fest und gelangt, unter Benutzung dieses Stan­
dards, zu der Schlußfolgerung, daß die Bedeutung sprachlicher
Ausdrücke niemals einem Bewußtsein präsent sein kann, daß sie
vielmehr »etwas« in der Kette der Iteration unendlich Aufgescho­
benes, von Kontext zu Kontext sich Entziehendes, konstitutiv
von sich selbst Verschiedenes, kurz, daß sie nicht dasjenige »Et­
was« »ist«, als das sie in der Unterscheidung zwischen Zeichen
und Bedeutung, zwischen Signifikant und Signifikat doch immer
unterstellt werden muß; daß sie also, gemessen an dieser Unter­
stellung nicht(s) ist. Auf diese Weise werden die Begriffe der
Bedeutung, des Sinns, des Verstehens, der Interpretation, der
Kommunikation, des Zeichens usw., wird also das gesamte se­
mantische und hermeneutische Vokabular - von dem Derrida zu
Recht unterstellt, daß es tief in der reflexiven Struktur unserer
Sprachpraxis verankert ist - als Ort eines »transzendentalen
Scheins« aufgewiesen, in dem Derrida den eigentlichen, den har­
ten Kern der Metaphysik sieht. Wieso der Metaphysik? Derridas
Antwort bedeutet gewissermaßen eine Umkehrung der Wittgen-
steinschen Reflexion auf »Bedeutung«, »Sinn« und »Verstehen«.
Derrida meint nämlich, daß in den Begriffen der Bedeutung, des
Sinns, der Entzifferung eines Sinns, des Verstehens usw. die Ideen
eines sich selbst transparenten Bewußtseins, eines vollständig prä­
senten Sinns, eines Endes der Entzifferungsarbeit, der Wahrheit
als Unverborgenheit des Seins impliziert sind. Im scheinbar un­
i schuldigen Begriff des Zeichens - der hier nur für ein ganzes Feld
von Begriffen steht - sieht die Sprache selbst sich gleichsam immer
schon sub specie acternitatis, träumt von einer Wahrheit, die »dem
Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen« wäre, von einer
Heimkehr aus dem »Exil« der Sprache.23 In der Unterscheidung
zwischen (sinnlichem) Zeichen und (unsinnlicher) Bedeutung ist
I
der Gegensatz zwischen sinnlicher und intelligibler Welt ange-

23 J. Derrida, »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der
Wissenschaften vom Menschen«, in: ders., Die Schrift und die Diffe­
renz, Frankfurt 1972, S. 441.
h
2l6
legt24- im Gedanken einer dem Bewußtsein präsenten Bedeu­
tung und eines sich selbst in seinen Intentionen transparenten und
»gegenwärtigen« Subjekts ist das Sein als »Präsenz« gedacht.
Hierin aber entwirft sich das Denken als metaphysisches, fixiert
auf die Ideen der Wahrheit, der Begründung, des Sinns, in denen
die Sprache sich selbst auf ein invariantes Sein hin übersteigt.
»Man könnte zeigen«, sagt Derrida, »daß alle Namen für Begrün­
dung, Prinzip oder Zentrum immer nur die Invariante einer ■■
Präsenz (eidos, arche, tclos, cnergeia, ousia (Essenz, Existenz,
Substanz, Subjekt), aletheia, Transzendentalität, Bewußtsein, I
Gott, Mensch usw.) bezeichnet haben.«25 Dies aber, so Derrida, !I
bedeutet zugleich, daß in der Grammatik unserer Sprache, insbe­
sondere der Sprache der Philosophie, »die metaphysische Einheit
von Mensch und Gott, der Bezug des Menschen auf Gott, der
Entwurf, wie Gott zu werden, als konstituierender Entwurf der
menschlichen Wirklichkeit«26 immer schon vorausgesetzt ist.
I I
Aber diese Voraussetzung, diese in die Sprache eingesenkte
»Onto-Theologie«, ist nichts als der transzendentale Schein, der
von jenen Begriffen erzeugt wird, in denen die Sprache sich selbst
denkt.
Es versteht sich, daß eine Destruktion - oder »Dekonstruktion« -
der Metaphysik unter diesen Bedingungen nur möglich ist, wenn
es dem Denken gelingt, die Metaphysik - und das ist die Sprache
der Philosophie, die Sprache des Denkens - entgegen ihrer eige­
nen Schwerkraft in Bewegung zu versetzen. Dies ist der Sinn von
Derridas Anstrengung, »durch den Begriff über den Begriff hin­
auszugelangen« — um Derridas Anti-Philosophie in Adornos
Worten zu kennzeichnen. Anders als bei Adorno steht diese An­
strengung bei Derrida nicht im Zeichen der Solidarität mit einer
II
stürzenden Metaphysik, sie zielt vielmehr, im Bewußtsein einer
vorerst unvermeidlichen Komplizität mit der Metaphysik, auf de­
ren Sturz. Man könnte hier auch von einer Umkehrung der
Vorzeichen sprechen; einer Umkehrung, die eigentlich eine Wie-
<fer-Umkehrung ist, im Sinne einer Rückkehr zu Nietzsche. Und
diese Wiederumkehrung der Vorzeichen hat zumindest intern ge­
sehen ihre guten Gründe, denn Adornos Philosophie ließe sich
24 A.a.O., S. 426.
25 A.a.O., S. 424.
26 J. Derrida, »Fines Hominis«, in: ders., Randgange der Philosophie,
Frankfurt/Berlin/Wien 1976, S. 96.

217
sehr wohl als - wenngleich gebrochener - Ausdruck einer meta­
physischen Sehnsucht nach »Präsenz« charakterisieren. Aber ist
es denn richtig, daß »Bedeutung«, »Begründung« und »Wahrheit«
metaphysische Begriffe sind? Ich möchte, einem Vorschlag von
Ch. Menke-Eggers27 folgend, in meiner Diskussion dieser Frage
zwischen einem im engeren Sinne bcdcutungstheoretischen und
einem begründungs- (bzw. wahrheits-)theoretischen Aspekt von
Derridas Grundthesen unterscheiden. Der bedeutungstheoreti­
sche Aspekt ist vergleichsweise einfach abzuhandeln. Hier er­
scheint nämlich Wittgensteins Behandlung des Problems schlicht
als konsequenter und überzeugender. Auch Wittgenstein kritisiert
ja die Grundvorstellungen einer intentionalistischcn Semantik so­
wie die Hypostasierung von Bedeutungen zu intelligiblen Gegen­
ständen. Zugleich aber löst er den transzendentalen Schein in den
Begriffen der Bedeutung und des Verstehens auf, indem er ihren
nicht-metaphysischen Gebrauch in der Sprache rekonstruiert. Ins­
besondere weist Wittgenstein auf das Moment praktischen Wis­
sens, des »Sich-auf-etwas-Verstehens« im Verstehen einer Sprache
hin, ohne welches sprachliche Verständigung in einer gemeinsa­
men und als gemeinsam unterstellten Sprache nicht denkbar wäre.
Bei Wittgenstein ist die radikale Skepsis, die zur Zersetzung von
Begriffen wie »Bedeutung«, »Meinen« und »Verstehen« führt, im­
mer nur ein Durchgangspunkt auf dem Weg zur Auflösung fal­
scher mentalistischer Vorstellungen, die sich im philosophischen
Gebrauch dieser Begriffe abgelagert haben. Derrida muß demge­
genüber behaupten, daß der falsche mentalistische Maßstab in die
betreffenden Begriffe selbst eingebaut ist; nur so läßt sich die
r These ihres metaphysischen Charakters und als Konsequenz ein
hermeneutischer Anarchismus rechtfertigen, der die Möglichkeit
i des Verstehens und Selbstverstehens radikal in Frage stellt. Aller­
dings macht Derrida selbst eine Einschränkung: immer wieder
deutet er nämlich auf die Möglichkeit - und die Notwendigkeit -
hin, die zentralen Begriffe, um die es hier geht, und dazu etwa die
der »Intention« oder des »Subjekts«, aus dem metaphysischen
Verweisungszusammenhang herauszulösen, in dem er sie gefan­
gen sieht, sie gleichsam in eine postmetaphysische Grammatik der
Sprache aufzuheben. Nachdem aber Wittgenstein den Idealismus

27 Ch. Menke-Eggers, Nach der Hermeneutik. Zur Negativität ästhe­


tischer Erfahrung, Konstanzer Dissertation 1987, S. 220 ff.

218
1
des Bcdcutungsbegriffs bereits mit Erfolg philosophisch destru-
iert und damit gezeigt hatte, wie wir die Paradoxien vermeiden
können, von denen Derrida meint, sic seien vorerst unvermeid­
lich, sehe ich keinen Grund mehr, weshalb wir uns in diesen
Paradoxien vorläufig einrichten sollten.
Verwickelter werden die Dinge, wenn wir den wahrheitstheoreti­ j
schen Aspekt von Derridas Metaphysik-Kritik in die Betrachtung
einbeziehen. Man könnte in der Tat argumentieren, daß Derridas
Kritik am impliziten Idealismus des Bedeutungsbegriffs über­
haupt erst im Hinblick auf das Wahrheitsproblem virulent wird. I
1
Ich möchte das Problem, um das es hier geht, am Beispiel von
Apels und Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit verdeut­
lichen. Wiederum bin ich zu Stilisierungen genötigt; Stilisierun­
gen, die eher auf Apels stärkere Version der Konsenstheorie
zutreffen als auf Habermas’ vorsichtig fallibilistische Version.
Die Konsenstheorie der Wahrheit läßt sich verstehen als ein Ver­
such, Adornos Intention - die Rettung eines emphatischen, theo­
retische und praktische Vernunft umgreifenden Wahrheitsbegriffs
-ohne Rückgriff auf metaphysische Denkfiguren cinzulösen. Ein
solcher Versuch - so stellt sich das Problem zunächst dar - kann
nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, den Wahrheitsbegriff aus der
Immanenz je eingespielter Sprachspiele herauszulösen. Solange
wir Sprachspiele aus der Innenperspektive betrachten, scheint ein
Zusammenhang zwischen Wahrheitsansprüchen und möglichen
Begründungen und daher auch zwischen »Wahrheit« und einem
möglichen »rationalen Konsens« aufgrund der Bedeutung sprach­
licher Ausdrücke immer zumindest partiell gesichert zu sein. Ein
sprachspielwAergrei/ezzt/er Wahrheitsbegriff würde demgegenüber
verlangen, daß auch die sprachlichen Bezugssysteme selbst, inner­
halb derer jeweils ein Zusammenhang zwischen Wahrheitsansprü­
chen und möglichen Begründungen definiert ist, noch einmal mit
Gründen kritisiert und revidiert werden können; daß sie sich also,
wenn auch nicht selbst als »wahr« oder »falsch«, so doch als unter
Gesichtspunkten der Wahrheit mehr oder weniger »angemessen«
beurteilen lassen. Dies setzt voraus, daß auch der Begriff der Ra­
tionalität bzw. der einer rationalen Begründung sich sprachspiel­
übergreifend verstehen läßt. Die Konsenstheorie der Wahrheit
versucht dementsprechend, einen »absoluten«, d. h. nicht-relativi­
stischen Wahrheitsbegriff in terms eines nicht-relativistischen Ra­
tionalitätsbegriffes zu explizieren. Demnach wäre ein Konsens

219
rational in einem nicht-relativen Sinne, wenn er unter Bedingun­
gen einer idealen Kommunikationsstruktur zustande käme; und
»Wahrheit« wäre der Inhalt eines solchen Konsenses. Habermas
hat die idealen Bedingungen, unter denen ein Konsens »rational«
genannt werden könnte, durch die formalen Strukturen einer
»idealen Sprechsituation« charakterisiert. Apel hat diese Charak­
terisierung einer idealen Kommunikationsstruktur aufgenommen
und in seinen Begriff einer »idealen Kommunikationsgemein­
schaft« eingetragen. Es ist dieser Begriff, der mich hier interes­
siert; ich glaube nämlich, daß in ihm die Konsenstheorie der
Wahrheit ihren konsequentesten Ausdruck gefunden hat.
Apel hatte ursprünglich in Anknüpfung an Ch. S. Peirce den
Begriff einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft als
»höchsten Punkt« einer sprachpragmatisch reformulierten Tran­
szendentalphilosophie eingeführt, d. h. als »intersubjektives Ana­
logon zu Kants transzendentaler Einheit des Bewußtseins««.28
In der sprachpragmatisch transformierten Transzendcntalphiloso-
phie übernimmt der Wahrheitsbegriff gewissermaßen die Leit­
funktion; Wahrheit wird von Apel als die »ukimate opinion«
einer unbegrenzten Verständigungsgemeinschaft expliziert. Nun
konnte aber bei Peirce die »ultimate opinion« nur deshalb die
»wahre« heißen, weil ihre rationale Genese durch die Logik des
Forschungsprozesses gesichert war. Eine Verallgemeinerung des
Peirceschen Ansatzes auf praktische und auf Interpretations-
Wahrheit, wie sie Apel vorschwebte, konnte deshalb nur gelingen,
wenn die Rationalität der »ultimate opinion« auf andere Weise
gesichert wurde. Dies ist der Grund, weshalb die ideale - im Sinne
r einer unbegrenzten - Kommunikationsgemeinschaft zugleich als
ideal im Sinne einer idealen Kommunikationsstr«^t«r gedacht
werden mußte. Es liegt also in der Konsequenz von Apels Ansatz,
daß Bestimmungen in den Wahrheitsbegriff einwandern, die bei
Kant nur in der praktischen Philosophie vorkommen. Folgerich­
tig nimmt das »regulative Prinzip« der Realisierung einer idealen
Kommunikationsgemeinschaft zugleich Züge eines konstitutiven
Prinzips an: in jedem Geltungsanspruch und in jedem Argument
muß die Möglichkeit der Realisierung einer idealen Kommunika-
28 K. O. Apel, »Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der
Transzendentalen Logik«, in: ders., Transformation der Philosophie,
Bd.11, Frankfurt 1973, S. 164. Vgl. zum folgenden auch »Szientismus
oder transzendentale Hermeneutik« im selben Band.

220

1
i
tionsgcmcinschaft unterstellt werden. Zugleich erweist sich nun
aber die Explikation von »Wahrheit« als der »ultimate opinion«
einer idealen Kommunikationsgemeinschaft genau als die Lösung
des Problems, das ich oben formuliert hatte; denn in dieser Expli­
kation ist die Angemessenheit des sprachlichen Bezugssystems
durch die Idealität der Kommunikationsstruktur garantiert, wäh­
rend zugleich aus beiden Bestimmungen zusammengenommen
die Stabilität, d.h. die Endgültigkeit des Konsenses sich ergibt. i
Wenn aber die Idee einer »letzten« Sprache mit der einer idealen
Kommunikationsstruktur im Begriff der idealen Kommunika­
tionsgemeinschaft zusammengedacht werden muß, so folgt, daß
dieser Begriff nicht nur ideale Bedingungen der Verständigung,
sondern zugleich eine Situation idealen Verständigtseins bezeich­
net. Was als Situation idealer Verständigung gemeint ist, enthüllt
sich als Situation jenseits der Notwendigkeit sprachlicher Verstän­
[
digung. Im Grenzwert der idealen Kommunikationsgemeinschaft
ist somit die konstitutive Pluralität der Zeichenbenutzer aufgeho­
ben zugunsten der Singularität eines in allen Richtungen mit sich
verständigten (kollektiven) transzendentalen Subjekts, das als ge­
wordenes gleichsam in der Wahrheit ist. Die letzte, die ideale
Sprache wäre eine Sprache jenseits der Sprache, eine Sprache
»jenseits des Spiels und der Ordnung des Zeichens«. Innerhalb
der sprachpragmatisch reformulierten Transzendentalphilosophie
reproduziert sich somit noch einmal das Problem der Kantischcn
Grenzbegriffe der praktischen Vernunft: im Grenzwert ihrer Rea­
lisierung bedeutet die ideale Kommunikationsgemeinschaft die
Negation einer sprachlich verkörperten Vernunft; das Telos der
sprachlichen Kommunikation wäre ihr Ende.29
Im Wahrheitsbegriff scheint folglich die Metaphysik noch im
Augenblick ihres Sturzes zu triumphieren; Nietzsche und Der-
rida behielten recht, und in einem anderen Sinne auch Adorno.
Diese Schlußfolgerung wäre allerdings nur dann berechtigt, wenn
sich herausstcllen sollte, daß jede Explikation des Wahrheitsbe­
griffs auf Probleme stoßen müßte, die denen der Konsenstheorie
analog sind. Ich glaube indes nicht, daß letzteres der Fall ist. Ich
glaube vielmehr, daß der Gegensatz zwischen Relativismus und

29 Diese Kritik habe ich ausführlicher formuliert in: Ethik und Dialog.
Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik,
Frankfurt 1986, Abschn.vin (S. 81 ff.).

221
i.
Fundamentalismus (im Hinblick auf das Wahrheits- und Bcgrün-
dungsproblem) oder zwischen hermeneutischem Anarchismus
und metaphysischem Objektivismus (im Hinblick auf das Pro­
blem des Sinnverstehens) selbst nur unter Prämissen einer »onto-
theologischen« Denktradition Sinn macht, in der freilich auch der
Empirismus noch gefangen bleibt. Diese These kann ich hier nicht
I? mehr begründen?0 Anstelle einer Begründung möchte ich je­
doch abschließend einige - eher negative - Hinweise geben und in
i. diesem Zusammenhang noch einmal auf Derrida zurückkommen.
Die Konsenstheorie der Wahrheit schien ja Derridas Verdacht zu
bestätigen, daß »Wahrheit« und »Begründung« - und daher auch
»Vernunft« - metaphysische Begriffe sind. Was sich jedoch in
Wirklichkeit gezeigt hat, ist, daß es ein philosophisches Verständ­
nis dieser Begriffe gibt - wir mögen es »metaphysisch« nennen -,
das mit einem zugleich idealistischen und objektivistischen Be-
deutungs- und Sinnbegriff im Sinne von Derrida zusammenhängt.
Ich glaube, dieser Zusammenhang ließe sich unschwer an einer
ganzen Reihe von Grundbegriffen und Problemformulierungen
nachweisen, die in der Diskussion über das Wahrheits- und Ratio­
nalitätsproblem immer wieder eine bestimmende Rolle gespielt
haben. Einer dieser Grundbegriffe ist der eines in Hinsicht auf
Bedeutungs- und Begründungszusammenhänge in sich geschlos­
senen sprachlichen Bezugssystems - eines Paradigmas, eines
Sprachspicls, eines »Jargons« im Sinne von Rorty —, an dessen
i' Grenze die Wahrheitskriterien und Begründungsregeln, die es in­
tern konstituieren, unanwendbar werden, so daß also »Wahrheit«

I
und »Rationalität« jeweils nur innerhalb eines sprachlichen Be­
zugssystems definiert sind. Wenn man eine solche Problemformu­
lierung akzeptiert, kann man entweder relativistische Konsequen­
zen ziehen - wie etwa Kuhn oder Rorty, der sich nicht zufällig,
obschon nicht ganz zu Recht, auf Derrida beruft-, oder man muß
nach einem »Grund« - oder einem Fixpunkt - jenseits der Parti-
kularität der Sprachspiele suchen, von dem her die jeweils parti­
kularen Wahrheiten und Rationalitäten sich als Manifestationen -

i
I
oder als Abirrungen von - der einen Wahrheit und der einen Ver­
nunft verstehen lassen. Letzteres wäre die »fundamentalistische«

30 Vgl. aber zum folgenden A. Wellmer, »Intersubjectivity and Reason«,


I in: L. Hcrtzberg/J. Pietarinen (Hg.)> Perspectives on Human Conduct,
Leiden 1988.

222
Lösung, für die Apcl ein besonders eindrucksvolles Beispiel gibt.
Indes halte ich die Prämissen, in denen beide Seiten der Alterna­
tive übereinstimmen, für falsch. Daß die Idee eines in sich ge­
schlossenen Sprachspiels ein Mythos ist, könnte man auch von
Derrida lernen. Während ich aber die Annahme für plausibel
halte, daß die Metaphysik in solchen Mythen überdauert, sehe ich
keinen Grund, weshalb wir uns philosophisch mit ihnen abfinden
sollten. Ich will nicht bestreiten, daß solche Mythen in der gegen­
wärtigen Wissenschaftskuitur tief verankert sein mögen; dies wäre
freilich ein Grund, empirisch mit ihrer Persistenz zu rechnen. Was
ich bestreite, ist, daß wir gar nicht gegen sie andenken können,
ohne ihnen schon zu verfallen - es sei denn, wir verließen das
Medium diskursiver Rede, hörten also auf zu denken. Es sind
gerade Alternativen wie die zuletzt formulierte, in denen sich das
philosophische Denken heute verknotet - und über die es hinaus­
zukommen gälte. Über sie hinauszukommen hieße, nicht nur den
Begriff der Bedeutung, sondern auch die Begriffe der Wahrheit,
der Begründung, der Rationalität aus der metaphysischen Um­
klammerung herauszulösen, die uns nur die Wahl zwischen Fun­
damentalismus und Relativismus, zwischen Rationalismus und
Irrationalismus, zwischen Letztbegründung und keiner Begrün­
dung läßt. Genau hierauf zielen übrigens auch, wie sich leicht
zeigen ließe, zentrale Impulse von Adornos und Habermas’ Phi­
losophie. Sie zu verteidigen hieße, eine Idee vom Ende der Meta­
physik zu verteidigen, die nicht den Abschied von Vernunft und
Moderne meint, sondern deren kritische Selbstbejahung. Viel­
H
leicht ist es dies, was Solidarität mit Metaphysik im Augenblick
ihres Sturzes genannt werden dürfte.

223
8. Die Bedeutung
der Frankfurter Schule heute
Fünf Thesen

1. Leo Löwen thal hat sich gelegentlich über den Ausdruck »Frank­
furter Schule« lustig gemacht. Dieser Ausdruck hat, wenn man ihn
auf den Arbeits- und Diskussionszusammenhang des Frankfurter
Instituts für Sozialforschung bezieht und auf das, was direkt oder
indirekt aus diesem Institut hervorgegangen ist, in der Tat weniger
Berechtigung als etwa der Ausdruck »zweite Wiener Schule« zur
Bezeichnung des Schönberg-Kreises. Schönberg war nicht nur die
allseits anerkannte Autorität seines Kreises, sondern auch der Leh­
rer der jüngeren Mitglieder des Kreises, das »Schulhaupt« seines
Kreises. Max Horkheimer dagegen, so sehr er auch in vieler Hin­
sicht Autorität unter den Mitgliedern des Instituts für Sozialfor­
schung besaß, war kein Schulhaupt. Die »Frankfurter Schule« war
keine Schule, sondern ein kollektives und kooperatives Projekt;
das Projekt einer Erneuerung und Entwicklung einer kritischen
Gesellschaftstheorie. Erst nach dem Krieg, das heißt nach der
Rückkehr Horkheimers und Adornos aus dem amerikanischen
Exil, also nach der Rückkehr des Instituts für Sozialforschung nach
Frankfurt, entstand, und zwar vor allem aufgrund der Lehrtätig­
keit von Horkheimer und Adorno, eine Frankfurter Schule. Deren
Schulhäupter waren Horkheimer und Adorno. Daß Horkheimer
und Adorno nach Frankfurt zurückkehrten, war, wie Jürgen Ha­
bermas bemerkt hat, ein außerordentlicher Glücksfall für das nicht
nur materiell, sondern auch moralisch und intellektuell verwüstete
Nachkriegsdeutschland. Insbesondere Adorno wurde zum Lehrer
einer Generation von Intellektuellen, Literaten und Künstlern, die
bei ihm - bei wem sonst? - »zur Schule gingen«. Der Ausdruck

I »Frankfurter Schule« hat also durchaus seine Berechtigung; er paßt


aber nicht auf das Unternehmen des Kreises um das ursprüngliche

I Institut für Sozialforschung; er paßt nicht auf das Werk von ehe­
maligen Mitgliedern dieses Kreises wie Leo Löwenthal, Herbert
Marcuse oder gar Walter Benjamin. Löwenthal hat deshalb recht,
wenn er sich dagegen verwahrt, das Wort »Frankfurter Schule«
I synonym mit »Kritischer Theorie« zu verwenden.
!
2. Trotz dieser einschränkenden Vorbemerkung möchte ich das

224

>
Thema dieser Podiumsdiskussion zunächst so aufnehmen, wie es
formuliert wurde; also nicht: »Die Bedeutung der Kritischen ■

Theorie heute«, sondern: »Die Bedeutung der Frankfurter Schule


heute«. Nach Philosophenart möchte ich das Thema aber noch ein
i
bißchen umwenden. »Die Bedeutung der Frankfurter Schule I', j
heute« — das könnte heißen: »Die Bedeutung der Frankfurter i I

p
Schule aus heutiger Sicht«. Dies wäre ein hochinteressantes
Thema für eine geistes- und kulturgeschichtlich orientierte Dis­
kussion über die Anfangsphase der Bundesrepublik bis hin zur
Studentenbewegung der sechziger Jahre. Zu untersuchen wären
nicht nur die Bedeutung von Horkheimer und Adorno für das
Selbstverständnis der Studentenbewegung und für das Wiederauf­
leben eines »westlichen« Marxismus in Deutschland, sondern
auch die kaum zu überschätzende Bedeutung Adornos für die
Diskussionen und das Selbstverständnis der musikalischen, litera­
rischen und künstlerischen Avantgarde Nachkriegsdeutschlands.
I I

Nicht wenige von deren Vertretern haben in Adornos Seminaren


gesessen. Zur Charakterisierung von Adornos Wirkung wäre das
Wort »Eingriffe« - Titel einer seiner Essaysammlungcn - nicht
schlecht gewählt. Spuren solcher »Eingriffe« finden sich nicht nur
in der Musikdiskussion seit den fünfziger Jahren, sondern an
zahllosen anderen Stellen - bis hin zu den Filmen Alexander Klu­
ges oder dem literarischen Werk von Botho Strauß. Innerhalb der
kulturellen Szene der Bundesrepublik war Adorno mehr als ein
vielbeachteter Kritiker und philosophischer Kommentator; er i
war vielmehr derjenige, der an den reaktionär verseuchten Tradi­
tionen der deutschen Kultur ihr Authentisches wieder freigelegt
und dem Bewußtsein einer moralisch verstörten und in ihrer
Identität gebrochenen Nachkriegsgeneration zugänglich gemacht
hat. Es ist, als ob alle Anstrengungen dieser von den Nazis ver­
triebenen Intellektuellen sich darauf gerichtet hätten, den Deut­
schen ihre kulturelle Identität zu retten: Mit Adorno wurde es in
Deutschland wieder möglich, intellektuell, moralisch und ästhe­
tisch gegenwärtig zu sein und doch Kant, Hegel, Bach, Beetho­
ven, Goethe oder Hölderlin nicht zu hassen. Auf diese Weise hat
Adorno mehr als andere dazu beigetragen, dem allzu oft apologe­
tisch verwendeten Begriff eines »anderen Deutschland« einen
legitimen Sinn zu geben. Seine konservativen Kritiker haben dies
bis heute nicht verstanden.
So oder ähnlich könnte man argumentieren, wollte man über die

225
Bedeutung der Frankfurter Schule aus heutiger Sicht sprechen.
Ich denke aber, daß die Veranstalter dieser Diskussion ein anderes
Thema im Sinn hatten, nämlich: die Bedeutung der Frankfurter
Schule für die Gegenwart. Dieses Thema aber bedeutet soviel wie
die Frage: Wie steht es denn nun mit der Kritischen Theorie
heute') Und diese Frage läßt sich nicht mehr aus historischer Di­
stanz, sondern nur noch von innen, aus der Sache heraus beant­
worten. Allerdings wäre schon der Versuch, diese Frage im
Rahmen eines kurzen Diskussionsbeitrags wirklich zu beantwor­
ten, mehr als vermessen. Ich werde mich daher auf einige Stich­
worte und thesenhaft zugespitzte Behauptungen beschränken.
3. Es war nicht zuletzt die Zugehörigkeit der Kritischen Theorie
zur marxistischen Tradition, die es Horkheimer und Adorno
möglich machten, nach und trotz Auschwitz nicht nur ihre aka­
demische Tätigkeit in Frankfurt wieder aufzunehmen, sondern
auch sich vergleichsweise unbefangen einem deutschen Publikum
und deutschen Studenten wieder zuzuwenden. Vielleicht ist das
Wort »unbefangen« irreführend; ich will sagen, daß der Faschis­
mus für Horkheimer und Adorno in erster Linie eine in allen
kapitalistischen Gesellschaften latent vorhandene Möglichkeit
und erst in zweiter Linie eine spezifisch deutsche Verirrung be­
zeichnete. Wie immer man eine solche Auffassung beurteilt, man
wird zugeben müssen, daß sie eine psychologisch wichtige Vor­
aussetzung für die Möglichkeit einer Frankfurter Schule im nach­
faschistischen Deutschland darstellte: sie eröffnete die Möglich­

f keit einer Auseinandersetzung mit dem Faschismus jenseits der


hoffnungslosen Perspektive eines ins Negative gekehrten
Deutschland-Mythos. Es war also gerade die Betonung universel­
ler ökonomisch-sozialer Determinanten anstelle der nationalen in
der Kritischen Theorie, die es Horkheimer und Adorno ermög­
lichten, spezifisch deutsche kulturelle Traditionen gegen deren
reaktionäre und faschistische Pervertierungen zu verteidigen: Die
Kritische Theorie erwies sich als eine Position, von der her sich
einerseits die reaktionären, repressiven und kulturfeindlichen
Aspekte der deutschen kulturellen Tradition - und zwar präziser
als von irgendeinem anderen Gesichtspunkt aus - analysieren lie­
ßen; von der her sich aber andererseits auch die subversiven,
aufklärerischen und universalistischen Züge dieser Tradition
sichtbar machen ließen. Die Kritische Theorie, so möchte ich be­
haupten, war die einzige nach dem Krieg in Deutschland vertre-

226
tenc theoretische Position, die einen radikalen Bruch mit dem
Faschismus ohne einen ebenso radikalen Bruch mit der deutschen
kulturellen Tradition, und das heißt einen radikalen Bruch mit der
eigenen kulturellen Identität, dcnk-möglich machte. Ich glaube,
daß die ungeheure, eben nicht nur destruktiv-kritische, sondern
vor allem befreiende Wirkung Adornos und Horkhcimcrs nicht
zuletzt aus dieser einzigartigen Konstellation zu erklären ist. Es
L
i
war vor allem Adorno, der in seiner überaus reichen Produktion
nach dem Kriege den Schutt wegräumte, unter dem die deutsche
Kultur verborgen lag, und der sie wieder sichtbar werden ließ. Er
d
tat dies als ein Mann der städtischen Zivilisation, der gegen die
Versuchungen des Archaischen gefeit war und doch den romanti­
schen Impuls in sich bewahrte; dem der Universalismus der
Moderne selbstverständlich war und der doch die Spuren der Ver­
stümmelung in den existierenden Formen des Humanismus nicht
übersah: seltener Fall eines Philosophen, der zugleich ganz der
Moderne angehörte und der deutschen Tradition. Ähnliches gilt
für Horkheimer und die übrigen Mitarbeiter des alten Instituts für
Sozialforschung. Wenn ich hier vor allem über Adorno spreche,
dann deshalb, weil dessen Wirkung in Deutschland nach dem
Kriege auch diejenige Horkheimers überstrahlt hat.
Gleichwohl gibt es gute Gründe dafür, daß sich die Kritische
Theorie über Adornos Positionen hinausbewegt und in mancher
Hinsicht auch wieder zu dem ursprünglichen kooperativen und
interdisziplinären Projekt des alten Instituts für Sozialforschung
zurückbewegt hat. Es ist heute fast schon ein Gemeinplatz, wenn
man sagt, daß die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und
Adorno, die gleichsam zum lange Zeit verborgenen Ursprungsdo­
kument der späteren Frankfurter Schule wurde, die Abwendung
der Autoren von einer in marxistischem Geiste und in praktisch­
revolutionärer Absicht vorangetriebenen Gesellschaftsthorie be­
deutet. Die Dialektik der Aufklärung ist die Theorie einer endgül­
tig verfinsterten Moderne; aus deren Teufelskreis scheint es
keinen Ausweg mehr zu geben: Faschismus, Stalinismus und ka­
pitalistische Massenkultur erscheinen als nur noch in gradueller
Hinsicht verschiedenartige Ausprägungen desselben universellen
Verblendungszusammenhangs. Eine These dieser Art liegt auch
dem Spätwerk Adornos, wenngleich in vielfach und dialektisch
gebrochener Form zugrunde. Man könnte geradezu Adornos phi­
losophisches Spätwerk bis hin zur Negativen Dialektik als die

2Z7
Ausarbeitung der Grundthesen der Dialektik der Aufklärung ver­
stehen. Zwar soll dies nicht heißen, daß sich Adornos Philosophie
auf diese Grundthesen, gleichsam ihre eigene Ä/eMphilosophie,
reduzieren ließe; es verhält sich vielmehr so, daß die geschichts­
philosophische Grundthese wie eine Art von Lichttrübung in
allen Analysen Adornos wiederkehrt. Aber während Adorno
glaubte, es sei die tatsächliche Geschichte, die alle Dinge in ein
trübes Licht taucht, bemerkte er nicht, daß die Trübung des Lichts
schon durch die Optik bewirkt wurde, durch welche er die Dinge
betrachtete: Die These vom Verblendungszusammenhang der mo­
dernen Welt ist zwar in vieler Hinsicht aus den konkreten ge­
schichtlichen Phänomenen herausgelescn, sie ist aber - und darin
liegt ihre philosophische Schwäche - bei Adorno zugleich in einer
Theorie des Begriffs begründet, durch deren Optik sie als a priori
wahr erscheint. A priori deshalb, weil aus der Sicht Adornos das
Andere dieses Vcrblendungszusammenhangs das Andere der dis­
kursiven Rationalität sein müßte, und daher das Andere der
Geschichte: Nur von einem messianischen Fluchtpunkt her läßt
sich die Analyse der wirklichen Vernunft noch als Kritik der fal­
schen verstehen. »Erkenntnis hat kein Licht, als das von der
Erlösung her auf die Welt scheint« heißt es entsprechend im
Schlußaphorismus der Minima Moralia.
Alle produktiven Anknüpfungen an Adornos Sprachphilosophie,
Ästhetik oder Soziologie, und das heißt soviel wie: alle produkti­
ven Versuche einer Fortführung der Frankfurter Schule oder auch
einer Rückbesinnung auf das ursprüngliche, stärker mit dem Na­
men Horkheimer verknüpfte Projekt des Instituts für Sozialfor­
schung haben, wenn ich es richtig sehe, eines gemeinsam: nämlich

i eine Abkehr von jenen metatheoretischen Prämissen Adornos,


durch welche die wirkliche Geschichte a priori auf Negativität
fixiert wird, eine Abkehr also von dem für Adornos Philosophie
konstitutiven Zusammenhang zwischen Negativismus und Mes­
sianismus. Allerdings könnte sein, daß das atemberaubend Subtile
von Adornos dialektischem Verfahren zu einem Teil aus genau
diesem Zusammenhang sich speist. In diesem Falle - und in die­
sem Sinne - müßten wir dann wohl auch Botho Strauß’ Kommen­
tar zu den Minima Moralia akzeptieren: »Ohne Dialektik denken
wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie!«1

i Botho Strauß, Paare, Passanten, München 1981, S. 115.


