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I
suhrkamp taschenbuch
Wissenschaft 1095
Die Idee einer postmetaphysischen Moderne ist das gemeinsame Thema
der in diesem Band enthaltenen Arbeiten Albrecht Wellmers aus den letz
ten fünfzehn Jahren. Die geschichtlichen Utopien in der Manischen
Tradition sind ebenso wie die Letztbegründungsprogramme in der Kanti-
schen Tradition Endspiele innerhalb der Metaphysik, die Dekonstruktio-
nen dieser Utopien und Letztbegründungsprogramme sind Endspiele mit
der Metaphysik. Und das Spiel mit dem Ende als einem letzten Telos - der ■
Geschichte, der Erkenntnis, des menschlichen Lebens - ist die Metaphy
sik. Beckett hat das Ende dieses Spiels mit dem Ende als Spiel inszeniert,
eben als Endspiel; der Plural im Titel dieses Bandes steht nicht nur für die
Pluralität der oben genannten Assoziationen, sondern auch für die Tatsa
che, daß das Endspiel mit der Metaphysik, wo es philosophisch gespielt
wird, nur im Plural gedacht werden kann: es hat vorerst kein absehbares
Ende. Das Beiwort »unversöhnlich« im Untertitel enthält eine Kritik und
zugleich eine Hommage an Adorno. In seinem Werk koexistieren die drei
eingangs genannten Arten von Endspielen in den komplexesten Konstel
lationen schiedlich-unfriedlich miteinander.
Albrecht Wellmer, geb. 1933, ab 1974 Professor für Philosophie an der
Universität Konstanz, seit 1990 an der Freien Universität Berlin. In der
Reihe Suhrkamp taschenbuch Wissenschaft hat er bereits veröffentlicht:
Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach
Adorno (stw 532); Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei
Kant und in der Diskursethik (stw 578).
Albrecht Wellmer
Endspiele:
Die unversöhnliche Moderne
Essays und Vorträge
Suhrkamp
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Wellmer, Albrecht:
Endspiele: die unversöhnliche Moderne :
Essays und Vorträge /
Albrecht Wellmer. -
2. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp 1999
(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1095)
ISBN 3-518-28695-1
NE: GT
2 3 4 S 6 7 - 04 03 02 01 00 99
Inhalt
Vorwort 9
III. ZEIT-BILDER
ANHANG
. I ■
■
Vorwort
9
politischen Philosophie, gewissermaßen das Korrelat meiner
Überlegungen zur Moralphilosophie in Ethik und Dialog (Frank
furt 1986). »Freiheitsmodelle in der modernen Welt« ist mein
Versuch, den internen Zusammenhang zwischen liberalen Grund
rechten und moderner Demokratie und hierin zugleich das Span
nungsverhältnis zwischen »negativer« und »kommunikativer«
Freiheit aufzuweisen. Dieser 1989 geschriebene Aufsatz enthält
u. a. eine Auseinandersetzung mit älteren Positionen von Haber
mas, die sich mit der Publikation von Habermas’ Faktizität und
Geltung nur scheinbar erledigt hat. Leider lassen sich in einer
Vorbemerkung die Punkte nicht aufführen, an denen sich meine
Einwände nicht erledigt haben (sie betreffen vor allem Habermas’
Vertrauen in die systematische Kraft des »Diskursprinzips«; ich
habe sie in zwei Fußnoten zu den ersten beiden Aufsätzen ange
deutet). »Bedingungen einer demokratischen Kultur« nimmt Mo
tive des älteren Aufsatzes, wenngleich unter veränderten Frage
stellungen, wieder auf; neu ist der Versuch, auf normative
Konsequenzen hinzuweisen, die sich aus dem internen Zusam
menhang zwischen Menschen- und Bürgerrechten ergeben. In
den zwölf Thesen zum Thema »Bedeutet das Ende des >realen
Sozialismus» auch das Ende des Marxschen Humanismus?« habe
ich Grundmotive der vorangehenden Aufsätze in einem etwas di
rekter zeitgeschichtlich-politischen Sinne in eine Kritik des Marx
schen Humanismus umgesetzt. Im Zusammenhang der drei eben
genannten Arbeiten stellt der bereits 1978 entstandene Aufsatz
»Naturrecht und praktische Vernunft« eher eine Vorarbeit dar,
von der ich mich heute in einigen ihrer Prämissen distanziere; ich
habe den Aufsatz deshalb mit aufgenommen, weil ich ihn in sei
nen kritischen Resultaten und einer Reihe von Detailanalysen
immer noch als Hintergrund meiner späteren Überlegungen gel
ten lassen möchte.
Der Teil 11 - »Nachmetaphysische Perspektiven« - enthält drei der
eingangs erwähnten Arbeiten (Nr. 6, 7 und 8), in denen ich versu
che, mich kritisch und konstruktiv mit Grundmotiven Adornos
auseinanderzusetzen. In »Adorno, die Moderne und das Erha
bene« steht eher die Ästhetische Theorie, in »Metaphysik im
Augenblick ihres Sturzes« eher die Negative Dialektik im Zen
trum. In den Thesen zum Thema »Die Bedeutung der Frankfurter
Schule heute« habe ich Vermutungen über ein »rationalitätstheo
retisches« Potential von Adornos Analysen formuliert, denen ich
10
in anderen Arbeiten bislang nur sporadisch und indirekt nachge
gangen bin, auf die ich aber an anderer Stelle zurückzukommen
hoffe. Der erste Aufsatz des Teils n, »Wahrheit, Kontingenz, Mo
derne«, enthält schließlich den Versuch einer wechselseitigen Kri
tik von Rorty auf der einen Seite und Apel/Habcrmas auf der
anderen, bei der es zugleich um das Problem eines postmetaphy
sischen Wahrheitsverständnisses und die Grundlagen einer libera
len Kultur ohne letzte Grundlagen geht.
Den Zeit-Bildern des Teils in liegen Beiträge zu speziellen Gele
genheiten zugrunde, denen ihr Gelegenheitscharakter deutlich
. anzumerken ist. Sic sind thematisch untereinander heterogen, va
riieren aber sämtlich Grundmotive der Arbeiten aus Teil i und II.
Als Anhang habe ich eine ältere, auf Englisch geschriebene und
bisher nicht übersetzte Arbeit über Hannah Arendt in der Origi
nalfassung aufgenommen; zum einen, weil sie thematisch in den
Kontext der hier abgedruckten Arbeiten (insbes. Essays i, z und
5) gehört, zum anderen, weil ich die große Bedeutung, die Han
nah Arendts politische Philosophie für mich gehabt hat, in keinem
der vorangehenden Aufsätze gebührend gewürdigt habe - so
wollte ich ihr hier wenigstens einen kritischen Artikel widmen;
und schließlich habe ich noch ein sehr persönliches Motiv: Unter
meinen drei früheren Lehrern bzw. Kollegen aus der Generation
der jüdischen Emigranten (Adorno war einer meiner Lehrer,
Hans Jonas und Hannah Arendt waren eine kurze Zeit lang meine
älteren Kollegen an der New School for Social Research in New
York) habe ich Hannah Arendt, was die in der Person unmittelbar
faßbare intellektuelle und moralisch-politische Physiognomie be
trifft, am meisten bewundert; deshalb sollte sie in einem Band, in
dem ich mich auf Adorno extensiv und auf Jonas wenigstens in
einem kleinen Artikel beziehe, nicht fehlen.
Aufsätze zur Sprachphilosophie habe ich in diesen Band nicht
aufgenommen. Ich habe vor, sie in näherer Zukunft zusammen
mit ein oder zwei neueren Arbeiten in einem weiteren Sammel
band abzudrucken.
Mein besonderer Dank gilt Ina Gumbel, die nicht nur unermüd
lich und zuverlässig die Texte geschrieben und neugeschrieben,
sondern auch in kritischen Phasen die Nerven behalten hat.
II
I.
Negative und kommunikative Freiheit
„i.___ ■ i
i. Freiheitsmodelle in der modernen Welt
>5
Individuen, sondern (positiv) als eine normativ ausgezeichnete
Form des Lebens von Individuen-in-Gescllschaft. Kommunale
Freiheit ist in einem wesentlichen Sinne öffentliche Freiheit; in der
Tradition der Aufklärung war es vor allem der Begriff der Ver
nunft, der die zentrale normierende Rolle beim Übergang von
einem (bloß) negativen zu einem positiven, kommunalistischcn
Freiheitsbegriff gespielt hat.
Individualistische und kommunalistischc Freiheitsverständnisse
erscheinen in der modernen politischen Philosophie durchaus
nicht immer als polare Gegensätze. Häufig verhalten sie sich viel
mehr komplementär zueinander, so etwa in den Theorien von
Hegel, Mill und Tocqueville. Radikaler Individualismus und radi
kaler Kommunalismus sind eher Grenzfälle; vielleicht könnte
man Robert Nozick einen radikalen Individualisten und Lenin
einen radikalen Kommunalisten nennen. Für gewöhnlich führen
dagegen individualistische Theorien zum Begriff einer demokrati
schen Selbstorganisation der Gesellschaft (ein »kommunalisti-
sches« Element), während kommunalistische Theorien eo ipso
den Anspruch erheben müssen, individualistische Freiheitskon
zeptionen gleichsam auf ihrem eigenen Felde zu überbieten, das
heißt aber: in sich »aufzuheben«. Besonders deutlich wird dies am
Beispiel von Marx; dessen Idee eines Reichs der Freiheit ist die
kommunalistische Antizipation einer nahezu schrankenlosen
Freiheit der Individuen.
Prägnanter wird der Gegensatz zwischen Individualismus und
Kommunalismus, wenn man ihn als einen Gegensatz anthropolo
gischer Grundorientierungen begreift. Als solchen hat ihn etwa
Charles Taylor analysiert.2 Individualistische Theorien gehen
von einzelnen, gleichsam »vorsozialen« Individuen aus, denen sie
gewisse natürliche Rechte zuschreiben sowie die Fähigkeit zu
zweckrationalem bzw. strategisch-rationalem Handeln. Dement
sprechend verstehen solche Theorien politische Institutionen als
legitim, sofern sie als Resultat eines Vertrags zwischen gleichen
und freien Individuen gedacht werden können. Freiheit ist hier
verstanden als die Freiheit zu tun, was ich tun will - was immer es
ist, das ich tun will -, und natürliche Rechte lassen sich verstehen
im Sinne von Kants Definition des Rechts in der Einleitung zur
i6
Rechtslehre der Metaphysik der Sitten: »Eine jede Handlung ist
recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines
jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze
zusammen bestehen kann.«3 Freiheit im Sinne von Kants »Frei
heit der Willkür« wird oft auch als Freiheit im negativen Sinne
oder als negative Freiheit bezeichnet. Negative Freiheit, begrenzt
durch allgemeine Gesetze, die eine gleiche Freiheit aller garantie
ren, ist der Grundgehalt natürlicher Rechte, während die Aufgabe
des Sozialvertrags in der Positivierung und institutionellen Absi
cherung solcher natürlichen Rechte besteht.
Kommunalistische Theorien stellen demgegenüber die anthropo
logische Grundprämisse der individualistischen Vertragskon
struktionen in Frage.'1 Der kommunalistischen Gegenthese
zufolge ist die Idee eines vorsoziaien, rational seine je zufälligen
Zwecke verfolgenden Individuums nicht nur eine pure Fiktion -
was die Individualisten wohl zugeben würden —, sondern unter
Gesichtspunkten der politischen Theoricbildung eine unangemes
sene und schlechte Fiktion. Wenn, so wird etwa ein Kommunalist
argumentieren, menschliche Individuen wesentlich soziale Indivi
duen sind, wenn ihre Individualität das Produkt ihrer Sozialisie
rung und nicht deren Ausgangspunkt ist; wenn die Kultur, die
Traditionen, die Lebensformen und die Institutionen einer Gesell
schaft konstitutiv für die Individualität der Individuen sind, dann
müssen die individualistischen Theorien das Verhältnis von Indi
viduum und Gesellschaft, von Subjektivität und Intersubjektivi
tät, und daher auch das Problem der Freiheit bereits in ihren
Grundprämissen verfehlen. Die kommunalistische Grundinten
tion ist, daß von individueller Freiheit überhaupt nicht geredet
werden kann außer durch einen internen und positiven Bezug auf
die Lebensformen und Institutionen einer Gesellschaft: Individu
elle Freiheit ist eine kommunal ermöglichte Freiheit in dem Sinne,
daß die anderen nicht bloß die Grenze, sondern auch die Bedin
gung der Möglichkeit meiner Freiheit sind. Der ursprüngliche Ort
der Freiheit wäre demnach nicht das vereinzelte Individuum, son
dern die Gesellschaft als Medium einer Individuierung durch
Sozialisierung; Freiheit wäre zu denken als etwas, das nicht nur —
3 I. Kant: Metaphysik der Sitten, in: Werke in sechs Bänden (Hg. W. Wei-
schedel), Bd. iv, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgescllschaft 1956,
S.337.
4 Vgl. Ch. Taylor, a.a.O.
>7
als negative Freiheit - durch Institutionen begrenzt, sondern das -
als positive Freiheit - durch die Institutionen, Praktiken und Le
bensformen einer Gesellschaft allererst ermöglicht und hervorge
bracht wird. Da aber der soziale Zusammenhang als der Ort
positiver Freiheit nur durch die Individuen, die sein Teil sind, am
Leben erhalten, »reproduziert«, interpretiert und fortgebildet
werden kann, erweisen sich nun individuelle und »öffentliche«
Freiheit als unlösbar miteinander verknüpft; und dies bedeutet,
wie Taylor zeigt, daß der Freiheitsbegriff einen normativen Gehalt
bekommt, den er in individualistischen Konzeptionen nicht ha
ben kann. Freiheit bezeichnet nicht mehr nur einen durch Rechte
definierten Handlungsspielraum, sondern eine normativ ausge
zeichnete Form des Umgangs mit sich selbst und mit anderen,
eine Fähigkeit, unter den möglichen - individuellen oder kollekti
ven - Zwecken die richtigen zu wählen; eine Freiheit, nicht nur zu
tun, was ich tun will, sondern auch zu wollen, was gut ist. Taylor
hat noch einmal sehr schön gezeigt, daß die Idee der - individuel
len oder kollektiven - Selbstbestimmung eine normative Distink
tion in sich bereits enthält: Selbstbestimmung meint vernünftige
Selbstbestimmung. Und hier kann das Wort »vernünftig« nicht
mehr nur »zweckrational« oder »strategisch rational« bedeuten
wie im individualistischen Modell; es bezeichnet vielmehr eine
deliberierende, reflektierende und kommunikative Vernunft, die
sich im rationalen Umgang mit intersubjektiven Geltungsansprü
chen aller Art manifestiert,5 im reflektierten Selbstverhältnis der
Individuen ebenso wie im öffentlichen Diskurs, in den morali
schen Urteilen der Individuen ebenso wie in den Formen gesell
schaftlicher Solidarität und politischer Entscheidungsfindung.
Für den Kommunalisten existiert auch die Vernunft nur als kom
munale, als kommunikative Vernunft; indem in den Ideen der
Freiheit und der Vernunft das intersubjektive, das kommunale
Element freigelegt wird, treten diese Ideen zugleich in einen inter
nen Zusammenhang miteinander.
Individualistische und kommunalistische Freiheitstheorien ent
werfen zwei miteinander unvereinbare Bilder jener rationalen Ak
toren, um deren Freiheit es geht. Man könnte die individuali
stischen Konzeptionen, deren erster wichtiger Vertreter Hobbes
war, charakterisieren durch einen anthropologischen »Atomis-
18
mus«6 und einen »instrumentalistischen« Rationalitätsbegriff; in
erkenntnistheorctischer Hinsicht haben diese Konzeptionen eine
enge Affinität zurobjektivistischen (mechanistischen, physikalisti-
schcn) und anti-Aristotclischcn Tradition der modernen wissen
schaftlichen Weltauffassung; politisch gesehen, so könnte man sa
gen, reflektiert sich in ihnen die gesellschaftliche Perspektive und
das Sclbstverständnis jener revolutionären Klasse, die im moder
nen Europa zur Dominanz kam: der Bourgeoisie. Die kommuna-
listischen Konzeptionen repräsentieren demgegenüber eine kriti
sche Gegenströmung gegen den modernen Rationalismus: teils in
Anknüpfung an die Aristotelische Tradition, die in den individua
listischen Naturrechtstheorien weitgehend verdrängt wurde, teils
als Ausdruck einer radikalen Kritik der Moderne, wie sie von
Rousseau und der deutschen Frühromantik zuerst formuliert wur
de, teils schließlich durch Assimilation von Motiven aus jener radi
kalen Kritik an der neuzeitlichen Subjekt- und Sprachphilosophie,
die in unserem Jahrhundert vor allem durch Wittgenstein und Hei
degger initiiert wurde. Während die individualistischen Konzep
tionen politischer Freiheit in engstem Zusammenhang stehen mit
der Selbst-Artikulation der modernen bürgerlichen Revolutionen
und der Legitimation der kapitalistischen Gesellschaft, haben die
kommunalistischen Konzeptionen durchweg einen kritischen Be
zug nicht nur auf die anthropologischen Prämissen der individua
listischen Theorien, sondern auch auf die Realität der modernen
bürgerlichen Gesellschaft. Hieran zeigt sich natürlich, daß die phi
losophische Kritik des »Atomismus« oder des »possessiven Indivi
dualismus«7 in der Regel zugleich dessen politische Kritik war;
und dies kann nur heißen, daß aus kommunalistischer Sicht die an
thropologischen Prämissen der individualistischen Theorien zwar
philosophisch falsch, daß sie aber in einem gewissen Sinne in der
modernen bürgerlichen Gesellschaft praktisch wahr geworden
sind. Dementsprechend ist bis heute die Kontroverse zwischen
»Individualisten« und »Kommunalisten« eine politische Kontro
verse über die Frage, welche Rolle bürgerliche Gesellschaft und
bürgerliche Demokratie im Hinblick auf die Verwirklichung von
Freiheit in der modernen Welt gespielt haben.
6 Der Ausdruck stammt von Ch. Taylor; vgl. a.a.O.
7 C. B. Macpherson: The Political Theory of Possessive Individualism,
New York: Oxford University Press 1962; dt.: Die politische Theorie
des Besitzindividualismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967.
i9
II.
20
die politische Alternative von Individualismus und Kommunalis-
mus zu überschreiten. Ich glaube, daß diese Hcgelsche Antwort
trotz aller unübersehbaren Schwächen seiner Staatskonstruktion
in einigen Zügen bis heute unübertroffen geblieben ist. Des
halb möchte ich Hegels Versuch einer Versöhnung von Individua
lismus und Kommunalismus zum Ausgangspunkt meiner weite
ren Überlegungen machen.
Hegels Grundstrategie war es bekanntlich, die Tradition des Na
turrechts in einem kommunalistischen Begriff der »Sittlichkeit«
aufzuheben. Die Aufhebungsfigur bedeutet eine Affirmation und
eine Kritik des Naturrechts zugleich. Ich möchte im folgenden,
um den irreführenden Singular »das« Naturrecht zu vermeiden,
von einem naturrechtlichen Dispositiv sprechen; die Grundzüge
dieses naturrechtlichen Dispositivs habe ich in der Einleitung
skizziert. Hegels Affirmation des naturrechtlichen Dispositivs be
sagt, daß er in der »naturrechtlichen« Verfassung der modernen
bürgerlichen Gesellschaft eine — im normativen Sinne - unhinter
gehbare historische Realität erblickt. Hegels Kritik des natur
rechtlichen Dispositivs besagt, daß die bürgerliche Gesellschaft,
sofern man sie nur sub specie ihrer naturrechtlichen Verfaßthcit
betrachtet, zugleich die Negation aller Formen kommunalen Le
bens, die Negation gesellschaftlicher Solidarität, die Negation der
Kategorie Sittlichkeit ist. Die bürgerliche Gesellschaft, so wie He
gel sie analysiert, ist eine Gesellschaft von Eigentümern, die
ungeachtet ihrer religiösen, rassischen oder politischen Unter
schiede vor dem Gesetz gleich sind und die dementsprechend ein
durch allgemeine Gesetze sanktioniertes gleiches Recht haben,
ihre persönlichen Interessen und ihre idiosynkratischen Glücks
vorstellungen zu verfolgen, ihren Lebensplan, ihren Beruf, ihren
Arbeitsplatz, Wohnsitz oder sozialen Lebensumkreis frei zu wäh
len. Diese Rechtsstruktur der bürgerlichen Gesellschaft ist für
Hegel intern verknüpft mit einer kapitalistischen Marktökono
mie, deren progressive und destruktive Dynamik Hegel bekannt
lich bereits eindringlich analysiert hat. Die bürgerliche Gesell
schaft bedeutet die Institutionalisierung allgemeiner und gleicher
»negativer« Freiheit; das heißt aber die Institutionalisierung von
Menschenrechten ebenso wie die Institutionalisierung eines allge
meinen sozialen Antagonismus. In der naturrechtlichen Verfaßt-
heit der bürgerlichen Gesellschaft macht Hegel deren moralische
Zweideutigkeit sichtbar; als Gesellschaft allgemeiner und gleicher
21
Menschenrechte bedeutet diese Gesellschaft die Realisierung einer
conditio sine qua non aller möglichen politischen Freiheit in der
modernen Welt; als Gesellschaft eines allgemeinen sozialen Ant
agonismus dagegen bedeutet diese Gesellschaft nicht nur die
Negation aller vormodernen Formen sozialer Solidarität, sondern
die Negation der Kategorie sozialer Solidarität, der Kategorie Sitt
lichkeit. Wo sich die bürgerliche Gesellschaft »in ungehinderter
Wirksamkeit befindet«,9 gibt es keine kommunalen Bande mehr,
keine Sorge für das öffentliche Wohl, keine moralischen Skrupel,
die die soziale Zerstörung aufhaltcn könnten, deren Opfer die
Verlierer des allgemeinen Wettlaufs nach materiellen Gütern,
Macht, Geld und Glück sind.
Hegels Antwort auf diese moralische Zweideutigkeit der moder
nen bürgerlichen Gesellschaft ist seine Theorie des Staates. Der
Staat bezeichnet für Hegel jene Sphäre substantieller Sittlichkeit,
in welcher der Antagonismus der bürgerlichen Gesellschaft aufge-
hoben ist, eine Sphäre der Relativierung, Kontrolle und Domesti
zierung des sozialen Antagonismus und hierin zugleich einer
Wiederherstellung kommunaler Freiheit unter Bedingungen der
Modernität. In Wirklichkeit ragt nach Hegel die Sphäre kommu
naler Sittlichkeit bis tief in die bürgerliche Gesellschaft hinein;
deren naturrechtliche Verfaßthcit ist ebensowohl Realität als auch
Schein. Hegels Grundidee ist, daß die naturrechtliche Verfaßthcit
der bürgerlichen Gesellschaft gar nicht angemessen in Kategorien
des naturrechtlichen Dispositivs verstanden werden kann. Die
bürgerliche Gesellschaft ist immer schon mehr und anderes, als sie
in ihrer naturrechtlichen Selbst-Artikulation erscheint. Denn die
Idee einer Gesellschaft von gleichen und freien Rcchtssubjekten,
die als Eigentümer auf dem Markt strategisch miteinander inter
agieren, setzt nicht nur voraus, daß diese Rechtssubjekte einander
moralisch als Freie und Gleiche anerkennen, sie setzt vielmehr
auch politische und juridische Institutionen voraus, deren Funk
tionieren nicht in Begriffen einer strategischen Handlungsrationa
lität erklärt werden kann. Dies bedeutet aber, daß die Rechtssub
jekte der bürgerlichen Gesellschaft immer schon mehr und
anderes sein müssen, als das naturrechtliche Modell zu denken
22
erlaubt. Hegel versucht die kommunalistischen Implikationen des
naturrcchtlichcn Dispositivs zu entfalten; er versucht zu zeigen,
daß die negative Freiheit der bürgerlichen Rcchtssubjekte gar
nicht kohärent denkbar wäre ohne ihre Integration in einen Zu
sammenhang öffentlicher, kommunaler, »vernünftiger« Freiheit.
Die politischen Institutionen sind der Ort dieser kommunalen,
vernünftigen Freiheit; einer Freiheit, die mit der Sorge um das
öffentliche Wohl, mit der Entfaltung von Bürgertugenden, mit
öffentlicher Diskussion und der politischen Kontrolle der Öko
nomie zusammengedacht werden muß. Die bürgerliche Gesell
schaft als Verkörperung des naturrechtlichen Dispositivs erscheint
nun als nur eine Dimension der Sittlichkeit des modernen Staates,
nämlich als jene Dimension, in welcher das »Recht der Besonder
heit«, die negative Freiheit der Individuen, ihre institutionelle
Verwirklichung gefunden hat. Für Hegel stellt diese Institutiona
lisierung einer Sphäre negativer Freiheit eine notwendige Bedin
gung »positiver«, politischer Freiheit in der Moderne dar; aber
frei im vollen Sinne vernünftiger Freihheit können die emanzi
pierten Individuen nur als Bürger eines politischen Gemeinwe
sens, als Staatsbürger sein.
Bevor ich auf das entscheidende Defizit der Hegelschen Staats
konstruktion eingehe, möchte ich noch etwas zum »Recht der
Besonderheit« in Hegels politischer Philosophie sagen. Bekannt
lich war für Hegel wie für viele seiner Zeitgenossen die athenische
Polis ein exemplarisches Modell der Institutionalisierung politi
scher Freiheit. Am Modell der Polis konnte Hegel auch seine
These illustrieren, daß politische Freiheit nur als eine Form kon
kreter Sittlichkeit Wirklichkeit haben kann. Die konkrete Sittlich
keit eines Volkes ist - im Gegensatz zu dem, was Hegel
»Moralität« nennt - unlösbar verknüpft mit seinen Institutionen
und Traditionen, mit kollektiven Weltdeutungen und Selbstver
ständnissen, mit gemeinsamen Gewohnheiten, Praktiken und
Wertorientierungen. Wenn aber die Individuen nur im Medium
einer Form konkreter Sittlichkeit zu dem werden können, was sie
sind, wenn ihr Selbstverständnis und ihre sozialen Beziehungen
immer schon geprägt sind durch eine intersubjektiv geteilte Form
des Lebens, dann werden auch ihre individuellen Interessen, ihre
Ambitionen, ihre praktisch-konkreten Wertungen, ihre Gefühle
der Selbstachtung, der Scham und Schuld in ihrer Tiefenstruktur
geprägt sein durch den objektiven Geist ihrer Gesellschaft. Umge-
23
kehrt bedeutet dies, daß die Idee der Freiheit in einer Gesellschaft
nur dauerhaft Fuß fassen kann, wenn sie zu einer Form konkreter
Sittlichkeit wird. Dies geschah in Hegels Beschreibung zum er
stenmal in der großen Periode der athenischen Demokratie, »wo
der Geist herangcreift sich selbst zum Inhalt seines Wollens und
Wissens erhält, aber auf die Weise, daß Staat, Familie, Recht, Re
ligion zugleich Zwecke der Individualität sind und diese nur
durch jene Zwecke Individualität ist.«10
Hegel nennt die griechische Form der Sittlichkeit »schön«. Schön
ist die griechische Form der Sittlichkeit in ihrer wechselseitigen
Durchdringung von Mythos, Kunst und Politik, durch welche sie
zugleich »verkörperter Geist« und »vergeistigte Sinnlichkeit«
ist.11 Diese Charakterisierung der griechischen Sittlichkeit - ein
ferner Nachhall des überschwenglichen Ältesten Systempro
gramms des deutschen Idealismus - bedeutet beim späten Hegel
freilich zugleich die Charakterisierung ihrer Grenzen. Diese
Grenzen werden manifest in den Institutionen des Orakels und
der Sklaverei.12 Beide sind unvereinbar mit dem »Prinzip der
selbständigen Besonderheit« bzw. dem Prinzip der »subjektiven
Freiheit«,15 d.h. mit dem emanzipatorischen Grundprinzip der
modernen Welt. In seiner Kritik des Orakels und der Sklaverei
entfaltet Hegel zwei wesentliche Aspekte dieses Grundprinzips.
Der Einwand gegen die Sklaverei ist vertraut: Die Sklaverei, so
notwendig sie war für die griechische Form der Freiheit und
Gleichheit der Bürger, steht im Widerspruch zum Prinzip der
Freiheit und Würde aller als Menschen. Das Korrelat dieser Kritik
ist das Postulat allgemeiner und unveräußerlicher Menschen
rechte. Wie schon betont, folgt Hegel in seiner juridischen und
institutionellen Explikation dieses Postulats ein gutes Stück Weges
der Tradition des modernen Naturrechts (bzw. der modernen po
litischen Ökonomie). Menschenrechte sind in dieser Tradition
zentriert um Eigentumsrechte und ihre moralischen und juridi
schen Implikationen. Indessen erschöpft sich das »Recht der
Besonderheit« nicht in diesen negativen Freiheitsrechten. Dies
io G.W.F.Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (im
folgenden Gph), in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. iz, Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1970, S. 275.
ti A.a.O.
12 A.a.O., S. jiof.
13 G.W.F.Hcgel, Rph, a.a.O., § 1S5, S. 342.
24
wird deutlich an Hegels Kritik des Orakels. Hegel charakterisiert
die Institution des Orakels als strukturelle Begrenzung des ratio
nalen Diskurses und der rationalen Selbstverantwortung der Han
delnden in der griechischen Polis. Selbstverantwortung ist das
Komplement von Selbstbestimmung; diese aber — das »aus sich
selbst Beschließen« - verlangt eine »festgewordene Subjektivität
des Willens, den überwiegende Gründe bestimmen«.14 Der
»schönen Individualität« der Griechen, die in der Mitte steht zwi
schen der »Selbstlosigkeit des Menschen« und der »unendlichen
Subjektivität«,15 ist das Prinzip der Selbstbestimmung durch
»überwiegende Gründe« noch fremd. Die konkrete Sittlichkeit
der griechischen Polis ist die einer traditionalen Gesellschaft, die
»den Feind der Unmittelbarkeit, die Reflexion und Subjektivität
des Willens, noch nicht in sich« hat.16 Die Grenzen rationaler
Selbstverantwortung in der griechischen Polis, die die Institution
des Orakels anzeigt, bezeichnen zugleich einen irreduzibel dog
matischen Charakter der griechischen Sittlichkeit; die mythologi
schen Grundlagen der griechischen Welt- und Selbstdeutung, der
griechischen Demokratie, sind noch nicht zum möglichen Gegen
stand rationaler Kritik geworden. Der dogmatische oder konven
tionelle Charakter der griechischen Sittlichkeit ist die Bedingung
ihrer exemplarischen Schönheit. Deshalb mußte die griechische
Aufklärung, die in der Figur des Sokrates kulminierte, eine Auf
klärung, in der zum erstenmal das »Prinzip der selbständigen
Besonderheit« geltend gemacht wurde, die griechische Welt »ins
Verderben« stürzen;17 in dem Augenblick, in dem das Bedürfnis
nach Begründung und Rechtfertigung sich auf die Grundlagen der
griechischen Sittlichkeit zu richten begann, mußten diese Grund
lagen sich als brüchig erweisen. Insofern war nicht nur die sophi
stische Aufklärung, sondern mehr noch der Sokratische Geist
Ferment einer Zersetzung der Polis; deren Vertreter hatten gute
Gründe, Sokrates zum Tode zu verurteilen. Im Sokratischen Geist
tritt das Prinzip der selbständigen Besonderheit nicht in seinen
juridischen, sondern in seinen moralischen und kognitiven
Aspekten in Erscheinung; nämlich als »das Recht, nichts anzuer
kennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe«.18
14 G.W.F. Hegel, Gph, a.a.O., S. 310.
15 A.a.O., S. 293. r6 A.a.O., S. 308.
17 A.a.O., S.309; vgl. auch Rph, a.a.O., § 185.
18 G. W.F.Hegel, Rph, a.a.O., § 132, 8.245.
2S
Dieses Recht verlangt eine Form der politischen Legitimation, die
innerhalb der Grenzen der griechischen Polis nicht zugänglich
war; aus diesem Grunde war Platos Versuch, die Schönheit und
Wahrheit der griechischen Sittlichkeit im Medium des philosophi
schen Gedankens noch einmal zu restaurieren, von allem Anfang
an paradox - er konnte nur zur repressiven Konzeption einer
Idealgesellschaft führen. »Platon in seinem Staate«, sagt Hegel,
»stellt die substantielle Sittlichkeit in ihrer idealen Schönheit und
Wahrheit dar; er vermag aber mit dem Prinzip der selbständigen
Besonderheit, das in seiner Zeit in die griechische Sittlichkeit her
eingebrochen war, nicht anders fertig zu werden, als daß er ihm
seinen nur substantiellen Staat cntgcgenstellte und dasselbe bis in
seine Anfänge hinein, die es im Privateigentum [...] und in der
Familie hat [...] ganz ausschloß.«1’
Das Prinzip der selbständigen Besonderheit, darauf wollte ich
noch einmal hinweisen, hat für Hegel einen »internen« und einen
»externen« Aspekt. Im umfassenden Sinne verstanden ist es »das
Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des
Einzelnen, der subjektiven Freiheit«,20 ein Prinzip, das in He
gels philosophischer Sicht der Geschichte zur weltbildenden
Macht wurde mit dem Christentum auf der einen Seite und dem
römischen Recht auf der anderen.21
III.
Nach allem, was ich bisher über die Prämissen von Hegels Kon
struktion des modernen Staates gesagt habe, hätte beim späten
Hegel der Versuch nahegelegen, für moderne Gesellschaften den
Begriff einer demokratischen, universalistischen und säkularisier
ten Form der Sittlichkeit zu konstruieren. Bekanntlich hat Hegel
diesen Versuch nicht unternommen. In mancher Hinsicht kommt
er einer entsprechenden Konzeption nahe, wenn er über die
Selbstverwaltung von Kommunen und Korporationen, über die
öffentliche Meinung, die Freiheit der Presse oder über parlamen
tarische Repräsentation spricht. Hegels halbherzige Konzessio-
26
ncn an den demokratischen Geist der modernen westlichen Welt
sind jedoch immer verknüpft mit prinzipiellen Einwänden gegen
jeden Versuch, die Idee der Demokratie auf die moderne Welt
anzuwenden. Hegel verwirft die politische Interpretation natur
rechtlicher Prinzipien, d.h. ihre Interpretation als Prinzipien
einer demokratischen Form der Willensbildung in modernen Ge
sellschaften. Hegels philosophische Gründe für diese Zurückwei
sung eines politisch verstandenen Naturrechts sind komplex, aber
letztlich wenig überzeugend. Seine beiden wichtigsten Argumente
sind: (r) ein »kommunalistischer« Einwand gegen die individua
listische Anthropologie des Naturrechts; und (2) ein Hinweis auf
die Differenziertheit und Komplexität moderner Gesellschaften.
Dem ersten Argument zufolge ist der naturrechtliche Begriff der
Demokratie »abstrakt«, weil die anthropologischen Annahmen
des Naturrechts und das Prinzip negativer Freiheit unzureichend
sind, einen Begriff von Demokratie als Form konkreter Sittlich
keit zu begründen. Dem zweiten Argument zufolge lassen die
Komplexität und die funktionale Differenzierung moderner Ge
sellschaften, läßt insbesondere die Entstehung einer weitgehend
entpolitisierten Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft eine direkte
Demokratie im modernen Staate nicht zu. Während das erste Ar
gument die im Begriff der »Sittlichkeit« implizierte Komplexität
gegen die Formalität des »abstrakten« Rechts ausspielt, spielt das
zweite Argument die Komplexität moderner Gesellschaften gegen
die im Begriff der direkten Demokratie implizierte Überschau
barkeit kleiner, vormoderner Gesellschaften aus. Aber diese bei
den Prämissen, zusammen mit Hegels Konklusion, ergeben
keinen gültigen Schluß: Hegel zeigt keineswegs, daß die universa
listischen Prinzipien des Naturrechts sich nicht in einen demokra
tischen Begriff der Sittlichkeit für moderne Gesellschaften »über
setzen« lassen. Dies ist der blinde Fleck der Hcgelschen
Rechtsphilosophie. Für diesen blinden Fleck der Hegelschen
Rechtsphilosophie gibt es sicherlich mehrere Erklärungen: Eine
ist, daß Hegel, obwohl ein »kommunalistischer« Philosoph, den
Geist letztlich als Subjektivität und nicht als Intersubjektivität
begriff22; eine zweite Erklärung ist, daß Hegel keine unmittel-
22 Wie Vittorio Hösle gezeigt hat, hat Hegel den Übergang zu einem
intersubjektiven Begriff des Geistes nur auf der Ebene der »Realphilo
sophie«, nicht aber in seiner Logik vollzogen. Dies würde, so Hösle,
die unaufgelösten Spannungen und Widersprüche zwischen Hegels
27
bare Erfahrung mit demokratischen Traditionen in der modernen
Welt hatte; eine dritte Erklärung wäre schließlich, daß der Begriff
einer posttraditionalen Form demokratischer Sittlichkeit in der
Tat begriffliche Schwierigkeiten bereitet: denn in ihm wäre die
Abwesenheit einer der Kritik entzogenen sittlichen »Substanz«
zusammenzudenken mit einer zur Gewohnheit, zur Tradition und
zur Lebensform geronnenen Form ethischer Toleranz, kritischer
Rationalität und demokratischer Selbstbestimmung. Eine demo
kratische Sittlichkeit wäre eine Sittlichkeit zweiter Stufe; eine
Sittlichkeit jenseits des »Standpunkts] der Sittlichkeit, welche nur
Gewohnheit und Sitte ist und damit noch eine Partikularität im
Dasein«.23 Zwar ist Hegels Rechtsphilosophie der Versuch, den
Begriff einer Sittlichkeit jenseits des »Standpunkts der Sittlich
keit« zu konstruieren; aber Hegel bleibt eigentümlich unent
schlossen, wo es um die Frage geht, wie diese Sittlichkeit jenseits
der Sittlichkeit sich zur substantiellen Sittlichkeit traditionaler,
vormoderner Gesellschaften verhält. In seiner ingeniösen Ideali
sierung des preußischen Staates bleibt er - ein Preuße.
Deshalb hatte Marx recht, wenn er in seiner Kritik des Hegelschen
Staatsrechts auf dem demokratischen Prinzip der modernen euro
päischen Geschichte insistierte. »Die Demokratie«, sagt Marx,
»ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfas
sung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der
Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen
Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein
eignes Werk gesetzt. Die Verfassung selbst erscheint als das, was
sie ist, freies Produkt des Menschen [...]« Und: »Die Demokratie
verhält sich zu allen übrigen Staatsformen als ihrem alten Testa
ment [...]. In der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das
materielle Prinzip. Sie ist daher erst die wahre Einheit des Allge
meinen und Besonderen.«24 Indes bleibt Marx’ eigene Artikula-
28
tion der Idee der Demokratie »abstrakt« genau im Hegelschcn
Sinne. Seine Idee einer freien Assoziation der Produzenten, die
nach der Überwindung des Kapitalismus gemeinschaftlich ihren
Metabolismus mit der Natur regulieren würden, bezeichnet die
utopische Perspektive eines kollektiven Lebensprozesses, dessen
Einheit und Harmonie sich spontan aus der sozialen Interaktion
voll emanzipierter Individuen ergeben würde. Diese ehrwürdige
anarchistische Utopie enthält im Grunde eine transpolitische Deu
tung der Idee der Demokratie; gegenüber einer solchen Deutung
aber erscheinen die oben erwähnten Argumente Hegels als durch
aus überzeugend. In Marx’ Konzeption haben weder die »negati
ven« Freiheiten noch politische Institutionen oder funktionale
und systemische Differenzierungen einen Platz. Marx hat das He-
gelsche Problem einer Institutionalisierung der Freiheit in der
modernen Welt nicht wirklich im Sinne eines kapitalismuskriti
schen Demokratiebegriffs gelöst; am Ende hat er das Problem
bloß exorziert.25 Was er vom Kopf auf die Füße stellte, ist mehr
Rousseau als Hegel. Der Preis für diese Vernachlässigung der po
litischen Dimension der Freiheit im Marxistischen Denken war
hoch, wie wir wissen; die Gesellschaften, die seine Utopie von der
Theorie in die Praxis zu übersetzen versuchten, waren am Ende
repressiver als der Hegelsche Staat es hätte sein können.
Es war nicht Marx, sondern Tocqueville, der die Hegelsche Frage
aufnahm, wie eine Verfassung der Freiheit in der modernen Welt
möglich sei. In Hegelschen Kategorien gesprochen, geht es Toc
queville um die Bedingungen der Möglichkeit einer demokra
tischen Form der Sittlichkeit unter Voraussetzungen eines for
mal-egalitären Rechts. Natürlich ist Tocquevilles Analyse der
amerikanischen Demokratie keine direkte Antwort auf Hegels
Rechtsphilosophie. Soweit es aber um das Verständnis der post
revolutionären Problematik und die Exposition des Freiheits
problems geht, sind die Gemeinsamkeiten so stark, daß man
Tocquevilles Demokratie in Amerika sehr wohl als demokratie
theoretisches Gegenstück zu Hegels Philosophie des Rechts lesen
könnte. Für beide Autoren war die Französische Revolution mit
ihrer internen Dialektik von Emanzipation und Repression die
Briefe (Hg. H.-J. Lieber/P. Furth), Bd. i, Darmstadt: Wissenschaft
liche Buchgesellschaft 1962, S. 293.
25 Vgl. A.Wellmer: »Reason, Utopia, and the Dialectic of Enlighten-
ment«, in: Praxis International, Bd. in, 2 (Juli 1983).
29
entscheidende geschichtliche Erfahrung. Und die grundlegende
Frage, die beide sich stellten, war die Frage, wie eine Institutiona
lisierung politischer, »öffentlicher« Freiheit unter Bedingungen
einer im rechtlichen Sinne egalitären bürgerlichen Gesellschaft
möglich sei, welche beide als das - zumindest der Tendenz nach -
unwiderrufliche Ergebnis der bürgerlichen Revolutionen ansa
hen. Für beide, Hegel wie Tocqueville, bedeutete das Heraufkom
men der bürgerlichen Gesellschaft den Einsturz der alten -
feudalen oder aristokratischen - politischen Ordnungen; beide
sahen in der bürgerlichen Gesellschaft vor allem die Institutiona
lisierung einer egalitären, um Eigentumsrechte zentrierten Ord
nung »negativer« Freiheit; beide anerkannten die emanzipatori
sche Bedeutung der bürgerlichen Gesellschaft, nicht zuletzt im
Hinblick auf die Durchsetzung allgemeiner Individual- (»Men-
schen«-)Rcchte; und beide sahen schließlich deutlich, daß die
egalitäre Rechtsordnung der bürgerlichen Gesellschaft keines
wegs gleichbedeutend war mit einer Institutionalisierung politi
scher, öffentlicher Freiheit. Im Egalitarismus der bürgerlichen
Gesellschaft lauerten nämlich auf der einen Seite die Gefahren
eines neuen Despotismus - sei es der bürokratische Despotismus
eines zentralisierten modernen Staates oder der Despotismus
einer schrankenlosen Mehrheitsherrschaft; auf der anderen Seite
bedeutete die Durchsetzung allgemeiner, ums Eigentumsrecht
zentrierter Individualrechte in der bürgerlichen Gesellschaft ten
denziell die Zerstörung aller überkommenen Grundlagen sozialer
Solidarität.
Bei Hegel findet sich diese Einsicht im Zusammenhang seiner Kri
tik an einer politischen, d.h. demokratischen Interpretation der
Naturrechtstheorien. Im Kem besagt diese Kritik, daß ein ver
nünftiger gemeinsamer Wille unmöglich aus einem Zusammen
schluß atomistisch konzipierter Eigentümer entstehen kann,
deren soziale Beziehungen wesentlich durch die Auflösung jener
kommunalen, solidarischen Bande charakterisiert werden müs
sen, durch welche die Individuen in früheren Gesellschaften mit
einander verbunden waren. Tocqueville — obwohl weniger theore
tisch orientiert als Hegel - benutzte dasselbe Argument; die
wesentliche Differenz zwischen ihnen ist im Grunde nur termino
logischer Art: Weil für Tocqueville der Begriff »Demokratie« vor
allem die egalitäre Verwirklichung der »negativen« Freiheit in der
modernen bürgerlichen Gesellschaft bedeutete, wurde es für ihn
3°
zum Problem, wie Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft
realisiert werden kann. Obwohl die geschichtliche Erfahrung des
Niedergangs des Geistes und der Institutionen der politischen
Freiheit im nachrevolutionären Frankreich der gemeinsame Aus
gangspunkt von Hegels und Tocquevilles Reflexionen war, such
ten sie in entgegengesetzten Richtungen nach Alternativen: Hegel
glaubte, daß er in einer idealisierten Preußischen Monarchie eine
gangbare Alternative gefunden hatte; Tocqueville dagegen wandte
sich einer Untersuchung der zweiten großen revolutionären Ge
sellschaft seiner Zeit zu - der amerikanischen. Hier fand er, was
nicht nur der postrevolutionären französischen Gesellschaft, son
dern allen großen kontinental-europäischen Staaten seiner Zeit
fehlte: einen Geist der Freiheit, der zu einem sittlichen Lebenszu
sammenhang geworden war.
Ich habe diese Form eines sittlichen Lebenszusammenhanges frü
her »demokratisch« genannt. Der Begriff »demokratisch« kann
hier sowohl im Sinne Tocquevilles als auch in dem eher traditio
nellen Sinne Hegels verstanden werden: es handelt sich nämlich
um einen sittlichen Lebenszusammenhang egalitärer Gesellschaf
ten (»demokratischer« Gesellschaften in Tocquevilles Sinn), und
es handelt sich um eine Form der Sittlichkeit, die auf einem uni
versalistischen Prinzip individueller und kollektiver Selbstbestim
mung beruht. Zu explizieren bleibt noch, was es heißt zu sagen,
daß Demokratie eine Form der Sittlichkeit im Sinne Hegels ge
worden ist. Im Sinne einer solchen Explikation möchte ich an
einige wesentliche Aspekte von Tocquevilles Analyse erinnern.
Zunächst einige Worte zu Tocquevilles Konzeption der Freiheit
und ihrem Verhältnis zu dem, was ich Demokratie nennen werde.
Tocquevilles Konzeption der Freiheit ist kommunalistisch. Sie ist
untrennbar (i) von der Idee, daß Individuen gemeinsam über ge
meinsame Angelegenheiten verhandeln und entscheiden; (2) von
der Idee einer diskutierenden Öffentlichkeit als des Mediums der
Klärung, Transformation und Kritik von individuellen Meinun
gen, Präferenzen und Interpretationen; und (3) schließlich von
der Idee eines gleichen Rechts der Individuen, an der Gestaltung
und der Zielsetzung ihres kollektiven Lebens mitzuwirken. Die
negative Freiheit, die in den Strukturen der bürgerlichen Gesell
schaft verkörpert ist, wird hier in die »positive« Freiheit gemein
sam Handelnder transformiert. Im Medium dieser »positiven«
oder »vernünftigen« Freiheit werden auf einer neuen Ebene kom-
31
munalc Beziehungen zwischen Individuen wicderhergestcllt, die
als bloß unabhängige Eigentümer gerade durch das Fehlen solcher
Beziehungen charakterisiert sind. »Die Freiheit allein« sagt Toc
queville, »[...] vermag die Bürger aus der Vereinzelung, in der
gerade die Unabhängigkeit ihrer Lage sie leben läßt, herauszuzie
hen, um sie zu nötigen, sich einander zu nähern; sie, die Freiheit,
erwärmt und vereinigt sie jeden Tag aufs neue durch die Notwen
digkeit, sich in der Behandlung gemeinsamer Angelegenheiten
miteinander zu besprechen, einander zu überzeugen und sich
wechselseitig gefällig zu sein. [...] sie allein läßt von Zeit zu Zeit
die Lust am behaglichen Leben durch tüchtigere und erhabenere
Leidenschaften verdrängen, bietet dem Ehrgeiz edlere Gegen
stände als die Erwerbung von Reichtümern und erzeugt das Licht,
das es gestattet, die Laster und Tugenden der Menschen zu erken
nen und zu beurteilen.«26
So viel scheint offensichtlich: Freiheit in diesem Sinne kann es nur
als eine Form von Sittlichkeit geben; d. h. als eine Form kommu
naler Praxis, die die Institutionen einer Gesellschaft auf allen
Ebenen durchdringt und die für den Charakter, die Gewohnhei
ten und die moralischen Gefühle der Bürger konstitutiv geworden
ist. Etwas dieser Art hat Tocqueville in den Institutionen und im
alltäglichen Leben des nachrevolutionären Amerika entdeckt. Ich
glaube, daß er recht hat, wenn er die tiefsitzenden Unterschiede
zwischen dem Verlauf der französischen und der amerikanischen
Revolution darauf zurückführt, daß die constitiaio libertatis in
den Vereinigten Staaten nicht von der Spitze der Gesellschaft aus
ging - wie in der französischen Revolution -, sondern gleichsam
von der Basis. Die amerikanische Revolution war im Grunde nur
eine Revolution gegen eine Kolonialmacht, d. h. gegen die briti
sche Krone, während die politischen und sozialen Strukturen, die
sich auf lokaler und regionaler Ebene während der Periode der
Kolonialregierung herausgebildet hatten, die radikalsten libertä
ren Traditionen des kolonialen Mutterlandes selbst repräsentier
ten. In diesem Sinne war die demokratische Republik auf der
Ebene von townships und regionalen Assoziationen schon lange
Realität, bevor sie zum Prinzip der amerikanischen Föderation
wurde. Eine lange Tradition der Selbstregierung in den townships
26 A.. de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution, Hamburg: Ro
wohlt 1969, S. 13.
32
hatte jene politischen Erfahrungen, Einstellungen und Kenntnisse
hervorgebracht, ohne welche die amerikanische Revolution nicht
zur Konstitution einer egalitären demokratischen Republik hätte
führen können. »Die amerikanische Revolution mit ihrer Lehre
von der Volkssouvcränität«, sagt Tocqueville, »[brach] in den
townships aus und nahm von dorther den Staat in Besitz.«27
Und sie »war das Ergebnis einer reifen und reflektierten Vorliebe
für die Freiheit.«28
Ich werde hier nicht auf Details der faszinierenden Analyse von
Tocqueville eingehen; insbesondere werde ich nichts über die von
Tocqueville beschriebenen Institutionen der Selbstregierung auf
lokaler Ebene sagen, über Tocquevilles Reflexionen über die er
zieherische Rolle des Geschworenengerichts oder über die Tei
lung und Dezentralisierung der Macht in der amerikanischen
Verfassung. Tocqueville verhielt sich bekanntlich nicht unkritisch
gegenüber der amerikanischen Demokratie und sah sie keines
wegs als Modell an, das man in europäischen Staaten einfach hätte
nachahmen können. Darüber hinaus gibt es - eineinhalb Jahrhun
derte nach der Veröffentlichung von Tocquevilles Buch — eine
Reihe von Gründen, die amerikanische Demokratie nicht zu idea
lisieren: die Geschichte der amerikanischen Demokratie ist auch
die Geschichte der politischen, sozialen und ökonomischen Aus
grenzung. von Minderheiten und sie war auch die Geschichte
imperialistischer Ausbeutung und Einmischung. Dabei sollte aber
nicht vergessen werden, daß Hegels Diktum über die bürgerliche
Gesellschaft - »Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil
er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist«29 -
nirgendwo auf der Welt in größerem Ausmaß als ein Prinzip der
Bürgerrechte, d. h. als ein Prinzip politischer Freiheit Wirklichkeit
geworden ist als in den Vereinigten Staaten von Amerika. All das
jedoch ist in einem gewissen Sinn irrelevant im Hinblick auf die
philosophischen Fragen, um die es mir hier geht. Ich habe nämlich
nur auf Tocqueville verwiesen, um zu zeigen, daß es - Hegels
Einwänden zum Trotz - keinen Grund für die Behauptung gibt,
27 Wegen der schöneren Übersetzung zitiert nach Hannah Arendt: Über
die Revolution, München/Zürich: Piper 196}, S. 21 j. Vgl. Alexis de
Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, München 1976,
S. 64.
28 Vgl. A. de Tocqueville, a.a.O., S. 79.
29 G. W. F. Hegel, Rph, a.a.O., § 209, S. 360.
33
die universalistischen Prinzipien des Naturrechts seien nicht in
eine kommunalistische Konzeption politischer Freiheit übersetz
bar; was Tocqueville tatsächlich zeigt, ist, daß Freiheit in der
modernen Welt nur als Form demokratischer Sittlichkeit gedacht
werden kann.
Tocquevilles Analyse hat eine besonders interessante Konse
quenz. Wenn man versuchen wollte, diese Analyse in den syste
matischen begrifflichen Rahmen von Flegels Rechtsphilosophie
zurückzuübersetzen, würde offensichtlich, daß die Grenzen zwi
schen bürgerlicher und politischer Gesellschaft, die schon in
Hegels Analyse keineswegs scharf geschnitten waren, in der Tat
eher als fließend angesehen werden müssen. Denn der Geist einer
demokratischen Sittlichkeit - so es ihn überhaupt gibt - wird alle
Institutionen einer Gesellschaft durchdringen; folglich kann nicht
ein für allemal eine scharfe Grenze gezogen werden, die die
Sphäre »negativer« Freiheit klar von derjenigen »positiver«, öf
fentlicher Freiheit trennen würde. Mit anderen Worten: eine
demokratische Sittlichkeit wird die Art und Weise beeinflussen, in
der die »negative« Freiheit von Eigentümern ausgeübt wird und
sozial zur Geltung kommt. Um das offensichtlichste Beispiel zu
nehmen: Die Sozialisierung von Produktionsmitteln muß immer
eine mögliche Option für eine demokratische Gesellschaft sein.
Bedeutet dies nun, daß eine kommunalistische Konzeption poli
tischer Freiheit den ganzen Wahrheitsgehalt der Naturrechtstheo
rien in sich aufhebt? Oder sollten wir annehmen, daß Hegels
begriffliche Strategie - die de facto (wenngleich in einem weniger
systematischen Sinn) auch die von Tocqueville und sogar die von
J.S. Mill ist und dergemäß die »negative« Freiheit des bürger
lichen Individuums eine Sphäre von Rechten sui generis bezeich
net, die in demokratischen Entscheidungsprozessen nicht zur
Disposition gestellt werden darf-einen Begriff des Rechts impli
ziert, der sich nicht in eine demokratisch-kommunalistische Kon
zeption aufheben läßt? Mit diesen Fragen komme ich zurück auf
meine anfänglichen Überlegungen über die Alternative von indi
vidualistischen und kommunalistischen Freiheitsmodellen in der
Moderne.
34
IV.
30 R. Nozick: Anarchy, State, and Utopia, New York: Basic Books, 1974,
S. 312.
35
erwarten, werden bei Nozick und Habermas Form und Inhalte
auf sehr verschiedene Weisen miteinander verknüpft, je nachdem,
ob diese Verknüpfung durch Prinzipien des rationalen Diskurses
oder durch Prinzipien des Eigentumsrechts vermittelt ist. Die Me
taprinzipien des rationalen Diskurses sind vor allem Prinzipien
der Institutionalisierung öffentlicher Freiheit und demokratischer
Willensbildung; aus der Perspektive dieser Metaprinzipien er
scheinen Eigentumsrechte als möglicher Inhalt eines demokrati
schen Konsenses. Die Metaprinzipien der Individualrechte sind
dagegen vor allem Prinzipien negativer Freiheit. Aus der Perspek
tive dieser Metaprinzipien erscheint eine partizipatorische Demo
kratie als möglicher Inhalt einer Abmachung (eines Vertrags)
zwischen bestimmten Mitgliedern der Gesellschaft. In den Wor
ten von Nozick:
»Visionaries and crackpots, maniacs and saints, monks and libertines, ca-
pitalisis and communists and participatory democrats, proponents of
phalanxes (Fourier), palaces of labor (Flora Tristan), villages of unity and
Cooperation (Owen), mutualist communities (Proudhon), time Stores (Jo
siah Warren), Bruderhof, kibbutzim, kundalini yoga ashrams, and so
forth, may all have their try at building their vision and setting an alluring
example.«31
Im Vergleich mit Habermas stellt Nozicks Vision, eine postmo
derne Version der liberalen Utopie, eine verblüffende Umkehrung
von Form und Inhalt dar. Warum aber ist sie verblüffend und
nicht einfach absurd? Ich denke, es ließe sich leicht zeigen, daß sie
tatsächlich in mancher Hinsicht absurd ist, absurd nämlich in
Hinsicht auf die zugrunde liegenden anthropologischen, soziolo
gischen und rationalitätstheoretischen Annahmen, und insbeson
dere absurd, weil Nozick noch nicht einmal die Frage stellt, wie
die Bürger seiner liberalen Utopie sicherstellcn können, daß die
Metaprinzipien ihrer Freiheit in der richtigen Weise praktisch um
gesetzt werden. Genau an diesem Punkt haben Locke oder Kant
eine Konzeption repräsentativer Regierung (und Hobbes eine
Konzeption des Staates als Leviathan) entwickelt. Prima facie und
aus philosophischer Sicht spricht alles gegen Nozicks liberale
Utopie; es scheint offensichtlich, daß eine kommunalistische Per
spektive im Sinne von Habermas viel kohärenter ist, wenn man
eine formale Konzeption von Freiheit entwerfen will. Der Grund,
ji A.a.O., S.316.