f
i 228
4. Es ist natürlich kein Zufalk daß die vorangegangenen Bemer­
kungen eine Art von Hohlform umschreiben, in welche die
Theorie von Jürgen Habermas zwanglos sich einpassen ließe. Es
war Habermas, der dem Projekt einer kritischen Fortführung der
Frankfurter Schule eine konkrete Gestalt gegeben hat. Habermas’
Theorie bedeutet zugleich eine Anknüpfung an das gesellschafts­
theoretische Programm des frühen Horkhcimer und seiner Mitar­
!
beiter. Habermas hat jedoch durch seine Rezeption der sprach­
analytischen Philosophie, der funktionalistischen Soziologie und
der Weberschen Theorie der Rationalisierung zugleich kategoriale
Unterscheidungen gegenüber der früheren Kritischen Theorie wie
gegenüber der marxistischen Tradition insgesamt zur Geltung ge­
bracht, durch welche der Kritischen Theorie ein Ausweg aus der
Sackgasse des dialektischen Negativismus - ohne die Nötigung
zur Rückkehr in die Sackgasse eines pseudodialektischen Positi­
vismus - eröffnet wurde. Ich möchte diese These nur an einem
Beispiel illustrieren: In der älteren Kritischen Theorie besteht
zwischen der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Geltungs­
sphären in der Neuzeit, Prozessen der Systemdifferenzierung und
einem Prozeß zunehmender Verdinglichung der Individuen nicht
nur ein geschichtlich-empirischer, sondern auch ein begrifflicher
Zusammenhang. Nichts anderes meint die Rede von einer Dialek­
tik der Aufklärung. Aus der Perspektive Horkheimers und Ador­
nos sind auch die demokratischen Traditionen unwiderstehlich in
den Sog dieser Dialektik hineingezogen. Unter diesen Bedingun­
gen sind aber gesellschaftliche Komplexität und Demokratie nicht
mehr zusammenzudenken. Wenn aber die Alternative einer Re­ • I
gression zur vorindustriellen Gesellschaft, wie dies bei Adorno
und Horkheimer im Gegensatz zu Klages der Fall ist, als illusio­
när und potentiell faschistisch durchschaut wird, wird die Situa­
I
tion der Moderne als geschichtliche ausweglos: Der utopische
Horizont muß an die Stelle einer geschichtlichen Perspektive tre­
ten. Dies folgt aber, wie gesagt, bereits aus kategorialen Vorent­
scheidungen, das heißt aus dem eindimensionalen Charakter der
Metatheorie, welche die Eindimensionalität der Marxschen Meta­
theorie gleichsam seitenverkehrt wiederholt. Auf diese Weise wird 1
I
aber die Möglichkeit einer menschenwürdigen Einrichtung der
Gesellschaft als geschichtliche Möglichkeit ausgeschlossen. Ha­
bermas’ Theorie bedeutet nicht zuletzt die Rückeroberung eines
geschichtlichen Horizonts für die Kritische Theorie, das heißt die

229
Eröffnung eines geschichtlichen Möglichkeitshorizonts. Aus die­
sem Grunde — und aus vielen anderen Gründen - ist eine Diskus­
sion über »die Bedeutung der Frankfurter Schule heute« unmög­
lich, ohne daß sie zugleich - explizit oder implizit - zu einer
Diskussion über die Theorie von Jürgen Habermas wird.
Habermas hat Grundmotive dreier Theoretiker, die für die Kriti­
sche Theorie immer eine zentrale Rolle gespielt haben, innerhalb
der Kritischen Theorie in neuer Weise zur Geltung gebracht: Ich
denke an den moralphilosophischcn Universalismus Kants, den
gesellschaftstheoretischen Realismus Hegels und den postmeta­
physischen Empirismus Max Webers. In allen drei Fällen hat
Habermas gleichsam den Schnitt neu zu legen versucht, der die
aufklärerischen Elemente der jeweiligen Theorien von jenen Ele­
menten trennt, in denen die Aufklärung sistiert wird. Habermas
hat Kants Universalismus in einer kommunikativen Ethik aufge­
hoben, ohne hinter Adornos - nicht zuletzt gegen Kant gerichtete
- Kritik des Identitätszwanges zurückzufallen; er hat Hegels ge­
sellschaftstheoretischen Realismus in einer Theorie kategorialer,
kultureller und systemischer Differenzierungsprozesse aufgeho­
ben, ohne hinter die marxistische Kritik Hegels zurückzufallen;
und er hat Elemente eines geschichtsphilosophischen Empirismus
im Sinne Webers gegenüber der in der Tradition der Kritischen
Theorie tiefverwurzelten Tendenz zu einer totalisiercnden Ge­
schichtsbetrachtung in die kritische Gesellschaftstheorie einge­
bracht, ohne hinter die Kritik der Frankfurter Theoretiker am
restriktiven Rationalitätsbegriff Webers zurückzufallen. Reli­
gionsgeschichtlich gesprochen hat Habermas ein Stück protestan­
tischer Aufklärung für die Kritische Theorie gerettet und hier­
durch zugleich die Kritische Theorie für die protestantische
Aufklärung: ich meine für jene Traditionen einer demokratischen
und postmetaphysischen Rechts- und Wissenschaftskultur, die
) nur aus einer messianischen Perspektive unter den Begriff der Ver­
dinglichung sich subsumieren lassen.
5. Es ist unmöglich, an dieser Stelle eine ernsthafte Auseinander­
setzung mit dem Werk von Habermas zu beginnen. Ich möchte
statt dessen eine Hinsicht andeuten, in der mir die Aktualität
Adornos ungebrochen zu sein scheint. Wenn ich unter den Vertre­
tern der älteren Kritischen Theorie wieder Adorno heraushebe,
dann deshalb, weil ich bei Adorno deutlicher als bei anderen Vcr-
tetern der Kritischen Theorie Denkimpulse entdecke, die sich in

230
einer sprachpragmatisch aufgeklärten Form der Kritischen Theo­
rie nicht ohne weiteres aufheben lassen. Ich spreche nicht von
Adornos ästhetischen und kultursoziologischen Einzelanalysen,
die sich durch meta-philosophische Erkenntnisfortschritte ohne­
hin nicht überflüssig machen lassen: es sind Texte, die, literari­
schen Kunstwerken ähnlich, immer wieder neu gelesen und
entziffert werden wollen, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß
natürlich die philosophische Kritik auch vor ihnen nicht haltma-
chen darf. Das Aufregende an diesen Texten liegt ja nicht in ihren
philosophischen Prämissen, sondern in der Art und Weise, wie sie
über diese Prämissen hinausgehen und konkrete - musikalische,
literarische, kulturelle - Phänomene und Konstellationen auf­
schließen; es liegt in Adornos mikrologischem Verfahren, das
durch die metaphilosophischen Prämissen weniger begründet als
vielmehr gelegentlich gehemmt wird. Oder um es vorsichtiger
auszudrücken: Adornos Verfahren einer in die Sache cindringen-
den statt über sie hinweggleitcnden Analyse ist sicherlich in seinen
philosophischen Prämissen begründet; aber es ist gewissermaßen
zu gut begründet: In Adornos philosophischen Prämissen, in sei­
ner Theorie des identifizierenden Begriffs, steckt ein Rest genau
jenes Identitätszwanges, den er an der philosophischen Tradition
kritisiert. Der eigentümliche Zug des ncgativistisch »Vorentschie­
denen« in Adornos Analysen widerspricht der Pointe seines eige­
nen Verfahrens; diese Pointe ist, die Phänomene zum Sprechen zu
bringen, ohne sic mit Begriffen zuzudecken. Wenn es aber einen
solchen Widerspruch bei Adorno gibt, dann wäre seine Philoso­
phie erst noch gegen seine eigene Metaphilosophie zu retten; und
mit »Philosophie« meine ich jetzt nicht etwa seine Einzelanalysen
im Gegensatz zu dem, was man heutzutage ein philosophisches
»Bezugssystem« nennt, ich meine vielmehr das an Adornos Phi­
losophie, was in seiner expliziten Theorie des Begriffs nur unzu­
länglich und gleichsam dogmatisch erstarrt zum Ausdruck
kommt. Vielleicht könnte man von einer impliziten Sprachphilo­
sophie oder Rationalitätstheorie Adornos reden; aber welchen
Titel man immer auch wählen wird, ich habe Zweifel, ob diese
implizite Philosophie Adornos durch die sprachpragmatische Re-
formulierung der Kritischen Theorie bereits eingeholt ist.
Adorno hat mit dem Ausdruck »Negative Dialektik« nicht zuletzt
eine Form des Philosophierens gemeint, das seine Kohärenz nicht
von oben, aus der Logik des Bezugssystems, sondern gleichsam

^31
von unten, aus der Logik des in die Sache vertieften Gedankens
gewinnt. In einer Anspielung auf Schönbergs Kritik der traditio­
nellen Musiktheorie sagt er einmal: »Analog hätte Philosophie
nicht sich auf Kategorien zu bringen sondern in gewissem Sinn
erst zu komponieren. Sic muß in ihrem Fortgang unablässig sich
erneuern, aus der eigenen Kraft ebenso wie aus der Reibung mit
dem, woran sie sich mißt; was in ihr sich zuträgt, entscheidet,
nicht These oder Position; das Gewebe, nicht der deduktive oder
induktive, eingleisige Gedankengang. Daher ist Philosophie we­
sentlich nicht referierbar. Sonst wäre sie überflüssig; daß sie meist
sich referieren läßt, spricht gegen sie.«2 An anderer Stelle ge­
braucht Adorno eine Formulierung, die zwar nicht von Wittgen­
stein sein könnte, die aber dessen eigenes philosophisches Verfah­
ren recht gut beschreibt. Es heißt dort: »Das traditionelle Denken
und die Gewohnheiten des gesunden Menschenverstandes, die es
hinterließ, nachdem es philosophisch verging, fordern ein Bezugs­
system, ein frame of reference, in dem alles seine Stelle findet.
Nicht einmal allzuviel Wert wird auf die Einsichtigkeit des Be­
zugssystems gelegt - es darf sogar in dogmatischen Axiomen
niedergelegt werden -, wofern nur jede Überlegung lokalisierbar
wird und der ungedeckte Gedanke ferngehalten. Demgegenüber
wirft Erkenntnis, damit sie fruchte, ä fond perdu sich weg an die
Gegenstände. Der Schwindel, den das erregt, ist ein index veri; der

k Schock des Offenen, die Negativität, als welche es im Gedeckten


und Immergleichen notwendig erscheint, Unwahrheit nur fürs
Unwahre.«3 Und schließlich erläutert Adorno in immer neuen
Wendungen seine Idee einer Philosophie, die, analog dem moder­
nen Kunstwerk, nicht mehr die Einheit des geschlossenen Sy­
stems, sondern eine Einheit jenseits des Systems repräsentierte:
die zwanglose Kohärenz eines Denkens jenseits des Identitäts­
zwangs. Diese Einheit jenseits des Systemzwangs ist eigentlich
das, worauf nach Adorno eine »Negative Dialektik« abzielt; de­
ren Form wäre daher das philosophische Fragment oder, wie
Adorno auch sagt, ein »Ensemble von Modellanalysen«.4
Wenn Adorno von einer Einheit jenseits des Systems spricht,
meint er nie nur die Philosophie, sondern immer auch die
2 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften,
Bd.6, Frankfun a. M. 1973, S. 44.
3 Ebd., S. 43.
I 4 Ebd., S. 39.

232

il
Wirklichkeit: die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen
untereinander. Habermas hat diese Grundidee Adornos im Be­
griff einer herrschaftsfreien Kommunikation aufgenommen und
sprachphilosophisch auscinandergefaltet. Die kommunikations­
theoretische Umformulierung von Adornos Grundidee bedeutet
ihre Herauslösung aus dem Zusammenhang von Negativismus
und Messianismus, den ich oben kritisiert habe. Zugleich scheint
mir aber, daß die kommunikationstheorctische Umformulierung
einen wichtigen Aspekt von Adornos Grundidee nicht erfaßt; und
zwar jenen Aspekt, bei dem es nicht um zwanglose Kommunika­
tion, sondern um zwanglose Synthesis, nicht um die Anerkennung
des Nicht-Identischen am Anderen, sondern um die Anerken­ ?
nung des Nicht-Identischen im Begreifen der Wirklichkeit und im
Selbstverständnis der Subjekte geht. Gewiß, Adorno hat die Sache
so konstruiert, als ginge es um die Herstellung eines kommunika­
tiven Verhältnisses zur Wirklichkeit im Ganzen. Habermas hat
demgegenüber zu Recht das Kommunikationsmodell als ein Mo­
dell der Beziehungen zwischen Menschen, das heißt zwischen den
Sprechern einer Sprache, entziffert. In Wirklichkeit geht es aber
bei dem, was Adorno mit »Negativer Dialektik« meint, gar nicht
um Strukturen der Kommunikation, sondern vor allem um die
Form der Synthesen, an denen Kommunikation sich jeweils neu
entzünden kann; und hierin geht es zugleich um die Logik einer
»nicht-verdinglichcnden« Argumentation. Wenn Adorno über
das ästhetische Moment in der Philosophie spricht oder über das
I
Moment der Darstellung, das »ihrer Idee immanent«5 sei, so
geht es ihm nicht um das Ob des philosophischen Argumentie­
rens, sondern um das Wie, das heißt um die spezifische Logik
eines philosophischen Gedankenzusammenhanges, um den Cha­
rakter der philosophischen Sprache und damit letztlich um einen
Aspekt von Sprache und Rationalität, der sich kommunikations­
theoretisch deshalb nicht fassen läßt, weil er in jeder Kommuni­
kation a tergo wirksam ist: er läßt sich nur durch eine Reflexion
auf das Was des zu Kommunizierenden erschließen. Ich möchte
nicht mißverstanden werden: Ich behaupte natürlich nicht, daß es
hier etwas gibt, über das nicht argumentiert werden kann; ich
behaupte nur, daß die Überlegungen, die Adorno zur Sprache der t
Philosophie anstellt, etwas mit der Frage zu tun haben, was denn i
5 Ebd., S. 29.

233
eine rationale Argumentation genannt werden darf. Habermas’
Konsenstheorie der Wahrheit ist ein Versuch, auch diese Frage
noch kommunikationstheoretisch zu lösen. Mich überzeugt diese
Lösung nicht. Wenn aber eine konsens- oder diskurstheoretische
Antwort auf die Fragen, die Adorno stellte, unmöglich wäre,
dann wäre immerhin denkbar, daß Adornos Philosophie noch un­
gehobene Schätze enthält: nämlich Beiträge zu einer Sprach- und
Rationalitätstheorie, die sich als notwendiges Komplement einer
kommunikationstheoretischen Sprach- und Rationalitätstheorie
verstehen ließe. Habermas behielte freilich recht gegen Adorno,
wenn er den von Adorno kritisierten Identitätszwang nicht als
Ausdruck diskursiver Rationalität, sondern als Mangel an diskur­
siver Rationalität deutet; Adorno aber behielte recht gegen Ha­
bermas, wenn er an dem, was wir mit Habermas getrost
»diskursive Rationalität« nennen wollen, ein kommunikations­
theoretisch nicht faßbares Moment namhaft zu machen versucht.
Dies Moment ist zwar, wenn wir nicht auf einen rationalistischen
Sprachbegriff zurückfallen wollen, nicht außerhalb der Kommu­
nikation; ich vermute aber, daß es sich — und das ist etwas ganz
anderes - mit Kategorien der Kommunikation nicht fassen läßt.
Mein Interesse an diesem Moment diskursiver Rationalität rührt
von meinem Interesse an dem her, was der Sprach- und System­
kritik Adornos und Wittgensteins, und vielleicht auch derjenigen
Heideggers, gemeinsam ist - gewissermaßen einem gemeinsamen
Fluchtpunkt der Metaphysik-Kritik Adornos, Wittgensteins und
Heideggers. Ich möchte diese Kritiken der Metaphysik verstehen
als das Bewußtsein einer bodenlosen und doch nicht hilflosen Ver­
I nunft; einer Vernunft ohne letztes Fundament und ohne die
Aussicht auf endgültige Versöhnung, und doch genau darin auch
einer Vernunft, die dem, was Adorno »Identitätszwang« nannte,
entronnen wäre. Adorno hat die Vernunft am Ende nur versöh­
nungsphilosophisch denken können. Ich glaube aber, cs kommt
nicht nur darauf an, die Idee der Versöhnung gleichsam kommu­
nikationstheoretisch zu verweltlichen, wie Habermas dies getan
hat; es käme vielmehr auch noch darauf an, gerade jene Züge von
Adornos Rationalitätsbegriff herauszuarbeiten, in denen es weder
um instrumentelle noch um kommunikative Rationalität geht,
sondern, traditionell gesprochen, um die Dialektik von Besonde­
rem und Allgemeinem als Problem der Erkenntnis- und Sprach­
kritik. Wenn Adorno gelegentlich von »gewaltloser Synthesis«

234
H
spricht, so meint er nicht - oder doch nicht nur - die Gewaltlo­
sigkeit einer Kommunikation, die gleichsam jederzeit zum ratio­
nalen Diskurs hin offen ist; er meint vielmehr Bedingungen der
Möglichkeit einer kommunikativen Rationalität, die das Verhält­
nis zwischen Sprache und Wirklichkeit betreffen und nicht -
primär - das Verhältnis zwischen Sprecher und Sprecher; die die
nichtkommunikativen Aspekte der Konstitution kommunizierba­
rer sprachlicher Bedeutungszusammenhänge betreffen und nicht
- primär - den Umgang der Sprecher mit dem jeweils Kommuni­
zierten. Vielleicht läßt sich an diesem Punkte auch Adornos
Beharren auf einem Subjekt-Objekt-Modcll der Erkenntnis noch
rechtfertigen. Vielleicht, so meine ich, sind in Adornos Gebrauch
dieses Modells Elemente eines Rationalitätsbegriffs verborgen,
der nicht Versöhnung meint, sondern die Möglichkeit, Vernunft
auch ohne die Hoffnung auf eine letzte Versöhnung zu denken.

'I

235

1
ui.
Zeit-Bilder
[

I
9. Ludwig Wittgenstein -
Uber die Schwierigkeiten einer Rezeption seiner
Philosophie und ihre Stellung
zur Philosophie Adornos

Wittgensteins Philosophie steht nach wie vor fremd im Raum des


philosophischen Denkens. Ihre Rezeption hat in Deutschland
kaum begonnen. Sie zu rezipieren hieße, eine Denkweise zu rezi­
pieren, nicht einen Gedanken oder ein System von Gedanken.
Soweit zentrale Gedanken Wittgensteins in der deutschen Philo­
sophie rezipiert worden sind, sind sic in der Regel in einen
Gedankenzusammenhang integriert worden, der der Denkweise
Wittgensteins fremd ist. Die berühmtesten Beispiele sind das so­
genannte Privatsprachenargument und der Begriff des Sprach­
spiels, die als Bausteine in ganz verschiedene sprachphilosophi­
sche oder hermeneutische Theorien eingegangen sind, deren
H
systematischer Anspruch seltsam quer zu stehen scheint zum anti­
systematischen Impuls von Wittgensteins Denken. Wo anderer­
seits Philosophen versucht haben, nicht nur Gedanken Wittgen­
steins, sondern seine Denkweise sich zu eigen zu machen, hat dies
häufig nur zu schlechten Imitationen geführt. Denkweisen sind ja
in eigentümlicher Weise an Personen gebunden, sie lassen sich von
ihnen nicht ablösen wie Gedanken oder wissenschaftliche Ein­
sichten. Sie nachzuahmen bedeutet letztlich, eine Person nachzu­
ahmen - die Wittgenstein-Nachfolge ist voll von Beispielen und
im Falle Wittgensteins sind noch die schriftlich überlieferten Sätze
wie die Gesten einer Person, die zur Nachahmung einladen.
Gleichwohl läßt sich der Gehalt von Wittgensteins Philosophie
von seiner Denkweise nicht einfach ablösen, sowenig wie die Trif­
tigkeit seiner Einsichten von der Art ihrer Darstellung. Der
Wahrheitsgehalt von Wittgensteins Philosophie ist anders nicht
faßbar als in seiner oft vollkommenen Prosa, die zugleich ein Bild
seiner Denkweise ist. Hierin liegt die Schwierigkeit einer ange­
messenen Rezeption. Angemessen wäre eine Rezeption, die weder
bloß einzelne Einsichten aus ihrem Zusammenhang, gleichsam ih­
rem Ort in einer Denkweise, herauslöst noch diese Denkweise
bloß imitiert. Dies bedeutet aber, daß eine produktive Rezeption
I.
239
Wittgensteins nur indirekter Art sein kann; man wird sic weder an
zentralen Thesen noch an manifesten physiognomischcn Ähnlich­
keiten erkennen können, sondern eher an der Radikalität und
Kraft des Weitergedachten.
Natürlich ist dies keine Antwort auf die durch das Thema dieser
Diskussion gestellte Frage. Bisher habe ich Sie nur daran zu erin­
nern versucht, daß das eigentümlich Neue bei Wittgenstein nicht
nur in einigen wichtigen philosophischen Einsichten besteht, die
zu zentralen topoi der neueren sprachphilosophischen Diskussion
geworden sind, sondern zugleich in seiner Art zu philosophieren,
in dem, was ich seine Denkweise genannt habe. In der deutschen
Philosophie dieses Jahrhunderts gibt es vergleichbare Beispiele:
ich denke an Heidegger, Benjamin und Adorno. In keinem dieser
Fälle aber-vielleicht mit einer partiellen Ausnahme Benjamins -
haben neben der Denkweise eines Philosophen zugleich die Per­
son und ihre Biographie noch posthum eine ähnlich starke Faszi­
nation ausgeübt wie im Falle Wittgensteins. Mehr als bei jedem
anderen Philosophen ist man bei Wittgenstein versucht, in den
exemplarischen und in den idiosynkratischen Zügen der Person
einen Schlüssel für das Verständnis seiner Denkweise zu finden.
Handelte es sich bei dieser Denkweise nur um ein mehr oder we­
niger zufälliges Merkmal der Person Wittgensteins - erklärbar
vielleicht durch seine Biographie, seine Familiengeschichte, seine
Herkunft aus dem Wiener Milieu der Jahrhundertwende usw. -,
ein Merkmal, dem seine philosophischen Einsichten ihre spezi­
fisch persönliche Färbung verdankten, dann könnte man bei der
Frage nach der Rezeption Wittgensteins schlicht unterscheiden
zwischen seiner philosophischen und seiner biographisch-ästhe­
j tischen Wirkung. Beide Formen der Wirkung sind ja unüberseh­
bar; eine Assimilation philosophischer Einsichten Wittgensteins
findet sich in der Sprachpragmatik von Apel und Habermas, in
der Semantik von Tugendhat und in der konstruktivistischen
Sprachphilosophie und Logik, insbesondere im neueren Kon­
5 struktivismus Kambartels; andererseits hat die biographisch-
ästhetische Wirkung Wittgensteins in seinem hundertsten Ge­
burtsjahr einen neuen Höhepunkt erreicht - beinahe zahllos sind
inzwischen die Publikationen zur Person Wittgensteins: Brief­
bände, Bildbände, biographische und kulturgeschichtliche Veröf­
fentlichungen, Berichte von Freunden und Zeitgenossen, Erinne­
rungen an Gespräche mit Wittgenstein, Feuilletons und neuer-

240
dings sogar ein dokumentarischer Roman.1 Durch diese Veröf­
fentlichungen hat sich die Faszination, die die Person Wittgen­
steins einmal auf einen kleinen Kreis von Freunden und Schülern
in Cambridge ausgeübt hat, posthum über alle Kontinente ver­
breitet. An dieser Faszination ist sicherlich sehr viel Unphiloso­
phisches; in diesem Frühjahr hatte man zuweilen den Eindruck,
daß die Jahrgangs- und Schulgenossen Wittgenstein und Hitler im
Feuilleton wie Engel und Teufel miteinander konkurrierten. (Mit
Trauer sei hinzugefügt, daß Hitler Deutschland und Wittgenstein
England brauchte, um sich ganz zu entfalten.)
Aber auch wenn die direkt philosophische und die biographisch-
ästhetische Wirkung Wittgensteins oft kaum etwas miteinander zu
tun haben, auch wenn der Wittgenstein-Kult häufig an die Stelle
einer philosophischen Rezeption tritt, bleibt doch die Tatsache hl
bestehen, daß die biographisch-ästhetische Wirkung Wittgen­
steins auf vielfache Weise zusammenhängt mit seiner Art zu
philosophieren, mit dem Typus einer philosophischen Existenz,
den er verkörperte, und daher letztlich auch mit dem Gehalt sei­
ner Philosophie. Wenn man den gewaltigen Abstand zwischen
dem frühen Wittgenstein und dem logischen Empirismus des
Wiener Kreises oder zwischen dem späten Wittgenstein und ei­
nem Großteil der Ordinary-langiiage-Philosophic erklären will,
muß man auf jene radikalen, asketischen, mystischen und exzen­
trischen Züge seines Habitus verweisen, die zu seinem Denken
ebenso gehören wie zu seiner Person. Wittgenstein selbst war
wohl der Ansicht, daß niemand seine Philosophie verstehe, der sie
nicht auf dem Hintergrund jenes in ihr Nicht-Gesagten versteht;
einem Hintergrund, der für uns literarisch nur faßbar ist in den
Gesprächen, den Bemerkungen zur Kunst und zur Religion, ja in
seinen moralischen und ästhetischen Reflexen und daher in jenen
seiner Äußerungen, die seiner Biographie ungleich näher sind als
die eigentlich philosophischen Texte. Wo dieser Hintergrund
nicht das Interesse von Wittgensteins Philosophie abzieht — was
oft genug der Fall ist —, mag er ebensowohl die extremen Kontu­
ren dieser Philosophie erst hervortreten lassen. In diesem Sinne
mag gelegentlich das biographisch-ästhetische Interesse an Witt­ 1
genstein die Funktion einer philosophischen Propädeutik haben.
Dies unterscheidet Wittgenstein radikal von Adorno, mit dem ihn

i Bruce Duffy, 77)e WorldasIFoundit, New York:Ticknor& Fields 1987.

241
philosophisch im übrigen mehr verbindet, als man gemeinhin an­
nimmt. Drei für ihre Philosophie zentrale Gemeinsamkeiten fal­
len ins Auge: die Obsession durchs Nicht-Identische, die mit der
Kritik am Szientismus aufs engste zusammenhängt, die Obsession
durch das Problem der Darstellung und schließlich der Gestus
radikaler Kritik gegenüber der Entwicklung der modernen Kul­
tur. Von Drury ist eine Bemerkung Wittgensteins über seine
eigene Philosophie im Unterschied zur Systemphilosophie Hegels
überliefert: »Mir scheint«, sagt Wittgenstein, »Hegel will immer
sagen, daß Dinge, die verschieden aussehen, in Wirklichkeit gleich
sind, während es mir um den Nachweis geht, daß Dinge, die
gleich aussehen, in Wirklichkeit verschieden sind.«2 Das Ver­
schiedene, das Nicht-Identische, wird verdeckt durch die Ge­
wohnheiten eines gedankenlosen Sprachgebrauchs; die Anstren­
gung der Philosophie muß daher dem »Kampf gegen die
Verhexung des Verstandes durch die Mittel unserer Sprache«3
gelten; oder, wie Adorno es formuliert: »An ihr (der Philosophie,
A. W.) ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff
hinauszugelangen.«4 Es ist diese Anstrengung, die mit jedem
neuen Satz das Problem der Darstellung erneut ins Zentrum
rückt. »Idiosynkratische Genauigkeit in der Wahl der Wörter«,
sagt Adorno, »so als ob sie die Sache benennen sollten, ist keiner
der geringsten Gründe dafür, daß der Philosophie die Darstellung
wesentlich ist.«5 Man weiß heute, wie unendlich lange Wittgen­
stein zuweilen an Sätzen gefeilt hat, mit Varianten experimentiert
hat, um die Nuance zu treffen, die ihn befriedigte. Aber das Pro­
blem der Darstellung betrifft nicht nur die Wörter und Sätze, es
betrifft ebensosehr den Zusammenhang der Sätze, die Komposi­
tion der Texte. Jeder Satz ist gleichnah zum Mittelpunkt; daher
kann die Kohärenz der Texte nicht die Kohärenz eines Ablei­
tungszusammenhangs oder die eines Systems sein; das System ist
in den Augen Adornos und Wittgensteins vielmehr nur ein ande­
rer Ausdruck für die Versuchungen zur Sistierung des Denkens,
I:
Ji
2 Vgl. Rush Rhees (Hg.), Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche,

r
Frankfurt: Suhrkamp 1987.
3 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Schriften,
Bd.i, Frankfurt: Suhrkamp 1960 (§ 109).
4 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt: Suhrkamp 1973,

5 Ebd., S.6if.

5 242
zur Unterdrückung des Nicht-Identischen, an denen der traditio­
nelle philosophische Gebrauch der Sprache krankt. Die Stringenz
eines philosophischen Gedankenzusammenhanges läßt sich nicht
an Kriterien messen, die diesem Gedankenzusammenhang äußer­
lich sind: sie ist jeweils, in Anmessung an die Logik der Sache, neu
herzustcllen. In der Einleitung zur Negativen Dialektik finden
sich zahllose Formulierungen, in denen Adorno das authentische
Philosophieren so beschreibt, wie Wittgenstein es praktiziert hat.
Ich will hier nur eine dieser Formulierungen anführen: »Das tra­
ditionelle Denken«, so sagt Adorno, »und die Gewohnheiten des
gesunden Menschenverstandes, die es hinterließ, nachdem es phi­
losophisch verging, fordern ein Bezugssystem, ein framc of refe-
rence, in dem alles seine Stelle findet. Nicht einmal allzuviel Wert
wird auf die Einsichtigkeit des Bezugssystems gelegt - es darf
sogar in dogmatischen Axiomen niedergelegt werden -, wofern
nur jede Überlegung lokalisicrbar wird und der ungedeckte Ge­
danke ferngchalten. Demgegenüber wirft Erkenntnis, damit sie
fruchte, ä fond perdu sich weg an die Gegenstände. Der Schwin­
del, den das erregt, ist ein Index veri; der Schock des Offenen, die
Negativität, als welche es im Gedeckten und Immergleichen not­
wendig erscheint, Unwahrheit nur fürs Unwahre.«6 Dies
Adorno-Zitat zeigt im übrigen, daß die Obsession durch das Pro­
blem der Darstellung für Adorno - wie für Wittgenstein - nicht
aus einer Verwechslung der Philosophie mit der Literatur resul­
tiert. Beiden, Adorno wie Wittgenstein, ging es vielmehr um ein
Drittes zwischen Wissenschaft und Literatur: Durch die Kritik
am Szientismus, am wissenschaftlichen Anspruch der Philosophie
als einer Meta- oder Überwissenschaft, stellt sich nämlich die
Frage nach dem Status philosophischer Sätze in einer vorher un­
erhörten Radikalität. Im Falle Adornos wie im Falle Wittgensteins
bezeugt die Obsession durch das Problem der Darstellung das
Bewußtsein der Notwendigkeit, den Raum und die Funktion phi­
losophischer Sätze jenseits von Wissenschaft und Literatur neu zu
i I
bestimmen. I
Daß schließlich Wittgenstein den Entwicklungstendenzen der
modernen Kultur mit der gleichen radikalen Distanz gegenüber­ i',i
stand wie Adorno, ist zwar in seinen philosophischen Texten
nicht in der gleichen Weise ablesbar, wie dies bei Adorno der Fall

6 Ebd., S.43.

M3

J
ist, es ist aber unzweideutig greifbar in jenen Äußerungen und
Verhaltensweisen, die den moralischen und ästhetischen Hinter­
grund seiner Schriften bezeichnen. In beiden Fällen ist diese
Distanz gegenüber der modernen Kultur unmittelbar verknüpft
mit dem insistierenden Blick auf das Nicht-Identische, mit dem
Kampf gegen die Verhexung des Verstandes durch die zum Kli­
schee gewordene Sprache. An dieser Stelle wäre eine weitere
auffällige Gemeinsamkeit zu erwähnen: die Rolle, die die Musik
im Leben und Denken Adornos und Wittgensteins gespielt hat.
i Die tiefsten Erfahrungen Adornos und Wittgensteins, diejenigen
Erfahrungen, in denen sie die Sphäre des Absoluten - im Falle
Adornos - oder die Sphäre des Mystischen - im Falle Wittgen­
i steins — unmittelbar zu berühren glaubten, scheinen musikalischer
Art gewesen zu sein. Zwar reichte Adornos musikalische Erfah­
rung weiter als diejenige Wittgensteins - nämlich bis in seine
unmittelbare Gegenwart-, aber die folgende, ebenfalls von Drury
überlieferte Äußerung Wittgensteins hätte sicherlich, wenn nicht
den Beifall, so doch die unmittelbare Sympathie Adornos gefun­
den: »Ich ging in der Stadt spazieren«, berichtet Wittgenstein, »da
kam ich an einer Buchhandlung vorbei und im Schaufenster stan­
den Bilder von Russell, Freud und Einstein. Kurz darauf sah ich in
einer Musikalienhandlung Bilder von Beethoven, Schubert und
Chopin. Als ich diese Bilder miteinander verglich, hatte ich das
bewegende Gefühl, daß der menschliche Geist nur hundert Jahre
gebraucht hatte, um einen derart schrecklichen Niedergang zu
1 erleben.«7 Bei genauerem Nachdenken hätte allerdings wohl
Adorno Freud in der ersten, Chopin in der zweiten Trias ausge­
lassen.
Diese ins Auge fallenden Gemeinsamkeiten zwischen Adorno
und Wittgenstein, die nicht zuletzt auf ihre gemeinsame Verwur­
1 zelung im selben Wiener kulturellen Milieu hindeuten, sollten
allerdings nicht die geradezu abgrundtiefen Unterschiede verges­

I sen machen, die die beiden Philosophen voneinander trennen.


Diese Unterschiede zwischen Adorno und Wittgenstein sind un­
übersehbar bereits im Hinblick auf ihren philosophischen Stil; sie
betreffen darin zugleich das ganz unterschiedlich »Dialektische«
ihrer Philosophie. In Wittgensteins Spätphilosophie steckt, wie
- oft bemerkt, ein Stück Sokratischer Dialektik. Entscheidende

7 Rhees, a.a.O., S. i6of.

244
Einsichten sind formuliert als Antworten auf die Fragen, Ein­
würfe und Zweifel einer obstinaten Gegenstimme, die freilich
niemals endgültig zum Schweigen zu bringen ist. Es ist die Dia­
lektik einer dialogischen Verhandlung über eine Sache, in der einer
fragt und einer antwortet, in der einer recht und einer unrecht hat,
auch wenn die Verhandlung niemals zu einem definitiven Ende
kommt. Die Wahrheit blitzt auf in den Augenblicken, in denen die
Gegenstimme temporär zum Schweigen gebracht ist. Demgegen­
über ist Adornos Dialektik eine negativ gewendete Hegelsche
Dialektik; nicht eine Dialektik des Ja oder Nein, sondern eine
Dialektik des Ja und Nein, eine verstehende Dialektik. Auch hier
ist die Wahrheit das Resultat einer Destruktion von Unwahrhei­
ten, aber kaum eine Gegenstimme gibt es, der nicht ein partielles
Recht, ein Moment der Wahrheit, zugestanden wird. Hiermit
hängt zusammen, daß man bei Adorno zu fast jeder These auch
die Gegenthese finden wird, nicht als eine zum Schweigen ge­
brachte Stimme, sondern als Baustein einer Wahrheit, die als in
I
sich dialektisch gedacht ist. Daher muß zugleich jede zentrale
These Adornos relativiert werden im Lichte all der Gegenthesen,
die den dialektischen Kommentar zu dieser These liefern. Ador­
nos anti-systematisches Philosophieren drängt insgeheim, apore-
tisch, zum System. Diese paradoxe Verknüpfung zweier Grund­
impulse - des anti-systematischen und des systematischen - ist
verantwortlich für das dialektisch Wuchernde seiner zentralen
philosophischen Texte, eine von jenen Eigenschaften, durch wel­
che Adornos Philosophie an die von ihm geliebte Musik seines
Kompositionslehrers Alban Berg erinnert. Nichts liegt Wittgen­
stein ferner als solche - wie auch immer aporetisch - zum System
drängende Dialektik. Wittgenstein selbst hat seine Philosophi­
schen Untersuchungen als eine Reihe von »Landschaftsskizzen«
beschrieben, und das heißt: die Landschaften, Perspektiven, Pro­
bleme wechseln in einer durch die jeweils neu auftauchenden
Fragen bestimmten Weise. Diese ständig und unvorhersehbar auf­ i |
tauchenden und immer wieder neu sich meldenden Fragen sind
das Moment der Beunruhigung, das Wittgensteins Philosophieren ■ j
in Gang hält. Zwar gibt es einen roten Faden, der die Fragen und
Probleme miteinander verbindet - bezeichnet durch die Probleme
der Bedeutung, des Meinens und des Verstehens bezeichnend
aber ist, daß die Fragen immer wieder neu gestellt, die Antworten
immer wieder neu gegeben werden - kein Ende der »langen und

*45
verwickelten Fahrten«, auf denen jene Landschaftsskizzen ent­
standen sind, ist absehbar.8 Und gerade deshalb ist ein Ende
jederzeit möglich: »Die eigentliche Entdeckung«, sagt Wittgen­
stein, »ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubre­
chen, wann ich will.«9 Solange aber das Philosophieren nicht
abbricht, melden sich auch jene Gegenstimmen immer wieder zu
Wort, die den Philosophen zum Kampf herausfordern, sei es wie
die eines Versuchers, sei es wie die eines begriffsstutzigen Schü­
lers. Jeder Augenblick erfordert eine entschiedene und geistesge­
genwärtige Antwort, ein Ja oder Nein. Diesen - im Hegelschen
i; Sinne undialektischen - Geist des Ja oder Nein atmet im übrigen
auch Wittgensteins Bemerkung über die »schweren Irrtümer« des
Tractatus im Vorwort zu den Philosophischen Untersuchun­
!• gen.'0
Die tiefen Unterschiede zwischen Wittgenstein und Adorno kom­
men nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß im Falle Wittgen­
steins, aber nicht im Falle Adornos, der biographische Hinter­
grund von unmittelbarem Interesse ist für die Interpretation der
philosophischen Schriften. Zwar ist dies in gewissem Sinne para­
dox: Wittgenstein hätte, wie Fania Pascal glaubwürdig versichert,
»Nachforschungen über sein Privatleben« verabscheut, während
Adorno nicht müde wird, so etwa wiederum in der Einleitung zur
Negativen Dialektik, den Anteil des »Subjekts« an der Objektivi­
tät philosophischer Erkenntnis zu betonen.11 Es handelt sich um
eine scheinbare Paradoxie: Adornos ganzer Ehrgeiz ging darauf,
.. sein empirisches Ich in seiner Philosophie zu objektivieren, es
zum Organ philosophischer Erkenntnis zu machen, so daß cs am
Ende in seinen philosophischen Texten aufgehoben wäre; Witt­
li.
JI
gensteins Ehrgeiz ging darauf, sein empirisches Ich zu läutern, so
daß es zum Organon einer philosophischen Erkenntnis werden
könnte, die das empirische Ich hinter sich gelassen hätte. In bei­
den Fällen ist die Authentizität des philosophierenden Ich als
Bedingung philosophischer Erkenntnis unterstellt; aber Wittgen­
stein war sich des Standes der Gnade weit weniger gewiß als
Adorno. Hierin liegt die eigentümlich protestantische Radikalität
Wittgensteins. Sie erklärt das Schroffe und Exzentrische seiner
8 Vgl. Wittgenstein, a.a.O., S. 285.
9 Ebd., § 133.
I 10
11
Ebd., S. 286.
Adorno, a.a.O., S. 50.

1 246

li !
Person im Gegensatz zur katholischen Zivilisierthcit und Suavität
Adornos; und sie erklärt - angesichts des gemeinsamen jüdischen
Hintergrunds beider Philosophen - das unterschiedliche Interesse i
an ihrer Biographie ebensowohl als den Umstand, daß Adorno
das Entscheidende immer wieder zu sagen versuchte, während
Wittgenstein auf der Differenz bestand zwischen dem, was philo­
sophisch gesagt werden kann, und dem, was sich nur zeigen kann.
Das jüdische Bilderverbot bedeutete radikal Verschiedenes für
Adorno und für Wittgenstein: Für Adorno bedeutete es das Tabu
über der Ausmalung der Utopie; für Wittgenstein bedeutete cs das
Tabu über dem Versuch, das Unsagbare zu sagen. Hiermit hängt
das Interesse an der Person Wittgensteins zusammen. In ihren
Bewegungen, Gesten und zufälligen Äußerungen, ihren morali­
schen und ästhetischen Reflexen scheint sich etwas von dem
Nicht-Gesagtcn mitzuteilen, das die philosophischen Texte nur
umkreisen. Es ist, als ob diejenigen Züge der Person, die sich in
den philosophischen Texten nicht direkt niedergeschlagen haben,
den Schlüssel für das Verständnis der Philosophie enthielten,
gleichsam den für das Verständnis der Texte notwendigen Kom­
mentar. Natürlich steckt hierin ein gutes Stück Illusion; aber daß
man überhaupt versucht sein kann, so zu denken, zeigt etwas von
der Eigentümlichkeit von Wittgensteins Philosophieren.
Wittgensteins Askese gegenüber dem Unsagbaren hat ihn dazu
befähigt, in einem anderen Sinne philosophisch radikal zu sein als
Adorno. Wittgenstein hat nämlich das Nicht-Identische gleich­
sam im Innern der Sprache aufgesucht, dort, wo Adorno die
Quelle des Identitätszwanges sah. Was Adorno das »Zurüstendc
und Abschneidende« des Begriffs genannt hat, entspringt nach
Wittgenstein dem Mißbrauch der Sprache, insbesondere dem phi­
losophischen Mißbrauch der Sprache. Wittgenstein hat das Ver­
schiedene, das Nicht-Identische, im Innern jener sprachlichen
Konstruktionen ans Licht gebracht, die für Adorno den Inbegriff
des »identifizierenden Denkens« ausmachten: der Logik, der Ma­
thematik und der Wissenschaft. Wittgensteins Bedeutung für die
Entwicklung einer post-empiristischen Wissenschaftstheorie und
einer post-rationalistischen Kulturanthropologie ist unüberseh­
bar, auch wenn sein Einfluß hier - wie eigentlich überall, wo er
wirksam geworden ist — zugleich viel Verwirrung gestiftet hat.
Was die Logik, die Sprachphilosophie und die Philosophie der
Mathematik betrifft, so glaube ich, daß eine produktive Rezeption i

247

. j
1 erst ganz vereinzelt stattgefunden hat, in Deutschland nicht weni­
! ger als anderswo. Wittgenstein war weder ein Naturalist im Sinne
Rortys, noch war er der Relativist, als den Apcl ihn kritisiert. Ich
glaube vielmehr, daß sowohl die naturalistische als auch die rela­
tivistische Interpretation eine zentrale Pointe seiner Denkweise
verfehlt. Versteht man Wittgenstein relativistisch, so liegt es nahe,
nach sprachspicliibergreifenden Kriterien der Wahrheit und Ra­
tionalität zu suchen, um die Vernunft zu retten. Dies ist Apels
Antwort auf Wittgenstein. Demgegenüber glaube ich, daß es sich
hier um eine jener Fragestellungen handelt, von denen Wittgen­
stein zu zeigen versuchte, daß in der Formulierung der Frage ein
Fehler steckt. Daß wir niemals andere Kriterien der Wahrheit und
der Rationalität zur Verfügung haben als diejenigen, die zu unse­
rer Sprache gehören, bedeutet nicht, daß wir unsere Sprache und
die zu ihr gehörigen Kriterien nicht mit Gründen transzendieren
könnten. Das Gegenteil könnte nur behaupten, wer an einem for­
malistischen und monologischen Begriff der Rationalität fest­
hielte, gegen den man, ich möchte einmal sagen: gute Gründe bei
Wittgenstein finden kann. Die Kritik an diesem formalistischen
und monologischen Rationalitätsbegriff ist bei Wittgenstein ver­
knüpft mit einer Kritik an den objektivistischen Denktraditionen
der Neuzeit. Deshalb ist auch eine naturalistische Lesart Wittgen­
steins verfehlt. Bestünde der Witz der Philosophischen Untersu­
chungen darin, daß sie die transzendentale Analyse des Tractatus
in eine empirische Analyse überführen, dann wäre uneinsichtig,
weshalb man Wittgenstein heute noch lesen sollte.
Demgegenüber würde ich Charles Taylors These12 zustimmen,
daß Wittgenstein die Frage nach den Bedingungen der Möglich­
li keit des Redens über die Welt nicht als unsinnig abgeschafft,
sondern daß er sie in eine neue Form überführt hat. Versteht man
i Wittgensteins Sprachphilosophie auf dem Hintergrund traditio­
neller philosophischer Alternativen, so läßt sie sich verstehen als
Versuch einer Aufhebung des Gegensatzes zwischen transzenden­
talem Idealismus und Naturalismus; nicht durch eine Naturalisie­
rung des Erkenntnissubjekts, sondern durch die Analyse der
f
L. 12 In: Brian McGuinness u.a., »Lichtung oder Lebensform. Parallelen
zwischen Wittgenstein und Heidegger«, in: *Der Löwe spricht... und

i

wir können ihn nicht verstehen*. Ein Symposion an der Universität
Frankfun anläßlich des hundertsten Geburtstags von Ludwig Witt­
genstein, Frankfurt: Suhrkamp 1991, S. 94 ff.

248

Z:
!
sprachlichen Verfaßtheit seiner Lebenswclt. Es handelt sich um
eine »Transzendcntalphilosophie« ohne Letztbegründungsan ­
sprüche, ja, ohne das Geländer systematischer Rekonstruktionen.
Es ist dieser anti-systematische Impuls von Wittgensteins Philo­
sophieren, der einer adäquaten Rezeption von Wittgensteins
Philosophie am stärksten entgegensteht. Denn dieser antisystema­
tische Impuls hängt einerseits mit zentralen Gehalten von Witt­
gensteins Philosophie zusammen, andererseits gehört er zur
unverwechselbaren Physiognomie des Philosophen Wittgenstein.
Daher sind weder die Systematisierung Wittgensteinschcr Ein­
sichten noch die Imitation seines anti-systematischen Gestus
sinnvolle Formen der Fonführung seiner Philosophie. Was von
Wittgenstein, abgesehen von zentralen philosophischen Einsich­
ten, zu lernen wäre, ist ein zugleich strenges und ungeschütztes
Denken. Dem stehen die Gewohnheiten des gesunden Menschen­
verstandes ebenso entgegen wie metaphysische oder szientistische
Ordnungsbedürfnisse und die Erfolgsbedingungen akademischer
Karrieren. Was die szientistisch-bürokratischen Tendenzen des
Zeitalters allenfalls begünstigen, und zwar als ihr Komplement, ist
eher eine Karikatur von Wittgensteins offenem Philosophieren:
nämlich den unverbindlichen Tief- und Leichtsinn postmoderner
Anti-Philosophen. Schrecklich die Vorstellung, daß Wittgenstein
vom Haupt einer Schule — schon dies nicht unproblematisch —
zum Modephilosophen der Postmoderne avancieren könnte.
Aber für eine solche falsche Aneignung ist sein Denken vermut­ 1
lich doch zu sperrig. Eins scheint mir im übrigen sicher: Man wird
die produktiven Rezeptionen von Wittgensteins Philosophie in
Zukunft weder an stilistischen Ähnlichkeiten erkennen können
noch an charakteristischen philosophischen topoi noch daran, daß
der Name Wittgensteins genannt wird. Die einzige authentische
Wirkung Wittgensteins bestünde darin, daß er andere Philoso­
phen zum Denken anregt. Das Resultat mag aber keinerlei Ähn­
lichkeit haben mit der Gestalt der Wittgensteinschen Philosophie.

249
io. Der Mythos vom leidenden
I und werdenden Gott
Fragen an Hans Jonas

Ich erinnere zunächst an den Mythos, den Jonas in »Unsterblich­


keit und heutige Existenz«1 erzählt und den er in dem Vortrag
über den Gottesbegriff nach Auschwitz wieder aufnimmt. In den
folgenden Sätzen hat Jonas ihn zusammengefaßt: »Damit Welt sei,
und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er ent­
kleidete sich seiner Gottheit, um sie zurückzuempfangen aus der
Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer
zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch
sie.«2 »Verzichtend auf seine eigene Unverletzlichkeit erlaubte
der ewige Grund der Welt zu sein. Dieser Selbstverneinung schul­
det alle Kreatur ihr Dasein und hat mit ihm empfangen, was es von
Jenseits zu empfangen gab. Nachdem er sich ganz in die werdende
Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: Jetzt ist es am
Menschen, ihm zu geben.«2 Dieser Mythos vom leidenden und
werdenden Gott - von dem ich unterstelle, daß er Ihnen
vertraut ist - ist Teil jener »Umkehroperation«, von der Jonas zu
Beginn des Aufsatzes »Gnosis, Existentialismus und Nihilis­
mus«'' spricht: »Die >existentialistische< Lesung der Gnosis« -

r also das, was Jonas in seinem bahnbrechenden Werk über die


Gnosis praktiziert hatte - »lädt«, so sagt er, »als zu ihrem natür­
lichen Gegenstück zum Versuch einer >gnostischen< Lesung des
Existentialismus ein.«5
Nun erzählt Jonas diesen Mythos von der Erschaffung der Welt
und vom - durch nichts garantierten - Werden Gottes im kriti-

1 H.Jonas, »Unsterblichkeit und heutige Existenz«, in: Zwischen Nichts


und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 1963.
2 A.a.O., S. 56.

i 3 H.Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme,


Frankfun am Main: Suhrkamp 1984, S. 47.
4 H.Jonas, »Gnosis, Existentialismus und Nihilismus«, in: Zwischen
Nichts und Ewigkeit, a.a.O., S. 5 ff.
j A.a.O., S. 6.

2J0
i
sl -
sehen Geiste Kants: Diesem Mythos kann keine mögliche Er­
kenntnis entsprechen; es ist ein Mythos vom Ganzen der Welt
jenseits aller möglichen Erkenntnis. Jonas geht sogar einen Schritt
über Kant hinaus, der ja glaubte, die metaphysischen Ideen kri­
tisch, und das heißt auch: begrifflich rechtfertigen zu können. Da
Jonas’ Mythos in gewissem Sinne den Platz besetzen soll, der in J
I
der Kantischen Philosophie durch den Zusammenhang zwischen
der intelligiblen Welt und den Ideen von Gott, Freiheit und Un­
sterblichkeit bestimmt wird, besetzt dieser Mythos - »hypothe­
tisch«, wie Jonas sagt - zugleich den leergewordenen Platz der I
Metaphysik. In dieser Funktion aber läßt er sich nicht einmal mit
derjenigen Art von Erkenntnisanspruch verbinden, den Kant für
seine kritische Metaphysik immerhin noch erheben konnte: näm­
lich dem Anspruch auf eine kohärente begriffliche Explikation
notwendiger metaphysischer Ideen. Was der Mythos sagen will,
ist strictu sensu begrifflich unsagbar. »Solcherart«, sagt Jonas, »ist
der hypothetische Mythus, von dem ich glauben möchte, er sei
>wahr< - in dem Sinne, in dem durch gutes Glück ein Mythus eine
Wahrheit schattenhaft andeuten mag, die notwendig unerkennbar
und sogar, in direkten Begriffen, unsagbar ist, dennoch aber durch
Selbstbckundungen in unserer tiefsten Erfahrung unsere Fähig­
keit in Anspruch nimmt, indirekt Rechenschaft von ihr zu geben
in widerruflichen, anthropomorphen Bildern.«6 Das erkenntnis­
kritische Bewußtsein von der Transzendierung alles möglichen
Wissens in dieser mythischen Erzählung ist somit bei Jonas ver­
knüpft mit einem sprachkritischen Bewußtsein von der - wört­
lichen - Unsagbarkeit dessen, was der Mythos zu sagen versucht. 1
Nun sehe ich bei Jonas eine gewisse Spannung zwischen diesem
sprachkritischen Bewußtsein von der Unsagbarkeit dessen, was
der Mythos zu sagen versucht, und seinem Versuch, es gleichwohl
philosophisch zu sagen. Was das erstere betrifft - das sprachkriti­
sche Bewußtsein von der Unsagbarkeit dessen, was der Mythos zu
sagen versucht -, so repräsentiert es, wie ich glaube, eine nach-
Kantische, radikalisierte Form der Metaphysik-Kritik, wie sie
sich etwa durch die sprachkritischen Reflexionen Wittgensteins i
und Derridas exemplifizieren ließe; was das letztere betrifft-Jo­
nas’ tastenden Versuch, das begrifflich Unsagbare doch noch
philosophisch einzuholen -, so verweist es auf die - vielleicht : i

6 H.Jonas, »Unsterblichkeit und heutige Existenz«, a.a.O., S. $9.

251
I
J
i' ; künftige - Möglichkeit einer Metaphysik, die die Kantische über­
bietend aufbewahren würde. Zwei Möglichkeiten einer Über­
schreitung Kants - und Hegels die einander, wie ich glaube,
wechselseitig ausschließen. Diese Vermutung möchte ich ansatz­
weise begründen, und zwar in zwei Schritten:
(1) Wenn der Mythos sagt, was »in direkten Begriffen unsagbar«
ist, so heißt das zunächst: er ist ein Bild, ein Bild nicht des Men­
schen, sondern der Menschen-in-der-Welt. In solchen Bildern
blitzt eine Wahrheit auf, aber wenn wir begrifflich zu sagen versu­
chen, was in ihnen aufblitzt, geraten wir notwendigerweise in
Aporien und Widersprüche (das ist es ja, was gemeint ist, wenn
wir sagen, daß das, was das Bild sagt, »begrifflich« unsagbar ist.)
Daß das Bild anthropomorph ist, heißt hier ja nicht, daß es wie
eine Metapher gebaut ist (die vielleicht Erkenntnis vermitteln
kann), sondern daß es mit Worten operieren muß, die dem, was
das Bild zum Ausdruck bringen soll, eo ipso unangemessen sind:
Zwischen Gemeintem und Gesagtem besteht eine unüberbrück­
bare Kluft - nichts anderes meint das Wort »unsagbar«. Wir
kennen freilich ein Paradigma, wo diese Kluft sich schließt, weil
sie gleichsam ins Innere des Bildes verlegt wird und der Anspruch,
mit dem Bild etwas sagen zu wollen, verschwindet: dies Para­
digma ist das ästhetische Bild. Ein Mythos wie der von Jonas, so
meine Vermutung, ist nur als ein literarisches Bild möglich. Was
soll das heißen?
In seiner Korrespondenz mit Bultmann hat Jonas den Blick aufs
Ganze der Welt, den sein Mythos entwirft, gegen den bei Bult­
mann angedeuteten metaphysik-kritischen Einwand verteidigt
mit dem Argument, »daß die Ethik auf der Ontologie gegründet
i sein muß, das heißt: das Gesetz menschlichen Verhaltens aus der
Natur des Ganzen abgeleitet werden muß«.7 Es geht ihm also
letztlich um die Begründung der Ethik. Wenn nun sein Mythos
bloß ein literarisches Bild wäre, so hieße das: Anders als beim
Mythos mythologischer Zeiten kann von diesem, einem modernen
Mythos, nicht erwartet werden, daß er zu einem für alle Menschen
verbindlichen und unbefragten Verständnis- und Orientierungs­
horizont werden könnte. Gerade von diesem Schritt zur Moderne,
durch welchen die ästhetischen Bilder die Orientierungskraft der
mythologischen Bilder eingebüßt haben, ist schwer zu sehen, wie

7 H. Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit^ a.a.O., Anhang, S. 71.

25^
er sich ohne Verrat an der Freiheit der Modernen sollte rückgängig
machen lassen. Andererseits deutet sich im Bewußtsein der Unsag-
barkeit dessen, was der Mythos sagen will, die Unmöglichkeit an,
ihn in eine philosophische Theorie, in eine neue Metaphysik zu
»übersetzen«. Dann wäre es aber eher der bildhafte Ausdruck eines
ethischen Selbstverständnisses als dessen mögliche Begründung.
Dies deutet Jonas selbst an, wenn er von der »Sicherheit wißbarer
Normen« spricht, »die nach den Worten der Bibel unserem Herzen j
nicht fremd sind«.8 In der Tat scheint mir Jonas’ Mythos eine
schöne bildhafte Erläuterung eines ethischen Selbstverständnisses
zu sein, das seinen Grund nicht in diesem Bilde, sondern »in un­
serem Herzen«, d. h. in der Wirklichkeit und den Bedingungen un­
seres Zusammenlebens hat. Anders ausgedrückt: wo dies ethische
Selbstvcrständnis nicht schon vorhanden und anderswie gegründet
ist, wird es sich durch ontologische Argumente nicht herbeiführen
lassen: warum, so könnte man ja fragen, sollte ich mich für das
Schicksal der leidenden und werdenden Gottheit interessieren,
wenn ich doch, wie Jonas meint, mit persönlicher Unsterblichkeit
nicht rechnen darf?
(2) In meinem zweiten Schritt möchte ich gewissermaßen die Ar­
gumentationsrichtung umkehren: Meine Vermutung ist jetzt, daß
Jonas’ Mythos vom werdenden Gott, soweit er sich philoso­
phisch-begrifflich einholen läßt, ununterscheidbar wird von einer
Position radikaler Endlichkeit. Was diesen Mythos vom werden­
den Gott, der sich in die Welt entäußert und hierbei sich selbst
aufs Spiel setzt, gegenüber aller positiven Theologie so überzeu­
gend macht, ist, daß er mit der Endlichkeit der Menschen ernst i I
macht und hierin ein Grundmotiv der modernen Metaphysik-
Kritik seit Nietzsche in sich aufnimmt. Ich möchte insbesondere
auf Jonas’ Antwort auf die Frage hinweisen, warum denn Gott
»sich und sein Schicksal dem Treiben des ins Außen Explodieren­
den und damit den bloßen Chancen der darin beschlossenen
Möglichkeiten unter den Bedingungen von Raum und Zeit«9
überließ. Jonas’ Antwort ist: »Eine erlaubte Vermutung ist, daß es
geschah, weil nur im endlosen Spiel des Endlichen, in der Uner­
schöpflichkeit des Zufalls, in den Überraschungen des Ungeplan­
ten und in der Bedrängnis durch die Sterblichkeit, der Geist sich

8 H. Jonas, »Unsterblichkeit und heutige Existenz«, a.a.O., S. 62.


9 H. Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, Frankfurt am Main 1988, S. 56.

253

J
selbst im Mannigfaltigen seiner Möglichkeiten erfahren kann, und
daß die Gottheit dies wollte.«10 Diese Antwort nun läßt sich
unschwer in ein Argument für eine radikale Endlichkeitsthese
übersetzen: Zum Begriff des Geistes gehört, daß er an individu-
r I ierte - endliche — Einzelwesen geknüpft ist; und zwar so, daß die
■ i

i i Bedingungen der Natürlichkeit und Endlichkeit nicht nur eine


’■ ■
Schranke des menschlichen Geistes und menschlicher Möglich­
keiten, sondern zugleich und in eins damit die Bedingungen der
Möglichkeit all dessen bezeichnen, was wir »Geist«, »Erkennt­
nis«, »Wahrheit«, »guten Willen« oder auch »sprachlichen Sinn«
nennen können. Wiederum finde ich einen ähnlichen Gedanken
bei Jonas selbst; nämlich dort, wo er zu zeigen versucht, weshalb
von den traditionellen Attributen der Gottheit das der Allmacht
ihr nicht zugesprochen werden dürfe. »Absolute, totale Macht
bedeutet Macht, die durch nichts begrenzt ist, nicht einmal durch
die Existenz von etwas anderem überhaupt, etwas außer ihr selbst
und von ihr Verschiedenem. Denn die bloße Existenz eines sol­
chen anderen würde schon eine Begrenzung darstellen, und die
eine Macht müßte dies andere vernichten, um ihre Absolutheit zu
bewahren. Absolute Macht hat dann in ihrer Einsamkeit keinen
Gegenstand, auf den sie wirken könnte. Als gegenstandslose
Macht aber ist sie machtlose Macht, die sich selbst aufhebt. >All«
ist hier gleich >Null<.«H Nun scheint mir, daß sich ein analoges
Argument auch auf das Attribut der »Allgüte« anwenden ließe,
und damit auf all jene »idealisierenden« Grenzbegriffe, in denen
die Metaphysik sich von jeher ausgelegt hat: die Idee eines abso­
luten Wissens, eines heiligen (oder absolut guten) Willens, oder,
um ein neueres Beispiel zu nehmen, einer »idealen Kommunika­
i
tionsgemeinschaft«. Ich will sagen: In all diesen Grenzbegriffen
werden jeweils die Bedingungen der Möglichkeit negiert, die für
1 das, was wir allein »Wissen«, »Wahrheit«, »guter Wille«, »sprach­
liche Verständigung« nennen können, konstitutiv sind. »>A11< ist
hier gleich >Null<«, so könnte man in jedem dieser Fälle sagen. Was
die Freiheit betrifft, so hat Jonas diesen Gedanken ausdrücklich
formuliert: »Absolute Freiheit wäre leere Freiheit, die sich selber
aufhebt.«12

10 H. Jonas, a.a.O.
11 H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, a.a.O., S. 34 f.
12 A.a.O., S. 34.

*54
Wenn aber diese Überlegung richtig ist, so kann der Mythos vom i
|
werdenden Gott nicht mehr als ein Bild, er kann - aus begrifflich
angebbaren Gründen - nicht die Vorstufe einer künftigen Meta­ I '
physik sein. Denn diese müßte die im Gedanken Gottes implizier­ i
ten »transzendenten« Bestimmungen in Grenzbegriffe überset­
zen, die im hier angegebenen Sinne inkohärent sind: den etwa
einer ursprünglichen »Allgüte« oder den einer möglichen positi­
ven Erfüllung des Schicksals Gottes. Ich möchte diesen Gedanken
abschließend verdeutlichen durch einen Kommentar zu Jonas’ (im i .

Briefwechsel mit Bultmann formulierter) These, daß »das Böse


[...], als Möglichkeit, nötig ist zum weithaften Wirklichwerden
des Guten, obwohl es nicht ein Teil davon, sondern wirklich sein
Gegensatz ist«.13 Gott mußte, so Jonas, die Möglichkeit des Bö­
sen zugestehen um der Verwirklichung des Guten (in Freiheit)
willen. Die schwierige, und höchst prekäre, Frage, die sich hier
stellt, ist: war cs hinreichend, die Möglichkeit des Bösen zuzuge­
stehen? Anders gefragt: wenn die Idee eines absolut und ohne
Einschränkung Guten, das die Existenz seines Gegensatzes voll­
kommen aus sich ausgeschieden hätte, zu jenen metaphysischen
Grenzbegriffen gehört, die wir nicht einmal kohärent denken
können, muß dann nicht die Wirklichkeit des Bösen um der Exi­
stenz des Guten willen zugestanden werden? Diese Frage klingt
natürlich blasphemisch, wenn man unter dem Bösen hier etwas so
radikal Böses wie Auschwitz verstehen würde. Denn in Hinsicht
auf dies radikale Böse können wir, ja, müssen wir sagen: es hätte
nie geschehen dürfen und es darf nie wieder geschehen. Es kann
also nicht darum gehen, solche moralischen Wahrheiten und da­
mit zugleich die unauslöschliche Schuld der Täter und Mittäter in
Frage zu stellen. Meine Überlegung ist vielmehr eine begriffliche;
sie betrifft das Verständnis der Kategorien, in denen wir solche
Wahrheiten zum Ausdruck bringen. Hier aber ließe sich behaup­
ten, daß zur Endlichkeit der Bedingungen, unter denen wir den
Begriff des ethisch Guten allein verwenden können, daß zur »Fra­
gilität des Guten« (Martha Nussbaum) die Existenz eines Nicht-
Guten - nicht: des radikal Bösen - notwendig hinzugehört - und
sei es nur als der unabschließbare Streit darüber, was jeweils gut
genannt werden darf. Dieser Streit wäre endgültig nur zu schlich­
ten in einem letzten Konsens, in einem jüngsten Gericht, in einer

ij A.a.O., S. 69.

*5S
H ■
idealen Kommunikationsgemeinschaft; sobald wir aber einen sol­
chen letzten Konsens, ein solches letztes Urteil zu denken versu­
chen, verwickeln wir uns in jene Inkohärenzen, die Jonas an den
Begriffen der absoluten Macht und der absoluten Freiheit aufge-
wicsen hat. Und das heißt: wir müssen auch die Idee des Guten
vercndlichen, so verendlichen, wie Jonas es in seinem schönen
Mythos mit der Idee Gottes unternommen hat.

I

2 56
ii. Architektur und Territorium
i-

I.
i
Meine Neugier auf das Thema dieses Symposiums wurde durch
eine merkwürdige Erfahrung geweckt, die ich vor ein paar Mona­
ten in Tromso gemacht habe. Seit ich vor zehn Jahren zum
erstenmal nach Tromso kam, habe ich den einzigartigen Charakter
der nord-norwegischen Landschaft, ihrer Menschen und Traditio­
nen, den spektakulären Wechsel von Licht und Dunkelheit in
dieser Landschaft und ihre anarchischen Verlockungen immer
stark empfunden. Am Anfang war es wie ein Dejä vu, wie eine
Materialisierung von Bildern, die ich seit meiner frühen Hamsun-
Lektüre im Kopf hatte. Später erfuhr ich - durch meine Freunde
in Tromso, vor allem durch Jakob Meloe - mehr über diese Land­
schaft, ich meine etwas mehr »Prosaisches« über die »Territorien«
und die Lebensformen der nord-norwegischen Fischer und der
Saami, über die Stadt Tromso und was es für das Lebensgefühl
bedeutet, wenn der Wechsel von Sommer und Winter wie der
Wechsel von Tag und Nacht ist. Natürlich erfuhr ich auch von der
totalen Zerstörung Nord-Norwegens durch die Deutschen am
Ende des Krieges. Als ich nun vor einigen Monaten nach Tromso
zurückkam, verbrachte ich einige Zeit an der - noch nicht fertig­
gebauten - neuen Universität von Tromso, die ich von innen sehr
attraktiv fand. Damals erzählte mir Jakob Meloe vom Plan und
dem Thema dieses Symposiums, nachdem ich mit ihm eine Zeit­
lang in der Cafeteria gesessen und - wie gewöhnlich - über die
Fischer und die Saami geredet hatte. Und plötzlich begann ich
mich zu fragen, was diese attraktive neue Universität mit dem
Territorium zu tun hat, zu dem sie gehört. Natürlich hat sie etwas
sehr Skandinavisches: die klare, großzügige und trorzdem intime
Organisation des Innenraumes, das Wechselspiel zwischen Stein
und Holz, die modernistische Einfachheit des Designs und die
sorgfältige Ausarbeitung von Details - und vermutlich gibt es Ver­
weise und Anspielungen auf die Umgebung von Tromso und auf
die lokale Geschichte, die ich übersehen habe. Auch bin ich mir
sicher, daß bei der Planung dieser Universität viel Sorgfalt darauf
verwendet wurde, den besonderen Bedürfnissen und Lebensbe-

257
dingungen von Menschen Rechnung zu tragen, die in einem
Gebiet leben, in dem die Kulturen der Fischer und der Saami noch
immer eine wichtige Rolle spielen. Und schließlich habe ich das
Gefühl, daß es kein Zufall ist, daß diese Universität gleichsam
»nach innen« gebaut ist: die Artikulation des öffentlichen Raums
findet im Inneren statt, so daß man dieses Gebäude in einem ge­
wissen Sinne nicht wirklich von außen wahrnehmen kann. Es
schien mir ganz natürlich, daß die Dialektik von Innen und Außen
unter den klimatischen und den Lichtbedingungen dieses Gebiets
t i ganz anders ausgetragen wird als beispielsweise in einer Stadt am
Mittelmeer. Ich hatte das Gefühl, daß der ganze öffentliche Raum
sich nach innen verlagert hatte, so daß die Außenwelt eher als ein
natürliches Panorama, denn als eine Erweiterung und als ein Kon­
trapunkt des Innenraums erschien. Noch auffallender fand ich je­
doch, bis zu welchem Grad diese Universität nichts mit dem Ter­
ritorium zu tun hat, zu dem sie gehört; das heißt, daß ich sie als eine
attraktive neue Universität wahrnahm, die im Prinzip auch in Ka­
lifornien oder in Westdeutschland hätte gebaut werden können
(wenn die westdeutschen Behörden nur mehr Gedanken und Geld
in die Konstruktion neuer Universitäten investieren würden). Und
ich glaube, daß es hiefür gute Gründe gibt. Denn gerade die Idee der
Universität ist eine kosmopolitische; die Begriffe »Universität«
und »universal« sind linguistisch eng miteinander verwandt. Die
Praxis des Lehrens, Lernens und Forschens ist - und wird immer
mehr - eine internationale Kultur; dementsprechend haben die
neuen Universitäten überall auf der Welt mehr miteinander ge­
meinsam als die meisten von ihnen beispielsweise mit dem Ensem­
ble von Colleges in Oxford oder der Humboldt-Universität in
Berlin. Es gibt eine zeitliche und historische Bedingtheit der Ar­
chitektur, die heute, wo es kaum noch Grenzen des internationa­
I
len Austausches gibt, zugleich die Bedingungen definiert, unter
1 denen territoriale Besonderheit noch möglich (oder sogar wün­
schenswert) ist. Etwas Ähnliches galt bereits für die große euro­
! päische Kunst der vergangenen Jahrhunderte, obwohl aus nahelie­
genden Gründen weniger für die Architektur als beispielsweise
i für Musik und Malerei. Was Musik und Malerei betrifft, so ist es
für einen Laien in der Regel offensichtlich viel einfacher, ein Mu­
sikstück oder ein Gemälde zeitlich zu datieren, als sie »territorial«
zu lokalisieren. Und das heißt einfach, daß Komponisten und Ma­
ler in Europa ihre spezifisch nationalen oder »territorialen« Bei-

258

IQ
träge zur europäischen Kultur immer zugleich als Mitglieder einer
internationalen Gemeinschaft von Künstlern, von »Zeitgenossen«
leisteten. Dies gilt nur in geringerem Maße für die Architektur,
und zwar trotz der Existenz cpochenspczifischer »Stile« - wie des
romanischen, gotischen, Renaissance- oder Barockstils. Bis vor
kurzem hatten Städte und sogar individuelle Häuser überall in
Europa neben ihrer temporalen eine stark territorial bestimmte
Identität. Niemand könnte das Stadtbild von Celle in Nord­
deutschland mit dem einer süddeutschen Stadt verwechseln, ganz
zu schweigen von italienischen oder französischen Städten, und
niemand könnte die Physiognomie von Prag mit der von Oslo
verwechseln. Offensichtlich hat genau mit Bezug auf diesen
i
Aspekt »territorialer Identität« während der letzten Dekaden die­
ses Jahrhunderts eine dramatische Veränderung stattgefunden.
Und offensichtlich ist genau dies der Grund dafür, daß Architek­
ten nun Symposien über »Architektur und Territorium« veran­
stalten. Daß sich auch in der Architektur ein internationaler Stil
entwickeln konnte - nicht nur für Kirchen, Schlösser oder Thea­
ter, sondern auch für Wohn- und Bürohäuser und für ganze
Vorstädte ist natürlich zum Teil nur ein Ausdruck des interna­
tionalen Charakters der modernen Technologie, der modernen
Industrialisierungsprozesse und der modernen kapitalistischen
Ökonomie. Der Internationalismus der modernen Architektur ist
jedoch nicht nur der Internationalismus der modernen Technolo-
gieund Ökonomie;er hat vielmehr Aspekte eines ästhetischen
Internationalismus, vergleichbar dem der epochenspezifischen
Stile der großen europäischen Architektur; dieser ästhetische In­
ternationalismus hat die Architektur in einem bestimmten Sinn in
eine Position gebracht, die mit der von Musik und Malerei wäh­
rend der letzten Jahrhunderte vergleichbar ist. Weil Architektur
im Gegensatz zu Musik und Malerei jedoch immer mit einem
bestimmten Territorium verknüpft bleibt, entsteht eine Dialektik
von historischer Zeit und historischem Raum, die die Architektur
mit einem neuen Problem konfrontiert; mit dem Problem näm­
lich, wie die legitimen »kosmopolitischen« Aspekte moderner !' !
Architektur mit dem legitimen Bedürfnis nach einer territorialen
Identität ihrer Gebilde versöhnt werden können. Im folgenden
möchte ich mit einigen Reflexionen über die »kosmopolitischen«
Aspekte oder, wenn Sie so wollen, über das temporale »Territo­
rium« der zeitgenössischen Architektur beginnen.