36
weshalb ich in Nozicks Konstruktion trotzdem etwas für einen
Kommunalisten Interessantes (und nicht nur etwas Absurdes)
finde, ist, daß sie als Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft
im Hegelschcn Sinne verstanden werden kann. Wenn man sic aber
in diesem Sinn versteht, d. h. als Legitimation einer Sphäre nega
tiver Freiheit im modernen Staat, einer Sphäre negativer Freiheit,
die strukturell unterschieden und in einem gewissen Sinn unab
hängig ist von der kommunalen Sphäre öffentlicher Freiheit, dann
könnte man versuchen, Nozicks Konstruktion so zu verstehen,
wie Hegel die Konstruktionen des Naturrcchts verstand: nämlich
als Artikulation einer grundlegenden Dimension der Freiheit in
der modernen Welt, einer negativen Freiheit, durch welche ineins
die überkommenen Bande der Solidarität zwischen den Indivi
duen zerstört und die Voraussetzungen für jene reflexive - univer
salistische und demokratische - Form von Solidarität geschaffen
werden, die die einzig mögliche im modernen Staat ist. Die Frage,
die sich dann stellt, wäre, ob eine kommunalistische Konzeption
von Freiheit in Habermas’ Sinn dieser Dimension negativer Frei
heit zureichend Rechnung tragen kann oder ob die liberale Ideo
logie einen unabhängigen Wahrheitsgehalt hat, der explizit in eine
kommunalistische Konzeption von Freiheit implantiert werden
müßte.
Um zu erklären, was auf dem Spiel steht, werde ich zwischen drei
verschiedenen Möglichkeiten unterscheiden, wie das Problem der
Legitimation einer Sphäre negativer Freiheit aus einer kommuna-
listischen Perspektive behandelt werden kann. Die ersten beiden
Arten der Legitimation stellen den Primat der kommunalistischen
Perspektive, d. h. den Primat eines demokratisch verstandenen ge
meinsamen Willens in keiner Weise in Frage; nur im Falle der
dritten Legitimationsart wird der Primat der kommunalistischen
Perspektive, wenngleich nicht wirklich in Frage gestellt, so doch
in ein neues Licht gerückt.
Die erste Art der Legitimation betont die Steuerungskapazitäten
eines freien Marktes. Die einzige Alternative zum ökonomischen
Steuerungsmechanismus des Marktes, die wir kennen, ist die
bürokratische Planung, und es scheint heute einen beinahe univer
salen Konsens darüber zu geben, daß der Marktmechanismus weit
überlegen ist, soweit es um ökonomische Effizienz geht; und mit
»ökonomischer Effizienz« meine ich Effizienz hinsichtlich der
Produktion und Verteilung von Gütern (Gebrauchswerten) aus
V7
dem Gesichtspunkt der Bedürfnisse der potentiellen Verbraucher
dieser Güter. Im ökonomischen »Subsystem« moderner (west
licher) Gesellschaften bestimmt Geld als ein »generalisiertes Me
dium der Kommunikation« einen Typus von Interaktion und
Entscheidungsfindung hinsichtlich der Produktion und Vertei
lung materieller Güter, der sich als viel flexibler und effizienter
erwiesen hat, als irgendein Typus »politischer« Interaktion und
Entscheidungsfindung es je sein könnte. Weil dies mehr oder we
niger zum ökonomischen common sense in modernen Gesell
schaften geworden ist, könnte man die marktförmige Organisa
tion der Ökonomie leicht als Inhalt eines realen - oder zumindest
potentiellen - demokratischen Konsenses interpretieren. Am Pri
mat der kommunalistischen Perspektive wird hier in einem direk
ten Sinne festgehaltcn, da die Delegierung von Steuerungsfunktio
nen an den Markt-als einer Sphäre negativer Freiheit-sowohl als
zumindest potentielles Resultat eines demokratischen Entschei
dungsprozesses als auch durch einen solchen begrenzt aufgefaßt
werden kann. Diese Art der Legitimation einer Sphäre »strategi
schen« ökonomischen Handelns ist jene, die Habermas in seine
Theorie des kommunikativen Handelns integriert hat.
Die zweite Art der Legitimation steht der ersten vergleichsweise
nahe, obwohl es bei ihr unmittelbar nur um das Problem distribu
tiver Gerechtigkeit geht. Ich denke dabei an Rawls’ zweites Ge
rechtigkeitsprinzip, demzufolge eine ungleiche Verteilung von
materiellen Gütern und Chancen nur dann gerecht ist, wenn sie
sich zum Vorteil der am meisten Benachteiligten auswirkt.52
Weil dieses Prinzip offensichtlich eine besondere Relevanz für
jene Ungleichheiten hat, die mit einer Marktökonomie verbunden
sind, vor allem mit der kapitalistischen Ökonomie, könnte es wie
derum als Teil einer kommunalistischen Rechtfertigung einer
Sphäre negativer (ökonomischer) Freiheit gesehen werden.
Nur das dritte Argument für eine Sphäre negativer Freiheit stellt
ein besonderes Problem für die kommunalistische Perspektive
dar. Ich denke an die Art von Argument, wie Hegel cs gebraucht,
wenn er sich direkt auf die Tradition des Naturrechts beruft. Die
ses Argument, das zwar mit den beiden anderen, die ich erwähnt
habe, kompatibel ist, unterscheidet sich von ihnen insofern, als es
38
- um cs paradox auszudrücken - die positive Seite der negativen
Freiheit in den Vordergrund rückt. Negative - oder wie Hegel sie
nennen würde - »abstrakte« Freiheit wird hier als ein »Moment«
- und insofern auch als eine Voraussetzung - jener Form kommu
naler Freiheit gesehen, die auf einer Anerkennung von Individual
rechten beruht; es handelt sich genau um diejenige Handlungs
freiheit (Kants Freiheit der Willkür), die begrifflich vorausgesetzt
werden muß, wenn kommunale Freiheit - d. h. vernünftige Frei
heit- als eine Form von Freiheit möglich sein soll, die auf Einsicht
und freiwilliger Zustimmung basiert. Negative Freiheit - im Sinne
einer egalitären Institutionalisierung des abstrakten Rechts - ist in
der modernen Welt genau in dem Maße eine Voraussetzung kom
munaler Freiheit, als sie zugleich Bedingungen bezeichnet, unter
denen die Individuen ein Recht haben, nicht vollkommen rational
zu sein. Denn nur wenn sie ein Recht haben, im Sinne eines kom
munalen Begriffs von Rationalität nicht vollkommen rational zu
sein, kann ihre kommunale Rationalität ihre eigene Leistung, ihr
eigenes Werk, und kann kommunale Freiheit eine Manifestation
ihrer individuellen Freiheit werden. Negative Freiheit, verstanden
als ein Menschenrecht der Selbstbestimmung, impliziert in einem
bestimmten Sinn das Recht, selbstsüchtig, verrückt, exzentrisch,
unverantwortlich, provokativ, obsessiv, selbstdestruktiv, mono
manisch etc. zu handeln; man muß nur einschränkend hinzufü
gen, daß das, was aus einer bestimmten Perspektive als verrückt,
exzentrisch, abweichend - und sogar egoistisch - etc. erscheint,
aus einer anderen Perspektive - sogar aus der einer kommunalen
Rationalität - als vernünftig und gerechtfertigt erscheinen mag.
Für Hegel war die bürgerliche Gesellschaft - als die Sphäre der
institutionalisierten negativen Freiheit - »das System der in ihre
Extreme verlorenen Sittlichkeit«.33 Als eine Sphäre negativer
Freiheit verkörperte die bürgerliche Gesellschaft für Hegel jenes
Moment der Entzweiung im modernen Leben, welches er - im
Gegensatz zu Rousseau, den Frühromantikern und später Marx,
die darin den Skandal der Moderne sahen - als Preis für eine Wie
derherstellung kommunaler Freiheit unter den Bedingungen der
Moderne ansah; d. h. unter Bedingungen emanzipierter Indivi
dualität, universaler Menschenrechte und einer Emanzipation der
Wissenschaft, der Kunst und des Berufslebens von den politischen
39
und religiösen Einschränkungen vormoderner Gesellschaften. Als
ein zu zahlender Preis war dies Moment der Entzweiung zugleich
die Voraussetzung jener modernen Form kommunaler Freiheit,
die im Gegensatz zur klassischen griechischen Sittlichkeit keine
Einschränkungen des rationalen Diskurses und der kritischen
Prüfung zulassen würde. Die bürgerliche Gesellschaft, als eine
Sphäre immer möglicher Entzweiung, ist für Hegel zugleich eine
Sphäre des Lernens und der Bildung der Individuen in einem
praktischen, kognitiven, moralischen und ästhetischen Sinn; in
folgedessen hat sie eine positive Funktion für die Bildung von
Individuen, vor allem auch hinsichtlich der intellektuellen und
moralischen Qualifikationen, die sie als Bürger eines modernen
Staates erwerben müssen. Hegel wird dementsprechend sogar be
haupten, daß der Verlust an kommunalen und solidarischen Be
ziehungen, der in der antagonistischen Struktur der bürgerlichen
Gesellschaft zum Ausdruck kommt, im Grunde, d. h. aus der Per
spektive der Sittlichkeit eines modernen, rationalen Staates nur ein
Schein ist.
Was nun diese Behauptung betrifft, so hatte Marx sicherlich recht,
wenn er sie als eine unausgewiesene Voraussetzung der Hegel
sehen Konstruktion kritisierte. Marx verfehlte jedoch die Pointe
der Hegelschen Metakritik der romantischen Kritik der Moderne,
wenn er das Verhältnis von Wirklichkeit und Schein einfach um
kehrte - Marx zufolge war die bürgerliche Gesellschaft die Wirk
lichkeit und das Element der kommunalen Freiheit im modernen
Staat nur ein Schein. Denn die Substanz jener Metakritik ist un
abhängig von Hegels idiosynkratischer Konstruktion des moder
nen Staates. Sogar eine radikal demokratische Konzeption von
Sittlichkeit als der Form kommunaler Freiheit im modernen Staat
müßte den Wahrheitsgehalt von Hegels Kritik an romantischen
Versöhnungsutopien in sich aufnehmen. Der Wahrheitsgehalt die
ser Kritik liegt darin, daß keine kommunale Freiheit in der
modernen Welt denkbar ist, die nicht auf der Institutionalisierung
einer gleichen negativen Freiheit für alle beruht.
4°
V.
41
(z) Meine bisherigen Überlegungen zeigen, daß es keine klar ge
schnittenen Grenzen des möglichen Inhalts eines rationalen Kon
senses über die Institutionalisierung von Individualrechten, z. B.
von Eigentumsrechten gibt - immer vorausgesetzt, daß natürlich
kein Konsens rational genannt werden kann, der genau jene Be
dingungen in Frage stellen würde, unter denen allein ein rationaler
Konsens zwischen Bürgern erzielt werden kann. Diese Bedingun
gen könnte man mit Hilfe von Metaprinzipien des rationalen
Diskurses zu beschreiben versuchen. Man muß sich aber klarma
chen, daß man durch die Formulierung solcher Prinzipien nicht
auch schon ein Prinzip gleicher Individualrechte formuliert — ge
schweige denn es »abgeleitet« - hätte. Das heißt aber, daß durch
die Angabe der Bedingungen eines rationalen Diskurses noch kei
nesfalls jener normative Kern formuliert ist, der bei keiner Insti
tutionalisierung von Individualrechten zur Disposition gestellt
werden darf, wenn nicht die Grundlagen eines demokratischen
Diskurses in Frage gestellt werden sollen. Entgegen einem einge
fleischten Vorurteil sind die Bedingungen eines rationalen Diskur
ses nicht identisch mit den Bedingungen eines demokratischen
Diskurses. Erstere lassen sich mit Hilfe eines Metaprinzips des
rationalen Dialogs formulieren, letztere nur mit Hilfe eines Prin
zips gleicher Individualrechte; die Kategorie der Individualrechte
läßt sich aber aus keinem Rationalitätsprinzip begrifflich ableiten.
Habermas’ Versuch, den Primat der kommunalistischen Perspek
tive dadurch zu sichern, daß er die Metaprinzipien des rationalen
Diskurses zur einzigen unhinterfragbaren Grundlage einer demo
kratischen Konkretisierung von Individualrechten macht, muß
deshalb scheitern, weil die Prinzipien des rationalen Diskurses
nur in Verbindung mit dem Prinzip gleicher Individualrechte jene
unhintergehbare Grundlage darstellen kann, die von keiner demo
kratischen Institutionalisierung und Konkretisierung negativer
Freiheit in Frage gestellt werden darf. Offensichtlich läßt sich die
normative Substanz moderner demokratischer Kulturen aus kei
nem Begriff diskursiver Rationalität allein ableiten.35
Ich denke, daß Argumente dieser Art auch im Zentrum von He-
35 Dies hat Habermas inzwischen ausdrücklich anerkannt. Allerdings
glaube ich, daß auch die »Verschränkung« von »Diskursprinzip« und
»Rechtsform« nicht ausreichend ist für eine solche Ableitung. Vgl.
J. Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1992, insbes. S. 154 ff.
42
gels antiformalistischcr Strategie stehen. Wenn es richtig ist, daß
wir mehr als den Begriff rationaler Argumentation oder eines ra
tionalen Konsenses brauchen, um die grundlegenden Bedingun
gen eines rationalen politischen Konsenses in modernen Gesell
schaften auszubuchstabieren, dann hat Hegel insbesondere in
Hinsicht auf die Naturrechtstheorien immer noch in einem zwei
fachen Sinn recht: (r) in seinem Versuch, ein Wahrheitsmoment in
der »atomistischen« Konzeption natürlicher Rechte zu retten;
und (z) in seiner Weigerung, die Idee des Naturrechts in ein tran
szendentales Prinzip kommunikativer Rationalität und kommu
nikativer Freiheit zu übersetzen. Ein Indiz dafür, daß von einem
Prinzip der letzteren Art - sogar wenn cs im Sinne einer prozedu
ralen Rationalitätskonzeption ausbuchstabiert wird — keine uni
versalistische Konzeption negativer Freiheit direkt ableitbar sein
kann, ist, daß die negativen Freiheitsrechte - wie ich früher ange
deutet habe —, in einem bestimmten Sinn sogar Rechte gegen die
Forderungen einer kommunalen Rationalität sind. Dies wird we
niger paradox erscheinen, wenn wir berücksichtigen, daß die
Forderungen kommunaler Rationalität in jedem bestimmten
Kontext und zu jedem geschichtlichen Zeitpunkt eine Art öffent
licher Definition in der Form von Institutionen, moralischen
Überzeugungen, öffentlicher Meinung etc. haben werden, eine
Art öffentlicher Definition, die jedoch offen für Kritik und mög
liche Veränderungen sein und Platz für Dissens lassen muß. Aus
dieser Perspektive gesehen wäre negative Freiheit zumindest die
Freiheit, anderer Meinung zu sein und als Nonkonformist zu han
deln. Es scheint aber offensichtlich, daß die Anerkennung ent
sprechender Rechte ein essentieller Bestandteil einer jeden mög
lichen Konzeption kommunaler Freiheit in der modernen Welt
sein muß. Natürlich würde ein »Kommunalist« wie Habermas
dem zustimmen. Die einzige kontroverse Frage wäre deshalb, ob
»vermittelnde« philosophische Argumente der Art, wie ich sie
hier — Hegels Strategie folgend - zu skizzieren versucht habe,
notwendig sind für eine angemessene Rekonstruktion unserer
weitgehend unkontroversen Intuitionen. Um meine These zu un
termauern, daß ein universalistisches Prinzip negativer Freiheit
begrifflich nicht als Teil eines Begriffs kommunikativer Rationali
tät in Habermas’ Sinn betrachtet werden kann, möchte ich zwei
weitere Anmerkungen zu dieser These machen.
(i) Vom Standpunkt einer prozeduralen Rationalitätskonzeption
43
i
'S
44
’wenn wir uns den Zusammenhang zwischen dem Prinzip negativer
IFreiheit und der Möglichkeit eines rationalen Konsenses anders
'vorstellen. Das bringt mich zu meiner zweiten Anmerkung.
1(2) Rawls hat sein erstes Gerechtigkeitsprinzip, das als universali
stisches Prinzip negativer Freiheit verstanden werden kann, als
den Inhalt eines rationalen Konsenses zwischen Individuen inter
pretiert, die unter Bedingungen einer »original position« - d. h.
hinter einem »Schleier des Nichtwissens« - und auf der Grund
lage rein strategischer Kalkulationen herauszufinden versuchen,
welche Art von grundlegenden sozialen Arrangements am besten
für sie wäre. Der Begriff der »original position« - eine begriffli
che Fiktion — ist der Kunstgriff, den Rawls benutzt, um sicherzu
stellen, daß die strategischen Kalkulationen der Individuen unter
den einschränkenden Bedingungen einer universalistischen Moral
durchgeführt werden.36 Aus diesem Grund kommt Rawls’ erstes
Gerechtigkeitsprinzip der Kantischen Definition von »Recht«
sehr nahe, die ich früher zitiert habe; noch näher kommt sie je
doch der Hegelschen Konzeption des »abstrakten Rechts«. Der
interessante Punkt ist nun, daß der Konsens, um den es hier geht,
ein »transzendentaler« Konsens ist: Unter der Voraussetzung
einer Pluralität von Individuen mit unterschiedlichen Interessen
muß doch jedes einzelne Individuum, das rational seine eigenen
Interessen hinter einem Schleier des Nichtwissens verfolgt, zu
demselben Ergebnis kommen. Kein Diskurs zwischen den Indivi
duen ist notwendig. Das ist ein »transzendentales« Argument
anderer Art als dasjenige, das in der Rechtfertigung der Metaprin
zipien des rationalen Diskurses in Habermas’ Sinn impliziert ist;
d. h. das Prinzip, das Rawls zu begründen versucht, ist weder ein
Metaprinzip des rationalen Diskurses in Habermas’ Sinn, noch
eine spezifische moralische Norm, die der Inhalt eines möglichen
rationalen Konsenses (in Habermas’ Sinn) sein könnte. Es ist eher
ein Metaprinzip der Gerechtigkeit für Individuen, die eine maxi
male Sphäre negativer Freiheit für sich wollen und bereit sind,
dieselbe Sphäre negativer Freiheit allen anderen zu gewähren.
Diese Individuen sind »abstrakte« Individuen und ihre Freiheit
insoweit eine »abstrakte« Freiheit.
36 »Mein Vorschlag ist der, die wichtigsten Parallelen zwischen dem Ur
zustand und dem Blickwinkel hcrauszustellen, unter dem das intelli-
gible Ich die Welt sieht.« J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit,
a.a.O., S. 288.
45
Es ist nun interessant zu sehen, daß Rawls einer Prozedur zu
folgen versucht, die in einem gewissen Sinn derjenigen analog ist,
die Hegel gewählt hat. Rawls versucht nämlich zu zeigen, daß
seine »dünne« Konzeption von Gerechtigkeit, wenn man alle ihre
Implikationen bezüglich einer möglichen Institutionalisierung
durchdenkt, zu einer universalistischen Konzeption kommunaler
Freiheit im Sinne dessen führt, was ich eine demokratische Form
von Sittlichkeit genannt habe. Natürlich unterscheidet sich Rawls’
Prozedur deutlich von derjenigen Hegels, soweit es um den spe
ziellen Übergang vom »abstrakten Recht« zur »konkreten Sitt
lichkeit« geht; wobei der wichtigste Unterschied der ist, daß für
Rawls das erste Gercchtigkeitsprinzip, d. h. das Prinzip gleicher
Freiheit, direkt zu einem Prinzip gleicher politischer Partizipa
tionsrechte führt.37 ich will hier nicht die Details der Rawls-
schen Konstruktion verteidigen; was ich an ihr aber bemerkens
wert finde, ist, daß einer solchen Konstruktion keine Grenzen
bezüglich der möglichen begrifflichen und anthropologischen
»Auffüllung« der »abstrakten« Gerechtigkeitskonzeption gezo
gen sind, die den Ausgangspunkt bildet; man könnte sogar einen
Begriff kommunikativer Rationalität in sie einschreiben. Folglich
ist es kein Problem, mit Rawls zu einer kommunalen Konzeption
von Freiheit zurückzukommen-, hierbei ist jedoch von Anfang an
garantiert, daß diese Konzeption kommunaler Freiheit eine für
die moderne Welt sein wird - denn die Konstruktion beginnt,
Kantisch, im Zentrum des modernen Bewußtseins, d. h. mit einer
universalistischen Konzeption von Recht und Moral. Deshalb
wird dieser Konstruktion von Anfang an eine Art Dualismus von
bürgerlicher Gesellschaft und Staat innewohnen, eine Art Dualis
mus mit normativem Gehalt. Diesen normativen Dualismus
könnte man auch als den gemeinsamen Wahrheitsgehalt der poli
tischen Philosophien von Hegel, Mill und Tocqueville sehen. Im
Gegensatz dazu enthält eine Konzeption kommunaler Freiheit,
die ausschließlich auf einer Konzeption kommunikativer Rationa
lität aufruht, keinen solchen normativen Dualismus, und zwar
deshalb, weil ihr kein Prinzip negativer Freiheit einbeschrieben
ist. Dies ist natürlich auch der Grund, weshalb die »atomisti-
schen« Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft in Habermas’
Theorie nur aus der Perspektive einer notwendigen »Reduktion
37 A.a.O., S. 251.
46
von Komplexität« gerechtfertigt werden können, d. h. in Begrif
fen eines »Stcucrungsproblcms« moderner Gesellschaften. Man
könnte jedoch argumentieren, daß vom Standpunkt eines Prinzips
negativer Freiheit nicht die Reduktion, sondern die Erzeugung
von Komplexität der versöhnende Zug jenes Aspekts von »Ent
zweiung« ist, der für die moderne bürgerliche Gesellschaft konsti
tutiv ist.
Meine Vorbehalte bezüglich der Möglichkeit der Begründung ei
nes modernen Freiheitsbegriffs ausschließlich auf der Grundlage
eines prozeduralen Begriffs »kommunikativer« oder »diskursi
ver« Rationalität sollten nicht mißverstanden werden. Ich glaube
nämlich, daß Habermas recht hat, wenn er einen solchen Rationa
litätsbegriff als den normativen Kern jeder möglichen nachmcta-
physischcn Vernunftidee denkt. In einem wichtigen Sinn begreift
diese Rationalitätskonzeption die grundlegenden normativen
Strukturen des modernen Bewußtseins in sich. Ich habe lediglich
argumentiert, daß sic allein nicht ausreicht, um den vollen norma
I
tiven Gehalt eines modernen Freiheitsbegriffs zu erklären. Ein
universalistisches Prinzip gleicher Menschenrechte ist ein mora
lisches Prinzip, das - wie man mit Rawls und Habermas argumen- •
tieren könnte - der einzig mögliche Inhalt eines universalen
rationalen Konsenses über Menschenrechte ist. Weil jedoch die
Kategorie »abstrakter« oder »negativer« Freiheit - und somit ein
wichtiger Aspekt dessen, was wir mit Menschenrechten meinen —
nicht Teil eines Rationalitätsprinzips sein kann, scheint es, daß ein
Prinzip der Menschenrechte nicht direkt in einem Prinzip der Ra i
tionalität impliziert sein kann: Ein Prinzip der Menschenrechte ist
ein substantielles moralisches Prinzip, dessen Rechtfertigung sich
von der Rechtfertigung des Rationalitätsprinzips unterscheiden
muß. Zugleich aber ist ein Prinzip der Rechte nicht eine jener
spezifischen Normen, die in einem rationalen demokratischen
Konsens gerechtfertigt werden könnten: Als ein Meraprinzip der
Rechte kommt es eher einem Metaprinzip der Moral nahe und
definiert deshalb eine einschränkende Bedingung dessen, was der i
legitime Inhalt eines demokratischen Konsenses sein könnte.38
38 Daß diese einschränkende Bedingung zugleich eine »ermöglichende«
Bedingung des demokratischen Diskurses ist, habe ich hervorgehoben.
Wenn Habermas demgegenüber heute sagt, daß eine »ermöglichende«
Bedingung keine »einschränkende« Bedingung sein könne (vgl. J. Ha i
■-
VI.
4«
tion von Rationalität in Habermas’ Sinn einen posttraditionalcn
if
Typus von ethischer Übereinstimmung - nämlich eine Überein
stimmung über die A/efanormcn rationaler Argumentation - und i
incins damit ein Verfahren - und zwar das einzig mögliche Verfah
ren - zur Wiederherstellung ethischer Übereinstimmung zwi
schen freien und gleichen Individuen zu definieren scheint, wenn
i
einmal die traditionalcn ethischen Bindekräfte der Gesellschaft
sich zersetzt haben. Durch das Verfahren der Argumentation
würde Freiheit mit Solidarität und Rationalität verknüpft; eine
prozedurale Konzeption von Rationalität würde deshalb - so
könnte das Argument lauten — den normativen Kern einer post-
traditionalen Form von kommunaler Freiheit definieren.
Ich habe jedoch zuvor argumentiert, daß kein universalistisches
Prinzip »negativer« Freiheit wirklich - in einem transparenten
Sinn - in einer prozeduralen Konzeption von Rationalität »impli
ziert« ist. Das heißt eben, daß Freiheit und Vernunft in der
Moderne nicht koinzidieren. Wenn das aber stimmt, kann ein pro
zeduraler Rationalitätsbegriff auch nicht ausreichend sein, um
eine postkonventionellc Idee von Solidarität (»Brüderlichkeit«) zu
begründen. Eine postkonventionell verstandene Solidarität erfor- *
dert, daß wir einen Raum negativer Freiheit für alle anderen
wollen: einen Raum negativer Freiheit, der die Voraussetzung da
für ist, daß wir das eigene Leben bestimmen und für die eigenen I
Entscheidungen die Verantwortung übernehmen können, und der
gleichzeitig die Freiheit einschließt, »nein« zu sagen und entspre
chend zu handeln. Nur auf der Grundlage einer solchen Freiheit
sind symmetrische Formen wechselseitiger Anerkennung, sind
freiwillige Übereinkünfte und ist ein rationaler Konsens unter
Gleichen denkbar. Nur wenn eine prozedurale Konzeption von
Rationalität schon die Antizipation oder »Projektion« einer Le
bensform implizieren würde, die sich als Verkörperung kommuni
kativer und diskursiver Rationalität in einem idealen Sinne verste
hen ließe (im Sinne einer »idealen Kommunikationsgemein
schaft«), könnten wir eine Konzeption kommunaler Freiheit allein
auf eine Idee von Rationalität gründen. Ich glaube jedoch - und
habe an anderer Stelle zu zeigen versucht39 -, daß eine solche
49
•'
1
Idealisierung keinen Sinn macht. Was ich sagen will, ist nicht, daß
die Idee der Rationalität eine transzendentale Illusion enthält- wie
z. B. Derrida argumentieren würde-, d. h. daß sie auf Idealisierun
gen basiert, die so unvermeidlich wie illusionär sind. Ich will viel
mehr sagen, daß jene Idealisierungen mit den ihnen immanenten
begrifflichen Inkohärenzen nicht wirklich im Begriff der Rationa-
lität impliziert sind. Auchi aus diesem Grund kann die Idee kom-
munaler Freiheit, selbst wenn sie der rationalen Argumentation
einen privilegierten Platz mit Bezug auf die Wiederherstellung
und Erhaltung ethischer Konsense einräumen wird, nicht auf eine
prozedurale Konzeption von Rationalität reduziert werden.
Kommunale Freiheit ist eine Freiheit, die - durch die Institutio
nen und Praktiken einer Gesellschaft, durch das Selbstverständ
nis, das Interesse und die Gewohnheiten der Bürger — ein
gemeinsames Ziel geworden ist. Negative Freiheit verändert ihren
Charakter, wenn sie eine gemeinsame Angelegenheit wird. Denn
dann wollen wir nicht nur unsere je eigene Freiheit, sondern ein
Maximum an Selbstbestimmung für alle. Einen solchen gemeinsa
men - und gemeinsam anerkannten - Raum der Selbstbestim
mung kann es jedoch nur geben, wenn es einen institutionalisier
ten Raum öffentlicher Freiheit gibt, in dem wir im Medium
öffentlicher Diskussion und demokratischer Praxis unsere Rechte
der Selbstbestimmung als politische Rechte wahrnehmen. Wäh
rend negative Freiheit durch die Institutionen und Praktiken
kollektiver Selbstbestimmung in kommunale Freiheit transfor
miert wird, ist solche kommunale Freiheit, wo sie existiert, not
wendig selbstreflexiv: sie wird zu ihrem eigenen Zweck. Dies galt
in einem bestimmten Sinn schon für die griechische Polis, zumin
dest wenn wir jenen Philosophen von Hegel bis zu Hannah
Arendt glauben, für die die griechische Polis das erste große Para
digma politischer Freiheit war. Die Institutionen, Praktiken und
Gewohnheiten kommunaler Freiheit werden sich selbst zum
Zweck, wo sie für die Sclbstinterpretation, die Identität und die
praktischen Orientierungen der Individuen konstitutiv geworden
sind; denn wo dies geschieht, wird der Inhalt demokratischer Wil
lensbildung nicht länger nur durch jene vorpolitischen Angele
genheiten, Interessen und Konflikte bestimmt, die von außen in
die politische Sphäre hineingetragen werden (mit dem Ziel einer
gerechten oder pragmatisch sinnvollen Regelung); vielmehr wird
die kommunale Freiheit selbst zum Inhalt der Politik - nicht nur
5°
im revolutionären Akt der constitutio libertatis, der für Arendt
immer das Paradigma politischen Handelns darstellte, sondern
auch in jener politischen Praxis, bei der es um die Sicherung, die
i
Neuinterpretation, die Verteidigung, Veränderung und Erweite
rung des Raums öffentlicher Freiheit geht. Die constitutio liberta
tis ist eine unabschließbare Aufgabe des politischen Handelns
unter Bedingungen öffentlicher Freiheit; das ist das Wahrheitsmo
ment in Arendts ansonsten paradoxer Überzeugung, daß die
Sphäre politischen Handelns sich selbst zum Inhalt habe.40
Was die Selbstreflcxivität kommunaler Freiheit, wie wir sie schon
der griechischen Polis zuschreiben können, von der Selbstreflexi
vität jeder modernen Form kommunaler Freiheit unterscheidet,
ist nicht nur, daß letztere auf der (universalistischen) Anerken
nung eines »Rechts der Besonderheit« basieren muß, sondern
auch, daß sie noch in einem anderen Sinn sclbstreflexiv ist; näm
lich im Sinne des Wissens darum, daß weder bestimmte normative
Gehalte noch die Interpretationen, auf denen sie basieren, gegen
über der Möglichkeit rationaler Kritik immun sind. In einem
bestimmten Sinn - und das ist der Wahrheitsgehalt von Habermas’
Interpretation kommunaler Freiheit - ist jeder besondere norma
tive Gehalt, jede spezifische institutionelle Regelung und jeder
bestimmte Zusammenhang von Interpretationen im Prinzip an
fechtbar und für Revisionen offen. Deshalb definiert eine proze I-
i •.
durale Konzeption von Rationalität in der Tat eine wichtige
strukturelle Bedingung jeder modernen Form kommunaler Frei \
heit. Daß sie nur eine Bedingung definiert und uns noch keinen i <
zureichenden Begriff kommunaler Freiheit an die Hand gibt,
könnte man nun auch so ausdrücken: ein prozeduraler Begriff
von Rationalität kann uns zwar sagen, was vernünftige Freiheit
wäre, aber nicht, was vernünftige Freiheit wäre.
51
VII.
52
der Moderne ist deshalb kein Projekt, das jemals »vollendet« sein
£
1:>
könnte. Die einzige Möglichkeit, dieses Projekt zu vollenden,
wäre die der Zerstörung oder der Selbstauslöschung der Mensch y
heit— eine Möglichkeit, die, wie wir wissen, nicht mehr undenk
bar ist. Der unabschließbarc Charakter des Projekts der Moderne
N
impliziert das Ende der Utopie, wenn Utopie »Vollendung« im
Sinne einer definitiven Verwirklichung eines Ideals oder eines Te-
los der Geschichte bedeutet. Ein Ende der Utopie in diesem Sinne
meint nicht die Einsicht, daß wir nie imstande sein werden, das
Ideal vollständig zu realisieren, sondern die Einsicht, daß eben
diese Idee einer endgültigen Realisierung eines idealen Zustands
mit Bezug auf die menschliche Geschichte keinen Sinn macht. Ein I
Ende der Utopie in diesem Sinn ist jedoch nicht gleichbedeutend
mit einem Ende der libertären Impulse, des moralischen Univer-
salismus und des demokratischen Revisionismus, die Teil des
Projekts der Moderne sind. Das Ende der Utopie sollte eher als
der Beginn einer neuen Sclbstrcflexion der Moderne verstanden
werden, eines neuen Verständnisses der radikalen Impulse des
modernen Geistes; es könnte als der Eintritt der Moderne in ihre
postmetaphysische Phase verstanden werden. Dieses Ende der
Utopie wäre keine Blockierung utopischer Energien; eher deren
Neuformierung, Transformation und Pluralisierung; denn kein
menschliches Leben, keine menschliche Leidenschaft, keine
menschliche Liebe wäre denkbar ohne einen utopischen Hori
zont. Nur die Objektivierung solcher utopischen Horizonte zur
Idee eines geschichtlichen Zustands der Versöhnung kann »meta
physisch« genannt werden. Und soweit utopischer Radikalismus
im Bereich der Politik mit solchen falschen Objektivierungen ver
knüpft ist, kann auch er »metaphysisch« genannt werden. Im
r
i?
Bereich der Politik haben nur »konkrete« Utopien einen legitimen
Ort. Eine universalistische Idee kommunaler Freiheit jedoch ist
weder eine »abstrakte« noch eine »konkrete« Utopie. Sie bezeich
net eher den normativen Horizont für konkrete Utopien, denn sie
definiert die Voraussetzungen dessen, was ein gutes Leben unter
den Bedingungen der Moderne genannt werden kann.
I.
54
ähnlich wie cs mit dem konfessionellen Pluralismus der bürger
lichen Frühzeit in den modernen Staaten des Westens mehr oder
weniger erfolgreich gelungen ist.1 Wenn man nun, wie Walzer dies
tun möchte, die Strukturen einer egalitären Bürgergcscllschaft dem
Partikularismus nationaler oder ethnischer Identitäten vorordnet,
so erinnert dies an ein Grundmotiv des modernen Naturrechts, das !
in der kommunitaristischen Kritik am Liberalismus merkwürdig
unterbelichtet geblieben ist. Gegenstand der letzteren Kritik ist
vor allem der »atomistischc« Individualismus der liberalen Theo
rie, und zwar als das ideologische Spiegelbild der Pathologien und
Anomien der liberalen Gesellschaft. Walzers Erinnerung an die
europäischen Religionskriege hebt nun einen Aspekt der liberalen
Tradition hervor, der sich als Ausgangspunkt einer liberalen Me
takritik am Kommunitarismus anbietet, und zwar weil der Indivi
dualismus der liberalen Tradition hier nicht als Ausdruck eines
anthropologischen Atomismus, sondern als Ausdruck eines spe
zifisch modernen Reflexions- und Emanzipationsschubes er
scheint. Das liberale Selbst, so hat Walzer es ausgedrückt, ist ein
post-soziales, kein z>or-soziales Selbst:2 das scheinbar »ontologi
sche« Problem daher, in Charles Taylors Worten, in Wirklichkeit
ein »advokatorischcs«.3
In Walzers Hinweis auf die Religionskriege ist ersichtlich bereits
eine Stellungnahme in der Debatte zwischen Liberalen und Kom-
munitaristen vorgezeichnet. Walzer bestreitet nicht das Recht der
kommunitaristischen Kritik an der liberalen Gesellschaft, er ver
sucht aber die möglichen kommunitären Gegenkräfte zu den
Pathologien und Anomien der liberalen Gesellschaft an anderer
Stelle zu verorten als die Kommunitaristen, nämlich im Innern
der liberalen Tradition selbst. Diese Strategie finde ich einleuch
tend; im folgenden möchte ich sie verteidigen und explizieren.
1 Vgl. Michael Walzer, »The Idea of Civil Society*, in: Dissent, Frühjahr
1991, S. 300.
2 Michael Walzer, »The Communitarian Critique of Libcralism*, in: Po
litical Theory, Bd. 18, Nr. 1, Februar 1990, S. 21.
3 Zur Unterscheidung zwischen dem »ontologischen« und dem »advoka-
torischen« Aspekt der Debatte zwischen Liberalen und Kommunitari-
sten s. Charles Taylor, »Cross-Purposes: The Liberal-Communitarian
Debate«, in: Nancy Rosenblum (Hg.), Liberalism and the Moral Life,
Cambridge, Mass./London 1989, S. 159 ff.
55
Und zwar möchte ich dies in zwei Schritten tun: im ersten Schritt
wähle ich als Bezugspunkt-wie die Kommunitaristen es explizit
und die Liberalen in der Regel zumindest implizit tun - partiku
lare Gesellschaften mit klar definierten Zugehörigkcitskritierien;
dies bedeutet, wenn wir uns zunächst auf moderne westliche Ge
sellschaften beschränken, daß zugehörig diejenigen Menschen
sind, die Bürgerrechte haben - was auch immer die Kriterien sein
mögen, nach denen solche Bürgerrechte zuerkannt werden. Aus
der Wahl eines solchen Bezugspunktes folgt, daß Bürger- und
Menschenrechte klar unterschieden werden müssen. Der »Volks
souverän« solcher Gesellschaften ist der Inbegriff aller Menschen
mit Bürgerrechten; was die übrigen Menschen betrifft, so werden
sie stillschweigend als Glieder eines anderen »Volkssouveräns«
betrachtet, und, zumindest theoretisch, mehr oder weniger ver
nachlässigt. Mit anderen Worten: die Gesellschaften, die ich im
ersten Schritt meiner Überlegungen als Bezugspunkt wähle, sind
politisch-moralisch in sich abgeschlossen und nach außen hin klar
abgegrenzt. Natürlich handelt es sich hier um eine politisch-mo
ralische Fiktion. Im zweiten Schritt meiner Überlegungen werde
ich erläutern, welche Konsequenzen sich aus der Auflösung dieser
Fiktion für eine angemessene Deutung der im ersten Schritt ge
wonnenen Resultate ergeben.
II.
56
individueller - liberaler, sozialer und demokratischer - Grund
rechte fixierte Gesellschaft kein Äquivalent für die »vereinigende I
Macht der Religion« hervorbringen kann; hierfür wäre vielmehr
eine ebenso verpflichtende wie identitätsstiftende gemeinsame s
Konzeption des Guten vonnöten, ein kollektiv verbindlicher und
verbindender Wert- und Verständnishorizont, der allen individu
ellen Rechten normativ vorgeordnet wäre und gleichsam erst
deren Grenzen und deren legitimen Anspruch bestimmen könnte.
Als liberal können wir demgegenüber Positionen bezeichnen, die
auf der Annahme basieren, daß erstens die liberalen und demokra
tischen Grundrechte intern mit einer — zumindest potentiell -
solidaritätsstiftenden Konzeption eines gemeinsamen Guten ver
knüpft sind, und daß zweitens in modernen Gesellschaften keine
darüber hinausgehende Konzeption des Guten zu einer für alle
Gesellschaftsmitglieder verpflichtenden Grundlage der gesell
schaftlichen »Vereinigung« gemacht werden darf.
Nun operieren ja Liberale und Kommunitaristen auf dem Boden
derselben Gesellschaften, nämlich der liberalen und demokrati
schen Gesellschaften Nordamerikas (und zunehmend auch: West
europas). Ihr Dissens ist daher weitgehend ein Dissens innerhalb
gemeinsamer Wertorientierungen. Etwas vergröbernd könnte
man sagen, daß Liberale und Kommunitaristen jeweils verschie
dene Aspekte derselben Tradition in den Vordergrund stellen:
Liberale betonen die Unhintergehbarkeit liberaler Grund- und
Freiheitsrechte, während die Kommunitaristen eher an den bür
gerlichen Republikanismus der amerikanischen Frühzeit anknüp
fen, also an die Tradition demokratischer Selbstregierung in
überschaubaren »communities« — d.h. Kommunen und Assozia ■>
57
II!' -
Sinn erhalten und daher legitim sein können. Für die Liberalen,
mit anderen Worten, bilden individuelle Freiheitsrechte den nor
mativen Kern der modernen liberalen und demokratischen Tradi
tion, während Kommunitaristen eher jene vergessenen Bedingun
gen oder Voraussetzungen ans Licht heben möchten, unter denen
allein liberale Freiheitsrechte zu einem produktiven Moment in
nerhalb kommunitärer Lebensformen werden können. Und noch
einmal ganz grob gesagt: Im Zweifelsfall werden die Liberalen auf
dem Schutz individueller Grundrechte bestehen; im Zweifelsfall
werden die Kommunitaristen der Integrität kommunitärer Le
bensformen oder auch einem Recht auf kollektive Selbstbestim
mung den Vorrang geben. Wenn man den Dissens so zuspitzt, und
wenn man sich nur für einen Moment die Komplexität der poli
tisch-moralischen Probleme vor Augen führt, die sich allein schon
im Zusammenhang mit den heutigen nationalen und ethnischen
Konflikten auf der nördlichen Halbkugel stellen, dann wird sofort
klar, daß in einem praktischen Sinne der Dissens zur Zeit als kaum
auflösbar erscheinen muß. Eher ist zu vermuten, daß der Wider
spruch zwischen den Desideraten nationaler, ethnischer oder
kultureller Selbstbehauptung auf der einen Seite, und der Forde
rung nach individuellen Grundrechten auf der anderen, zur Zeit
gelegentlich Züge eines tragischen, d.h. nicht ohne moralische
Verletzungen auflösbaren Konflikts hat.6
Dies schicke ich vorweg, um fürs Folgende den wirklichen Stachel
des kommunitaristischen Arguments präsent zu halten. Zunächst
möchte ich aber, wie schon angekündigt, auf die Debatte als eine
interne Debatte liberaler Gesellschaften eingehen. Und zwar
vernment, Law, and Politics«; John Rawls, »The Priority of Right and
Idcas of the Good«, in: Philosophy and Public Affairs, 17, 1988, insbes.
S. 272 f.; Michael Walzer, »The Idea of Civil Society«, a.a.O., insbes.
S. 294 f. und S. 303 f.
6 Ich sage: gelegentlich; denn was die gegenwärtigen Ausbrüche nationa
listischer oder rassistischer Barbarei in Europa, etwa auf dem Gebiet des
ehemaligen Jugoslawien oder auch in deutschen Ausländerpogromen,
betrifft, so kann von tragischen Konflikten kaum die Rede sein. In jenen
Ausbrüchen spielt ein legitimierendes Motiv kultureller Selbstbehaup
tung keine Rolle mehr (oder allenfalls bei den Opfern). Eine Politik der
ethnischen Säuberung hat nichts mit der Verteidigung kommunitärer
Lebensformen zu tun; sie ist bestenfalls ein Symptom, schlimmstenfalls
ein Instrument ihrer Zerstörung.
«• 5«
I
werde ich, zum Teil in Anknüpfung an Walzers überzeugendes
Resümee der Debatte,7 zu zeigen versuchen, wie - und wie weit
— das kommunitaristische Motiv in eine liberale Theorie integriert
werden kann. Ich hoffe, daß hierbei auch die Konturen der De
batte, zumindest was die wesentlichen Streitpunkte betrifft, noch
schärfer hervortreten werden als bisher.
Ich hatte bereits auf einen Streitpunkt hingewicscn, der in einer
älteren Phase der Debatte eine wichtige Rolle spielte, insbeson
dere im Zusammenhang der kommunitaristischcn Kritik an John 1
Rawls; der Streitpunkt betraf den sozialen Charakter des indivi
duellen Selbst. Nun bin ich zwar mit Charles Taylor der Meinung,
daß der kommunitaristische Hinweis auf den sozialen Charakter
des individuellen Selbst nicht folgenlos bleiben kann für das Ver
ständnis der liberalen Grund- und Freiheitsrechte - der »ontolo
gische« Aspekt des Problems ist nicht unabhängig von seinem
»advokatorischen«;8 gleichwohl meine ich, daß Walzers Auflö
sung der Kontroverse zunächst einmal in die richtige Richtung
weist. Das liberale Selbst, so sagte er, sei ein post-soziales, kein
•uor-soziales Selbst; postsozial aber ist das liberale Selbst natürlich
nicht im Sinne einer Unabhängigkeit von sozial geprägten Identi
täten, Lebensformen und Traditionen, sondern im Sinne einer
reflexiven Distanz zu allen partikularen Identitäten, Lebensfor
men und Traditionen. Konstitutiv für diese reflexive Distanz ist
freilich eine Tradition zweiter Ordnung, eben jene Tradition mo
derner westlicher Gesellschaften, deren normative Substanz die
liberalen Theoretiker zu reformulieren versuchen. Liberale und
demokratische Grundrechte bilden den Kern dieser Tradition.
Walzer zeigt nun, daß die kommunitaristische Kritik der liberalen
Gesellschaft kohärent nur auf dem Wege einer kritischen An
knüpfung an die liberale Tradition formuliert werden kann. Der
richtig verstandene Kommunitarismus wäre der richtig verstan
dene Liberalismus; denn
»the language of individual rights - voluntary association, pluralism, tole- .r
ration, Separation, privacy, free speech, the carecr open to talents, and so
on- is simply inescapable. Who among us seriously attempts to escape? If
6o
:i
Gesellschaft ist keine Idee des guten Lebens, sind keine substan
tiellen Wertorientierungen oder kulturellen Identitäten vor Kritik
und Revision sicher, nicht einmal die Interpretationen jenes libe
ralen und demokratischen Konsenses, der die einzig mögliche
Grundlage einer modernen Form demokratischer Sittlichkeit ist.
In diesem Sinn ist die moderne Demokratie wesentlich transgres-
siv und ohne festen Boden.
An dieser Stelle könnte der Verdacht eines schlechten Zirkels ent .1
stehen: ich habe ja angedeutet, daß der demokratische Diskurs in
liberalen Grundrechten verankert sein muß und daß zugleich nur
im Medium des demokratischen Diskurses die Deutung und Insti
tutionalisierung der Grundrechte fortgeschrieben werden kann.
Indes glaube ich, daß es sich hier um einen unvermeidlichen
praktischen und nicht um einen schlechten theoretischen Zirkel
handelt. Dies möchte ich erläutern durch eine Gegenüberstellung
und wechselseitige Relativierung von Rawls’ und Habermas’ Be
gründungsstrategien.10 Für Rawls sind liberale Grundrechte, für
io Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975; Jür
gen Habermas, »Ist der Herzschlag der Revolution zum Stillstand
gekommen? Volkssouveränität als Verfahren. Ein normativer Begriff
der Öffentlichkeit?«, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.),
Die Ideen von 1789, Frankfurt 1989. Meine Einwände gegen Haber
mas haben sich durch seine neuen Überlegungen in seinem (nach der
Abfassung dieses Artikels erschienenen) Buch Faktizität und Geltung,
Frankfurt 1992, Kap. 111 (»Zur Rekonstruktion des Rechts: Das Sy
stem der Rechte«), zum Teil erledigt, und zwar insofern Habermas
jetzt die liberalen Grundrechte gleichsam in das Demokratieprinzip
cinbaut (vgl. a.a.O., S. 154-157). Allerdings ändert sich hierdurch
nichts an dem hier behaupteten praktischen Zirkel. Mein Einwand ge
gen Habermas würde sich jetzt verschieben auf seine Ableitung der
liberalen Grundrechte aus einer Anwendung des Diskursprinzips auf
die Rechtsform. Im Diskursprinzip selbst steckt nämlich nach wie vor
die problematische Prämisse, daß nur eine egalitäre Distribution von
Grundrechten (konsens-) rational sein könne. Dies gilt sicherlich un
ter Voraussetzungen einer liberalen Kultur; ich sehe aber keinen ■
61
Ti
’j ’f
Habermas demokratische Kommunikations- und Tcilhabcrcchte
fundamental. Rawls sieht in den demokratischen Partizipations
rechten einen besonderen Ausdruck der liberalen Grundrechte,
die als letzter Maßstab jeder Form demokratischer Partizipation
vorgeordnet bleiben; Habermas sieht demgegenüber in der gleich
berechtigten Teilnahme aller am demokratischen Diskurs das
fundamentale Legitimitäts- oder »Gerechtigkeits«-Prinzip mo
derner Gesellschaften, das allen besonderen Ausformulierungen
liberaler Grundrechte vorgeordnet bleibt.11 Erst im Medium des
demokratischen Diskurses kann somit nach Habermas entschie
den werden, was - über die gleichen Kommunikations- und
Teilhaberechte hinaus - jeweils als liberales Grundrecht gelten
soll. In einer subtileren Form werden hier noch einmal die Diffe
renzen zwischen Locke und Rousseau ausgetragen; und in gewis
sem Sinne bezeichnet die Differenz zwischen Rawls’ liberaler und
Habermas’ demokratischer Theorie die interessanteste, weil fort
geschrittenste Version des Streits zwischen Liberalen und Kom-
munitaristen. Nun glaube ich, daß Rawls und Habermas beide
recht und unrecht haben: Rawls hat insoweit recht, als der demo
kratische Diskurs nicht die Grundlage seiner eigenen Realität aus
sich heraus erzeugen kann. Es gibt keinen prästabilierten Konsens
aller vernünftigen Wesen; damit ein demokratischer Diskurs, der
seinen Namen verdient, überhaupt in Gang kommen kann, müs
sen liberale Grund- und Freiheitsrechte vorweg gewährleistet,
d. h. zu einer sozialen und institutionellen Realität geworden sein.
Diese Voraussetzung demokratischer Diskurse könnte man nur
dann - theoretisch - vernachlässigen, wenn man von der - fal
schen - Annahme ausginge, das demokratische Prinzip gleicher
Kommunikations- und Teilhaberechte bezeichne so etwas wie den
idealen Endpunkt eines vollkommen herrschaftsfreien Diskurses
und hierin zugleich einen Bewertungsmaßstab für reale Gesell
schaften. Wenn dies aber nicht so ist, dann kann, was »gleiche
Kommunikations- und Teilhaberechte« jeweils bedeuten soll, nur
im Kontext eines ganzen Systems von Rechten, Praktiken und
Institutionen bestimmt werden. - Habermas hat aber auch recht
gegen Rawls: Wenn jede Auslegung und jede Institutionalisierung
von Grundrechten den Index einer geschichtlichen Situation, die
Spuren vergangener Konflikte und eine bestimmte Interpretation
62
!. '■
63
modernen Ökonomie, Wissenschaft und Kunst — ist somit be
gründet in einer eigentümlich instabilen, auf kein letztes Funda
ment zurückverweisenden Verknüpfung liberaler mit demokrati
schen Prinzipien. In dieser Verknüpfung ist aber zugleich ein
Spannnngsverhdltnis zwischen liberalen Grundrechten und de- 1
mokratischer Praxis angelegt. Im Schutz der liberalen Grund- r
rechte konstituiert sich nämlich ein liberales Selbst, das transgres-
siv ist in einem für kommunitäre Lebensformen, auch solche
demokratischer Art, potentiell bedrohlichen Sinne. Die liberalen 1
Freiheitsrechte sind, wie Walzer eindrücklich zeigt, zugleich >
Rechte zur Trennung, zur Verweigerung, zum Rückzug, zum
Neuanfang, zur Entzweiung.12 Als Individualrechte der Ent
zweiung und der Transgression sind die liberalen Grundrechte
einerseits die Bedingung der Möglichkeit einer posttraditionalen
Form demokratischer Sittlichkeit, andererseits aber auch ein po
tentieller Sprengsatz für kommunitäre Lebensformen. Sie sind die
Grundlage für den transgressiven Charakter der modernen De
mokratie und zugleich ein anti-kommunitäres Potential moderner
Lebensformen. »Liberalism«, sagt Walzer, »is a self-subverting
doctrine; for that reason, it really does require periodic commu-
nitarian correction.«13 Diese kommunitäre Korrektur kann aber
nur den Sinn einer Wiederbelebung, Stärkung und Ausweitung
jener demokratischen Partizipationsformen haben, deren Korrelat
und Lebenselement eben die liberalen Grundwerte sind. »The
communitarian correction of liberalism«, so Walzer, »cannot be
anything other than a selective reinforcement of those same values
or, to appropriate the well-known phrase of Michael Oakeshott, a
pursuit of our intimations of community within them.«H
Die »intimations of community« in den liberalen Grundwerten
selbst finden ihre Realisierung in den dezentralen und pluralen
Strukturen einer demokratischen »civil society« — einem Netz
werk autonomer Assoziationen, Institutionen und Öffentlichkei
ten unterhalb der Ebene des Staates. Und nur wo dies geschieht,
wo also eine demokratische Sittlichkeit die vielstimmige Prosa des
Alltagslebens durchdringt, können liberale Grundrechte und de
mokratische Legitimitätsform sich zur politischen Einheit eines
12 Vgl. Walzer, »The Communitarian Critique of Liberalism«, a.a.O.,
S. 11 ff.
13 A.a.O., S. 15.
14 A.a.O.
64
zugleich liberalen und demokratischen Gemeinwesens verbinden.
Der demokratische Staat benötigt den Pluralismus und die politi
sche Kultur einer demokratischen Bürgergesellschaft als sein Le-
benselcment; umgekehrt kann nur im Rahmen eines demokrati
schen Staates eine demokratische Bürgergcsellschaft sich entfalten:
»Only a democratic state can crcate a democratic civil society; only a
dcmocratic civil society can sustain a democratic state. The civility that
makes democratic politics possiblc can only be learned in the associational
networks; the roughly equal and widely dispersed capabilities that sustain
the networks have to bc fostered by the democratic state.«15
Man sollte das kritische Potential der Überlegungen von Walzer
nicht unterschätzen. Es sind die Überlegungen eines demokrati
schen Sozialisten, der die liberale Tradition radikalisierend beim
Wort nimmt. Noch stärker als Rawls hat Walzer die kommunitä-
ren Implikationen des liberalen Dispositivs herausgearbeitet;
hierin setzen beide die Tradition eines »kommunitären« Liberalis
mus fort, wie er sich in Ansätzen schon bei John Stuart Mill und
Tocqueville, in radikalerer Form bei John Dewey findet. Ihre
Strategie ist aber auch der Strategie Hegels in seiner Rechtsphilo
sophie verwandt: schon Hegel versuchte ja zu zeigen, daß die
Verwirklichung der liberalen Grundrechte nur denkbar sei als die
Verwirklichung einer modernen Form kommunitärer Sittlichkeit.
Was Walzer und Rawls, zusammen mit den eben genannten libe
ralen Theoretikern, unwiderruflich von Hegel trennt, ist ihre
demokratietheoretische Ausformulierung des kommunitären
Aspekts der modernen Freiheit. Ein anderer Grundgedanke He
gels aber kehrt bei Walzer in veränderter Form wieder: Hegel
hatte ja die bürgerliche Gesellschaft als »System der in ihre Ex
treme verlorenen Sittlichkeit« beschrieben16 - eine Beschreibung
übrigens, in der die kommunitaristische Kritik am Liberalismus
gleichsam in nuce enthalten ist. Dem Moment der Entzweiung,
das nach Hegels Analyse im latenten Atomismus der bürgerlichen
Gesellschaft enthalten ist, entspricht bei Walzer das anti-kommu-
nitäre Potential in den liberalen Grundrechten. Das Recht zur
Entzweiung bezeichnet ein integrales Moment moderner Freiheit;
es ist eng verknüpft mit dem, was man »negative« Freiheitsrechte
65
I
genannt hat. In dem berühmten Paragraphen 273 der Rechtsphi
losophie hat Hegel nun die These vertreten, daß Demokratie im
modernen Staat nicht möglich sei, weil sie - wie er im Anschluß an
Montesquieu sagt - die Tugend der Bürger als ihre Grundlage
voraussetze; sei aber das »Recht der Besonderheit« einmal aner
kannt-wie es mit der Institutionalisierung liberaler Grundrechte
in der modernen Gesellschaft geschieht -, so werde hierdurch
auch die mögliche Grundlage demokratischer Regierungsformen
zerstört. Dies Argument Hegels war schon zur Zeit seiner For
mulierung im Grunde obsolet, d. h. durch die Wirklichkeit zu
mindest der amerikanischen Demokratie überholt. Wenn man dies
Argument aber nur ein wenig anders formuliert und dabei be
rücksichtigt, daß Hegel ja vormoderne Formen einer demokrati
schen Republik vor Augen hatte, dann entpuppt es sich als
Vorwegnahme der vielleicht wichtigsten anti-kommunitaristi- :
sehen Argumente von Rawls und Walzer. Ich meine ihre Argu
mente gegen den »civic republicanism« von Kommunitaristcn wie
Taylor oder Bellah.17 Wenn ich diesen Argumenten eine beson- 1
dere Bedeutung beimesse, dann deshalb, weil in ihnen - gleichsam
jenseits aller Vorgefechte etwa über den sozialen Charakter des j
Selbst oder die Priorität des Guten oder Richtigen - die vielleicht
entscheidende Differenz zwischen Liberalen und Kommunitari- ’
sten zum Vorschein kommt. Und zwar handelt es sich um zwei
unterschiedliche Verständnisse dessen, was partizipatorische De
mokratie und was »demokratische Sittlichkeit« in modernen Ge
sellschaften bedeuten können. »Republicanism«, sagt Walzer -
und ganz ähnlich hätte es auch Hegel formulieren können -, »is an
integrated and unitary doctrine in which cnergy and commitment
are focused primarily on the political realm. It is a doctrine adap-
ted (in both its classical and ncoclassical forms) to the needs of
small, homogeneous communities, where civil society is radically
undifferentiated.«18 Diese Form des Republikanismus verliert
ihre Grundlage, wenn - wie es in der liberalen Gesellschaft ge
schieht - die Konzepte des guten Lebens, die Wertorientierungen
und Identitätsentwürfe sich vervielfältigen und privatisieren.