259
II.

Die moderne Architektur - und die postmoderne Architektur be­


trachte ich hier als einen Teil der modernen Architektur - ist in
demjenigen historischen Moment entstanden, in dem die techni­
schen und ästhetischen Dimensionen der Architektur - zwei
Dimensionen, die in der Architektur immer präsent waren - über­
all in Zcntraleuropa in eine Konstellation unerträglicher Span­
nung geraten waren. Die Entstehung der modernen Architektur
war wesentlich mit dem Bewußtsein verbunden, daß die Bezie­
hung zwischen den technischen und den ästhetischen Aspekten
architektonischer Produktion in eine historische Krise gekommen
war. In Wirklichkeit ist gerade die Unterscheidung zwischen die­
sen beiden Aspekten selbst eine moderne; sie geht wohl kaum der
Entstehung moderner industrieller Technologien einerseits und
einer Sphäre autonomer Kunst im modernen Sinn andererseits
voraus. Die begriffliche Unterscheidung reflektiert und artikuliert
einen historischen Prozeß der Trennung und der Differenzierung.
In der traditionellen Architektur genauso wie im traditionellen
Handwerk standen technische und ästhetische Aspekte noch in
einer Art symbiotischer Beziehung: die Schönheit und Aus­
druckskraft eines Engadiner oder eines Schwarzwälder Bauern­
hauses oder auch eines Wikingerschiffs sind kaum zu trennen von
der spezifischen Funktionalität dieser Konstruktionen. Und na­
türlich sind diese Gebilde Beispiele von Architektur und Hand­

r werk, die wesentlich an ein Territorium gebunden sind. Diese


Gebilde sind »soziale Individuen« mit einer unverwechselbaren
Physiognomie, einer Physiognomie, die eher Ausdruck eines spe­
zifischen sozialen Raumes als einer besonderen zeitlichen Periode
ist. Vor dem Hintergrund solcher Beispiele wird das Falsche und
Unauthentische von vielem, was während der Viktorianischen
oder der Wilhelminischen Epoche gebaut wurde, in eklatanter
Weise sichtbar. Die Begriffe »Eklektizismus« und »Historismus«

i
sind Bezeichnungen für eine architektonische Praxis, in der es
üblich geworden war, traditionelle ästhetische Gesten, ein aus sei­
nem sozialen, historischen und funktionalen Kontext herausgeris­
■■ senes traditionelles ästhetisches Vokabular auf neue Konstruk­
tionsformen aufzupfropfen, wodurch sie mit falschen und
unauthentischen Bedeutungen aufgeladen wurden. Der Funktio­
nalismus war vor allem anderen eine polemische Parole, die sich

260
gegen die falschen ästhetischen Gesten der Viktorianischen und
Wilhelminischen Architektur richtete. Er war ebensosehr ein mo­
ralischer Protest wie ein ästhetisches Programm: und es ist die
diesem Programm innewohnende Ambivalenz, die die Quelle der
Dialektik des Funktionalismus ist. Obwohl Interpretationen des
funktionalistischen Programms möglich sind, denen zufolge der
Funktionalismus ästhetischen Modernismus mit avancierter Tech­
nologie im Bereich der Architektur versöhnt,1 ist der Funktio­
nalismus hauptsächlich in der Form eines vulgären Funktionalis­
mus architektonische Realität geworden; d. h. als jener »interna­
tional style«, gegen den dann postmoderne Architekten rebelliert
haben. Die Gründe für diese »Degeneration« des funktionalisti­
schen Programms, wie ich es nennen möchte, sind sicherlich
teilweise - aber ich glaube nicht hauptsächlich - ideologischer
Art; die wesentlichen Gründe dürften eher sozio-ökonomische
sein, d. h. Gründe, die das sozio-ökonomische System der archi­
tektonischen Produktion in kapitalistischen wie sozialistischen
Ländern nach dem Krieg betreffen. Soweit ideologische Gründe
eine Rolle gespielt haben, hängen sie direkt mit dem prekären
Status der Architektur zwischen Kunst und Technologie zusam­
men, wie er im Moment der Krise offenbar wurde. In ihrer
Abkehr von der falschen Ästhetik des Historismus und Eklekti­
zismus tendierten frühe Funktionalisten, wie z. B. Adolf Loos,
dazu, die ästhetische Dimension der Architektur in Begriffen ih­
rer technologischen Verfahren umzudefinieren. »Form follows
function« wird jedoch ein anti-ästhetisches Programm, wenn im
Begriff der »Funktion« bereits technisch eindeutige Lösungen
mitgedacht werden; diese kann es jedoch nur für Probleme geben,
die zuerst in Begriffen artikuliert - oder reformuliert - werden,
die sie klargeschnittenen technischen Lösungen zugänglich ma­
chen. Eine Maschine zu bauen, die fliegen kann, eine Brücke zu
konstruieren, die große Belastungen aushält oder auch ein funk­
tionierendes Heizungssystem oder sonnige Balkone für jede
Mietpartei in einem Hochhaus — dies sind technische Probleme,
für die ein guter Ingenieur unter gegebenen Randbedingungen
eine technische Lösung finden wird oder auch nicht. Und natür­
lich sind dies wichtige Probleme, die alle Energie, alles Talent und
alle Phantasie eines guten Ingenieurs verdienen. Wenn man nun

i Ich werde auf diesen Punkt später zurückkommen.

261

'J
| i

bedenkt, daß wir eine gut konstruierte Brücke, ein gut konstruier­
tes Flugzeug oder einen gut konstruierten Bahnhof schön finden
können, obwohl der Architekt oder der Ingenieur, der sie gebaut
hat, keine ästhetischen Ambitionen hatte, sondern nur technische
Probleme auf ingeniöse Weise gelöst hat, dann könnte man ver­
sucht sein zu glauben - und Funktionalisten im heroischen Zeit­
alter moderner Architektur glaubten dies gelegentlich -, daß die
einzigen genuin ästhetischen Qualitäten moderner architektoni­
scher Gebilde in dem technisch Angemessenen oder Ingeniösen
h ihrer Konstruktion liegen. Sobald man dies aber akzeptiert, redu­
ziert man die Sprache der Architektur auf die internationale
Sprache der modernen Technologie, die jedoch offensichtlich
keine Sprache mehr ist. Aber in dieser ideologischen Reduktion
geht die Degeneration des Funktionalismus zum Vulgärfunktio­
nalismus nicht auf; die entscheidenden Gründe liegen, wie schon
erwähnt, anderswo. Schon die engen Beziehungen zwischen ar­
chitektonischem und ästhetischem Modernismus sind zu offen­
sichtlich, um vernachlässigt zu werden; so war etwa der Kon­
struktivismus, der Zwilling des Funktionalismus, nicht zuletzt ein
ästhetisches Programm, keines zur Reduktion des Ästhetischen
auf das Technologische. Große moderne Architektur meinte des­
halb nicht die Negation der ästhetischen Dimension von Archi­
tektur; was sie meinte, war eher die Erfindung der modernen
Kunst in der Sphäre der Architektur, d. h. die Erfindung einer
neuen Synthese von ästhetischen und technologischen Aspekten
in der Architektur. Deshalb glaube ich, daß sozio-ökonomische
Ursachen für die Degeneration des Funktionalismus zum Vulgär­
funktionalismus wichtiger waren als die der funktionalistischen
Ideologie einbeschriebenen Grenzen. Ich werde hier aber nicht
für diese These argumentieren, weil die These selbst nicht von
1 zentraler Bedeutung ist für das, was ich sagen will.
i!
!j
III.
i'
Die Unterscheidung zwischen einem ästhetischen und einem
technologischen Aspekt der Architektur ist, wie schon angedeu­
tet, eine moderne. Erst während der letzten Jahrhunderte haben
sich die Sphären der Technologie und der autonomen Kunst all­
mählich in dem Sinn voneinander getrennt, in dem wir heute

262
technische Probleme und technische Lösungen als klar von ästhe­
tischen Problemen und Lösungen unterschieden verstehen. Das
autonome Kunstwerk hat keine religiöse oder praktische Funk­
tion mehr, während das typische Produkt moderner Technologien
eine rein utilitäre oder »instrumentelle« Bedeutung hat: Schönheit
und Nützlichkeit einerseits, Schönheit und Moral andererseits
sind jeweils unterschiedliche Wertsphären mit eigenen »Logiken«
der Entwicklung, der Veränderung, des Lernens und des Fort­
schritts geworden. Nur auf der Grundlage dieser Differenzierung
von Wertsphären sind die großen Innovationen moderner Tech­
nologie und ebenso jene der modernen Kunst möglich geworden.
Während wir in den autonomen Kunstwerken unsere subjektive
Welterfahrung als ästhetisch objektivierte erfahren, dienen uns die
Produkte der modernen Technologie als Mittel der Kontrolle
einer vergegenständlichten Natur. Im Gegensatz hierzu sind die
typischen Produkte des traditionellen Handwerks weder als
Kunstwerke noch als rein instrumentelle Objekte gemeint. Sicher­
lich waren weder der griechische Tempel noch die mittelalterliche
Kathedrale, noch das Wikingerschiff oder die Stadt Venedig als
Kunstwerke gemeint; aber wenn wir solche Gebilde als schön
wahrnehmen, dann ist das, was wir wahrnehmen, nicht nur eine
ästhetische Qualität zusätzlich zu und unabhängig von ihren »uti­
litären« und instrumentellen Funktionen, es ist eher eine ästheti­
sche Ausdruckskraft von Objekten, die untrennbar ist von ihrer
technischen Funktionalität oder praktischen Nützlichkeit. Als
funktionale objektivieren und verkörpern diese Objekte zugleich
eine Lebensform, eine Weise des In-der-Wclt-Seins, ein Univer­
sum von Bedeutungen. Material, Funktion, Form und Bedeutung
scheinen auf eine Weise durch einander vermittelt zu sein, die ty­
pisch für Kunstwerke ist, obwohl diese Objekte nicht als Objekte
ästhetischer Kontemplation gemeint waren, sondern als Ce-
branchsobjekte. Weil die ästhetischen Qualitäten dieser Objekte ■ !

nicht von ihren »funktionalen« Qualitäten und vom Bedeutungs­


universum, der in ihnen verkörperten Lebensform getrennt wer­
den können, können sie auch nicht einfach auf die technischen
Produkte einer anderen Epoche »aufgepfropft« werden; sie lassen
sich nicht ohne weiteres von der Welt trennen, zu der sie gehören
j
und in der sie ihr Leben haben, um die Produkte einer avancierten
modernen Technologie ästhetisch zu dekorieren. Das ist die
Wahrheit des Funktionalismus. Die Unwahrheit des Funktiona-

263

1
i

!i
lismus liegt in seiner Tendenz, die moderne Technologie zu hypo-
stasieren, d. h. in der Überzeugung, daß eine Technologie, die ihre
Verbindungen mit einem traditionalen Universum von Bedeutun­
gen durchtrennt hat, ihr eigenes kohärentes Bedeutungsuniversum
hervorbringen und deshalb ganz allein für die ästhetische Dimen­
sion der Architektur aufkommen könnte.

H IV.

Wie kann diese ästhetische Dimension der Architektur verstanden


werden, wenn sie nicht als etwas erklärt werden kann, das zur
funktionalen Bedeutung eines Gebäudes hinzukommt und unab­
hängig von dieser ist? Auf diese Frage hat Theodor W. Adorno2
eine Antwort gegeben, in der er die Ideen des Funktionalismus
und des Konstruktivismus in einer interessanten Weise reformu-
liert hat. »Architektur dürfte desto höheren Ranges sein«, sagt
Adorno, »je inniger sie die beiden Extreme, Formkonstruktion
und Funktion, durcheinander vermittelt.«3 Adorno stellt sich
eine wechselseitige Durchdringung von Materialien, Formen und
Funktionen in dem Sinn vor, daß keines dieser »Momente« als ein
Letztgegebenes, als »Urphänomen« hypostasiert wird. Auch Ma­
terialien und Formen sind keine ahistorisch vorgegebenen: in
ihnen hat sich Geschichte sedimentiert, Geist ist in ihnen aufge­
speichert. »Künstlerische Phantasie erweckt das Aufgespeicherte,
indem sie des Problems gewahr wird. Ihre Schritte, stets minimal,
antworten auf die wortlose Frage, welche die Materialien und
Formen in ihrer stummen Dingsprache an sie richten. Dabei
schießen die getrennten Momente, auch Zweck und immanentes
i Formgesetz, zusammen.«4 Für Adorno liegt die tiefere Legiti­
mation des funktionalistischen Impulses nur in diesem Prozeß der
Vermittlung zwischen Materialien, Formen und Funktionen; in
der Idee eines solchen Vermittlungsprozesses würde der Funktio­
nalismus in der Tat über jede rein technologisch-utilitäre Konzep­
tion von Funktionen und Zwecken hinausweisen. »Raumgefühl«,
sagt Adorno, »ist ineinandergewachsen mit Zwecken; wo es in der
2 Adorno, Theodor W.: »Funktionalismus heute«, in: Gesammelte
Schäften, Bd. 10/1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977.
3 Ebenda, S. 389.
4 Ebenda, S. 387.
r
■■ i 264
Architektur sich bewährt als ein die Zweckmäßigkeit Überstei­
gendes, ist es zugleich den Zwecken immanent. Ob solche Syn­
thesis gelingt, ist wohl ein zentrales Kriterium großer Architek­
tur, diese fragt: wie kann ein bestimmter Zweck Raum werden, in
welchen Formen und in welchem Material; alle Momente sind
reziprok aufeinander bezogen. Architektonische Phantasie wäre
demnach das Vermögen, durch die Zwecke den Raum zu artiku­
lieren, sie Raum werden zu lassen; Formen nach Zwecken zu
errichten.«5 Adorno versucht, in der Sprache des Funktionalis­
mus zu etwas jenseits des bloß funktionalen Zusammenhangs zu
gelangen: Ausdruck, Bedeutung, ein sprachähnlicher Charakter
der architektonischen Werke - alle diese Aspekte von architekto­

I
nisch geformtem Raum, die dann zum zentralen Einsatzpunkt der
postmodernen Architektur wurden, versucht Adorno als etwas zu
entziffern, das schon den Postulaten des Funktionalismus und des
Konstruktivismus immanent war. Dementsprechend bedeutet für
Adorno »funktionale« Architektur eine Artikulation des Raumes, '• i
die im technischen Sinn des Wortes funktional ist, indem sie zu­
gleich unserer Erfahrung der Welt Ausdruck verleiht, sie objekti­
viert und transformiert.
In Adornos Interpretation sind weder »Funktionen« oder
»Zwecke« noch Materialien und Formen letzte Gegebenheiten.
Funktionen und Zwecke müssen in eine räumliche Realität über­
setzt und als eine räumliche Realität artikuliert werden, während
Materialien und Formen eine Sedimentierung von Geschichte,
von vergangenen Bedeutungen ebenso in sich enthalten wie kon­
struktive Möglichkeiten. Deshalb beschreibt Adorno den Prozeß
des Entwerfens als einen Prozeß der Vermittlung von Zwecken,
Materialien und Formkonstruktionen. Da Gebäude im Unter­
schied zu Bildern nicht in einem gleichsam leeren Raum entwor­
fen werden, sondern ihr Sein nur als Teil eines konkreten
räumlichen und historischen Kontextes haben, könnte man das
Klima, den historischen, sozialen und architektonischen Kontext
als weitere Bestimmungen und Elemente jenes Vermittlungspro­
zesses nennen. Ein Bild ist ein autonomes Universum von Bedeu­
tungen, das keinen territorialen, sondern nur einen ästhetischen
Kontext hat - nämlich den Kontext anderer Bilder. Demgegen­
über bedeutet ein Gebäude immer eine Erweiterung und Verände-

5 Ebenda, S. 388.

265
rung eines bestehenden sozialen und territorialen Kontextes;
deshalb ist es nie ein autonomes Bedeutungsuniversum; es hat sein
Sein vielmehr in einem Verhältnis der Spannung, der Kommuni­
kation, des Konflikts oder der Korrespondenz mit einem natürli­
chen, sozialen und architektonischen Kontext. In einem bestimm­
ten Sinn sind die Grenzen der Werke der Architektur nicht klar
definiert, weil ein Gebäude immer Teil eines Ensembles, einer
Landschaft oder einer Stadtlandschaft ist. Gelungene Architektur
ist Architektur, die in bezug auf ihren Kontext gelungen ist - eine
beinahe triviale Wahrheit. Deshalb ist genaugenommen nie ein
isoliertes Gebäude der Gegenstand ästhetischer Bewertung, Ob­
jekt der Bewertung ist vielmehr das Gebäude in seinem produkti­
ven Eingriff in einen natürlichen oder architektonischen Kontext,
oder auch ein architektonisches Ensemble oder schließlich eine
Stadtlandschaft. Im Gegensatz zu Bildern aber haben Werke der
Architektur nicht nur keine klar bestimmten Grenzlinien, sie
können auch nicht in derselben Weise wahrgenommen werden
wie Bilder. Sinnliche Erfahrung eines Gebäudes bedeutet, um es
und in ihm herumzugehen, eine Pluralität von Perspektiven ein­
zunehmen, sein Inneres mit seinem Äußeren in Beziehung zu
setzen, ein Gefühl für das Material zu bekommen, die Bewegung
des eigenen Körpers in einem artikulierten Raum zu erfahren;
diese Erfahrung impliziert somit eine Aktivierung und Reaktion
des ganzen Körpers sowie die Integration einer Pluralität von Per­
.1 spektiven und Erfahrungen. Nicht nur das Objekt der Erfahrung
ist ein räumliches und körperliches, auch die Erfahrung selbst
wird zur räumlichen und körperlichen. Der Raum jedoch, der als
artikulierter erfahren wird, ist immer ein sozialer Raum. Meine
Wahrnehmungen, meine Selbsterfahrung sind nicht die meines na­
türlichen, sondern die meines sozialen Körpers. Die anderen sind
mit mir in einem sozialen Raum präsent, der mit Bedeutungen
aufgeladen oder bedeutungsarm sein kann, der Möglichkeiten
oder Barrieren für intersubjektive Beziehungen in sich enthalten,
unsere sozialen Erfahrungen komplexer oder ärmer machen, un­
■ '
sere Phantasie in Bewegung versetzen oder hemmen kann und der
- last, but not least - unsere kollektive Erinnerung produktiv in
sich aufheben und transformieren oder sie ignorieren und ab­
.1
schneiden kann. Deshalb könnte man sagen, daß in den Werken
der Architektur nicht nur Raum, sondern auch soziale und histo­
rische Zeit artikuliert wird. Die Artikulation des Raumes, der

266
-?>
d
immer ein sozialer Raum ist, in den Werken der Architektur
bedeutet dann nicht nur, daß die Werke der Architektur eine
bestimmte Lebensform ausdriieken, sondern auch, daß sic an
der Konstitution und der Veränderung von Lebensformen parti­
zipieren; daß sie Welt nicht nur artikulieren, sondern auch er­
schließen.
Nimmt man all diese Elemente zusammen - das Fehlen klarer
Grenzen für die Werke der Architektur, den räumlichen und so­
zialen Charakter der sinnlichen Erfahrung von Gebäuden und
Stadtlandschaftcn, die Verkörperung und Transformation von Le­
bensformen durch die Werke der Architektur -, dann kann es
nicht überraschen, daß die moderne Revolution in der Architek­
tur schnell zu Visionen eines architektonischen »Gesamtkunst­
werks« der Zukunft geführt hat, das, van Doesburg zufolge,
einzelne Formen autonomer Kunst überflüssig machen würde.
Solche Visionen enthalten, wie es in Le Corbusiers utopischen
Projekten manifest wird, ein Element technologischer Hybris.
Denn die komplexe Interdependenz heterogener Elemente, die in
den Prozeß des architektonischen Entwerfens und Planens einge­
hen, wird hier als kalkulierbarer Zusammenhang von Variablen in
einem möglichen technologischen Projekt reinterpretiert; ästhe­
tischer Radikalismus wird in ein radikales Projekt ahistorischer
Sozialtechnologie verkehrt. Wenn die Befreiung der modernen
Architektur von den Fesseln traditioneller Technologie und tradi­
tioneller Ästhetik gelegentlich zu solchen selbstherrlichen Miß­
verständnissen der möglichen Rolle der Architekten in der
modernen Welt geführt hat, dann ist dies meiner Meinung nach
darauf zurückzuführen, daß die modernen Architekten sich selbst
als zu zwei verschiedenen Produktionssphären zugehörig ent­
deckt haben: der der ästhetischen Avantgarde und der der moder­
nen Ingenieure. In beiden Rollen, der des Künstlers und der des
Ingenieurs, konnten die Architekten sich als kreative Produzenten
verstehen: als Schöpfer ästhetischer Objekte auf der einen Seite,
als Produzenten gut konstruierter Maschinen auf der anderen.
Und weil das Universum der Architektur zwischen diesen beiden
Polen angesiedelt ist, und da dies Universum eines des sozialen
Lebens selbst ist, muß es eine natürliche Versuchung gewesen sein,
die beiden Rollen des Künstlers und des Ingenieurs mit dem Ziel,
eine neue Lebensform zu kreieren, in sich zu vereinigen. Lebens­
formen können aber nicht gemacht werden, weder von Künstlern

267
H

noch von Ingenieuren. Gleichwohl will ich versuchen, ein Wahr­


heitsmoment in dieser ästhetisch-technologischen Hybris der frü­
fi hen modernen Architekten zu verteidigen. Dieses Wahrheitsmo­
ment betrifft die Kombination von ästhetischem und technologi­
schem Modernismus in einer neuen Bestimmung der Architektur,
die im vollen Bewußtsein des Eingriffs in bestehende soziale
Räume interveniert. Natürlich war Architektur immer ein Ein­
griff in soziale und natürliche Räume; wie Bruno Reichlin betont
hat, hielt Le Corbusier sogar die Architckturgeschichte von Paris
für eine Abfolge von Katastrophen.6 In gewissem Sinne muß
schon die Errichtung der ersten Hütte an einem norwegischen
Fjord eine Art von Katastrophe gewesen sein. Dementsprechend
könnte man sagen, daß jede architektonische Intervention in einen
bestehenden natürlichen oder sozialen Raum Elemente des
Bruchs und der Dekonstruktion einschließt. Um so wichtiger ist
es, daß die Intervention im Bewußtsein der Folgen vollzogen
wird. Dies bedeutet, daß eine wesentliche Verantwortung des Ar­
chitekten darin liegt, in der richtigen Weise einzugreifen, die
Destruktion so konstruktiv wie möglich zu gestalten und eine
produktive Richtung der Veränderung vorzugeben. Das Wahr­
heitsmoment, das sich, wie ich gesagt habe, in der ästhetisch­
technologischen Hybris einiger früher moderner Architekten ver­
birgt, betrifft dieses Bewußtsein der intervenierenden Rolle der
Architektur, ein Bewußtsein von Möglichkeiten, den mensch­
lichen Lebensraum in der modernen Welt entweder zu humanisie­
ren oder zu zerstören. Denn eine bloße Bewahrung bestehender
Lebensräume ist heute an keinem Ort der Welt eine realistische
Alternative; und ich denke, es wäre nicht einmal eine attraktive
Alternative, weil cs die Stillstellung unserer Zivilisation bedeuten
würde, eine Blockierung der Phantasie und das Ende einer pro­
duktiven Auseinandersetzung mit der Welt. Bevor ich versuche,
diese These mit dem Thema unseres Symposiums in Verbindung
zu bringen, möchte ich noch einmal auf das Problem der »ästhe­
tischen Dimension« der Architektur zurückkommen.

6 Reichlin, Bruno: »L’esprit de Paris«, in: Arch+ 90/91, August 1987,


S. $4.

li
268
V.

Ich habe dieses Problem an dem Punkt liegengclassen, wo klar i


wurde, daß die ästhetische Erfahrung von Werken der Architek­
tur, die sie als Kunstwerke wörtlich nähme wie Bilder oder
Skulpturen, nicht nur eine Abstraktion von anderen Dimensionen
unserer Erfahrung artikulierten und geformten Raums implizie­
ren würde, daß sic vielmehr eine verstümmelte ästhetische Erfah­
rung wäre. Gewiß, unsere Erfahrung der Welt ist immer eine
»synästhetische« Erfahrung, und dieser synästhetischc Charakter
der gewöhnlichen Erfahrung ist in der ästhetischen Erfahrung be­
wahrt und sogar gesteigert, selbst wenn der dominante Charakter
eines Kunstwerks entweder visuell oder akustisch ist. In ästhe­ ! i
tischer Erfahrung sind alle unsere Sinne involviert und das ist der
Grund, warum die Trennung zwischen Zeit- und Raumkünsten
keine klargeschnittene ist, warum wir musikalische Metaphern
zur Beschreibung von Bildern und visuelle Metaphern zur Be­
schreibung von Musikstücken verwenden. Ästhetische Erfahrung
ist eine Erfahrung zweiter Ordnung: durch Kunstwerke erfahren
wir unsere Erfahrung der Welt, sie sind Verdichtungen und Ob­
jektivierungen von Sinnkomplexen und eröffnen zugleich neue
Weisen der Welterfahrung. Eine solche allgemeine Charakterisie­
rung der ästhetischen Erfahrung ist jedoch noch nicht ausreichend
für die Charakterisierung der ästhetischen Erfahrung von Werken
der Architektur. Denn Werke der Architektur sind nur insoweit
Kunstwerke, als sie auch »wirkliche« Objekte sind, Objekte des
Gebrauchs, Objekte, die als ästhetische zugleich einem bestimm­
ten sozialen, historischen und praktischen Kontext zugehören. Sie
scheinen sich dem zu widersetzen, was Gadamer die »Abstraktion
des ästhetischen Bewußtseins«7 genannt hat, d. h. genau demje­
H
nigen Begriff des »Ästhetischen«, wie er zum erstenmal klar von
Kant artikuliert wurde und wie er in unserer Auffassung der
Kunst als einer autonomen Wertsphäre wirksam ist. Nun hat schon <
Heidegger den griechischen Tempel als ein Paradigma für das We­
sen der Kunst gesehen, d. h. als Paradigma für eine Auffassung der
Kunst, die das Kunstwerk nicht mehr als ein ästhetisches Objekt
betrachtet, sondern als ein »Wahrheitsgeschehen«. Obwohl ich

7 VgL Gadamcr, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960,


S.81.

269

J 1
I

nicht glaube, daß Heideggers zutiefst antimoderne Philosophie der


Kunst eine große Hilfe für die Klärung der ästhetischen Dimension
I von Architektur ist, enthält doch vielleicht der Gedanke ein Wahr­
heitsmoment, daß der Begriff von Kunst in großer Architektur
über sich selbst, d. h. über die Kunst als eine autonome Wertsphäre
hinausweist und hiermit zugleich die Unterscheidung zwischen
dem Nützlichen und dem Nutzlosen transzendiert. Autonome
Kunst ist per definitionem nutzlos; das Kunstwerk ist um seiner
selbst willen da, nicht um irgendwelche technischen, politischen
oder moralischen Zwecke zu erfüllen, die dem Werk immer äußer­
lich bleiben müssen. Im Gegensatz dazu ist ein Gebäude ein Para­
digma des Nützlichen, dessen, was unmittelbar praktischen Nut­
zen hat-oder haben sollte. Wenn nun im Bauwerk Nützliches und
Nutzloses, Nützlichkeit und ästhetischer Wert einander durch­
dringen müssen, dann läßt sich dies nur so verstehen, daß im Bau­
werk der Begriff der Nützlichkeit über seine utilitaristischen
Konnotationen und zugleich der Begriff des ästhetischen Werts
über die Konnotationen eines selbstgenügsamen Kunstwerks hin­
ausgetrieben wird. Dann hätte ästhetische Phantasie die Aufgabe,
Kontexte der Nützlichkeit zu artikulieren, zu klären, zu struktu­
rieren und sie dadurch zu verändern, und zwar mit dem Ziel, aus
ihnen Sinn zu machen - wobei der Ausdruck »Sinn machen« hier
im Doppelsinn von »sinnlich wahrnehmbar machen« und »sinn­
voll strukturieren« gebraucht wird. Obwohl wir kaum adäquate
Begriffe haben, um dieses Verschmelzen des Nützlichen und des
Nutzlosen in Bauwerken zu beschreiben, könnte man vielleicht
ri sagen, daß diese Idee eine utopische Perspektive bezeichnet, die
der Architektur einbeschrieben ist: die Perspektive einer zweiten
Natur, einer Natur, die ihre Sprache gefunden hätte.
ri
VI.

Ich möchte schließlich auf das Thema dieses Symposiums, »Ar­


chitektur und Territorium«, zuriickkommcn. Im Begriff des »Ter­
ritoriums« sind, wenn ich ihn richtig verstehe, das »Natürliche«
und das »Soziale« unauflösbar miteinander verknüpft. Ich ver­
■ stehe deshalb »Die zwei Landschaften Nord-Norwegens«,s wie

8 Meloe, Jakob: The Two Landscapes of Northern Norway, Ms.

270
•i
•i
'S.

sic J. Mcloe in einem schönen Essay beschrieben hat, als die zwei
»Territorien« Nord-Norwegens - das der Fischer und das der
H
Saami. Mir scheint, daß die Art des Wissens über ein Territorium,
über die zu ihm gehörigen Praktiken und Lebensformen, wie Mc-
loe sie vermittelt, genau die Art von Wissen ist, das ein guter
Architekt haben sollte, wenn das, was er oder sie baut, in einem h
gegebenen natürlichen und sozialen Kontext Sinn machen soll.
Meloe verdanke ich auch die Information, daß das traditionelle
Fischerhaus nicht in einem Zuge gebaut wurde, daß vielmehr neue
Anbauten ohne viele Gedanken an »ästhetische« Kohärenz hinzu­
gefügt wurden, wenn, über die Generationen hinweg, neue Be­
dürfnisse auftauchten — eine Art spontaner »non-finito«-Archi-
tektur (im Sinne von Frank Gehry). Es scheint, daß die Fischer 11
ihre konstruktiven und ästhetischen Energien und Ambitionen
vor allem in die Konstruktion und das Design ihrer Boote, das
Zentrum ihres Lebens, investiert haben. Meloes Beobachtungen
konzentrieren sich auf die traditionellen Lebensformen der Fi­
scher und der Saami. In diesen Lebensformen spielten Architek­
ten im modernen Sinn weder eine Rolle, noch wurden sie
gebraucht. Gerade in bezug auf diese traditionalen Lebensformen
zeigt das Entstehen einer Vereinigung von Architekten nördlich
des Polarkreises eine dramatische Veränderung an, die nicht nur
im nördlichen Skandinavien stattgefunden hat, sondern überall
auf der Welt im Verlaufe der letzten Generationen. Die entspre­
chenden Schlagworte sind Modernisierung, Urbanisierung, Indu­
strialisierung und neuerdings ökologische Zerstörung. Überall in i I
der Welt führten oder führen diese Prozesse zur Zerstörung von
»Territorien«, wie sie mit traditionalen Lebensformen verbunden
waren. Traditionale Territorien wurden in eine Dynamik der Ver­
änderung verstrickt, die zumindest in den reichen kapitalistischen
Ländern des Westens zu einer zunehmenden Einebnung von Un­
terschieden in den Lebensbedingungen, den sozialen Praktiken,
den Produktionsformen und im Konsumverhalten führt. Erst im
Kontext dieser dynamischen und oft zerstörerischen Veränderun­
gen haben Begriffe wie »Territorium«, »Region« und andere mit
ihrem Bezug auf die besondere Identität eines Volkes, einer Le­
bensform, einer Tradition des In-der-Welt-Seins eine spektakuläre
Bedeutung gewonnen. Diese Begriffe, oder doch ihr aktueller Ge­
brauch, richten sich polemisch gegen die drohende Zerstörung all
dessen, was im Leben der Menschen geschichtlich individuiert

271

J
und einzigartig ist, gegen die Bedrohung der Identität und Integri­

Si tät einzelner Völker und ihrer natürlichen und kulturellen Le-


bensgrundlagcn. Ich glaube, daß einer der vielen Sinne des Wortes
»Postmoderne« in der Architektur direkt mit diesem Protest des
! Besonderen gegen das Allgemeine zusammenhängt, so wie er sich
beispielsweise im Protest gegen den falschen Universalismus des
•i sogenannten »international style« äußert. Es scheint mir jedoch
! offensichtlich, daß »Territorialismus« oder »Regionalismus« auf
der einen Seite und »Universalismus« auf der anderen nicht als
h abstrakte Gegensätze, sondern vielmehr als zwei entgegengesetzte
Pole in einem dialektischen Kraftfeld gesehen werden sollten. Die
Verteidigung des Besonderen ist nicht in der reinen Form der Be­
wahrung möglich; Lebensformen können ebensowenig willent­
lich konserviert werden, wie sie willentlich gemacht werden

I können. Ihre Verteidigung ist vielmehr nur dann möglich, wenn


das bedrohte und zum Schweigen verurteilte Besondere eine
Chance erhält, seine Stimme zu erheben und diese Stimme - und
damit zugleich seine spezifischen Stärken, Talente, Perspektiven
und Traditionen - im Konzert der vielen verschiedenen Stimmen
zur Geltung zu bringen. Der Universalismus ist, in einem Sinne
des Wortes, unser Schicksal, in einem anderen unsere Aufgabe. Er
ist unser Schicksal, soweit es um den Universalismus der moder­
nen Technologie geht; er ist unsere Aufgabe, was den Universalis­
mus der Demokratie, der Menschenrechte und der Selbstbestim­
mung angeht. Ich glaube, daß heute keine Verteidigung sozialer
oder sogar ökologischer Integrität Erfolg haben kann, die sich
nicht der Herausforderung stellt, die in diesen beiden Formen des
Universalismus liegt. Es ist die zweite Form des Universalismus,
I die das Gegengift gegen die Gefahren der ersten in sich enthält.
Denn wo immer Menschen eine Chance bekommen, für sich
selbst zu sprechen und sich selbst zu behaupten, entsteht eine
neue Chance für jenen produktiven Pluralismus von Stimmen,
Individualitäten und Fähigkeiten, der der natürliche und einzig
wirksame Feind der technologischen Gleichmachung und der
technologischen Zerstörung ist.
An dieser Stelle nun kann ich erläutern, was mir am Begriff des
Territoriums problematisch erscheint. Territorien waren traditio­
nellerweise von einem bestimmten Volk bewohnt; das Territorium
gehörte einem Volk. Die Identität dieses Volkes war in einem
wichtigen Sinne eine territoriale Identität, insofern eine Genera-

!> *7*
tion nach der anderen denselben Boden bearbeitete, dieselben
Fischgründe ausbeutete, über dasselbe Land zog, um die Rentiere
zu weiden, etc. Das Land gehörte nicht nur dem Volk, sondern
das Volk gehörte dem Land. Diese territoriale Identität eines Vol­
kes, das zu einem bestimmten geographischen Raum gehört, ist
durch den Prozeß der Modernisierung immer mehr in Frage ge­
stellt worden. Der Bürgermeister von Stuttgart, Manfred Rom­
mel, hat kürzlich vorausgesagt, daß um das Jahr 2000 alle
größeren europäischen Städte wesentlich internationale Städte
sein werden, die aus einer Pluralität von ethnischen Gruppen zu­
sammengesetzt sind - was heute schon für alle größeren amerika­
nischen Städte zutrifft. Seine plausible Schlußfolgerung war, daß-
was deutsche Städte betrifft - alle ihre Bewohner deutsche Pässe
haben sollten, auch wenn sie außerdem noch andere Staatsangehö­
rigkeiten haben; ferner, daß jeder Mann das Recht haben sollte zu
entscheiden, in welchem seiner »Heimatländer« er den Militär­
dienst leisten will etc. Sicherlich gibt es die Tendenz zu einer
solchen »Internationalisierung« von »Territorien« zur Zeit nur in
den größeren europäischen Städten; ich glaube jedoch, daß es sich
um eine strukturelle Tendenz handelt, die letztlich auch jene Ge­
biete in Europa betrifft, wo es vielleicht heute noch Sinn macht zu
sagen, daß nicht nur das Land einem Volk gehört, sondern gleich­
zeitig die Mehrheit des Volkes dem Land gehört. Ich frage mich
jedoch, ob nicht der Begriff des Territoriums, wie er heute gele­
gentlich gebraucht wird, implizit beide Konnotationen hat: die
eines Landes, das einem Volk gehört, und die eines Volkes, das
einem Land gehört; und das heißt, ob nicht der Begriff des Terri­
toriums versteckte Konnotationen einer vormodemen Gesell­
schaft hat, in der die Individuen in einem Territorium, von dem sie
selbst ein Teil sind, geboren werden und aufwachsen, ihr Leben
führen, arbeiten und sterben. Wenn dem aber so wäre, dann ent­
hielte der Begriff des Territoriums eine bedenkliche politische
Dialektik - oder vielleicht verbirgt er sie -, indem er auf der einen
Seite auf das Recht von Individuen und Kollektiven verweist, ihre
Identität und Integrität zu bewahren sowie ihr eigenes Schicksal
zu bestimmen, und auf der anderen Seite die Sehnsucht nach Be­
wahrung einer wesentlich vormodernen Beziehung zwischen den
Menschen und ihrem Land zum Ausdruck bringt. Ich vermute
nicht nur, daß beide Konnotationen unvermeidbar sind, sondern
auch, daß ihre dialektische Beziehung ziemlich komplexer Art ist,

273
weil sie ein Feld von Konnotationen abdeckt, das am einen Ende
an eine moderne Tradition radikaler Demokratie grenzt und am
anderen an eine Tradition des romantischen Nationalismus als
einer Form des Protestes gegen die Moderne. Der ersten Tradition
zufolge könnte man allenfalls sagen, daß eine Nation, nicht aber,
daß Individuen in einem Territorium »verwurzelt« sein können;
moderne Individuen sind in einem mehr oder weniger dramati­
schen Sinn »entwurzelte« Individuen, die die Freiheit haben, ihre
communities im Laufe ihres Lebens zu wechseln. Demgegenüber
sind dem normativen Bild zufolge, das die zweite Tradition von
Individuen entwirft, auch diese »verwurzelt« - verwurzelt nicht
nur in einer Sprache, sondern auch in einem Boden und in einem
Netzwerk von Traditionen und Loyalitäten. In beiden Fällen ha­
ben ein Territorium und die entsprechende Community gegenüber
den Individuen über die Zeit hinweg eine Art unveränderter Iden­
tität; aber im ersten Fall ist der »Fluß« der Individuen durch ein
Territorium zumindest teilweise ein »horizontaler«: sie kommen
und gehen, d.h. sie kommen hinein und gehen hinaus — man
denke daran, daß ihnen heute Autos, Züge, Schiffe und Flugzeuge
als Mittel der Fortbewegung zur Verfügung stehen. Im zweiten
Fall ist der »Fluß« der Individuen durch ein Territorium ein we­
sentlich »vertikaler«: die Individuen werden auf demselben Boden
geboren und aufgezogen, auf dem sie auch sterben und begraben

I- werden. Das Land ist das Land ihrer Vorväter und ihrer Kinder;
der »Fluß« der Individuen durch das Territorium ist eine Abfolge
von Generationen, die alle demselben Land gehören. Das zweite
Modell ist das Modell traditionaler agrarischer Gesellschaften;
und ich glaube, daß es nicht als Norm verstanden werden sollte,
wenn der Begriff des Territoriums im Kontext einer Debatte über
gegenwärtige Architektur verwendet wird, selbst wenn jenes Mo­
dell in einem begrenzten Maße auch im Kontext moderner Gesell­
: ! schaften noch Gültigkeit besitzt. Der Grund, weshalb ich glaube,
daß es nicht als eine - vielleicht implizite - Norm verstanden wer­
den sollte, ist der, daß eine Fixierung auf dies Modell eine Diskus­
sion über den möglichen Beitrag der Architektur zur richtigen
Veränderung und zur Humanisierung unserer Welt unmöglich
1 machen würde. Wenn ich den Begriff des »Territoriums« gebrau­
che, verstehe ich ihn deshalb im ersten Sinn -, in dem sogar eine
Stadt wie New York als ein Territorium verstanden werden kann.
Der kritische Sinn des Begriffs wäre dann wesentlich mit der Idee

274
einer lokalen und dezentralen Autonomie von kulturell oder po­
litisch definierten Gruppen verknüpft; d. h. mit deren Recht,
diejenigen Lebensformen und Prioritäten zu wählen, die für sie
aufgrund der einzigartigen Ressourcen ihres natürlichen oder so­
zialen Ortes und ihrer kulturellen Traditionen attraktiv sind.
Verwendet man den Begriff des Territoriums in diesem Sinn, dann
verhielte er sich komplementär zum Universalismus moderner de­
mokratischer Ideen, wäre zugleich aber auch untrennbar von
ihm.
Demokratie ist der terminus medius, der allein die Architektur
gegen die ihr inhärenten Gefahren der technologischen Perver­
sion, der politischen und ökonomischen Korruption und der
ästhetischen Degeneration schützen kann. Damit will ich nicht
sagen, daß der Prozeß architektonischen Entwerfens und Kon­
struierens demokratisiert werden soll. Technische Sachkenntnis,
ästhetische Phantasie und professionelle Erfahrung können nicht
wirklich demokratisiert werden. Aber es macht einen gewaltigen ■
Unterschied, ob diese Elemente der architektonischen Produk­
tion in Formen demokratischer Selbstbestimmung und öffent­
licher Diskussion eingebunden sind oder nicht und ob sie mit der
kollektiven Erfahrung und der Phantasie der Menschen, für die
Gebäude gemacht werden, kommunizieren oder nicht. Das mag
trivial klingen, und ich denke, daß es in einem bestimmten Sinn
trivial ist. Dennoch glaube ich, daß das, was ich eben gesagt habe,
den einzig möglichen Weg bezeichnet, auf dem Architektur die
Architektur ihres Territoriums bleiben - oder wieder werden - '1
kann, d. h. eine Architektur, die bestimmte Lebensformen artiku­ i i

liert und transformiert und sie gleichzeitig mit Hilfe all der
Ressourcen bereichert, die man aus der modernen Technologie
ebenso wie aus den sozialen und ästhetischen Erfahrungen ver­
gangener Epochen und fremder Kulturen gewinnen kann. Alvar
Aalto hat Elemente der italienischen Piazza in die finnische Archi­
tektur eingeführt, und trotzdem erscheint seine Architektur finni­
scher als die Birkenwälder. Le Corbusier hat Elemente der
archaischen Architektur des Mittelmeerraums und des Nahen
Ostens wieder in die moderne europäische Architektur einge­
führt, und dennoch erscheinen viele seiner Gebäude immer noch
moderner und europäischer als vieles, was heute in Zentraleuropa
gebaut wird.
Das bringt mich zurück zum Thema architektonischer Interven-

*75

J
I

tion in bestehende soziale und natürliche Räume. Ich glaube, daß


Architekten heute nur dann genuine Anwälte der Integrität eines
Territoriums, einer partikularen Lebensform, eines bestimmten
Reservoirs natürlicher und kultureller Ressourcen sein können,
wenn sie zugleich Verfechter universalistischer Werte, kompro­
mißlose Modernisten - im Sinne Lyotards, der sagte, daß nichts in
der modernen Kunst modern war, das nicht zuerst postmodern
war — und radikale Liberale sind. Die Worte »universalistisch«,
»kompromißlos« und »radikal« dürfen nicht als Verweise auf eine
politische Utopie mißverstanden werden, sie sollen vielmehr Kri­
terien einer angemessen realistischen Praxis angeben. Aber zu
einer richtig verstandenen realistischen Praxis gehört auch die Fä­
higkeit, mit offenen Augen zu träumen. Und nicht nur Menschen
träumen; auch Städte und Landschaften und sogar Materialien
träumen, und vielleicht ist es die Aufgabe der Architekten, diese
Träume zu entziffern und sie in artikulierten Raum zu übersetzen.
Wofür ich plädiere, ist der Mut zur Intervention anstelle des blo­
ßen Bewahrens, der Mut, das Projekt der Moderne zu verfolgen
anstelle eines Rückzugs auf bloße Gesten der Verteidigung, der
Konservierung, der Regression. Etwas Wichtiges zu sagen heißt,
etwas Neues zu sagen. Dies ist die Signatur der Moderne über­
haupt - ob es sich um Kunst, Wissenschaft oder Philosophie
handelt. Diese These sollte nicht verwechselt werden mit einer
blinden Affirmation der kapitalistischen Ökonomie, die ja die
beständige Innovation um ihrer eigenen Reproduktion willen
fordert und die, wie wir wissen, genau deswegen die natür­
lichen Überlebensbedingungen der Menschen zunehmend be­
droht. Meine Verteidigung der Innovation ist vielmehr in einem
ästhetischen, epistemologischen und praktischen Sinne gemeint:
In allen diesen Dimensionen ist eine genuine Bewahrung von Tra­
ditionen nur auf dem Wege ihrer produktiven Veränderung mög­

li
lich. Und das heißt zugleich, daß wir gar nicht die Wahl haben
zwischen Fortschritt und Bewahrung. Die einzige Wahl, die wir
haben, ist die zwischen verschiedenen Richtungen des Fort­
schritts, verschiedenen Richtungen der Veränderung. Diese Kon­
i ; stellation schließt romantisch-konservative Hypostasierungen
i dessen, was mit dem Begriff des Territoriums gemeint ist, aus.
Auch Territorien werden von jenem dialektischen Sog erfaßt, der
- um ein Marx-Wort zu variieren - alles »Stehende und Ständi­
sche« in der Moderne in Bewegung versetzt. »Heimat ist das

276
1
Entronnensein«, hat Adorno einmal gesagt; und das besagt zu­
gleich, daß Bewahrung nur als rettende Veränderung möglich ist.
Nur in diesem Sinne kann die Integrität von Territorien bewahrt
werden; genau in diesem Sinne aber sollten auch die besten Tradi­
tionen der modernen Architektur bewahrt werden. Gerade wenn
es stimmt, daß die ästhetischen, praktischen und politischen
Aspekte der Architektur unlösbar miteinander verknüpft sind,
dann, so glaube ich, verdient insbesondere etwas von der ästhe­
tischen Radikalität und Kühnheit und sogar einiges von den
utopischen Energien der modernen Architektur gerettet zu wer­
den, auch wenn wir inzwischen wissen, daß die Technologie uns
nicht retten kann und daß die menschliche Welt nie ein architek­
tonisches Gesamtkunstwerk sein wird.

Übersetzt von Ruth Sonderegger

i i

277
12. Terrorismus und Gesellschaftskritik
(i979)

Vorbemerkung

Von konservativen Politikern, Sozialwissenschaftlern und Jouma-


' listen wird heute der Vorwurf erhoben, »linke« (»kritische«,
I »marxistische«) Gesellschaftstheorien hätten dem Terrorismus
1 den Boden bereitet. Für die Vertreter solcher Theorien wird es
schwer, wenn nicht unmöglich, auf solche Anschuldigungen noch
sinnvoll zu reagieren, wenn sie sich vorschnell auf das Terrain des
Gegners begeben und sich in die ihnen zugedachte, defensive
Rolle von Angeklagten drängen lassen. Dann wird einem etwa
vorgehalten, daß bestimmte Sätze, Gedankenfiguren oder Argu­
mente, die von Marx, Adorno oder Marcuse stammen, in den
Verlautbarungen der RAF sich - wenigstens sinngemäß - wieder­
finden lassen; dem solchermaßen Angeklagten, der es darauf
anlegt, seine Unschuld zu beweisen, bleibt dann nichts anderes
übrig, als zu zeigen, daß die entsprechenden Sätze, Theoreme
oder Argumente von den Autoren nicht so gemeint waren, wie sie
von den Terroristen - möglicherweise - rezipiert worden sind.
U Z Läßt man sich aber einmal in diese Rolle drängen, so hat man sich
damit bereits auf den Boden des neuerdings um sich greifenden
Gesinnungsstrafrechts gestellt, auf dem die Angeklagten immer
die Verlierer sind, ganz gleich, ob es ihnen nun gelingt, ihre Un­
schuld zu beweisen oder nicht: sie haben sich nämlich darauf
eingelassen, einen Harmlosigkeitsbeweis für ihre Gedanken zu
1 führen, und hierin allein steckt schon ein Stück Selbstverpflich-
? tung, in Zukunft nur noch harmlose Gedanken zu haben. Wer sich
auf dieses Spiel einläßt, hat sich bereits ein Stück weit in jenen
Mechanismus einer wechselseitigen Aufschaukelung von terrori­
stischer Gewalt und staatlicher Repression hineinziehen lassen,
der tendenziell nur noch zwei, gleichermaßen schlechte, Optio­
nen offenläßt: nämlich die einer begriffslosen Empörung bzw.
einer wohlfeilen Distanzierung auf der einen Seite, die einer ver­
nunftlosen - wenn auch vielleicht nicht politischen, so doch
emotionalen - Solidarisierung mit den Terroristen auf der ande­
ren. Auf der Strecke bleibt dabei das kritische Denken; wenn

I 278
dieses heute für die Simplifizierungen, Regressionen und Wahn­
bildungen des terroristischen Bewußtseins verantwortlich ge­
macht wird, so deshalb, weil der »Staat«, der bei uns heute gegen |
den Terrorismus verteidigt wird, allzu häufig nicht mehr der libe-;
rale Rechtsstaat ist, sondern ein Status quo, dessen Verteidiger'
offenbar Grund haben, sich vor kritischen Gedanken zu fürchten.
Mit dem Versuch, Gesellschaftskritik in die Nähe des Terrorismus
i ■
zu rücken, sind im übrigen, wie so oft in der deutschen Ge­
schichte, die gesellschaftlichen Zustände wieder einmal freige­
sprochen, während alles Schlimme den Kritikern dieser Zustände
angekreidet werden kann.
Ich möchte im folgenden dem Thema »Terrorismus und Gesell­
schaftskritik« eine andere Wendung geben, als es der Optik derje­
nigen entspricht, für die die Formulierung des Themas bereits eine
Anklage enthält. Ich gehe davon aus, daß der Vorwurf an die
Adresse der kritischen Theorie aufs engste zusammenhängt mit
dem inzwischen auf die gesamte Linke gemünzten Verdacht der
»Sympathie« mit dem Terrorismus. Das zu verhandelnde Thema
ist also zugleich »Der Terrorismus und die Linke«. Da die Terro­
risten sich als »links«, als »sozialistisch« verstehen, gibt es Gründe
genug, dieses Thema nicht den Rechten zu überlassen. Allerdings
ist es keineswegs einfach, sich bei der Diskussion dieses Themas
der objektiven Gewalt des Freund-Feind-Denkcns zu entziehen,
welches das Verhältnis zwischen dem »Staat« und den »Terrori­
sten« in den letzten Jahren zunehmend beherrscht. Je mehr die
gesamte Linke zum Opfer dieses Freund-Fcind-Dcnkens wird,
desto mehr hinterläßt dasselbe seine Spuren auch in den Diskus­
sionen und Selbstverständigungsversuchen der Linken. Wer zum
Feind des Staates und zum Freund der Terroristen stilisiert wird,
der mag am Ende keine andere Wahl mehr sehen als die zwischen
billiger Distanzierung vom Terrorismus und emotionaler Solidari­
sierung mit denen, die inzwischen zum Opfer ihrer eigenen Ge­
waltstrategie geworden sind. Ich finde es demgegenüber wichtig,
daß die Linke jenseits von falschen Distanzierungen und falschen
Solidarisierungen — zwei Reaktionsweisen, die einander wechsel­
seitig herausfordern - ihr Verhältnis zum Terrorismus in einer ra­
tionalen, ihr nicht von außen aufgezwungenen Weise bestimmt.
Ich möchte im folgenden zunächst einige kritische Überlegungen
zum sozialistischen Selbstverständnis der RAF und anderer
»Stadtguerilla«-Gruppen anstellen; ich möchte ferner auf das für

279 !?
die Linke fatale Zusammenspiel von Terrorismus und politischer
Reaktion Hinweisen; schließlich möchte ich, nicht zur Verteidi­
ii gung der kritischen Theorie, wohl aber aus ihrer Perspektive,
einige Überlegungen zu den gesellschaftlichen Hintergründen des
Terrorismus und zu den Voraussetzungen seiner propagandi­
stisch-politischen Ausschlachtung durch die politische Rechte
vortragen.

' Ich werde zunächst für eine These argumentieren, deren Mangel
an Originalität nichts an ihrer Wahrheit ändert. Die These lautet:
Es gibt keinen Grund, den Terrorismus der RAF und der ihr ver­
I wandten »Stadtguerilla«-Gruppen als eine radikalisierte Spielart
linker bzw. sozialistischer Politik anzusehen. Die Linke hat daher
allen Anlaß, zwischen sich und den Terroristen einen klaren poli­
tischen Trennungsstrich zu ziehen; dies gilt um so mehr, als die
Folgen terroristischer Strategien für die Linke heute vor allem in
einer Gefährdung ihrer eigenen Existenz- und Handlungsmög­
lichkeiten bestehen.
Vorweg möchte ich erläutern, in welchem Sinne hier von einem
klaren Trennungsstrich zwischen der Linken und den Terroristen
die Rede sein soll. Es gibt innerhalb der Linken heute Formen der
Distanzierung vom Terrorismus, in denen ein Stück Verdrängung
steckt: nämlich eine Verdrängung der Tatsache, daß, historisch­
l genealogisch betrachtet, der Terrorismus der RAF und anderer
i Gruppen natürlich sehr wohl einmal als eine - radikalisierte -
Spielart linker Politik intendiert war. Damit meine ich nicht nur,
daß es biographische Verbindungslinien von der Neuen Linken
der sechziger Jahre zu den terroristischen Gruppen gibt; ich
meine auch, daß etwa eine Frau wie Ulrike Meinhof von ihren
I Motiven, ihrer Biographie und ihrem Selbstverständnis her^/s So­
zialistin der RAF sich angeschlossen hat. Ich meine, daß wir es
uns nicht leisten können, diese Tatsachen zu verdrängen, wenn
wir zum Terrorismus ein theoretisch, politisch und moralisch an­
gemessenes Verhältnis gewinnen wollen. Genau auf dieser Ebene
hat auch die Forderung nach Solidarität noch einen Sinn: ich

meine nicht die falsche politische Solidarität mit Gruppen, deren
Aktionen längst objektiv reaktionär geworden sind, sondern die

z8o

i
h
Solidarität mit Menschen, mit denen wir ein Stück gemeinsamer
Geschichte - d. h. Erfahrungen, Intentionen und Verzweiflungen
i
- einmal geteilt haben.
Ich möchte jetzt die These erläutern, daß der individuelle Terro­
rismus der RAF und anderer »Stadtguerilla«-Gruppcn nicht als i
radikale Spielart linker Politik verstanden werden kann, daß er;
vielmehr objektiv der gesellschaftlichen Reaktion in die Hände ■
arbeitet. Und zwar möchte ich, vor allem am Beispiel der RAF, i
r.auf einige Grundirrtümer und wahnhafte Verzerrungen der
Wirklichkeit hinweisen, die dem Terrorismus als einer Verzweif­
lungsform sozialistischer Praxis oder doch einer sozialistisch ge­
meinten Praxis von allem Anfang an zugrunde lagen; und ich
möchte 2. auf einige Mechanismen hinweisen, die dazu beigetra­
gen haben, daß eine einmal sozialistisch gemeinte Form der
illegalen Praxis objektiv in die Nähe einer Gewaltkriminalität von
rechts gerückt ist.
Ad i: Der erste Irrtum oder besser: die erste Illusion, betrifft die
Übertragung von Modellen, die an Befreiungsbewegungen der
Dritten Welt gewonnen waren, auf Verhältnisse hochindustriali­
sierter, parlamentarisch-demokratisch organisierter Gesellschaf­
ten.1 Ich möchte in diesem Zusammenhang von einem Mao-
Fanon-Che-Gucvara-Syndrom sprechen. Nachdem erst einmal
»der Imperialismus« als die eiserne Klammer erkannt worden
war, die alle Formen der Unterdrückung und Entfremdung und
alle Emanzipationsbewegungen auf der Welt zusammenhält,
konnten die Mitglieder der RAF die Emanzipationsprobleme der
Ersten Welt in Kategorien von Befreiungsbewegungen der Dritten
Welt deuten. Aus der richtigen Einsicht, daß gesellschaftliche Ver­
änderungen nur dort bewirkt werden, wo Individuen den Ent­
schluß zu verändernder Praxis fassen, wurde die Illusion, daß
»einige Dutzend Kämpfer, die wirklich beginnen und nicht nur
endlos diskutieren, [...] die politische Szene grundlegend verän­
dern« können, und zwar in dem Sinne, daß durch den bewaffne­
ten Kampf einiger weniger die »Zustimmung der Massen« zum
bewaffneten Kampf bewirkt werden und damit die Emanzipation
der Massen in Gang gesetzt werden könne.2 Nur die gewaltsame
1 Vgl. Rote Armee Fraktion, »Das Konzept Stadtguerilla«, in: texte: der
RAF, Lund 1977, S. 337ff., insbes. S. 3$ 5 ff.
2 Vgl. Kollektiv RAF, Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa, Wa­
genbach-Rotbuch, S. 43.

28 I
Verdrängung alles dessen, was man aus einer auf Marx sich beru­
■I
fenden kritischen Gesellschaftstheorie über die Möglichkeiten
einer Veränderung spätkapitalistischer Gesellschaften lernen
kann, läßt einen solchen gewaltsamen Kurzschluß von der Dritten
1. I auf die Erste Welt begreiflich erscheinen. Und in der Tat möchte
man bezweifeln, daß die Terroristen jemals ernsthaft an diese Per­
spektive ihres illegalen Kampfes geglaubt haben können; ich neige
dazu, sie für die pseudopolitische Rationalisierung einer Ver­

11 zweiflung zu halten, einer Verzweiflung an der Möglichkeit poli­


tischer Veränderungen, die sich in der Überzeugung niederschlug,
daß »bewaffneter Kampf aus der Illegalität die einzige Möglich­
keit im Imperialismus zu praktisch-kritischer Tätigkeit« sei?
Nun hat ja der Kampf der Terroristen, und damit komme ich zu
ihrer zweiten Illusion, zu einigen »grundlegenden Veränderungen
der politischen Szene« geführt, wenn auch nicht in dem Sinne, in
dem dies von den RAF-Mitgliedern wohl ursprünglich antizipiert
worden war. Aber auch angesichts dieser Enttäuschung fiel es ih­
nen nicht schwer, für ihre Entschlossenheit zur Fortführung des
bewaffneten Kampfes eine theoretische Rationalisierung zu fin­
den. Sie behaupteten nämlich jetzt, das kapitalistische System
müsse dazu gebracht werden, seinen latenten Faschismus offen zu
deklarieren; wenn erst einmal die politische Repression einen ge­
nügenden Grad von Offenheit und Intensität erreicht hätte, dann
würden die Massen ihre wahren Feinde erkennen und auf die Seite
der bewaffneten Revolutionäre übergehen. Entsprechend be­
i zeichnen sie als ein Ziel ihres Kampfes, »den Staat zum offenen
Auftreten zu zwingen, zu einer Reaktion, in der die Struktur der
Repression, des Repressionsapparats sichtbar wird, faßbar und
sich so als Kampfbedingung revolutionärer Initiative vermittelt«?
Es hätte nicht erst der Erfahrungen der letzten Jahre bedurft, um
das Illusionäre auch dieser Idee zu erkennen; ein Blick auf die
Geschichte des faschistischen Deutschland hätte genügt.
Aber auch was diese zweite Illusion betrifft, hatten die Terroristen

I
I i
5!
sich gegen Enttäuschungen abgesichert. Diese Absicherung warin
ihrem Verständnis von »proletarischem Internationalismus« be­
gründet. Sie verstanden ihren Kampf ja als Teil eines internationa-

3 Vgl. »Erklärung zur Sache« (Januar 1976), in: Der Tod Ulrike Meinhofs.
-.1 Dokumentation, Hg. Schwarze Hilfe, S. 121.
4 texte: der RAF, a.a.O., S. 260.

282
len Befreiungskrieges gegen den Imperialismus und die multina­
tionale Organisation des Kapitals. Damit hatten sie aber ihren
Rückhalt in einer Massenbewegung bereits gewonnen, nämlich im
antiimperialistischen Kampf der Völker der Dritten Welt. Unter
diesem Gesichtspunkt erscheint die Verschärfung der Widerspru­
che und der Repression in den Metropolen als eine ohnehin
h
zwangsläufige »Rückwirkung der Befreiungskriege der Völker der
dritten Welt auf die Metropolcngescllschaft«.5 Die Funktion der
Metropolcnguerilla wird noch einmal umdefiniert: diese erscheint
als leninistischer Kader, der dem Volk für die in Zukunft unver­
meidlich werdenden Klassenauseinandersetzungen »eine poli­
tisch-militärische Avantgarde, einen politisch-militärischen
Kern« bcreitstellen wird, um die Bedingungen revolutionärer
Handlungsfähigkeit zu gewährleisten.6 Unter dieser Perspektive
erscheinen die zunächst als eigentliche Adressaten der revolutio­
nären Initiative anvisierten Massen der kapitalistischen Metropo­
len nur noch langfristig als potentielle Subjekte des revolutionären
Kampfes. Jetzt geht es nämlich nicht mehr - jedenfalls nicht mehr
direkt - darum, Emanzipationsprozesse in den Metropolen in
Gang zu setzen, sondern nur noch darum, im Herzen des Feindes
am Befreiungskampf der Dritten Welt gegen den Imperialismus
teilzunehmen: Zerschlagung der Metropole wird zum Ziel des
bewaffneten Kampfes, und die Massen der Metropole erscheinen
nur noch als Objekte dieses Kampfes. Unter diesen Umständen
konnte aber auch eine längerfristige Isolierung der Terroristen
vom Volk, von den zu befreienden Massen, konnte auch eine Ver­
schärfung der Repression ohne die Folge der Entstehung einer
revolutionären Massenbasis für die RAF und die ihr nahestehen­
den Gruppen letztlich keine negative Beweiskraft mehr haben.
Ich meine, daß die Interpretationen, Rechtfertigungen und die
strategischen Kalküle der RAF insgesamt Züge eines Wahnsystems
aufweisen, und zwar deshalb, weil realitätsgerechte und realitäts­
ferne Elemente sich bei den Mitgliedern der Gruppe am Ende so
zu einem enttäuschungsfesten System von Ideen zusammenge­
schlossen hatten, daß genuine und selbstkritische Erfahrungspro­
zesse für sie wohl kaum noch möglich waren. Dies ist, wie ich
glaube, einer der Umstände — neben anderen, die die RAF nicht zu

5 A.a.O., S.252.
6 A.a.O., S. 253.

283 . i
verantworten hat —, die es so schwer machen, die Wahrheit hcraus-
zufinden über das, was in Stammheim (und in anderen Gefängnis­
sen) wirklich geschehen ist. Natürlich ist zu vermuten, daß gerade
die jahrelange Isolation der zum Umkreis der RAF gehörenden
Gruppen - sowohl unter den Bedingungen des illegalen Kampfes
als auch später in den Gefängnissen - erheblich dazu beigetragen
hat, daß sie sich gegen eine Korrektur durch Erfahrung immuni­
sierten. »Theorie und Praxis werden eine Einheit nur im
Kampf«,7 so steht es in einem schon mehrfach zitierten Spiegel-
K i Interview mit dem RAF-Kollektiv aus der Zeit des dritten Hun­
gerstreiks der RAF-Häftlinge; in dem Kontext, in dem diese
Äußerung steht, wirkt sie, als käme sie aus einer fernen Phantasie-
Welt, sie wirkt wie eine aus dem Zusammenhang gerissene Wahr­
heit, die einem deshalb fast die Sprache verschlägt.
Im selben Interview steht auch der folgende Satz: » Wts für Lenin
die bolschewistische Kaderpartei war, ist unter den Bedingungen
der multinationalen Organisation des Kapitals, der transnationa­
len Struktur der imperialistischen Repression nach innen und
außen heute die Organisation proletarischer Gegenmacht, die aus
der Guerilla entsteht.«3 Ich zitiere diesen Satz, um noch einmal
das Irreale am leninistischen, geschweige denn am marxistischen
Selbstverständnis der RAF zu verdeutlichen. Was an der Lenin­
schen Parteikonzeption marxistischen Theorieansätzen wider­
spricht, läßt sich durch Hinweis auf die Verhältnisse in einem
autokratisch regierten und rückständigen Land, wie es Rußland
vor dem Ersten Weltkrieg war, zumindest verständlich machen.
Immerhin stand diese Konzeption im Zusammenhang mit derA/>-
i lösung terroristischer Strömungen durch das Aufkommen einer
marxistisch orientierten, aber zur Illegalität weithin verurteilten
Arbeiterbewegung. Wie problematisch die Leninsche Konzeption
gleichwohl war - auch wenn sie unter rein machtpolitischen Ge­
sichtspunkten erfolgreich war -, das hat m. E. die stalinistische
i Entwicklung der Sowjetunion deutlich gezeigt. Die RAF hat aber
nicht nur, wie andere leninistische Parteisekten auch, diese Kon­
zeption auf demokratisch regierte westliche Industriegesellschaf­
ten übertragen - worin allein schon ein gehöriges Stück Verzer­
■ 1
rung der Realität steckt sie hat vielmehr diese Konzeption in
i
7 A.a.O., S. 247.
8 A.a.O., S. 253 f.