Denn jetzt kann das gemeinsam geteilte öffentliche Gute - näm-
vj Vgl. Fußnote 5.
18 Michael Walzer, »The Communitarian Critique of Liberalism«, a.a.O.,
S. 20.
66
lieh das in den liberalen und demokratischen Institutionen selbst
verkörperte gemeinsame Gute - erstens nur noch als Kreuzungs
punkt einer Vielfalt miteinander konkurrierender Ideen des guten
Lebens verstanden werden, und es kann eben deshalb zweitens
nicht mehr als der allein privilegierte Ort des guten Lebens ver
standen werden. Ich denke, daß Rawls’ These von der Priorität
des Richtigen gegenüber dem Guten letztlich nichts anderes zum
Ausdruck bringt als diese Relativierung des gemeinsam geteilten,
öffentlichen Guten gegenüber der Vielfalt individueller oder auch
in freiwilligen Assoziationen verfolgter Sinn- und Lebensent
würfe.19 Das gemeinsame Gute läßt sich nur bestimmen durch
Angabe der normativen Bedingungen - d. h. der liberalen und de
mokratischen Prinzipien unter denen die exzentrische Vielfalt
der je individuellen oder besonderen Entwürfe des Guten egalitär
sich entfalten kann.
Solche Überlegungen müssen nun aber auch den Begriff einer
»demokratischen Sittlichkeit« affizieren, wie ich ihn mehrfach -
gleichsam in naiv-paradoxer Anknüpfung an Hegel - gebraucht
habe. Der Begriff meint eine Habitualisierung liberaler und demo
kratischer Verhaltensweisen, wie sie nur durch den Gegenhalt in
entsprechenden Institutionen, Traditionen und Praktiken Zustan
dekommen und sich reproduzieren kann. Der Begriff meint im
Grunde nichts anderes als die soziale Verkörperung liberaler und
demokratischer Prinzipien in einer politischen Kultur. »Die Sitt
lichkeit«, in Hegels unübertrefflicher Formulierung,
»ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußt
sein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so
wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage
und bewegenden Zweck hat, - der zur vorhandenen Welt und zur Natur
des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit. «20
Was nun am Begriff einer demokratischen Sittlichkeit paradox
scheint, ist, daß er nicht »substantiell«, sondern »formal« oder, in
einem Terminus von Habermas, »prozedural« zu bestimmen
wäre. Denn cs gibt keine sittliche Substanz jenseits des demokra I ■
tischen Diskurses, die sich in einer für alle verbindlichen Form, sei a
es philosophisch, sei es theologisch, begründen oder zementieren !<
i
19 So explizit in John Rawls, »The Priority of Right and Ideas of the
Good«, a.a.O., S. 272 f.
20 Hegel, a.a.O., § 142, S. 292.
i
67
i
68
bencn Wechselspiel zwischen autonomen Öffentlichkeiten und
den von ihnen »belagerten« zentralen politischen Institutionen.
Der Begriff einer demokratischen Sittlichkeit definiert somit nicht
schon einen bestimmten Inhalt des guten Lebens, sondern nur die !
Form einer zugleich egalitären und kommunikativen Koexistenz
einer Vielfalt miteinander konkurrierender Ideen des Guten. Und
das heißt zugleich, daß das politische Leben nicht mehr nur der
einzige oder privilegierte Ort des guten Lebens sein kann. Das
gemeinsame Gute einer demokratischen Lebensform kann zwar
nicht existieren, ohne zugleich ein Zweck zu sein; insofern geht cs
in der kommunitären Praxis demokratischer Teilhabe immer auch
um die Sicherung und Erweiterung ihrer eigenen Grundlagen - in
der demokratischen Sittlichkeit wäre, in Hegels Worten, ein
»freier Wille« verkörpert, »der den freien Willen will«.22 Aber
dieser freie Wille schließt unter Bedingungen der Moderne we
sentlich ein »Recht der Besonderheit« ein, d. h. ein zentrifugales
Moment der Entzweiung, der Negativität, der konfliktreichen
Pluralisierung des Guten; und hierdurch wird es unmöglich, De
mokratie und bürgerliche Tugenden noch einmal zu einem sub
stantiellen Ganzen im Sinne des »civic rcpublicanism« zusam
menzuschließen. Als differenzierte ist die liberale Gesellschaft
zugleich fragmentiert; und dieser Fragmentierung der Gesell
schaft entspricht eine Fragmentierung des liberalen Selbst, dessen
persönliche Identitätsentwürfe immer nur riskante und revidier
bare Synthesen disparater Erfahrungen, Bedürfnisse, Loyalitäten,
Wertorientierungen und sozialer Identitäten sein können. Das li v1
berale Selbst ist entwurzelt. Sein Ort ist nicht eine territorial
begrenzte Gemeinschaft, die seine ganze Loyalität beanspruchen
könnte; sein Ort ist vielmehr der in Zeit und Raum wandernde
Knotenpunkt eines variablen Geflechts freiwilliger Assoziationen
und Loyalitäten, die nicht territorial, sondern thematisch, beruf
lich und personal bedingt sind. Bezogen auf das Ganze der
demokratischen Republik sind die liberalen Individuen, wie Wal
zer es ausdrückt, immer nur »intermittently virtuous; they are too
caught up in particularity«.23 Das heißt auch, daß sie die Span
nung zwischen den kommunitären und den anti-kommunitären
Potentialen des liberalen Dispositivs in sich selbst austragen müs-
69
sen; sie verkörpern variable Balancen von demokratischer Soiida-
Solida-
rität und liberaler Exzentrik, von sozialer Verantwortlichkeit und
partikularistischer Selbstsorge. Ihre Tugenden aber sind nichts als
der Ausdruck einer Habitualisierung liberaler und demokrati- |
scher Verhaltensweisen und lassen sich daher gewissermaßen i
selbst nur »prozedural« bestimmen. Es sind insbesondere Tugen- I
den eines gewaltfrei-kommunikativen Umgangs mit Dissensen, :
Konflikten, Heterogenitäten und Entzweiungen ebenso wie sol
che eines Lebens ohne letzte Synthesen und ultimative Lösungen.
Die kommunikative Vernunft solcher »tugendhaften« Liberalen
und ihr demokratischer Diskurs sind prinzipienorientiert und ra
dikal kontextualistisch zugleich, ihr Engagement für die demo
kratische Republik ist distanziert und doch notfalls von tödlichem
Ernst, und in ihren sozialen Beziehungen können sie sich exzen
trisch und solidarisch in einem verhalten. Kurz: sie sind Freunde
des Allgemeinen, Liebhaber der Unübersichtlichkeit und Artisten
der Differenz.
III.
7°
Individuen hängt von ihrer angemessenen Verknüpfung mit sozia
len Grundrechten ab; aber natürlich kann vom gemeinsamen
Guten einer liberalen und demokratischen Kultur nicht ernsthaft
die Rede sein, wo die liberalen und demokratischen Grundrechte
für ganze Klassen von Menschen nur geringen Wert haben. Sicher
lich wäre cs verwegen zu behaupten, daß das Problem der sozialen
Grundrechte in irgendeiner existierenden Gesellschaft angemes
sen gelöst worden sei; wenn ich es vernachlässigt habe, so deshalb,
weil ich es - soweit man es wirklich als ein internes Problem der
reichen Gesellschaften des Westens ansehen kann - für praktisch
lösbar halte, und weil es andererseits - soweit es als praktisch
unlösbar erscheint - im Grunde schon mit jenen externen Proble
i
men zusammenhängt, auf die ich gleich zu sprechen komme. Ich
möchte nur anmerken, daß ich - soweit es die philosophisch
begriffliche Seite des Problems betrifft - in Walzers Überlegungen
zum Problem distributiver Gerechtigkeit in seinem Buch Spheres ■
71
diesem Problemfeld nicht aus, sehe aber sowohl in den Überle
gungen Walzers als auch vor allem in neueren Überlegungen
Kambartels25 vielversprechende Hinweise darauf, daß es wo
möglich doch noch zu einer produktiven Aufhebung der Marx- ■
sehen Kapitalismuskritik in den Kontext einer liberalen und
demokratischen Theorie kommen könnte. Ohne Bändigung der
destruktiven Energien der kapitalistischen Ökonomie wird es, so
viel scheint sicher, auch keine Zukunft für die liberalen und
demokratischen Gesellschaften des Westens geben; aber mit dieser
Bemerkung bin ich bereits bei jenen Problemen angelangt, die ich
als »externe« bezeichnet habe.
Es geht mir auch im Folgenden nur um das Thema »Gemeinschaft
und Gerechtigkeit«, d.h. um das Thema des Streits zwischen Li
beralen und Kommunitaristen. Ich bin also vor allem an begriff
lichen und normativen Klärungen interessiert; dies muß ich vor
wegschicken, damit nicht der falsche Eindruck entsteht, ich wollte
einen Beitrag zur praktischen Lösung der heutigen Weltprobleme
leisten. Der begriffliche und normative Zusammenhang, der mich
interessiert, betrifft das Verhältnis zwischen Bürger- und Men
schenrechten. Die empirischen Annahmen, die ich hierbei mache,
sind durchweg trivialer Art; sie entstammen gewissermaßen dem
Repertoire eines aufmerksamen Zeitungslesers.
Ich habe bisher argumentiert, daß nur egalitär verstandene
Grund- und Teilhaberechte den Boden einer demokratischen Sitt
lichkeit, und daher auch den normativen Kern eines »gemeinsa
men Guten« in modernen Gesellschaften bilden können. Hierbei
habe ich innerhalb der Fiktion operiert, von der ich am Anfang
gesprochen habe: nämlich der Fiktion in sich geschlossener und,
zumindest was die Zugehörigkeit betrifft, nach außen hin klar
abgegrenzter Gesellschaften. Zu solchen Gesellschaften gehört
ein Volk, das sagen kann »Wir sind das Volk«, wobei dieser Volks
souverän als der Inbegriff aller Menschen mit Bürgerrechten
definiert ist. Bürgerrechte, so verstanden, sind exklusiv. Durch sie
werden die Menschen in zwei Klassen geteilt: solche mit Bürger
rechten (in einer bestimmten Gesellschaft), und solche ohne Bür
gerrechte (in dieser Gesellschaft). Natürlich ist die faktische
Exklusivität von Bürgerrechten keine Fiktion. Die Fiktion, von
72
der ich gesprochen habe, liegt vielmehr in der Annahme, man
könne das Problem der politischen Legitimität, und daher auch
das Streitthema »Gemeinschaft und Gerechtigkeit«, zureichend
durch Bezugnahme auf partikulare Gesellschaften - etwa solche
des Westens - behandeln. Es handelt sich also, so könnte man
auch sagen, um eine normative Fiktion. Daß in der politischen
Philosophie der Neuzeit - bis hin zur jüngsten Debatte zwischen
Liberalen und Kommunitaristen - diese normative Fiktion eine so
beherrschende Rolle gespielt hat, hängt natürlich damit zusam
men, daß nicht nur ihr Thema - die interne Ordnung moderner
Gesellschaften, Grundrechte des Bürgers gegenüber dem Staat,
Ressourcen der Solidarität unter Bedingungen der Modernität
usw. — entsprechend definiert war, sondern daß diese Begrenzung
des Themas auf partikulare Gesellschaften weitgehend mit der po
litischen Grammatik eines Systems souveräner National- oder
Verfassungsstaaten übereinstimmte. Freilich ist von den drei gro
ßen Revolutionen der Moderne - der amerikanischen, der franzö
sischen und der russischen - jeweils ein starker universalistischer
Impuls ausgegangen, der mit dem Bewußtsein verknüpft war, daß
das, was in diesen Revolutionen versucht wurde, für alle zeitge
nössischen Gesellschaften exemplarisch sei und daher eigentlich
erst durch die Ausbreitung der Revolution seine Vollendung fin
den könne. Dieser den modernen Revolutionen inhärente univer
salistische Impuls ist in der Geschichte aller drei Revolutionen
unendlich pervertiert worden; und es ist wohl nicht zuletzt diese
unendliche Pervertierung universalistischer Impulse in der moder
nen Geschichte, welche den Begriff einer universalistischen Moral
vielerorten zum Reizthema gemacht hat. Gleichwohl glaube ich,
daß in dem universalistischen Impuls der modernen Revolutionen
etwas Zwingendes steckt. Dies Zwingende kommt nicht nur in
der begrifflichen Verknüpfung zwischen Menschen- und Bürger
rechten in der amerikanischen und französischen Revolution zum
Ausdruck, es kommt auch noch in der Überzeugung von Marx
und den russischen Revolutionären zum Ausdruck, daß die Revo
lution nur als Weltrevolution gelingen könnte. Allzulange hat man
jene universalistischen Impulse entweder als Ideologien miß
braucht oder als Utopien mißverstanden; ich glaube, daß sie,
richtig verstanden, vielmehr ein politisch-moralisch-ökonomi
sches Minimum bezeichnen, ohne dessen globale Verwirklichung
die liberalen und demokratischen Gesellschaften des Westens sich i
73
auf längere Sicht weder faktisch noch moralisch werden am Leben
erhalten können. Und das heißt natürlich, daß sich auch das Pro
blem der politischen Legitimität in modernen Gesellschaften ohne
Berücksichtigung seines universalistischen Kontextes gar nicht
mehr angemessen stellen läßt. Diese starken Thesen möchte ich
abschließend erläutern.
Ich gehe von der trivialen Tatsache einer faktischen »Globalisie
rung« aller politischen, ökonomischen und technologischen Pro
zesse in der heutigen Welt aus. Diese Globalisierung von Politik,
Ökonomie und Technologie bedeutet zunächst einmal, daß etwa
»lokale« politische oder ökonomische Entscheidungen, selbst wo
sie demokratisch getroffen werden, immer mehr Menschen und
Gesellschaften mitbetreffen, die am Zustandekommen dieser Ent
scheidungen keinen Anteil haben. Eine Antwort auf dieses Fak
tum sind natürlich die supranationalen Zusammenschlüsse wie die
Europäische Gemeinschaft. Aber natürlich weiß jeder, daß sich
bisher etwa der Antagonismus zwischen reichen und armen Län
dern durch diese supranationalen Zusammenschlüsse nur auf
höherer Ebene - und gleichsam mit einem höheren Organisa
tionsgrad - reproduziert. Es spielt daher für mein Argument keine
Rolle, ob wir als partikularen Bezugspunkt einer politischen Phi
losophie souveräne National- oder Verfassungsstaaten oder aber
etwa die Europäische Gemeinschaft nehmen. Meine These ist viel
mehr, daß keine Wahl eines solchen partikularen Bezugspunktes
mehr zu angemessenen normativen Orientierungen führen kann.
Und zwar meine ich nicht nur die doch irgendwie triviale Tatsa
che, daß die internationale Verflechtung von Politik und Ökono
mie, die explosive Interdependenz von reichen und armen
Ländern, die Gefahr einer globalen Umwekkatastrophe sowie die
internationale Realität gewaltiger Flüchtlings- und Auswanderer
ströme eine Reihe von praktischen und moralischen Problemen
erster Ordnung bezeichnen, mit denen die liberalen und demo
kratischen Gesellschaften des Westens konfrontiert sind; ich
meine vielmehr, daß durch die Konfrontation mit diesen Proble
men der in der modernen liberal-demokratischen Tradition immer
schon enthaltene begriffliche Zusammenhang zwischen partikula
ren Bürgerrechten und universalen Menschenrechten zum ersten
mal zu einer wirklich dramatischen internen Herausforderung für
die westlichen Gesellschaften wird. Ich will versuchen, diese Her
ausforderung genauer zu charakterisieren.
74
Die Herausforderung ergibt sich in einem doppelten Sinne aus
dem internen Zusammenhang zwischen Menschenrechten und
demokratischen Bürgerrechten. Auf der einen Seite läßt sich die I
Idee der Menschenrechte, wie schon Kant sah, nicht von dem
Gebot ihrer juridischen Positivierung abtrennen.26 Solange man
Gesellschaften als mehr oder weniger gegeneinander abgeschlos
sen betrachten kann, ergeben sich aus diesem Gebot kaum Ver
pflichtungen demokratischer Gesellschaften gegenüber den Men
schen anderer Gesellschaften oder Kulturen. Ganz anders verhält 1
es sich, wenn sich - wie es heute angesichts riesiger Flüchtlings
ströme der Fall ist - unabweisbar die Frage stellt, ob unsere
Anerkennung ihrer Menschenrechte bloße Rhetorik bleiben oder
praktische Handlungsfolgcn haben soll. Genauer gesagt, diese
Frage stellt sich nicht mehr nur als eine Frage der individuellen
Moral, sondern als Frage an das Rechtssystem. Gesellschaften
können gewissermaßen nur auf der Ebene ihres Rechtssystems
moralisch agieren. Dementsprechend gilt für jene wachsende Pro
blemzone, wo es weder um die Regelung der internen Angelegen
heiten demokratischer Gesellschaften noch direkt um deren
Verhältnis zu anderen Gesellschaften geht, daß das oben erwähnte
Positivierungsgebot die Form einer Herausforderung an das
Rechtssystem der reichen demokratischen Gesellschaften an
nimmt. Diese müssen, gemäß der universalistischen Logik ihres
demokratischen Selbstverständnisses, in irgendeiner Form die
Menschenrechte von Nicht-Bürgern in ihrem eigenen Rechtssy
stem zur Geltung bringen. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist
eine Antwort auf diese Nötigung; eine andere, ihrer Zeit voraus
greifende Antwort war das bisherige deutsche Asylrecht, durch
welches — wegen seiner partiellen Verwischung des Unterschieds
zwischen Menschen-und Bürgerrechten - die deutsche Verfassung
eine Zeitlang zumindest an einem wichtigen Punkte liberaler und
progressiver war als die übrigen demokratischen Verfassungen des
Westens.27 Wie auch immer aber eine moralisch und pragmatisch
75
angemessene Lösung des Asylproblems im europäischen Kontext
ausschen könnte, eines scheint klar: die Genfer Flüchtlingskon-
vcntion und das bisherige deutsche Asylrecht befinden sich im
Einklang mit einem wachsenden normativen Druck auf die rei
chen demokratischen Gesellschaften, Menschenrechte von Nicht-
Bürgern als kodifizierte Individualrechte gleichsam in ihren eige
nen Rechtssystemen zur Geltung zu bringen. Diese Nötigung zu
einer partiellen Verwischung des Unterschieds zwischen Men
schen- und Bürgerrechten auf der Ebene von Individualrechten
innerhalb demokratischer Rechtssysteme hat aber ein in der Logik
demokratischer Diskurse angelegtes Gegenstück, bei dem es vor
allem um die Beziehung zwischen reichen und armen Gesellschaf
ten, das heißt um die kollektiven Interessen der letzteren und
hiermit zugleich, zumindest indirekt und potentiell, um die Siche
rung von Individualrechten innerhalb dieser Gesellschaften geht.
Auf der anderen Seite nämlich gehört es zur Logik des demokra
tischen Diskurses in liberalen Gesellschaften, daß in diesem Dis
kurs die Stimme all derer müßte zur Geltung kommen, die von
grundlegenden politischen Entscheidungen betroffen sind. Man
muß dies nur einmal aussprechen, um einen leichten Schwindel zu
verspüren. Freilich wurden demokratische Entscheidungen in ge
wissem Sinne immer so verstanden, zumindest derart, daß die
Stimme aller Betroffenen im demokratischen Diskurs wenigstens
virtuell repräsentiert sein müsse. Was neu ist, ist lediglich, daß
infolge der Globalisierung von Politik und Ökonomie der Kreis
der von unseren Entscheidungen Betroffenen sich in schwindeler
regender Weise ausgeweitet hat. Es liegt aber auf der Hand, daß
eine Repräsentation der Stimme aller Betroffenen in angemessener
Weise nur verwirklicht werden könnte, wenn alle Betroffenen ihre
Stimme unter Bedingungen gleicher Teilhaberechte und gleicher
Anerkennung faktisch erheben und zur Geltung bringen könnten.
Dies aber wäre denkbar nur in einer liberal und demokratisch
verfaßten Weltgescllschaft.
Was ich vorschlage, ist somit eine Kantische Deutung der Tiefen
grammatik des modernen demokratischen Diskurses. Meine
These ist, daß die Kantische Idee eines weltbürgerlichen Rechts
zustandes dem modernen demokratischen Diskurs als notwen-
zu reden von den guten Gründen, die es gegen eine Kapitulation der
SPD vor dem Rcchtspopulismus der Regierungsparteien gegeben hätte.
76
digc Idee einbeschrieben ist; und zwar nicht als Idee eines
utopischen Endzustandes der Geschichte, sondern eher als die
Idee eines politisch-moralischen Minimums, ohne dessen Reali
sierung keine liberale und demokratische Gesellschaft sich sicher 1
fühlen darf vor der Möglichkeit einer schuldhaften Sclbstzerstö-
rung. Natürlich liegt die begriffliche Schwierigkeit, die mit dieser
Idee verbunden ist, darin, daß sie - anders als gewöhnliche mora
lische Ansprüche - keinen eindeutigen normativen Adressaten
und keinen pragmatisch eindeutigen normativen Sinn hat: sie
kann ja offensichtlich weder bedeuten, daß alle von unseren Ent
scheidungen Betroffenen gleiche demokratische Rechte in unseren
Gesellschaften erhalten sollten, noch kann sie bedeuten, daß die
demokratischen Gesellschaften den Rest der Welt nach liberalen
und demokratischen Prinzipien reformieren sollten. Der norma
tive Sinn jener Idee ist nicht der einer Handlungsanweisung,
sondern der eines Gerechtigkeitsprinzips, dessen Gültigkeit nicht
davon abhängt, daß wir wissen, wie es zu realisieren wäre und wie
wir hier und jetzt in seinem Sinne handeln sollten. Ein Wissen
darum, was zu realisieren im Sinne der für unsere Gesellschaften
konstitutiven Moral- und Rechtsprinzipien notwendig und gebo
ten wäre, heißt, innerhalb eines normativen Horizonts zu han
deln, durch welchen Prioritäten und Begründungslasten auch für
eine pragmatisch operierende Politik neu verteilt werden. Auch
wenn die Perspektive einer liberalen und demokratischen Wcltge-
sellschaft vorerst noch unrealistisch ist, so ist sie doch - in wie
schwacher und verzerrter Form auch immer - an vielen Stellen
bereits normativ wirksam; und hieran zeigt sich, wie mir scheint,
daß sie in der Tat dem demokratischen Diskurs der Moderne als
eine notwendige Idee einbeschrieben ist. Freilich bleibt der in die
sen demokratischen Diskurs eingebaute universalistische An
spruch zugleich eine Quelle der ideologischen Rechtfertigung
partikularer Interessen; eine Fortschreibung des Marxschen Ideo- !
logieverdachts gegenüber den liberalen Prinzipien der Moderne,
insbesondere im Hinblick auf den heutigen Gegensatz zwischen
reichen und armen Ländern, widerspräche daher keineswegs der
hier erläuterten normativen Perspektive, sie ließe sich vielmehr als
deren Komplement verstehen. In einem eigentümlichen Sinne -
I
I
nicht im Sinne einer Utopie, aber vielleicht im Sinne einer Über
lebensbedingung westlicher Demokratien - bleibt am Ende auch
Marx’ kategorischer Imperativ in Kraft: nämlich »alle Verhältnisse
(
77
umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknech
tetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«28
Ich habe die Perspektive einer Welt-Bürger-Gescllschaft als den
normativen Horizont der liberalen und demokratischen Traditio
nen der Moderne deshalb ins Spiel gebracht, weil ich nicht sehen
kann, wie anders als aus einer solchen Perspektive die Herstellung
eines kohärenten Zusammenhangs zwischen Menschen- und Bür
gerrechten sich sollte denken lassen. Die Perspektive einer Welt-
Bürger-Gescllschaft bezeichnet die Aufhebung des Unterschieds
zwischen Menschen- und Bürgerrechten - oder doch die Aufhe
bung jener entscheidenden Differenz zwischen beiden, die dafür
verantwortlich ist, daß für die überwiegende Mehrzahl der Men
schen heute unsere Anerkennung ihrer Menschenrechte kaum
etwas wert, weil praktisch folgenlos ist. Nun stößt die Betonung
der universalistischen Implikationen des liberalen und demokrati
schen »Dispositivs« heute fast zwangsläufig auf zwei miteinander
zusammenhängende Einwände: erstens auf den Einwand, daß
universalistische Prinzipien nutzlos sind, wo cs um die Lösung
praktischer Probleme hier und jetzt geht; und zweitens auf den
Einwand, daß solche Prinzipien, wo sie praktisch wirksam wer
den, mit einer Unterdrückung von Differenzen, mit einer Unter
drückung des »Nicht-Identischen« - sei es in der eigenen
Gesellschaft, sei es mit Bezug auf fremde Kulturen - notwendig
verbunden sind. Diese Einwände können sich auf eine lange Ge
schichte des ideologischen Mißbrauchs universalistischer Prinzi
pien berufen; insofern sind sie ernst zu nehmen. Gleichwohl halte
ich die Argumente, auf die sie sich zumeist stützen, für zutiefst
fragwürdig. Was den ersten Einwand betrifft, so scheint mir offen
sichtlich, daß Universalismus und Kontextualismus keine begriff
lichen Gegensätze sind; was den zweiten Einwand betrifft, so
würde ich behaupten, daß sich eine »Politik der Differenzen« - ob
nun mit Bezug auf kulturelle Minoritäten oder mit Bezug auf
nicht-westliche Kulturen - gar nicht kohärent praktizieren läßt
ohne den Hintergrund universalistischer Moral- und Rechtsprin
zipien. Insofern bezeichnet die Perspektive einer Welt-Bürger-
Gescllschaft die Bedingung auch noch eines friedlichen kulturel-
78
I
len Pluralismus in der modernen Welt. Dies bedeutet aber zu i
gleich noch einmal eine Verstärkung der liberalen gegenüber der
kommunitaristischcn Position. Aus der Perspektive einer - als
möglich unterstellten - Welt-Bürger-Gcsellschaft wird evident,
was aus der Perspektive nationalstaatlichcr Demokratien undeut
lich bleiben mag: daß nämlich das einzig gemeinsame Gute im
Sinne eines für alle verpflichtenden Guten nur in der Verwirk
lichung und Verteidigung jener liberalen und demokratischen
Prinzipien liegen kann, die den einzig möglichen Schutz vor der
gewaltsamen Zerstörung der jeweils besonderen Traditionen und
kulturellen Identitäten bilden könnten. Es wird evident, mit ande
ren Worten, daß alle kollektiven Identitäten nationaler, kultureller
oder religiöser Art unter Gesichtspunkten einer politischen Moral
allenfalls etwas Vorletztes sein können. Es ist freilich nicht zu
leugnen, daß eine solche Aufhebung des Besonderen im Allgemei
nen ohne moralische Verletzungen kaum denkbar ist; es spricht
vielmehr alles dafür, daß mit dem Übergang zu einem weltbürger-
lichcn Rechtszustand auch die »Tragödie im Sittlichen« sich im
weltweiten Maßstab wiederholen wird, da die Relativierung der
besonderen kulturellen Traditionen zugleich ihre Transformation
und partielle Entmächtigung bedeutet. Dies ist der Preis der Mo
derne; aber es ist der Preis für etwas, was für niemand auf der Welt
heute überhaupt noch zur Wahl gestellt ist. Nicht die Relativie
rung und partielle Entmächtigung der besonderen kulturellen
Traditionen steht heute noch zur Wahl; zur Wahl steht nur, ob
diese Relativierung des Besonderen produktiv gemacht werden
wird in den Freiheitsräumen einer pluralistischen weltbürger
lichen Kultur, oder ob die defensiven Reflexe der reichen Länder
oder die aggressiven Reflexe derer, die ihre kollektive Identität
bedroht sehen, zu einem weltbürgerlichen Kriegszustand und zur
Zerstörung der liberalen Demokratien führen werden.
Ein weltbürgerlicher Rechtszustand erscheint als die einzig mög
liche Auflösung des Widerstreits zwischen Menschen- und Bür
gerrechten. Es wäre ein Zustand, in dem das Prinzip der I
freiwilligen Assoziation universell geworden wäre: ein Wechsel
der Staatsbürgerschaft wäre nicht leichter oder schwerer als heute
ein Wechsel des Wohnorts, des Berufs, der Universitätszugehörig
keit oder die Scheidung einer Ehe. Dies wäre nicht das Paradies; cs
wäre nur die Verallgemeinerung von Privilegien, die wir heute
schon genießen.
79
Der Zweifel, ob nicht diese Perspektive eine pure Utopie bezeich
net, ist der Zweifel, ob nicht die Tage der liberalen Demokratien
gezählt sind.
8o
3. Bedeutet das Ende des »realen Sozialismus«
auch das Ende des Marxschen Humanismus?
Zwölf Thesen
Der Titel meines Vortrags, der aus zwölf Thesen besteht, scheint -
trotz seiner Frageform - auf die unsinnige Möglichkeit hinzudeu
ten, der Zusammenbruch eines politisch-ökonomischen Systems,
des sogenannten realen Sozialismus, könne über die Wahrheit
einer philosophischen Theorie entscheiden. Freilich, wenn es um
Marx geht, ist der Gedanke an eine solche Möglichkeit so unsin
nig auch wieder nicht, denn es war ja Marx selbst, der - in den
Feuerbach-Thesen - die gelingende Paxis zum Kriterium theoreti
scher Wahrheit machen wollte. Also zumindest gemessen an
diesen Marxschen Kriterien theoretischer Wahrheit wäre ein Zu
sammenhang der eben angedeuteten Art durchaus denkbar. Was,
aus marxistischer Perspektive, gegen einen Zusammenhang zwi
schen dem Scheitern des Realsozialismus und einem Scheitern des
Marxschen Humanismus spricht, ist lediglich der Umstand, daß
die Praxis des Realsozialismus sich kaum als authentische Praxis
im Sinne des Marxschen Humanismus verstehen läßt. Die beiden
Dinge — jene Praxis und diese Theorie -, haben, so scheint es,
nichts miteinander zu tun, außer daß jene Praxis die Marxsche
Theorie zum Zwecke der Legitimation eines autoritären, partei
bürokratischen Herrschaftssystems mißbrauchte. Der Realsozia
lismus also als Mißbrauch, als Perversion der Marxschen Theorie.
Diese Perspektive, die heute die Perspektive vieler Linker ist, ent
hält sicherlich viel Wahres. Zugleich ist es aber eine durch und 1
durch defensive, eine hilflose, ja sogar eine konservative Perspek
tive. Es ist eine Perspektive, die das Denken zu blockieren und die
theoretische Auseinandersetzung mit dem Scheitern des kommu
nistischen Jahrhunderttraums zu behindern droht. Produktiv, so
scheint mir, wäre ein neuer kritischer Blick auf die Marxsche
Theorie, und zwar nicht zuletzt auf den von der Praxis des Real
sozialismus scheinbar am weitesten entfernten und immer wieder !
gegen ihn ins Feld geführten Teil dieser Theorie: den Marxschen
Humanismus. Ich glaube, daß selbst zwischen diesem Teil der I
Marxschen Theorie und der Praxis des Realsozialismus ein zwar
8i
! •
u
nicht intendierter, aber doch interner Zusammenhang besteht.
Und dies ist bereits meine
These r. Der sogenannte Marxsche Humanismus läßt sich von
dem utopischen Horizont der Marxschen Theorie und Praxis
nicht trennen - und dies gilt nicht nur für die Theorie und Praxis
des »realen Sozialismus«, sondern auch für das Selbstverständnis
und die emanzipatorischen Impulse großer Teile des »westlichen«
Marxismus. Zwischen dem utopischen Horizont der Marxschen
Theorie und der repressiven Praxis des Realsozialismus besteht
aber durchaus ein interner Zusammenhang. Wenn deshalb der kri
tische Impuls des Marxschen Humanismus gerettet werden soll,
wird er sich nicht in der Form des Marxschen Humanismus retten
lassen.
These 2: Ich unterscheide zwischen zwei Grundformen des
Marxschen Humanismus. Die erste findet sich vor allem in den
Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten, die zweite exem
plarisch in dem Aufsatz »Zur Judenfragc«. Die erste Form des
Marxschen Humanismus ist zentriert um die Kategorien der Ar
beit, des Privateigentums, der Entfremdung - des Arbeiters von
seinem Produkt und von seiner Tätigkeit - und der Wiederaneig
nung der in der menschlichen Arbeit entäußerten »Wesenskräfte«
des Menschen »durch und für den Menschen«; nämlich durch die
Aufhebung des Privateigentums im Kommunismus.
»Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als
menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des
menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollstän
dige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Ent
wicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesell
schaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als
vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus =
Naturalismus; er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen
dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflö
sung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegcnständ-
lichung und Sclbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit,
zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Ge
schichte und weiß sich als diese Lösung.«1
Diese erste Form des Marxschen Humanismus enthält gleichsam
den normativen Kern - oder den normativen Keim - von Marx’
8z
späterer Kritik der politischen Ökonomie. Die zweite Form des
Marxschen Humanismus ist demgegenüber zentriert um Marx’
Kritik des bürgerlichen Staates, d. h. seine Kritik an der Spaltung
des modernen Staatsbürgers in einen egoistischen Bourgeois und
einen abstrakten Citoyen. Ein charakteristisches Zitat möchte ich
für meine vorletzte These aufsparen. Natürlich hängen die beiden
Grundformen des Marxschen Humanismus aufs engste miteinan
der zusammen. Das Problem des Marxschen Humanismus liegt
geradezu in diesem internen Zusammenhang zwischen seinen bei
den Grundformen.
These j: Was die beiden Grundformen des Marxschen Humanis
mus miteinander verbindet, ist die radikale Kritik an jener Form
»negativer« Freiheit, die nach der Hegclschen Analyse konstitutiv
ist für die moderne bürgerliche Gesellschaft, und daher für den
modernen Staat. Ökonomisch bedeutet dies die Kritik an der ka
pitalistischen Form der Warenproduktion, juridisch-politisch be
deutet es die Kritik an der Institutionalisierung gleicher und
allgemeiner Menschenrechte als der Basis des modernen Staates.
Marx kehrt Hegels Konstruktion des Zusammenhangs zwischen
diesen beiden Dimensionen der modernen Gesellschaft - Privatei
gentum und Menschenrechte - um: Während Hegel das Moment
der Entfremdung oder der sittlichen Entzweiung, das er in der
Institution des Privateigentums und daher in der kapitalistischen
Form der Warenproduktion anerkennt, als notwendigen Preis für •1
84
sind.«2 »Die Demokratie«, so sagt er, »verhält sich zu allen üb
rigen Staatsformen als zu ihrem alten Testament.«3 In immer
wieder neuen Wendungen versucht Marx die Demokratie als eine
das soziale Leben im Ganzen durchdringende Wirklichkeit ge
meinsamer Selbstbestimmung von politischen Organisationsfor
men der Gesellschaft abzuheben, in denen die »politische Ver
fassung« dem »irdischen Dasein« des »Volkslebens« als eine
quasi-religiösen Sphäre gegenübersteht. Dies wäre ein Thema ge
wesen, das zu verfolgen - gegen Hegel zu verfolgen - sich gelohnt
hätte. Bei Marx wird es am Ende unter der Wucht der Kapitalan
alyse begraben: dieser Analyse zufolge mußte es sich nämlich
letztlich von selbst erledigen. Übrig blieb das die gesamte marxi
stische Tradition tief belastende schiefe Entsprechungsverhältnis
von kapitalistischer Warenproduktion und bloß formaler Demo
kratie. Die Frage, welches denn eine substantielle, wirkliche, mehr
als formale Form der Demokratie wäre, mußte aufgrund der vor
hin genannten Umkehrungsoperation (Basis - Überbau) - d. h.
aus rein begriffsstrategischen Zwängen - als müßig erscheinen: es
galt ja nur, die Basis umzuwälzen. Hierin war die ungeheure Di
vergenz zwischen utopischem Anspruch und praktischer Politik
bereits vorprogrammiert: Das Reich der Freiheit mußte zur ab
strakt-utopischen Perspektive, seine Verwirklichung zu einem
real-sozialistischen Alptraum werden.
These 6: Weder Marx noch Hegel haben das Problem der Demo
kratie richtig aufgefaßt: der Gegensatz beider bezeichnet eine
falsch gestellte Alternative. Dies ist vermutlich kein Zufall, da bei
den — Marx wie Hegel - die geschichtliche Erfahrung demokrati
scher Lebensformen fehlte. Dementsprechend korrespondiert der
Gegensatz zwischen Hegel und Marx einer für die kontinental
europäische politische Tradition charakteristischen Opposition
von »Rechts« und »Links«, welcher der gemeinsame Boden einer
demokratischen und liberalen Lebensform bis heute noch immer
wieder gefehlt hat. Ich möchte, einen Terminus Hegels aufgrei
fend, von einer »demokratischen Sittlichkeit« sprechen. Ein sol
cher Begriff hätte weder in der Hegelschen noch in der Marxschen
Theorie einen Platz, da er die radikalen Konnotationen des Marx-
i
2 Karl Marx, »Kritik des Hegelschen Staatsrechts«, in: Werke, Bd. 1, ’r *'■ r
a.a.O., S. 294.
3 A.a.O., S. 293.
4;
I
85
sehen Demokraticbegriffs mit dem bei Hegel konservativ gemein
ten Begriff »substantieller Sittlichkeit« verknüpft. Hinweise dar
auf, wie sich ein solcher Begriff demokratischer Sittlichkeit
verstehen ließe, finden sich bei Alexis de Tocqueville.
These 7: Tocquevilles »Demokratie in Amerika« ließe sich als de
mokratietheoretisches Gegenstück zu Hegels Rechtsphilosophie
lesen. (Hierbei spielt es keine Rolle, daß Tocqueville den Begriff
der Demokratie selbst anders verwendet als Hegel und Marx,
nämlich zur Bezeichnung der egalitären Züge und Tendenzen der
postrevolutionären Gesellschaften.) Tocquevilles Ausgangspro
blem war identisch mit demjenigen Hegels: es war das Problem,
wie für die - im juridischen Sinne - egalitäre bürgerliche Gesell
schaft, die beide - Hegel und Tocqueville - als das unwiderruf
liche Resultat der bürgerlichen Revolutionen ansahen, eine Ver
fassung der Freiheit gefunden werden könnte, durch welche die
Emanzipation der Individuen - die zugleich ihre Atomisierung
bedeutete - in einer neuen Form sozialer Solidarität und gemein
samer Selbstbestimmung, kurz: in einer neuen Form kommunaler
Sittlichkeit aufgehoben werden könnte. Wie Hegel enttäuscht
vom Gang und von den Resultaten der Französischen Revolution,
wandte Tocqueville sich der Neuen Welt zu. Hier fand er eine
Verfassung der Freiheit vor, in der die universalistischen und ega
litären Prinzipien der Französischen Revolution sich verbunden
hatten mit den Selbstverständlichkeiten, Traditionen und Ge
wohnheiten lokaler und föderaler Formen der Selbstrcgierung, zu
denen die öffentliche Diskussion politischer Fragen ebenso ge
hörte wie die Partizipation aller an der Regelung der gemeinsamen
Angelegenheiten. Die Demokratie - nicht im Tocquevilleschen
Sinne, sondern im Sinne einer Form egalitär kollektiver Selbstbe
stimmung - war hier verankert in den moralischen Reflexen, in
den Gefühlen und in einem über lange Zeit akkumulierten Wissen
der Bürger. Die Revolution hatte sich gleichsam von unten, kon
struktiv, auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt und auf diese
Weise zu einer »Constitutio Libertatis« geführt, zu der cs in der
Französischen Revolution deshalb nicht hatte kommen können,
weil der republikanischen Umwälzung des Staatsapparates ein
Widerlager in demokratischen Lebensformen und Traditionen
fehlte. Was der Französischen Revolution fehlte - und was allen
großen kontinentaleuropäischen Staaten jener Zeit fehlte - war
der Boden einer demokratischen Sittlichkeit, auf dem die revolu-
86
tionären Prinzipien mit den Erfahrungen, Institutionen und Prak
tiken des Alltags sich hätten verbinden können.
Es geht mir hier nicht um eine Idealisierung der amerikanischen
Demokratie - zumal nicht der heutigen obwohl ich den tradi
tionellen Anti-Amerikanismus der europäischen Linken für ein
Symptom ihrer Blindheit gegenüber der Bedeutung der demokra
tischen Frage ansehe. Worum es mir geht, ist die begriffliche
Alternative, die Tocquevilles Analyse eröffnet. Tocqueville hat ei
nen klaren Begriff kommunaler Freiheit oder - wenn Sie wollen -
»demokratischer Sittlichkeit«. Zugleich erkennt er - wie schon
Hegel - das Spannungsverhältnis an zwischen den atomisierenden
Tendenzen einer egalitären bürgerlichen Gesellschaft, in der die
Emanzipation der Individuen zugleich die Emanzipation des Pri
vateigentums war, und jeder möglichen Form kommunaler Frei
heit in der modernen Welt. Tocqueville gibt einen Erfahrungsbe
richt, in dem Licht- und Schattenseiten der amerikanischen
Demokratie einander die Waage halten; gegenüber allen alternati
ven politischen Organisationsformen der Moderne aber erscheint
die amerikanische Demokratie als weltgeschichtlicher Fortschritt.
Denn in ihr wurde zum ersten Mal der radikale Traditionsbruch
der Moderne, der in den bürgerlichen Revolutionen zum Aus
druck kam, zum Ausgangspunkt der Erfindung, Einübung und
experimentellen Konkretisierung einer egalitären Verfassung der
Freiheit für die moderne Welt. Und Freiheit bedeutet hier beides:
die durch Grundrechtsgarantien geschützte »negative« Freiheit
eines privaten pursuit of happiness und die öffentliche, kommu
X
nale Freiheit eines demokratischen, selbstbestimmten gemeinsa
men Lebens.
These 8: Das schon von Hegel diagnostizierte, spannungs- und
krisenreiche Ergänzungs- und Komplcmentärverhältnis von »ne
gativer« und »positiver«, von individueller und politischer Frei
heit in der modernen Gesellschaft ist von Habermas reformuliert
worden als Komplementärverhältnis von System und Lebenswelt.
Auch die systemische Organisationsform impliziert - wie die In
stitutionalisierung des abstrakten Rechts bei Hegel - eine partielle
Negation kommunikativer Verkehrsformen, eine Negation
»kommunaler Sittlichkeit«. Aus der Perspektive der Lebenswelt i '■
liegt die Rechtfertigung der systemischen Strukturen - Markt und
Bürokratie - in deren überlegener Stcuerungskapazität, die durch i
keine kommunikative Organisationsform erreicht werden
»7 1
könnte. Andererseits stellen die systemischen Strukturen auf
grund ihrer Eigendynamik eine Bedrohung kommunikativer Ver
kehrsformen und daher auch eine Bedrohung der Demokratie dar.
Aus der Perspektive des System-Lebcnswelt-Dualismus verwan
delt sich die Frage »Wie ist Sozialismus möglich« in die Frage
»Wie ist eine demokratische Domestizierung und Kontrolle sy
stemischer Strukturen - Markt und Bürokratie - möglich?« Ha
bermas plausible Antwort auf diese Frage ist, daß eine solche
Domestizierung und Kontrolle systemischer Strukturen nur
durch eine Ausweitung und Radikalisierung demokratischer
Praktiken und Institutionen möglich ist. An dieser Stelle erscheint
die alte marxistische Gegenüberstellung von formeller und sub
stantieller Demokratie in einem neuen Lichte. Die Pointe dieser
Unterscheidung kann nicht sein, daß auf die Ablösung der for
mellen durch eine substantielle Demokratie - etwa auf dem Weg
einer Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmit
teln - hingearbeitet wird; die Pointe kann vielmehr nur darin
liegen, daß eine Demokratie, die in parlamentarischen Institutio
nen eine bloß »formelle« Realität hat, durch Infiltration aller
Lebensbereiche mit demokratischen Praktiken, Gewohnheiten
und Aktionsformen ausgeweitet und radikalisiert und hierdurch
»substantiell« wird. Es geht weder um die Erfindung und Institu
tionalisierung eines Systems »direkter« Demokratie noch um die
Abschaffung der demokratischen Institutionen, die Abschaffung
des Staates. Vielmehr geht es um die Herstellung eines produktiv
komplementären Wechselverhältnisses zwischen formeller und
informeller Demokratie, zwischen institutionalisierten und nicht
institutionalisierten Formen demokratischer Praxis, wobei das
Wort »demokratische Praxis« hier die Fähigkeit oder doch den
guten Willen der Beteiligten einschließen soll, in jeweils spezifi
schen Problemlagen und in jeweils konkreten Kontexten erfin
dungsreich und experimentell situationsangemessene Lösungen
bzw. Formen gemeinsamen Handelns zu finden. Im übrigen
steckt im Begriff der formalen oder formellen Demokratie eine oft
übersehene Zweideutigkeit: Der Begriff kann zum einen eine
Form der Demokratie meinen, die bloß auf der Ebene formeller
Institutionen real ist. »Substantiell« im Gegensatz zu bloß »for
mell« wäre in diesem Falle eine Demokratie, die eine das Leben
der Gesellschaft, die Gewohnheiten, Reflexe und Gefühle der In
dividuen durchdringende informelle Realität gewonnen hat. Ge-
88
nau hierauf zielte auch der Begriff »demokratische Sittlichkeit«
ab, den ich vorhin ins Spiel gebracht habe. Mit dem Begriff einer
bloß formalen Demokratie kann aber zum anderen auch eine
Form der Demokratie gemeint sein, die sich auf die Anerkennung
formal-allgemeiner Rechts- und Freiheitsprinzipien gründet. In ■
8? 1
■
I
»negativen« Freiheit auch keine öffentliche, keine kommunale
Freiheit in der modernen Welt geben kann, dann gibt cs zwischen
Privateigentum und öffentlicher Freiheit vielleicht doch nicht nur
ein Spannung!-, sondern auch ein F«„dier«ngsverhältnis. So ha
ben es große liberale Theoretiker wie Tocqueville und John Stuart
Mill gesehen; hierin, zumindest in der klaren Formulierung des
Problems, sind sie Marx weit überlegen. Der Punkt, an dem Marx
jenen liberalen Theoretikern überlegen bleibt, betrifft gleichsam
das andere Ende des Zusammenhangs zwischen Marktökonomie
und Lebenswelt: Hier geht es nicht um Markt und Geld als Basis
individueller Freiheit, sondern um die von einer kapitalistischen
Marktökonomie ausgehende Bedrohung individueller und öffent
licher Freiheit - nicht zu reden von der Bedrohung der natürli
chen Lebensgrundlagen. Es geht also nicht um die überlegene
Steuerungskapazität des Marktes, sondern um das Moment der
Blindheit gegenüber dem öffentlichen Wohl, das in ihn eingebaut
ist, also die Notwendigkeit seiner demokratischen Domestizie
rung und Kontrolle. In der einen Richtung gesehen, hat der Markt
gleichsam selbst eine normative Dimension, in der anderen Rich
tung gesehen ist er normativ blind und bedarf einer demokrati
schen Kontrolle. Hierin wird noch einmal ein anderer Aspekt
jenes Spannungs- und Komplementärverhältnisses zwischen »ne
gativer« und »öffentlicher« Freiheit in der modernen Welt deut
lich, von dem ich oben gesprochen habe.
These io: Ich habe behauptet, daß die Dynamik des kapitalisti
schen Marktes nicht durch dessen Abschaffung, sondern nur
durch eine entsprechende Dynamisierung der demokratischen In
stitutionen, Praktiken und Traditionen gebändigt werden könnte.
Es bleibt die Frage, ob und wie das sozialistische Projekt - oder
doch ein authentischer Kern des sozialistischen Projekts - sich in
die hier entworfene Perspektive aufheben ließe. Natürlich ist jenes
Projekt in dieser Perspektive, wenn man sie richtig versteht, be
reits aufgehoben, denn ein zentrales Ziel der sozialistischen Tradi
tion war immer die gesellschaftliche Kontrolle des ökonomischen
Reproduktionszusammenhangs der Gesellschaft. Wenn man die
ses Ziel nicht mehr in Begriffen einer sozialistischen Planwirt
schaft ausbuchstabieren kann - und man kann es offenbar nicht
mehr -, dann wird gleichsam von selbst die Demokratie zum ei
gentlichen Leitbegriff einer möglichen sozialistischen Program
matik. Freilich geht die sozialistische Programmatik nicht in der
9°
Idee einer demokratischen Kontrolle der Ökonomie auf. Zusätz I
91
Thesen vorgcschlagenen Perspektive als auch in einem orthodox
marxistischen Sinne lesen kann. Der Kontext der Marxschen
Theorie legt die letztere Lesart nahe; selbst wenn man sich auMen
Kontext der Frühschriften beschränkt - d.h. gleichsam auf den
noch nicht durch die objektivistischen und szientistischen Züge
der späteren Theorie deformierten Marxschen Humanismus
läßt sich in der zitierten Passage kaum der begriffliche Kern eines
geschichtlich angemessenen Freiheitsentwurfs für die moderne
Welt entdecken. Um einen solchen begrifflichen Kern in ihr zu
entdecken, muß man die Passage gleichsam aus ihrem philosophi
schen Kontext herausdrehen und sie aus einer Marx im Grunde
fremden politisch-philosophischen Perspektive betrachten. Was
dann bleibt, ist freilich die Einsicht, daß politische Freiheit eine
Illusion bleiben muß, solange sie nicht auch im Alltags- und Ar
beitsleben der Individuen ihre Spuren hinterlassen hat, d. h. zu
einer Form demokratischer Sittlichkeit geworden ist. Freilich ver
ändert sich durch eine solche Lesart der geschichtsphilosophische
Horizont der Marxschen Passage auf einschneidende Weise: es
löst sich nämlich die Idee des Endpunktes einer vollbrachten
menschlichen Emanzipation auf. Alles was ich bisher gesagt habe,
deutet darauf hin, daß es einen solchen Endpunkt vollbrachter
menschlicher Emanzipation nicht geben kann. Es gibt geschicht
liche Niveaus der Emanzipation, die immer zugleich ein neues
Niveau der Problemkonfigurationcn und des Problembewußt
seins bezeichnen. Und im übrigen gibt es bessere und schlechtere
Lösungen, gelingende und mißlingende Versuche, ein gutes Leben
zu führen, stärkere und schwächere Formen der Verankerung de
mokratischer Traditionen im Bewußtsein, in der Praxis und in den
Einstellungen der Menschen. Was es schließlich gibt, sind die
Möglichkeiten einer produktiven Ausweitung oder einer schlei
chenden oder gewaltsamen Zerstörung demokratischer Lebens
formen. Solcherart sind die Alternativen, mit denen die Länder
Europas nach dem Ende des »realen Sozialismus« konfrontiert
sind. Für eine angemessene Beschreibung dieser Alternativen sind
die Kategorien des Marxschen Humanismus nicht mehr sehr hilf
reich. Der kritische Impuls dieses Humanimus läßt sich nur retten
auf dem Wege einer radikalen Verwandlung. Der Marxsche Hu
manismus muß heute gleichsam bis zur Unkenntlichkeit verfrem
det werden, damit sein Authentisches wieder kenntlich werden
kann.
These 12: Das Grundproblem des Marxschen Humanismus liegt
in der in ihn begrifflich eingebauten utopischen Perspektive:
»Utopie« ist hier wörtlich zu verstehen: Begriffe wie »Aufhebung
der Entfremdung«, vollständige »Aneignung des menschlichen
Wesens durch und fiirden Menschen«, »vollendeterHumanismus
= Naturalismus«, Auflösung des Rätsels der Geschichte usw. -
solche Begriffe bezeichnen einen Ort vollkommen erfüllter Zeit,
vollständiger Transparenz, bruchlos gelingenden Lebens, vollen
deter Solidarität; und das heißt: einen Ort jenseits der Geschichte,
einen Nicht-Ort. Von der spekulativ-geschichtsphilosophischen
Denkfigur, wonach ein dialektischer Umschlag in der realen Ge
schichte zum Erreichen dieses Nicht-Ortes, der Utopie, führen
sollte, hat die Marxsche Theorie sich nie wieder ganz befreien
können. Das Urbild dieses Nicht-Ortes stammt aus jenen Erfah
rungen erfüllter Zeit - der Kunst, der Liebe, der mystischen
Entrückung, der revolutionären Aktion -, die gleichsam ins Kon
tinuum geschichtlichen Lebens cingesprengt sind wie Versprechen
der Erlösung und die diesem geschichtlichen Leben seine utopi
schen Horizonte verleihen. Aber es wäre ein Denkfehler, jene
Versprechen wörtlich, das heißt aber: politisch zu verstehen; es
würde eine insgeheime Ästhetisicrung des Politischen bedeuten -
nicht im Sinne des Faschismus, sondern im Sinne der Frühroman
tik. Kunstwerke, Augenblicke erfüllter Zeit mögen vollkommen
sein; die geschichtliche Wirklichkeit wird es nie sein, weil die Auf •I
hebung ihrer Negativität die Aufhebung ihrer Zeitlichkeit wäre.
Hegels Einsichten in die konstitutiven Entzweiungen der Mo
derne bedeuten nur eine gcschichtsphilosophische Konkretisie
rung dieses Zusammenhangs zwischen Zeitlichkeit und Negativi
tät. Wenn man demgegenüber die Geschichte sub specie einer
Vollendbarkcit des Sinns, sub specie einer möglichen Vollkom
menheit menschlicher Lebensformen betrachtet, kann man dem,
was an ihr unvollkommen ist, nicht mehr gerecht werden; am
Ende auch den wirklichen Menschen nicht mehr und ihrer Einzig
keit, ihrer Alterität und ihrem Recht. Dies ist das Inhumane am
Marxschen Humanismus, oder besser gesagt: das Potential seiner
Inhumanität. Kritisches Denken heute und jede Form alternati
ver, subversiver oder radikaler politischer Praxis müßte sich dieses
Rests von Inhumanität entledigen. Dies, so scheint mir, wäre die
beste mögliche Rettung des Marxschen Humanismus. i;
93 -■
Abschließend kehre ich noch einmal zur Titclfrage meines Vor
trags zurück: Es hätte des Zusammenbruchs des Realsozialismus
nicht bedurft, um die Thesen zu formulieren, die ich Ihnen vorge
tragen habe. Insofern wäre die Frage - »Bedeutet das Ende des
realen Sozialismus auch das Ende des Marxschen Humanismus?«
natürlich mit »nein« zu beantworten. So eng kann ja der Zusam
menhang zwischen realer Geschichte und den Schicksalen von
Theorien nicht sein: der Marxsche Humanismus war am Ende,
bevor die sozialistischen Systeme zusammenbrachen. Gleichwohl
läßt der geschichtliche Vorgang - ich meine die Revolutionen und
Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa - das theoretische Ter
rain nicht unverändert; und zwar deshalb, weil erst durch diese
Umwälzungen sichtbar geworden ist - auf jeden Fall für die
Augen vieler westlicher Linker-, wie unbegründet die verschwie
gene Hoffnung auf eine Revolutionierung dieser Systeme in Rich
tung auf einen authentischen Sozialismus, die Hoffnung auf eine
Transformation des »realen« in einen Sozialismus mit mensch
lichem Antlitz war. Zumindest für jene, die diese Hoffnung noch
hatten, muß - und sollte - die Enttäuschung dieser Hoffnung eine
Erschütterung ihres theoretischen Koordinatensystems bedeuten.
Nur wenn sie sich dieser Erschütterung ihrer Grundkategorien
stellen, werden sie davor gefeit sein, unterderhand zu Reaktionä
ren zu werden.
94
4. Naturrecht und praktische Vernunft
Zur aporetischen Entfaltung
eines Problems bei Kant, Hegel und Marx*
(1978)
Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen ist so alt wie die
Geschichte menschlicher Sprache und menschlicher Institutionen.