284
1
einer geradezu wahnwitzigen Weise, sozusagen nach rückwärts,
zu Ende gedacht: die westlichen Metropolen erscheinen am Ende
als das St. Petersburg eines weltweiten Unterdrückungssystems, in
dem allein noch der bewaffnete Kampf entschlossener Gucrille-
ros, die sich an die Spitze der geknechteten Massen setzen, der
Tyrannei eines allgegenwärtigen und zugleich zum Super-Zaren
personifizierten Kapitals ein Ende bereiten kann. Nur eine ge­
waltsame Vermengung von Bildern und Modellen in der Phantasie
der Terroristen kann am Ende ihre Überzeugung begreiflich ma­
chen, daß eine mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes herbei­
geführte Zerrüttung der Metropolen notwendigerweise zu einer
besseren, einer befreiten, einer sozialistischen Gesellschaft führen
müsse.
I
Nun handelt es sich bei dem ursprünglichen Kern der RAF ja um
eine außergewöhnliche Gruppe von Frauen und Männern, deren
selbstgcwähltes Schicksal - ich spreche nicht von ihrem Ende,
über das ich nur mutmaßen kann - bei vielen, die nie in Versu­
chung standen, ihre Aktionen zu billigen, Entsetzen und Trauer
ausgelöst hat. Aufgrund ihrer Lebensgeschichte, ihres Reflexions­
niveaus und ihrer Verbindung mit der Studentenbewegung der
sechziger Jahre nehmen sie innerhalb des terroristischen Unter­
grunds noch einmal eine eigentümliche Sonderstellung ein. Das
gilt auch deshalb, weil sie - obschon für Kritik von selten der
Linken längst nicht mehr erreichbar - sowohl die Intelligenz als
auch den Willen noch hatten, sich öffentlich zu erklären, und weil
ihre Aktionen wenigstens zum Teil politischen Interpretationen
noch zugänglich waren. Für die nachfolgenden Generationen von
Terroristen gilt, wie mir scheint, nicht einmal dies mehr in irgend­
einem vergleichbaren Maße. Man gewinnt vielmehr den Eindruck,
daß sich der terroristische Untergrund in einer geradezu rasanten
Talfahrt noch einmal von dem politischen Reflexionsniveau der
RAF-Gründer entfernt hat und daß seine Aktionen mehr und
mehr »sub-politischen« Charakter angenommen haben. Dem ent­
spricht eine zunehmende Desensibilisierung gegenüber den Op­
fern der Gewalt, eine zunehmende Ausweitung der Kategorie
jener, die als Opfer des Terrors in Kauf genommen werden, eine
zunehmende Einengung der politischen Praxis auf militärisch­ ■ i
strategisches Handeln, eine zunehmende Einengung der politi­
schen Perspektiven auf sekundäre Ziele wie Gefangenenbefreiung
und schließlich wohl auch die Verselbständigung des bewaffneten

285
Kampfes zu einer Lebensform, die zum Selbstzweck geworden
ist, weil sie dem Guerillcro die einzige Möglichkeit bietet, seine
auf eine Haßbeziehung zum System zusammengeschrumpfte
Gruppenidentität zu wahren und auszuagieren - ganz abgesehen
davon, daß die Fortführung des bewaffneten Kampfes zur einzi­
gen Chance eines Überlebens in Freiheit wird, zur einzigen
Chance also, dem Martyrium einer lebenslangen Freiheitsstrafe
zu entgehen. Dies alles gilt in gewissem Sinne auch schon für den
alten Kern der RAF; aber es scheint eine »Logik« der Verstärkung
solcher Tendenzen zu geben. Zur Logik eines zunehmenden Rea-
litäts- und Erfahrungsverlustes tritt die Logik einer zunehmenden
»Partikularisierung« und Entpolitisierung der handlungsorientie­
renden Realitätsdeutungen hinzu. Hierdurch ist bereits einer je­
ner Mechanismen bezeichnet, die einer unter sozialistischen
Vorzeichen begonnenen Form des illegalen Kampfes am Ende
Züge einer Gewaltkriminalität von rechts verliehen haben. Damit
komme ich zum zweiten Schritt meiner Überlegungen.
i ■1 Ad 2: Ich möchte auf zwei miteinander zusammenhängende Me-
!. chanismen hinweisen, die dafür verantwortlich zu sein scheinen,
'! daß aus einer revolutionär gemeinten Form des illegalen Kampfes
I ein Zusammenspiel von Terrorismus und Reaktion geworden ist.
Der erste Mechanismus betrifft die psychisch-soziale Situation
der Terroristen, der zweite die politisch-gesellschaftlichen Folgen
des Terrorismus. Den ersten Mechanismus haben z. B. Michael
»Bommi« Baumann (in seinem Erfahrungsbericht Wie alles an­
fing') und Horst Mahler (in einem Fernsehinterview) - wie ich
meine: glaubhaft - beschrieben. Baumann und Mahler schildern
/übereinstimmend, wie unter Bedingungen der Illegalität, der kon-
1 ( spirativen Mimikry und eines wachsenden Drucks der Außenwelt
(die Erfahrungs- und Kommunikationsgewinne der antiautoritä-
Iten Phase der Studentenbewegung wieder verlorcngingen. Die
Isolation der Gruppe von der Außenwelt führt dazu, daß sie von
den Erfahrungen, Bedürfnissen und Lernprozessen derer abge­
! i schnitten ist, für die stellvertretend zu handeln sie sich entschlos­
sen hat. Der wachsende Druck der Außenwelt und die Überle­
bensprobleme der Gruppe haben zur Folge, daß ihre Beziehungen
zur Außenwelt immer mehr auf strategische Primitivformen redu­
ziert werden; Menschen erscheinen nur noch als strategisch je­
weils verschieden bewertete Charaktermasken (Bullen, Sympathi­
santen, Verräter usw.). Und schließlich hat der zunehmende

286

!
Druck der Außenwelt Rückwirkungen auch auf die interne Grup­
penstruktur. Der Erfahrungs- und Realitätsvcrlust nach außen
reproduziert sich als Erfahrungs- und Kommunikationsverlust i
nach innen. Das heißt aber, daß allein schon die Lebcnsbedingun- j
gen der terroristischen Gruppen sie zu einer Angleichung gerade
an die inhumansten Züge der von ihnen bekämpften Apparate
zwingen. Nachdem sie den nackten Schrecken, den das von ihnen
bekämpfte System an seinen Rändern verbreitet (Vietnam), zur
einzigen Realität des Systems erklärt haben, machen sie durch die
Form ihres Kampfes an sich selbst wahr, was sie für das System
behauptet hatten, nämlich die Reduktion aller Lebensprozesse auf
die Verbreitung von Schrecken. »Bommi« Baumann hat diesen
Mechanismus besonders drastisch geschildert:
»Obwohl es die ganze Zeit darum ging, daß du von Siemens wegkommst,
auf einmal bist du genau wieder da. Du stehst mit kurzen Haaren, mit
Anzug, mit allem wieder da, wo du hergekommen bist, und die Leute
drumherum reagieren [...] auch genauso, sie sind abgebrüht wie gehabt.
Da hast du dich abgestrampelt all die Jahre und hast alles gemacht und auf
einmal bist du genau da wieder angekommen [...]. Daran sind die Leute
kaputt gegangen, an den psychischen Schwierigkeiten innerhalb der
Gruppe am Schluß. Die überall auftauchen, die du aber, wenn du ein
größeres Spektrum nach außen hast, leichter abbauen kannst. Oder Lern­
prozesse, wo auch mal Fremde dabei sind, mit denen du dann diskutieren
kannst, so ist es ja bei allen Kommunen gewesen. [...] Du bildest einfach
nur noch solche Raubtierinstinkte aus, du läufst nachher nur noch wie ein
Revolvermann. Jedes geschärfte Auge könnte dich im Grunde genommen
erkennen. Irrsinn, was du machst, immer mit ’ner Knarre rumzulaufen.
Ein Mann, der mit der Knarre rumläuft, der verlagert seinen Mittelpunkt
zur Waffe hin, da wo du sie trägst, da ist dein Mittelpunkt. [...] Zu ande­
ren Leuten hast du ja nur noch einen Sachkontakt, wenn du jemanden
triffst, sagst du ja nur noch, Alter hör mal zu, du mußt mir jetzt die und j
die Sache besorgen, da und da ’ne Wohnung mieten und in drei Tagen
treffen wir uns hier an der Ecke. Wenn er irgendeine Kritik an dir hat, sagst V
du, das interessiert mich alles gar nicht. Entweder du machst mit oder läßt i i-l
es bleiben, klipp und klar. Du wirst wie der Apparat, den du bekämpfst,
zum Schluß hat er dich eingeholt.«9
Der zweite Mechanismus, auf den ich hinweisen möchte, betrifft
, i
die politischen und sozialen Folgen des Terrorismus. Da die Ter­
roristen sich bewußt von den Bedürfnissen, Erfahrungen und

9 >Bommi< Baumann, Wie alles anfing, Frankfurt/Main (Gemeinschafts­


ausgabe) 1967, S. 115-128. i
287
Lernprozessen ihrer gesellschaftlichen Umgebung abgekoppelt
Qiaben, da in ihrer Strategie bereits ein Stück Verachtung für die
ii . angeblich von ihnen zu befreienden Massen steckt, ist es kein
i Wunder, daß ihre Aktionen bei der überwiegenden Mehrheit der
.'i i Bevölkerung auf Unverständnis bis Abscheu gestoßen sind. An­
gesichts der Schwäche republikanischer Traditionen in unserem
Lande war es unter diesen Umständen ein leichtes, eine als »links«
und »gesellschaftskritisch« sich verstehende Form der Gewaltkri­
minalität zum Vorwand einer Kriminalisierung linker und gcsell-
schaftskritischer Positionen zu benutzen. Der Terrorismus lieferte
so die Legitimation für eine gegen die gesamte Linke gerichtete
politische Repression, eine politische Repression, die nachgerade
I die Substanz des liberalen Rechtsstaates bedroht, in dem wir seit
dem Ende des Zweiten Weltkrieges gelebt haben. Die Erhaltung
der demokratischen Republik ist aber die erste Existenzbedin­
gung für eine sozialistische Linke, die mehr und Besseres will als
die in den gegenwärtigen kapitalistischen Systemen möglichen
Formen von Demokratie und Öffentlichkeit. Weil die Terroristen
politisch nichts anderes bewirken, als daß sie öffentlichkeitswirk­
same Legitimationen liefern für den Abbau demokratischer
Grundrechte, weil sie Legitimationen liefern für eine Diffamie­
rung der gesamten Linken und ihrer Theorien und weil sie die
Solidarität mit der demokratischen Linken selbst längst aufgekün­
digt haben, deshalb kann man, wenn man denn politische Katego­
rien noch anlcgen will, den objektiven Sinn ihrer Aktionen nur
reaktionär nennen. Oskar Negt hat deshalb recht, wenn er von
einer gegen die demokratische Republik im allgemeinen und ge­
gen die sozialistische Linke im besonderen gerichtete »Zangenbe­
wegung« von Terrorismus und Reaktion spricht.

I Es könnte scheinen, als hätte ich bisher eine wesentliche, vielleicht


die wesentlichste Dimension der Terrorismus-Problematik ausge­
klammert: die moralische Dimension. Indes scheint es nur so. Ich
-• habe nämlich bisher unterstellt, daß es a priori Gründe gegen die
Ausübung physischer Gewalt gegen Menschen gibt, insbesondere
aber a priori Gründe gegen die Tötung menschlichen Lebens;
Gründe, deren Anerkennung für jeden Sozialisten selbstverständ­

I
lich sein sollte. Physische Gewalt, je schwerer und unwiderruf­
licher sie ist, bedarf daher in jedem Falle einer besonderen
Legitimation, die solche Gegengründe für bestimmte Fälle außer
| Kraft setzt. Daß es Situationen gibt, in denen Gegengewalt bis hin

288
i
zur Tötung von Menschen moralisch gerechtfertigt werden kann,
wird andererseits auch von Liberalen in der Regel nicht bestritten;
Beispiele wären Situationen, in denen Gewalt das einzig mögliche
I
Mittel ist, um erfolgreich Widerstand zu leisten gegen eine un­
erträgliche Unterdrückung oder eine unerträgliche moralische
Korrumpierung. Es mag sogar in gewissen Situationen eine mora­
lische Verpflichtung zum physischen Widerstand oder zur physi­
schen Gewaltanwendung geben. Wer sich aber für die Gewalt f
entscheidet, nimmt eine schwere Bcweislast auf sich. Wenn gezeigt |
werden kann, daß die Rechtfertigung der Gewalt einem Wahn­
system entstammt, d. h. aus Verblendung und Selbsttäuschung
kommt, dann folgt hieraus nicht nur eine moralische Verurteilung
der gewalttätigen Aktionen, cs folgt vielmehr auch ein Urteil über
die »moralische Pathologie« der Gewalttäter - selbst wo deren
Handeln, wie bei einem Teil der Terroristen, die moralische Form
der Selbstlosigkeit annimmt.
Dem möchte ich allerdings hinzufügen, daß ich aus guten Grün­
den nur an dieser einzigen Stelle die moralischen Implikationen
meiner bisherigen Überlegungen explizit gemacht habe. Direkte
moralische Verurteilungen des Terrorismus weisen nämlich in der
Regel nicht weniger Züge von Rationalisierung und interessierter
Selbsttäuschung auf als die Rechtfertigungen der Gewalt durch
die Terroristen. Die Sprache der Moral ist auch ein Herrschafts­
mittel. Die moralische Kritik am Terrorismus wird zur puren
Heuchelei, wo sie einhergeht mit der stillschweigenden Duldung,
der Beschönigung oder der offenen Rechtfertigung von Formen
staatlich organisierten Terrors oder technologisch programmierter
Mißachtung des menschlichen Lebens. Die Mißachtung mora­
lischer Normen durch die Terroristen ist aber nur ein Reflex der
ideologischen Funktionen, die diese Normen in der Gesellschaft
erfüllen. Wäre es möglich, die moralischen Energien, die heute
gegen den Terrorismus sich entladen, auf das Ziel einer Humani­
sierung der Gesellschaft umzulenken und sie dadurch zugleich
von ihrem repressiven und ideologischen Charakter zu befreien,
so würde das Problem des Terrorismus sich von selbst erledigen.
Die Grundillusion der Terroristen ist, daß eine solche »Umlen­
kung« moralischer Energien und die damit notwendig verbun­
dene Veränderung von Erfahrungsweisen, Bedürfnisinterpretatio­
nen und Einstellungen eine Folge ihres bewaffneten Kampfes sein
könnte.

289
II.

1 Nachdem ich den Terrorismus der Siebzigerjahre in der Bundes­


republik als eine pathologisch gewordene Form des politischen
Kampfes charakterisiert habe, möchte ich einige Überlegungen zu
der Frage anstellen, in welchen Richtungen wir sinnvollerweisc
nach Erklärungen für diese Pathologie des politisch-moralischen
Bewußtseins suchen können. Dabei möchte ich voranschicken,
daß es mir nicht darum geht, den heute vielerorts angebotenen -
und häufig nur zum politischen Hausgebrauch zurechtgemachten
— Erklärungsversuchen einen neuen in dem Sinne hinzuzufügen,
daß ich etwa anstelle des angeblichen Kausalfaktors »Kritische
Theorie« andere Kausalfaktoren benennen würde. Ein solcher Er­
klärungsversuch würde gründliche empirische Untersuchungen
voraussetzen. Er würde insbesondere die Rekonstruktion der of­
fenbar ganz verschiedenartigen Biographien einzelner Terroristen
voraussetzen. Ich meine aber, daß empirische Untersuchungen
dieser Art nur dann zu einem wirklichen Verständnis des Terroris­
mus beitragen könnten, wenn sie mit einer angemessenen Inter­
pretation derjenigen von der Gesellschaft erzeugten Probleme,
Widersprüche und Pathologien verbunden wären, die gleichsam
die gesellschaftliche Matrix darstellen, innerhalb derer der Terro­
rismus überhaupt erst als eine unter mehreren möglichen Reak­
tionsformen sich herausbilden konnte. Genauer gesagt, es er­
scheint mir hoffnungslos, den Terrorismus verstehen zu wollen,
wenn man ihn nicht (a) als Ausdruck begreift von Legitimations­
problemen und Systempathologien unserer Gesellschaft; wenn
man in ihm nicht (b) die irrationalistischen, existentialistischen
und aktionistischen Elemente verständlich macht, die er zum Teil
mit anderen Verweigerungsstrategien gemeinsam hat, so wie sie
sich überall in spätkapitalistischen Systemen im Vorfeld der Poli­
tik konstituiert haben; und wenn man nicht (c) verständlich
; .i macht, wie sich die Pathologien des Systems noch in der Art und
' i Weise reproduzieren, in der die Erfahrung dieser Pathologien von
den Terroristen verarbeitet wird.
*: Hiermit habe ich bereits angedeutet, weshalb ich der Meinung
bin, daß sich aussichtsreiche Erklärungsstrategien am ehesten aus
theoretischen Ansätzen gewinnen lassen, die aus dem Umkreis
der marxistischen bzw. kritischen Sozialwissenschaft stammen.
Solche theoretischen Ansätze haben die Eigentümlichkeit, daß sie

29O
sich aus ihrer Verschränkung mit praktisch-politischen wie auch
mit philosophischen Diskursen nicht hcrauslösen lassen, da sie
gleichsam systematisierte Versuche einer Selbstverständigung
handelnder Individuen über ihre gesellschaftliche Situation dar­
stellen. Sic führen nicht zu einem »wertneutralen«, technisch
verwertbaren prognostischen Wissen, sondern - bestenfalls - zur
Aufklärung und Selbstaufklärung handelnder Individuen über die
Bedeutung und die Möglichkeiten ihrer gesellschaftlichen Praxis.
Mit den folgenden, sehr vorläufigen Überlegungen möchte ich
andcuten, wo ich das theoretische »Potential« der Kritischen
Theorie sehe, das uns zu einem besseren Verständnis - und damit
auch zu einer gründlicheren Beurteilung - des gegenwärtigen Ter­
rorismus verhelfen könnte.
Zunächst zu den Legitimationsproblemen und Systempatholo­
gien unserer Gesellschaft: In Anknüpfung an Marx, Weber und
Lukacs haben bereits Adorno und Horkheimer die Entwicklung
kapitalistischer Gesellschaften als einen von praktischer Rationa­
lität abgekoppelten Prozeß technischer und bürokratischer »Ra­
tionalisierung« analysiert, in welchem der zunehmenden Zerstö­
rung der äußeren Natur eine zunehmende technische und
manipulative Kontrolle der inneren Natur der Individuen sowie
eine zunehmende bürokratische Administration sozialer Bezie­
hungen entspricht. Dieser Verselbständigung instrumenteller Ra­
tionalität korrespondiert ein Fortdauern von Gewaltverhältnissen
auch noch dort, wo die Gewalt nicht in der Form des Terrors - sei
es im Faschismus oder an den »Rändern« demokratisch organi­
sierter Industriegesellschaften (Vietnam) — unverhüllt in Erschei­
nung tritt. Analysiert man moderne Industriegesellschaften unter
diesem Gesichtspunkt einer in den technisch-bürokratischen Ra-
tionalisicrungsprozessen und unter der Decke demokratisch­
rechtsstaatlicher Institutionen fortdauernden »strukturellen Ge­
walt«, einer strukturellen Gewalt, die auch die sozialen Beziehun­
gen der Individuen und ihre psychische Konstitution durchdringt,
dann versteht sich von selbst, daß individueller Terrorismus be­
stenfalls als eine Form ohnmächtigen Widerstands erscheinen \
kann, die der Logik des Systems verfallen bleibt und sie gewisser­
maßen auf die Spitze treibt. Allerdings kann eine Theorie, die die
l'l
Realität kapitalistischer Industriegesellschaften als einen tenden­
ziell total werdenden Verblendungszusammenhang versteht, ei­
gentlich nicht mehr begreiflich machen, woher denn überhaupt

29I
die kritischen Intentionen und die Erfahrungen noch kommen
können, die das Universum instrumenteller Rationalität in Frage

stellen könnten. Wenn man der älteren Kritischen Theorie, etwa
seit der Dialektik der Aufklärung, im Zusammenhang mit dem
Terrorismus eines vorwerfen kann, dann dies, daß sic, sozusagen
in ironischer Übereinstimmung mit einem heute auf die gesamte
Linke gemünzten »Terrorismusverdacht« gegen radikale Kritik,
kaum noch Formen emanzipatorischer Praxis zu denken erlaubt,
die nicht von der Irrationalität des Systems infiziert wären, gegen
das sie sich richten. Von diesem Vorwurf ist es in Wirklichkeit
allerdings ein weiter Weg bis zu jenen Vorwürfen von rechts, mit
denen nicht die resignativen Züge der Kritischen Theorie ge­
troffen, sondern ihre kritischen Gehalte kriminalisiert werden
sollen.
( Ich gehe im folgenden i. mit der klassischen - Marxschen - Form
der Kritischen Theorie davon aus, daß der Reproduktionsprozeß
kapitalistischer Gesellschaften Widersprüche und Krisen erzeugt,
\ die die Reproduktion dieser Systeme unter den beiden Randbe­
dingungen private Verwertung von Kapital und repräsentative
1 Demokratie zumindest tendenziell als problematisch erscheinen
' lassen. Im Gegensatz zu Marx unterstelle ich allerdings, daß eine
Analyse des Krisenzusammenhangs kapitalistischer Gesellschaf­
ten nicht ausreicht, um eindeutige »Systemschranken« zu be­
zeichnen; im Gegensatz zu Marx und zur Kritischen Theorie
I Adornos und Horkheimers unterstelle ich ferner, daß dieser Kri-
I senzusammenhang keinen objektiv eindeutigen »Sinn« hat, weder
den der notwendigen Heraufkunft einer klassenlosen Gesellschaft
noch den eines gegen praktische Vernunft immer mehr sich ab­
schließenden Universums instrumenteller Vernunft. Ich gehe
I I 2. mit neueren Entwicklungen der Kritischen Theorie (Habermas,
I Offe, Castoriadis) davon aus, daß die systembedrohenden Wider-
I Sprüche und Krisen des Kapitalismus nicht mehr primär auf der
\ Ebene des ökonomischen Systems zu suchen sind, sondern daß sie
I vor allem Probleme der Legitimation, der Motivation und der Ad-
1 ministration betreffen.10 Es sind diese Widersprüche und Krisen,
die, wie es scheint, heute auf der einen Seite die wesentlichen An-
io Vgl. insbes. J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus,
Frankfurt 1975; C. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates,
Frankfurt 1973; C. Castoriadis, PostScript zur Neudefinition der Revo­
lution, MAO-Flugblatt, Berlin 1974.

292
satzpunkte für eine emanzipatorische Praxis darstellen, die auf
eine sozialistische (im Sinne einer radikal-demokratischen) Alter­
native zum organisierten Kapitalismus abzielt; auf der anderen
Seite sind sie zugleich die Ansatzpunkte für regressive und terro­
ristische Formen des »Austritts« aus der Gesellschaft und der
radikalen Verweigerung. Zu verstehen wäre, wie die kurzschlüs­
sige Art der Erfahrung und Verarbeitung von Widersprüchen und
Problemen bei den Terroristen zusammenhängt mit diesen Wider­
sprüchen und Problemen selbst. Dazu einige Andeutungen, die
vor allem durch Analysen von Habermas angeregt sind.
Die Probleme und Widersprüche, auf die es mir ankommt, betreff
betrcR
fen das bürgerliche Legitimationssystem ebenso wie die bürger-l
liehe Lebensform, also: a) die demokratisch-rechtsstaatlichcj
Sclbstinterpretation westlicher Industricgescllschaften, b) die
bürgerliche Leistungsethik sowie c) die auf Kleinfamilie und Be­
rufskarriere privatistisch zentrierte Lebensform der Individuen,.
a) Die politisch-moralischen Grundnormen der bürgerlichen Re­
publik werden als unglaubwürdig erfahren: i.weil ihnen keine
entsprechende demokratisch-moralische Qualität des Alltagsle­
bens und weil ihnen keine transparente Beziehung zwischen den
politischen Entscheidungsprozessen einerseits und den Erfahrun­
gen, Bedürfnissen und Handlungsmöglichkeiten der Individuen
andererseits entspricht. Dabei scheint es, daß die fortschreitenden
Rationalisierungs- und Bürokratisierungsprozesse zunehmend
eine selbsttätige Teilnahme der ihnen unterworfenen Individuen
ebenso verlangen wie blockieren.11 2. Weil diese Normen viel­
fach im Widerspruch stehen zu den von den kapitalistischen
Systemen reproduzierten Ungerechtigkeiten und Ausbeutungs­
verhältnissen und weil sie sich als machtlos erweisen gegenüber
der Macht der Apparate und den zerstörerischen Folgen des öko­
nomischen und sozialen Fortschritts. Schließlich 3. weil diese
Normen bei Bedarf von den herrschenden Machtelitcn benutzt
werden, um imperialistische Gewaltverhältnisse zwischen Staaten
der Ersten und der Dritten Welt zu verschleiern und zu rechtfer­
tigen. Die Ersatzideologie des Wirtschaftswachstums und der aus
Imperativen des Wirtschaftswachstums hervorgehenden »Sach­
zwänge« kann dieses Legitimationsdefizit der bürgerlichen De­
mokratie vermutlich so lange und nur so lange kompensieren, wie

11 Vgl. Castoriadis, a.a.O., S. 33.

293 i
N
□ 1
Probleme der materiellen Existcnzsichcrung und der privaten
Konsumsteigerung noch als die entscheidenden Orientierungs­
punkte des politischen Verhaltens wirksam sind. Für die radikalen
Minderheiten, die gegenkulturellen Strömungen, die drop outs
wie auch für die sich vielfach konstituierenden »außerparlamenta­
■ l rischen« Formen der politischen Organisation und der politischen
i Initiative ist das ersichtlich nicht mehr oder nicht mehr aus­
schließlich der Fall, b) Die bürgerliche Leistungsethik verliert
ihre Glaubwürdigkeit in dem Maße, in dem i. eine Proportionali­
tät zwischen sachlicher Qualifikation und beruflichem Erfolg
strukturell nicht mehr gewährleistet werden kann, und in dem
2. eine Proportionalität zwischen einer Anpassung an den Lei­
stungsdruck sowie der Möglichkeit eines sinnvollen und erfüllten
Lebens nicht mehr erfahren werden kann. Schließlich verlieren
c) auch die traditionellen Normen einer privatistisch an Familie
und Berufskarriere des Mannes orientierten bürgerlichen Lebens­
form und die entsprechenden Tugenden der Disziplin und einer
mit der Fähigkeit zum Gratifikationsaufschub verbundenen vor­
ausplanenden Rationalität in dem Maße ihre Plausibilität, wie
durch den fortschreitenden Rationalisierungsprozcß die traditio­
nellen Sinngrundlagen von Familie und Beruf zerstört werden,
ohne daß zugleich der bürgerlichen Lebensform ein Potential an
existentiell erfahrbarem Sinn nachgewachsen wäre. Dieser Punkt
betrifft Frauen und Männer aufgrund ihrer unterschiedlichen So-
zialisations- und Lebensbedingungen ersichtlich in verschiedener
Weise, zumal da die Frauen mit dem Zerfall der Legitimationen
für die traditionelle Geschlechtsrollenverteilung einer patriarcha­
H lischen Gesellschaft sich als unterdrückte und unterprivilegierte
Hälfte der Gesellschaft wiederfinden. Zwar gibt es ein Emanzipa­
I tionsproblem für Männer ebensosehr wie für Frauen; es stellt sich
aber für beide nicht in der gleichen Weise und mit der gleichen
Unmittelbarkeit. Für die Männer stehen nämlich gesellschaftlich
anerkannte, in ihrer Sozialisation vorbereitete Rollen- und Identi­
fikationsmuster noch weithin zur Verfügung; sie können sich in
ihnen einrichten, wie sehr auch immer um den Preis einer Ver­
drängung von Konflikten oder einer Unterdrückung von Bedürf­
nissen. Für Frauen gilt dies in ungleich geringerem Grade; sie sind
heute weithin einem in sich widersprüchlichen System von Rol­
lenerwartungen konfrontiert, wobei die einander widersprechen­
den Rollen für sie oft ebenso unausweichlich wie inakzeptabel

294

,!i
sind. Für sie gibt es daher kaum Rollen- und Identifikationsmu­
ster, in die nicht Identitätskonflikte, ein Defizit oder ein Verlust
an sozialer Anerkennung oder die Bedrohung eines affirmativen
Selbstbildes gleichsam schon strukturell eingebaut wären. Aus
diesem Grunde stellt sich für die Frauen das Sinnproblem unaus­
weichlicher und massiver als für die Männer als ein Emanzipa-
nonsproblcm dar, für dessen Lösung die existierende (Männer-)
Gesellschaft keine gangbaren Wege vorzeichnet. Soweit es um die
Aufklärung des spezifischen Motivationshintergrundes weiblicher
Terroristen geht, müßte man diese Umstände sicherlich mitbe­
rücksichtigen.12
Vielleicht könnte man, stark vereinfachend, von zwei »Hauptzo­
nen« des Widerspruchs bzw. des Legitimationsdefizits sprechen.
Die erste betrifft den Widerspruch zwischen den sowohl in die
politischen Institutionen als auch in die Sozialisationsprozesse der
Individuen eingelassenen universalistischen Normen der Freiheit,
Menschenwürde, der Selbstbestimmung und des rationalen Dis­
kurses einerseits und den Strukturen einer Gesellschaft anderer­
seits, die nicht nur Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Zerstörung
und praktische Irrationalität fortwährend reproduziert, sondern
die auch dazu tendiert, ihre normativen Ansprüche an sich selbst
immer dann zynisch einzuziehen, wenn cs um die Verteidigung
von Herrschaftspositionen, sei es intern oder extern (im Verhält­
nis zu Ländern der Dritten Welt), geht. Ich gehe davon aus, daß es
sich hierbei um einen strukturellen Widerspruch zwischen nor­
: 1
mativem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit handelt,
der sich nur dadurch beseitigen ließe, daß entweder die kapita­
listischen Randbedingungen der Produktion aufgehoben oder
aber die mit ihnen verbundenen normativen Ansprüche vollends
eingezogen würden. Letzteres ist jedenfalls so lange nicht mög­
lich, wie die universalistischen Nonnen der bürgerlichen Demo­
kratie noch in die politischen Institutionen und die Sozialisations­
prozesse kapitalistischer Systeme eingelassen sind.
Die zweite Hauptzone des Legitimationsdefizits betrifft die Dis­ H
krepanz zwischen Systemstrukturen und Systemnotwendigkeiten
einerseits und den Bedingungen der Ausbildung einer tragfähigen
12 Einen Ansatz in dieser Richtung finde ich bei Ilse Korte-Pucklitsch, ■ i
»Warum werden Frauen Terroristen?«, in: Merkur, Nr.357, Februar
1978. Vgl. auch S. v. Paczensky (Hg.), Frauen und Terror, Hamburg
(rororo aktuell) 1978. ■'I

295

i
Identität und der Möglichkeit eines als sinnvoll erfahrenen Lebens

Bi
■I andererseits. Hierbei geht es also um die unmittelbaren Lebens­
möglichkeiten der Individuen. Die systemstrukturell erzeugten
Prozesse der technischen und bürokratischen Rationalisierung
zerstören, im Zusammenhang mit ökonomischen Imperativen des
Wirtschaftswachstums, Traditionen, eingelebte Lebensformen
und Orienticrungsmuster und damit gleichsam die letzten tradi­
tionalistischen Grundlagen einer tragfähigen Identität, ohne zu­
gleich die Grundlagen für eine universalistisch konstituierte
» Besonderheit, also die Möglichkeit sinnvollen Lebens unter den
Bedingungen eines universalistisch gewordenen Bewußtseins,
mitzuerzeugen. Das mit der Komplexität moderner industrieller
Systeme wachsende Maß an »Entfremdung«, »Atomisierung«,
»Fragmentierung« und »Entwurzelung« geht in dramatischer
Weise über das hinaus, was Hegel als »Verlust der Sittlichkeit« in
der bürgerlichen Gesellschaft analysierte. Denn jene Traditionen,
gewachsenen Verhältnisse und traditionalistischen Deutungsmu­
ster, auf die auch heute wieder die Konservativen gern in kompen­
satorischer Absicht zurückgreifen, werden durch den mit den
Staatsfunktionen längst aufs engste verzahnten Reproduktionszu­
sammenhang der Gesellschaft selbst - durch ökonomischen Fort­
schritt und technisch-bürokratische Rationalisierung - entweder
zerstört oder außer Kraft gesetzt. Dieser Zerstörungsprozeß ist
zwar nicht notwendigerweise ein Aufklärungsprozeß, wie Marx
und Engels wohl noch glaubten, wenn sie schrieben:13
»Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwür­
digen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugcbil-
deten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und
Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind
endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen
mit nüchternen Augen anzusehen.«
Aber dieser Prozeß könnte in seinen zerstörerischen Wirkungen
nur dann aufgehalten werden, wenn er als Aufklärungsprozeß zu
Ende geführt würde; konservative Strategien können Aufklärung
nur blockieren, die repressive Gewalt des Systems lediglich ver­
stärken, ohne doch Traditionen als Traditionen wieder zum Leben
zu erwecken. Kompensiert werden könnte der durch den Repro-

1 13 K.Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx/


Engels, Werke, Bd.4, Berlin 1974, S. 465.

296
duktionsprozcß industrieller Systeme erzeugte »Verlust der Sitt­
lichkeit« nur durch demokratische Organisationsformen, die die
gesamtgesellschaftlichen Prozesse mit der Alhagswirklichkeit und
den Bedürfnissen der Individuen wieder in einen einsichtigen Zu­
sammenhang brächten.
Die beiden eben bezeichneten Problemzonen hängen natürlich
aufs engste miteinander zusammen. Beide nämlich bezeichnen ge­
sellschaftliche Bedingungen, unter denen es immer unwahrschein­
licher zu werden scheint, daß Systemnotwendigkeiten, ein univer­
salistisch gewordenes Bewußtsein und die Ansprüche und
Bedürfnisse der Individuen sich noch zur Form eines zugleich
richtigen und guten Lebens miteinander vermitteln könnten.
Die hieraus resultierenden Pathologien des Bewußtseins sind viel- I
facher Art. Ich möchte nur einige nennen, von denen ich glaube, ,
daß sie auch für ein sozialpsychologisch nicht eigens geschärftes '
Auge erkennbar sind: i. das Austrocknen der Sphäre praktischer •
Rationalität und damit eine Reduktion praktischer Probleme auf
technisch-instrumentelle; z. Formen der Regression auf eine vor­
universalistische Stufe des moralischen Bewußtseins und dadurch j
- scheinhaft - ermöglichte Rückkehr zu Solidarität, Geborgenheit ;
und sinnvollem Leben; 3. alle die Formen der Pathologie, die aus
der Verdrängung der für die Individuen nicht mehr lösbaren Kon­
flikte sowie ihrer Bedürfnisse und Ansprüche resultieren - soweit
diese aus den gesellschaftlich lizensierten Bedürfnisinterpretatio­
nen und den ökonomisch etablierten Mechanismen der Bedürf­
nisbefriedigung gleichsam herausfallen; 4. ein neuer Kult der
Unmittelbarkeit, d. h. Formen der aktionistischen und existenti- I
; i
I
alistischcn Lebensbewältigung, in denen gleichsam die Komplexi­
tät der gesellschaftlichen Wirklichkeit verdrängt wird, Sinn und
Identität auf Kosten der Realität gesucht und in Formen unmittel­
barer Solidarität stabilisiert und ausgelebt werden; 5. eine Verhär­
tung des verletzten moralischen Bewußtseins gegen eine Wirk­
lichkeit, die nur noch als totaler Verblendungszusammenhang ■
wahrgenommen werden kann, d. h. als das absolute Böse; ein sol-1
ches moralisches Bewußtsein bleibt notwendig abstrakt und kann ;
Wirklichkeitsdeutungen nur noch in der Form von Wahnsyste­
men entwerfen; 6. die Redogmatisierung eines aus allen Sicherhei- !
ten traditioneller Lebensorientierungen, Weltbilder und identi-l
tätsverbürgender Interpretationssysteme herausgefallencn Be­
wußtseins, das keine Bedingungen vorfindet, unter denen es das

297
I i
d Bedürfnis nach sinnkonstituierenden Interpretationen mit den
Normen kritischer Rationalität noch in Einklang bringen könnte.
Ich traue mir nicht zu anzugeben, in welcher spezifischen Mi­
schung die hier angedcuteten Pathologien des Bewußtseins in
terroristischen Gruppen wiederkehren. Indes ist mir wichtiger,
bi plausibel zu machen, daß der Terrorismus der in dieser Gesell­
i schaft möglichen »Normalität« gleichsam nähersitzt, als unsere
professionellen Staatsverteidiger glauben mögen, und daß er die
Pathologien des Systems reflektiert und auf die Spitze treibt, ge­
gen das er sich richtet. Wollte man mehr zur Erklärung des
Terrorismus sagen, müßte man spezifischer werden. Ganz abgese­
hen davon, daß terroristische Formen des Gucrillakampfes in
Ländern der Dritten Welt oder in Irland trotz aller heute sichtba­
ren internationalen Verflechtungen eine andere Bedeutung und
andere Wurzeln haben als der Terrorismus in hochindustrialisier­
ten Staaten, müßte man, wie mir scheint, auch bei einem Vergleich
etwa der RAF mit den Roten Brigaden jeweils noch spezifische
kulturelle, gesellschaftliche und historische Unterschiede der be­
treffenden Systeme in Anschlag bringen. In Deutschland z. B. ist
die Entstehung des Terrorismus, wie mir scheint, kaum zu begrei­
fen ohne den Hintergrund einer unbewältigten faschistischen
Vergangenheit und ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß die
republikanische Staatsform nicht Resultat eines geschichtlichen
Emanzipationsprozesses, sondern Resultat der Niederlage des Fa­
schismus war. Das Legitimationsdefizit des Systems hat bei uns
gleichsam eine persönliche Note, weil es sich verbindet mit einem
spezifischen Legitimationsdefizit der älteren gegenüber der jünge­
ren Generation; und es hat eine historisch besondere Note, weil es
verknüpft ist mit dem Problem einer politischen Tradition, in der
1 im Zweifelsfall eine obrigkeitsstaatliche bzw. autoritär durchge­
setzte Ordnung immer höher im Kurs stand als individuelle
Freiheitsrechte, und in der deshalb Gehorsam und Disziplin -
selbst angesichts staatlich organisierten Terrors - immer noch we­
niger sich verdächtig machen als die kritische Infragestellung
durchgescheuerter Autoritäten und Ordnungen.

li
298
ii
in.

Damit kehre ich zu den deutschen Verhältnissen zurück. Von die­


sen zu sprechen heißt zugleich, von ihrer immer noch unbewältig­ I
ten Vorgeschichte zu sprechen. Diese unbewältigte Vorgeschichte
ragt in die deutsche Gegenwart hinein wie ein Block - und zwar I:
denke ich hier, wie eben schon angedeutet, vor allem an eine un­
terhalb der Decke demokratischer Institutionen bis heute in der
Bundesrepublik fortbestchende Kontinuität zwischen republika­
nischer Staatsform und autoritärer Vergangenheit, eine Konti­
nuität, die in politischen Einstellungen, Verhaltensweisen und
Traditionen und - natürlich - in Personen festgemacht ist. Diese
Kontinuität führt dazu, daß in Deutschland die demokratische
Republik gleichsam von zwei entgegengesetzten Enden her be­
droht ist, nämlich durch die Ausbreitung bürokratischer Herr­
schaftsapparate mit ihren technisch perfektionierten Kontroll-
und Manipulationsmöglichkeiten einerseits, durch die Überreste
einer autoritären Vergangenheit andererseits.
Sicherlich ist es zum Teil auf die eben angedeutete Kontinuität
zurückzuführen, daß in der Bundesrepublik die Kräfte einer de­
mokratischen Erneuerung immer wieder in eine oft hoffnungslos
erscheinende Defensive gedrängt worden sind. Ebenso ist es Teil
dieser Kontinuität, daß im Bewußtsein der deutschen Öffentlich­
keit das Wort »Terrorismus« weithin für gewaltsam operierende
Guerilla- und Freiheitsbewegungen aller Art reserviert geblieben
ist — ob es sich nun um die sinnlosen Gewaltaktionen deutscher
Stadtguerilleros handelt oder um Formen des bewaffneten Befrei­
ungskampfes gegen Ausbeutung, Diktatur und Folter in Ländern
der Dritten Welt-, während staatlich organisierter Terror, obwohl
in seinen Folgen für die Bevölkerung der betroffenen Länder un­
gleich schrecklicher als die Gewaltaktionen versprengter Linker,
bei deutschen Politikern und in der deutschen Presse - sofern
dieser Terror nur nicht von kommunistischen Regimes ausgeübt
wird - auf beschönigende Worte immer rechnen darf. Entspre­
chend unterschiedlich sind die Empfindlichkeitsschwellen der
deutschen Öffentlichkeit. Als ein Göttinger Mescalero anläßlich
seines — zugegebenermaßen: mehr als »klobigen« - Versuchs, eine
politisch-moralische Kritik am Terrorismus zu artikulieren (Resü­
mee: »Unser Weg zum Sozialismus [...] kann nicht mit Leichen
gepflastert werden«), das Gefühl einer »klammheimlichen

299
ir
l Freude« über den Mord an Buback nicht etwa verteidigte, son­
dern durchaus selbstkritisch eingestand, ging ein Aufschrei der
Empörung durch die öffentlichen Medien - selbst die Frankfurter
Rundschau sprach von »blankem Faschismus« (FR vom 8. Mai
1977); ein Großeinsatz der Polizei kontrapunktierte die öffent­
liche Erregung. Der Versuch von achtundvierzig Hochschulleh­
rern und Rechtsanwälten, der Aufheizung der Empörung über
den linken »Sympathisantensumpf« an den Universitäten zu be­
- gegnen, indem sie den vollen Text des umstrittenen »Nachrufs«
i einer systematisch desinformierten Öffentlichkeit zugänglich
machten, verfehlte nicht nur seinen Zweck, er schlug vielmehr voll
auf seine Urheber zurück und hat am Ende zu einer der beklem­
mendsten Episoden im Kampf gegen die möglichen oder ver­
meintlichen »Sympathisanten« des Terrors geführt.14 Wenn

J dagegen ein führender Verteidiger des freiheitlich-demokratischen


Rechtsstaates wie F.J. Strauß seine gar nicht klammheimliche Ge­
nugtuung über die Erfolge der chilenischen Militärdiktatur bei
ihrem Kampf für Freiheit und Demokratie in Chile zum Aus­
druck bringt (vgl. den Bericht in der Zeit vom 16. 12. 77), braucht
er vor einer empörten deutschen Öffentlichkeit keine Furcht zu
haben - und das nicht nur deshalb, weil Chile weit weg ist.
Der Begriff einer »freiheitlich-demokratischen Ordnung« hat
nämlich in Deutschland eigentümliche semantische Transforma­
tionsprozesse durchlaufen, die dazu geführt haben, daß er nicht
nur - wie auch in anderen westlichen Industriestaaten - mit einer
kapitalistischen Ökonomie assoziiert wird, sondern auch mit Vor­
liebe von Begriffen wie »Ordung«, »Disziplin«, »Staat« und »Si­
cherheit« her interpretiert wird. Man könnte auch sagen, daß
dieser Begriff in einer zuweilen furchterregenden Weise den
autoritären Elementen der deutschen Tradition semantisch adap­
tiert worden ist.15 Eine entsprechende politische Optik läßt die

14 Vgl. P. Brückner (Hg.), Die Mescalero-Affäre, 3. Aufl., Hannover 1978.


15 Zwei beliebig herausgegriffene Beispiele: 1. Die fließenden Übergänge
zwischen Worten wie »staatsabträglich« und »verfassungswidrig« im
Gebrauch von Polizei und Politikern. Wegen »staatsabträglichen Ver­
haltens« wurde Gollwitzer 1940 von der Gestapo aus Berlin ausgewie­
sen. In Hannover wurde die Vorbereitung einer Aktion von amnesty
international als »staatsabträgliches« Verhalten der betreffenden Per­
son von der Polizei an den Verfassungsschutz gemeldet. Vgl. P. Brück­
ner, D. Damm, J. Seifert, 1984 schon heute - oder wer hat Angst vorrn

300
Konturen eines mit Ordnung verbundenen, d. h. staatlich organi­
sierten Terrors verschwimmen, wogegen sic Terror vor allem in
der unmittelbaren Nachbarschaft einer Kritik wahrnehmen läßt,
welche an die in den Begriffen der -Freiheit* und der -Demokra­
tie* gelegenen uneingclöstcn Versprechen erinnert. So geht am
Ende wieder die Freiheit oder dasjenige an ihr, was in der existie­
renden Ordnung nicht aufgeht, für die Konservativen mit dem
»Schrecken« schwanger16 - als wäre das deutsche Problem nicht
vielmehr der Schrecken vor der Freiheit.
Der Versuch, Gesellschaftskritik in die Nähe des Terrorismus zu
rücken, verdeckt in Wirklichkeit das Zusammenspiel von Terro­
rismus und Reaktion. Er paßt sich ein in die Bestrebungen, aus
dem Terrorismus der RAF und der ihr verwandten Gruppen Le­
gitimationen abzuleitcn für eine Einschränkung demokratischer
Grundrechte, für eine Verschärfung der politischen Repression
und für die Einführung von Elementen eines Gesinnungs- (und
Gcfühls-)Strafrechts in die deutsche Rechtsprechung. Die Ten­
denz zu einer schrittweisen Einschränkung demokratischer Frei­
heiten hat in den vergangenen Jahren bereits dazu geführt, daß die
Äußerung radikaler Kritik und die kritische Wahrnehmung demo­
kratischer Grundrechte immer mehr zu einem persönlichen Ri­
siko, insbesondere für Angehörige der jüngeren Generation,
geworden sind; aber nicht nur für sic, wie der Fall Brückner zeigt.
Die Bereitschaft zur Anpassung wird in Deutschland wieder ein­
mal höher bewertet als jene Tugenden, ohne welche eine demokra­
tisch verfaßte Republik zum autoritären Staat verkommen muß.
In diese Tendenz fügt sich ein, daß zunehmend Bereiche der fak­
tischen gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr nur in der Rheto­
rik von Politikern und in der Praxis staatlicher Bürokratien,
sondern auch in der Rechtsprechung mit dem Kernbestand unse­
rer republikanischen Verfassung gleichgesetzt werden. Die frei­
heitlich demokratische Grundordnung wird damit auch offiziell

Verfassungsschutz, Frankfurt 1977, S. 29. 2. Der Ausdruck »Vorverle­


gung des Staatsschutzes« (gegenüber inneren Feinden) wurde schon
(oder noch) 1951 in einer Bundestagsdebatte während des Koreakrie­
ges im Zusammenhang mit einer Verschärfung des politischen Straf­
rechts gebraucht. Er stammt, wie R. Schmid gezeigt hat, von Roland
Frcisler. Hans Schueler, »Der Justiz den Spiegel vorgehalten«, in: Die
Zeit, 30. März 1979.
r6 Vgl. H. Lübbe, »Freiheit und Terror«, in: Merkur, September 1977.

3oi
immer mehr zu einem Synonym für die faktischen Machtverhält­
nisse und die ökonomischen Strukturen unserer Gesellschaft.
Unter diesen Umständen wird jede Form der Kritik und der kri­
tischen Analyse, die auf uneingelöste Versprechen des republika­
nischen Grundrechts- und Freiheitskanons hinweist, tendenziell
zu einem Angriff auf die Verfassung und damit verfassungsfeind­
lich.
Die schleichende Kriminalisierung kritischer Positionen erfüllt,
wie mir scheint, mindestens drei verschiedene Funktionen: 1. hat
f
sie Züge eines Verdrängungsprozesses, sie dient der Wiederher­
stellung eines guten Gewissens angesichts der von den Gesell-
schaftskritikem benannten Pathologien des Systems; 2. verschafft
sic eine Legitimation für die Verschärfung der politischen Repres­
sion; und 3. dient sie der Identifizierung von Sündenböcken:
Wenn die Linken im allgemeinen und die linken Theoretiker im
besonderen für den Terrorismus verantwortlich sind, dann
braucht die Gesellschaft in den Terroristen nicht mehr ein Spiegel­
bild ihrer eigenen ungelösten Probleme zu erkennen, sie kann
diese Probleme vielmehr auf ihre Kritiker abwälzen und dadurch
zu lösen versuchen, daß sie die Kritiker zum Schweigen bringt.
Die Einsicht in den Zusammenhang von Terrorismus und Reak­
tion wie auch die Einsicht, daß die Verteidigung der demokrati­
schen Republik heute zu einer Existenzfrage der sozialistischen
Linken geworden ist, sollten innerhalb der Linken freilich auch
Anlaß geben zu einer kritischen und u. U. auch selbstkritischen
>• Besinnung auf den Sinn einer Verteidigung von bürgerlich-demo­
kratischen Grund- und Freiheitsrechten. Damit komme ich zu
einigen Schlußüberlegungen, mit denen ich andeuten möchte, in
welchem Sinne der Terrorismus auch für die Linke ein Anlaß zur
Klärung ihrer Positionen sein sollte. Und zwar geht es mir vor
allem um die in der marxistischen Tradition zentrale Frage nach
der angemessenen Unterscheidung zwischen »ideologischen« und
1
»progressiven« Gehalten der bürgerlichen Demokratie. Der alte
und berechtigte Vorwurf, diese sei bloß »formal«, hängt zusam­
! men mit der Einschätzung, die bürgerlich-parlamentarische De­
mokratie sei die politische Form der kapitalistischen Klassenherr­
schaft. Wie schon Rosa Luxemburg feststellte, kann dies nur
I heißen, sie sei nicht demokratisch genug; d. h. sie verhindere die

j
Ausbreitung von Formen demokratischer Selbstbestimmung auf
alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens - einschließlich des Be-

302
reichs der materiellen Produktion, der nach dem bürgerlichen
Demokratieverständnis als vorpolitisch aus dem Bereich demo­
kratischer Willensbildung ausgegrenzt bleiben sollte. »Material«
wäre demnach eine Demokratie, die als eine den gesellschaftlichen
ll
Lebenszusammenhang im ganzen durchdringende und also das
Alltagsleben der Individuen bestimmende Form der Freiheit er­
fahren werden könnte. In der marxistischen Tradition knüpft sich
hieran die Erwartung, daß mit der Aufhebung der Schranken der
bürgerlichen Demokratie - nach der Abschaffung des kapitalisti­
schen Privateigentums - Formen des gesellschaftlichen Lebens
sich entwickeln würden, in denen Freiheit, Solidarität und eine
nicht mehr blockierte Selbstverwirklichung der Individuen mit­
einander zur Deckung kämen. Ich glaube, wir müssen uns heute
eingestehen, daß wir nicht wissen können, wie weit und in wel­
chem Sinne eine zukünftige Form des gesellschaftlichen Lebens
dieser Idee nahekommen kann. Für den klassischen Marxismus
und für den klassischen Anarchismus existierte das Problem - in
der Form, in der es sich für uns stellt - m. E. deshalb nicht, weil
beide - insgeheim oder offen - davon ausgingen, es gälte nur,
bestimmte Hindernisse - das kapitalistische Privateigentum, den
Staat, die Spuren der Entfremdung in den Subjekten - zu über­
winden, und die Freiheit würde sich ungehindert entfalten. Ein
solches Modell bezieht seine Plausibilität aus Situationen einer als
unerträglich erfahrenen Unterdrückung oder Unfreiheit; Meta­
phern wie die vom »Zerbrechen der Ketten« gehören in diesen
Zusammenhang. Gesellschaftstheoretisch wird dies Modell aber
in dem Maße falsch, wie es beansprucht, negative Bedingungen als
empirisch notwendige und hinreichende Bedingungen gesell­
schaftlicher Freiheit zu fassen - auch wenn dies, wie in der
marxistischen Theorie, nur mit Bezug auf einen bestimmten Stand
der geschichtlichen Entwicklung geschieht. Entweder sind näm­
lich die als notwendig angegebenen Bedingungen nicht hinrei­
chend (Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmit­
teln), oder aber sie sind nur deshalb hinreichend, weil das, was in I
ihnen gedacht wird, mit Freiheit selbst zusammenfällt (Aufhe­
bung der Entfremdung, der Klassenherrschaft usw.). Daß sich für
Marx ein entsprechendes Problem nicht ernsthaft stellte, liegt
nicht zuletzt daran, daß die negative Bestimmung der Bedingun­
gen von Emanzipation ursprünglich im Sinne einer dialektischen
Negation der Negation in seine Theorie hineingekommen war, '
I
3°3
Ii 1
J I
und zwar am ehesten zu verstehen im Sinne einer gcschichtsphi-
losophischen »Temporalisicrung« der Dialektik von Entzweiung
und Versöhnung aus der Hegelschcn Rechtsphilosophie. Diese dia­
lektische Figur hat Marx aber niemals wirklich in seine geschichts­
materialistische Theorie einarbeiten können, sic blieb zurück als
ein gcschichtsmetaphysischer Überschuß.
Das bedeutet aber, daß auch die positiven Bedingungen einer anti­
zipierten, zukünftigen Form gesellschaftlicher Freiheit einer Be­
stimmung bedürfen, wenn diese Antizipation nicht ins Leere
gehen soll. Nun ist es sicher richtig zu sagen, daß eine solche
Bestimmung selbst nur das Resultat geschichtlicher Praxis sein
kann - in dem Sinne, in dem Marx von der »Entdeckung« der
politischen Form der Kommune gesprochen hat. Damit verlagert
sich das Problem aber nur — jedenfalls solange man an der Idee
einer theoretischen Erhellung emanzipatorischer Praxis festhält.
Das Problem stellt sich jetzt nämlich so, daß die Theorie einen
angemessenen Begriff der historisch bereits existierenden Formen
der Freiheit haben muß, wenn sie Emanzipation nicht als bloße
Negation, sondern als »Aufhebung« dieser Freiheit antizipieren
will. Bloßes Hinausphantasieren auf künftige Formen der Freiheit
ohne klares Bewußtsein der historisch bereits — wie immer auch
gebrochen - existierenden Formen der Freiheit kann immer nur
zu einer abstrakten Negation des Bestehenden führen und ent­
spricht daher letztlich auch den strengen Maßstäben nicht, die
durch die Marxsche Theorie selbst gesetzt sind. Das Bewußtsein
4 . der bereits existierenden Formen der Freiheit ist aber zugleich das
Bewußtsein derjenigen (positiven) Bedingungen, unter denen al­
lein gesellschaftliche Veränderungen als Emanzipationsprozesse
vor sich gehen können; es ist, mit anderen Worten, ein Bewußt­
sein dessen, was in einer uns vorstellbaren Welt eine (Minimal-)
Bedingung der Möglichkeit vernünftiger Freiheit bleibt.
Mit diesen Überlegungen will ich nicht für eine Einschränkung
der praktisch-emanzipatorischen Phantasie plädieren; es geht mir
vielmehr darum, eine falsche Form des phantasierenden revolutio­
nären Bewußtseins zu kritisieren. Damit komme ich noch einmal
unter veränderter Perspektive zu dem gegen die bürgerliche De­
mokratie erhobenen Vorwurf des bloß »Formalen« zurück. Die­
ser Vorwurf wird nämlich von einem Teil der marxistischen
Linken, insbesondere soweit sie sich auf Lenin beruft, noch in
einem anderen als dem vorher erwähnten Sinne gegenüber der

3°4
I]
bürgerlichen Demokratie erhoben. Nach diesem Verständnis sind
die für die bürgerliche Demokratie charakteristischen allgemeinen
und formellen Rcchtsgaranticn - insbesondere Grundrechtsga­
rantien - insgesamt bloßer Ausdruck bürgerlicher Klassenherr­
schaft und daher unter Bedingungen sozialistischer Demokratie
überflüssig. Wir haben inzwischen genügend historische Erfah­
rungen sammeln können, um zu wissen, daß in dieser Auffassung
ein verhängnisvoller Irrtum steckt, ein Irrtum, der zur Folge hat,
daß die Ersetzung der formalen durch eine materiale Demokratie
in diesem zweiten Sinne auf die Abschaffung der Demokratie und
damit zugleich auf die Verhinderung des Sozialismus hinausläuft.
Demgegenüber ist es mittlerweile zu einer Lebensfrage der Lin­
ken geworden, daß sie zu einem klaren Bewußtsein nicht nur der
ideologischen und repressiven, sondern auch der progressiven
und emanzipatorischen Gehalte der bürgerlichen Demokratie
kommt. An dieser Frage scheidet sich heute die demokratische
von der dogmatischen und neostalinistischen Linken. Für die de­
mokratische Linke kann die Verteidigung von Grundrechten und
demokratischen Freiheiten innerhalb unserer Gesellschaft niemals
eine bloß taktische Frage sein; sie verteidigt damit vielmehr auch
noch ihre zukünftigen Lebensbedingungen.
Man kann politische Begriffe nicht aus den historisch-politischen
Kontexten herauslösen, in denen sie entstanden sind. Indes wäre
es an der Zeit, die Begriffe »links« und »rechts« nach Maßgabe des
Verhältnisses politischer Gruppierungen zu demokratisch-repu­
blikanischen Formen der Selbstbestimmung politisch neu zu defi­
nieren. Man könnte dann ein für allemal den Zynismus gegenüber
den uneingelösten Versprechen einer demokratischen Republik
den Rechten überlassen. Hierdurch würde zwar der »linke« Ter­
rorismus nicht einfach zu einem »rechten« Terrorismus; die Linke
- d. h. die demokratische Linke - könnte sich aber wirkungsvoller
gegen Versuche einer Kriminalisierung wehren, bei denen der
Wahnsinn und die Gewaltaktionen selbsternannter radikaler Vor­
huten die Vorwände liefern. Auch das wäre ein Beitrag zur
Bewältigung des Terrorismus.

305

j

i
Anhang
iS

I
b
i
13. Hannah Arendt on Judgement:
The Unwritten Doctrine of Reason ■

(1985)

1.

The faculty of judgcment played a preeminent rolc in Hannah


Arendt’s political and moral thought; howevcr, despite the tenor
of some of her earlier works, she certainly was no neo-Aristote-
lian philosopher of praxis. To be sure, we do not have her last
word on the faculty of judgement. Nevertheless, from what we
have, it can safely be said, that her theory of judgement was not
meant as a re-appropriation of an Aristotelian conception of
phronesis, with phronesis understood as a virtue connecting
i
sound deliberation with prudent action. Arendt’s later thought
was moving in the opposite direction, tending to dissociate judge­
ment from action as well as from argumentation. The first disso-
ciation is puzzling, because it was in the context of reflections
about political action that the problem of judgement made its first
appearance in Arendt’s work; the second, because reflective
judgement - and this is what Arendt really meant when she talked
about judgement - is meant to lead to intersubjectively valid
judgements, i.e. judgements which everybody could agree upon.
Both of these curious aspccts of Arendt’s later account of judge­
ment, however, fit into her attempt to assimilate political and H
moral judgement, structurally speaking, to aesthetic judgement in
the Kantian sense. Aesthetic judgement is the judgement of a -i
spectator - thus the dissociation of judgement from action. And
the fact that consent to aesthetic judgement cannot be compelled
by arguments accounts for its dissociation from argumentation.
To be sure, Arendt at the same time wanted to preserve the inter­
3
. 1
nal relationship between judgement and discursive reason, i.e. to
preserve judgement as a rational faculty. She managed to do that
by relating thinking and judging in a highly peculiar way: think-
ing, for Arendt, is primarily a destructive rather than a construc-
tive activity, which clears the ground and removes the obstacles
for the exercise of the faculty of judgement. Those obstacles are f
!
309
thc faise generalities like rules, concepts or values, which tend to
detcrmine our judgements as the dcceptive safeguards of an unre-
flective life. Dissolving the faise generalities of unreflective social
life, the »wind of thought« liberales the faculty of judgcment as
the faculty to asccnd, without the guidance of rules, from the
particular to the universal; and most particularly as the faculty »to
teil right from wrong, beautiful from ugly«.1
The most perplexing thing about Arendt’s conccption of judge-
ment is the way in which she moves from almost Aristotelian
premises to rather anti-Aristotelian conclusions. This movement
of thought can be discerned in the relationship of her earlier re-
flections on action to her later reflections on thought and judge-
ment. Judgement for Arendt is intrinsically related to the essential
plurality of human beings, to our living in a common world
which, as a common world, is opened up by speech. Matters of
praxis, which belong to this common world, are not susceptible to
scientific proof; they are not matters of knowledge but of opinion.
At this point a theory of phronesis could have been expected to
emerge, which would have analyzed the peculiar rationality re­
lated to the field of human praxis and explained the difference
between good and bad judgement in terms of this peculiar ration­
ality. At this point Neo-Aristotelians usually rcdiscover Hegel’s
conception of »ethical life« (»Sittlichkeit«) and/or move toward a
theory of institutions. Arendt, in contrast, seems to move in the
opposite direction. She proves to be a decidedly modern thinker
in that she denies the existence of anything like an ethical Commu­
nity which could provide the basis for the exercise of phronesis.
The common world of human beings, to which the faculty of
judgement appeals, turns out not to be an existing ethical totality,
but a regulative idea, namely, the sensus communis which proves
its reality above all in those rare moments, when autonomous
! judgement breaks through the crust of established opinions and
established generalities. The existing common sense, in contrast, is
•ii : for Arendt rather like the sphere of Heidegger’s »Man«, the
sphere of inauthentic being; correspondingly the paradigmatic
cases of an exercise of the faculty of judgement are for her excep-

i H. Arendt, The Life of Mind, Vol. i: Thinking. New York and London:
Harcourt Brace Jovanovich 1978, p. 193; dt.: Vom Leben des Geistes,
Bd. 1: Das Denken. München: Piper 1979, S. 192.

3>o
tional cases of indepcndcnce from prcfabricated opinions or of
resistance against the indiffercncc of the many.
That Arendt increasingly camc to considcr the faculty of judge-
ment as an autonomous faculty, therefore does not merely rcflcct
her indcbtedness to Kant’s philosophy, whose architectonics she
was to rcly upon in her last work. It also reflects the fact that her
thcory of autonomous judgement was, at the samc time, a theory
of the corruption of judgement in our time, and was thus implic-
itly related to a pcssimistic theory of modemity. The autonomy of
judgement manifests itself in those, who, in a world without gods,
metaphysical certaintics, and ultimate values, resist the temptation
to stop thinking and to succumb to the false consolations of ideo-
logy on the one hand, or to escapc into shcer conformism, on the
other. It was in particular Arendt’s expcrience of Nazi-Germany
which provided the negative background for her theory of judge­
ment. Not The Human Condition, but her book on totalitarian-
ism and Eichmann in Jerusalem constitute the preparatory stages
for her theory of judgement. This is true in a twofold sense: First,
in both cases Arendt analyzes the condition of an utter corruption
of judgement, where people, eithcr being in the grip of ideologies,
or exchanging a discredited value System for a corrupt one, or out
of sheer stupidity, become unable to perceive or to recognize what
is going on. Arendt formulates the problem of personal responsi-
bility under conditions of a collectively corrupted judgement- i.e.
the problem of how the justice of the Nuremberg and the Eich­
mann trials were to be understood - in terms of the demand
»that human beings be capable of telling right from wrong even when all
they have to guide them is their own judgement, which, moreover, hap­
pens to be completely at odds with what they must regard as the
unanimous opinion of all those around them ... Those fcw who were still
able to teil right from wrong went really on their own judgements, and
they did so freely; there were no rules to be abided by, under which the
particular cases with which they were confronted could be subsumed.
They had to decide each instance as it arose, because no rules existed for
the unprecedented.«2
The autonomy of judgement bccomes manifest in those, who
without the support of socially accepted rules and values, nay,
2 H. Arendt, Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil.
New York: Viking Press 1965, pp. 294-295; dt.: Eichmann in Jerusalem.
Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper 1964, S. 22f.

3”
against them are still able to teil right from wrong. Secondly,
however, Arendt’s two books, besides providing the negative
background for her theory of judgement, providc two powerful
positive examples for the exercise of political judgement. Both
books are paradigm cases of a non-conformist political Inter­
pretation of our time and both are written from the standpoint of
a reflecting spectator. Therefore, one could say that Arendt’s
theory of judgement is the attempt to give a philosophical ac-
count of the basic content of her two books as well as of her
own way of Corning to grips with the problems discussed in these
books.
To be sure, both books are highly discursive. They try to argue for
certain interpretations and only in this sense can be called exam­
ples of political judgement from a spectator’s point of view.
I
Otherwise, they could not have become the topics of extended
.■!
and sometimes heated public or scientific debate. Moreover, both
books certainly do have implications as far as practical Orienta­
tions are concerned. Although they do not provide premises for a
practical syllogism, one could not accept what they say as truc and
yet act as a Neo-Nazi or a Stalinist. Therefore both books belong
to a continuum of political discourse, occurring on many different
levels. This discourse is not only concerned with the evaluation of
past events, but affects future action as well. In the case of moral
judgements it is even more obvious that there exists an unavoid-
able internal relationship to action, and not only past ones, as
1 Arendt’s own examples show. That every actor is a potential spec­
tator, as Arendt admits, therefore not only means that he may
become a judge after he acted; for certainly he may have been a
moral judge before he acted. That judgement is possible only after

h the event, that the owl of Minerva begins to fly only after dusk, is
therefore true only in the sense that the whole story can be told
only after it is over. But is it ever over? It seems to me that
£.! . Arendt’s own critique of a teleological conception of history im-
plies that the spectator’s judgement is never final, that it is rather
always woven back into the unfolding web of human action and is
waiting for those, who will judge this judgement. But if this is
indeed the case, would not an internal link between judgement,
action and argumentation have been restored as a necessary con-
sequence of Arendt’s attempt to rehabilitate the rational faculty of
judgement? Although this might not be quite the recovery of an

-r 312
Aristotelian conccption of phronesis, it might well bc a modern, a
post-Kantian equivalent of it.
I think there arc several possiblc reasons why Arendt’s thought
did not move in this direction. One, as Ronald Beiner has pointed
out in his excellent Interpretation of Arendt’s theory of judge-
ment, could have been that Arendt did not sce any prospccts for
genuine action and for freedom in our world. Another could have
been that Arendt’s own theory of action, as she developed it in
The Human Condition, did not - contrary to appearances - allow
for such a move. Arendt was never able to explain what thc Con­
tent of genuine political action could be, since for her everything
related to the material reproduction of society - to the societal
sphere of labour and to material interests - had to be conceivcd of
as lying outside the sphere of political action proper. Since, how-
ever, even under conditions of a democratic polity political action
and political debate can get their content, their theme, their
»about« only from thc ongoing life process of society, it appears
that no form of political praxis could ever correspond to Arendt’s
model of action. Or rather, what Arendt called action could only
be exemplified either by the revolutionary action of those who
found a democratic polity, or by the quasi-actions of those disin-
terested spectators, who try to form and publicly express an
impartial judgement about what has happened in the sphere of
action in the ordinary sense of the word. Paradoxically, it is a
consequence of Arendt’s own theory of action that the judging
activity of the disintercsted spectator may in the end become the
only genuine form of political action. There would therefore be
no place for an internal relationship between political judgement,
political discourse and political action in her theory of action. A
third reason for Arendt’s reluctance to move in the direction I
have indicated could finally be that the Kantian framework of
concepts from which she borrowed the term judgement, and in
terms of which she tried to articulate her own theory of judge­
ment, did not provide her with the conceptual »space« to weave
the different thrcads of her theory together. This has been sugge-
sted by several of her critics like Bernstein, Habermas or Beiner.
To be sure, I do not really believe that Arendt’s Kantianism gives
us the explanation for the impasses of her theory; or rather, I
think it could as well be argued that she chose Kant — and it was, as
everybody knows, a free extrapolation from Kant - because it was

3'3 ■I
I

in Kant that she found what she needed for her theory of judge­
ment. Neverthelcss I believe that it might be Arendt’s Kantianism
- her latent orthodox Kantianism, as it were - which defines the
Ümits of her thcory. I want to explore this possibility in what
follows.
I will attempt to show that Arendt, in trying to overcome certain
limitations of Kant’s practical philosophy, remained fixated on
! basic presuppositions underlying these limitations, presupposi-
tions which concern a scientistic conception of truth and a forma-
listic notion of rationality. This is why Arendt, in her attempt to
uncover Kant’s unwrittcn political philosophy, could not operate
from within his practical philosophy, which she rathcr dismissed
j altogether. Instead she could only refer to the critiquc of aesthetic
1 judgement as the place in the Kantian System that allows for
judgements which are neithcr arbitrary nor compelling for every
rational being, and where the idca of the validity of judgements is
explicitly tied to the idea of an intersubjective agrecment among a
plurality of sensuous and worldly beings. Given the contextual
presuppositions of Kant’s notion of aesthetic judgement, how-
ever, there remains a gulf between »logical« and aesthetic judge­
ments: the former, the intersubjective validity of which springs
from concepts, are susceptible to rational argument; the latter,
which are not based on definite concepts, are not open to argu­
ment, but only to »contention«. Now it is this very distinction
between conceptual or objective and non-conceptual or subjective
general validity, and the corresponding distinction between
judgements open to argument or dispute (which, according to
Kant, allow for a »decision by means of proof«) and judgements
which are only open to »contention«, which might be put into
question. Since Arendt, however, did not herseif question these
! distinctions, her attempt to remove the problematic of political
and moral judgement from the context of Kant’s practical philo­
sophy and assimilate it to the problematic of aesthetic judgement,
was bound to result in what I would call a mythology of judge­
ment- a mythology of judgement, since the faculty of judgement
now begins to emerge as the somewhat mysterious faculty to hit
upon the truth when therc is no context of possible arguments by
which truth claims could be redeemed. Of course, Arendt would
not speak of »truth« here. However, the word does not matter as
long as it is clear that what is at stäke is a claim to intersubjective
-

<
j 3’4
validity, and this ccrtainly belongs to thc very notion of reflcctivc
judgement.
Bccause of prcsuppositions Arendt shared with Kant, therc was
no place in her thought for a broader conception of rationality
which would have allowcd her to tie reflective judgement to ratio­
nal argument. Such a conception of rationality would have to be
locatcd, as it were, in bctween the formal rationality of logical
demonstration and the speculative rationality of what she callcd
»thinking« - in bctween, that is, the rationality of intellect and the
rationality of reason. For Arendt, what is in betwecn these two
rationalities, or, one might even say: what mediates betwecn
them, is the rationality of judgement. This mcans, howevcr, that
the faculty of judgement reveals itsclf as a kind of place-holder for
a conception of rationality, which would have cxploded the for-
malistic constraints imposed on the idca of rationality in thc
empiricist-rationalist tradition of modern philosophy. If I say a
»place-holder«, this could be undcrstood in a double sense: First,
of course, in a theoretical sense, for we are trying to get clear
about Arendt’s thcory of judgement. But secondly, it could also
be understood in a more practical sense. Arendt, as a philosopher
in dark times, ccrtainly had good reasons to doubt the reality of
such a broader conception of rationality. As a result, the faculty of
judgement, cxercised only by the few, became for her a place-
holder for practical reason, which seemed to have finally disinte-
grated as an existing idea. Arendt’s idea of this faculty of judge­
ment, which for her was not least the faculty to perceive
differences and to perceive the particular in its own right, has a
dcep affinity with Adorno’s idea of non-identifying thought, that
is, a form of thought, in which the concept, as Adorno says,
would »transcend the concept, i.e. the manipulative and exclu-
sionary character of the concept, and thereby rcach the non-
conceptual«? I think, however, that in both cases the paradoxi-
cal character of those ideas - the faculty of judgement, non-
identifying thought - can only in pari be explained by the fact that
j Th. W. Adorno, Negative Dialectics. New York: The Seabury Press
1973, P-9 (translation changed); dt.: Negative Dialektik. Gesammelte
Schriften Bd.6 (Hg. R.Tiedemann), Frankfun am Main: Suhrkamp
1973, S. 21 (»[daß] der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Ab­
schneidende übersteigen und dadurch ans Begriffsiose heranreichen
[könne]«).