Beide nämlich setzen die Existenz von Regeln und Normen vor
aus; die Anerkennung von Regeln aber impliziert die Unterschei
dung zwischen dem, was der Regel entspricht, und dem, was
gegen sie verstößt, kurz, die Unterscheidung zwischen Sein und
Sollen. Die Differenz zwischen beiden ist die Voraussetzung der
Ethik. Eine ethische Fragestellung aber gibt es erst, seitdem die
Übereinstimmung von Handlungen mit den faktisch geltenden
Normen einer Gesellschaft nicht mehr als letzte Instanz einer
»Rechtfertigung« dieser Handlungen anerkannt wird. In der
abendländischen Geschichte ist die Rechtfertigungsproblematik
in zwei verschiedenen Richtungen radikalisiert worden: (1) durch
die Frage nach der Legitimität, d. h. »Gerechtigkeit« der Normen
selbst, und (2) durch die Frage nach dem sittlichen Wert, d. h. der
»Gerechtigkeit« der Handelnden. In beiden Fällen handelt es sich
um die Entdeckung einer Differenz zwischen Sein und Sollen
gleichsam auf einer höheren Reflexionsstufe: Bei der ersten Frage
geht cs um die Differenz zwischen dem, was als Norm faktisch
gilt, und dem, was als »gerechte« Norm gelten sollte, bei der zwei
ten Frage um die Differenz zwischen dem faktischen und dem
* Die folgende Arbeit, bereits 1978 geschrieben, aber erst 1986 in E. An-
gehrn/G. Lohmann (Hg.), Ethik und Marx, Königstcin/Ts.: Athenäum,
veröffentlicht, war ursprünglich geplant als erster Teil einer Abhand
lung über »Ethik und Kritische Theorie«; anstelle des zweiten Teils
entstand dann eine eigenständige Abhandlung: Ethik und Dialog,
Frankfurt am Main 1986, in der ich mich von einigen diskursethischen
Prämissen des älteren Aufsatzes verabschiedet habe. Unter anderen Ge
sichtspunkten mag der Aufsatz gleichwohl von Interesse sein als Vorar
beit zu den in diesem Band vorangegangenen Essays.
95
L
normativ geforderten Verhältnis des Handelnden zu den von ihm
befolgten Normen. Es geht, kurz gesagt, um die Kritik und Be
gründung von Normen einerseits, um die Bewertung von- Motiven
andererseits. Daß zwischen beiden Fragestellungen ein interner
Zusammenhang besteht, blieb weder der klassischen griechischen
noch der christlichen Ethik verborgen; beide thematisierten ihn
freilich in je verschiedener Weise und mit radikal verschiedenen
Akzentsetzungen. Für beide läßt sich indessen gleichermaßen sa
gen, daß sie einen Standard der »Gerechtigkeit« von Normen und
Handlungen in Anspruch nehmen, der jenseits des durch faktisch
vorgefundene Normen etablierten Standards liegt. In diesem
Punkt entsteht die Ethik im Sinne der europäischen philosophi
schen Tradition und damit in zwei Problemzonen: Die Sittlichkeit
des Individuums ist nicht länger garantiert dadurch, daß es die
Institutionen und Normen des Gemeinwesens gleichsam in sich
hineinnimmt: die Trennung von Legalität und Moralität, die Eta
blierung der Gewissensinstanz. Und die Normen und Institutio
nen der Gesellschaft hören auf, ihre Legitimität aus ihrer
gleichsam naturalen Faktizität zu beziehen: die Trennung von Le
galität und Legitimität.
Die europäische Moralphilosophie ist die Ausarbeitung dieser
beiden Probleme in den Dimensionen der Individualethik und der
politischen Philosophie. Hegels Philosophie ist der letzte große
Versuch, die inzwischen auseinandergetretenen Bereiche der
Ethik und der politischen Philosophie wieder zu vereinigen: er
weist die Nichtigkeit eines moralischen Bewußtseins nach, das
sich von der konkreten Sittlichkeit eines politischen Gemeinwe
sens gelöst hat; er weist andererseits aber auch die Nichtigkeit von
Institutionen nach, die das Recht der Subjektivität verletzen: Das
Problem des guten Lebens läßt sich nur durch die Versöhnung von
Besonderem und Allgemeinem in der konkreten Sittlichkeit des
Staates lösen.
Hegel glaubte freilich, daß diese Einsicht nur möglich sei als die
Anerkennung der Wirklichkeit der sittlichen Idee im vorhandenen
Staate. Seine Einsicht, daß die Autonomie des Individuums nur
wirklich sein könne auf dem Boden einer vernünftig gewordenen
Polis, war erkauft mit der Illusion, daß die Versöhnung von Be
sonderem und Allgemeinem die Wahrheit des preußischen Staates
sei. Mit dem Zerfall dieser Illusion war aber auch Hegels Versuch,
Ethik und Gesellschaftstheorie wieder zu vereinen, nachhaltig
96
diskreditiert. Zwar lebt noch Marx’ Kritik der politischen Ökono
mie von der Hcgclschen Problemstellung; aber das positivistische
Auseinanderfallen von normativer Ethik und empirischer Gcsell-
schaftstheorie war auch in der Wirkungsgeschichte der Marxschen
Theorie nicht aufzuhalten. Angesichts von Hegels Diskreditie
rung des moralischen Standpunkts jedoch bedeutete das, daß
zumindest tendenziell eine positivistisch mißverstandene Gesell-
schafts- und Geschichtstheorie zur Begründungsinstanz in nor
mativen Fragen wurde. Nicht bei Marx selbst, wohl aber in der
marxistischen Tradition gibt es wiederholt diesen phänomenalen
»naturalistischen Fehlschluß« vom Sein auf das Sollen, verbunden
mit einer Reduktion des Sollens auf das Sein.
Die Philosophen und Soziologen der Frankfurter Schule haben
demgegenüber von allem Anfang an versucht, die Hcgelsche Pro
blemstellung innerhalb der Marxschen Theorie zu rehabilitieren
und zur Geltung zu bringen. Sie verstanden diese Theorie wieder
als eine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und Ideologie in
Form einer empirischen Theorie. In einem szientistisch geworde
nen Zeitalter mußte dies als ein außerordentlich paradoxer Ver
such erscheinen: als der Versuch nämlich, einen emphatischen
Begriff praktischer Vernunft im Rahmen einer empirischen Theo
rie zur Geltung zu bringen. Ein solcher Versuch ließe sich gegen
den Vorwurf einer schlechten Subjektivität, d. h. eines Mangels an
Wissenschaftlichkeit, offenbar nur dann verteidigen, wenn gezeigt
werden könnte, daß dieser die Theorie leitende Vorgriff auf prak
tische Vernunft den Theoretiker vorweg mit seinem Gegenstand,
der Gesellschaft, verbindet. Dann und nur dann ließe sich sagen,
daß die normativen Voraussetzungen der Theorie dem Gegen
stand angemessen und nicht von außen an ihn herangetragen
worden sind; und nur dann ließe sich der Anspruch aufrechterhal
ten, daß die Vereinigung von Moralphilosophie und politischer
Philosophie im Rahmen einer empirisch gewordenen Sozialwis
senschaft noch aufrechterhalten werden kann.
Lassen Sie mich die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und
kritischer Theorie zunächst präzisieren. Diese Frage betrifft zum
einen das Problem der normativen Voraussetzungen, zum andern
das der historischen Perspektiven einer an Marx orientierten
Theorie der Gesellschaft und Geschichte. Jene philosophische
Ethik, die Hegel in den Rahmen der politischen Philosophie zu
rückzuholen versucht hatte, war eine universalistische Ethik;
97
Kant hatte sic am radikalsten und konsequentesten formuliert.
Das Grundprinzip dieser Ethik ist die Gleichheit und wechselsei
tige Anerkennung aller Menschen als vernünftiger Wesen. Der
kategorische Imperativ ist die Formulierung dieses Prinzips als
eines von allen vernunftbegabten Wesen immer schon anerkann
ten Prinzips für die Beurteilung von Handlungen und Motiven:
eines Standards, kurz, für die Beurteilung der moralischen Digni
tät der Individuen und ihrer Beziehungen zueinander. Hegel
erkennt den Universalismus dieser Ethik durchaus an; ja, er er
kennt an, daß das moralische Bewußtsein mit Notwendigkeit
universalistisch werden muß, da ein solches Bewußtsein seinen
einzig möglichen Bezugspunkt in dem Umfang seines eigenen Be
griffes hat: dem Bereich der mit Vernunft begabten Wesen. Hegel
kritisiert diese Ethik jedoch als abstrakt in einem doppelten Sinne:
(1) Der Universalismus der Kantischen Ethik ist leer-, indem Kant
nämlich die Ethik auf ein formales Prinzip, eben den kategori
schen Imperativ, reduziert, kann diese Ethik - und das ihr ent
sprechende moralische Bewußtsein - Inhalte nicht mehr aus sich
heraus generieren. Sie bleibt daher angewiesen auf die Inhalte, die
ihr in Form gesellschaftlicher Normen, Bedürfnisse und Interpre
tationen des »guten Lebens« vorausgesetzt sind oder die ihr durch
die wie auch immer bestimmte Willkür der Individuen gleichsam
untergeschoben werden; als bloß formale erweist sie sich gegen
über dem jeweils vorausgesetzten Lebenszusammenhang der Ge
sellschaft als heteronom. (2) Die Kantische Ethik geht von einem
strukturellen und unauflösbaren Konflikt zwischen Vernunft und
Sinnlichkeit aus. Dabei entgeht Kant (a), daß sittliches Handeln
nur möglich ist, wo das Allgemeine (der Vernunft) zum besonde
ren Interesse des Individuums geworden ist und wo andererseits
das Individuum in seinem vernunftbestimmten Handeln zugleich
seine Besonderheit befriedigt; (b) daß diese Versöhnung von Be
sonderem und Allgemeinem, von partikularem Interesse und den
Forderungen der Vernunft immer schon - in gewissen Grenzen -
stattgefunden hat, wo die Institutionen und Normen einer Gesell
schaft in die Motivationsstruktur von Individuen »eingewandert«
sind. - So wenig Hegel die Unterscheidung zwischen den Dimen
sionen des Seins und des Sollens leugnet, so sehr insistiert er doch
darauf, daß die Sinnlichkeit der Individuen immer schon auch
vernünftig geworden, die Vernunft immer schon auch mit der
|l Sinnlichkeit sich verbündet haben muß; andernfalls nämlich müß-
98
• 1
I
ten die Forderungen der praktischen Vernunft zu einem gegen
über der Wirklichkeit kraftlosen Sollen herunterkommen. Und
genau das ist die andere Seite eines noch nicht über sich selbst
aufgeklärten moralischen Bewußtseins: es hält einer schlechten
Wirklichkeit ein leeres Ideal entgegen. Somit schwankt es zwi
schen vernunftloser Anpassung und vernunftloscm Widerstand.
Indem Hegel den Versuch unternimmt, die universalistische Ethik
Kants in die politische Philosophie zu integrieren, zeigt er zwei
erlei: (i) daß die Bildung des vernünftigen, ethisch »richtigen«
Willens die vernünftige Sittlichkeit eines intersubjektiven Lebens
zusammenhanges zu ihrem Boden und zu ihrer Bedingung hat;
(2) daß die »Wirklichkeit der sittlichen Idee« nur gedacht werden
kann als die Versöhnung des Vernunftinteresscs mit der Intention
auf Glück, als Versöhnung des Besonderen und des Allgemeinen.
Ungeachtet der Hcgelschen Invektiven gegen den Glücksan
spruch der Individuen in seiner Geschichtsphilosophie enthält
seine politische Philosophie doch eine Rehabilitierung des von
Kant geleugneten Wahrheitsmoments des Eudämonismus in der
Ethik.
Im Vorstehenden sind, wie ich meine, einige der Voraussetzungen
bezeichnet, die in die Konstruktion der Marxschen Theorie von
allem Anfang an eingehen. Vorausgesetzt ist ihr die normative
Idee einer zwanglosen wechselseitigen Anerkennung aller und, in
solcher Anerkennung, einer Versöhnung des Besonderen und des
Allgemeinen; kurz, ein Begriff praktischer Vernunft, den Marx
sich von Hegel vorgeben läßt - freilich, indem er ihn kritisch wen
det. Aufgrund dieser kritischen Wendung bestimmen die norma
tiven Voraussetzungen der Theorie zugleich deren historische
Perspektive und ihren praktischen Sinn. Marx hält freilich an zwei
weiteren Hcgelschen Voraussetzungen fest: (1) daß der in die
Theorie eingehende Begriff praktischer Vernunft auch in die Kon
stitution ihres Gegenstandes vor aller Theorie schon eingegangen
ist; daß daher in den normativen Voraussetzungen der Theorie
5
zugleich eine Bedingung ihrer möglichen Objektivität beschlos
sen liegt; und (2) daß der Vorgriff auf die Freiheit aller nicht die
Postulierung eines Ideals sein kann, daß er vielmehr nur als die
Entschlüsselung eines dem Geschichtsprozeß immanenten Sinnes
legitimiert werden kann, eines Sinnes, dessen Realisierung nur auf
dem Weg über das Gcltendmachen partikularer Interessen ge
dacht werden kann. Die Idee, so drückt Marx es aus, muß zum
99
materiellen Interesse werden, um die Massen zu ergreifen. Indem
nun aber Freiheit nicht mehr als existierender Begriff, sondern als
der utopische Horizont des Gcschichtsprozesscs erscheint, ändert
sich gleichwohl aufs neue die Konstellation von Ethik und Gesell
schaftstheorie. Ich möchte kurz die Probleme bezeichnen, die sich
aus dieser veränderten Konstellation ergeben: (i) bedarf die Idee
einer Verwirklichung praktischer Vernunft in einer vernünftigen
Organisation der Gesellschaft selbst einer neuen Rechtfertigung;
denn ihre Rechtfertigung und Explikation bei Hegel hängen aufs
engste mit der These zusammen, daß die »sittliche Idee« im mo
dernen Staat zur Wirklichkeit geworden sei. Eine gewisse Rehabi
litierung Kants gegen Hegel scheint unter diesen Umständen
unvermeidlich. (2) Indem die Versöhnung von Moralität und Le
galität zur utopischen Perspektive wird, verliert die Ethik - man
muß sagen: aufs neue - ihren Boden in der Sittlichkeit der beste
henden Verhältnisse. Will man gleichwohl nicht hinter Hegels
Kritik des moralischen Standpunktes zurückfallen, so kann jetzt
nur noch die Theorie der Gesellschaft selbst jene Funktionen der
Vermittlung zwischen abstrakten Prinzipien und konkretem Han
deln übernehmen, ohne welche der moralische Wille in dem
Eigensinn und der substanzlosen Leere bloßer Gesinnung verblei
ben müßte. Hiermit ergibt sich aber, daß die marxistische
Rezeption und Kritik Hegels von vornherein belastet ist mit der
Gefahr zweier gleichermaßen schlechter Alternativen: der Gefahr
der Rückkehr zu einer von der politischen Theorie wieder ge
trennten »bloßen« Ethik und der oben erwähnten Gefahr des
ethischen Reduktionismus. (3) Das dritte Problem schließlich, das
mit den beiden zuerst genannten aufs engste zusammenhängt, er
gibt sich daraus, daß eine kritisch gewendete Theorie der Gesell
schaft in ihrer Kritik des falschen Bewußtseins zugleich immanent
und transzendent verfahren muß: Sie muß immanent verfahren,
will sie ihrer eigenen Voraussetzung treu bleiben, daß der Vorgriff
auf die Verwirklichung praktischer Vernunft die Theorie vorgän
gig mit ihrem Gegenstand verbinde. Als immanente Kritik über
führt sie das falsche Bewußtsein seiner Unwahrheit, indem sie
dieses Bewußtsein an seinen eigenen Ansprüchen mißt. Die Theo
rie muß in der Kritik des falschen Bewußtseins zugleich transzen
dent verfahren, solange der Maßstab ihrer Kritik nicht gesell
schaftlich wirklich geworden, d.h. von den Individuen als die
Wahrheit ihres falschen Bewußtseins anerkannt worden ist. Wie-
100
derum läßt sich an dieser Stelle die Gefahr zweier schlechter
Alternativen aufzeigen, von denen eine kritische Theorie im Sinne
der Marxschen bedroht ist: der Gefahr einer Überanstrengung der
Theorie als eines Vehikels diskursiver Aufklärung einerseits; der
Gefahr einer Verdinglichung der aufzuklärenden Individuen von
Seiten einer die Wahrheit der Geschichte verwaltenden Elite ande
rerseits. Und wiederum scheint die Gefahr einer Verselbständi
gung nicht assimilierter Hcgelscher Systemfragmente im Rahmen
einer kritischen Gesellschaftstheorie - mit den entsprechenden
Konsequenzen entweder idealistischer oder stalinistischer Art —
auf die Notwendigkeit einer teilweisen Rehabilitierung Kants zu
verweisen.
Die Lösungen der drei genannten Probleme, die sich aus der ge
genüber der Hegeischcn Theorie veränderten Konstellation von
Ethik und Gesellschaftsthcorie ergeben, hängen miteinander zu
sammen: Die Rechtfertigung und Explikation der normativen
Voraussetzungen der kritischen Theorie müssen nämlich zugleich
den Status einer philosophischen Ethik klären, die weder Hegels
Kritik des moralischen Standpunkts vergißt noch sich in die Nor
mativität des Faktischen flüchtet. Sie müssen weiterhin die Bedin
gungen der Möglichkeit einer Ideologiekritik klären, die weder
ihren Anspruch auf Objektivität aufgibt noch ihre eigenen Maß
stäbe (und damit zugleich ihre Objekte) verdinglicht. Diese not
wendige Klärung ist, wie ich meine, weder auf dem Weg einer rein
philosophischen Analyse noch - das versteht sich - durch bloß
empirische oder historische Untersuchungen zu leisten. Der Cha
rakter des Problems selbst deutet vielmehr auf eine Konstellation
von Philosophie und Sozialwissenschaft, bei der beide Seiten ihre
Unabhängigkeit aufgegeben haben - eine Konstellation nun in der
Tat, für die schon die Marxsche Theorie selbst ein eindrucksvolles
Beispiel bietet. Marx selbst hat freilich die obengenannten »meta
theoretischen« Probleme seiner Theorie nicht eigens thematisiert;
vielleicht hätte er es getan, hätte er in ihnen den theoretischen
i
Reflex durchaus praktischer Probleme erkannt - ich meine Pro
bleme, die in der Geschichte des Sozialismus wie in der der
Sozialwissenschaft zu hoher moralischer, politischer und wissen-
schaftstheorctischer Brisanz gelangen sollten.
l '
ji:
101
I
’l II.
102
1
! 'S
bedeutet dies insbesondere den Versuch einer »Aufhebung« jener
Prinzipien in einem Diaiogbcgriff praktischer Wahrheit; dabei er
scheint dann das Prinzip einer zwanglosen diskursiven Einigung
Li
aller, die sprechen können - und das heißt zugleich: das Prinzip
einer zwanglosen Einigung aller als Gleicher und Freier - als letz
ter Legitimations-»Grund« normativer Geltungsansprüche. Ha
bermas hat in diesem Zusammenhang — und zwar gleichermaßen
bezogen auf die Dimensionen der »Moralität« wie der »Legalität«
- von einem »prozeduralen Legitimitätstypus der Neuzeit« ge
sprochen; einem prozeduralen Legitimitätstypus, der, wenn seine
universal-pragmatische bzw. transzendentalpragmatische Deu
tung durch Habermas und Apel angemessen wäre, als zur Struk
tur sprachlicher Verständigung überhaupt gehörig - wenn auch
nicht als von den Sprechern immer schon explizit anerkannt -
interpretiert werden dürfte. Ich möchte im folgenden zunächst
versuchen, einige Motive für die Entwicklung einer kommunika
tiven Ethik durch Rekurs auf die Verlagerung der Naturrechts
problematik von Kant bis Marx deutlich zu machen, um
sodann1 die Frage nach dem genaueren Sinn und der Begründ
barkeit einer solchen Ethik zu erörtern.
III.
io3
!
3 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. iv, S. 54.
4 J. R. Silber, »Procedura! Formalism in Kant’s Ethics«, in: Review of
Metaphysicsxxvm, Nr. 2, 1974, S. 197ff.; deutsch: »Verfassungsforma-
lismus in Kants Ethik«, in: G. Funke (Hg.), Akten des 9. Internationa
len Kant-Kongresses (Mainz 1974), Teil in, Berlin 1975, S. 149 ff.
5 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke, Bd.v, S. 391.
104
verstehen wollen, wie ein Handelnder herausfindet, ob er eine
Handlungsmaxime als allgemeines Gesetz wollen kann. Die Kan-
tischen Beispiele für Anwendungen des Kategorischen Imperativs
sind freilich geeignet, diesen Sachverhalt zu verdunkeln. Immer
hin gibt Kant aber zu erkennen, daß zumindest in einigen jener
Fälle, in denen die Frage der Vcrallgemeinerungsfähigkeit von
Maximen nicht bloß ein logisches Problem ist, die Beantwortung
dieser Frage für den Handelnden nur möglich ist, indem er die
Perspektive der von seinem Handeln Betroffenen einnimmt.6
Herauszufinden, ob eine Maxime als allgemeines Gesetz gewollt
werden kann, bedeutet dann aber herauszufinden, ob eine Hand
lungsweise aus der Perspektive aller Betroffenen als gerechtfertigt
angesehen werden kann. Im Sinne dieser Interpretation könnte
man sagen, daß der Kategorische Imperativ ein implizit dialogi
sches Prinzip darstellt, welches fordert, daß der Handelnde in
seinen moralischen Erwägungen die von seinem Handeln Betrof
fenen zu Wort kommen läßt, und daher den Gehalt eines mögli
chen rationalen Konsenses mit ihnen zu bestimmen versucht.
Kant hatte m. E. völlig recht, wenn er unterstellte, daß wir in
vielen Fällen praktisch durchaus in der Lage sind, über die Mög
lichkeit eines solchen Konsenses richtig zu urteilen. Er täuschte
sich aber über die Bedeutung dieser Voraussetzung: und hier
scheint das eigentliche Problem seiner Moralphilosophic zu lie
gen, ein Problem, welches durch den eingangs erwähnten Ein
wand gegen das Kantische Moralprinzip eher verdeckt als ver I
deutlicht wird.
Ich möchte diesen Punkt in vier Schritten erläutern. (1) Prima
facie ist der Kategorische Imperativ so konstruiert, daß er jedem
Handelnden ein Kriterium der Unterscheidung zwischen mora
lisch richtigem und moralisch falschem Handeln a priori an die
Hand gibt; und zwar ein Kriterium, welches auf eine monologi
sche Anwendung hin angelegt ist in dem Sinne, daß der »gemeine
Menschenverstand« eines jeden Handelnden ausreicht, für sich al
lein zwischen »gut« und »böse« in einer täuschungsfreien Weise
zu unterscheiden. Versteht man den Kategorischen Imperativ in
dieser Weise, so folgt daraus, daß einer, der ernsthaft oder aufrich
tig nach diesem Prinzip handelt, erstens nicht zu beliebigen
i°5
5
Resultaten kommen kann, und zweitens, daß er das moralisch L
Richtige tun wird. (2) Dieselbe Auffassung läßt sich nur noch in =
einem eingeschränkten Sinne vertreten, wenn man sich den impli i
zit dialogischen Charakter des Kategorischen Imperativs klarge I
macht hat. Denn obwohl man nach wie vor wird sagen müssen, -
daß einer, der aufgrund einer ernsthaften moralischen Überlegung
im Sinne dieses Moralprinzips handelt, in einem Sinne des Wortes
das »Richtige« tut, wird man jetzt zwischen zwei Bedeutungen
von »moralisch richtig« unterscheiden müssen; in einem zweiten
I
Sinne des Wortes wird nur der »richtig« handeln, der einen mög 1
lichen rationalen Konsens der von seinem Handeln Betroffenen
richtig antizipiert. (3) Ein entsprechendes Problem braucht nicht
aufzutauchen, solange in einer Gruppe von Handelnden Interpre
tationen von Bedürfnissen und eine intersubjektive Normierung
I
von Formen der Reziprozität nicht strittig sind, solange also, mit
Hegel zu sprechen, eine Form »konkreter Sittlichkeit« die inter
subjektive Geltung moralischer Entscheidungen garantiert. In
diesem Falle kann man sagen, daß ein vorgängiger Konsens eine
zureichende Basis für die Antizipation möglicher Konsense dar
stellt. (4) Sobald aber diese Voraussetzung nicht mehr gilt oder in
Frage gestellt wird, bekommen erstens moralische Entscheidun
gen ein hypothetisches Moment, und zweitens wird deutlich, daß
die Möglichkeit, in einem verläßlichen Sinne moralisch richtige
r Entscheidungen zu treffen, in einer eigentümlichen Weise von der
Möglichkeit abhängt, auf einen bereits eingespielten zwanglosen
Konsens sich zu verlassen. Das im Kategorischen Imperativ impli
zit enthaltene Prinzip des Handelns im Sinne eines antizipierten
Konsenses erweist sich damit zugleich als ein normatives Prinzip
für die Ordnung intersubjektiver Beziehungen. Kant hat diesen
Gedanken durch die Idee eines »Reichs der Zwecke« zum Aus
druck gebracht; freilich hat er sich nicht klargemacht, daß die
Fähigkeit, als Glied eines möglichen Reichs der Zwecke zu han
deln, etwas mit der partiellen Wirklichkeit eines solchen Reichs
der Zwecke zu tun hat; und daß daher ein monologisch erzeugba
res, sicheres praktisches Wissen in seinem Sinne nur dann allge
mein möglich wäre, wenn das Reich der Zwecke wirklich wäre.
Daß Kant sich auf die in seinem Moralprinzip angelegten Konse
quenzen nicht wirklich eingelassen hat, kommt am stärksten darin
zum Ausdruck, daß in zentralen Partien seiner ethischen Theorie
5 eine im logisch-semantischen Sinne »formalistische« Betrach-
106
!■
tungswcisc in den Vordergrund rückt; indem Kant das dialogische
Moment seines Moralprinzips unterdrückt, kann er zugleich die
in diesem dialogischen Moment beschlossenen Probleme vermei
den - freilich um den Preis eines Formalismus, gegen den sich nun
in der Tat der Vorwurf der Inhaltslosigkeit erheben läßt. Macht
man dagegen den implizit dialogischen Sinn des Kategorischen
Imperativs explizit, so wird klar, daß dieser zugleich eine Anwei
sung enthält, auf eine kritische Überprüfung von Bedürfnisinter
pretationen und Formen der Reziprozität, die bei einer restrikti
ven Interpretation als nicht problematisierbare Basis seiner
Anwendung gelten müssen.
Da Kant den in seinem Moralprinzip angelegten »prozeduralen
Formalismus« nicht wirklich entfaltet, ist er gezwungen, inhaltli
che Bestimmungen teilweise doch wieder von außen an die mora
lische Reflexion heranzutragen; in diesem Sinne verstehe ich etwa
den Stellenwert naturteleologischer Argumente in einigen seiner
Standardbeispiele. Daneben gibt es aber eine andere Argumenta
tionsebene seiner praktischen Philosophie, auf der er unmißver
ständlich klarmacht, daß der Kategorische Imperativ immer schon
kritisch auf die »Basis« seiner Anwendung - normierte Formen
der Reziprozität — zurückbezogen ist; ich denke an die Verknüp
fung von Ethik und Rechtsphilosophie. Aus einer Analyse der
Verknüpfung von Ethik und Rechtsphilosophie bei Kant sollte
sich daher zumindest eine indirekte Bestätigung der hier vertrete
nen Interpretationen des Kantischen Moralprinzips gewinnen
lassen; zugleich wird eine Analyse des Kantischen Rechtsbegriffs
- so hoffe ich — einen tieferliegenden Grund dafür aufweisen, daß
das in der Kantischen Ethik angelegte Dialogprinzip bei Kant
selbst am Ende unterdrückt bleibt.
IV.
107
I
!
zip der Univcrsalisierung von Normen bezeichnen könnte. Inso
fern spiegelt die Formalität des Kantischen Rechtsbegriffs direkt
den formalen Charakter des Kategorischen Imperativs. Nun ist
die juridische Gesetzgebung eine Gesetzgebung für Handlungen,
während die ethische eine für Maximen des Handelns (bzw. des
Willens) ist. Der Unterschied zwischen beiden betrifft daher zu
nächst einmal das Verhältnis des Handelnden zu seinen Handlun
gen: Während für den Begriff des Rechts die »Beweggründe« des
Handelnden außer Betracht bleiben, stehen diese im Zentrum der
moralischen Gesetzgebung. Aus der entsprechenden Unterschei
dung zwischen der »Legalität« und der »Moralität« von Handlun
gen ergeben sich freilich auch inhaltliche Unterschiede hinsicht
lich der beiden Arten von Gesetzgebung. Das kann man sich
zunächst einmal klarmachen, indem man die beiden Ideen eines
praktisch-vernünftig gewordenen intersubjektiven Lebenszusam
menhangs, die Kant jeweils aus dem Begriff der Moral und aus
dem des Rechts ableitet, zueinander in Beziehung setzt: ich meine
die Idee eines »Reichs der Zwecke« und die einer »reinen Repu
blik«. Kant konstruiert den Unterschied so, daß eine Positivie-
rung des Vernunftrechts denkbar wäre ohne eine entsprechende
»Moralisierung« der Staatsbürger;7 ja, er nimmt an, daß die
Etablierung eines bürgerlichen Rechtszustandes empirisch-psy
chologisch die Voraussetzung ist für einen moralischen Fortschritt
der Menschengattung. Im übrigen bezeichnet die Idee eines
I Reichs der Zwecke nicht im selben Sinne wie die einer reinen
Republik eine praktisch-geschichtliche Aufgabe für die Men
schengattung: Nur von der letzteren dürfen wir annehmen, daß
sie unter Bedingungen der Endlichkeit wenigstens annäherungs
weise realisiert werden kann. Insofern aber der moralisch Han
delnde als Glied eines möglichen Reichs der Zwecke handelt,
können wir die »Gesetzgebung« im Reich der Zwecke zu der
einer vollendeten Republik in Beziehung setzen: Das Verhältnis
beider stellt sich, grob gesprochen, so dar, daß Rechtspflichten
immer auch moralische Pflichten wären, während das rechtlich
Erlaubte nicht immer auch moralisch möglich wäre. Inhaltlich
gesprochen, so könnte man deshalb sagen, schränkt die mora
lische Gesetzgebung den Bereich möglichen Handelns stärker ein
als die juridische Gesetzgebung, während sie andererseits dem als
7 Vgl. etwa I. Kant, Der Streit der Fakultäten, Werke, Bd. vt, S. 365 f.
108
Recht Geltenden überhaupt erst einen genuinen Verpflichtungs
charakter verleiht.
Kant zufolge - und darin liegt das Hobbesianischc Moment seiner
Rechtstheorie - gilt nun aber dies Verhältnis zwischen Recht und
Moralität auch unter der Bedingung von Rechtsverhältnissen, die
dem a priori konstruierten Begriff des Rechts nicht entsprechen.
Einer durch die staatliche Gewalt sanktionierten Verletzung »na
türlicher« Rechte entspricht kein Naturrecht des Widerstands auf
Seiten der in ihren natürlichen Rechten Verletzten (ein solches Na
turrecht würde dem entsprechen, was wir ein moralisches Recht
nennen würden), geschweige denn eine moralische Pflicht zu Ak
ten des Widerstands. Die Positivierung natürlicher Rechte ist -
juridisch und daher auch moralisch gesprochen - Sache derer, die
das positive Recht der Gesetzgebung auf ihrer Seite haben. Man
mißversteht freilich diese konservative Pointe der Kantischcn
Rechtsphilosophie, wenn man nicht die Gcgenrcchnung sicht, die
Kant den Inhabern einer »ungerechten« Staatsgewalt aufmacht:
Denn mögen diese auch gegenüber den Unterdrückten juridisch
»im Recht« sein, so sind sie ihnen gegenüber doch moralisch im
Unrecht - d. h. die Verletzung oder Unterdrückung des angebore
nen Rechts auf gesetzliche Freiheit im Sinne eines universalisti
schen Rechtsprinzips widerspricht dem vom Kategorischen Im
perativ Geforderten. Kant nimmt nicht nur den Revolutionären,
sondern auch den Unterdrückern das gute Gewissen. Daraus er
gibt sich aber eine nicht unwichtige »moralische Asymmetrie«
zwischen Unterdrückung und Revolution. Denn während im
Falle einer ohne Not aufrechterhaitenen ungerechten Herrschaft
ein moralischer Rechtsstreit unter den beteiligten Parteien durch il
aus denkbar wäre, gilt das nicht mehr im Falle des Widerstands
oder der Revolution gegen eine solche Herrschaftsordnung: der
Unterdrücker hat sich ja gleichsam als erster freiwillig der Positio
nen begeben, von denen aus er die Aktionen der Unterdrückten
hätte moralisch kritisieren können. Sofern man daher den nahelie
genden Schritt tut und einen Begriff des moralischen »Anspruchs«
bzw. »Rechts« gleichsam im Schnittpunkt der Kantischen Be
griffe der »moralischen Pflicht« und des »natürlichen Rechts«
konstruiert, könnte man sagen, daß in der Konsequenz seiner
Überlegungen Revolutionen gegen ungerechte Unterdrückung als
moralische »Ausnahmesituationen« angesehen werden müßten;
und zwar so, daß die Grundlagen einer moralisch verstandenen
io9
Reziprozität zeitweilig außer Kraft gesetzt wären, weil die mora
lischen Pflichten der einen Seite moralischen Ansprüchen der
anderen Seite nicht mehr zugeordnet werden können.
Wie immer man aber zu einer solchen Extrapolation Karitischer
Gedanken stehen mag, auf jeden Fall ist festzuhalten, daß wegen
der Verknüpfung von Rechts- und Moralbegriff der Kantische
Rechtsbegriff einen auch moralisch relevanten Maßstab der Kritik
und Distanzierung von jeweils geltendem Recht an die Hand gibt.
Aus dieser Verknüpfung von Rechts-und Moralbegriff ergibt
sich nämlich die ethische Auszeichnung eines republikanischen
Rechtszustandes, auf den - in den Grenzen des jeweils geltenden
Rechts - hinzuwirken zugleich moralische Pflicht ist.8 Dieser
Rechtszustand wäre der eines positivierten Vernunftrechts und
demgemäß, seiner allgemeinsten Bestimmung nach, dadurch aus
gezeichnet, daß in ihm »die Freiheit der Willkür eines jeden mit
jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen
bestehen kann«.9 Von einer solchermaßen eingegrenzten Frei
heit sagt Kant, sie sei das »einzige, ursprüngliche, jedem Men
schen Kraft seiner Menschheit, zustehende Recht«.10 Nun
verlangt aber der Übergang von einem bloßen Prinzip der Rechts-
allgemeinheit zum Zustand eines öffentlichen (Zwangs-) Rechts
für Kant zugleich die Einführung eines zweiten Rechtsprinzips;
im Unterschied zum Prinzip der Rechtsallgemeinheit könnten wir
dies Prinzip des öffentlichen Rechts als Konsensprinzip bezeich
nen. Ein dem Vernunftbegriff des Rechts entsprechender Zustand
öffentlichen Rechts ist nämlich der eines Staates, in dem »der
übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über
alle und alle über jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der
allgemeine vereinigte Volkswillc gesetzgebend« ist.11 Die mora
lische Idee eines »Reichs der Zwecke« hat somit in dem Postulat
I'
der Herbeiführung eines republikanischen Rechtszustandes ihr
praktisch-politisches Gegenstück. Beide Ideen - die der politi
schen Republik und die eines Reichs der Zwecke - erläutern
einander wechselseitig, auch wenn die Differenz zwischen beiden
j für Kant unaufhebbar bleibt.
8 I. Kant, Ȇber den Genieinspruch: Das mag in der Theorie richtig
sein, taugt aber nicht für die Praxis«, Werke, Bd. vi, S. 144.
9 I. Kant, Metaphysik der Sitten, Werke, Bd.iv, S. 337.
10 A.a.O., S. 345.
11 A.a.O., S. 432.
110
J
V.
III
Ii i
Arbeitswertlchre im Sinne einer Norm des Äquivalcntcntauschcs
- wobei die Äquivalenz der getauschten Werte gesichert wird
durch »das öffentliche Urteil über den Wert ... einer Sache, im
Verhältnis auf die proportionierte Menge desjenigen, was das all
gemeine stellvertretende Mittel des Fleißes ... ist«.12 Dement
sprechend steht im Zentrum seiner Lehre von den Vertragsarten,
und damit gewissermaßen im Zentrum seiner Rechtslehre, ein
»intellektueller Begriff des Geldes«, der gleichsam die a priori
konstruierbare Norm angibt, an welcher die Willkür privater
Tauschakte sich orientieren muß, damit der Tauschverkehr im
Ganzen als »gewaltlos« soll verstanden werden können.
Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Idee des Äquivalenten
tausches kritisch eingchen. Ich möchte vielmehr auf die charakte
ristische Inkonsequenz hinweisen, mit der Kant den Eigentümer
der beginnenden kapitalistischen Produktionsweise aus dem ur
sprünglichen Eigentümer gleichsam gcwalt- und bruchlos hervor
gehen läßt. Die Gewaltlosigkeit einer logischen Konstruktion
muß an dieser Stelle die eigentlich geforderte Gewaltlosigkeit
einer historischen Genese substituieren. Nur so kann der fakti
sche Privateigentümer zum Träger all der Rechte erklärt werden,
die dem fiktiven zugesprochen wurden. Die Figur stammt von
Locke; sie wiederholt sich bei Hegel. Die Unschuld der Kon
struktion ist freilich historisch erklärlich: Für ein sich gerade
emanzipierendes Bürgertum war Gewalt vor allem durch feudale
P' Vorrechte, absolutistische Willkür und Einschränkungen des
freien Tauschverkehrs repräsentiert, der Warentausch daher das
eine gesellschaftlich relevante Modell zwangloser intersubjektiver
Beziehungen (das andere war durch »die zum Publikum versam
melten« Privatleute und Gelehrten gegeben13). Die Konstruk
tion bleibt indes nicht ohne Folgen. Sie markiert nämlich,
zusammen mit der an sie anschließenden Interpretation des
Tauschverkehrs, den Punkt, an dem Ethik und Rechtslehre bei
Kant ideologisch werden.
Bevor ich diese These genauer erläutere, möchte ich zunächst auf
den »Übergang« vom Privatrecht zum öffentlichen Recht und da
mit auf den Zusammenhang zwischen den beiden oben erwähnten
Rechtsprinzipien eingehen. Dabei wird sich zeigen, daß die Kan-
12 A.a.O., S. 403.
13 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962.
112
3 • ■
aii ...
tische Rechtskonstruktion ihrer immanenten Logik nach zu Kon
sequenzen führt, die mit der zuvor durchgeführten »metaphysi
schen Deduktion« eines Eigentumsbegriffs letzten Endes unver
einbar sind.
Der Übergang vom Privatrecht zum öffentlichen Recht ergibt sich
aus der Funktionsbestimmung des Staates; für Kant besteht die
Funktion des Staates - »der Idee nach« - in der Etablierung und
Sicherung eines Rechtszustandes, in dem das Prinzip der Rechts
gleichheit aller verwirklicht ist. »Alles Recht (besteht, A. W.) bloß
in der Einschränkung der Freiheit jedes anderen auf die Bedin
gung ..., daß sic mit der meinigen nach einem allgemeinen
Gesetze zusammen bestehen könne, und das öffentliche Recht (in
einem gemeinen Wesen) (ist, A. W.) bloß der Zustand einer wirk
lichen diesem Prinzip gemäßen und mit Macht verbundenen
Gesetzgebung . ..«H Von der Gesetzgebung aber sagt Kant, daß
sie - in letzter Instanz - nur dem »vereinigten Willen des Volkes
zukommen« kann.15 Was soll das heißen? Für Kant ist diese
Forderung einer Gesetzgebung durch den vereinigten Volkswillcn
offenbar zunächst einmal eine direkte Konsequenz des zuvor ex
plizierten Rechtsbegriffs. Dieser Rechtsbegriff ist ja ein Begriff a
priori praktischer Vernunft; daher sind die Gesetze, die dem Prin
zip der Allgemeinheit genügen, genau jene, über die ein Konsens
zwischen den vernünftigen Gliedern eines »gemeinen Wesens«
möglich sein muß. Kant macht diesen Zusammenhang zwischen
Rcchtsbegriff und »Konsensprinzip« in einer Anmerkung zu sei '■ * 4
ner Schrift Zum Einigen Frieden klar, wenn er sagt: »Vielmehr ist
meine äußere (rechtliche) Freiheit so zu erklären: sie ist die Befug
nis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich
meine Beistimmung habe geben können.«16
Kant sagt freilich nicht »... zu denen ich meine Beistimmung ge
geben habe«-, die »kontrafaktische« Formulierung legt es daher
zunächst nahe, seine Forderung lediglich als eine Forderung an
den Gesetzgeber (wer immer es sei) zu verstehen, »daß er seine
Gesetze so gebe, als sic aus dem vereinigten Willen eines ganzen
Volkes haben entspringen können.«17 Indes erschöpft sich der
14 I. Kant, »Über den Gemeinspruch ...«, Werke, Bd.vi, S. 14S.
15 I. Kant, Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. iv, S. 432.
16 I. Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Werke,
Bd. vi, S. 204.
17 I. Kant, Ȇber den Gemeinspruch .. Werke, Bd.vi, S. 153.
1'3
Sinn des Konsensprinzips nicht in dieser Forderung; Kant ist
nämlich offenbar der Meinung, daß ein Zustand öffentlichen
Rechts erst dann dem Vernunftbegriff des Rechts entspricht, wenn
die Gesetzgebung im Rahmen einer republikanischen Verfassung
durch repräsentative Gesetzgebungskörperschaften erfolgt.18
Aus dem Begriff des Rechts resultieren nicht nur Forderungen an
jeden faktischen Gesetzgeber; aus ihm folgt vielmehr auch die
normative Auszeichnung derjenigen Verfassung, die der Idee einer
Gesetzgebung durch den vereinigten Volkswillen empirisch am
nächsten kommt: und das ist eine republikanische Verfassung, die
den Delegierten des Volkes das Recht zur Gesetzgebung ein
räumt. Das Konsensprinzip muß daher noch einen anderen Sinn
und eine andere Begründung haben als oben angedeutet.
Man könnte zunächst an eine pragmatische Begründung denken:
Die empirische Chance, daß die Gesetzgebung dem Begriff des
Rechts entspricht und daß öffentliche Diskurse und öffentliche
Kritik sich in Akten der Legislative niederschlagen, ist dann am
größten, wenn durch Verallgemeinerung politischer Rechte eine
gleichmäßige Partizipation der Bürger an der Gesetzgebung gesi
chert wird. Hierdurch würde sich zugleich die Chance ergeben,
einen Zustand inneren und äußeren Friedens auf Dauer zu si
chern. Natürlich weiß Kant, daß auch in diesem Falle einer nicht
bloß fingierten, sondern faktischen Gesetzgebung durch den
»vereinigten Volkswillen« die Gesetzgebung nicht auf allen Ebe
nen Ausdruck eines allgemeinen und faktischen Konsenses sein
kann; aber eine zumindest indirekt konsensuelle Legitimation von
Rechtsnormen ließe sich in diesem Falle dadurch sichern, daß
über die Grundnormen der gesellschaftlichen Organisation und
über die Verfahren der Gesetzgebung ein Konsens herbeigeführt
würde.
Nun fehlt es zwar bei Kant nicht an pragmatischen Überlegungen
der eben angeführten Art; es hieße aber den systematischen An
spruch seiner republikanischen Staatsidec zu verfehlen, wollte
man sie auf solche pragmatischen Überlegungen reduzieren. In
der Tat gibt es, soweit ich sehen kann, bei Kant zumindest zwei
systematische Gründe für die Erweiterung des Prinzips der
L Rechtsallgemeinheit zum Konsensprinzip einer republikanischen
■;..
18 Vgl. I. Kant, »Über den Gemeinspruch ...«, Werke, Bd.vi, S. 152;
sowie Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. iv, S. 464.
H
114
i:
I
Staatsidee. Beide Male handelt es sich um Gründe, die sich aus der
in dem apriorischen Rechtsbegriff selbst beschlossenen Forde
rung seiner empirischen »Darstellung« - d. h. seiner politischen
Verwirklichung - immanent ergeben. Den ersten Grund nennt
Kant im § 46 der Metaphysik der Sitten, wenn er sich auf den
Grundsatz des »volenti non fit injuria« beruft.” »Nun ist es,
wenn jemand etwas gegen einen andern verfügt, immer möglich,
daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich
selbst beschließt.«20 Da es aber der Zweck des Staates ist, gegen
die Möglichkeit des Unrechttuns (und Unrecht-lcidens) wirksame
Vorsorge zu treffen, ist die Forderung einer Gesetzgebung durch
den vereinigten Volkswillcn eine direkte Konsequenz der Forde
rung, aus dem vorrcchtlichen in einen »öffentlich gesetzlichen
Zustand« einzutreten.21 Der den öffentlichen Gesetzen anhaf
tende Zwangscharakter bedeutet nur dann einen wirklichen
Schutz gegen das Unrecht, wenn in den Gesetzen selbst eine
wechselseitige Verpflichtung der Staatsbürger zum Ausdruck
kommt, etwas als Recht anzuerkennen. - Der zweite Grund hängt
noch unmittelbarer mit dem Übergang vom RcchtsZ>egr<Or zum
positiven Recht zusammen. An dieser Stelle muß nämlich der
Rechtsbegriff gleichsam reflexiv gewendet werden: das Postulat
einer Einschränkung der »Freiheit der Willkür« eines jeden nach
einem allgemeinen Gesetz bedeutet jetzt, wo Handlungen zweiter
Ordnung ins Spiel kommen - nämlich Akte einer rechtsverbind
lichen Normierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, von
denen im »vorrechtlichen« Zustande noch keine Rede sein konnte
- daß Rechtsgleichheit der Individuen qua Staatsbürger gefordert
werden muß - d. h. gleiches Recht zur Festlegung eines gemeinsa
men und für alle verbindlichen Willens. Die einzige Möglichkeit
einer allgemeinen Verwirklichung dieses Rechts besteht aber in der
Herbeiführung eines Konsenses aller - zumindest über die
Grundnormen einer positiven Rechtsordnung, durch welche zu
gleich die Gleichheit der politischen Rechte aller auf Dauer gesi
chert sein muß.
Das Konsensprinzip des Kantischen Staatsrechts ergibt sich somit
als zwingende Konsequenz aus der Forderung nach Positivierung
HJ
des Prinzips der Rechtsallgemeinheit. Zwischen der Rechtsgleich
heit der Bourgeois und der Rechtsgleichheit der Citoyens besteht
ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang. Seiner systema
tischen Konzeption nach ist der Kantische Staatsbegriff daher
durchaus radikal republikanisch; die Radikalität dieser Konzep
tion wird nur darum leicht übersehen, weil Kant sich so entschie
den gegen den Versuch verwahrte, eine Legitimation revolutio
närer Programme aus ihr abzuleiten. Man würde aber den
systematischen Stellenwert der entsprechenden, eher defensiv
konservativen Partien seines Staatsrechts mißverstehen, wollte
man aus ihnen ableiten, daß Kant es mit dem Prinzip der Gesetz
gebung durch den vereinigten Volkswillen nicht wörtlich gemeint
habe.
Aus der Notwendigkeit eines Übergangs von einem Prinzip der
Rechtsallgemeinheit bzw. Rechtsgleichheit zu einem Konsens-
prinzip des öffentlichen Rechts ergibt sich nun abcr eine wichtige
Folgerung: das Allgemeinheitsprinzip - für sich genommen als ein
formales Prinzip - reicht nicht aus, um die Angemessenheit von
positiven Gesetzen an den Begriff des Rechts zu beurteilen; es
formuliert eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung
für die »Legitimität« von Gesetzen. Von diesen ist nämlich zusätz
lich zu fordern, daß sie ihren Inhalten nach den »vereinigten
Willen« der Staatsbürger zum Ausdruck bringen. Anders ausge
drückt: Das formale Prinzip selbst schlägt mit der Forderung
seiner Positivicrung in ein materiales - oder vielleicht besser: ein
»prozedurales« Prinzip um; es verlangt nämlich auch noch die
Herbeiführung eines Konsenses über jene Interessen und Bedürf
nisse, hinsichtlich derer eine Rechtsgleichheit aller verwirklicht
li werden soll.
Eigentümlicherweise hat Kant genau diese Konsequenz seiner
Rechtslehre nicht in ihrer vollen Tragweite erkannt. Den Grund
dafür können wir indes jetzt angeben: Er hatte die entsprechende
! »Leerstelle«, die in seiner Theorie des öffentlichen Rechts bleibt,
schon zuvor, nämlich in seiner Analyse des Privatrechts, durch die
Einführung eines zweiten, unabhängigen Begründungsgangs aus
zufüllen versucht. Die »metaphysische Deduktion« eines Eigen
tumbegriffs im Sinne der Naturrechtstradition gestattet es ihm,
die grundlegenden Inhalte eines möglichen allgemeinen Konsen
I ses schon bei der Ausarbeitung des Rechtsbegriffs, d.h. auf der
Ebene einer Analyse des Privatrechts, a priori festzulegcn. Ich
116
L
hatte zuvor behauptet, daß an dieser Stelle Kants Rechtslehre
»ideologisch« wird. Diese Behauptung läßt sich jetzt präzisieren:
Ideologisch ist die Beziehung zweier von Kant in seiner Rechts
lehre benutzten Modelle der Freiheit und Gleichheit zueinander,
nämlich eines »Diskursmodclls« auf der einen Seite, eines »Markt
modells« auf der anderen. Das Diskursmodell wird durch das
Marktmodell scheinbar »von innen her« eingeschränkt; in Wahr
heit beruht diese Einschränkung des Diskursmodelis aber auf
einer »externen« Ableitung des Marktmodclls, welches durch das
Diskursmodell dann gleichsam eine sekundäre Legitimation er
hält.
Um beide Modelle bruchlos miteinander zur Deckung bringen zu
können, mußte Kant unterstellen, entweder daß die Eigentums
verteilung in der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft
als durch ursprünglichen Erwerb, Arbeit oder Tauschverkehr zu
stande gekommen gedacht werden könne, oder aber daß ein von
feudalen bzw. absolutistischen »Verzerrungen« befreiter bürger
licher Tauschverkehr zu einer Verteilung des Eigentums nach
Maßgabe des Fleißes und des Talentes der Individuen führen
könne und müsse. Nun scheint mir in der Tat, daß schon die
logische Konstruktion des Eigentumsbegriffs ein bestimmtes Vor
urteil hinsichtlich der historischen Genese der Eigentums'uertet-
lung in der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck bringt;22
wichtiger aber ist wohl, daß in Kants Rekonstruktion des bürger
lichen Tauschverkehrs ein Vorurteil hinsichtlich der Entwick
lungsperspektiven der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck
kommt - daß nämlich Kant, wie R. Saage bemerkt hat, »auf die
egalisierende Wirkung des Marktes« setzt,23 der gewissermaßen
nachträglich die ursprüngliche, gleichmäßige Besitzverteilung, die
durch die gewaltsame Usurpation des Adels gestört worden war,
wiederherstellen sollte. Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich
das partikulare Interesse der Eigentümer zugleich als ein poten
tiell universelles, d. h. als konsensfähiges Interesse verstehen.
riL. L
■I
118
L
Strukturprinzipien der kapitalistischen Produktionsweise - den
Schein einer Legitimation aus reiner praktischer Vernunft ver
schaffen.
Nimmt man dagegen die in der Kantischen Ethik und Rcchtslchre
angelegten Konsensprinzipien ernst, so erhebt sich sofort die
Frage, ob sich nicht hieraus die Notwendigkeit einer Ncubestim-
mung des Verhältnisses von Rechts- und Moralbegriff ergibt.
Hierbei stehen nicht analytische Distinktionen wie die zwischen
der »Legalität« und der »Moralität« von Handlungen in Frage,
desgleichen nicht die Unterscheidung zwischen einer Sphäre -
derjenigen der Handlungen selbst -, in der Konformität mit Ge
setzen äußerlich erzwungen werden kann, und einer anderen
Sphäre - derjenigen der »Beweggründe« für Handlungen -, in der
Konformität mit dem Gesetz (d.i. dem Moralgesetz) nicht er
zwungen werden kann. Was vielmehr in Frage steht, ist, ob die
beiden normativ ausgezeichneten Strukturen von Intcrsubjcktivi-
tät, die in den Begriffen der Moralität und des Rechts jeweils
mitgedacht sind, hinsichtlich der Möglichkeiten einer empirischen
Realisierung als voneinander unabhängig zumindest gedacht wer
den können. In der einen Richtung hat Kant diese Frage unmiß
verständlich mit Nein beantwortet: Ein Reich der Zwecke,
gedacht als ein Reich der Natur, setzt die Wirklichkeit eines
»Staats der Idee nach« voraus. In der anderen Richtung hat Kant
die Frage dagegen bejaht: Die Verwirklichung einer reinen Repu
blik kann - und sollte - gedacht werden als etwas von der
I
»Moralisicrung« der Staatsbürger unabhängig Mögliches. Im
Sinne des hier unternommenen Rekonstruktionsversuchs ließe
sich die Auffassung nun aber nur dann rechtfertigen, wenn sich
dem Moral- und dem Rechtsbegriff zwei voneinander verschie
dene Typen der Konsensbildung zuordnen ließen. Die Unter
scheidung, die sich hier aufdrängt, ist die zwischen einem
diskursiv herbeigeführten Konsens - d. h. einem Konsens, der auf
Gründen beruht, die für alle Beteiligten gleichermaßen einsichtig
sind - auf der einen Seite, und einem Konsens, der sich gleichsam
einer Konvergenz der strategischen Kalkulationen voneinander
unabhängiger Individuen verdankt, die nur ihre eigenen Interes
sen im Auge haben, auf der anderen Seite. Die Unterscheidung
i
zwischen diesen beiden Typen der Konsensbildung entspricht in
der Tat dem Unterschied zwischen dem Grundgedanken der Kan
tischen Ethik auf der einen Seite, und der Grundfigur der moder-
119
nen naturrechtlichen Vertragskonstruktionen seit Hobbes auf der
anderen. Nun ist es aber gerade für Kants Re-interpretation der
naturrcchtlichcn Vertragsthcoricn des Staates kennzeichnend, daß
er diese Vertragstheorien in einer explizit normativen Wendung
mit dem Grundprizip seiner Ethik verknüpft; diese Wendung des
Gedankens aber ist mit dem Festhalten an einer »strategischen«
Auffassung des Gesellschaftsvertrages nicht länger vereinbar: In
der Kantischen Perspektive bekommt die Idee des Gesellschafts
vertrages - wie auch moderne Rekonstruktionsversuche, wie der
von Rawls, deutlich zeigen - einen irreduzibel normativ-ethischen
Gehalt.
So berechtigt daher Kants analytische Distinktionen auch sein
mögen, sie lassen sich nicht im Sinne einer Unterscheidung zwi
schen zwei in der Wirklichkeit voneinander unabhängigen Typen
praktischer Rationalität festhalten. Genau an diesem Punkte hat
Hegel zu Recht die Kantische Konstruktion des Verhältnisses von
Recht und Moralität in Frage gestellt. Freilich hatte der Mangel an
Konsequenz in der Verknüpfung von Recht und Moralität bei
Kant seine guten Gründe. Da nämlich das »abstrakte Recht« bei
Kant bereits durch das Postulat seiner Positivierung einen unmit
telbar politischen Gehalt gewann, war es a limine mit einem Typus
praktischer Rationalität in Verbindung gebracht, der über die bloß
strategische Rationalität warenproduzierender und warentau
schender Privateigentümer hinausging; da es andererseits von
einem Marktmodell der Freiheit und Gleichheit her interpretiert
wurde, konnte ihm nur der entsprechende Typus strategischer Ra
tionalität zugeordnet werden. Dementsprechend konnte Kant die
Positivierung des Vernunftrechts auf der einen Seite als eine mora
lische Aufgabe bezeichnen, und auf der andern Seite doch be
haupten, daß die praktische Lösung dieser Aufgabe auch einem
»Volk von Teufeln« möglich sein müsse - »wenn sic nur Verstand
haben«.25 In der Gegenüberstellung von Recht und Moral - von
I einer diesseitigen Republik und einem jenseitigen Reich der
Zwecke-kommt bei Kant am Ende eine fragwürdige Tendenz zur
Versöhnung der intelligiblen mit der empirischen Ordnung der
Dinge zum Ausdruck. Dementsprechend würde ich meinen, daß
i gerade die Starrheit der Kantischen Distinktionen mit den ideolo
gischen Aspekten seiner Rechts- und Moralphilosophie zusam-
VI.
121
I
»Indem er den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens (wie
nachher auch Fichte) und den allgemeinen Willen nicht als das an für sich
Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinschaftliche, das aus
diesem einzelnen Willen als bewußtem hervorgehe, faßte, so wird die Ver
einigung der Einzelnen im Staat zu einem Vertrag, der somit ihre Willkür,
Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat...
Gegen das Prinzip des einzelnen Willens ist an den Grundbegriff zu erin
nern, daß der objektive Wille das an sich in seinem Begriffe Vernünftige ist,
ob es von Einzelnen erkannt und von ihrem Belieben gewollt werde oder
nicht, — daß das Entgegengesetzte, die Subjektivität der Freiheit, das Wis
sen und Wollen, das in jenem (Rousseauschen - A. W.) Prinzip allein
festgehalten ist, nur das eine, darum einseitige Moment der Idee des ver
nünftigen Willens enthält, der dies nur dadurch ist, daß er ebenso an sich
als daß er für sich ist.«26
Hegel insistiert darauf, daß das Modell autonom Verträge schlie
ßender Privatleute nur eine begrenzte Gültigkeit, und zwar im
Rahmen eines bereits konstituierten Staates, hat. Es taugt daher
nicht, um dessen normativen Ordnungen eine letzte Geltungs
grundlage zu verschaffen. Diese normativen Ordnungen gehen
vielmehr in ihrem Geltungsanspruch notwendigerweise über das
von den partikularen Interessen und der subjektiven Einsicht »na
türlicher« Individuen her Begründbare immer schon hinaus.
In diesem Argument kommt zunächst einmal sicherlich eine
wichtige Einsicht Hegels zum Ausdruck: Eine Sphäre des ab
strakten Rechts, d. h. eine Gesellschaft autonom miteinander Ver
122
liehe« — d. h. vorpolitische — Mensch ist, sowohl was seine instru
mentelle Rationalität als auch was seine Motivationsstruktur
anbetrifft, eine nur innerhalb bestimmter Grenzen sinnvolle theo
retische Fiktion: eine Fiktion, die gewonnen ist durch Abstrak
tion von jenen umfassenden Lebenszusammenhängen rechtlicher,
politischer, religiöser und moralischer Art, in die auch der Eigen
tümer der bürgerlichen Gesellschaft eingebunden bleibt und die
ihn als vertragsfähigen Eigentümer erst hervorbringen. Eine sol
I
che Fiktion kann aber weder historisch noch geltungslogisch zur
Grundlage einer das Eigentum garantierenden staatlichen Ord
nung gemacht werden. Dann muß aber auch der »Zweck« eines
Staates, der diesen Namen verdient, über die bloß partikularen
Zwecke der Individuen qua Eigentümer immer schon hinausge
hen.
Mit anderen Worten: Der »Zweck« des Staates läßt sich nicht un
ter Rekurs auf die Zwecke und Interessen wrpolitischer Indivi
duen rekonstruieren. Zwar gehört es zu den Funktionen insbe
sondere des modernen Staates, eine Rechtssphäre zu garantieren,
die eine gleiche »Freiheit der Willkür« für alle Individuen qua
Eigentümer ermöglicht; aber diese Funktion wird mißverstanden,
wenn man sie nicht im Zusammenhang sieht mit der fundamenta
leren Funktion des Staates, ein gutes und gerechtes Leben für die
Individuen als moralisch Handelnde und als Staatsbürger zu er
möglichen. Deshalb ist der seine privaten Zwecke verfolgende und
darin anerkannte und beschützte Bourgeois zwar ein Produkt des
modernen Staates, er ist aber nicht die ganze Wahrheit dieses Staa
tes. Dieser wäre nichts als die Wiederherstellung des Naturzu
standes, ginge er nicht in seinen institutionellen Strukturen über
das von den Privatinteressen der Individuen her Einsehbare im
mer schon hinaus. Aus diesem Grunde kann man diese Indivi
duen nicht zu letzten Bezugspunkten einer Konstruktion des im
Staate zu realisierenden vernünftigen Allgemeinen machen; viel
mehr ist es die im Staate realisierte konkrete Sittlichkeit, die allein
ein vernünftiges Leben der Individuen - und als dessen Moment
eine gleiche »Freiheit der Willkür« für alle - ermöglichen kann.
Die in den Vertragskonstruktionen des Naturrechts zum Aus
druck kommende »atomistische« Auffassung des Staates ist nun
freilich für Hegel nicht einfach »falsch«; Hegel gesteht vielmehr
zu, daß die atomistische Auffassung gesellschaftlicher Beziehun
gen ein der Struktur der modernen bürgerlichen Gesellschaft
123
notwendig anhaftender Schein sei. Diese Interpretation des Na
turrechts als des theoretischen Ausdrucks eines der Struktur der
bürgerlichen Gesellschaft anhaftenden »notwendigen Scheins«
sollte von Marx in einer charakteristischen Weise im Sinne einer
7deo/ogiekritik des Naturrechts radikalisiert werden. Was Marx
als notwendigen Schein analysiert, ist freilich nicht mehr nur der
atomistische Charakter gesellschaftlicher Beziehungen in der mo
dernen bürgerlichen Gesellschaft, sondern zugleich deren Inter
pretation im Sinne einer Grundnorm der Freiheit und Gleichheit;
was für Marx hinter der erscheinenden Oberfläche dieser Gesell
schaft als deren tragender Grund sichtbar gemacht werden muß,
ist daher nicht mehr ein die Gegensätze versöhnender Staat, son
dern die wahre Form dieser Gegensätze: nämlich eine antagonisti
sche Beziehung zweier sozialer Klassen (s. unten Anschn. vm).
Der letzte Hinweis enthält bereits einen Vorgriff auf spätere Über
legungen. Ich möchte zunächst noch einmal zurückfragen, wie
weit die eben erläuterten Argumente Hegels gegen naturrechtliche
Vertragskonstruktionen des Staates Kants explizit normative Re-
interpretation dieser Konstruktionen treffen. Sicherlich gibt es bei
Kant kein Gegenstück zu den Hegelschen Einsichten in den
strukturellen Zusammenhang zwischen Recht, Moralität und Sitt
lichkeit, und damit in den geschichtlich-intersubjektiven Charak
ter gesellschaftlicher Lebensprozesse. Was aber den entscheiden
den Punkt der bisher erörterten Argumente Hegels anbetrifft, so
kann man schwerlich sagen, daß sie sich nicht auch im Kantischen
Bezugssystem formulieren ließen. Für Kant ist ja der »Zweck« des
Staates die Etablierung und Sicherung einer universalistischen
Rechtsordnung; ein Zweck, der sich auf die partikularen Zwecke
einer Vielzahl von Eigentümern nicht reduzieren läßt, der viel
mehr durch Prinzipien praktischer Vernunft a priori den Indivi
duen aufgegeben ist.27 Dabei benutzt Kant die Fiktion des
Gesellschaftsvertrages, um die normative Idee einer »reinen Re
publik«, das heißt letztlich die Idee einer zwanglosen gemeinsa
men Willensbildung aller Bürger, zu explizieren. Es geht ihm in
diesem Zusammenhang weder um die Rekonstruktion der Entste
hung staatlicher Institutionen noch um eine geltungslogische Re
duktion ihres normativen Anspruchs auf die partikularen Interes
sen »natürlicher« Einzelner. Vielmehr geht es ihm um ein a priori
124
zu postulierendes Resultat der menschlichen Gattungsgeschichte
im Sinne einer allgemein konsensfähig gewordenen Rechtsord
nung. Flierbci sollte man übrigens nicht vergessen, daß die Idee
11
des Gesellschaftsvertrages in den bürgerlichen Republiken seiner I I
Zeit ja bereits den Status einer institutionellen Fiktion gewonnen
hatte; sie war gleichsam historisch wirksam geworden in dem
Sinne eines in den republikanischen Verfassungen sich nieder i
schlagenden - wie immer auch nur fingierten - Einverständnisses
autonomer Bürger über eine vernünftige Organisation ihres ge
meinsamen Lebens.
Obwohl nicht zu bestreiten ist, daß Kant die »Vernünftigkeit« des
Staates von der Vernünftigkeit der einzelnen Individuen her kon
struiert — insofern mag man seine Auffassung »atomistisch« nen
nen - scheinen die bisher erörterten Hcgelschcn Argumente seine
Position nicht wirklich zu treffen. Nur geht es freilich Hegel um
mehr als bloß um eine Kritik naturrechtlicher Begründungen mo
derner demokratischer bzw. (im Kantischen Sinne) republikani
scher Staatsauffassungen; es geht ihm um den Nachweis, daß in
diesen Staatsauffassungen - d. h. in der politischen Interpretation
naturrechtlicher Prinzipien als solcher - ein fundamentales Miß
verständnis der Funktion und des möglichen Geltungsbereichs
solcher Prinzipien zum Ausdruck kommt. Es geht ihm, kurz ge
sagt, um eine Kritik an der politischen Idee demokratischer
Selbstbestimmung eines Volkes. Ich möchte versuchen, die ent
sprechenden Argumente Hegels gleichsam aus dem System der
Rechtsphilosophie herauszulösen und zu unseren bisherigen Be
trachtungen in Beziehung zu setzen.
VH.
i*5 : j
lieh als Geist von seinem Geiste anerkannt werden kann. Das
subjektive Bewußtsein kommt gegenüber der konkreten Vernünf
tigkeit und Sittlichkeit des Staates immer schon zu spät - das
gehört zu seinem Begriff als dem eines einzelnen Individuums: Es
kann sich diese Vernünftigkeit daher zwar durch Einsicht zu eigen
machen; es kann sie aber nicht aus sich hervorzubringen bean
spruchen.
Hat man aber erst einmal die staatlichen Institutionen anstelle der
einzelnen Individuen als den Ort konkreter Vernünftigkeit be
stimmt, so liegt es nahe, das Postulat einer politischen Gleichheit
als Bürger, und damit das Postulat, daß alle ein gleiches Recht
haben sollten, an der Beratung und Beschließung der gemeinsa
men Angelegenheiten teilzunehmen, als eine »leere Abstraktion
des Verstandes« zurückzuweisen. Was für Hegel an diesen Postula-
ten wahr ist, ist, daß die Individuen im Staat sich in ihren beson
deren Interessen sollen befriedigt finden können und daß nichts für
sie gelten solle, was sie nicht als gültig einsehen können. Versteht
man die Postulierung dieser »Grundrechte« der Bürger im moder
nen Staat aber im Sinn einer Forderung nach demokratischen For
men der Machtkonstitution und Machtkontrolle, so liegt dem in
Hegels Augen wiederum der gedankenlose Mißbrauch eines Mo
dells zugrunde, das allein auf der Ebene des abstrakten Rechts sinn
voll ist: des Modells einer Vielzahl vereinzelter Individuen, die ein
gleiches Recht haben, ihre jeweils zufälligen und partikularen
I'' Zwecke zu verfolgen und im Rahmen dieser Zwecke miteinander
zu Vereinbarungen zu kommen. Wollte man dies Modell zur
Grundlage der staatlichen Organisation machen, so bedeutete dies
die Auslieferung des Staates an partikulare Interessen und subjekti
ve Willkür, so wie sie für die Individuen im Rahmen jenes Modells
charakteristisch sind. »Demokratische Willensbildung« setzt so
mit für Hegel die Herauslösung der Individuen aus genau jenen in
stitutionellen Zusammenhängen voraus, in denen sich so etwas wie
vernünftige Autonomie erst konstituieren könnte. Solchermaßen
auf ihre eigene Partikular!tat zurückgeworfen, wären die Individu
en aber unfähig geworden, einen vernünftigen Allgemeinwillen ge
meinsam hervorzubringen. Das praktische Ergebnis könnte nur
Chaos oder Terror sein.
In dem Fehler der naturrechtlichen Vertragsthcorien des Staates
steckt für Hegel somit zugleich das proton pseudos der demokra-
tichen Gleichheitspostulate: nämlich die Reduktion des vernünf-
116
I;
11
tigen Gesamtwillens, der sich im Staate manifestiert, auf die
Partikularität der Einzelwillen. Die fortdauernde Differenz zwi
schen beiden bleibt für Hegel eine ontologische Notwendigkeit.
»Bei der Freiheit muß man nicht von der Einzelheit, vom einzelnen Selbst
bewußtsein ausgehen, sondern nur vom Wesen des Selbstbewußtscins,
denn der Mensch mag es wissen oder nicht, dies Wesen realisiert sich als
selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen nur Momente sind:
es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist, sein Grund ist die
Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft.«28
Nun möchte ich die hier stilisiert wiedergegebenen Argumente
Hegels nicht in ihrem systematischen Kontext diskutieren. Ich .■
127
»daß die Abgeordneten aus dem Volk oder gar das Volk es am besten
verstehen müsse, was zu seinem Besten diene, und daß es den ungezweifelt
besten Willen für dieses Beste habe. Was das erstere betrifft, so ist vielmehr
der Fall, daß das Volk, insofern mit diesem Worte ein besonderer Teil der
Mitglieder eines Staates bezeichnet ist, den Teil ausdrückt, der nicht weiß,
was er will. Zu wissen, was man will, und noch mehr, was der an und für
sich seiende Wille, die Vernunft, will, ist die Frucht tiefer Erkenntnis und
Einsicht, welche eben nicht Sache des Volks ist ... die höchsten Staatsbe
amten haben notwendig tiefere und umfassendere Einsicht in die Natur
der Einrichtungen und Bedürfnisse des Staats sowie die größere Geschick
lichkeit und Gewohnheit dieser Geschäfte und können ohne Stande das
Beste tun .. ,«2’
Man kann diese Argumentation Hegels, wie ich meine, auf zwei
verschiedenen Stufen der Allgemeinheit diskutieren, auf denen sie
ein jeweils unterschiedliches Gewicht erhält. Auf der ersten Stufe,
die zunächst die von Hegels eigener Analyse und daher auch die
der traditionellen marxistischen Kritik ist, erhalten seine Argu
mente ihr Gewicht von seiner Analyse des abstrakten Rechts bzw.
der bürgerlichen Gesellschaft her. Auf dieser Stufe verlangt eine
Kritik der Hegelschen Argumente eine Kritik seiner Rezeption
des Naturrechts durch eine Kritik der politischen Ökonomie (s.
dazu unten unter (3) sowie Abschn.vtn). Auf diesem Wege hat
schon Marx Hegels konservative Schlußfolgerungen ad absurdum
geführt. Auf einer zweiten Stufe könnte man Hegels Argumente
lesen als Teil eines frühen Versuchs, das für »moderne« Gesell
schaftssysteme charakteristische Spannungsverhältnis zwischen
Tendenzen individueller Emanzipation und demokratischer
Selbstverwaltung einerseits und solchen administrativer Zentrali
sierung und Steuerung andererseits, theoretisch zu bewältigen.
Mir scheint, daß Hegels Argumente allein auf dieser Stufe der
Verallgemeinerung heute noch von Interesse sein könnten. Im
merhin handelt es sich hier um ein Systemproblem moderner
Gesellschaften, das noch nirgendwo auf der Welt zugunsten de
mokratischer Formen der Machtkonstitution und Machtkontrolle
gelöst worden ist. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man He
29 Rphy § 30t.
I 128
im Rahmen von systemtheoretischen Analysen der Gesellschaft
vorgebracht werden). Wollte man Hegels Argumente auf dieser
Stufe der Allgemeinheit diskutieren, so müßte man ersichtlich zu
nächst einmal einen angemessenen theoretischen Kontext bereit
stellen; es liegt auf der Hand, daß ich das im Rahmen dieses
begrenzten Rekonstruktionsversuches nicht einmal versuchen
kann.
(2) Das zweite Argument Hegels richtet sich gegen eine »ab
strakte« und »atomistische« Auffassung des Verhältnisses zwi
schen Individuum und Staat in demokratischen Konzeptionen
einer Gesetzgebung durch das Volk. Gegenüber solchen Auffas I
sungen insistiert Hegel darauf, daß der »konkrete Staat« ein
organisch »in seine besonderen Kreise gegliedertes Ganze(s)« ist;
in einem solchen »Staatsorganismus« kann der Einzelne niemals
nur als Einzelner in Erscheinung treten, sondern immer nur als
Mitglied eines Standes, einer Gemeinde, einer Korporation usw.
So heißt es z. B. im § 303 der Rechtsphilosophie'.
»Dies geht gegen eine andere gangbare Vorstellung, daß, indem der Privat
stand zur Teilnahme an der allgemeinen Sache in der gesetzgebenden
Gewalt erhoben wird, er dabei in Form der Einzelnen erscheinen müsse,
sei es, daß sie Stellvertreter für diese Funktion wählen oder daß gar selbst
jeder eine Stimme dabei exerzieren solle. Diese atomistische, abstrakte
Ansicht verschwindet schon in der Familie wie in der bürgerlichen Gesell
schaft, wo der Einzelne nur als Mitglied eines Allgemeinen zur Erschei
nung kommt. Der Staat aber ist wesentlich eine Organisation von solchen
Gliedern, die für sich Kreise sind, und in ihm soll sich kein Moment als
eine unorganische Menge zeigen. Die Vielen als Einzelne, was man gern
unter Volk versteht, sind wohl ein Zusammen, aber nur als die Menge -
eine formlose Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementa
risch, vernunftlos, wild und fürchterlich wäre.«
Konsequenterweise kritisiert Hegel die Auffassung, die Abgeord
neten der Stände seien als Repräsentanten von »Einzelnen« bzw. li
»einer Menge« anzusehen,30 um schließlich jede neuzeitlich-de
mokratische Auffassung von Repräsentation überhaupt in Frage
zu stellen: »Das Repräsentieren hat damit auch nicht mehr die
Bedeutung, daß einer an der Stelle eines anderen sei, sondern das
Interesse selbst ist in seinem Repräsentanten wirklich gegenwär
tig, so wie der Repräsentant für sein eigenes objektives Element da
30 Rph, § 311.
129
ist.«31 Dementsprechend wird die Wahl der Repräsentanten ent
weder »etwas Überflüssiges« oder aber es »reduziert sich auf ein
geringes Spiel der Meinung und der Willkür«.32
Es scheint mir klar, daß Hegels Argumentation seine konservati
ven Schlußfolgerungen keineswegs rechtfertigt. Halbwegs plausi
bel erscheinen diese bloß, solange man von Hegels zugleich
kritischer und affirmativer Analyse des »Verlusts der Sittlichkeit«
in der bürgerlichen Gesellschaft ausgeht und seine von daher be
gründete Kritik an der bürgerlich-repräsentativen Demokratie
gleichsam in umgekehrter Richtung zu Ende zu denken versucht.
In diesem Falle bedeutet die Kritik an der »abstrakten« und
»atomistischen« Auffassung der Individuen qua Staatsbürger die
Kritik an der Verwechslung von Bourgeois und Citoyen. Da ich
auf die Bedeutung von Hegels Analyse der bürgerlichen Gesell
schaft für seine Demokratie-Kritik weiter unten noch zu sprechen
komme (s. unter (3)), möchte ich auf diese, gleichsam historisch
spezifische Interpretation seines Arguments hier nicht weiter ein
gehen. Es bleibt dann noch ein verallgemeincrbarer Kern des
Arguments übrig, das sich jetzt etwa so formulieren ließe: Kollek
tive Willensbildungsprozesse, die den Anspruch auf Vernünftig
keit erheben, können - zumindest unter Bedingungen komplexer
Gesellschaften - nur im Rahmen eines Systems von Institutionen
stattfinden, das immer auch ein System abgestufter kollektiver
Identitäten und Zugehörigkeiten bzw. ein System differentieller
IF Rechte sein muß. Das ließe sich auch so formulieren: Die Idee,
daß alle einzeln, als Gleiche und Freie, jeweils zusammenkom
men, um über die gemeinsamen Angelegenheiten zu beraten und
vernünftig zu entscheiden, stellt eine »leere Abstraktion des Ver
I,
standes« dar, nicht in dem Sinne, daß sie eine schlechte empirische
Realität gegen sich hat, sondern im Sinne einer Begriffsverwir
rung. Während es nämlich für den Gedanken abstrakter Rechts
gleichheit ein mögliches empirisches Modell gibt - die Eigentums
ordnung der bürgerlichen Gesellschaft -, gibt es für eine
konsequent zu Ende gedachte Idee demokratischer Gleichheit
kein mögliches empirisches Modell; jeder Versuch, diese Idee zu
realisieren, muß daher in Chaos und Terror enden.
Mir scheint dieser Gedanke Hegels ebenso richtig wie irreführend
J
J 31 A.a.O.
32 A.a.O.
130
zu sein. Richtig ist er, sofern er auf den kategorialen Unterschied
zwischen einem - man möchte sagen: transzendentalen - Prinzip
demokratischer, d. h. zwangloser kollektiver Willcnsbildung und
seinen möglichen Institutionalisierungen verweist. Falsch ist er,
sofern er ein prinzipielles Argument gegen demokratische For !
men der Machtkonstitution und Machtkontrolle im modernen
Staat darstellcn soll; Hegels Argumente gegen eine »atomistisch«
verstandene Demokratie ließen sich, wie mir scheint, ebensogut
zugunsten eines »organisch gegliederten« Rätesystems wenden I
wie zugunsten einer konstitutionellen Monarchie preußischen
Zuschnitts.
(3) Das stärkste Argument für seine Kritik an naturrechtlichen
Demokratievorstellungen gewinnt Hegel schließlich aus seiner
Analyse der bürgerlichen Gesellschaft. Mit dieser Analyse bezieht
Hegel eine eigentümlich ambivalente Stellung zur Tradition des
Naturrechts und zur bürgerlichen Revolution. Einerseits sieht er
nämlich in der Positivierung des Naturrechts in der bürgerlichen
Gesellschaft die Verwirklichung allgemeiner Menschenrechte (vgl.
§ 209: »der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude,
Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist«) und ineins da
mit die Verwirklichung des Prinzips »der selbständigen in sich
unendlichen Persönlichkeit« wie des Rechts auf »selbständige
Entwicklung der Besonderheit.«33 Andererseits aber sieht er
deutlicher als die Naturrechtsthcoretiker vor ihm, daß die bürger i
liche Gesellschaft einer wahrhaften Versöhnung von Besonderem
und Allgemeinem, d. h. von partikularem Interesse und dem
Zweck eines vernünftig geordneten, gemeinsamen Lebens der
Bürger, von sich aus nicht fähig ist. Diese Zwiespältigkeit Hegels
- oder vielmehr die von ihm diagnostizierte Zwiespältigkeit der
bürgerlichen Gesellschaft - ist der Grund dafür, daß er auf der
einen Seite nicht ansteht, die Errungenschaften der bürgerlichen
Revolution zu feiern, um sich doch auf der anderen Seite einer
politischen Interpretation des Naturrechts im Sinne einer demo
kratischen Selbstregierung der Bürger, so wie sie als Verbindung
von Menschen mit Bürgerrechten in der amerikanischen und fran
zösischen Revolution proklamiert wurde, zu verweigern. Der
»Verlust der Sittlichkeit«,34 als der die bürgerliche Gesellschaft
33 Rph, § 18$.
34 Vgl. Rph, § 181.
»31
auch erscheint, kann nämlich in Hegels Augen nur durch die sub
stantielle Sittlichkeit eines von dem Bewegungsprinzip dieser
Gesellschaft unabhängigen und sie gleichsam umgreifenden und
in sich aufhebenden Staates kompensiert werden.
Da die bisher erörterten Argumente Hegels ihren genauen Stellen
wert innerhalb seiner politischen Theorie erst auf dem Hinter
grund seiner Analyse der bürgerlichen Gesellschaft gewinnen,
möchte ich die eigentümliche Ambivalenz dieser Analyse noch
etwas verdeutlichen. Die bürgerliche Gesellschaft, so betont He
gel, leistet eine Vermittlung von Besonderheit und Allgemeinheit
auf der Ebene der »Verständigkeit«. Die Individuen dieser Gesell
schaft sind wesentlich »Privatpersonen, welche ihr eigenes Inter
esse zu ihrem Zwecke haben«.35 Die Verfolgung dieses Zweckes
hat aber das Allgemeine einer rechtlich abgesicherten Eigentums
ordnung zur Bedingung. Dies Allgemeine erscheint freilich den
Bürgern lediglich als ein Mittel »zum Zweck des Besonderen«.36
Hiermit ist die strategische Ausgangsposition der naturrecht
lichen Vertragskonstruktionen von Hobbes bis Locke bezeichnet.
Der durch den Gesellschaftsvertrag konstituierte Rechtszustand
erscheint als ein Mittel im Interesse der Sicherung von Leben und
Eigentum jedes Einzelnen. Indem aber das »Prinzip der Beson
derheit« sich auf diese Weise »für sich zur Totalität entwickelt«37
- und zwar in dem doppelten Sinne, daß die »Anderen« nur noch
I’
I•
»Mittel zum Zweck des Besonderen« sind und daß diese antago
nistische Beziehung der Individuen zueinander universell wird -,
I• geht es zugleich »in die Allgemeinheit über«. Allein in dieser,
gleichsam aus ihm herausgebrachten Allgemeinheit, so fügt Hegel
hinzu, hat das »Prinzip der Besonderheit« seine »Wahrheit und
das Recht seiner positiven Wirklichkeit.«38 Die Wahrheit ist
nämlich, daß eine solche Reduktion des Allgemeinen auf seine für
die partikularen Zwecke der Individuen instrumentelle Funktion
ein bloßer Schein ist - freilich ein der bürgerlichen Gesellschaft
notwendig anhaftender Schein.39 In Wahrheit ist das »Interesse
der Idee« an diesem universell gewordenen System der Selbst
sucht ein Interesse, das freilich
jj Rph, § 187.
36 Rph, § 182.
37 Rph, § 186.
38 Rph, § 186.
39 Vgl. Rph, § 181, Zusatz.
■
33 2
»nicht im Bewußtsein dieser Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft als
solcher liegt, ... der Prozeß, die Einzelheit und Natürlichkeit derselben
durch die Naturnotwendigkeit ebenso als durch die Willkür der Bedürf
nisse zur formellen Freiheit und formellen Allgemeinheit des Wissens und
Wollens zu erheben, die Subjektivität in ihrer Besonderheit zu bilden.»40
Was den Individuen gleichsam ohne ihr Wissen und Wollen ge
schieht, ist, daß in den Sphären der Kultur, der Wissenschaft und !
des Rechts die Intersubjektivität allgemeiner Gesichtspunkte und
Standards und damit die Reziprozität einander als Gleicher Aner
kennender in sie hincingcbildet wird. »Verständigkeit« ist der
1
Titel für diese in der bürgerlichen Gesellschaft wirklich werdende
»Form der Allgemeinheit«.41 Zwar dürfen wir in ihr nicht schon
die »Wirklichkeit der sittlichen Idee« sehen; aber doch ist sie de
ren Voraussetzung.
Nun müßte Hegel eigentlich unterstellen, daß der Schein eines
»instrumentellen« Nutzens der bürgerlichen Rechtsordnung für
die partikularen Zwecke der Individuen die bürgerliche Gesell
schaft als ganze durchdringt - wenn anders der Legitimitätsan
spruch dieser Rechtsordnung in den Augen der von ihr Betrof
fenen auf Dauer eine Grundlage haben soll. Er müßte also
unterstellen, daß durch die zum gesellschaftlichen System gewor
dene Selbstsucht aller, und zwar gleichsam hinter dem Rücken der
Individuen, zugleich - aufs Große und Ganze gesehen - das Wohl
aller befördert wird.
Indes wird Hegels Analyse an diesem Punkt zweideutig. Er
schwankt nämlich insgeheim, wie ich meine, zwischen zwei ver
schiedenen Modellen der emanzipierten bürgerlichen Tauschge
sellschaft, deren eines auf die klassische, politische Ökonomie
zurück-, deren anderes auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie
vorverweist. Auf der einen Seite steht ein Konkurrenzmodell ar
beitender Eigentümer, die, indem sie allesamt nur für die Befrie
digung der eigenen Bedürfnisse tätig sind, zugleich wechselseitig
die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse der anderen hervor
f
bringen. Auf der anderen Seite steht das Modell einer Klassenge
sellschaft, in der die Produktion von Reichtum und Luxus auf der
einen Seite mit der Erzeugung von Armut und Elend auf der an
deren Seite verbunden ist und die, wie Hegel dann auch sagen
40 Rph, § 187.
41 A.a.O.
>33 b !
K0
wird, »durch diese ihre Dialektik ... über sich hinausgetrieben«
wird.42
Im Sinne des ersten Modells könnte man etwa die folgenden Äu
ßerungen Hegels verstehen:
»In dieser Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedi
gung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur
Befriedigung der Bedürfnisse aller andern um, - in die Vermittlung des
Besonderen durch das Allgemeine als dialektische Bewegung, so daß, in
dem jeder für sich erwirbt, produziert und genießt, er eben damit für den
1
Genußn der 1
übrigenJ produziert
!
und■ L_ 43
erwirbt.«43
Hier denkt man unwillkürlich an die »invisible hand« Adam
Smiths, auf den Hegel dann auch an anderer Stelle verweist: dort
nämlich, wo er vom »Verstand« als der für die bürgerliche Gesell
schaft charakteristischen Form der Allgemeinheit gleichsam in
objektiver Wendung spricht, nämlich im Sinne des »in ihr wirksa
men und sie regierenden Verstand(es)«.44 Dieser in der bürger
lichen Gesellschaft »regierende Verstand« erlaubt es, sie durch
Aufspüren ihrer allgemeinen Bewegungsgesetze wissenschaftlich
zu erfassen. Hinter der scheinbaren Regellosigkeit und Willkür
einzelner, durch Selbstsucht bestimmter Handlungen der Indivi
duen steht die Notwendigkeit allgemeiner, wissenschaftlich erfaß
barer Gesetze: die bürgerliche Gesellschaft ist die Sphäre formel
ler Allgemeinheit auch darin, daß sie möglicher Gegenstand einer
r Gesetzeswissenschaft ist. Den Status dieser Wissenschaft, der
»Staatsökonomie«, vergleicht Hegel mit der Newtonschen Him
melsmechanik.45 Wenn Hegel im gleichen Paragraphen von dem
Verstand als dem »Scheinen der Vernünftigkeit in dieser Sphäre
der Endlichkeit« spricht, so dürfen wir das, wie ich meine, im
Sinne aller drei bisher erörterten Aspekte der für die bürgerliche
Gesellschaft charakteristischen »formellen Allgemeinheit« verste
hen:
(1) im Sinne einer Bildung der Subjektivität zur formellen Allge
meinheit in den Sphären des Rechts, der Wissenschaft und der
Kultur; (2) im Sinne einer Vermittlung des Wohles aller durch die
Selbstsucht der Einzelnen; (3) im Sinne der Erkennbarkeit der
42 Rph, § 246.
43 RPh< § '99-
44 Rph, § 189.
4$ Vgl. Rph, § 189, Zusatz.
134
G .
Bewegungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft durch eine no-
mologisch verfahrende Verstandeswissenschaft. Dieses »Scheinen
der Vernünftigkeit« entkräftet auf der einen Seite den Schein einer
bloß antagonistischen Beziehung der Individuen zueinander im
»System der Bedürfnisse«; auf der anderen Seite erzeugt cs freilich
zugleich den Schein eines sich selbst bereits als Vernunft aufspie i
lenden Verstandes.
Dieser letztere Schein wird nun aber in dem zweiten Modell der
i
bürgerlichen Produktionsweise, das bei Hegel angelegt ist, schon
durch die interne Dynamik dieser Produktionsweise in Frage ge
stellt. In diesem Modell kann nämlich von einer Vermittlung des
Wohles aller durch die Selbstsucht der Einzelnen nicht mehr die
Rede sein; die Idee einer solchen Vermittlung nimmt vielmehr
■I
jetzt - so könnte man sagen - den Charakter eines ideologischen
Scheins an. So sagt Hegel etwa: 1
»Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit
befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung
und Industrie begriffen. - Durch die Verallgemeinerung des Zusammen
hangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für
diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der
Reichtümer — denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte
Gewinn gezogen - auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Ver
einzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die
Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse ,..«46
Hegel weist auch bereits darauf hin, daß die Integration einer pau-
perisierten industriellen Reservearmee in den bürgerlichen Pro
duktionszusammenhang nach dessen eigener Logik nicht mehr
möglich ist. »Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Über
maße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug
ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt,
dem Übermaße an der Erzeugung des Pöbels zu steuern.«'17 Hier
erhält Hegels Diktum, der bürgerlichen Gesellschaft als einem
»System der Bedürfnisse« hafte ein »Rest des Naturzustands« an,
eine neue Bedeutung, denn es hängt offenbar von der sozialen
i
Position der Einzelnen ab, ob sie ihr »besonderes Wohl« im
Kampfe aller gegen alle mit Aussicht auf Erfolg besorgen können.
Schon aufgrund der internen Dynamik der bürgerlichen Produk-
46 Rph, § 243.
47
'35
tionsweisc bedarf es daher einer »öffentlichen Macht«,48 die
allein dafür Sorge tragen kann, daß nicht nur die »Sicherheit der
Person und des Eigentums«, sondern auch die »Sicherung der
Subsistenz und des Wohls des Einzelnen, - daß das besondere
Wohl als Recht behandelt und verwirklicht sei.«49
Die zuletzt zitierten Passagen der Rechtsphdosophie machen be
reits deutlich, daß für Hegel eine politische »Verlängerung« der
bürgerlichen Gesellschaft in einen naturrechtlich konzipierten
Staat schon unter Gesichtspunkten materieller Gerechtigkeit frag
würdig erscheinen mußte. Wenn nämlich das die bürgerliche
Rechtsordnung tragende partikulare Interesse der Eigentümer am
Schutz des Eigentums sich als partikulares Interesse auch in dem
Sinne erwies, daß seine Durchsetzung mit der Erzeugung einer
Klasse von Nicht-Eigentümern unvermeidlich zusammenhing,
dann war von den im demokratischen Staat zu politischen Bür
gern sich aufschwingenden Bourgeois eine Versöhnung von Be
sonderem und Allgemeinem nicht einmal im Sinne einer Vertre
tung gemeinsamer materieller Interessen zu erwarten, geschweige
denn im Sinne einer Verwirklichung substantieller Sittlichkeit.
In Hegels Analyse bleibt die bürgerliche Gesellschaft eine un
überschreitbare letzte Etappe in der Emanzipationsgeschichte der
Menschheit. Gerade darum bedarf sie der »Aufhebung« in einem
von ihrem Interessenantagonismus unabhängigen Staat, der der in
ihr verletzten Vernunft zu ihrem Recht verhilft. Diese Aufhebung
der bürgerlichen Gesellschaft in der substantiellen Sittlichkeit des
Staates konnte Hegel bezeichnenderweise freilich nur an einem
weltgeschichtlich bereits anachronistischen Staate - der konstitu
tionellen Monarchie Preußens — exemplifizieren. Die von den
Bürgern nicht kontrollierte Gewalt dieses Staates bleibt, den In
tentionen Hegels entgegen, das Signum einer Aufhebung, die
nicht dialektisch, sondern gewaltsam ist. Erst Marx sollte einen,
der Hegelschen Analyse kongenialen, alternativen Weg beschrei
I ten, indem er die Kritik bereits auf jener Ebene ansetzte, auf der
Hegel noch gutgläubig die Tradition des Naturrechts fortgesetzt
hatte: derjenigen des abstrakten Rechts.
f Versuchen wir zu resümieren: Von Hegels Argumenten gegen eine
demokratisch verstandene Volkssouveränität bleibt - bringt man
48 Rph, § 235.
49 Rph, § 230.
i; 136
einmal die auf seiner Analyse der bürgerlichen Gesellschaft basie
renden Motive in Abzug - vor allem jenes Argument zurück, mit
dem er den Verfechtern demokratischer Forderungen eine bc-
griffsblindc »Subjcktivicrung« der Idee einer Verwirklichung von
Freiheit und Vernunft im Staate vorwirft. Immanent ließe sich
dieser Einwand nur im Systemzusammenhang der Hcgelschen
Philosophie diskutieren. Ich gehe aber davon aus, daß geschicht
liche Erfahrungen seit der Zeit Flegels den Gedanken einer im
Staate objektiv gewordenen Vernunft, deren bloße Momente oder
Akzidenzien die Individuen sind, und damit zugleich Hegels spe
kulative Überwindung des aufklärerischen und naturrechtlichen
»Subjektivismus« so nachhaltig diskreditiert haben, daß, systema
tisch gesehen, nur einer der zwei folgenden Wege noch offen
bleibt: Entweder wir erkennen Hegels Kritik als zwingend an,
verabschieden aber damit zugleich die Idee einer Verwirklichung
praktischer Vernunft im gesellschaftlichen Zusammenleben der
Menschen; nicht so sehr, weil eine schlechte Wirklichkeit sich
unseren Idealen nicht fügt, sondern eher, weil uns ein lange Zeit
unbemerkter »transzendentaler Schein« in der Tiefengrammatik
unserer Sprachen endlich bewußt geworden wäre - ein transzen
dentaler Schein, der die europäischen Aufklärer bis hin zu den
Marxisten dazu verführte, einem Trugbild nachzujagen. Oder
aber wir versuchen, das Wahrheitsmoment im aufklärcrisch-na-
turrechtlichen »Subjektivismus« gegenüber der Hcgelschen Kritik
neu zu bestimmen und damit zugleich die Hegelsche Einsicht in
den geschichtlich-intersubjcktiven Charakter praktischer Ver
nunft in eine, wie auch immer hermeneutisch gebrochene, Kanti-
sche Perspektive zurückzuholen.
Nach den bisherigen Erörterungen versteht sich von selbst, daß
J
ich den zweiten Weg für den richtigen halte. Bevor ich aber in
diesem Sinne an die Überlegungen des vorigen Abschnitts an
knüpfe, möchte ich mich, wie bereits angekündigt, der Marxschen
Kritik des Naturrechts zuwenden.
137
\L
VIII.
138
I:
das Kapital voraus; es stellt daher - seinem ideologischen An
spruch zum Trotz - eine Form der Klassenherrschaft dar. (2) Die
Entstehung der »ursprünglichen Akkumulation« kann nicht als
die Geschichte einer friedlichen Aneignung der Natur durch ar
beitende Individuen und eines gewaltlosen Austausches ihrer i I
Arbeitsprodukte verstanden werden; sie ist vielmehr wesentlich
eine Geschichte gewaltsamer Expropriation, der Plünderung und
des Betrugs, kurz, eine Geschichte sozialer und politischer Ge
walt. (3) Ihrer internen Logik nach führt die Entfaltung der
kapitalistischen Produktionsweise nicht etwa zu einer Vermitt
lung des Wohles aller durch die Selbstsucht der Einzelnen, son
dern zu einem sich verschärfenden Klassengegensatz zwischen
Kapitalisten und Proletariern, zu ökonomischen Krisen und zur
Verelendung der Arbeiter.
Da die erste der angeführten Thesen das Zentrum der Marxschcn
Kritik am Naturrecht bezeichnet, möchte ich sic etwas ausführ
licher erläutern. Dabei müssen wir zunächst festhaltcn, daß Marx
den Zusammenhang zwischen Freiheit, Gleichheit und Eigentum
keineswegs bestreitet; er erkennt ihn vielmehr zunächst als einen
durchaus realen und notwendigen Zusammenhang an, um erst in
späteren Schritten der Analyse den eigentümlichen ScZteincharak-
ter dieses Zusammenhangs bloßzulegen. Ich möchte das durch ein
längeres Zitat aus den Grundrissen verdeutlichen, aus dem auch
hervorgeht, wie eng und gleichsam affirmativ Marx zunächst an
Hegels Analyse des abstrakten Rechts bzw. der bürgerlichen Ge
sellschaft anknüpft:
»In der Tat«, so heißt es bei Marx, »soweit die Ware oder die Arbeit nur
noch als Tauschwert bestimmt ist, und die Beziehung, wodurch die ver
schiedenen Waren aufeinander bezogen werden, als Austausch dieser
Tauschwerte gegeneinander, ihre Gleichsetzung, sind die Individuen, die
Subjekte, zwischen denen dieser Prozeß vorgeht, nur einfach bestimmt als
Austauschende. Es existiert absolut kein Unterschied zwischen ihnen, so
weit die Formbestimmung in Betracht kommt, und dies ist die ökonomi
sche Bestimmung, die Bestimmung, worin sie in dem Verkehrsverhältnis
zueinander stehen; der indicator ihrer gesellschaftlichen Funktion oder
gesellschaftlichen Beziehung zueinander. Jedes der Subjekte ist ein Aus
tauschender; d. h. jedes hat dieselbe gesellschaftliche Beziehung zu dem
anderen, die das andere zu ihm hat. Als Subjekte des Austausches ist ihre
Beziehung daher die der Gleichheit. Es ist unmöglich, irgendeinen Unter I
schied oder gar Gegensatz unter ihnen auszuspüren, nicht einmal eine
Verschiedenheit. Ferner die Waren, die sie austauschen, sind als Tausch-
■39
■
werte Äquivalente oder gelten wenigstens als solche ... Die Subjekte sind
im Austausch nur füreinander durch die Äquivalente, als gleichgekende
und bewähren sich als solche durch den Wechsel der Gegenständlichkeit,
worin das eine für andere ist. Da sie nur so als Gleichgeltende, als Besitzer
von Äquivalenten und Bewahrer dieser Äquivalenz im Austausch fürein
ander sind, sind sie als Gleichgeltende zugleich Gleichgültige gegeneinan
der; ihr sonstiger individueller Unterschied geht sie nichts an; sie sind
gleichgültig gegen alle ihre sonstigen individuellen Eigenheiten. Was nun
den Inhalt angeht außerhalb dem Akt des Austausches, der sowohl Setzen
als Bewähren der Tauschwerte wie der Subjekte als Austauschender ist, so
kann dieser Inhalt, der außerhalb der ökonomischen Formbestimmung
fällt, nur sein: (i) die natürliche Besonderheit der Ware, die ausgetauscht
wird. (2) Das besondere natürliche Bedürfnis der Austauschenden, oder
I
beides zusammengefaßt, der verschiedene Gebrauchswert der auszutau
schenden Waren. Dieser, der Inhalt des Austausches, der ganz außerhalb
seiner ökonomischen Bestimmung liegt, so, weit entfernt die soziale
Gleichheit der Individuen zu gefährden, macht vielmehr ihre natürliche
Verschiedenheit zum Grund ihrer sozialen Gleichheit... Soweit nun diese
natürliche Verschiedenheit der Individuen und der Waren derselben (Pro
dukte, Arbeit etc. sind hier noch gar nicht verschieden; sondern existieren
nur in der Form von Waren ...) ... das Motiv bilden zur Integrierung
dieser Individuen, zu ihrer gesellschaftlichen Beziehung als Austau
schende, worin sie sich als Gleiche vorausgesetzt sind und bewähren^
kommt zur Bestimmung der Gleichheit noch die der Freiheit hinzu. Ob
wohl das Individuum A Bedürfnis fühlt nach der Ware des Individuums B,
bemächtigt es sich derselben nicht mit Gewalt, noch vice versa, sondern sie
erkennen sich wechselseitig an als Eigentümer, als Personen, deren Willen
ihre Waren durchdringt. Danach kommt hier zunächst das juristische Mo
ment der Person herein und die Freiheit, soweit sie darin enthalten ist.
Keines bemächtigt sich des Eigentums des anderen mit Gewalt, jedes ent
äußert sich dessen freiwillig. Aber dies ist nicht alles: Das Individuum A
dient dem Bedürfnis des Individuums B vermittels der Ware a, nur inso
( fern und weil das Individuum B dem Bedürfnis des Individuums A
vermittels der Ware b dient und vice versa. Jedes dient dem anderen, um
sich selbst zu dienen; jedes bedient sich des andren wechselseitig als seines
Mittels ... Damit ist also die vollständige Freiheit des Individuums ge
setzt: Freiwillige Transaktion; Gewalt von keiner Seite; Setzen seiner als
Mittel, oder als dienend, nur als Mittel, um sich als Selbstzweck, als das
Herrschende und Übergreifende zu setzen; endlich das selbstsüchtige In
! teresse, kein darüberstehendes verwirklichend; der andre ist auch als
ebenso sein selbstsüchtiges Interesse verwirklichend anerkannt und ge
wußt, so daß beide wissen, daß das gemeinschaftliche Interesse eben nur in
der Doppclseitigkeit, Vielfältigkeit und Verselbständigung nach den ver
schiedenen Seiten, der Austausch des selbstsüchtigen Interesses ist. Das
140
i
5 Hj
allgemeine Interesse ist eben die Allgemeinheit der selbstsüchtigen Inter i
essen. Wenn also die ökonomische Form, der Austausch, nach allen Seiten
hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der Inhalt, der Stoff, individueller
wie sachlicher, der zum Austausch treibt, die Freiheit. Gleichheit und
Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwer
ten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive,
reale Basis aller Gleichheit und Freiheit.***
Diese Analyse des Zusammenhangs zwischen Freiheit, Gleich
heit, Eigentum und Äquivalententausch klingt, wie schon ange
deutet, beinah wie eine Rekapitulation Hegclscher Analysen. Und
so wie im Zentrum der Hegeischcn und auch schon der Kanti- I
schen Behandlung des Naturrechts, ein, wie Kant es ausdrückte,
»intellektueller Begriff« des Geldes auftaucht, fügt Marx an der
angegebenen Stelle wenig später hinzu: »Da das Geld erst die Rea
lisierung des Tauschwertes ist, und erst bei entwickeltem Geldsy
stem das System der Tauschwerte sich realisiert hat oder umge
i
kehrt, so kann das Geldsystem in der Tat nur die Realisierung
dieses Systems der Freiheit und Gleichheit sein.«51
Marx bestimmt nun freilich den »Schein«-Charakter dieses Sy
stems der Freiheit und Gleichheit in anderer Weise als Hegel:
Nicht die selbstsüchtige Beziehung der Individuen zueinander ist
der Schein, der diesem System mit Notwendigkeit anhaftet;
»scheinhaft« sind vielmehr die Zwanglosigkeit und Gerechtigkeit
des Äquivalententausches selber. Soweit dieser nämlich den Aus
tausch lebendiger Arbeitskraft gegen geronnene Arbeit betrifft,
d. h. soweit sie die Tauschbeziehung zwischen freien Lohnarbei
I
tern und Kapitalisten betrifft, in welcher die lebendige Arbeits
kraft zum Gebrauchswert für die Produktion von Tauschwerten
wird, versteckt sich — das zeigt Marx durch seine Radikalisierung
der Arbeitswerttheorie - unter der Oberflächenform des Äquiva
lententausches eine Beziehung ganz anderer Art: eine Beziehung
nämlich, die durch die Aneignung fremder Arbeit ohne Austausch
charakterisiert ist. Das soll nun nicht etwa bedeuten, daß der
Äquivalententausch in der bürgerlichen Gesellschaft entgegen
dem Anschein doch nicht vollkommen realisiert ist; Marx zeigt
vielmehr, daß gerade durch die Ausbildung des Äquivalcntentau-
sches zur beherrschenden Form gesellschaftlicher Beziehungen
50 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974,
S. 152-156.
51 A.a.O., S. 157.
141
L 1
die entschädigungslose Aneignung fremder Arbeit durch die Ei
gentümer von Kapital zur Notwendigkeit wird. Der Äquivalen
tentausch kann sich als gesellschaftliches System nur realisieren,
indem er die Negation jener Voraussetzungen hervorbringt, von
denen er seine legitimatorische Funktion im bürgerlichen Natur
recht bezogen hatte: nämlich die Negation des Zusammenhangs
von Arbeit und Eigentum. Der Äquivalententausch realisiert sich
als gesellschaftliches System, sobald das Privateigentum die Form
des industriellen Kapitals annimmt; das Kapital kann sich aber <t/s
Kapital nur konstituieren und reproduzieren, indem cs den
Nichteigentümer hervorbringt.
-Dieser Austausch von Äquivalenten geht vor, ist nur die oberflächliche
Schicht einer Produktion, die beruht auf der Aneignung fremder Arbeit
ohne Austausch, aber unter dem Schein des Austausch*. Dieses System des
Austauschs beruht auf dem Kapital als seiner Grundlage, und, wenn es
getrennt von ihm betrachtet wird, wie es sich an der Oberfläche selbst
zeigt, als selbständiges System, so ist dies bloßer Schein, aber ein notwen
diger Schein. Es ist daher nicht länger zu verwundern, daß das System der
Tauschwerte-Austausch von durch die Akte gemessenen Äquivalenten-
umschlägt oder vielmehr als seinen versteckten Hintergrund zeigt A»erg-
nung fremder Arbeit ohne Austausch, völlige Trennung von Arbeit und
Eigentum. Das Herrschen nämlich des Tauschwerts selbst und der Tausch
werte produzierenden Produktion unterstellt fremdes Arbeitsvermögen
selbst als Tauschwert - d. h. Trennung des lebendigen Arbeitsvermögens
von seinen objektiven Bedingungen; Verhalten zu denselben — oder zu
seiner eigenen Objektivität - als fremdes Eigentum; Verhalten zu densel
ben in einem Wort als Kapital.«52
Die Realisierung des auf Eigentum und Äquivalentcntausch basie
renden Systems der Freiheit und Gleichheit ist somit zugleich,
und notwendigerweise, die Realisierung eines Systems der Aus
beutung und Ungleichheit; die Ausbildung des Privateigentums
zur alles beherrschenden Grundlage der gesellschaftlichen Bezie
hungen ist zugleich die Produktion einer Klasse von Nichteigen-
tümem.
Von dieser Marxschen Kritik der Ideologie des Äquivalenten-
tauschs her läßt sich der Hegelschen Relativierung der bürger
lichen Gesellschaft eine durchaus ironische Pointe abgewinnen.
Im Paragraphen 181 der Rechtsphilosophie, betitelt Ȇbergang der
Familie in die bürgerliche Gesellschaft«, spricht Hegel von der
$2 A.a.O., S. 409.
142
bürgerlichen Gesellschaft als dem Zustand »verlorener« Sittlich
keit, um dann diesen Verlust der Sittlichkeit als einen »Schein« zu
charakterisieren. Im Zusatz heißt cs:
»Jetzt aber tritt das Verhältnis ein, daß das Besondere das erste für mich
bestimmende sein soll, und damit ist die sittliche Bestimmung aufgehoben.
Aber ich bin eigentlich darüber im Irrtum, denn indem ich das Besondere
festzuhalten glaube, bleibt doch das Allgemeine und die Notwendigkeit
I
l !I’
R
des Zusammenhangs das Erste und Wesentliche: ich bin also überhaupt
auf der Stufe des Scheins, und indem meine Besonderheit mir das Bestim
mende bleibt, das heißt der Zweck, diene ich damit der Allgemeinheit,
welche eigentlich die letzte Macht über mich behält.« ■
»43
1
recht gerade die Verbindung der privatrechtlichen mit der politi
schen Freiheit und Gleichheit kennzeichnend war. Das bedeutet
aber - wie wir am Beispiel Kants sehen daß im bürgerlichen
Legitimationssystem das »Marktmodell« freier Eigentümer von
dem »Diskursmodell« frei und öffentlich diskutierender und de
mokratisch entscheidender Bürger nicht zu trennen ist - wenn
freilich auch das letztere Modell durch das erstere in einem ent
scheidenden Punkte eingeschränkt bleibt. Das »Marktmodell« der
Freiheit und Gleichheit bezieht überhaupt seine eigentümliche
ideologische Sprengkraft erst aus der Verbindung mit dem, was
Habermas den »prozeduralen Legitimationstypus der Neuzeit«
genannt hat. Das ist ja eigentlich auch der Sinn der Vertrags
konstruktionen des Naturrechts. Von daher gesehen leben aber
naturrechtliche Legitimationen der emanzipierten bürgerlichen
Gesellschaft von der Unterstellung, daß die bürgerliche Eigen
tums- und Produktionsordnung als das Resultat einer freien
Übereinkunft aller zu Eigentümern bestimmten Produzenten -
das heißt in letzter Instanz: aller Bürger - zumindest gedacht wer
den könne. Das ist auch der Grund, weshalb in naturrechtlichen
Eigentumstheorien von Locke bis Hegel die Frage des »ursprüng
lichen Erwerbs« bedeutungsvoll wird; die dem Tauschverkehr der
Eigentümer ursprünglich zugrunde liegende Entstehung und Ver
teilung des Eigentums bedarf nämlich selbst noch einmal der
h'; Rechtfertigung. Noch in demjenigen Unterabschnitt des ersten
Teils der Hegelschen Rechtsphilosophie, der über die »Besitz
I; nahme« handelt, taucht dieses Legitimationsproblem der natur
rechtlichen Eigentumstheorien wieder auf; hieran wird aber
deutlich, daß selbst bei Hegel das abstrakte Recht noch nicht
gänzlich aus dem Begründungs- und Legitimationszusammen
hang der naturrechtlichen Vertragstheorien herausgefallcn war.
Wir dürfen somit unterstellen, daß die naturrechtlichc Legitima-
tionsform der bürgerlichen Waren- und Tauschgesellschaft von
einer Interpretation ihrer historischen Genese — wie übrigens auch
von einer Interpretation ihrer historischen Folgen - im Sinne eines
materiellen Gerechtigkeitsprinzips nicht abgelöst werden kann.
John Locke hat diesen Zusammenhang am klarsten und zugleich
naivsten formuliert. Im 5. Kapitel seines Second Treatise on Go
vernment postuliert er den ursprünglichen Zusammenhang zwi
schen Arbeit und Privateigentum. Die ursprüngliche Form des
I1 Äquivalententausches wäre dementsprechend der Austausch von
1
144
!
5 . ”
145
I r
Arbeitskraft zum Gebrauchswert für die Produktion von Tausch
werten geworden ist. Marx zeigt, mit anderen Worten, daß der in
das Naturrccht eingegangene Zusammenhang zwischen Arbeit,
Privateigentum und Austausch von Äquivalenten erst an dem
Punkte zur beherrschenden gesellschaftlichen Wirklichkeit ge
worden ist, an dem der Arbeitende zum Nicht-Eigentümer, das
Eigentum zur Nicht-Arbeit und die Beziehung beider aufeinan
der zur Beziehung zwischen Lohnarbeit und Kapital geworden
ist. Die Trennung des Eigentums von der Arbeit ist somit die lo
gische und historische Voraussetzung für die Realisierung des im
Naturrecht und in der klassischen politischen Ökonomie postu
lierten Zusammenhangs von Arbeit und Eigentum. Daraus folgt
aber, daß sich die Genese des bürgerlichen Privateigentums nicht
als Geschichte der Aneignung von Eigentum durch Arbeit und
Tausch rekonstruieren läßt; als einer Geschichte der Trennung
von Arbeit und Eigentum kann ihr vielmehr das Moment der Ge
walt, des Raubes und der Plünderung, das Marx in ihr nachweist,
nicht äußerlich sein. Das soll heißen: die in der Entstehung der
bürgerlichen Gesellschaft historisch feststellbare Gewalt verliert
den Charakter systematischer (legitimatorischer) Irrelevanz,
wenn in der Struktur der bürgerlichen Produktionsweise ein Mo
ment fortdauernder Gewalt nachgewiesen werden kann. Der
Schein der »Natürlichkeit«, der dieser Produktionsweise anhaf
tete, bewirkte unter anderem auch, daß deren wirkliche Vorge
schichte vergessen werden durfte. Marx rehabilitiert gleichsam die
Erinnerung an die Spuren der Gewalt in der Geschichte der bür
gerlichen Gesellschaft, indem er das Fortdauern der Gewalt in
ihrer Struktur sichtbar macht. Nur aus diesem Grunde besteht ein
kritisches Verhältnis zwischen Marx’ historischer Rekonstruktion
i vorbürgerlicher Eigentumsformen und Hegels logischer Kon
struktion des bürgerlichen Eigentumsbegriffs. Nachdem nämlich
die Kritik an der Ideologie des Äquivalcntentausches der Hegel
sehen Konstruktion und ihrem Legitimationsanspruch den Boden
entzogen hat und nachdem gezeigt worden ist, daß ein politisches
- d. h. ein Herrschafts-Verhältnis bis in die Fundamente des bür
I gerlichen Privatrechts hineinragt, kann durch die »faktische Ge
nese« ein in der logischen Konstruktion unterdrücktes Moment
der Gewalt in der Geschichte der bürgerlichen Eigentumsord
nung namhaft gemacht werden.
Zur ideologischen Rechtfertigung des bürgerlichen Privateigen-
I.