3>$
both thinkers must have feit a desperate disproportion between
their attempt to defend reason on the one hand, and the reality of a
dc-humanized world on the other. I rather believe that in both
cases an undissolved residue of the philosophical tradition, which
they criticized, was operative in their thinking and forced them
'i into paradoxical constructions.
Let me, then, try to clarify some of those Kantian presuppositions
which I think prevented Arendt from pursuing the internal rela-
tions between judgement and rational argument. Moreover, I
wish to indicate how this relationship may be understood, once
those presuppositions are questioned.
J
P

II.

I Kant, as Arendt has pointed out, uses the term »reflective judge­
ment« in a rather broad sense. It can only somewhat deceptively
be rendered by the usual definition, according to which reflective
judgement allows us to find a universal or a universal rule under
which a given particular can be subsumed. This definition has the
advantage, though, that it points to the role of Imagination in
reflective judgement. It therefore indicates the Creative dimension
of language use which is always involved when we have to find
appropriate descriptions, words, problem-formulations, explana-
tions or rules to fit a given Situation and which do not lic ready at
hand when we start to reflect on such situations. It seems, how-
ever, that Kant did not really pursue this line of thinking, which is
suggested by his definition of reflective judgement, very far. And
it might well be the case that to pursue it seriously would under-
mine the conceptual framework of a philosophy of consciousness.
In the decisive passages of the Critique of Judgement reflective
judgement in its broader sense is related to what Kant calls an
|r-
S; ;
»enlarged mind«; the »maxim« of judgement is »to think from the
standpoint of everyone eise«, or, as he also puts it, to »reflect upon
one’s own judgement from a universal standpoint«. Both quota-
tions are from the § 40 of the Critique ofJudgement on »Taste as a
kind of sensus communis«, which became central to Arendt’s re-
flections on political judgement. I want to quote one of the crucial
passages at length:

316
»However, by the name sensus communis is to bc undcrstood the idca of a
public sense, i.e. a critical faculty which in its reflective act takcs account (a
priori) of the mode of representation of everyone eise, in order, as it were,
to weigh its judgement with the collective reason of mankind, and thereby
avoid the illusion arising from subjective and personal conditions which
would readily be taken for objective, an illusion that would exert a preju-
dicial influence upon its judgement. This is accomplished by weighing the
judgement, not so much with actual, as rather with the merely possible,
judgements of others, and by putting ourselves in the position of everyone
eise, as the result of a mere abstraction from the limitations which contin-
gently affect our own estimate.«4
That Kant does not only refer to aesthetic judgement here, be-
comes clear from other remarks in the same paragraph, but also
from remarks he made in letters to Markus Herz, from which
Arendt has quoted in her lectures on Kant’s political philosophy.
I want to give one of these quotations, in which Kant even hints at
something like a dialcctical progress in argumentation:
»You know that I do not approach reasonable objcctions with the inten-
tion merely of refuting them, but that in thinking them over I always
wcave them into my judgements, and afford them the opportunity of over-,
turning all my most cherished beliefs. I entertain the hope that by thus
viewing my judgements impartially from the standpoint of others some
third view that will improve upon my previous insight may be obtainablc.«5

4 I. Kant, The Critique of Judgement (transl. J. C. Meredith), Oxford:


Clarendon Press 1952, p. 151; dt.: Kritik der Urteilskraft, Werke, Bd. 5
(Hg. W. Weischedel), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
1959, S. 389 (»Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines
gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens verstehen,
welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Ge­
danken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte
Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu
entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für ob­
jektiv gehalten werden konnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß
haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an
anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile
hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von
den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise
anhängen, abstrahiert.«)
5 Quoted from H. Arendt, Lectures on Kant's Political Philosophy, ed. by
R. Beiner. Chicago: The University of Chicago Press 1982, p.42; dt.:
Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie (Hg. R. Beiner),
München: Piper 1985, S. 59. (Siehe Kant's Briefwechsel, Bd. 1, Kant's

3’7
Here wc have thc germ of a notion of reflcctive judgement which
would be intimately related to a conception of rational argumen-
tation, potentially covering the whole field of possible intersub-
jectivc validity Claims. But Arendt did not draw this conclusion,
and in this, as we shall see, she was faithful to Kant, even against
his own explicit intentions. But let us first corne back to Arendt.
The autonomy of judgement as she conceives it is articulated in
« terms of a sharp Opposition between thinking and judging, on the
one side, and Cognition and truth, on the other. »Truth«, Arendt
i writes, »is what we are compelled to admit by the nature either of
our senses or of our brain.«6 This Statement is amazingly in
accord with modern mainstream epistemology, even if in natura-
I listic disguise. The »brain« Stands for logical deduction and de-
i monstration, the »senses« for empirical evidcnce or sensual
Intuition. This is the monological conception of Cognition and
! rationality, which runs through modern philosophy from early
empiricism via Kant to Husserl, to the early Wittgenstein and
twentieth Century empiricism. As everything of importance for
her lies outside this sphere of Cognition and truth, Arendt does
not even care aboüt sticking to a transcendental formulation of
this position. What Arendt accepts above all from thc cpistemolog-
ical tradition of modern philosophy, is the model of a singulär
cognitive subject (or organism) confronting an external world
which leaves its imprints in the internal representations of this
subject, the corresponding primacy of Cognition over language,

k and the idea of rational compulsion or logical proof. The problem


with this set of premises is that they are philosophically mistaken,
because, to put it in a nutshell, they ignore the fact that even our
senses and our brain are symbolically structured and thus part of
h■ an intersubjective world opened up by speech. Therefore not even

Gesammelte Schriften, Bd. X (Hg. Königlich Preußische Akademie der


Wissenschaften), Berlin/Leipzig: de Gruyter 1922, S. n6f.: »Daß ver­
nünftige Einwürfe von mir nicht blos von der Seite angesehen werden
wie sie zu wicderlegen seyn könten sondern daß ich sie jederzeit beym
Nachdenken unter meine Urtheile webe und ihnen das Recht lasse alle
V vorgefaßte Meinungen die ich sonst beliebt hatte über den Haufen zu
.1 werfen, das wissen sie. Ich hoffe immer dadurch daß ich meine Urtheile
aus dem Standpunkte anderer unpartheyisch ansehe etwas drittes her­
auszubekommen was besser ist als mein vorigtes.«)
6 H. Arendt, Thinking, loc. cit., p. 61; dt.: Das Denken, a.a.O., S. 70.

318
cognition in Arendt’s sense - i.e. scientific Cognition - can be
understood in tcrms of the compelling force of unintcrpreted in-
tuitions or the compelling force of a worldless, i.e. specchless
logic. This much has certainly bccome clcar in the often puzzling
debate about paradigm shifts in Science. Since Arendt accepts a
questionable epistemological model of cognition from the philo-
sophical tradition, she must locate the human world, i.e. the
common world of men opened up by Speech, the world of politics
and poetry, of thinking and judging, beyond or above the sphere
of cognition. But this is again something like a world of action
beyond or above a sphere of labour and work. More importantly,
since the strategically crucial concepts of truth and rational com-
pulsion have been handed over, as it were, to the extraworldly
subjects of cognition, those rational activities, which for Arendt
are the truly humane ones - thinking and judging -, can only be
characterized by a series of negations: Thinking has no definite
rcsults (as cognition has), it is destructive (rather than construc-
tive); judgement is not compelling (as truth is) and is not arrived at
by moving within a rule governed calculus (as logical conclusions
are). What Arendt fails to see, however, is that with these negative
characterizations of thinking and judging not only a legitimate
boundary line has been drawn with respect to scientific and in­
strumental rationality, but that the whole field of conceptions,
which we need to articulate an idea of discursive reason, has been
ceded to Science and technology, which in fact had occupied this
whole field of conceptions in modern times. The Opposition of
»meaning« versus »truth«, on which Arendt relies to reclaim the
idea of reason for the field of thinking and for the field of human
affairs, is not sufficient to mark a distinction between poetry and
discursive reason, between good and bad judgement, or between
the merely excentric and the intersubjectively valid.
Arendt accused Kant of using the notion of truth in the field of
speculative reason, thereby assimilating thinking to truth. Some­
thing similar could have been said by the early Wittgenstein and,
obviously, by Heidegger or Jaspers. And certainly Arendt was
right in pointing to an inconsistency in Kant’s thought: given his
conception of knowledge, his idea of a future System of meta-
physics appears as a scientistic aberration. Criticizing Kant,
Arendt remains faithful to his concept of cognition and to his
formal conception of rationality. These Kantian conceptions of

319
Cognition and of rationality, however, also affect his - and
Arcndt’s - conccption of judgement. Since Kant conceives the
subjcct of cognition as well as thc subject of moral reasoning in a
monological way, therc is no real place for the cxcrcisc of judge­
ment - exccpt for a marginal or a transcendental one - within the
spheres of cognition and morality in Kant’s philosophy. Judging
as a cognitive or a moral subject for Kant is equivalent to »thin-
king from thc standpoint of everybody eise«. When we apply the
categories of pure understanding to sensuous phenomena or judge
our maxims in thc light of the Categorical Imperative, we eo ipso
think from a »universal standpoint« — the universal standpoint
being defined by the universal forms of cognition or the »form of
lawfulncss« of our maxims. Kant continues the passage concern-
ing the »sensus communis« which I have quoted above: »This (i.e.
the weighing of our judgements with the possible judgements of
others, A.W.)... is effectcd by so far as possible letting go the
clement of matter, i.e. of Sensation, in our general state of repre-
sentative activity, and confining attention to the formal peculiari-
ties of our representation or general state of representative
activity.«7 Although Kant already speaks here of aesthetic judge­
ment, the sentence indicates that thinking from a universal
standpoint is intimately connected for him with the distinction
between matter and form. The formal clement represents what is
not merely subjective and what therefore belongs to a universal
standpoint; in the case of empirieal cognition and of moral judge­
ment, however, the conformity to the universal form of thinking-
to the form of lawfulness - is brought about essentially by the
categories of pure understanding and the Categorical Imperative
respectively. In both cases, therefore, the faculty of judgement
could only play a subordinate or secondary role.
Arendt accepted the first part of Kant’s solution but not the se-
cond. As far as moral judgement is concerned, she was too clearly
aware that Kant’s formal-monological conception of moral judge­
ment cannot work as it Stands; and 1 think she had good reasons to
7 I. Kant, The Critique ofJudgement, loc. cit.; dt.: Kritik der Urteilskraft,
1 a.a.O., S. 389 f. (»Welches (d.h., daß man sein Urteil an anderer mög­
liche Urteile hält, A.W.) [...] dadurch bewirkt wird, daß man das, was
in dem Vorstellungszustande Materie, d.i. Empfindung ist, so viel mög­
lich wegläßt, und lediglich auf die formalen Eigentümlichkeiten seiner
Vorstellung, oder seines Vorstellungszustandes, Acht hat.«)

32O
> ’i
read Kant’s conception of reflcctive judgcmcnt back, as it were,
into his moral philosophy. Howevcr, shc then stuck to Kant’s
monological concept of cognition and his formal conception of
rationality, i.c. to the conceptual presuppositions in terms of
which Kant’s notion of rcflective judgement is articulated. There-
fore Arendt could not use the notion of rcflective judgement to
uncover a suppressed dialogical dimension of Kant’s conception
of practical reason, but only to assimilate moral - and political - I
judgement to aesthetic judgement. Arendt remains entrapped
within an epistemological framework, from the perspective of
which physical Science must appear as the paradigm of know-
ledge, physical facts as the paradigm of factuality and logical
demonstration as the paradigm of rational argument; correlati-
vely, the activities of thinking and judging must appear as lying
outside the sphere of cognition, truth and rational argument prop­
er. If truth is, »what we are compelled to admit by the naturc
eithcr of our senses or of our brain«, then truth is speechless,
beyond or below Speech, while thinking and judging, the truly
humane faculties, because they depend on speech, i.e. on a plural-
ity of human beings, are beyond truth.
Now Arendt, as is well known, always liked to start with sharp
analytical distinctions, and her distinction between a sphere of
cognition and truth, on the one hand, and the sphere of thinking
and judging, on the other, might be considered as just being one of
those analytical distinctions. Arendt hersclf wams us against hy-
postatizing this analytical distinction, when she points out that
the sphere of cognition itself is shot through with elements of
thinking and therefore, as one might conclude, cannot really cor-
respond to the monological concept of cognition which she takes
over from the epistemological tradition. On the other hand, one
might argue that there does exist an internal relationship between
the logic of modern natural Science, on the one hand, and a mono­
logical concept of cognition, on the other. The point, therefore,
would not be to dismiss Arendt’s distinctions altogether, but only
to look at them from a different perspective, which no longer
forces us to oppose the domains of thinking and judging - i.e. the
domain of human affairs and of critical thought - to the sphere of
rational argument proper through a series of negations. We could
takc the debate about paradigm shifts in Science as a starting point
for indicating such a new perspective. What this debate has shown

32»
is, — not that rclativism is truc even for Science, but - that even
physical Science does not correspond to that epistemological para-
digm linking truth and Cognition with calculative rationality,
which Arendt accepts - following a long tradition. However, if no
formal account can be given of rational argument even with re-
spect to physical Science, we may well turn the tables and try to
understand the peculiar rationality of Science from the vantage
point of a broader conception of rationality. Such a conception of
rationality would allow us to recognize the internal relationship
between different kinds of intersubjective validity claims - e.g.,
moral, aesthetic or scientific - and corresponding forms of argu-
mentation, and the internal relationships, by which the different
spheres of validity are also connected with each other. Rational
argumentation - what we call argumentation - rarely corresponds
in actuality to the model of deductive or inductive reasoning
(where ultimate premises are either given by Intuition, empirical
evidence, construction or mere fiat), which has been so widely
accepted as a model of rationality in modern philosophy. Argu­
ments always operate in contexts, which are not organizcd in a
linear, but in a holistic way. The compelling force of arguments is
therefore always dependent on contextual presuppositions which
themselves may be questioned as the argument goes on. This does
not only mean that rational discourse cannot rest on ultimate pre­
mises which in principle could not be questioned, but also, and
more specifically, that there are no universal and a priori criteria
of what would count as a good argument in specific contexts.
Moreover, arguments often have their own context of explication,
through which thcy attain their specific meaning and their specific
force, if they have any. This means, however, that an intersubjec­
tive System of fixed meanings, i.e. a common language, which for
the formalist tradition always was an unquestioned presupposi-
tion and a condition of the possibility of rational argument, may
be as much the result of rational discourse as it is its - always
partially realized - starting point. What the debate about para-
digm shifts in Science has shown is that the deductive or calcula­
tive model of reasoning collapses whenever the presupposition of
a stable and transparent intersubjective meaning System is put into
question. But this is precisely one of the points where argument
becomes necessary. Rational discourse, understood in this way -
and I think it is the way in which we do understand it when we

3“
begin to argue -, would not least be an attempt to restore an
intersubjective agreement which in the calculative model is always
taken for granted (or taken as something to be brought about
before we can begin to argue). Kuhn’s original distinction between
the rationality of »normal Science« and the somehow irrational,
rhetorical, or merely persuasive character of interparadigm de-
bates, still presupposes this calculative model of rationality. The
interesting parallel to Arendt is that again only negative characte-
rizations - as far as rationality is concerned - are available for the
description of a non-formalizable type of discourse.

in.
Once the presuppositions of the modern epistemological - empir-
icist-rationalist — tradition have been put into question, we can
begin to redefine the role of the faculty of judgement, since now a
broader conception of rationality will provide us with the missing
link between the notion of judgement and the idea of intersubjec-
tive agreement. A philosophical strategy like this also underlies
Habermas’ theory of discursive rationality. If the validity of
judgements could be explained in the Habermasian sense as the
possibility of a consensus brought about by arguments, then the
faculty of judgement would just be the faculty to hit upon what
also could be agreed upon in a rational consensus; and this faculty
would certainly be inexplicable without some internal relation­
ship to an ability to argue and dcliberate well. So the Aristotelian
Connection between phronesis and deliberation would have been
restored in a post-Kantian philosophical framework. I shall not,
however, follow Habermas directly. For I think it can be shown
that a procedural conception of rationality like that of Habermas,
linked to a consensus theory of truth, ultimately requires the re-
introduction of an autonomous faculty of judgement to become
intelligible: a consensus brought about under conditions of an
ideal speech-situation can be a criterion of truth only, if a suffi-
ciently devcloped faculty of judgement of all participants is pre-
supposed. Of course, it might be suspected, then, that it is the
very attempt to set up a formal Standard of intersubjective validity
which gives rise to the postulate of an autonomous faculty of
judgement - as it did already for Kant. If we want to prevent the
whole problem from re-emerging, as it were, behind our back, we
I

323
would therefore have to give up the attempt to ground the idea of
rationality in some sort of formal-universal Standard of intersub-
jective validity. The same point could also be put in a positive
way: we could now understand the faculty of judgement as a
place-holder for a conception of rationality and of intersiibjective
validity respectively, for which no Overall formal criterion and no
overall formal explanation can be given. It seems to me that this
would be in fact the only viable conception of rationality, indis-
tinguishablc from that of discursive reason. This, to be sure, is an
idea of discursive reason which can only be understood and prac­
ticed from within, from wherever we happen to be, with the
Standards, criteria and arguments which are available to «s, while
I we know these Standards, criteria and arguments may be question-
ed - although we may have no reason to question them — as time
goes on. The only criteria of validity we have are those we happen
to have, inherited from an existing culture of reason. The next day
may well show us that the only rational thing is to abandon or
modify some of them; however, there can be no outside criterion
of truth and we don’t need any. Needless to say, this has nothing
to do with relativism, since the idea of intersubjective validity is
still tied to that of a rational agreement. This idea of a rational
agreement, however, no longer refers to a point outside history or
at the end of history. Discursive reason only exists as »situated«
reason, to use Benhabib’s expression, and this pertains to its unit-
ing and reconciling as well as to its disruptive and subversive
force. If, however, we conceive reason or rationality in the broad
sense I have suggested and yet allow it to be »situated«, then the
faculty of judgement loses its independent Status as well as some
of its mysterious character; it would simply be a faculty to hit
upon the truth in situations where it is not easy to do so, or where
- depending on the Situation - experience, character, imagination,
or courage is required. The goodness of judgement, however,
could only prove itself by a judgement’s being confirmed through
either experience, or arguments, or - connected with these two -
the independent judgement of others. Disregarding for a moment
Kant’s distinction between reflective and determinant judgement
- the latter being, I would claim, basically a matter of know-how
in about the sense in which rule-following is for Wittgenstein -,
the decisive point could be put as follows: If we say of somebody
that he or she has good judgement - about the character of per-

f 324
sons, in political matters, in mattcrs of art, with rcgard to moral or
practical problems or as a legal or medical expert -, we are imply-
ing that his or her judgement has proven to be right either in a
particular instance or in rnany cases. We say this, judging some-
body’s judgement, after having convinced ourselves in quite ordi-
nary ways that he or she has often been right, has often analyzed
complex situations in the right way, has often seen at once what
nobody eise could see, or has often come up with the right argu-
ment at the right time. This certainly is a faculty, the value of
which cannot be overestimated, a faculty, moreover, which
Arendt herseif seems to have had in an extraordinary degree with
respect to political and moral matters. But we can call it an auto-
nomous faculty in Arendt’s sense only if we dissociate it from its
natural context of rational argumentation. Good judgements must
have the internal capacity of revealing themselves as good and to
convince »everybody eise«.
This brings me back to my initial reflcctions on the Status of the
faculty of judgement in Arendt’s thcory. How do we explain the
functioning of judgement when a context of rational argumenta­
tion no longer exists? Or, to put it in more general terms: how do
we account for the fact that the practical power of rational argu-
ment can sometimes be very limited indeed, so that valid judge­
ments may not convince anybody? Here, I think, the response
must be the following: Why do we call these judgements valid? Is
it not because they convinced «s? I think there is nothing myste-
rious in somebody’s hitting upon the truth or doing the right
thing while others are unable to see that this is the truth or that this
is the right thing - either because they lack courage, Imagination,
or expericnce, or because their whole form of life has been cor-
rupted. Stupidity, cowardice, self-deception and irrationality are
as much elements of human life as the faculty of reason; we do not
need to postulate an autonomous faculty of judgement to account 1
for the fact that the formet do not always win over. What we do !
need, and here I agree with Beiner - as well as with Arendt and
Kant are institutional conditions under which everybody has a
chance to develop his or her political, moral, or aesthetic judge­
ment; for these are the only conditions under which a political,
moral, or aesthetic culture can exist, and therefore the only soil, as
it were, from which good judgement may still spring in those
moments when the world is in shambles.

3*5
IV.

As a conclusion, I want to illustrate my main argument by saying


something about moral judgemcnt and moral discourse. I want to
show how from a Kantian starting point in moral philosophy one
could give an account of moral judgement, which might be consid-
ered as — if I may use this term - a »rational reconstruction« of
Arendt’s attempt to read a conception of »moral taste« into Kant’s
idea of the functioning of practical reason. Kant’s moral philoso­
phy may be summed up by the following Statement: »We must be
able to will that a maxim of our action should become a universal
law — this is the canon for all moral judgement of action.«8 Now
I think that Kant’s principle of moral judgement makes sense
only, if we understand it in a »negative« way: We ought not to act
in a certain way if we cannot will the maxim of our action to
become a universal law.9 Thus, we ought not to teil a lie to get
out of a difficult Situation, because the corresponding maxim can­
not be universalized (i.e. I cannot will it to become a universal
law). This is a very simple idea indeed, which Kant thought, with
good reasons, every ordinary human being could grasp. Because
of his tendency to give his moral philosophy a formalistic twist,
however, Kant did not pay much attention to the fact that the
right application of his formalprinciple of morality in more com-
plex situations cannot be a matter of course. That is, Kant

r dismissed the problem of the possible intersubjective validity of


our moral judgements, because here, as always, he took theformal
criterion at the same time to be a criterion of intersubjective valid­
ity: Applying the Categorical Imperative, I am judging - as a
noumenal Ego - from a universal standpoint. What may be called
the rigid formalism of Kantian ethics, which comes to the fore,
for example, in his discussion of an »alleged right to lie for phil-

8 I. Kant, Groundwork of the Metaphysics of Morals (transl. H.J.


i
Paton), New York: Harper & Row 1964, p.91; dt.: Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten, Werke, a.a.O., Bd. 4, S. 54 (»Man muß wollen
können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz
werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben über­
= haupt.«)
9 See A.Wellmer, Ethik und Dialog, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1986, p. 21 ff.

326
anthropic reasons«,10 is the direct expression of this prcsupposi-
tion.
Now if we takc the »negativistic« intcrpretation of the Categorical
Imperative, which I have suggested, for grantcd, the problem of
moral judgement as it has been left open by Kant could be stated
in the following way: In complex situations, or in situations, in
which our moral judgement is not unambiguously supportcd by
an existing moral culture, it may not be obvious which maxims -
or which ways-of-acting-in-this-situation - are not universaliz-
able in an intersubjective sense of the word. A maxim’s not being
universalizable in an intersubjective sense of the word means that
we cannot will it to become a universal law. Which ways of acting
l cannot will to become a universal law, depends on how I de-
scribc a specific Situation and the alternatives of action open to
me; for example, it makes a tremendous differcnce whether I de-
scribe a specific action as handing over a fugitive person to the
legal authorities, who are searching for him, or whether I describe
it as abandoning a helpless and innocent person to a band of ter-
rorists, called police. Both descriptions can be the right ones,
depending on the Situation. But in a specific Situation at most one
of them can be the right one. Depending on the description I
choose, the particular way of acting, which is at stäke, will be or
will not be universalizable for me. This shows, however, that the
problem of moral judgement is not so much a problem of univer-
salization as such, >but rather a problem of getting the relevant
facts of the Situation right; i.e. of interpreting the Situation as well
as the available alternatives of action in the right way. The right
way would be the way in which »everybody eise«, who tries to
form an impartial judgement, would Interpret this Situation. I
mention only in passing, that an Interpretation of a Situation of
action can obviously be the right one only if it takes the different
perspectives of the concrete actors involved into account. Pösing
the problem of the intersubjective validity of moral judgement
therefore also makes the suppressed dialogical dimension of Kan-
tian ethics visible.
However, what I want to point to mainly is: (1) that if we see a
Situation of action in the right way, we usually have no choice,

10 I. Kant, »Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen»,


in: Werke, a.a.O., Bd.4, pp. 637-643.

327
morally spcaking; (2) that we can and do argue about whether the
interpretation of specific situations is the right one; and (3) that
moral discourse takes place to a large extent as discourse about the
»facts« in the widest possible sense. Again we nced not be worried
about the fact that there are no ultimatc criteria of what the right
description of a Situation of action would be; as long as we are in
situations (and not philosophizing), we usually know quite well
how to go about arguing for or against certain interpretations,
although there are also cases, where things are so complicated that
we may be unable to make up our mind. Practically speaking,
there are, of course, Ümits of rational argument; but, as Bciner has
pointed out, we cannot consider these practical Ümits of rational
argument as limits in principle as long as we distinguish between
true and false and think that we do have arguments. I want, how-
ever, to point to one specific limit of rational argument which, I
think, might have induced Arendt to postulate an autonomous
faculty of judgement. I think that all of us, or at least most of us,
sometimes close our eyes to the facts of a Situation, project our
idiosyncratic conditions upon the other, are unable - for lack of
Imagination or good will - to take the perspective of the other into
account, or are unaware of our own motivations. What can pre-
vent this from happening on a large scale or even collectively, is a
moral culture which certainly also requires good institutions.
Now in many of the cases I have mcntioned rational argument
does not work because we do not want to recognize the truth.
This not wanting to recognize the truth, however, goes well to-
/ gether with what I would call moral self-interest, i.e. the interest
of having a good moral opinion of ourselves. The false generalities
and social cliches, which Arendt was criticizing, may often act as a
I. mediating link between this moral self-interest and interested self-
deception. But where this happens, we will consider ways of act-
ing as universalizable, which we could not consider as such if we
dared to acknowledge or if we seriously tried to find out the facts
- the facts about the other, about ourselves, about the context of
our action, etc. That rational argument may not work in such
situations, is due to the fact, that rational argument always can
only work under certain preconditions: experience and know-
ledge in the case of the physicist or physician, aesthetic education
and experience in the case of art, and moral character or sincerity
in the case of moral discourse. And, needless to say, these are

3z8
preconditions which certainly cannot bc brought about by ratio­
nal argument alone: they are rather thc practical results of a
scientific, aesthetic or moral cuiture. Such a culture might bc call-
ed a »culturc of rcason«11 inasmuch as discursive rationality
becomes the dement in which it moves and develops. Now as far
as moral character is concerned, it may often remain morc or less
invisiblc undcr normal conditions of social Integration. It be­
comes visible only under extreme conditions. I think this is what
Arendt really refers to when she Claims that thc faculty of judge-
ment emerges as an autonomous faculty »when the stakes are on
the table«.12 What really may become visible in such situations,
then, is not a faculty of judgement as an autonomous mental fa­
culty, but what kind of person somebody really is; for it shows
itself only, when good judgement has its price.
This, then, is the way in which a formal principle of morality may
coexist with an account of morality in terms of »moral taste«, i.e.
in terms of reflective judgement: The formal principle - a prin­
ciple of generalization - defines the moral point of view, from
which we look at situations of action. But whether the »I can
will...« is also a »we can will...«, i.e. whether my moral judge-
ments can claim intersubjective validity, depends on whether my
interpretations of situations of action are the right ones. Only if
they are the right ones, if they could be shared by »everybody
eise«, can they lead to valid moral judgements. A well developed
faculty of judgement is certainly of immense importancc in moral
as well as political matters. But it is not an addition to, but rather
an expression of what we might call the »faculty« of discursive
reason.

11 See F. Kambartel, »Vernunft: Kriterium oder Kultur?«, in: F. Kambar­


tel, Philosophie der humanen Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.
12 H. Arendt, Thinking, loc. cit., p. 193; dt.: Das Denken, a.a.O., S. 192.

32 9
Nachweise

1. »Freiheitsmodelle in der modernen Welt« ist die überarbeitete deut­


sche Fassung eines zuerst auf englisch veröffentlichten Aufsatzes, der
unter dem Titel »Models of Freedom in the Modern World« in: The
Philosophical Forum., Bd.xxi, Nr. 1-2, Herbst/Winter 1989-90, er­
schienen ist. Wiederabdruck der englischen Fassung in Michael Kelly
(Hg.), Hermeneutic and Critical Theory in Ethics and Politics, Cam-
bridge/Mass. und London: MIT Press 1990.
2. »Bedingungen einer demokratischen Kultur« ist die Druckfassung
eines Vortrags, den ich im Mai 1992 beim Kongreß über »Gemein­
schaft und Gerechtigkeit« in Frankfurt am Main gehalten habe. Erst­
veröffentlichung in: Hauke Brunkhorst und Micha Brumlik (Hg.),
Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt: Fischer 1993. Für den
Wiederabdruck in diesem Band habe ich den Schlußteil des Aufsatzes
revidiert.
3. »Bedeutet das Ende des »realen Sozialismus« auch das Ende des Marx-
schen Humanismus? Zwölf Thesen«. Beitrag zu der Podiumsdiskus­
sion: »Wissenschaft und Lebenswelt in der Krise. Ende des Marxschen
Humanismus?« aus Anlaß des Husserl-Schütz-Symposions »Gelehr­
tenrepublik und Lebenswelt« vom 15.-17. November 1990 in Wien.
Erschienen in: A. Bäumer/M. Benedikt (Hg.), Gelehrtenrepublik-Le ­
henswelt. Edmund Husserl und Alfred Schütz in der Krisis der phäno­
menologischen Bewegung, Wien: Passagen 1993.
4- »Naturrecht und praktische Vernunft. Zur aporetischen Entfaltung ei­
nes Problems bei Kant, Hegel und Marx«, bereits 1978 geschrieben,
aber erst 1986 in: Emil Angehrn und Georg Lohmann (Hg.), Ethik
und Marx, Königstein/Ts.: Athenäum, veröffentlicht, war ursprüng­
lich geplant als erster Teil einer Abhandlung über »Ethik und Kritische
Theorie«; anstelle des zweiten Teils entstand dann eine eigenständige
Abhandlung Ethik und Dialog (Frankfurt: Suhrkamp 1986). Vgl. im
übrigen das Vorwort zu diesem Band sowie die Fußnote S. 95.
5. »Wahrheit, Kontingenz, Moderne« ist die deutsche Fassung eines Vor­
trags, den ich unter dem Titel »Truth, Contingency and Modernity« im
Mai 1991 bei einem Symposium über »Universals/Essentials« an der
Universität Chicago und im Dezember 1991 bei einem Symposium
über »A new, very new Idea of »Aufklärung«?« in Utrecht gehalten
habe. Die englische Fassung ist erschienen in: Modem Philology, May
Supplement 1993, die deutsche Fassung in: H. Kunneman und H. de
Vries (Hg.), Enlightenments. Encounters between Critical Theory and
Recent French Thought, Kämpen: Kok/Pharos 1993.
6. »Adorno, die Moderne und das Erhabene« ist die Ausarbeitung eines

330
1

Vortrags, den ich im Dezember 1989 bei einer Tagung über »Zeit der
Ästhetik« an der Universität in Hamburg sowie im Mai 1990 bei einem
Symposium »Moderne versus Postmoderne - Zur ästhetischen Theorie
und Praxis in den Künsten« im Rahmen der 2. Münchner Biennale
vorgetragen habe. Aus beiden Veranstaltungen gingen Veröffentlichun­
gen hervor, in denen der Vortrag abgedruckt wurde (Jahrbuch der
Bayerischen Akademie der Künste, Bd.4, Schaftlach: Oreos 1990;
Ch. Pries und W. Welsch (Hg.), Ästhetik im Widerstreit, Weinheim:
VCH Acta Humaniora 1991).
7. »Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes« war mein Beitrag zum
Stuttgarter Hegel-Kongreß vom 18.-21.Juni 1987. Erstveröffent­
lichung in: Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Stutt­
garter Hegelkongrcß 1987 »Metaphysik nach Kant?*, Stuttgart
1988.
8. »Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. Fünf Thesen« war mein
Beitrag zu einer Podiumsdiskussion im Rahmen eines Symposiums der
Alexander von Humboldt-Stiftung über »Die Frankfurter Schule und
die Folgen« vom 10.-15. Dezember 1984 in Ludwigsburg. Erstveröf­
fentlichung in: Axel Honneth und Albrecht Wellmer (Hg.), Die
Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin/New York: de Gruyter 1986.
9. »Ludwig Wittgenstein - Über die Schwierigkeiten einer Rezeption sei­
ner Philosophie und ihre Stellung zur Philosophie Adornos« wurde
für ein Symposium an der Universität Frankfurt anläßlich des hundert­
sten Geburtstags von Ludwig Wittgenstein (27.-29. April 1989) ge­
schrieben. Veröffentlicht in: Brian McGuinness u.a., »Der Löwe
spricht... und wir können ihn nicht verstehen*, Frankfurt: Suhrkamp
1991.
10. »Der Mythos vom leidenden und werdenden Gott. Fragen an Hans
Jonas« war mein Beitrag zu einem religionsphilosophischen Kollo­
quium an der Freien Universität Berlin, das am 12. Juni 1992 aus Anlaß
der Verleihung der Würde eines Ehrendoktors an Hans Jonas stattfand.
Der Beitrag erschien außerdem in: D. Böhler (Hg.), Verstehen und
Verantworten. Im Dialog mit Hans Jonas, München: C. H. Beck 1994.
11. »Architektur und Territorium« ist die leicht revidierte deutsche Fas­
sung eines Vortrags, den ich im Juni 1988 unter dem Titel »Architec-
ture and Territory« bei einem gleichnamigen Symposium von Archi­
tekten nördlich des Polarkreises in Tromso gehalten habe. Die
englische Fassung erscheint demnächst in: N. Mjaaland (Hg.), Archi-
tecture and Territory, Tromso.
12. »Terrorismus und Gesellschaftskritik« ist die revidierte und erweiterte
Fassung eines Vortrags, den ich im Mai 1978 bei einer vom Philosophi­
schen Seminar der Universität Heidelberg initiierten öffentlichen Dis­
kussionsveranstaltung über »Terrorismus und Gesellschaftskritik«
gehalten habe. Erstveröffentlichung in: Jürgen Habermas (Hg.), Stich-

331
worte zur »Geistigen Situation der Zeit<t Bd. i, Frankfurt: Suhrkamp
*979-
13. »Hannah Arendt on Judgement: The Unwritten Doctrine of Reason«
ist mein Beitrag zu einem Hannah Arendt Memorial Symposium über
»Political Judgement*, das im Oktober 1985 an der New School for
Social Research in New York stattfand. Vgl. auch das Vorwort zu die­
sem Band.

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332
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