I46
tums gehört die Verschleierung jenes Moments der Gewalt, das in
seine Konstitution eingegangen war. Aus diesem Grund gehört
die »Historisierung« der bürgerlichen Gesellschaft - hier zu
nächst im Sinne einer Rekonstruktion ihrer Vorgeschichte und
einer Erklärung der »ursprünglichen Akkumulation« - mit zur
Idcologickritik des kapitalistischen Systems. Die einzige Legiti
mationsmöglichkeit, die diesem System, von hier aus gesehen, I :i
noch bliebe, läge in einer Rechtfertigung seiner historischen Fol
gen. Nun hat Marx eine entsprechende historische Rechtfertigung
des Kapitalismus durch seine gesellschaftlichen Folgen in der Tat
immer wieder verteidigt; freilich nicht im Sinne der bürgerlichen
Theoretiker, deren Illusionen er vielmehr nachhaltig zerstört: Die
Logik der Kapitalbcwegung erlaubt keine Rückkehr zu einer
Ordnung der Gesellschaft, die zugleich kapitalistisch und gerecht
im Sinne des naturrechtlichen Legitimitätsprinzips einer Verein
barung Freier und Gleicher wäre. Sie bewirkt vielmehr die Entfes
selung einer Dynamik von Kapitalkonzentration, Krisen und
Massenelend; einer Dynamik zugleich der Entfaltung von Pro
duktivkräften, die erst durch die Überwindung der bürgerlichen
Eigentumsordnung unter die rationale Kontrolle des »assoziierten
Produzenten« gebracht werden könnte.
IX.
Die Kritik der politischen Ökonomie zerstört den Schein der Ge
waltlosigkeit, der dem System des Äquivalententausches und
I
damit zugleich dem bürgerlichen System der Freiheit und Gleich
heit anhaftet. Versteht man sie in diesem Sinne, d. h. als eine
immanent verfahrende Ideologiekritik der bürgerlichen Gesell i
schaft, so läßt sich unschwer dartun, daß sie von der impliziten (
Bezugnahme auf genau jene Idee gewaltloser wechselseitiger An
erkennung lebt, als deren Realisierung das bürgerliche System der
Freiheit und Gleichheit sich ausgab. Es versteht sich dann von
. I
selbst, daß der von Marx propagierte Kommunismus einer klas
senlosen Gesellschaft sich aus dem Kritikzusammenhang seiner
Theorie nur verstehen und legitimieren läßt im Sinne einer Über
bietung und Radikalisierung der bürgerlichen Demokratie, d. h.
Iff
$6 Vgl. hierzu R. P. Sicferle, Die Revolution in der Theorie von Karl Marx,
Frankfurt 1979.
148
formen«,57 gegen Bruno Bauer polemisiert er gegen die Be-
schränktheit der bürgerlichen Demokratie.58
In der Kritik des Hegelschen Staatsrechts heißt es:
»Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die
Verfassung nicht nur an sich., dem Wesen nach, sondern der Existenz, der
Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen,
das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eigenes Werk gesetzt.
Die Verfassung erscheint als das, was sie ist, freies Produkt des Menschen
... In der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das materielle
Prinzip. Sie ist daher erst die wahre Einheit des Allgemeinen und Beson
deren ... Es versteht sich übrigens von selbst, daß alle Staatsformen zu
ihrer Wahrheit die Demokratie haben und daher eben, soweit sie nicht die
Demokratie sind, unwahr sind.«59
Demgegenüber macht Marx sich in dem Aufsatz Zur Judenfrage
die Hegelsche Analyse der bürgerlichen Gesellschaft gewisserma
ßen zu eigen, indem er aber davon ausgeht, daß Hegel das durch
die bürgerliche Revolution hervorgebrachte Verhältnis von Staat
und bürgerlicher Gesellschaft auf den Kopf gestellt hat.
»Die politische Revolution«, so heißt cs dort, »löst das bürgerliche Leben
in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren
und der Kritik zu unterwerfen. Sie verhält sich zur bürgerlichen Gesell
schaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des
Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehens, als zu einer nicht weiter
begründeten Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis.«60
Was nun diese Naturbasis betrifft, so ist nicht das Fehlen eines
allgemeinen Inhalts, wie Hegel noch sagen konnte, ein »Schein«;
es ist vielmehr so, daß die politische Emanzipation der bürger
lichen Gesellschaft zugleich die Emanzipation dieser Gesellschaft
»von dem Schein selbst eines allgemeinen Inhalts« ist. Denn »das
politische Gemeinwesen wird jetzt offen »zum bloßen Mittel« zur
Erhaltung der Rechte des Bourgeois,
»der citoyen zum Diener des egoistischen homme erklärt, die Sphäre, in
welcher der Mensch sich als Gemeinwesen verhält, unter die Sphäre, in
welcher er sich als Teilwesen verhält, degradiert, endlich nicht der Mensch
als citoyen, sondern der Mensch als bourgeois für den eigentlichen und f li
wahren Menschen genommen...«61
r 1
H
57 K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: Frühe Schriften, Bd. 1
(Hg. H.J. Lieber und P. Furth) Darmstadt 1962, S. 294.
58 K. Marx, »Zur Judenfrage«, in: Frühe Schriften, Bd. 1, a.a.O., S. 478.
59 K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, a.a.O., S. 293 f.
60 K. Marx, »Zur Judenfrage«, a.a.O., S. 478.
61 A.a.O., S. 475. i
149 ; iS
■» '
Die Bürgerrechte, durch welche scheinbar eine Sphäre freier kol
lektiver Selbstbestimmung etabliert wird, sind in Wirklichkeit
nichts als ein Mittel zur Erhaltung der Menschenrechte - die aber
ihrerseits nichts sind als Rechte des Menschen, »wie er Mitglied
der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatin
teresse und seine Privatwillkür zurückgezogen und vom Gemein
wesen abgesondertes Individuum ist«.62 Daher ist mit der
französischen Revolution »der wirkliche Mensch ... erst in der
Gestalt des egoistischen Individuums, der wahre Mensch erst in
der Gestalt des abstrakten citoyen anerkannt.«63 In dieser Aner
i kennung des wahren Menschen in der Gestalt des abstrakten
Citoyen steckt gleichwohl ein Versprechen: das Versprechen näm
lich, daß der Citoyen anstelle des Bourgeois zum wirklichen
Menschen und zur Grundlage des Gemeinwesens werde.
»Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger
in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen
Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnis
sen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine »forces
propres< als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher
die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft
von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.«64
Nun möchte ich keineswegs behaupten, daß Marx in den hier
zitierten Arbeiten das Problem einer Scheidung der ideologischen
)■ von den emanzipatorischen Gehalten der naturrechtlichen Legiti
mationsbasis der bürgerlichen Gesellschaft in unzweideutiger
150
i
f1
Fassungen. Freilich hätte Marx sich dies Problem in präziser Weise
erst nach Ausarbeitung der Kritik der politischen Ökonomie stel
len können; es bedurfte einer systematischen Kritik des bürger
lichen Eigentumsbegriffs, um das Gewebe, das die ideologischen
mit den emanzipatorischen Gehalten des bürgerlichen Legitima
tionssystems verband, an der richtigen Steile zu durchtrennen. ? *
Aus den oben erwähnten Gründen hat Marx sich dies Problem t-1.»
freilich auch nach Ausarbeitung seiner ökonomischen Theorie
nicht ernsthaft gestellt. Seine objektivistischen Prämissen nötigen
ihn vielmehr, das Problem am Ende zu leugnen. Wo es sich gleich ■ i
wohl geltend macht, bedient sich Marx - wie mir scheint - einer :!
höchst problematischen, von ihm selbst nicht durchschauten
Doppelstrategie: Auf der einen Seite spielt er einen »entideologi i
sierten« naturrechtlichen Legitimitätsbegriff gegen die bürger
liche Gesellschaft und ihren Apologeten Hegel aus, um auf der
anderen Seite zugleich einen geschichtsmaterialistisch gewendeten
Hegel gegen die »formalen« Demokratie- und Legitimitätsbe
griffe des Naturrechts in Anspruch zu nehmen. Wäre diese Ver
mutung richtig, so bedeutete das, daß Marx die Hcgelsche Kritik
naturrechtlicher Vertragstheorien und die damit verbundene gel
tungslogische »Relativierung« universalistischer, formaler Rechts
prinzipien in einer durchaus problematischen Weise mit seiner
eigenen Ideologiekritik des bürgerlichen Naturrechts amalgamiert
hätte. Letztere lebt von Voraussetzungen, die - weil politischen
Interpretationen des Naturrechts verpflichtet - von der Hegel
sehen Kritik wohl als »leere Abstraktionen des Verstandes« hätten
zurückgewiesen werden müssen; während umgekehrt jene Hegel-
sche Kritik mit der in ihr angelegten Ersetzung eines »formellen«
durch einen »substantiellen« Freiheitsbegriff - wenn man ihr die
liberale Basis eines im Sinne des »abstrakten Rechts« geregelten
J
Tauschverkehrs von Privateigentümern entzieht - schwerlich an
■
I
nicht gelungen ist, das relative Recht — und Unrecht - der Hegel
sehen Kritik am Naturrecht zu seiner eigenen Ideologiekritik des
Naturrechts in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Hierin
'i
liegt sicherlich einer der Gründe dafür, daß in dem breiten
Spektrum miteinander rivalisierender, auf Marx sich berufender
15 1
■ T
Konzeptionen einer sozialistischen Transformation moderner Ge
sellschaften auch einigermaßen konträre Positionen - autoritär
bürokratische ebenso wie radikal-demokratische — relativ pro
blemlos an Elemente des Manischen Denkens anknüpfen konnten.
X.
I ■5*
ft !•11 -
eines unzweideutigen Erkenntnisfortschrittes von Kant über He
gel zu Marx rekonstruieren. Es scheint vielmehr, daß das kritische
Potential dieser drei Positionen zum Naturrecht nur dann voll zur
Geltung kommen würde, wenn man sie wechselseitig aneinander
sich abarbeiten ließe. Die Aufgabe, die sich dann stellte, wäre die
einer »rationalen Rekonstruktion« des Naturrechts von einer Po
sition her, die sich gewissermaßen als ein gemeinsamer Flucht
punkt der Theorien von Kant, Hegel und Marx müßte darstellen
lassen.
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II.
Nachmetaphysische Perspektiven
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Wahrheit, Kontingenz, Moderne
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I
ansprüche zu begründen, bezüglich der Standards der Argumen
tation oder der Überzeugungskraft von Erfahrungsevidenzen -
etwa zwischen Mitgliedern verschiedener sprachlicher, wissen
schaftlicher oder kultureller »communities« -, dürfen wir dann
l:
gleichwohl unterstellen, daß es - irgendwo - die richtigen Stan
dards oder Kriterien, d. h. eine objektive Wahrheit mit Bezug auf
die entsprechenden Probleme gibt? Oder sollten wir annehmen,
daß Wahrheit immer »relativ« ist auf bestimmte Kulturen, Spra
chen, Gesellschaften oder sogar Personen? Die zweite Alternative, I
I57 I
der Relativismus, scheint inkonsistent, während die erste, der
Wahrheits-»Absolutismus«, metaphysische Annahmen zu impli
zieren scheint. Ich möchte dies die »Antinomie der Wahrheit«
nennen. Während der letzten Jahrzehnte sind beträchtliche philo
sophische Anstrengungen darauf gerichtet gewesen, diese Antino
mie der Wahrheit aufzulösen: auf der einen Seite durch Versuche
zu zeigen, daß der Absolutismus keine Metaphysik impliziert, auf
der anderen durch entsprechende Versuche zu zeigen, daß die Kri
tik am Absolutismus nicht zwangsläufig zum Relativismus führt.
Wichtige Vertreter der ersten Argumentationsstrategie sind
j'i H. Putnam, K. O. Apel und J. Habermas; der vielleicht wichtigste
Vertreter der zweiten Position ist R. Rorty. Ich will an dieser Stelle
nicht auf Derridas Position eingchen, derzufolge Wahrheit ein
hoffnungslos metaphysischer Begriff ist, wobei es aber für Der-
rida keinen direkten Weg aus der Metaphysik gibt, da wir offen
sichtlich nicht ohne den Wahrheitsbegriff auskommen können.
Demgegenüber stimmen die zuerst genannten Philosophen darin
überein, daß der Wahrheitsbegriff sehr wohl in einem nichtmeta
physischen und nichtrelativistischen Sinn verstanden werden
kann. Freilich erheben Putnam, Apel und Habermas gegen Rorty
den Vorwurf des Relativismus, während Rorty seinen Kritikern
vorwirft, Metaphysiker zu bleiben. Diese interessante Konstella
tion zeigt, wie ich glaube, einmal mehr, daß die Antinomie der
Wahrheit sich nicht so einfach auflösen läßt.
Im folgenden werde ich meine eigene Auflösung der Antinomie
vorschlagen, und zwar auf dem Wege einer Kritik an der Art,
in der die Alternativen durch Putnam, Apel und Habermas
einerseits und Rorty andererseits formuliert worden sind. Wenn
man Putnam, Apel und Habermas in einem Atemzug nennt, läuft
man natürlich Gefahr, die erheblichen Differenzen zwischen ih
ren philosophischen Positionen zu verwischen. Es läßt sich aber
behaupten, daß ihnen eine bestimmte begriffliche Strategie ge
meinsam ist, die darin besteht, Wahrheit in Begriffen einer »not
wendigen Idealisierung« zu explizieren. Hierin liegt der Kern
I
ihrer Kontroverse mit Rorty. Die nachfolgende Argumentation
ist ein Versuch, diese Kontroverse neu zu beschreiben.
Putnam hat Wahrheit als rationale Akzeptierbarkeit unter er
kenntnismäßig idealen Bedingungen1 erklärt; Habermas erläutert
i Putnam, Hilary: Vernunft, Wahrheit, Geschichte, Frankfurt (Suhrkamp)
i; 1982, S. 83. Siehe auch Fußnote 2.
='
i58
i
Wahrheit als Gehalt eines rationalen Konsenses unter Bedingun
gen einer idealen Sprechsituation.2 Apel schließlich hat zu Recht
darauf hingewicsen, daß Putnams und Habermas’ Erläuterungen
des Wahrheitsbegriffs komplementär sind; denn einerseits muß I
die Idee erkenntnismäßig idealer Bedingungen sich auf eine Ge
meinschaft von Sprechern beziehen, wenn sie nicht leer oder
metaphysisch werden soll, andererseits kann eine ideale Kommu
nikationsstruktur allein keine ausreichende Garantie für Wahrheit
n
sein: es muß darüber hinaus sichergestcllt sein, daß die Beteiligten
in einer solchen Kommunikationssituation über die relevanten : |
Argumente und Erfahrungen tatsächlich verfügen. Deshalb hat
Apel versucht, Putnams und Habermas’ Vorstellungen zu kombi
i |
nieren und Wahrheit als letztgültigen Konsens einer idealen Kom
munikationsgemeinschaft zu explizieren. In dieser Auffassung
wird das Konsensprinzip der Wahrheit mit einem Peirceschen
Konvergenzprinzip verknüpft, das nicht nur auf naturwissen
schaftliche Erkenntnis, sondern auch auf moralische und herme
neutische Wahrheitsansprüche bezogen wird? Charakteristisch
für alle drei Versuche, Wahrheit als rationale Akzeptierbarkeit un
ter idealen Bedingungen zu explizieren, ist folgendes: die Ideali
sierungen, auf die die Klärung des Wahrheitsbegriffs angewiesen
zu sein scheint, müssen schon auf der Ebene alltäglicher Kommu-
>59
nikation beziehungsweise des argumentativen Diskurses als wirk
sam unterstellt werden, und zwar als »notwendige Präsuppositio-
nen«.
Die Idee notwendiger Idealisierungen, die im Wahrheitsbegriff
impliziert sind, soll die Unterscheidung zwischen rationaler Ak
zeptierbarkeit (oder dem rationalen Konsens) hier und jetzt und
der rationalen Akzeptierbarkeit (oder dem rationalen Konsens)
überhaupt sicherstellen. Es handelt sich also um die Differenz
zwischen Wahrheit überhaupt (Wahrheit im absoluten Sinn) und
dem, wovon wir auf der Grundlage von Argumenten, Kriterien
und Evidenzen, über die wir hier und jetzt verfügen, glauben, daß
es wahr ist (oder darin übereinstimmen, daß es wahr ist). Nun
denke ich, daß sehr wohl eine gewisse Unterscheidung dieser An
zur logischen Grammatik unseres Wahrheitsbegriffs gehört.
Einerseits nämlich können wir Wahrheitsansprüche nur auf der
li Grundlage derjenigen Argumente und Evidenzen rechtfertigen,
über die wir jeweils verfügen, und andererseits können sich unsere
Argumente und Evidenzen im Prinzip immer als ungenügend her
ausstellen, so daß wir also immer gezwungen sein können, unsere
Wahrheitsansprüche zu revidieren: Der Wahrheitsbegriff impli
ziert eine notwendige Beziehung zu möglichen Argumenten oder
Evidenzen, auf welche Wahrheitsansprüche sich gründen können,
und er impliziert einen Überschuß über alle Argumente und Er
fahrungsgründe, über die eine bestimmte Sprachgemeinschaft zu
einer bestimmten Zeit verfügt.
I Es ist die Interpretation eben dieser Differenz zwischen Wahrheit
und rationaler Akzeptierbarkeit durch Putnam, Apel und Haber
mas, welche Rorty zurückweist.4 Mit anderen Worten, Rorty
weist die Vorstellung von im Wahrheitsbegriff implizierten »not
wendigen Idealisierungen« zurück, und er kritisiert darüber hin
aus die These, daß wir notwendigerweise eine Art »Konvergenz«
in unserer Suche nach der Wahrheit annehmen müssen. Was den
zweiten Einwand betrifft, hat Rorty meiner Meinung nach recht.
Ich glaube jedoch, daß wir nur durch eine Reformulierung seines
ersten Einwands über die schlechte Alternative »Objektivismus«
I i6o
i
versus »Relativismus« hinauskommen können, die genau das be
zeichnet, was ich die »Antinomie der Wahrheit« genannt habe.
Ich möchte im folgenden zeigen, daß die Idee »notwendiger Idea
lisierungen«, die im Erheben von Wahrheitsansprüchen impliziert
sind, auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden kann: in
einem starken oder »totalisicrenden« und in einem schwachen
oder »lokalisierenden« Sinn. Wenn man die Idee in einem starken
Sinne versteht, wird sic »metaphysisch« (wobei das Wort »meta
physisch« im Sinne Derridas zu verstehen ist); wenn man sie in
ihrem schwachen Sinn versteht, wird sie unproblematisch und -
wie ich versuchen werde zu zeigen - nicht nur immun gegenüber
Rortys Einwänden, sondern zugleich ein Schlüssel zu einer Auf
lösung der Antinomie, welche Rortys »ethnozentrischcr« Auflö
sung überlegen wäre.
Als erstes Beispiel wähle ich Putnams Idcalisierungsthesc. Wenn ! 4
man den Begriff »erkenntnismäßig idealer Bedingungen« vor dem
Hintergrund einer präsupponierten Konvergenz in der Suche
nach Wahrheit versteht, dann, so scheint mir, müssen hiermit Er
kenntnisbedingungen gemeint sein, unter denen die volle und
ganze Wahrheit zugänglich wäre. Selbst wenn man den Begriff nur
im Sinne einer regulativen Idee verstünde, wäre es doch die Idee
eines absoluten Wissens, d. h. aber die Idee einer Sicht der Welt
gleichsam vom Standpunkt Gottes. Nun hat Apel meiner Mei
nung nach völlig recht, darauf zu bestehen, daß die im Wahrheits
begriff implizierte regulative Idee- wenn denn eine impliziert ist-
nicht nur als epistemische, d. h. als eine auf den Fonschritt der
wissenschaftlichen Erkenntnis bezogene Idee verstanden werden
darf.5 Wenn man nämlich die verschiedenen Dimensionen von
Wahrheit oder Geltung berücksichtigt, wenn man zudem berück
sichtigt, daß Wahrheit immer auf eine Sprachgemeinschaft und die
4
| ii I
Möglichkeit eines rationalen Konsenses in einer solchen Sprach
gemeinschaft bezogen ist, dann muß sich die im Wahrheitsbegriff
i
;• f
implizierte regulative Idee auf ideale epistemische, moralische und
kommunikative Bedingungen gleichermaßen beziehen. Die regu- >1'
5 Vgl. z. B.: Apel, Karl-Otto: »Szientismus oder transzendentale Herme
neutik? Zur Frage nach dem Subjekt der Zeicheninterpretation in der
Semiotik des Pragmatismus«, in: ders.: Transformation der Philosophie,
Bd. n: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfun (Suhr
kamp) 1973, S. zt 5 ff. Ebenda: »Das Apriori der Kommunikationsge
meinschaft«, S. 429 ff.
i6i
lative Idee, die im Wahrheitsbegriff impliziert ist, wird so zur Idee
eines letzten Konsenses in einer idealen Kommunikationsgemein
schaft. Hier wird die Idee der vollständigen, der »absoluten«
Wahrheit mit der einer moralisch vollkommenen Ordnung und
der einer vollkommen transparenten Kommunikationssituation
verknüpft. Diese Idee einer idealen Kommunikationsgemein
schaft ist aber genau in Derridas Sinn metaphysisch, denn wenn
man alle ihre Konsequenzen ausbuchstabiert, wird sie zur Idee
einer Kommunikationsgemeinschaft, die »dem Spiel und der
Ordnung des Zeichens«6 entkommen wäre; zur Idee eines Zu
stands vollkommener Transparenz, absoluten Wissens und mora
lischer Vollkommenheit - kurz: einer Kommunikationssituation,
die die Zwänge, die Opazität, die Fragilität, die Temporalität und
die Materialität endlicher menschlicher Kommunikationsformen
hinter sich gelassen hätte. Derrida hat zu Recht darauf hingewie
sen, daß in solchen Idealisierungen die Bedingungen der Möglich
keit dessen, was idealisiert wird, negiert werden. Ideale Kommu
nikation wäre Kommunikation jenseits der Bedingungen der
»differance« - um mit Derrida zu sprechen -, und deshalb Kom
munikation außerhalb und jenseits der Bedingungen der Möglich
keit von Kommunikation. Insoweit die Idee der idealen Kommu
nikationsgemeinschaft jedoch die Negation der Bedingungen
endlicher menschlicher Kommunikation einschließt, impliziert sie
die Negation der naturhaften und historischen Bedingungen
menschlichen Lebens, der endlichen menschlichen Existenz. Ich
denke, Nietzsche hat als erster darauf hingewiesen, daß solche
Ideen am Ende ununterscheidbar werden von der des Nirwanas;
ideale Kommunikation wäre der Tod der Kommunikation. Die
Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft bleibt selbst
dann paradoxal, wenn sie nur als regulative Idee verstanden wird,
der in der Welt nie etwas Wirkliches entsprechen kann; denn es
gehört zum Sinn dieser Idee, daß sie uns darauf verpflichtet, auf
ihre Realisierung hinzuarbeiten. Das Paradoxe daran ist, daß wir
darauf verpflichtet wären, die Realisierung eines Ideals anzustre
ben, dessen Realisierung das Ende der menschlichen Geschichte
wäre. Das Ziel ist das Ende; diese paradoxale Struktur bringt zum
6 Derrida, Jacques: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs
der Wissenschaften vom Menschen«, in: Die Schrift und die Differenz^
Frankfurt (Suhrkamp) 1976, S. 441.
162
1
■ I
163
als Bewußtsein dessen verstanden werden, daß sich die Erkennt
nisbedingungen, die wir jeweils für ideal halten, am Ende als nicht
ideal herausstellen könnten. Wenn wir weiterhin auf die verschie
denen Möglichkeiten reflektieren, hinsichtlich derer unsere Wahr
heitsansprüche infrage gestellt werden können, dann können wir
nun auch zwischen verschiedenen Aspekten der im Erheben von
Wahrheitsansprüchen implizierten »Idealisierungen« unterschei
den. Was wir sagen, kann z.B. als unklar, vage oder konfus
kritisiert werden; die entsprechende »Idealisierung« besteht
darin, daß wir uns darauf verlassen, daß unsere Sprache klar, ver
ständlich, »transparent« ist. Oder es könnte unser ganzes Vokabu
lar, eine Theorie, ein Sprachspiel, einige unserer grundlegenden
begrifflichen Unterscheidungen in Frage gestellt werden: die dieser
Kritik entsprechende »Idealisierung« bestünde in unserem Ver
trauen darauf, daß die Sprache, die wir sprechen, »in Ordnung«
ist, so wie sie ist. Wenn wir die »notwendigen Idealisierungen« in
diesem performativen Sinn verstehen, dann implizieren sie durch
aus keinen totalisierenden Vorgriff auf eine zukünftige Realisie
rung oder Approximation idealer Wissens- oder Kommunika
tionsbedingungen. Ich möchte vielmehr behaupten, daß die
totalisierenden Vorstellungen einer idealen Grenze des Wissens
oder der Kommunikation nur Resultat einer objektivistischen
Fehldeutung von Idealisierungen ist, welche wesentlich performa-
tiv sind. Die Frage ist natürlich, ob man überhaupt von Idealisie
p rungen sprechen sollte. Denn eben dieser Begriff der Idealisierung
scheint einen idealen Maßstab oder einen idealen Grenzwert na
hezulegen, und genau an dieser Stelle entstehen die Verwirrungen,
i auf die ich oben hingewiesen habe. Ich möchte die gerade aufge
worfene Frage diskutieren, indem ich auf die »pragmatischen«
Idealisierungen eingehe, auf die sich Apel und Habermas konzen
triert haben, d. h. Idealisierungen, die die intersubjektive Struktur
der Kommunikation und/oder des argumentativen Diskurses be
treffen.
Ich konzentriere mich auf Habermas’ Begriff der idealen Sprech
situation, den ich als bekannt voraussetze. Die Idee der Wahrheit
kann nach Habermas nicht von der eines rationalen Konsenses
getrennt werden, wobei ein Konsens rational wäre, wenn er unter
Bedingungen einer idealen Sprechsituation zustandekäme.7 Nun
164
habe ich bereits Apels These erwähnt, daß der rationale Konsens
in Habermas’ Sinn keine hinreichende Bedingung für Wahrheit
sein kann. Deshalb werde ich Habermas’ Idee nur im Sinne einer
notwendigen Idealisierung diskutieren, die in jeder ernsthaften
Argumentation involviert ist. Auf diese Idee läßt sich nun über
tragen, was ich früher über Putnams Begriff erkenntnismäßig
idealer Bedingungen gesagt habe: Wenn wir nämlich einen Kon
sens erzielen, von dem wir glauben, daß er auf guten Gründen
beruht, dann gehen wir natürlich davon aus, daß keine Argumente
unterdrückt worden sind bzw. kein Diskursteilnehmer daran ge
hindert wurde, relevante Gegenargumente vorzubringen. Auch
hier handelt es sich um eine performative Idealisierung, die sich
prinzipiell immer als falsch herausstellen kann, weil wir retro
spektiv externe oder interne Zwänge entdecken können, die einige
- oder alle - Sprecher daran hinderten zu sagen, was sie unter
anderen Umständen hätten sagen können. Auch diese Idealisie
rung würden wir mißverstehen, wenn wir sie als Antizipation
einer idealen Kommunikationssituation (Apels falsche Lesart)
oder wenn wir sie als ideale Norm rationaler Argumentation ver
stünden, die als »Maßstab« verwendet werden könnte, um die
Rationalität von Konsensen gleichsam von außen zu »messen«. Es
gibt jedoch eine wichtige Differenz zwischen Putnams und Ha
bermas’ Idealisierungsbegriff: In Diskurssituationen Argumente
zu unterdrücken heißt Menschen zu unterdrücken. Daher stellt
die Idealisierung, die nach Habermas in der Argumentationspra
xis impliziert ist, eine Art Brücke zwischen Rationalitätsforde-
rungen und moralischen Forderungen dar. Sie birgt ein normati
ves Potential in sich, das sich im Zusammenhang zwischen der
modernen Idee der Demokratie und der eines öffentlichen
Raumes politischer und moralischer Diskurse zeigt. Auch wenn
es - entgegen dem, was Habermas immer angenommen hat -
keinen direkten Zusammenhang zwischen universalpragmati
schen Strukturen der Kommunikation und einer universalisti
schen Idee von Demokratie und Menschenrechten gibt, sind die
Ideen der Wahrheit und der rationalen Argumentation ersichtlich
auf vielfältige Weise mit den demokratischen und liberalen Ideen
der Moderne verknüpft. Wie dem auch sei, an genau dieser Stelle
läßt sich zeigen, weshalb der Begriff der »Idealisierung« als sol
cher irreführend ist: Wenn man diesen Begriff auf Strukturen der
Kommunikation oder Argumentation bezieht, so wird er fast un-
165 i
r
II.
166
■
I 'il
167
;i
zufällig existierenden menschlichen Wesen«,’ dann muß jeder
Versuch, theologisch, metaphysisch oder szientifisch inspirierte
Sinnentwürfe gesellschaftlich verbindlich zu machen, als zutiefst
diskreditiert erscheinen. Wenn aber die Anerkennung von Kon
tingenz, d. h. die Destruktion der Metaphysik — einschließlich der
li metaphysischen Residuen mancher moderner Verständnisse von
Rationalität - die Destruktion der intellektuellen Grundlagen von
168
iI:jl
gibt ist durchaus nicht klar, was sic tatsächlich impliziert. Zu
nächst scheint klar zu sein, daß wir ein Sprachspiel, ein Ensemble
von Praktiken, Institutionen, Prinzipien oder begrifflichen Un
terscheidungen nur dadurch »rechtfertigen« können, daß wir sie
von innen her zu klären, zu rekonstruieren oder kohärent zu ma
chen versuchen. Dies gilt selbst für die Mathematik, denn nie
mand könnte den Witz der mathematischen Praxis, den Sinn
mathematischer Begriffe oder die Kraft bestimmter Argumente
oder Beweise verstehen, der nicht in diese Praxis einsozialisiert
worden wäre. Analoges gilt offenbar dann, wenn es um die Recht
i’il
fertigung eines Ensembles von politischen Prinzipien, Praktiken
und Institutionen wie jener einer demokratischen und liberalen
■ }
Tradition geht. In diesem Fall ist das Problem der »Sozialisation«
sogar noch dramatischer als in dem der Mathematik, da das prak
tische Wissen, das zum Verstehen der Prinzipien, Institutionen
und Praktiken einer liberalen Kultur gehört, »habits of the hcart«
einschlicßt, d. h. moralische Urteile, emotionale Reaktionen und
eine Verflechtung von moralischen Urteilen mit emotionalen Re
aktionen und Interpretationsmustern. Auch hier kann eine in
terne Klärung oder Rekonstruktion der politischen »Grammatik«
einer liberalen Kultur unmöglich eine Rechtfertigung der Prinzi
pien und Praktiken jener Kultur für diejenigen sein, die nicht in
einem gewissen Sinn in diese Praktiken schon einsozialisiert wor
den sind.
Die Frage ist, ob all dies heißt, daß demokratische und liberale
Prinzipien nur ein mögliches politisch-moralisches »Sprachspicl«
unter anderen festlegen, vielleicht mit der Besonderheit, daß un
sere moralischen Prinzipien uns zur Respektierung der Anders-
heit anderer Kulturen nötigen, während dies umgekehrt nicht der
Fall zu sein braucht. Diese Frage ist äußerst komplex, und ich
denke, daß sie nicht mit einem einfachen »ja« oder »nein« beant
wortet werden kann; ich glaube aber, daß ein qualifiziertes »nein«
sich rechtfertigen läßt - und mit Rechtfertigung meine ich jetzt
keine Rechtfertigung bloß für uns, sondern eben Rechtfertigung,
Punkt. Ich möchte dies erläutern, indem ich nach und nach das
Bild vervollständige, das ich eben skizziert habe. ■T
Zunächst einmal sollte klar sein, daß die internen »Rekonstruktio
nen«, »Klärungen« und »Rechtfertigungen«, von denen ich ge
sprochen habe, durchaus voneinander abweichen können. Interne
Rekonstruktionen liberaler und demokratischer Prinzipien kön-
169
i 11J
nen konservativ oder radikal sein, und zwischen »radikalen« -
d. h. kritischen - Rekonstruktionen liberaler Prinzipien und der
kommunitaristischen Kritik daran gibt es vielleicht keine klare
Grenze. Hieran zeigt sich, daß die Art von Kultur, auf die wir uns
hier beziehen, kein abgeschlossenes Sprachspicl ist, sondern eines,
das sich auf der Grundlage seiner eigenen Prinzipien auf sich
selbst kritisch und verändernd beziehen kann. Wenn ich im fol
genden von liberalen und demokratischen Prinzipien spreche,
dann denke ich immer auch an dieses kritische Potential, das den
entsprechenden Institutionen und Praktiken als Spannung zwi
schen dem, was ist, und dem, was sein sollte, immanent ist. Ich
habe mein Verständnis liberaler und demokratischer Prinzipien an
anderer Stelle erläutert.10 Hier sollte der Hinweis genügen, daß
ich diese Prinzipien wesentlich als gegen soziale Ungerechtigkeit,
Diskriminierung von Minderheiten, Sexismus, Kulturimperialis
mus oder -»hegemonismus«, Manipulation der Öffentlichkeit
oder soziale Gewalt (social violence) gerichtet verstehe; d. h. ich
verstehe diese Prinzipien - wie wohl auch Rorty - nicht als Recht
fertigung des Status quo in unseren Gesellschaften. Dabei gehe ich
davon aus, daß es gute Argumente - d. h. unserer Kultur imma
nente Argumente - gibt, diese Prinzipien in einem kritischen Sinn
zu verstehen.
Mein zweiter Argumentationsschritt - ein Schritt, den ich in mei
ner kurzen Überlegung zu den verschiedenen Möglichkeiten, die
politische Grammatik einer liberalen Kultur zu rekonstruieren,
I' schon vorbereitet habe betrifft die Abstraktion, die der Unter
scheidung zwischen unserer Sprache (oder Kultur) und ihrer
Sprache (oder Kultur) zugrunde liegt. Diese Abstraktion besitzt
eine suggestive Kraft, die sie zugleich äußerst irreführend macht.
Es stimmt natürlich, daß ich meine Sprache - beziehungsweise die
mit ihr verbundenen Praktiken - nicht jemandem gegenüber
rechtfertigen kann, der ein völlig anderes Sprachspiel »spielt«: Es
gibt keine Meta-Normen, keine Metasprache, in bezug auf die
einer von uns den anderen überzeugen könnte. Das ist so ein
leuchtend wie trivial. Die eigentlich interessanten Fälle sind je
doch offensichtlich nicht diejenigen, in denen jemand ein Ensem
ble von sprachlichen und außersprachlichen Praktiken gegenüber
I7o
dem Angehörigen einer anderen Kultur zu rechtfertigen versucht
(eine ziemlich künstliche, um nicht zu sagen absurde Idee), son
dern jene Fälle, in denen verschiedene, sich teilweise überlap
pende Vokabulare miteinander konfrontiert sind, und vor allem
Fälle, in denen neue Vokabulare in der Auseinandersetzung mit
alten Problemen entstehen (und mit der Sprache, in der diese Pro
bleme bisher formuliert wurden). Nun würde ich aber behaupten,
daß jede interessante Argumentationssituation Elemente einer
solchen Konstellation enthält. Denn sogar in unserer eigenen
Sprache können wir für gewöhnlich einzelne Argumente nicht
isolieren, und je interessanter und bedeutsamer die Argumente
sind, desto weniger entsprechen Argumentationen einem forma
len Begriff von Rationalität, d. h. einem Modell deduktiver Ablei
tung. In unsere gewöhnliche Argumentationspraxis sind immer
schon holistische, innovative und »Differenz«-Momcnte eingelas
sen: Wir müssen beim Argumentieren häufig erst den Kontext
erzeugen, durch den Argumente die Kraft gewinnen, die sie haben
können; Argumentationen schließen oft den Versuch ein, ein altes
Problem oder eine vertraute Situation in einem neuen Licht er
scheinen zu lassen. Demzufolge ist ein »holistisches« Element von
Neubeschreibungen und Innovationen Bestandteil der interessan
teren Formen unserer gewöhnlichen Argumentationspraxis. Es ist
weiterhin so, daß das Sprechen einer »gemeinsamen Sprache« -
wenn damit nicht nur die elementarsten Formen linguistischer
Übereinstimmung gemeint sind - oft nicht der Ausgangspunkt
einer Argumentation ist, sondern - wenn alles gutgeht - deren
Resultat. Man könnte dies das »Differcnz«-Moment unserer all
täglichen Argumentationspraxis nennen. Deshalb würden wir die
Pointe dieser Praxis verfehlen, wenn wir sie in terms eines gemein
samen Systems von starren Regeln und Kriterien interpretierten,
das semantisch abgeschlossen ist. Nur wenn wir die Reichweite
rationaler Argumente im Sinne eines solchen starren Regelsy
stems interpretierten, könnte die Unterscheidung zwischen Be
gründungen »innerhalb« einer Sprache und der Begründung einer
Sprache von außen gleichbedeutend werden mit der Unterschei
dung zwischen einem Bereich möglicher Argumente und einem
Bereich, in dem keine Argumente mehr möglich sind. Die interes
santesten Fälle liegen jedoch gleichsam zwischen diesen Extre
men. Daß diese interessanten Fälle überhaupt möglich sind, hängt
natürlich damit zusammen, daß wir immer versuchen können, die
I71
Dinge aus der Perspektive anderer zu sehen, daß wir uns mit
neuen Vokabularen oder Sichtweisen vertraut machen können,
daß wir gelegentlich zwei Sprachen gleichzeitig sprechen und daß
wir versuchen können herauszufinden, ob ein neues Vokabular
oder eine neue Beschreibung alte Erfahrungen erhellen oder un
sere alten Probleme lösen kann. Dieses »Ausprobieren« mag Zeit
beanspruchen; Argumentationen beziehen sich immer auf einen
Kontext von Erfahrung, Praxis und Reflexion zurück; neue Argu
mente können zu neuen Erfahrungen führen, genauso wie neue
Erfahrungen uns neuen Argumenten zugänglich machen oder un
ser Verständnis bekannter Argumente verändern können.
Wenn dies alles - annähernd - richtig ist, dann kann Rationalität-
in einem relevanten Sinne des Wortes — nicht an der Grenze ge
schlossener Sprachspiele enden (denn so etwas gibt es nicht); dann
aber ist die »ethnozentrische« Kontextualität jeder Argumenta
tion durchaus mit dem Erheben von kontexttranszendierenden
Geltungsansprüchen zu vereinbaren, d. h. von Geltungsansprü
chen, die den - lokalen oder kulturellen - Kontext transzendieren,
in dem sie erhoben werden und in dem sie allein gerechtfertigt
werden können. Es macht also durchaus Sinn zu sagen, daß die
der Argumentation immanenten performativen Präsuppositionen
sich nicht nur auf den lokalen Kontext beziehen, in welchem
Wahrheitsansprüche jeweils erhoben werden, und daß Geltungs
ansprüche jeden partikularen Kontext transzendieren. In genau
ii Vgl. Habermas, Jürgen: »Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer
= Stimmen«, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt (Suhr
kamp) 1988. Siehe insbes. S. 174-179.
■
2 172
-
spiel verstanden werden kann. Diese Kultur hat - in der zeitlichen
Vertikale betrachtet - eine Geschichte und - in der zeitlichen Ho j
rizontale — ein Außen. In bezug auf beide Dimensionen der i
»Andersheit« - die uns beide in einem jeweils bestimmten Sinne
zugänglich sind - gibt es eine ganze Reihe guter und interessanter
Argumente für demokratische und liberale Prinzipien und Insti
tutionen: man denke an die Geschichte der modernen Revolutio
nen, die Arbeiten von Kant, Tocqueville, Mill oder Paine, die
»Federalist Papers«, an die Erfahrungen von Totalitarismus, Na
tionalismus, Rassismus, Antisemitismus oder von religiösem und
politischem Fundamentalismus. Weitere Argumente lassen sich
aus einer internen und kritischen Rekonstruktion der Werte, Prin
zipien und Selbstintcrpretationen gegenwärtiger liberaler Gesell
schaften gewinnen. Wenn wir nur die Idee einer Letztbegründung
!
demokratischer und liberaler Prinzipien aufgeben, d. h. einer Be
gründung, die nicht schon Gebrauch machen würde von der
Grammatik einer demokratischen und liberalen Politik, und wenn
wir— historische und andere - Erfahrungen in der Argumentation
zulasscn, dann zeigt sich uns ein dichtes Netzwerk von Argumen
ten zur Begründung und kritischen Weiterentwicklung demokra
tisch-liberaler Prinzipien und Institutionen. Diese Argumente
werden zwar kaum einen fanatischen Nationalisten oder religiö
sen Fundamentalisten überzeugen; aber die Tatsache allein, daß
meine Argumente nicht jeden überzeugen, muß nicht bedeuten,
daß sie keine guten Argumente sind - diese Trivialität sollte man,
wie ich meine, nicht vergessen, selbst wenn es einen enormen Un
terschied macht, ob man sie selbstkritisch versteht oder nicht.
Es ist ein Kennzeichen demokratisch-liberaler Gesellschaften -
solange es in ihnen noch eine irgend lebendige politische Kultur
gibt -, daß eine öffentliche Diskussion über die Interpretation von
Verfassungsprinzipien — z. B. über den Sinn von Grundrechten,
über zivilen Ungehorsam oder über das richtige Verhältnis zwi
schen individuellen Freiheiten und sozialer Gerechtigkeit - ein
zentraler Bestandteil der politischen Kultur ist. Es scheint eine
Eigentümlichkeit demokratischer und liberaler Prinzipien und In :!
stitutionen zu sein, daß sie nur am Leben erhalten werden kön
nen, wenn sie im Medium des öffentlichen Diskurses und der
politischen Auseinandersetzung immer wieder neu interpretiert
I
i
f'
und definiert werden. D. h., eine liberale Kultur zeichnet sich da
durch aus, daß der öffentliche Diskurs über die Grundprinzipien :I
173 jj
d
i
dieser Kultur eine konstitutive Rolle für den politischen Prozeß
selbst gewinnt. Liberale Prinzipien sind gewissermaßen selbstre-
flexiv: Indem sie allen Bürgern gleiche Rechte und Freiheiten
garantieren, garantieren sie ihnen zugleich gleiche Rechte und
Freiheiten mit Bezug auf die Teilnahme an jenem öffentlichen
iS Diskurs, in dem immer wieder ausgehandelt werden muß, was der
Inhalt dieser gleichen Rechte und Freiheiten sein soll. Nun scheint
es mir aber ziemlich offensichtlich, daß es einen nicht-kontingen
ten Zusammenhang zwischen dieser Selbstreflexivität liberaler
Prinzipien, d.h. der konstitutiven Rolle des öffentlichen Diskur
ses für demokratisch-liberale Gesellschaften einerseits und der
»Anerkennung von Kontingenz« in Rortys Sinn andererseits
gibt.
Rorty selbst macht auf diesen Zusammenhang mit der interessan
ten - und, wie ich glaube, richtigen - Bemerkung aufmerksam,
daß die »destruktiven« Konsequenzen der fortschreitenden Auf
klärung, insbesondere jene, die zur »Anerkennung von Kontin
genz« geführt haben, das Projekt einer demokratisch-liberalen
Gesellschaft nicht etwa unterminieren, sondern es im Gegenteil
auf eine tragfähigere Grundlage stellen.12 Insbesondere behaup
tet Rorty, daß das Scheitern aller Versuche, Letztbegründungen
zu finden - einschließlich der Letztbegründung einer liberalen
Gesellschaft - für die liberalen Institutionen spricht und nicht
gegen sie. Aus dieser These folgt aber, daß es Argumente für de
mokratische und liberale Prinzipien und Institutionen gibt, die
nicht in irgendeinem interessanten Sinn des Wortes ethnozentrisch
sind. Denn offensichtlich kann die Kontingenzthese nicht so ver
standen werden, als träfe sie nur auf eine moderne liberale Kultur
zu; vielmehr handelt es sich um eine philosophische These, die die
Bedingungen der Möglichkeit einer Begründung von Wahrheits
3 3 74
=
von Kontingenz jedoch zutiefst subversive Folgen für die Kultur
haben muß, die religiös fundiert oder um eine mythologische oder
auch »szientifische« Weitsicht zentriert ist, verwandeln sich ihre
subversiven Folgen hinsichtlich aller Versuche einer Letztbegrün
dung in zusätzliche Argumente für die demokratischen und libe
ralen Prinzipien der Moderne. Vielleicht könnte man von einer
negativen Rechtfertigung jener Prinzipien sprechen. Diese nega
tive Rechtfertigung wird freilich keine Letzzbegründung sein.
Eher wird sie eine negative Rechtfertigung in dem Sinne sein, daß
sie die intellektuellen Grundlagen von Dogmatismus, Fundamen
talismus, Autoritarismus sowie von moralischer und rechtlicher
Ungleichheit zerstört; sowie dadurch, daß sie in eins damit demo
kratische und liberale Institutionen als die einzigen auszeichnet, in
denen die Anerkennung von Kontingenz mit einer zwanglosen
öffentlichen Reproduktion von Legitimität vereinbar ist. Für
diese These gibt es eine Reihe von Gründen, von denen ich im
folgenden drei wichtige hervorheben möchte.
(t) Jene Prinzipien sind - wenn man sie universalistisch versteht
(und so sollte man sie verstehen, pace Rorty) - die einzigen, die
mit der Anerkennung irreduzibler Andersheit - in Hinsicht auf
Überzeugungen, Lebensformen, Formen der Identität - vereinbar
sind und die es - zumindest begrifflich - erlauben, gleiche Rechte
mit der Respektierung von Andersheit und Differenz zusammen
zudenken. In diesem Sinne setzt selbst eine »Politik der Diffe
renz« (politics of difference) den moralischen Universalismus
nimmt, nur so verstanden werden kann, daß sie für alle möglichen
»Sprachspiele« gilt und deshalb nicht nur mit fundamentalistischen I
Sclbstinterprctationen unserer eigenen Kultur unvereinbar ist, sondern
ebenso mit entsprechenden Selbstinterpretationen anderer Kulturen.
Dann gibt es aber offenbar Argumente, die man nicht sinnvoll gebrau
chen kann, ohne einen universalen Geltungsanspruch zu erheben, d. h.
einen Geltungsanspruch, dessen Anwendungsbereich nicht nach Belie
ben »ethnozentrisch« eingeschränkt werden kann. Wenn daher aus der
»Anerkennung von Kontingenz« gute Argumente für eine liberale
Kultur folgen, dann gibt es Argumente für eine liberale Kultur, die
nicht ethnozentrisch in irgendeinem interessanten Sinne des Wortes
sind - selbst wenn man zugesteht, daß bestimmte Argumente nur kon-
f
/1
175
1
voraus, der den demokratischen und liberalen Prinzipien der Mo
derne zugrundcliegt.
(2) Da jene Prinzipien in dem oben genannten Sinn selbstreflexiv
sind, verlangen sie die Institutionalisierung eines öffentlichen
Raumes — oder eines Raums von öffentlichen Räumen —, in wel
chem der genaue Gehalt jener Prinzipien, ihre Anwendung und
Institutionalisierung immer wieder im Medium politischer und
■
kultureller Diskurse bestimmt und neubestimmt werden muß,
wodurch er zugleich eine Sache des öffentlichen Interesses werden
kann. Ein solcher »kommunaler« Raum öffentlicher Freiheit
scheint aber das einzig mögliche Substitut für jene Formen sub
stantiell begründeter sozialer Solidarität zu sein, die das Charak
teristikum traditionaler Gesellschaften waren; d.h. das einzig
mögliche Substitut, wenn einmal die traditionalen Grundlagen so
zialer Solidariät durch eine Aufklärung zerstört worden sind, die
am Ende zur »Anerkennung von Kontingenz« geführt hat.
(3) Die demokratischen und liberalen Prinzipien sind in einem
gewissen Sinne rWeta-Prinzipien. Nach der Zerstörung der sub
stantiellen Grundlagen von traditionalen Formen gesellschaft
licher Solidarität definieren diese Prinzipien nicht einfach einen
neuen substantiellen Konsens, der beispielsweise einen religiösen
Konsens ersetzen würde. Sie bezeichnen vielmehr eine Möglich
keit des gewaltfreien Umgangs mit unauflösbaren Dissensen in
substantiellen Fragen und somit eine Möglichkeit, Konsens und
Solidarität auf einer abstrakteren Ebene wiederherzustcllen,
gleichsam einen »prozeduralen« anstelle eines »substantiellen«
Konsenses. Ich gebe zu, daß diese Unterscheidung eine relative
und irreführende ist, da z. B. die »Prozedur« des Dialogs keine
;i Prozedur im eigentlichen Sinne des Wortes ist und da der »proze
durale« Wert des Dialogs mit den substantiellen Werten der
Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit zusammenhängt. Was mir
I 176
r'
14 Ich glaube, cs hat nichts Paradoxes an sich, wenn wir die formalen
Prinzipien und prozeduralen Werte, die ich oben erwähnt habe (in dem
Sinne, in dem ich sie erklärt habe), als die »Substanz« einer modernen
11
Form »substantieller Sittlichkeit« verstehen. Obwohl spezifische Tra
ditionen, Geschichten und Projekte immer eine wichtige Rolle für die
Konstitution individueller und kollektiver Identität spielen werden,
können diese besonderen Grundlagen von Identität nicht den substan
tiellen Kern einer demokratischen und liberalen Form von Sittlichkeit
bilden. Insoweit nämlich eine solche Form von Sittlichkeit die Respek
I
tierung von Differenz und »Andersheit« fordert, verlangt sie zugleich
eine reflexive Distanz zu jeder partikularen Tradition, Geschichte und
zu jedem partikularen Projekt. D. h., sie fordert die Anerkennung von
Kontingenz (vgl. auch: Wellmer, Albrecht: »Models of Freedom in the
Modern World«, a.a.O.).
i77
6. Adorno, die Moderne
und das Erhabene
178
1
I
zwischen Wahrheit und Schein der Kunstwerke bestimmt zwei
aporctischc Konstellationen, die nach Adorno für die Kunst der
Moderne charakteristisch sind. Die erste dieser aporctischen Kon
stellationen betrifft das Verhältnis von Kunst und Philosophie, die
zweite ist innerästhetischcr Art: sie betrifft die Möglichkeit einer
authentischen Kunst in einen) Zustand vollendeter Negativität. II
Die aporetische Konstellation von Kunst und Philosophie meint
Adorno, wenn er sagt: »Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven
Erkenntnis, aber dafür hat sic es nicht; die Erkenntnis, welche
I
Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables.«7 Das, was
die im emphatischen Jetzt sich verlierende ästhetische Erfahrung
»hat«, ist die Anschauung der Welt im Lichte der Erlösung; aber
befangen im ästhetischen Schein, versteht die ästhetische Erfah
rung nicht den verweisenden Bezug des Kunstwerks auf ein
Nicht-Präsentes, noch nicht Seiendes, will heißen, sic versteht den
Schein nicht, dem sie erliegt. Deshalb muß ihr die philosophische
Reflexion zu Hilfe kommen; nur diese kann der ästhetischen Er
fahrung sagen, was sie erfährt, kann im ästhetischen Schein die
Spiegelschrift des Absoluten entziffern und hierdurch den Wahr
heitsgehalt des Kunstwerks, als das der ästhetischen Erfahrung
qua Erfahrung Inkommensurable, zur Sprache bringen. Indes
kann die Philosophie der ästhetischen Erfahrung auch wieder
nicht wirklich sagen, was sic ihr zu sagen versucht; ans Medium
des identifizierenden Begriffs gebunden, kann sie das Absolute -
ein Nicht-Seiendes, das doch nicht Nichts sein soll - nur umkrei
sen, auf es hindeuten, als den nicht sichtbaren und nicht denkba
ren Fluchtpunkt alles Denk- und Sagbaren indirekt, ex negative, h»
sichtbar zu machen versuchen. Anders als bei Kant ist für Adorno
nicht nur die Darstellbarkeit, sondern auch die Denkbarkeit des
Absoluten problematisch geworden. Deshalb bedarf die Philoso
:■ Ii
phie der Kunst ebensosehr, wie die Kunst der Philosophie bedarf.
Beide verhalten sich zueinander wie Anschauung und Begriff in
der Kantischen Philosophie, nur daß das Verhältnis zwischen An
j
schauung und Begriff hier die Sphäre der Ideen, das Absolute
betrifft, das sich der Anschauung ebenso entzieht wie dem Be
griff. Nur im aporetischen Verweisungszusammenhang von ästhe
tischer Erfahrung und philosophischem Begriff wird die schwache <!
Spur eines scheinlos Absoluten sichtbar. N
i
7 Ebd., S. 191. :I
179
bl
läi
Die zweite der aporetischen Konstellationen, von denen ich
sprach, ist eine der künstlerischen Produktion selbst. Der konsti
tutive Zusammenhang zwischen Wahrheit und Schein des Kunst
werks wird in der Moderne zunehmend zu einem innerästhe
tischen Problem, an dem die Kunst um ihrer Authentizität willen
sich abzuarbeiten genötigt wird und das gleichsam das Gesetz
ihres Fortschreitens in sich enthält. Was die philosophische Refle
xion der ästhetischen Erfahrung als Blindheit ankreidet, beunru
higt die künstlerische Produktion als ästhetisches Problem von
innen her; um der Wahrheit willen wird sie zur Revolte gegen den
ästhetischen Schein getrieben, dem sic doch nicht entrinnen kann.
Wahrheit und Schein bezeichnen die zwei Pole dessen, was
Adorno ästhetische »Stimmigkeit« nennt; aber Wahrheit und
Schein widerstreiten einander zugleich. Die große Kunst will
wahr sein, so Adornos These; ästhetisches »Stimmen« ist nur un
ter der Bedingung solcher Wahrheit möglich - deshalb muß die
Kunst sich gegen den ästhetischen Schein kehren, gegen alles, was
an ihr illusionär ist. Gleichwohl versucht sie vergeblich, ihren
Scheincharaktcr loszuwerden, da das, was sie als Kunst ausmacht,
ästhetische Stimmigkeit, untrennbar ist vom ästhetischen Schein.
Dies ist die Antinomie der modernen Kunst, die zugleich insge
heim ihr Bewegungsgesetz bestimmt.
II.
1
Indem der Bezug auf ein Absolutes, das »schwarz verhüllt« ist,
i zum Bewegungsgesetz der modernen Kunst wird, wird diese - für
Adorno - zu einer Kunst des Erhabenen. Hierauf ist verschie
dentlich hingewiesen worden, zuletzt ausführlich von Wolfgang
i Welsch.8 »Das Erhabene«, sagt Adorno, »das Kant der Natur
vorbehielt, wurde nach ihm zum geschichtlichen Konstitucns von
Kunst selber. Das Erhabene zieht die Demarkationslinie zu dem,
1 was später Kunstgewerbe hieß.«’ Im Gegensatz zu Welsch
glaube ich aber, daß die Kategorie des Erhabenen bei Adorno eine
i zentrale Stelle innerhalb seiner versöhnungsphilosophischen
180
■
II
Erhabenen. Dies bedeutet zugleich, daß das Schöne und das Erha
bene bei Adorno einander nicht in der gleichen Weise entgegenge
setzt sind wie bei Kant; eher sind die beiden Kategorien einander
entgegengesetzt wie die zwei Pole ästhetischer Stimmigkeit, wie
Wahrheit und Schein. Statt dessen könnte man auch sagen, daß das
Erhabene bei Adorno eine Möglichkeitsbedingung dessen be
i
zeichnet, was in der modernen Kunst noch Schönheit genannt
werden mag; es wird zum Konstituens des Kunstschönen. Dieser
in der Tat zentrale Gedanke Adornos hat etwas Einleuchtendes;
man wird ihn aber nicht durch eine einfache Operation aus dem
versöhnungsphilosophischen Kontext herauslösen können, in
dem Adorno ihn entwickelt hat. Will man ihn jenseits dieses Kon
texts fruchtbar machen - und ich stimme mit Lyotard und Welsch
darin überein, daß er nur so sich fruchtbar machen ließe—, so muß
man das Koordinatensystem von Adornos Ästhetik im Ganzen in
Bewegung versetzen. Ich habe früher einmal von der Notwendig
keit einer »stereoskopischen« Lektüre Adornos gesprochen.10
Die folgenden Überlegungen sind der Versuch einer solchen
stereoskopischen Lektüre Adornos am Beispiel seiner Kategorie
des Erhabenen.
Zentral für Adornos Interpretation des Erhabenen ist, daß dieses
zum Konstituens der modernen Kunst nur werden konnte, indem
sich zugleich »die Zusammensetzung der Kategorie erhaben« ver
änderte.11 »Durch ihre Transplantation in die Kunst wird die
I
Kantische Bestimmung des Erhabenen über sich hinausgetrie
ben.«12 Zur Erläuterung knüpft Adorno an den berühmten
Ausspruch Napoleons an, vom Erhabenen zum Lächerlichen sei
nur ein Schritt:
!
H
»An Ort und Stelle«, so Adorno, »meinte der Satz grandiosen Stil, pathe
tischen Vortrag, der, durchs Mißverhältnis zwischen seinem Anspruch
und seiner möglichen Erfüllung, meist durch ein sich einschleichendes
Pedcstrcs, Komik bewirke. Aber das an Entgleisungen Visierte trägt im
Begriff des Erhabenen selbst sich zu. Erhaben sollte die Größe des Men-
181
sehen als eines Geistigen und Naturbezwingenden sein. Enthüllt sich
jedoch die Erfahrung des Erhabenen als Selbstbewußtsein des Menschen
von seiner Naturhaftigkeit, so verändert sich die Zusammensetzung der
Kategorie erhaben. Sie war selbst in ihrer Kantischen Version von der
Nichtigkeit des Menschen tingiert; an ihr, der Hinfälligkeit des empiri
schen Einzelwesens, sollte die Ewigkeit seiner allgemeinen Bestimmung,
des Geistes aufgehen. Wird jedoch Geist selbst auf sein naturhaftes Maß
gebracht, so ist in ihm die Vernichtung des Individuums nicht länger po
sitiv aufgehoben. Durch den Triumph des Intelligiblen im Einzelnen, der
geistig dem Tod standhält, plustert er sich auf, als wäre er, Träger des
Geistes, trotz allem absolut. Das überantwortet ihn der Komik. Dem Tra
gischen selbst schreibt avancierte Kunst die Komödie, Erhabenes und
Spiel konvergieren.«13
Das Motiv der Natur im Geist bezeichnet die zentrale Pointe von
Adornos Kritik an Kants Unterscheidung zwischen der empiri
schen und der intelligiblen Welt. Adorno hat diese Kritik insbe
sondere in den »Meditationen zur Metaphysik« der Negativen
Dialektik entwickelt. Kants Begriff des Intelligiblen, so zeigt
Adorno dort, ist unvereinbar mit dem Begriff eines Geistes, der an
individuierte Einzelwesen und daher an Leib und Sprache gebun
den ist. Insofern wäre der Begriff des Intelligiblen, wäre der
Begriff eines intelligiblen Ich eine bloße »Luftspiegelung« des
Denkens; nicht nur ohne empirische Realität, sondern brüchig
schon als bloß Gedachtes. Hierin liegt nach Adorno das Wahr
heitsmoment der empiristischen und naturalistischen Aufklärung.
Was Adorno am Begriff des Intelligiblen gleichwohl zu retten ver
sucht, ist die Utopie eines versöhnten Geistes, das Absolute als ein
noch nicht Seiendes. Der Begriff eines solchen Absoluten aber,
i der in sich die Ideen der Freiheit, der Unsterblichkeit, eines
Reichs der Zwecke beschließen müßte, ist, wie schon betont, für
Adorno ein aporetischer Begriff, »einzig negativ zu denken«.
Das »Eingedenken der Natur im Subjekt«, das schon die Dialek
i tik der Aufklärung als Figur der Versöhnung von Geist und Natur
postulierte, wird beim späten Adorno, in seinem Versuch einer
kritischen Rettung von Kants kritischer Metaphysik, doppeldeu
tig: Es steht für die überschwengliche Hoffnung auf die Resurrek-
tion einer im Medium des Geistes mit sich versöhnten Natur
ebenso wie für die Naturverfallenheit des Geistes. In der zuletzt
zitierten Passage aus der Ästhetischen Theorie geht es um letzteres,
13 Ebd., S. 295.
i >82
I
>8J i
■■
Adornos: »Um inmitten des Äußersten und Finstersten der Rea
lität zu bestehen, müssen die Kunstwerke, die nicht als Zuspruch
sich verkaufen wollen, jenem sich gleichmachcn. Radikale Kunst
heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz.«15
Daß es hier wirklich um das Erhabene der modernen Kunst geht,
erhellt aus einer anderen Formulierung Adornos: »Erbe des Erha
benen ist die ungemiiderte Negativität, nackt und scheinlos wie
einmal der Schein des Erhabenen es verhieß.«16
Die zweite Antwort Adornos auf die oben gestellte Frage loka
lisiert demgegenüber das Erhabene der modernen Kunst im Span
nungsfeld zwischen der »Explosion metaphysischen Sinns«17 in
der Moderne und der Emanzipation des Subjekts. Die beiden Pole
dieses Spannungsfeldes bezeichnen zwei Seiten dessen, was
Adorno auch als »Fortschritt des Bewußtseins« in der Moderne
thematisiert. Hier geht es nicht um die Dialektik von Subjektivie-
rung und Verdinglichung, um die Dialektik der Aufklärung also,
und daher auch nicht um die Polarität von vollendeter Negativität
und versöhntem Geist; es geht vielmehr um den Preis, den die von
Tradition und Konvention sich emanzipierenden Subjekte für ihre
Emanzipation zu zahlen haben: Es geht um den internen Zusam
menhang zwischen dem Verlust objektiv verbürgten Sinns und der
Emanzipation der Subjekte. Es ist diese zweite Antwort Adornos,
an die ich anknüpfen möchte. Hierbei übergehe ich, daß Adorno
selbst, und zwar über die These vom dialektischen Zusammenhang
zwischen Subjektivierung und Verdinglichung, die »Explosion
metaphysischen Sinns« mit der geschichtlichen Herbeiführung ei
nes Zustands vollendeter Negativität begrifflich kurzgeschlossen
hat. Ich habe diesen begrifflichen Kurzschluß, durch welchen
Adornos Philosophieren gewissermaßen unter einen versöh
nungsphilosophischen Systemzwang gerät, an anderer Stelle kriti
i siert.18 Adorno hat keinen angemessenen Begriff sprachlicher
Intersubjektivität entwickelt, der es ihm erlaubt hätte, die Entzau
i5'
r
berung der Welt - die »Explosion metaphysischen Sinns« — mit
der Möglichkeit eines Gewinns an kommunikativer Rationalität
zu verknüpfen. Sobald man aber die Möglichkeit einer solchen
I;
15 ÄT, S. 65.
16 Ebd., S. 296.
17 Vgl. Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, in: Gesammelte Schrif
ten, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1974, S. 2S2.
18 Vgl. Wellmer, »Wahrheit, Schein, Versöhnung«, a.a.O.
184
! |
Verknüpfung zuläßt - die Argumente dafür finden sich vor allem
bei Habermas erweisen sich die beiden Antworten Adornos als
durchaus verschieden. Die zweite Antwort, richtig verstanden,
impliziert nicht die erste, versöhnungsphilosophische; vielmehr
enthält sie Elemente eines postmetaphysischen Begriffs des Erha
benen, durch welchen Adornos Ästhetische Theorie sich einer ■I
kommunikationstheorctischcn Deutung öffnet. Eine solche Deu
tung wird freilich auch der ersten Antwort Adornos, der versöh
nungsphilosophischen, einen neuen Sinn geben können: Der
Zustand vollendeter Negativität, der einem schwarz verhüllten
Absoluten korrespondiert, ist der Zustand der Welt nach der Ex
plosion des metaphysischen Sinns, einer Welt, die von Versöhnung
abgeschnitten ist; aber dies Abgeschnittensein von Versöhnung,
i
richtig ins Auge gefaßt, ist nicht die Katastrophe des Geistes, als die
Adorno es verstand. Es bezeichnet vielmehr den Aggregatzustand
j
-i
eines als endlich sich erfassenden Geistes, der, in seine Endlichkeit
sich vertiefend, zugleich seine Potentiale als die einer kommunika . i
tiven Vernunft neu entdecken und entfalten könnte. Retrospektiv
ließe Adornos Kritik des identifizierenden Denkens sich lesen als
das Exerzitium einer solchen Neuentdeckung und Neuentfaltung
des endlichen Geistes als kommunikativer Vernunft.
III.
ij
I
rj Vgl. ÄT, S. 292. !
185
Versteht man den Augenblick der ästhetischen Erfahrung als den
einer verdichteten Präsenz, durch welche das Zeitkontinuum der
gewöhnlichen Erfahrung suspendiert wird, so tritt hier ein Stück
Gewaltsamkeit hinzu, das in den Binnenraum der ästhetischen
Distanz einbricht und das Subjekt, je nachdem, aus sich her-
ausschleudcrt, in einen Schwindel oder in Unruhe oder in Er
schütterung versetzt. Freilich geschieht dies unter Bedingungen
ästhetischer Distanz: Ästhetisch ist die Erschütterung, das Aus-
sich-Heraustreten des Ich nur, wo dieses zugleich in gespannte
ster Konzentration bei sich bleibt. »Das Ich bedarf, damit es nur
um ein Winziges über das Gefängnis hinausschaue, das es selbst
ist, nicht der Zerstreuung, sondern der äußersten Anspannung;
das bewahrt Erschütterung, übrigens ein unwillkürliches Verhal
ten, vor der Regression. Kant hat in seiner Ästhetik des Erhabe
nen die Kraft des Subjekts als dessen Bedingung getreu darge
stellt.«20
Strukturell betrachtet ist das Kunsterhabene die Negation unge
brochener ästhetischer Synthesis, das heißt der bruchloscn
Durchdringung von Sinnlichem und Geistigem im Sinne des idea
listischen Schönheitsbegriffs. Negation der schönen Form also,
des Maßes, der Balance, der widerspruchslosen Einheit, der Har
monie, letztlich: des schönen Scheins. »Die Male der Zerrüttung
sind das Echtheitssiegel von Moderne«, sagt Adorno.21 In ihnen i
kommt im Kunstwerk eine Wirklichkeit zur Erscheinung, die sich
Desideraten eines sinnvollen Zusammenhangs nicht mehr fügt.
Das Kontingente, das Sinnfremde, das Absurde, das aus dem Uni
r versum sprachlichen Sinns Ausgeschlossene, weil Disparate,
Nicht-Integrierbare, gleichsam der sinnferne Untergrund sprach
lich erschlossenen Sinns - all dieses läßt die moderne Kunst in
»ungemilderter Negativität«, wie Adorno sagt, in sich hinein und
macht hierduch »Bruchstellen« sichtbar, »den Riß durch die Seele
und durchs Ganze der Welt«, wie Monika Steinhäuser es am Bei
spiel von Bildern Caspar David Friedrichs formuliert hat.22 Die
Kunst öffnet sich einer Erfahrung der Welt, die sich nicht mehr
auf einen letzten, übergreifenden Sinn hin auslegt, sondern den
Einbruch des Sinnfremden in die Welt sprachlich erschlossenen
20 Ebd., S. 364.
21 Ebd., S. 41.
22 Monika Steinhäuser, »Im Bild des Erhabenen«, in: Merkur 487/88,
Sept./Okt. 1989, S. 824.
186
Sinns, den Abgrund des Sinnfernen inmitten der Welt des Sinns
aushält. Nicht durch Versöhnung der Widersprüche, sondern da
durch, daß sie diese zur Sprache bringt,23 durch die »Kommuni
kation des Unkommunizierbaren«, lichtet die Kunst das Dunkel
der Welt, wird sie als erhabene zur schönen, zur Quelle ästhe
tischer Lust.
■Daß die finstersten Momente der Kunst etwas wie Lust bereiten sollen,
ist nichts anderes, als daß Kunst und ein richtiges Bewußtsein von ihr
Glück einzig noch in der Fähigkeit des Standhaltens finden. Dies Glück i
strahlt von innen her in die sinnliche Erscheinung. Wie in stimmigen
Kunstwerken Geist noch dem sprödesten Phänomen sich mitteilt, es
gleichsam sinnlich errettet, so lockt seit Baudelaire das Finstere als Anti
these zum Betrug der sinnlichen Fassade von Kultur auch sinnlich. Mehr
Lust ist bei der Dissonanz als bei der Konsonanz; das läßt dem Hedonis
mus Maß für Maß widerfahren.«24
Unter entwicklungslogischen Gesichtspunkten schließlich be : 1
zeichnet das Eindringen des Erhabenen in die Kunst eine Tendenz .' 1
zu fortschreitender Vergeistigung der modernen Kunst. Diese
Tendenz zur Vergeistigung korrespondiert einem Eindringen I
sinnferner Matcrialschichten in die Kunst, gleichsam einer Ten
denz zur Entgeistigung. Die Öffnung der Kunst gegenüber dem
Geistfremden, gegenüber der sinnfernen Rückseite der Welt
sprachlich erschlossenen Sinns, bedeutet zugleich ein Anwachsen
ihrer konstruktiven und reflexiven Züge. In ihnen bekundet sich
die Kraft eines emanzipierten Subjekts, das sich ungeschützt
durch ästhetische Konventionen der Erfahrung des Nicht-Identi t
schen überläßt, um sie ästhetisch zu objektivieren. Vergeistigung
bedeutet daher zugleich ein Anwachsen der Spannung zwischen
geistigen und geistfernen, zwischen konstruktiven und mimeti
schen, zwischen reflexiven und »elementarischen« Zügen in der
modernen Kunst. Für Adorno ist die moderne Kunst, sowohl in
ihren einzelnen Produktionen als auch im Spannungsfeld ihrer
Produktionen insgesamt, der Prozeß, der sich zwischen diesen
beiden Polen, dem Geistigen und dem Geistfernen, abspielt. i
»Das Rimbaudsche Postulat des radikal Modernen ist eines von Kunst, die
in der Spannung von spleen et ideal, von Vergeistigung und Obsession
!
durchs Geistfernste sich bewegt. Der Primat des Geistes in der Kunst und
23 ÄT, S. 294.
24 Ebd., S. 66 f.
>87
das Eindringen des zuvor Tabuierten sind zwei Seiten des gleichen Sach
verhalts [...] Vergeistigung vollzieht sich nicht durch Ideen, welche die
Kunst bekundet, sondern durch die Kraft, mit der sie intcntionslose und
ideenfeindlichc Schichten durchdringt. Nicht zuletzt darum lockt das Ver
femte und Verbotene das künstlerische Ingenium. Die neue Kunst von
Vergeistigung verhindert, wie die banausische Kultur es will, mit dem
Wahren, Schönen und Guten weiter sich zu beflecken.«25
Adorno entwirft hier eine Perspektive, aus der die moderne Kunst
als die ästhetische Realisierung dessen erscheint, was Kant im Be
griff des Erhabenen meinte: »Kants Theorie des Erhabenen ante-
zipiert am Naturschönen jene Vergeistigung, die Kunst erst leistet.
Was an der Natur erhaben sei, ist bei ihm nichts anderes als eben
die Autonomie des Geistes angesichts der Übermacht des sinn
lichen Daseins, und sie setzt erst im vergeistigten Kunstwerk sich
durch.«26 Wenn Adorno hier von der Autonomie des Geistes
spricht, dann müssen wir freilich seine Kritik an Kants Begriff des
Intelligiblen, und daher auch an Kants Begriff des Erhabenen, mit
hinzudenken. Ich werde später auf die Frage zurückkommen, was
diese Einschränkung bedeutet. Vorerst sei nur bemerkt, daß
Adorno hier durchaus vom Geist als endlichem, von dem seiner
Naturhaftigkeit bewußten Geiste spricht. In den offiziellen Lesar
ten Adornos wird für gewöhnlich verdeckt, daß Adorno in seiner
Theorie der ästhetischen Moderne - im Gegensatz zu zentralen
Thesen der Dialektik der Aufklärung - einen internen Zusam
menhang konstruiert zwischen der Emanzipation des modernen
Subjekts, dem Zerfall verbindlicher ästhetischer Konventionen
und Traditionen, und einem sich schärfenden Bewußtsein des
Geistes von seiner Naturhaftigkeit. Der Fortschritt des Bewußt
seins, in dem der Sturz der Metaphysik sich ankündigt, bedeutet
einen Fortschritt des Geistes zum Bewußtsein der eigenen Natur
haftigkeit. Die moderne Kunst ist das Eingedenken der Natur im
Subjekt, gebunden an die Kraft eines Subjekts, das der Erfahrung
der eigenen Naturhaftigkeit standzuhalten vermag.
»Die Entfesselung des Elementarischen war eins mit der Emanzipation des
Subjekts und damit dem Selbstbewußtsein des Geistes. Es vergeistigt als
Natur die Kunst. Ihr Geist ist Selbstbesinnung auf sein eigenes Naturhaf-
tes. Je mehr Kunst ein Nichtidentisches, unmittelbar dem Geist Entgegen
gesetztes in sich hineinnimmt, desto mehr muß sie sich vergeistigen.
25 Ebd., S. 144.
I 26 Ebd., S. 143.
i88
Umgekehrt hat Vergeistigung ihrerseits der Kunst zugeführt, was, sinnlich
nicht wohlgefällig und abstoßend, dieser zuvor tabu war; das sensuell
nicht Angenehme hat Affinität zum Geist.«27
Ein eigentümlicher Zusammenhang zwischen dem Eindringen des
I
Erhabenen in die moderne Kunst und den emanzipatorischen Im
pulsen der Moderne wird an dieser Stelle sichtbar. Die »Entgren
zung« der Kunst, die Adorno unter dem Titel ihrer »Vergeisti
gung« analysiert, korrespondiert jener Entgrenzung der Diskurse,
die Habermas in der kommunikativen Verflüssigung von Traditio !
nen, in der kommunikativen Rationalisierung der Lebenswelt
konstatiert hat. Mehr noch: Beide Prozesse stehen unter einem
Gesetz anwachsender Individuierung, durch welche allein jener i •.
Zerfall objektiv verbindlichen Sinns kompensiert werden kann,
welcher die Bedingung der Emanzipation der Subjekte - in mora
lischer und kognitiver nicht weniger als in ästhetischer Hinsicht -
ist. Unter dem Gesichtspunkt der Erzeugung von ästhetischem
n
Sinn ist Vergeistigung der Kunst daher zugleich der Name für eine
»ansteigende Individuierung« des je einzelnen Kunstwerks. Die
experimentellen, konstruktiven und reflexiven Züge der moder
nen Kunst sind das Medium solcher Individuierung bei Adorno,
ganz ähnlich wie die experimentellen, diskursiven und reflexiven
Züge einer rationalisierten Lebenswelt das Medium einer sozialen
Individuierung bei Habermas sind. Im Subtext der Ästhetischen
Theorie, und zwar genau an jenen Stellen, an denen Adorno das
Eindringen des Erhabenen in die moderne Kunst analysiert,
zeichnet sich eine Alternative zur These vom dialektischen Zu
sammenhang zwischen Subjektivierung und Verdinglichung ab,
also zur Grundthese der Dialektik der Aufklärung; wollte man i
die Umrisse dieser Alternative benennen, so könnte man sagen,
daß an die Stelle eines dialektischen Zusammenhangs zwischen
Subjektivierung und Verdinglichung ein interner Zusammenhang
zwischen ästhetischer, kognitiver und moralisch-praktischer Auf
klärung tritt. Moderne Kunst, moderne Wissenschaft und Philo
sophie und die mit einer universalistischen Moral verknüpfte
moderne Demokratie rücken in ein Verhältnis wechselseitiger 11
Korrespondenzen und Ergänzungen: Ästhetische, kognitive und
moralisch-praktische Aufklärung werden faßbar als die verschie
denen Felder, in die sich der emanzipatorische Impuls der Mo-
27 Ebd., S. 292.
189
I
i
■ J
derne verzweigt hat, ohne daß in dieser Verzweigung und der mit
ihr einhergehenden Differenzierung der Wert- und Rationalitäts
sphären schon ein Sieg der instrumentellen Vernunft gesehen
werden dürfte. Rückt man aber die Vergeistigung der Kunst in
einen solchen Zusammenhang, setzt man also die Emanzipation
der Subjekte im Sinne Adornos in Relation zur Veränderung kom
munikativer Beziehungen zwischen Subjekten in einer post-tradi-
tionalen Gesellschaft, so liegt es nahe, in der Assimilation
geistferner Erfahrungs- und Realitätsschichten durch die moderne
Kunst zugleich ein Potential der Öffnung von kommunikativen
Beziehungen und des Selbstverhältnisses ästhetischer Rezipienten
in Richtung auf die sinnfernen, tabuierten, ausgegrenzten und dis
paraten Momente ihrer Erfahrung zu sehen. Die Emanzipation
der Kunst stünde in Relation zu einer möglichen kommunikativen
Verflüssigung der gesellschaftlichen Beziehungen und der Selbst
verständnisse von Individuen: nicht als deren Vorschein, sondern
als deren Korrelat, ebenso Medium wie auch Manifestation jenes
Fortschritts des Bewußtseins, den Adorno immer wieder mit dem
Eindringen des Erhabenen in die moderne Kunst verknüpft.
Die drei Merkmale des modernen Erhabenen, so wie ich sie bei
Adorno unterschieden finde, bezeichnen insgesamt eine Bewe
gung der Selbsttranszendenz der Kunst unter Bedingungen ihrer
Autonomie. In technischer Hinsicht bedeutet dies einen beständi
gen Zwang zur Innovation, durch welchen die Bewegung der
Kunst mit derjenigen der kapitalistischen Warenproduktion kom
I muniziert. »Explosion ist eine ihrer Invarianten«, sagt Adorno,
»antitraditionalistische Energie wird zum verschlingenden Wir
I'1 bel.«28 Im Zwang zur Innovation kommt aber zugleich die
■: Nötigung zum Ausdruck, immer wieder die Grenze dessen zu
überschreiten, was die Kunst jeweils geworden ist, das heißt aber:
den existierenden Begriff der Kunst zu überschreiten, so wie er
sich in ihren zum Kulturgut neutralisierten Produktionen abgela
gert hat. Kunst war niemals bloß schöner Schein; aber unter
Bedingungen ihrer Autonomie muß sie das Mehr, das sie immer
schon war, in ihre eigene, das heißt ästhetische Regie nehmen. Sie
muß an ihrem eigenen Begriff, sie muß an den Grenzen ihrer
Autonomie rütteln, sofern sie jenem emphatischen Anspruch ge
nügen will, den sie an sich selbst stellen muß, solange sie über-
-I 18 Ebd., S. 41.
- 190
0
haupt ästhetischen Sinn erzeugen und nicht zur Reproduktion des
Immergleichcn herunterkommen will. In den Avantgardebewe
gungen der modernen Kunst ist diese Nötigung zur Selbstüber
schreitung der Kunst vielfach mißverstanden worden als Forde
rung nach einer Entkunstung der Kunst, nach Aufhebung der
5
1
Kunst im Leben. Noch Adorno meinte - und genau an dieser
Stelle wird seine Philosophie der Kunst zur Philosophie der Ver
söhnung »die geschichtliche Perspektive eines Untergangs der
Kunst« sei »die Idee eines jeden einzelnen« Kunstwerks.2’ Da
Adorno aber wußte, daß ein von der Kunst selbst inszenierter
»Untergang« der Kunst unter den gegebenen geschichtlichen Be
dingungen keinesfalls jene letzte Aufhebung der Kunst = Versöh
nung, sondern nur Anpassung ans Bestehende bedeuten könnte,
insistierte er zugleich, rebus sic stantibus, auf der Autonomie der !■ li
Kunst als Bedingung ihrer fortdauernden »Methexis an Versöh
nung«. Indessen scheint die Alternative als solche falsch zu sein: So
r'
wenig wir die Nötigung zur Selbstüberschreitung der Kunst aus
der Perspektive einer letzten Versöhnung deuten können, so wenig
können wir sic überhaupt sinnvoll als Imperativ einer Sclbstaufhe-
bung der Kunst im Leben deuten. Der entgrenzende Impuls der
Kunst wäre vielmehr mit ihrer Autonomie zusammenzudenken;
nicht als Impuls, der auf eine magische Verwandlung der Gesell
schaft im Ganzen zielt, sondern als Impuls, durch den allein das der
Kunst eigentümliche Potential zur immer erneuten magischen Ver
wandlung der Welt am Leben erhalten werden kann. Kann sich die (I
ser entgrenzende Impuls nicht auf ein absolutes Jenseits: die Welt
im Stande der Erlösung, richten, so müssen Transzendenz und
Immanenz, Negation und Affirmation in ihm zusammengedacht
werden: Entgrenzung und Verwandlung der Welt als Selbst-Über
schreitung und Selbst-Affirmation eines endlichen Geistes.
Wenn man die Selbstüberschreitung der Kunst nicht auf eine
letzte Selbstüberschreitung hin auslegt, so verliert auch Adornos
These eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen authentischer
Kunst und Massenkultur in der fortgeschrittenen Moderne ihre
philosophische Grundlage. In Adornos Gleichungen »authenti
sche Kunst = Negation = Wahrheit« und »Massenkukur =
Affirmation = Lüge« steckt ein Stück philosophischer Präforma
tion der ästhetischen Kritik, die einer vorbehaltlosen ästhetischen
29 Ebd., S. 199.
191
Erfahrung nicht standhält. Eine Kunst, deren entgrenzender Im
puls nicht das ganz Andere, Versöhnung, meint, sondern sich
kritisch und affirmativ zugleich auf die geschichtliche Welt zu
rückwendet, aus der er stammt, wird auch keine festen Grenzen
zwischen »höherer« und »niederer« Kultur akzeptieren können.
Daß diese in Wirklichkeit häufig diffusen, variablen und durchläs
sigen Grenzen in der fortgeschrittenen Moderne zugleich die
Grenzen zwischen dem ästhetisch potentiell Gelungenen und
dem ästhetisch a priori Mißlungenen seien, zwischen dem Au
thentischen und dem Nicht-Authentischen, zwischen Wahrheit
und Lüge, ist eine geschichtsphilosophische Annahme, die durch
ästhetische Erfahrung nicht wirklich gedeckt ist. Deshalb können
auch diese Grenzen für die avancierte Kunst zur Provokation wer
den, sie zu überschreiten.30
Die Nötigung zur Selbstüberschreitung der Kunst ist, wie gesagt,
mit ihrer fortdauernden Autonomie zusammenzudenken. Nur als
autonome kann die Kunst jedes über den bloß schönen Schein
hinausschießende Mehr noch erzeugen, durch welches für Augen
blicke die Welt im Stande ihrer Entzauberung verzaubert, die
ausgetrockneten Flußläufe sprachlicher Kommunikation überflu
tet und die Sinngehäuse der alltäglichen Welt zum Erzittern
gebracht werden mögen. Dieses Mehr haben wir bisher mit
Adorno als Erhabenes - im Gegensatz zum bloß (formal) Schö
nen -, als Geistiges - im Gegensatz zum bloß sinnlich Wohlgefäl
ligen -, als schockhaft Ergreifendes - im Gegensatz zum bloß
Geschmackvollen - charakterisiert. Nun ist aber bereits bei Kant
■<
im Begriff des Kunstschönen ein solches Mehr mitgcdacht: Das
Kunstschöne als Ausdruck ästhetischer Ideen fällt ja keineswegs
zusammen mit dem Schönen im Sinne der Analytik des reinen
Geschmacksurteils. »Geist« ist schon bei Kant die Kategorie,
durch die er das Kunstschöne vom bloß Geschmackvollen unter
scheidet. Selbst die Idee einer Kommunikation des Unkommuni
zierbaren, der Darstellung eines Nicht-Darstellbaren, wie sie bei
Adorno - und nach Adorno bei Lyotard - als Charakteristikum
des Kunsterhabenen auftritt, ist bereits in Kants Idee des Kunst
schönen impliziert. Andererseits scheint es gute Gründe dafür zu
=
-
geben, daß bei Kant, was die Kunst betrifft, der Begriff des Schö
nen gegenüber dem des Erhabenen leitend bleibt: Kunstwerke
sind, als gemachte, weder grenzen- noch formlos und auch keine
Gegenstände realer Furcht; was auch immer an ihnen erhaben
genannt werden mag, sic scheinen doch, als begrenzte Objekte,
unter Bedingungen zu stehen, unter denen ästhetische Lust zu
nächst einmal die am Geformten, also Lust am Schönen sein wird.
Auch bei Adorno bleibt die Kategorie des Schönen insofern lei
tend, als die Realisierung des Kunsterhabenen an die Bedingung
ästhetischer Stimmigkeit geknüpft bleibt; das Erhabene bedeutet
eine Modifikation, eine Intensivierung des Schönen, nicht dessen ■ ■!
reale Negation wie bei Kant. Wir sollten deshalb, in einem letzten
Schritt, noch einmal genauer fragen, worin bei Adorno, jenseits
aller formalen Analogien, das Recht zur Anknüpfung an Kants
Begriff des Erhabenen begründet sein könnte.
IV.
Ich hatte früher behauptet, daß Adorno die Kategorie des Erha
benen aus dem Geiste Becketts rehabilitiert. In Becketts Endspiel
wird in Adornos Deutung die Explosion des metaphysischen
Sinns ästhetisch objektiviert, nämlich als ästhetische »Konstruk
tion der Sinnlosigkeit«. Solche ästhetische Konstruktion der Sinn
losigkeit ist der Ort des Standhaltens gegenüber der Übermacht
der Negativität, der Ort des Erhabenen. Das Einfallstor für das
Erhabene in der modernen Kunst ist nicht ein Absolutes, das i
nicht darstellbar ist (also ein Absolutes im Sinne Kants), sondern
das Verschwinden des Absoluten, der Tod Gottes. In zwei be
kannten Formulierungen hat Nietzsche das Erhabene auf das
»Entsetzliche« und das »Unverständliche« bezogen;31 dem ent
spricht bei Baudelaire das Bild des Abgrunds. Das Entsetzliche,
das Unverständliche, der Abgrund - diese Worte bezeichnen nicht
hI
mehr eine übermächtige, schreckeneinflößende, unermeßliche
Natur, die unterm Blick des intelligiblen Subjekts doch klein
I
wird; sie bezeichnen vielmehr eine Natur, die auch das intelligible
Subjekt und seine geschichtliche Welt noch umgreift: Der Ab
I
31 Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. 1 hg. von Karl Schlechta, Darmstadt
1960, S. 49 und 238.
I
<93
j
:i
gründ ist ein Abgrund der Sinnferne inmitten des sprachlichen
Sinns. Dieser Abgrund bezeichnet ein negatives Absolutes, das
Nichts, gleichsam die Leerstelle, die das Absolute der Metaphysik
hinterlassen hat. Wie schon in der Pauiinischcn Theologie ist bei
Adorno der Name dieses negativ Absoluten der Tod. Der Tod als
Letztes ist die Krise des Sinns; und zwar als Krise des metaphysi
schen Sinns zugleich die Krise alles sprachlichen Sinns, da durch
die Explosion des metaphysischen Sinns zugleich alle diejenigen
für das Leben des sprachlichen Sinns konstitutiven Bedingungen
in Frage gestellt werden, durch welche das Leben des sprachlichen
Sinns mit den Ideen der Wahrheit, der Autonomie und der Ver
nunft verknüpft ist. Es ist diese Nietzschesche Perspektive, die
Adorno sich zu eigen macht und die er zugleich als unerträglich
zurückweist; in dieser zugleich affirmativen und kritischen Stel
lung zu Nietzsche wird er zum Versöhnungsphilosophen. Drama
tisch heißt es in der Negativen Dialektik: »Wäre der Tod jenes
Absolute, das die Philosophie« - hier ist natürlich Heidegger ge
meint- »positiv vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts,
auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit
irgend sich denken.«32 Für Adorno bedeutet dies, wie schon
früher betont, daß das Standhalten gegenüber der Negativität des
Daseins nur im Namen eines Absoluten möglich ist, das zwar
schwarz verhüllt, aber doch nicht Nichts ist. Zwischen Sein und
Nichtsein des Absoluten bleibt ein unendlich dünner Spalt, durch
den ein schwacher Lichtschimmer fällt: Licht von einem Absolu
ten, das erst werden soll. Und was für das Absolute gilt, gilt
ebenso für das Ich: Auch dessen Nichtigkeit, Korrelat der Explo
F sion metaphysischen Sinns, soll nicht das letzte Wort sein. Das
Wort »Ich« ist der Name einer utopischen Hoffnung; ihm korre
spondiert nichts Seiendes; erst im Stande der Erlösung dürften die
Menschen »Ich« zu sich sagen. Dies ist die aporetische Konstella
tion, in der das Erhabene bei Adorno seinen versöhnungsphilo
sophischen Ort hat.
Was bleibt von diesem Begriff, wenn man die versöhnungsphilo
sophische Spitze von Adornos Philosophie kappt, wenn man die
Wurzelfäden durchschneidet, durch die diese Philosophie sich aus
einem abwesenden Absoluten nährt? Konstitutiv für das Erha-
j
■
32 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften,
Bd. 6, Frankfurt a. M. 1973, S. 364.
« 194
bene in all seinen Varianten ist eine Polarität, eine produktive
Spannung zwischen einem virtuell bedrohten, in seinen Vermögen ■
>95
mation der Endlichkeit wie Adornos negativistische Rückkehr
zur Theologie, bleiben, wie sich zeigen läßt, den problematischen
Prämissen der neuzeitlichen Subjektphilosophie verhaftet. Erst
deren Destruktion erlaubt es, für das, was Kant im Begriff des
Intelligiblcn dachte, einen Ort jenseits der Metaphysik zu finden
und hierdurch zugleich die falsche Alternative zu überwinden, die
sich in der Opposition Adornos gegen Nietzsche auftut. Hierauf
komme ich gleich zurück.
Was hat dies aber mit den Problemen der Ästhetik, mit dem Pro
blem des Erhabenen zu tun? Nur soviel, daß in Frage steht, wie
denn das ästhetische Subjekt, das die Erfahrung des Erhabenen
macht, in der Welt des kommunikativ geteilten Sinns steht. Kants
Antwort ist klar: Im Gefühl des Erhabenen empfinden die Sub
jekte ihre Freiheit als moralische Subjekte. Nietzsche und Adorno
sehen hierin eine metaphysische Illusion oder, was auf dasselbe
hinausläuft, eine bürgerliche Ideologie. Nur ihre Konsequenzen
sind verschieden: Während Nietzsche die Ideen der Wahrheit und
Freiheit verabschiedet, versucht Adorno, sie als utopische Hoff
nung zu retten. Dies ist die falsche Alternative, von der ich oben
gesprochen habe; nämlich die Alternative von Ästhetizismus und
Messianismus. Es ist eine falsche Alternative, die Bedeutung und
den Rang des Ästhetischen und daher den Ort der Kunst in der
Moderne betreffend. Wir können daher den Begriff eines moder
nen Erhabenen, oder den Ort des Erhabenen in der ästhetischen
Moderne, nicht wirklich klären, ohne diese falsche Alternative
aufzulösen. Dies bringt mich zurück zu der Frage, wie sich für
das, was Kant im Begriff des Intelligiblen dachte, ein Ort jenseits
der Metaphysik finden ließe.
In gewissem Sinne, so denke ich, hatte Adorno recht, wenn er für
das Absolute, wenn er für das intelligible Ich einen Ort zwischen
I Sein und Nicht-Sein suchte. Die Subjekt-Objekt-Dialektik aber
ließ hier als ein Drittes nur die Idee eines künftigen Seins zu.
Schon Kant aber hatte, und zwar vor jeder kritischen Metaphysik,
jenen Ort zwischen Sein und Nicht-Sein überzeugender als den
eines praktischen Seins bestimmt: Es »gibt« Freiheit in der Welt,
sofern wir nur unter der Idee der Freiheit handeln können. Dies
Sein der Freiheit bezeichnet keinen Zustand der Versöhnung, es
bezeichnet vielmehr einen Seinsmodus der Welt sprachlich er
-i schlossenen Sinns, durch welchen diese objektivierender Erkennt
nis im strikten Sinn unzugänglich bleiben muß, ihr als ein
196
Nicht-Sein erscheinen muß. Bei Kant bleibt dieser fruchtbare Ge
danke freilich noch eingehüllt in ein Gewebe bcwußtscinsphilo-
sophischer Voraussetzungen; erst die neuere Philosophie - ich
denke vor allem an Heidegger, Wittgenstein und die amerikani
schen Pragmatisten - hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, !h ’
den Kantischen Gedanken sprachphilosophisch zu reformulieren l-l 1
und hierdurch zugleich zu verallgemeinern. Der Gedanke besagt
dann — und so findet er sich in besonders klarer Form bei Haber
mas —, daß das Sein des sprachlichen Sinns, der Freiheit, der
Wahrheit, der Vernunft ein performatives Sein ist, ein Sein, das
sich erst in der performativen Einstellung sprachlich kommuni
zierender Subjekte konstituiert und nur in ihr sich erhält. Haber
mas hat dieses performative Sein der Sprache durch ein Netzwerk
von Geltungsansprüchen, Unterstellungen und Anerkennungsbe
ziehungen charakterisiert, die für sprachliche Kommunikation ’l
197
weisen auf das performativc Sein des sprachlichen Sinns: Diesen
»gibt« es nur aus der Perspektive von Sprechern, die sich in der
Sprache miteinander über etwas verständigen, gleichsam aus einer
an Geltung orientierten Gebrauchsperspektive. Sprachlicher Sinn
bildet und erhält sich im Gelingen und Mißlingen sprachlicher
Kommunikation; freilich gibt es keine — dem performativen Sein
der Sprache entzogenen - externen Maßstäbe solchen Gelingens
oder Mißlingens. Was es gibt, sind nur die internen Korrektive der
sprachlichen Praxis selbst: Das Gelingen sprachlicher Kommuni
kation muß sich außerhalb ihres eigenen Kontextes und aus der
Perspektive Dritter, also im Zusammenhang des Lebens ebenso
wie vor dem Forum einer prinzipiell nicht begrenzbaren Kommu
nikationsgemeinschaft, bewähren. Durch die Idee der Wahrheit ist
ein kritischer Maßstab in die Welt sprachlichen Sinns eingebaut;
ein kritischer Maßstab aber, der weder ein ideales Sein jenseits der
Sprache noch eine ideale Form sprachlicher Verständigung meint,
sondern der nichts als die sclbst-transzendierende Kraft der in
einer Sprache jeweils verkörperten Vernunft bezeichnet. Was wir
im Vollzug der sprachlichen Kommunikation unterstellen: Die
Möglichkeit der Verständigung und die Transparenz des Sinns
darf nicht als Vorschein einer »letzten« Verständigung, eines voll
ständig transparent gewordenen Sinns, einer letzten Versöhnung
mißverstanden werden. Dies Mißverständnis vielmehr ist die Me
taphysik: eine objektivistische Fehldeutung des performativen
Seins des sprachlichen Sinns; vielleicht auch - so jedenfalls sieht es
Derrida - ein transzendentaler Schein, der dem Leben des sprach
lichen Sinns anhaftet.
Das performative Sein des sprachlichen Sinns ist die Sphäre des
sen, was Kant das Intelligible nannte. Dies Reich des Intelligiblen
— wenn wir hier weiterhin den Kantischen Ausdruck verwenden
wollen - ist in der Tat ein Reich jenseits der Natur, sofern wir
unter »Natur« das objektivierbare Sein im Sinne Kants verstehen.
Zugleich aber ist es ein Teil der Natur, weil es an die Intersubjek
tivität endlicher »natürlicher« Wesen geknüpft ist. Das performa
tive Sein des Geistes und mit ihm das Reich des Intelligiblen ist
endlich, vom Tode begrenzt. Ihm fehlt die messianische Kraft, das
Dunkel der Welt im Ganzen zu erhellen, die Erfahrungen der
Kontingenz, der moralischen oder existenziellen Sinnlosigkeit,
des Scheiterns, des unauflösbaren Konflikts oder der Zerbrech
lichkeit des Subjekts und aller intersubjektiven Beziehungen in
198
■
h11
bezieht die Doppelfigur »Grund-Abgrund* auf das Schöne (»Das
Schöne, das wir als Grund wie Abgrund unserer ästhetischen Verste
hensversuche erfahren ...«, S. 184). Hiermit ist die These verknüpft,
daß »die ästhetische Negativitätserfahrung [...] die Subversion der
Möglichkeit zu verstehender Erfahrung zur Erfahrung« bringt
(S. 264). Die ästhetische Erfahrung selbst bedeutet die Krise des Sinns.
Meine Differenz zu Menke-Eggers’ brillanten Überlegungen betrifft y 1
die Konstruktion des Verhältnisses zwischen ästhetischer Negativität !
und kommunikativ geteiltem Sinn.
199
erfahren läßt, und dessen Standhalten gegenüber der Übermacht
der Negativität, durch welches es noch die Erfahrung seiner Nich
tigkeit in die Welt kommunikativ geteilten Sinns aufhebt und
hierin über die eigene Nichtigkeit sich erhebt. Der Ort des Erha
benen wäre nicht der Gegensatz zwischen dem empirischen und
intelligiblen Ich, nicht der Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und
Vernunft, sondern ein Gegensatz im »intelligiblen« Ich selbst:
Dieses ist nichtig und erhaben zugleich.
In den »Malen der Zerrüttung«, die nach Adorno das »Echtheits
siegel« der ästhetischen Moderne sind, spricht die Kunst aus, daß
die Welt nicht mehr zu einem Sinnganzen sich zusammenfügen
läßt. Indem sie es aber ästhetisch tut, Medium einer reflexiven
Lust, bringt sie zugleich die endliche Welt des kommunikativen
Sinns zum Erglühen, bringt ihre Farben zum Leuchten. Und in
dem sie das Endliche, das Abgebrochene, das Abgründige des
Sinns und seiner sprachlichen Subjekte in ästhetischen Sinn ver
wandelt, wirkt sie zugleich erhellend auf die Welt sprachlichen
Sinns zurück. Es sind ja die gewöhnlichen Subjekte, Bewohner
einer Tagwelt sprachlich erschlossenen, kommunikativ geteilten
Sinns, die ästhetische Erfahrungen machen. Treten sie für Augen
blicke aus dem Zeit- und Sinnkontinuum dieser Tagwelt heraus,
so kehren sie auch wieder dorthin zurück; was ihnen ästhetisch
geschieht, geschieht ihnen immer auch als Subjekten einer kom
munikativen Praxis, auf welche die ästhetische Erfahrung erhel
lend, erweiternd, sinnbildcnd und sinn-erschütternd zurück
wirkt. Die Kunst ist ein Teil der intelligiblen Welt, wodurch diese
i Wenn man freilich das Erhabene der modernen Kunst nicht mehr
aus einem Horizont antizipierter Versöhnung versteht, so wird
I
=,
Momenten, das die ästhetische Erfahrung auszeichnet, nicht ge
bunden daran, daß im Kunstwerk das Unverständliche als das
Schreckliche vergegenwärtigt und gebannt wird. Kommunikation
des Unkommunizierbaren, Darstellung eines nicht Darstellbaren
sind vielmehr Merkmale der Kunst, in welchen sie alle Aspekte
3 200
möglicher Weltcrfahrung umgreift. Die wcltcrschließcnde, verge
genwärtigende und erfahrungsverändernde Kraft der Kunst
äußert sich darin, daß sie den in der alltäglichen Erfahrung zer
streuten Sinn sammelt, verdichtet und transformiert, dem Un
greifbaren und Flüchtigen zur Dauer verhilft, das der Sprache sich ä! I
Entziehende zur Sprache bringt, das nicht Gesehene sichtbar und
das nicht Gehörte hörbar macht. Insofern hat sie es immer gleich
sam mit der Rückseite der Welt sprachlich erschlossenen Sinns zu ■I
tun. Indes ist das Sinnferne, das Kontingente, ist der Abgrund des
Sinns nicht nur das »Unverständliche als das Schreckliche«, son
K
■
201
l)l
Sinns« und der Emanzipation des Subjektes her rekonstruiert,
dann läßt sich die These, die moderne Kunst sei erhaben, das heißt
von der Grundfarbe schwarz, nicht länger aufrechterhalten. Ge
wiß, die Kunst im Zeitalter einer nach-metaphysischen Moderne
befindet sich unwiderruflich jenseits eines Begriffs von Schönheit,
der das sinnliche Scheinen der Idee, der einen höheren Sinn, eine
letzte Versöhnung der Widersprüche meint. In diesem Sinne mag
das Erhabene zum Konstituens aller modernen - oder postmoder
nen - Kunst geworden sein. Ein so verstandenes Erhabenes aber
muß nicht von der Grundfarbe schwarz sein - sowenig wie der
Verzicht auf eine letzte Versöhnung Verzweiflung bedeutet. Daß
in der ästhetischen Konstruktion der Sinnlosigkeit »Erhabenes
und Spiel konvergieren«, wie Adorno sagt, könnte auch in einem
anderen Sinne verstanden werden als bei Adorno, der diesen Ge
danken auf die schwarze Komik Becketts bezieht. Etwa so, daß
die Kunst das Spiel der Welt zur Erscheinung bringt, den Ge
schichtsraum in einen Naturraum zurückverwandelt und hierin
die Abgründigkeit des sprachlichen Sinns nicht nur in ihrer Nega
tivität, sondern zugleich in ihrer Produktivität erfahrbar macht.
Die Erfahrung solcher Kunst könnte die ekstatische Erfahrung
einer Überschreitung des Sinns sein: Kunst als Nachahmung des
Naturschönen. Innerhalb der modernen Musik gibt es eine Tradi
tionslinie, die Debussy mit Strawinsky, Messiaen und Ligeti
verbindet; eine Traditionslinie, mit der Adorno, der präokkupiert
war durch die deutsch-österreichische Tradition eines dynamisch
expressiven Konstruktivismus, nie so recht etwas anzufangen
wußte. Der tiefere Grund mag sein, daß Adorno an einer Hegel
= 202
turraum der Geschichte wird hörbar gemacht, Musik tendenziell
zur Nachahmung des Naturschönen - und sei es eines mathema
tisch-technisch erzeugten, d.h. bereits künstlichen »Naturschö
nen« wie der Fraktale im Falle Ligetis.35 Und doch genügt auch
diese Musik allen Desideraten des Modernen im Sinne Adornos:
Sie ist hochgradig konstruktiv und individuiert in ihrer Sprache
und ihren technischen Verfahren; und sie hat der Musik ganz neue
Erfahrungs- und Materialschichten erschlossen, insbesondere sol
che aus außereuropäischen Kulturen. Im übrigen sind die Grenz
linien zwischen den beiden genannten Traditionen der modernen
Musik längst unscharf geworden; ich habe sic vor allem deshalb
unterschieden, weil Adorno dazu neigte, die eine der beiden aus
dem Kanon der modernen Kunst auszugrenzen. An solchen Stel
len zeigt sich, daß die Ästhetik der Negativität am Ende auch mit
einer ästhetischen - und nicht nur mit einer philosophischen -
Blickverengung verknüpft ist. Das ließe sich auch an anderen Bei
spielen zeigen; notorisch ist Adornos schiefes Verhältnis zum Jazz
und zum Film.
Freilich stammt die Idee einer Nachahmung des Naturschönen
durch die Kunst von Adorno selbst. Man könnte versucht sein zu
sagen, daß alle Elemente einer nachmetaphysischen Ästhetik der
Moderne bei Adorno versammelt sind, nur in einer durch die Op
tik der Versöhnungsphilosophie verzerrten Anordnung. Seine
Ästhetik ist ein Zögern auf der Schwelle, populär gesagt, zur Post
moderne, ernsthafter gesagt, zu einem nachmetaphysischen Be
griff der Moderne. Den Ästhetiken der Postmoderne ist sie immer
noch überlegen. Aber fruchtbar machen läßt sie sich heute nur
noch, wenn man sie entschlossen verfremdet; oder anders gesagt,
wenn man sie über jene Schwelle stößt, auf der sie zögert: die
Schwelle zu einer nachmetaphysischen Moderne. Dies wäre eine
i
Moderne, die im Sturz der Metaphysik nicht nur den Verlust,
sondern auch die Befreiung erkennt: die Befreiung von der Illu
sion und dem Terror eines irgend objektivierbaren letzten und
umfassenden Sinns; eine Moderne, die der Metaphysik um so we
niger bedürfte, je mehr sie die Wahrheit der Metaphysik in den
Strukturen ihrer Weltlichkeit aufgehoben hätte.
35 Vgl. Denys Bouliane, »Stilisierte Emotion. György Ligeti im Ge
spräch«, in: Musik-Texte, 28/29, März 1989; Denys Bouliane, »Geron
nene Zeit und Narration. György Ligeti im Gespräch«, in: Neue
Zeitschrift für Musik, Mai 1988.
20}
i,
7. Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes
i.
204
liehe Erfahrung korrespondiert, hat Kant selbst eindringlich ge
zeigt. Adorno zeigt demgegenüber, daß sie als bloße Gedanken
leer wären, wenn sie nicht von möglicher Erfahrung her, das heißt
f!
sub specie einer ihnen zumindest möglichen objektiven Realität,
gedacht würden. Die Doppeldeutigkeit des Kantischcn Ideenbe
griffs wird faßbar im Übergang von der Kritik der reinen Vernunft
zur Kritik der praktischen Vernunft. Im Lichte der praktischen
Vernunft nämlich erscheinen die Ideen von Gott, Freiheit und fi
Unsterblichkeit nicht mehr bloß als regulative Ideen, sie werden
vielmehr zu konstitutiven Ideen, »indem sie Gründe der Möglich
(■ i
keit sind, das notwendige Objekt der reinen praktischen Vernunft
(das höchste Gut) wirklich zu machen* (I. Kant, KrdprV, A244).
Damit das »höchste Gut« als ein mögliches Wirkliches gedacht
werden kann, müssen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als
Ö
wirklich — wenngleich unerkennbar - gedacht werden. Als Namen
von Wirklichem aber lassen sich diese Ideen nur deshalb denken,
weil sie ihrem Sinne nach immer schon - in einer von Kant un
durchschauten Weise - auf mögliche Erfahrung, oder auf die
Bedingungen möglicher Erfahrung, bezogen sind. Sic setzen näm
lich in je verschiedener Weise den Begriff eines individuierten
geistigen Wesens bzw. den einer Welt individuierter geistiger We
sen voraus; im Begriff eines geistigen Wesens aber, so wie wir
allein ihn denken können, ist seine Leiblichkeit, sind also Raum
und Zeit und mögliche Erfahrung immer schon impliziert. Diese
Naturhaftigkcit, diese Leiblichkeit individuierter geistiger Wesen
wird in den zentralen Begriffen, in denen Kant das Reich des In-
telligiblen denkt, insgeheim vorausgesetzt und zugleich als eine
notwendige Voraussetzung geleugnet. Die Doppeldeutigkeit der I
transzendentalen Ideen - zwischen einer »regulativen« und einer
»konstitutiven« Bedeutung, zwischen Transzendenz und Imma
nenz - erklärt sich daraus, daß der Begriff des Intclligiblen nicht
nur ein Jenseits der erkennbaren Natur, sondern zugleich ein Jen ■
seits der bösen Natur (und einer sinnlosen Geschichte) bezeich ■ '
net. Als Jenseits der bösen Natur steht das Reich des Intelligiblen
für eine unendliche Aufgabe, vor die endliche Vernunftwesen sich
gestellt sehen - die Verwirklichung des höchsten Guts, die Über
windung der Naturhaftigkeit des Willens -, sowie für die Mög
lichkeit einer Lösung dieser Aufgabe, für die aus der geschicht
lichen Erfahrung allein sich keine Anhaltspunkte gewinnen
ließen. Da die Aufgabe unabweisbar ist, muß den Ideen von Gott,
20J
Freiheit und Unsterblichkeit Wirklichkeit zukommen; denn nur
wenn ihnen Wirklichkeit zukommt, kann die Aufgabe selbst sinn
voll und kann sie zugleich Index eines Sinns der natürlichen und
geschichtlichen Welt sein. Dieser Zirkel von Postulaten bringt
nicht mehr eine erkenntniskritische, sondern eine praktisch-teleo
logische Verknüpfung der intelligiblen mit der empirischen Welt
zum Ausdruck. Das Intelligible bezeichnet Grund und Zielpunkt
dieser Teleologie. Nur wenn der Grund - Gott, Freiheit, Unsterb
lichkeit-wirklich ist, kann das Ziel eine Möglichkeit bezeichnen.
Dieses Ziel wird bei Kant durch eine Reihe von Grenzbegriffen
bezeichnet, wie diejenigen eines »vollkommen guten« oder »heili
gen« Willens, eines Reichs der Zwecke, des höchsten Guts, des
Reichs Gottes usw., in denen die empirische Welt sich gleichsam
auf die intelligible hin übersteigt. Alle diese Grenzbegriffe sind
paradox darin, daß sie einen für sinnliche Vernunftwesen unend
lich approximierbaren Grenzwert nur dadurch bezeichnen kön
nen, daß sie im Grenzwert der Vollkommenheit selbst die
Bedingung der Natürlichkeit durchstreichen. An dieser Paradoxie
hat auch der Begriff eines »reinen Vernunftwesens« teil: Er be
zeichnet ein Telos endlicher Vernunftwesen, deren Unvernünftig
keit er negiert; er bezeichnet somit ein Ideal der Vernünftigkeit.
Aber in der Formulierung des Ideals sind zugleich alle jene Bedin
gungen negiert, unter denen die endlichen Vernunftwesen allein
individuierte, d. h. wirkliche Vernunftwesen sein können: Natür-
lickeit, Leiblichkeit, Sinnlichkeit, Wille. Auf verschiedenen Stufen
wiederholt sich somit die Doppeldeutigkeit der Begriffe, in denen
Kant das Reich des Intelligiblen denkt: Sie transzendieren die
Grenzen möglicher Erfahrung und meinen doch mögliche Erfah
rung. Dies gilt auch noch für die Idee der Unsterblichkeit der
Seele. Adorno spottet über den »Spiritismus« einer Metaphysik -
auch noch der Kantischen -, die die Lehre der Unsterblichkeit nur
um den Preis totaler Vergeistigung, eben nur für die Seele, zu
retten weiß. »Hoffnung aber heftet sich, wie in Mignons Lied, an
den verklärten Leib. Metaphysik will davon nichts hören, nicht
mit Materiellem sich gemein machen... Die idealistische Kon
struktion jedoch, die den Erdenrest auszuscheiden vorhat, wird
wesenlos, sobald sie jene Egoität gänzlich ausmerzt, die Modell
= des Begriffs Geist war... Die christliche Dogmatik, welche die
Erweckung der Seelen mit der Auferstehung des Fleisches zusam
mendachte, war metaphysisch folgerechter, wenn man will: auf-
206
geklärter als die spekulative Metaphysik; so wie Hoffnung
leibhafte Auferstehung meint und durch deren Vergeistigung ums t
Beste sich gebracht weiß.«1
Kants Versuch, die Wahrheit der Metaphysik, und mit ihr die der
Theologie, kritisch zu retten, muß aus der Perspektive Adornos H
scheitern, weil die Grenzziehung zwischen dem, was erkennbar
und dem, was bloß denkbar und denknotwendig, aber nicht er
kennbar ist, weil also letztlich der Begriff des Intelligiblcn selbst
aporetisch bleiben muß. Kants Philosophie erweist sich als ohn
mächtig gegenüber dem Strudel fortschreitender Aufklärung, in
den die metaphysischen Ideen hineingezogen sind.
So gilt auch für die Kantische Form der Metaphysik noch einmal,
was Kant der älteren vorwarf: Ihre Ideen sind »Luftspiegelungen
des Denkens«; sie stehen nicht nur für Unerkennbares, sondern
für Undenkbares; sie sind das Imaginäre des Denkens, ein Traum
der Vernunft. Soweit gibt Adorno sogar der positivistischen Auf i 1
klärung recht. Indes ist der geschichtliche Augenblick, in dem die
Metaphysik als Theorie von der Aufklärung unwiderruflich ins
Unrecht gesetzt ist, für Adorno zugleich der Augenblick einer
möglichen Rettung ihres Wahrheitsgehalts. Die Wahrheit der Me
taphysik wird erst im Augenblick ihres Sturzes faßbar. Erst in
dem Augenblick nämlich, in dem alle objektivistischen und apo
logetischen Ansprüche der Metaphysik, in denen sie das Erbe der
Theologie als Ideologie angetreten hatte, zuschanden geworden
sind, wird das an ihr sichtbar, was sie unwiderruflich von falscher
Aufklärung scheidet und worin sie sich dieser - auch wo sie sich
ihr in der Form des philosophischen Systemdenkens anpaßte —
immer schon entgegengesetzt hatte. Aber nicht nur wird erst im
N
Augenblick ihres Zerfalls - dem geschichtlichen Augenblick der
voll entwickelten Moderne - der Wahrheitsgehalt der Metaphysik
sichtbar; vielmehr wird im gleichen Augenblick auch deutlich,
weshalb das Bedürfnis nach Metaphysik unabweisbar ist für ein
Bewußtsein, das sich als Bewußtsein nicht selbst durchstreichen
will. In dieser paradoxen Zuspitzung des Problems steckt eine
Bündelung von Motiven, durch welche Adornos Meditationen !!
zur Metaphysik in eine vieldeutige Nähe sowohl zur Religionskri
tik des jungen Marx, zur Metaphysik-Kritik des Poststrukturalis- ;1
1 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: Ges. Schriften, Bd. 6, Frankfurt I
1973, S.393.
207
mus als auch zur Relativismus-Kritik der Transzendentalpragma
tik rücken. Diesen Verwandtschaftsbeziehungen möchte ich im
folgenden ein Stück weit nachgehen.
Adorno sieht den Wahrheitsgehalt der Metaphysik in ihrem alles
bloß Bestehende auf ein Absolutes hin transzendierenden Impuls.
Dieser transzendierende Impuls ist nichts anderes als das »tran
szendierende Moment« in allem Denken, ohne das nach Adorno
die Idee der Wahrheit - die er, scheinbar un-kantisch, als die
»oberste« unter den metaphysischen Ideen bezeichnet2 - nichtig
wäre. Wenn ich sage: scheinbar un-kantisch, so will ich damit
andcuten, daß Kants Versuch, den Wahrheitsbegriff gleichsam un
terhalb der Ebene der Vernunftideen abzuhandeln, durchaus im
manent sich in Frage stellen ließe. Adorno spielt auf diese
Möglichkeit an, wenn er aus Kants Idcenlehre die These heraus
liest, »ohne Metaphysik sei Theorie nicht möglich«? Wenn
Adornos These zum metaphysischen Charakter des Wahrheits
begriffs richtig ist, dann versteht sich von selbst, daß seine Vertei
digung des Wahrheitsbegriffs - und darum geht es ihm -
aporetische Züge annehmen muß. Vielmehr: sie wird zur Entfal-
tung einer Aporie; und indem Adorno diese Aporie entfaltet,
versucht er zugleich das Aporetische der Kantischen Metaphysik
als Spur einer Einsicht zu lesen, durch welche Kant sich am Ende
seinen idealistischen wie seinen positivistischen Überwindern als
überlegen erweist.
Für Adorno koinzidiert die Möglichkeit der Wahrheit mit der ei
nes objektiven Sinns. Mit der Idee der Wahrheit ist daher Dauer in
einem doppelten Sinne postuliert: zunächst die der Wahrheit
selbst; »denn es ist ein Moment der Wahrheit, daß sie samt ihrem
Zeitkern dauere; ohne alle Dauer wäre keine, noch deren letzte
Spur verschlänge der absolute Tod«? Dann aber auch die der
lebendigen Subjekte,/«? die die Wahrheit ist. Denn »der Gedanke,
der Tod sei das schlechthin Letzte, (ist) unausdenkbar«? »Wäre
der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv vergebens be
schwor, so ist alles überhaupt nichts, auch jeder Gedanke ins
Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit irgend sich denken«.6
2 A.a.O., S. 394.
3 A.a.O., S. 377.
4 A.a.O., S. 364.
5 A.a.O.
6 A.a.O.
208
Der Gedanke, daß in der Idee der Wahrheit der Tod nicht nur
metaphorisch - als der des Wahren sondern buchstäblich ne
giert wird, bringt ein theologisches Motiv mit Kant und gegen
Kant zur Geltung. Kantisch ist der von Adorno unterstellte Pri
mat der praktischen über die theoretische Vernunft und der
Anschluß an die Kantische Postulatenlehre, die Adorno, in einer
charakteristischen Wendung, freilich nicht auf die Besserung der
Täter, sondern auf das Leiden der Opfer bezieht: »Daß keine in
nerweltliche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit wi I :
derfahren zu lassen; daß keine ans Unrecht des Todes rührte, 1
bewegt die Kantische Vernunft dazu, gegen Vernunft zu hoffen.
Das Geheimnis seiner Philosophie ist die Unausdenkbarkeit der
Verzweiflung«.7 Un-kantisch dagegen, gegen Kant gedacht, ist
es, wenn Adorno im theologischen Motiv ein materialistisches zur
Geltung bringt, das auf die Verweltlichung des transzendierenden
Impulses abzielt. Der Gang der Geschichte nötigt die Metaphysik
zum Materialismus, gegen den sie einmal konzipiert war;8 nötigt
sie, auf den »Schauplatz des Leidens« herabzusteigen, die »soma
tische, sinnferne Schicht des Lebendigen«,5 nachdem in den
Lagern »alles Beschwichtigende des Geistes ... ohne Trost ver
brannte«.10 Der transzendierende Impuls meint nicht ein Jen
seits der geschichtlichen Welt, sondern eine andere Verfassung der
Welt. Der Fluchtpunkt der Entmythologisierung - erst der Theo
logie, dann der Metaphysik - ist eine Konstellation von Imma
nenz und Transzendenz, die ebenso denknotwendig wie undenk
bar ist. »Was von Entmythologisierung nicht getroffen würde,
wäre kein Argument... sondern die Erfahrung, daß der Gedanke,
der sich nicht enthauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee
einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid ab
geschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerru
fen wäre.«11
Dies ist Adornos Version der Marxschen Religionskritik, dieser
auch darin verwandt, daß die Entzauberung der Welt, daß der
Zerfall aller religiösen und metaphysischen Sinngarantien im Pro
zeß der kapitalistischen Modernisierung als Voraussetzung einer
7 A.a.O., S. 378.
8 A.a.O., S. 3 58.
9 A.a.O.
10 A.a.O.
11 A.a.O., S. 395.
209
J
j
I Verweltlichung der Metaphysik erscheint. Im Lichte dieser reflek-
tierteren Wiederholung der Marxschen Religionskritik nun er
scheinen die Aporien Kants als Spuren einer Einsicht, die sich
entgegen Kants Meinung anders als aporetisch gar nicht formulie
ren läßt. Die Zweideutigkeiten der Kantischen Ideenlehre, auf die
ich anfangs hingewiesen habe, haben nach Adorno ihr Recht
darin, daß das Absolute weder als Seiendes - das wäre Metaphysik
als Ideologie - noch als Nicht-Seiendes - das wäre Positivismus als
Denkverbot — gedacht werden kann. In immer wieder neuen Wen
dungen wiederholt Adorno diesen Gedanken im Schlußabschnitt
der Negativen Dialektik. So sagt er über Kant: »Genötigt von der
Konvergenz aller Gedanken in einem Absoluten, beließ er es nicht
bei der absoluten Grenze zwischen dem Absoluten und dem Sei
enden, die zu ziehen er nicht minder genötigt war. Er hielt an den
metaphysischen Ideen fest und verbot dennoch, vom Gedanken
des Absoluten, das einmal sich verwirklichen könne wie der ewige
Friede, überzuspringen in den Satz, das Absolute sei darum.«12
Oder, prägnanter: »Der Begriff des in teil igiblen Bereichs wäre der
von etwas, was nicht ist und doch nicht nur nicht ist«;13 und:
»Der Begriff des Intelligiblen ist weder einer von Realem noch
einer von Imaginärem. Vielmehr aporetisch.«14 Indes beläßt
Adorno es am Ende doch nicht bei der Aporic. Für einen kurzen
Augenblick läßt er vielmehr alle dialektische Vorsicht fahren und
ergibt sich ungeschützt der Spekulation. Und zwar nutzt er einen
Hegelschen Einwand gegen Kant, um ganz un-hegelisch die
I Denkbarkeit eines materialistisch gewendeten Begriffs der Tran
szendenz, einer materialistisch gewendeten Versöhnungshoff
nung, darzutun. Adorno kritisiert Kants Doktrin des »unzerstör
baren Blocks«, d.h. seine Lehre von ein-für-allemal gegebenen
Formen der Anschauung und der Erkenntnis, aus denen das
menschliche Bewußtsein, gleichsam zu ewiger Haft in ihnen ver
urteilt,15 prinzipiell nicht solle hinaustreten können. Hegels
r Kritik am Kantischen Dualismus von Form und Inhalt hat das
Dogmatische an dieser Kantischen Konzeption aufgewiesen. »Die
Formen«, so folgert Adorno, »sind nicht jenes Letzte, als das
Kant sie beschrieb. Vermöge der Reziprozität zwischen ihnen und
r
12 A.a.O., S. 378.
13 A.a.O., S.385.
14 A.a.O., S. 384.
15 A.a.O., S. 378.
210
?
dem seienden Inhalt entwickeln sie sich auch ihrerseits. Das ist
jedoch unvereinbar mit der Konzeption des unzerstörbaren
Blocks. Sind die Formen einmal, wie es in Wahrheit bereits der
Auffassung vom Subjekt als ursprünglicher Apperzeption gemäß
wäre, Momente einer Dynamik, so kann ihre positive Gestalt so
wenig für alle künftige Erkenntnis stipuliert werden wie irgend
einer der Inhalte, ohne die sic nicht sind und mit denen sie sich
verändern.«'6 Es ist, als ob mit diesem Gedanken für Adorno
sich ein schmaler Türspalt öffnete, durch welchen ein schwacher
Lichtschein von der Erlösung her auf die verdunkelte Welt fiele,
genug, um Kants metaphysischem Agnostizismus das Recht eines
letzten Worts zu bestreiten. Statt »wir können es nicht wissen«:
»wir wissen es noch nicht«. »Das naive Bewußtsein, dem wohl
auch Goethe zuneigte: man wisse es noch nicht, aber vielleicht
enträtsele es sich doch noch, ist an der metaphysischen Wahrheit
näher als Kants Ignoramus.«17 Zwar hütet Adorno sich auch an
dieser Stelle vor einem »Übergang zur Affirmation«,18 aber der
Stellenwert seiner Überlegung ist dennoch eindeutig: der ge
schichtliche Charakter der Erkenntnisformen dient ihm als Argu
ment dafür, daß eine materialistisch verstandene Hoffnung auf
Erlösung den Einspruch der aufgeklärten Vernunft nicht zu fürch
ten braucht.
Indes macht gerade Adornos Rückgriff auf ein Hegelsches Argu
ment gegen Kant den Punkt sichtbar, an dem er Kant nicht
kritisch über-, sondern vorkritisch «verbietet. Zwar kann der
Hinweis auf die Möglichkeit einer zukünftigen Veränderung un
serer Denk- und Anschauungsformen den Gedanken plausibel
i
machen, daß das aporetische Verhältnis von Notwendigkeit und
Unmöglichkeit der Metaphysik, so wie es sich für Adorno dar ! !
stellt, für die Philosophie nichts Letztes, nicht ihr letztes Wort
sein muß: die Aporie könnte etwa zum Verschwinden kommen,
indem die Philosophie über die Begriffe, Probleme oder Prämis
sen hinauskommt, aus denen die Aporie mit scheinbarer Notwen
digkeit resultierte, oder indem sie die Fragen neu formuliert, die
scheinbar nur aporetische Antworten zuließen. Aber nur um den
Preis philosophischer Naivität könnte man aus dem geschicht-
16 A.a.O., S. 378 f.
17 A.a.O., S. 279.
18 Vgl. a.a.O., S. 378.
21 I
liehen Charakter unserer Denk- und Anschauungsformen schlie
ßen, daß das Absolute als Versöhnung - oder daß die absolute
Versöhnung - eine geschichtliche Wirklichkeit werden könnte.
Wir können nämlich schon jetzt wissen, daß wir das, was wir als
Wirkliches nicht einmal konsistent denken können, auch nicht als
Wirkliches antizipieren können; daher könnte die Auflösung der
Aporie, könnte die Enträtselung des Rätsels gerade das nicht be
deuten, was Adorno als noch-nicht-seiendes Absolutes zu denken
versucht: die Erfüllung einer messianischen Hoffnung durch
Transfiguration der geschichtlichen Wirklichkeit. Würde sich die
Hoffnung auf Erlösung in der Geschichte erfüllen, so wäre, was
sich erfüllt hätte, nicht die Hoffnung auf Erlösung (sondern die
auf ein erfülltes Leben). Wäre dagegen, was sich erfüllte, wirklich
die Hoffnung auf Erlösung, so wäre hierdurch jedenfalls kein
neuer Zustand der Geschichte bezeichnet.
Es zeigt sich hier, daß Adornos Versuch, Marx’ Kritik der Reli
gion durch eine materialistische Aneignung der Theologie zu
überbieten, in einem unheilbaren Widerstreit zwischen materiali
stischen und metaphysischen (sprich: theologischen) Motiven
gefangen bleibt. Im Medium des Begriffs ließe sich dieser Wider
streit nur auflösen durch den Rückgang zu einer vorkritischen
Metaphysik. Aber alles, was Adorno je gedacht hat, ist gegen die
Möglichkeit eines solchen Rückgangs gedacht. Deshalb konnte er
den undenkbaren Gedanken der Versöhnung am Ende nur noch
an die ästhetische Erfahrung überweisen. Da diese aber aus eige
ner Kraft nicht beglaubigen kann, was der philosophischen Kritik
nicht standhält, konnte Adorno andererseits doch nicht auf den
Versuch verzichten, den ästhetisch verschlüsselten Versöhnungs
gedanken auch philosophisch zu entschlüsseln. Negative Dialek
tik und Ästhetische Theorie verweisen aporetisch aufeinander; in
diesem aporetischen Verweisungszusammenhang aber zirkuliert
in Wahrheit ein Stück - nicht kritisch geretteter, sondern - unauf
gearbeiteter Metaphysik, das Adorno weder aufgeben noch offen
einbekennen mochte.
S 212
II.
I
Weltdeutungen. Wäre dies alles, wäre also jede Wahrheit »relativ«
zu einem sprachlichen Bezugssystem, das als solches nicht noch
einmal unter Gesichtspunkten der »Wahrheit« und »Unwahrheit«
beurteilt werden könnte, so gäbe es nur Wahrheiten, aber nicht die
Wahrheit. So leicht aber auch eine solche Schlußfolgerung einem
modernen Relativisten von der Zunge gehen mag, so widersinnig
19 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke, Bd.n (Hg.
1
K. Schlechta), Darmstadt 1960, S. 208.
20 F. Nietzsche, »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«,
in: Werke, Bd.ni, a.a.O., S. 315.
2I3
muß sie erscheinen, wenn man ihre Konsequenzen bedenkt. Sie
besagt ja, daß Wahrheit eine Frage der Perspektive ist, und jede
Perspektive unter Gesichtspunkten der Wahrheit so gut wie jede
andere. Dann aber kommt es »in Wahrheit« auf die Wahrheit nicht
an; die Wahrheit, und mit ihr die Vernunft, wird radikal entwertet.
Die Idee der Wahrheit wäre so etwas wie ein transzendentaler
Schein, nämlich »die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte
Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte«.21 Jeder Ge
danke, auch jeder Gedanke Nietzsches, setzt diese Idee unver
meidlich voraus, da es unmöglich ist, innerhalb eines sprachlichen
Bezugssystems zu denken und zugleich, im Akt des Denkens, den
Gedanken auf dieses sprachliche Bezugssystem zu relativieren.
Gleichwohl wäre es das Denken selbst, das am Ende im Zeichen
der Wahrheit die Idee der Wahrheit bestreiten müßte. Eine solche
Kritik der Wahrheit im Namen der Wahrheit ließe sich zwar nicht
ohne pragmatischen Selbstwiderspruch formulieren; aber dies al
lein wäre noch kein Argument gegen sie, sofern die Kritik wirk
lich eine unhaltbare Voraussetzung in der Idee der Wahrheit
namhaft gemacht hätte. Wäre aber die Kritik richtig, so ließe sich
auch der Verdacht, daß hinter dem Willen zur Wahrheit ein Wille
zur Macht sich verberge, nicht mehr als unsinnig abtun. Nietzsche
besaß Mut, Phantasie und Konsequenz genug, um die Folgepro
bleme seiner Metaphysik-Kritik nicht zu verharmlosen; dies vor
allem unterscheidet ihn von den meisten modernen Relativisten.
Ich habe angedeutet, weshalb Adornos Versuch, mit der Idee der
»Versöhnung« zugleich einen »starken« Wahrheitsbegriff gegen
Nietzsche und den Positivismus zu retten, scheitern mußte. Die
eigentlich interessante Frage ist aber, weshalb Adorno sich zu
dem unmöglichen Versuch genötigt sah, ein marxistisches mit ei
nem theologischen Motiv zusammenzuzwingen, um die Wahrheit
zu retten. Ich glaube, die Antwort auf diese Frage ist, daß Adorno
in seiner Kritik des »identifizierenden Denkens« sich so stark von
Prämissen der Nietzscheschen Begriffskritik abhängig gemacht
hatte, daß er deren Konsequenzen nur durch einen Gewaltstreich
abwehren konnte. Die von Adorno postulierte Solidarität mit Me
taphysik im Augenblick ihres Sturzes22 meint im Grunde Treue
zur Idee der Wahrheit. Aber ist es wirklich so, daß wir der Meta-
2I4
physik nicht entkommen können, solange wir an der Wahrheit
fcsthalten? Und was hieße es genau, diese Frage mit >Ja< zu beant
worten? Zwei Fragen, bei denen wir uns, wie es scheint, mit
Adornos Antworten nicht zufrieden geben können. Ich möchte
deshalb, um diese Fragen ein Stück weiter zu klären, kurz auf die
Fortführung und Neuformulicrung von Adornos (und Nietz
sches) Problematik in der neueren sprachphilosophischen Diskus
sion, und zwar insbesondere bei Apel, Habermas und Derrida
eingehen. Natürlich kann es sich bei den folgenden Verweisen nur
um grobe Stilisierung handeln. Ich hoffe aber zumindest zu einer
Präzisierung der beiden oben gestellten Fragen zu gelangen.
Apel, Habermas und Derrida sind sich einig in der Kritik der
Bewußtseinsphilosophie, der gegenüber sie die Sprachlichkeit der
Vernunft und damit zugleich die sprachliche Konstitution des Be
wußtseins zur Geltung bringen. Sie sind sich ferner einig darin,
daß ein »starker« Wahrheitsbegriff in den Grundstrukturen der
sprachlich verfaßten Vernunft angelegt ist. Während aber Apel
und Habermas diesen Wahrheitsbegriff neu zu explizieren und
hierdurch zugleich aus seiner Verschränkung mit der Tradition der
Metaphysik herauszulösen versuchen, betrachtet Derrida den
Wahrheitsbegriff als einen jener metaphysisch infizierten Grund
begriffe — andere wären etwa »Bedeutung« und »Verstehen« —, die
zwar, weil in die Grammatik unserer Sprachen eingebaut, unaus
weichlich, die aber nichtsdestoweniger illusionär sind. Mich inter
essiert hier vor allem der für unser Problem zentrale bedeutungs
theoretische Aspekt von Derridas Philosophie, den er schon früh,
in Auseinandersetzung mit der Husserlschen Phänomenologie
und der strukturalistischen Sprachtheorie, ausgearbeitet hat. Un
ter bedeutungstheoretischen Gesichtspunkten gibt es einige be ’s
215
Iteration der 7.eichcnvertuendieng. Im Gegensatz zu Wittgenstein
jedoch, der die Paradoxien der intentionalistischen Bedeutungs
theorie auflöste, indem er den Begriff des Bedeutungsverstehens
in terms eines praktischen Regelwissens erläuterte, hält Derrida
am intentionalistischen Standard der »Präsenz« von Bedeutungen
für ein Bewußtsein fest und gelangt, unter Benutzung dieses Stan
dards, zu der Schlußfolgerung, daß die Bedeutung sprachlicher
Ausdrücke niemals einem Bewußtsein präsent sein kann, daß sie
vielmehr »etwas« in der Kette der Iteration unendlich Aufgescho
benes, von Kontext zu Kontext sich Entziehendes, konstitutiv
von sich selbst Verschiedenes, kurz, daß sie nicht dasjenige »Et
was« »ist«, als das sie in der Unterscheidung zwischen Zeichen
und Bedeutung, zwischen Signifikant und Signifikat doch immer
unterstellt werden muß; daß sie also, gemessen an dieser Unter
stellung nicht(s) ist. Auf diese Weise werden die Begriffe der
Bedeutung, des Sinns, des Verstehens, der Interpretation, der
Kommunikation, des Zeichens usw., wird also das gesamte se
mantische und hermeneutische Vokabular - von dem Derrida zu
Recht unterstellt, daß es tief in der reflexiven Struktur unserer
Sprachpraxis verankert ist - als Ort eines »transzendentalen
Scheins« aufgewiesen, in dem Derrida den eigentlichen, den har
ten Kern der Metaphysik sieht. Wieso der Metaphysik? Derridas
Antwort bedeutet gewissermaßen eine Umkehrung der Wittgen-
steinschen Reflexion auf »Bedeutung«, »Sinn« und »Verstehen«.
Derrida meint nämlich, daß in den Begriffen der Bedeutung, des
Sinns, der Entzifferung eines Sinns, des Verstehens usw. die Ideen
eines sich selbst transparenten Bewußtseins, eines vollständig prä
senten Sinns, eines Endes der Entzifferungsarbeit, der Wahrheit
als Unverborgenheit des Seins impliziert sind. Im scheinbar un
i schuldigen Begriff des Zeichens - der hier nur für ein ganzes Feld
von Begriffen steht - sieht die Sprache selbst sich gleichsam immer
schon sub specie acternitatis, träumt von einer Wahrheit, die »dem
Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen« wäre, von einer
Heimkehr aus dem »Exil« der Sprache.23 In der Unterscheidung
zwischen (sinnlichem) Zeichen und (unsinnlicher) Bedeutung ist
I
der Gegensatz zwischen sinnlicher und intelligibler Welt ange-
23 J. Derrida, »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der
Wissenschaften vom Menschen«, in: ders., Die Schrift und die Diffe
renz, Frankfurt 1972, S. 441.
h
2l6
legt24- im Gedanken einer dem Bewußtsein präsenten Bedeu
tung und eines sich selbst in seinen Intentionen transparenten und
»gegenwärtigen« Subjekts ist das Sein als »Präsenz« gedacht.
Hierin aber entwirft sich das Denken als metaphysisches, fixiert
auf die Ideen der Wahrheit, der Begründung, des Sinns, in denen
die Sprache sich selbst auf ein invariantes Sein hin übersteigt.
»Man könnte zeigen«, sagt Derrida, »daß alle Namen für Begrün
dung, Prinzip oder Zentrum immer nur die Invariante einer ■■
Präsenz (eidos, arche, tclos, cnergeia, ousia (Essenz, Existenz,
Substanz, Subjekt), aletheia, Transzendentalität, Bewußtsein, I
Gott, Mensch usw.) bezeichnet haben.«25 Dies aber, so Derrida, !I
bedeutet zugleich, daß in der Grammatik unserer Sprache, insbe
sondere der Sprache der Philosophie, »die metaphysische Einheit
von Mensch und Gott, der Bezug des Menschen auf Gott, der
Entwurf, wie Gott zu werden, als konstituierender Entwurf der
menschlichen Wirklichkeit«26 immer schon vorausgesetzt ist.
I I
Aber diese Voraussetzung, diese in die Sprache eingesenkte
»Onto-Theologie«, ist nichts als der transzendentale Schein, der
von jenen Begriffen erzeugt wird, in denen die Sprache sich selbst
denkt.
Es versteht sich, daß eine Destruktion - oder »Dekonstruktion« -
der Metaphysik unter diesen Bedingungen nur möglich ist, wenn
es dem Denken gelingt, die Metaphysik - und das ist die Sprache
der Philosophie, die Sprache des Denkens - entgegen ihrer eige
nen Schwerkraft in Bewegung zu versetzen. Dies ist der Sinn von
Derridas Anstrengung, »durch den Begriff über den Begriff hin
auszugelangen« — um Derridas Anti-Philosophie in Adornos
Worten zu kennzeichnen. Anders als bei Adorno steht diese An
strengung bei Derrida nicht im Zeichen der Solidarität mit einer
II
stürzenden Metaphysik, sie zielt vielmehr, im Bewußtsein einer
vorerst unvermeidlichen Komplizität mit der Metaphysik, auf de
ren Sturz. Man könnte hier auch von einer Umkehrung der
Vorzeichen sprechen; einer Umkehrung, die eigentlich eine Wie-
<fer-Umkehrung ist, im Sinne einer Rückkehr zu Nietzsche. Und
diese Wiederumkehrung der Vorzeichen hat zumindest intern ge
sehen ihre guten Gründe, denn Adornos Philosophie ließe sich
24 A.a.O., S. 426.
25 A.a.O., S. 424.
26 J. Derrida, »Fines Hominis«, in: ders., Randgange der Philosophie,
Frankfurt/Berlin/Wien 1976, S. 96.
217
sehr wohl als - wenngleich gebrochener - Ausdruck einer meta
physischen Sehnsucht nach »Präsenz« charakterisieren. Aber ist
es denn richtig, daß »Bedeutung«, »Begründung« und »Wahrheit«
metaphysische Begriffe sind? Ich möchte, einem Vorschlag von
Ch. Menke-Eggers27 folgend, in meiner Diskussion dieser Frage
zwischen einem im engeren Sinne bcdcutungstheoretischen und
einem begründungs- (bzw. wahrheits-)theoretischen Aspekt von
Derridas Grundthesen unterscheiden. Der bedeutungstheoreti
sche Aspekt ist vergleichsweise einfach abzuhandeln. Hier er
scheint nämlich Wittgensteins Behandlung des Problems schlicht
als konsequenter und überzeugender. Auch Wittgenstein kritisiert
ja die Grundvorstellungen einer intentionalistischcn Semantik so
wie die Hypostasierung von Bedeutungen zu intelligiblen Gegen
ständen. Zugleich aber löst er den transzendentalen Schein in den
Begriffen der Bedeutung und des Verstehens auf, indem er ihren
nicht-metaphysischen Gebrauch in der Sprache rekonstruiert. Ins
besondere weist Wittgenstein auf das Moment praktischen Wis
sens, des »Sich-auf-etwas-Verstehens« im Verstehen einer Sprache
hin, ohne welches sprachliche Verständigung in einer gemeinsa
men und als gemeinsam unterstellten Sprache nicht denkbar wäre.
Bei Wittgenstein ist die radikale Skepsis, die zur Zersetzung von
Begriffen wie »Bedeutung«, »Meinen« und »Verstehen« führt, im
mer nur ein Durchgangspunkt auf dem Weg zur Auflösung fal
scher mentalistischer Vorstellungen, die sich im philosophischen
Gebrauch dieser Begriffe abgelagert haben. Derrida muß demge
genüber behaupten, daß der falsche mentalistische Maßstab in die
betreffenden Begriffe selbst eingebaut ist; nur so läßt sich die
r These ihres metaphysischen Charakters und als Konsequenz ein
hermeneutischer Anarchismus rechtfertigen, der die Möglichkeit
i des Verstehens und Selbstverstehens radikal in Frage stellt. Aller
dings macht Derrida selbst eine Einschränkung: immer wieder
deutet er nämlich auf die Möglichkeit - und die Notwendigkeit -
hin, die zentralen Begriffe, um die es hier geht, und dazu etwa die
der »Intention« oder des »Subjekts«, aus dem metaphysischen
Verweisungszusammenhang herauszulösen, in dem er sie gefan
gen sieht, sie gleichsam in eine postmetaphysische Grammatik der
Sprache aufzuheben. Nachdem aber Wittgenstein den Idealismus
218
1
des Bcdcutungsbegriffs bereits mit Erfolg philosophisch destru-
iert und damit gezeigt hatte, wie wir die Paradoxien vermeiden
können, von denen Derrida meint, sic seien vorerst unvermeid
lich, sehe ich keinen Grund mehr, weshalb wir uns in diesen
Paradoxien vorläufig einrichten sollten.
Verwickelter werden die Dinge, wenn wir den wahrheitstheoreti j
schen Aspekt von Derridas Metaphysik-Kritik in die Betrachtung
einbeziehen. Man könnte in der Tat argumentieren, daß Derridas
Kritik am impliziten Idealismus des Bedeutungsbegriffs über
haupt erst im Hinblick auf das Wahrheitsproblem virulent wird. I
1
Ich möchte das Problem, um das es hier geht, am Beispiel von
Apels und Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit verdeut
lichen. Wiederum bin ich zu Stilisierungen genötigt; Stilisierun
gen, die eher auf Apels stärkere Version der Konsenstheorie
zutreffen als auf Habermas’ vorsichtig fallibilistische Version.
Die Konsenstheorie der Wahrheit läßt sich verstehen als ein Ver
such, Adornos Intention - die Rettung eines emphatischen, theo
retische und praktische Vernunft umgreifenden Wahrheitsbegriffs
-ohne Rückgriff auf metaphysische Denkfiguren cinzulösen. Ein
solcher Versuch - so stellt sich das Problem zunächst dar - kann
nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, den Wahrheitsbegriff aus der
Immanenz je eingespielter Sprachspiele herauszulösen. Solange
wir Sprachspiele aus der Innenperspektive betrachten, scheint ein
Zusammenhang zwischen Wahrheitsansprüchen und möglichen
Begründungen und daher auch zwischen »Wahrheit« und einem
möglichen »rationalen Konsens« aufgrund der Bedeutung sprach
licher Ausdrücke immer zumindest partiell gesichert zu sein. Ein
sprachspielwAergrei/ezzt/er Wahrheitsbegriff würde demgegenüber
verlangen, daß auch die sprachlichen Bezugssysteme selbst, inner
halb derer jeweils ein Zusammenhang zwischen Wahrheitsansprü
chen und möglichen Begründungen definiert ist, noch einmal mit
Gründen kritisiert und revidiert werden können; daß sie sich also,
wenn auch nicht selbst als »wahr« oder »falsch«, so doch als unter
Gesichtspunkten der Wahrheit mehr oder weniger »angemessen«
beurteilen lassen. Dies setzt voraus, daß auch der Begriff der Ra
tionalität bzw. der einer rationalen Begründung sich sprachspiel
übergreifend verstehen läßt. Die Konsenstheorie der Wahrheit
versucht dementsprechend, einen »absoluten«, d. h. nicht-relativi
stischen Wahrheitsbegriff in terms eines nicht-relativistischen Ra
tionalitätsbegriffes zu explizieren. Demnach wäre ein Konsens
219
rational in einem nicht-relativen Sinne, wenn er unter Bedingun
gen einer idealen Kommunikationsstruktur zustande käme; und
»Wahrheit« wäre der Inhalt eines solchen Konsenses. Habermas
hat die idealen Bedingungen, unter denen ein Konsens »rational«
genannt werden könnte, durch die formalen Strukturen einer
»idealen Sprechsituation« charakterisiert. Apel hat diese Charak
terisierung einer idealen Kommunikationsstruktur aufgenommen
und in seinen Begriff einer »idealen Kommunikationsgemein
schaft« eingetragen. Es ist dieser Begriff, der mich hier interes
siert; ich glaube nämlich, daß in ihm die Konsenstheorie der
Wahrheit ihren konsequentesten Ausdruck gefunden hat.
Apel hatte ursprünglich in Anknüpfung an Ch. S. Peirce den
Begriff einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft als
»höchsten Punkt« einer sprachpragmatisch reformulierten Tran
szendentalphilosophie eingeführt, d. h. als »intersubjektives Ana
logon zu Kants transzendentaler Einheit des Bewußtseins««.28
In der sprachpragmatisch transformierten Transzendcntalphiloso-
phie übernimmt der Wahrheitsbegriff gewissermaßen die Leit
funktion; Wahrheit wird von Apel als die »ukimate opinion«
einer unbegrenzten Verständigungsgemeinschaft expliziert. Nun
konnte aber bei Peirce die »ultimate opinion« nur deshalb die
»wahre« heißen, weil ihre rationale Genese durch die Logik des
Forschungsprozesses gesichert war. Eine Verallgemeinerung des
Peirceschen Ansatzes auf praktische und auf Interpretations-
Wahrheit, wie sie Apel vorschwebte, konnte deshalb nur gelingen,
wenn die Rationalität der »ultimate opinion« auf andere Weise
gesichert wurde. Dies ist der Grund, weshalb die ideale - im Sinne
r einer unbegrenzten - Kommunikationsgemeinschaft zugleich als
ideal im Sinne einer idealen Kommunikationsstr«^t«r gedacht
werden mußte. Es liegt also in der Konsequenz von Apels Ansatz,
daß Bestimmungen in den Wahrheitsbegriff einwandern, die bei
Kant nur in der praktischen Philosophie vorkommen. Folgerich
tig nimmt das »regulative Prinzip« der Realisierung einer idealen
Kommunikationsgemeinschaft zugleich Züge eines konstitutiven
Prinzips an: in jedem Geltungsanspruch und in jedem Argument
muß die Möglichkeit der Realisierung einer idealen Kommunika-
28 K. O. Apel, »Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der
Transzendentalen Logik«, in: ders., Transformation der Philosophie,
Bd.11, Frankfurt 1973, S. 164. Vgl. zum folgenden auch »Szientismus
oder transzendentale Hermeneutik« im selben Band.
220
1
i
tionsgcmcinschaft unterstellt werden. Zugleich erweist sich nun
aber die Explikation von »Wahrheit« als der »ultimate opinion«
einer idealen Kommunikationsgemeinschaft genau als die Lösung
des Problems, das ich oben formuliert hatte; denn in dieser Expli
kation ist die Angemessenheit des sprachlichen Bezugssystems
durch die Idealität der Kommunikationsstruktur garantiert, wäh
rend zugleich aus beiden Bestimmungen zusammengenommen
die Stabilität, d.h. die Endgültigkeit des Konsenses sich ergibt. i
Wenn aber die Idee einer »letzten« Sprache mit der einer idealen
Kommunikationsstruktur im Begriff der idealen Kommunika
tionsgemeinschaft zusammengedacht werden muß, so folgt, daß
dieser Begriff nicht nur ideale Bedingungen der Verständigung,
sondern zugleich eine Situation idealen Verständigtseins bezeich
net. Was als Situation idealer Verständigung gemeint ist, enthüllt
sich als Situation jenseits der Notwendigkeit sprachlicher Verstän
[
digung. Im Grenzwert der idealen Kommunikationsgemeinschaft
ist somit die konstitutive Pluralität der Zeichenbenutzer aufgeho
ben zugunsten der Singularität eines in allen Richtungen mit sich
verständigten (kollektiven) transzendentalen Subjekts, das als ge
wordenes gleichsam in der Wahrheit ist. Die letzte, die ideale
Sprache wäre eine Sprache jenseits der Sprache, eine Sprache
»jenseits des Spiels und der Ordnung des Zeichens«. Innerhalb
der sprachpragmatisch reformulierten Transzendentalphilosophie
reproduziert sich somit noch einmal das Problem der Kantischcn
Grenzbegriffe der praktischen Vernunft: im Grenzwert ihrer Rea
lisierung bedeutet die ideale Kommunikationsgemeinschaft die
Negation einer sprachlich verkörperten Vernunft; das Telos der
sprachlichen Kommunikation wäre ihr Ende.29
Im Wahrheitsbegriff scheint folglich die Metaphysik noch im
Augenblick ihres Sturzes zu triumphieren; Nietzsche und Der-
rida behielten recht, und in einem anderen Sinne auch Adorno.
Diese Schlußfolgerung wäre allerdings nur dann berechtigt, wenn
sich herausstcllen sollte, daß jede Explikation des Wahrheitsbe
griffs auf Probleme stoßen müßte, die denen der Konsenstheorie
analog sind. Ich glaube indes nicht, daß letzteres der Fall ist. Ich
glaube vielmehr, daß der Gegensatz zwischen Relativismus und
29 Diese Kritik habe ich ausführlicher formuliert in: Ethik und Dialog.
Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik,
Frankfurt 1986, Abschn.vin (S. 81 ff.).
221
i.
Fundamentalismus (im Hinblick auf das Wahrheits- und Bcgrün-
dungsproblem) oder zwischen hermeneutischem Anarchismus
und metaphysischem Objektivismus (im Hinblick auf das Pro
blem des Sinnverstehens) selbst nur unter Prämissen einer »onto-
theologischen« Denktradition Sinn macht, in der freilich auch der
Empirismus noch gefangen bleibt. Diese These kann ich hier nicht
I? mehr begründen?0 Anstelle einer Begründung möchte ich je
doch abschließend einige - eher negative - Hinweise geben und in
i. diesem Zusammenhang noch einmal auf Derrida zurückkommen.
Die Konsenstheorie der Wahrheit schien ja Derridas Verdacht zu
bestätigen, daß »Wahrheit« und »Begründung« - und daher auch
»Vernunft« - metaphysische Begriffe sind. Was sich jedoch in
Wirklichkeit gezeigt hat, ist, daß es ein philosophisches Verständ
nis dieser Begriffe gibt - wir mögen es »metaphysisch« nennen -,
das mit einem zugleich idealistischen und objektivistischen Be-
deutungs- und Sinnbegriff im Sinne von Derrida zusammenhängt.
Ich glaube, dieser Zusammenhang ließe sich unschwer an einer
ganzen Reihe von Grundbegriffen und Problemformulierungen
nachweisen, die in der Diskussion über das Wahrheits- und Ratio
nalitätsproblem immer wieder eine bestimmende Rolle gespielt
haben. Einer dieser Grundbegriffe ist der eines in Hinsicht auf
Bedeutungs- und Begründungszusammenhänge in sich geschlos
senen sprachlichen Bezugssystems - eines Paradigmas, eines
Sprachspicls, eines »Jargons« im Sinne von Rorty —, an dessen
i' Grenze die Wahrheitskriterien und Begründungsregeln, die es in
tern konstituieren, unanwendbar werden, so daß also »Wahrheit«
I
und »Rationalität« jeweils nur innerhalb eines sprachlichen Be
zugssystems definiert sind. Wenn man eine solche Problemformu
lierung akzeptiert, kann man entweder relativistische Konsequen
zen ziehen - wie etwa Kuhn oder Rorty, der sich nicht zufällig,
obschon nicht ganz zu Recht, auf Derrida beruft-, oder man muß
nach einem »Grund« - oder einem Fixpunkt - jenseits der Parti-
kularität der Sprachspiele suchen, von dem her die jeweils parti
kularen Wahrheiten und Rationalitäten sich als Manifestationen -
i
I
oder als Abirrungen von - der einen Wahrheit und der einen Ver
nunft verstehen lassen. Letzteres wäre die »fundamentalistische«
222
Lösung, für die Apcl ein besonders eindrucksvolles Beispiel gibt.
Indes halte ich die Prämissen, in denen beide Seiten der Alterna
tive übereinstimmen, für falsch. Daß die Idee eines in sich ge
schlossenen Sprachspiels ein Mythos ist, könnte man auch von
Derrida lernen. Während ich aber die Annahme für plausibel
halte, daß die Metaphysik in solchen Mythen überdauert, sehe ich
keinen Grund, weshalb wir uns philosophisch mit ihnen abfinden
sollten. Ich will nicht bestreiten, daß solche Mythen in der gegen
wärtigen Wissenschaftskuitur tief verankert sein mögen; dies wäre
freilich ein Grund, empirisch mit ihrer Persistenz zu rechnen. Was
ich bestreite, ist, daß wir gar nicht gegen sie andenken können,
ohne ihnen schon zu verfallen - es sei denn, wir verließen das
Medium diskursiver Rede, hörten also auf zu denken. Es sind
gerade Alternativen wie die zuletzt formulierte, in denen sich das
philosophische Denken heute verknotet - und über die es hinaus
zukommen gälte. Über sie hinauszukommen hieße, nicht nur den
Begriff der Bedeutung, sondern auch die Begriffe der Wahrheit,
der Begründung, der Rationalität aus der metaphysischen Um
klammerung herauszulösen, die uns nur die Wahl zwischen Fun
damentalismus und Relativismus, zwischen Rationalismus und
Irrationalismus, zwischen Letztbegründung und keiner Begrün
dung läßt. Genau hierauf zielen übrigens auch, wie sich leicht
zeigen ließe, zentrale Impulse von Adornos und Habermas’ Phi
losophie. Sie zu verteidigen hieße, eine Idee vom Ende der Meta
physik zu verteidigen, die nicht den Abschied von Vernunft und
Moderne meint, sondern deren kritische Selbstbejahung. Viel
H
leicht ist es dies, was Solidarität mit Metaphysik im Augenblick
ihres Sturzes genannt werden dürfte.
223
8. Die Bedeutung
der Frankfurter Schule heute
Fünf Thesen
1. Leo Löwen thal hat sich gelegentlich über den Ausdruck »Frank
furter Schule« lustig gemacht. Dieser Ausdruck hat, wenn man ihn
auf den Arbeits- und Diskussionszusammenhang des Frankfurter
Instituts für Sozialforschung bezieht und auf das, was direkt oder
indirekt aus diesem Institut hervorgegangen ist, in der Tat weniger
Berechtigung als etwa der Ausdruck »zweite Wiener Schule« zur
Bezeichnung des Schönberg-Kreises. Schönberg war nicht nur die
allseits anerkannte Autorität seines Kreises, sondern auch der Leh
rer der jüngeren Mitglieder des Kreises, das »Schulhaupt« seines
Kreises. Max Horkheimer dagegen, so sehr er auch in vieler Hin
sicht Autorität unter den Mitgliedern des Instituts für Sozialfor
schung besaß, war kein Schulhaupt. Die »Frankfurter Schule« war
keine Schule, sondern ein kollektives und kooperatives Projekt;
das Projekt einer Erneuerung und Entwicklung einer kritischen
Gesellschaftstheorie. Erst nach dem Krieg, das heißt nach der
Rückkehr Horkheimers und Adornos aus dem amerikanischen
Exil, also nach der Rückkehr des Instituts für Sozialforschung nach
Frankfurt, entstand, und zwar vor allem aufgrund der Lehrtätig
keit von Horkheimer und Adorno, eine Frankfurter Schule. Deren
Schulhäupter waren Horkheimer und Adorno. Daß Horkheimer
und Adorno nach Frankfurt zurückkehrten, war, wie Jürgen Ha
bermas bemerkt hat, ein außerordentlicher Glücksfall für das nicht
nur materiell, sondern auch moralisch und intellektuell verwüstete
Nachkriegsdeutschland. Insbesondere Adorno wurde zum Lehrer
einer Generation von Intellektuellen, Literaten und Künstlern, die
bei ihm - bei wem sonst? - »zur Schule gingen«. Der Ausdruck
I Institut für Sozialforschung; er paßt nicht auf das Werk von ehe
maligen Mitgliedern dieses Kreises wie Leo Löwenthal, Herbert
Marcuse oder gar Walter Benjamin. Löwenthal hat deshalb recht,
wenn er sich dagegen verwahrt, das Wort »Frankfurter Schule«
I synonym mit »Kritischer Theorie« zu verwenden.
!
2. Trotz dieser einschränkenden Vorbemerkung möchte ich das
224
>
Thema dieser Podiumsdiskussion zunächst so aufnehmen, wie es
formuliert wurde; also nicht: »Die Bedeutung der Kritischen ■
p
Schule aus heutiger Sicht«. Dies wäre ein hochinteressantes
Thema für eine geistes- und kulturgeschichtlich orientierte Dis
kussion über die Anfangsphase der Bundesrepublik bis hin zur
Studentenbewegung der sechziger Jahre. Zu untersuchen wären
nicht nur die Bedeutung von Horkheimer und Adorno für das
Selbstverständnis der Studentenbewegung und für das Wiederauf
leben eines »westlichen« Marxismus in Deutschland, sondern
auch die kaum zu überschätzende Bedeutung Adornos für die
Diskussionen und das Selbstverständnis der musikalischen, litera
rischen und künstlerischen Avantgarde Nachkriegsdeutschlands.
I I
225
Bedeutung der Frankfurter Schule aus heutiger Sicht sprechen.
Ich denke aber, daß die Veranstalter dieser Diskussion ein anderes
Thema im Sinn hatten, nämlich: die Bedeutung der Frankfurter
Schule für die Gegenwart. Dieses Thema aber bedeutet soviel wie
die Frage: Wie steht es denn nun mit der Kritischen Theorie
heute') Und diese Frage läßt sich nicht mehr aus historischer Di
stanz, sondern nur noch von innen, aus der Sache heraus beant
worten. Allerdings wäre schon der Versuch, diese Frage im
Rahmen eines kurzen Diskussionsbeitrags wirklich zu beantwor
ten, mehr als vermessen. Ich werde mich daher auf einige Stich
worte und thesenhaft zugespitzte Behauptungen beschränken.
3. Es war nicht zuletzt die Zugehörigkeit der Kritischen Theorie
zur marxistischen Tradition, die es Horkheimer und Adorno
möglich machten, nach und trotz Auschwitz nicht nur ihre aka
demische Tätigkeit in Frankfurt wieder aufzunehmen, sondern
auch sich vergleichsweise unbefangen einem deutschen Publikum
und deutschen Studenten wieder zuzuwenden. Vielleicht ist das
Wort »unbefangen« irreführend; ich will sagen, daß der Faschis
mus für Horkheimer und Adorno in erster Linie eine in allen
kapitalistischen Gesellschaften latent vorhandene Möglichkeit
und erst in zweiter Linie eine spezifisch deutsche Verirrung be
zeichnete. Wie immer man eine solche Auffassung beurteilt, man
wird zugeben müssen, daß sie eine psychologisch wichtige Vor
aussetzung für die Möglichkeit einer Frankfurter Schule im nach
faschistischen Deutschland darstellte: sie eröffnete die Möglich
226
tenc theoretische Position, die einen radikalen Bruch mit dem
Faschismus ohne einen ebenso radikalen Bruch mit der deutschen
kulturellen Tradition, und das heißt einen radikalen Bruch mit der
eigenen kulturellen Identität, dcnk-möglich machte. Ich glaube,
daß die ungeheure, eben nicht nur destruktiv-kritische, sondern
vor allem befreiende Wirkung Adornos und Horkhcimcrs nicht
zuletzt aus dieser einzigartigen Konstellation zu erklären ist. Es
L
i
war vor allem Adorno, der in seiner überaus reichen Produktion
nach dem Kriege den Schutt wegräumte, unter dem die deutsche
Kultur verborgen lag, und der sie wieder sichtbar werden ließ. Er
d
tat dies als ein Mann der städtischen Zivilisation, der gegen die
Versuchungen des Archaischen gefeit war und doch den romanti
schen Impuls in sich bewahrte; dem der Universalismus der
Moderne selbstverständlich war und der doch die Spuren der Ver
stümmelung in den existierenden Formen des Humanismus nicht
übersah: seltener Fall eines Philosophen, der zugleich ganz der
Moderne angehörte und der deutschen Tradition. Ähnliches gilt
für Horkheimer und die übrigen Mitarbeiter des alten Instituts für
Sozialforschung. Wenn ich hier vor allem über Adorno spreche,
dann deshalb, weil dessen Wirkung in Deutschland nach dem
Kriege auch diejenige Horkheimers überstrahlt hat.
Gleichwohl gibt es gute Gründe dafür, daß sich die Kritische
Theorie über Adornos Positionen hinausbewegt und in mancher
Hinsicht auch wieder zu dem ursprünglichen kooperativen und
interdisziplinären Projekt des alten Instituts für Sozialforschung
zurückbewegt hat. Es ist heute fast schon ein Gemeinplatz, wenn
man sagt, daß die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und
Adorno, die gleichsam zum lange Zeit verborgenen Ursprungsdo
kument der späteren Frankfurter Schule wurde, die Abwendung
der Autoren von einer in marxistischem Geiste und in praktisch
revolutionärer Absicht vorangetriebenen Gesellschaftsthorie be
deutet. Die Dialektik der Aufklärung ist die Theorie einer endgül
tig verfinsterten Moderne; aus deren Teufelskreis scheint es
keinen Ausweg mehr zu geben: Faschismus, Stalinismus und ka
pitalistische Massenkultur erscheinen als nur noch in gradueller
Hinsicht verschiedenartige Ausprägungen desselben universellen
Verblendungszusammenhangs. Eine These dieser Art liegt auch
dem Spätwerk Adornos, wenngleich in vielfach und dialektisch
gebrochener Form zugrunde. Man könnte geradezu Adornos phi
losophisches Spätwerk bis hin zur Negativen Dialektik als die
2Z7
Ausarbeitung der Grundthesen der Dialektik der Aufklärung ver
stehen. Zwar soll dies nicht heißen, daß sich Adornos Philosophie
auf diese Grundthesen, gleichsam ihre eigene Ä/eMphilosophie,
reduzieren ließe; es verhält sich vielmehr so, daß die geschichts
philosophische Grundthese wie eine Art von Lichttrübung in
allen Analysen Adornos wiederkehrt. Aber während Adorno
glaubte, es sei die tatsächliche Geschichte, die alle Dinge in ein
trübes Licht taucht, bemerkte er nicht, daß die Trübung des Lichts
schon durch die Optik bewirkt wurde, durch welche er die Dinge
betrachtete: Die These vom Verblendungszusammenhang der mo
dernen Welt ist zwar in vieler Hinsicht aus den konkreten ge
schichtlichen Phänomenen herausgelescn, sie ist aber - und darin
liegt ihre philosophische Schwäche - bei Adorno zugleich in einer
Theorie des Begriffs begründet, durch deren Optik sie als a priori
wahr erscheint. A priori deshalb, weil aus der Sicht Adornos das
Andere dieses Vcrblendungszusammenhangs das Andere der dis
kursiven Rationalität sein müßte, und daher das Andere der
Geschichte: Nur von einem messianischen Fluchtpunkt her läßt
sich die Analyse der wirklichen Vernunft noch als Kritik der fal
schen verstehen. »Erkenntnis hat kein Licht, als das von der
Erlösung her auf die Welt scheint« heißt es entsprechend im
Schlußaphorismus der Minima Moralia.
Alle produktiven Anknüpfungen an Adornos Sprachphilosophie,
Ästhetik oder Soziologie, und das heißt soviel wie: alle produkti
ven Versuche einer Fortführung der Frankfurter Schule oder auch
einer Rückbesinnung auf das ursprüngliche, stärker mit dem Na
men Horkheimer verknüpfte Projekt des Instituts für Sozialfor
schung haben, wenn ich es richtig sehe, eines gemeinsam: nämlich
229
Eröffnung eines geschichtlichen Möglichkeitshorizonts. Aus die
sem Grunde — und aus vielen anderen Gründen - ist eine Diskus
sion über »die Bedeutung der Frankfurter Schule heute« unmög
lich, ohne daß sie zugleich - explizit oder implizit - zu einer
Diskussion über die Theorie von Jürgen Habermas wird.
Habermas hat Grundmotive dreier Theoretiker, die für die Kriti
sche Theorie immer eine zentrale Rolle gespielt haben, innerhalb
der Kritischen Theorie in neuer Weise zur Geltung gebracht: Ich
denke an den moralphilosophischcn Universalismus Kants, den
gesellschaftstheoretischen Realismus Hegels und den postmeta
physischen Empirismus Max Webers. In allen drei Fällen hat
Habermas gleichsam den Schnitt neu zu legen versucht, der die
aufklärerischen Elemente der jeweiligen Theorien von jenen Ele
menten trennt, in denen die Aufklärung sistiert wird. Habermas
hat Kants Universalismus in einer kommunikativen Ethik aufge
hoben, ohne hinter Adornos - nicht zuletzt gegen Kant gerichtete
- Kritik des Identitätszwanges zurückzufallen; er hat Hegels ge
sellschaftstheoretischen Realismus in einer Theorie kategorialer,
kultureller und systemischer Differenzierungsprozesse aufgeho
ben, ohne hinter die marxistische Kritik Hegels zurückzufallen;
und er hat Elemente eines geschichtsphilosophischen Empirismus
im Sinne Webers gegenüber der in der Tradition der Kritischen
Theorie tiefverwurzelten Tendenz zu einer totalisiercnden Ge
schichtsbetrachtung in die kritische Gesellschaftstheorie einge
bracht, ohne hinter die Kritik der Frankfurter Theoretiker am
restriktiven Rationalitätsbegriff Webers zurückzufallen. Reli
gionsgeschichtlich gesprochen hat Habermas ein Stück protestan
tischer Aufklärung für die Kritische Theorie gerettet und hier
durch zugleich die Kritische Theorie für die protestantische
Aufklärung: ich meine für jene Traditionen einer demokratischen
und postmetaphysischen Rechts- und Wissenschaftskultur, die
) nur aus einer messianischen Perspektive unter den Begriff der Ver
dinglichung sich subsumieren lassen.
5. Es ist unmöglich, an dieser Stelle eine ernsthafte Auseinander
setzung mit dem Werk von Habermas zu beginnen. Ich möchte
statt dessen eine Hinsicht andeuten, in der mir die Aktualität
Adornos ungebrochen zu sein scheint. Wenn ich unter den Vertre
tern der älteren Kritischen Theorie wieder Adorno heraushebe,
dann deshalb, weil ich bei Adorno deutlicher als bei anderen Vcr-
tetern der Kritischen Theorie Denkimpulse entdecke, die sich in
230
einer sprachpragmatisch aufgeklärten Form der Kritischen Theo
rie nicht ohne weiteres aufheben lassen. Ich spreche nicht von
Adornos ästhetischen und kultursoziologischen Einzelanalysen,
die sich durch meta-philosophische Erkenntnisfortschritte ohne
hin nicht überflüssig machen lassen: es sind Texte, die, literari
schen Kunstwerken ähnlich, immer wieder neu gelesen und
entziffert werden wollen, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß
natürlich die philosophische Kritik auch vor ihnen nicht haltma-
chen darf. Das Aufregende an diesen Texten liegt ja nicht in ihren
philosophischen Prämissen, sondern in der Art und Weise, wie sie
über diese Prämissen hinausgehen und konkrete - musikalische,
literarische, kulturelle - Phänomene und Konstellationen auf
schließen; es liegt in Adornos mikrologischem Verfahren, das
durch die metaphilosophischen Prämissen weniger begründet als
vielmehr gelegentlich gehemmt wird. Oder um es vorsichtiger
auszudrücken: Adornos Verfahren einer in die Sache cindringen-
den statt über sie hinweggleitcnden Analyse ist sicherlich in seinen
philosophischen Prämissen begründet; aber es ist gewissermaßen
zu gut begründet: In Adornos philosophischen Prämissen, in sei
ner Theorie des identifizierenden Begriffs, steckt ein Rest genau
jenes Identitätszwanges, den er an der philosophischen Tradition
kritisiert. Der eigentümliche Zug des ncgativistisch »Vorentschie
denen« in Adornos Analysen widerspricht der Pointe seines eige
nen Verfahrens; diese Pointe ist, die Phänomene zum Sprechen zu
bringen, ohne sic mit Begriffen zuzudecken. Wenn es aber einen
solchen Widerspruch bei Adorno gibt, dann wäre seine Philoso
phie erst noch gegen seine eigene Metaphilosophie zu retten; und
mit »Philosophie« meine ich jetzt nicht etwa seine Einzelanalysen
im Gegensatz zu dem, was man heutzutage ein philosophisches
»Bezugssystem« nennt, ich meine vielmehr das an Adornos Phi
losophie, was in seiner expliziten Theorie des Begriffs nur unzu
länglich und gleichsam dogmatisch erstarrt zum Ausdruck
kommt. Vielleicht könnte man von einer impliziten Sprachphilo
sophie oder Rationalitätstheorie Adornos reden; aber welchen
Titel man immer auch wählen wird, ich habe Zweifel, ob diese
implizite Philosophie Adornos durch die sprachpragmatische Re-
formulierung der Kritischen Theorie bereits eingeholt ist.
Adorno hat mit dem Ausdruck »Negative Dialektik« nicht zuletzt
eine Form des Philosophierens gemeint, das seine Kohärenz nicht
von oben, aus der Logik des Bezugssystems, sondern gleichsam
^31
von unten, aus der Logik des in die Sache vertieften Gedankens
gewinnt. In einer Anspielung auf Schönbergs Kritik der traditio
nellen Musiktheorie sagt er einmal: »Analog hätte Philosophie
nicht sich auf Kategorien zu bringen sondern in gewissem Sinn
erst zu komponieren. Sic muß in ihrem Fortgang unablässig sich
erneuern, aus der eigenen Kraft ebenso wie aus der Reibung mit
dem, woran sie sich mißt; was in ihr sich zuträgt, entscheidet,
nicht These oder Position; das Gewebe, nicht der deduktive oder
induktive, eingleisige Gedankengang. Daher ist Philosophie we
sentlich nicht referierbar. Sonst wäre sie überflüssig; daß sie meist
sich referieren läßt, spricht gegen sie.«2 An anderer Stelle ge
braucht Adorno eine Formulierung, die zwar nicht von Wittgen
stein sein könnte, die aber dessen eigenes philosophisches Verfah
ren recht gut beschreibt. Es heißt dort: »Das traditionelle Denken
und die Gewohnheiten des gesunden Menschenverstandes, die es
hinterließ, nachdem es philosophisch verging, fordern ein Bezugs
system, ein frame of reference, in dem alles seine Stelle findet.
Nicht einmal allzuviel Wert wird auf die Einsichtigkeit des Be
zugssystems gelegt - es darf sogar in dogmatischen Axiomen
niedergelegt werden -, wofern nur jede Überlegung lokalisierbar
wird und der ungedeckte Gedanke ferngehalten. Demgegenüber
wirft Erkenntnis, damit sie fruchte, ä fond perdu sich weg an die
Gegenstände. Der Schwindel, den das erregt, ist ein index veri; der
232
il
Wirklichkeit: die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen
untereinander. Habermas hat diese Grundidee Adornos im Be
griff einer herrschaftsfreien Kommunikation aufgenommen und
sprachphilosophisch auscinandergefaltet. Die kommunikations
theoretische Umformulierung von Adornos Grundidee bedeutet
ihre Herauslösung aus dem Zusammenhang von Negativismus
und Messianismus, den ich oben kritisiert habe. Zugleich scheint
mir aber, daß die kommunikationstheorctische Umformulierung
einen wichtigen Aspekt von Adornos Grundidee nicht erfaßt; und
zwar jenen Aspekt, bei dem es nicht um zwanglose Kommunika
tion, sondern um zwanglose Synthesis, nicht um die Anerkennung
des Nicht-Identischen am Anderen, sondern um die Anerken ?
nung des Nicht-Identischen im Begreifen der Wirklichkeit und im
Selbstverständnis der Subjekte geht. Gewiß, Adorno hat die Sache
so konstruiert, als ginge es um die Herstellung eines kommunika
tiven Verhältnisses zur Wirklichkeit im Ganzen. Habermas hat
demgegenüber zu Recht das Kommunikationsmodell als ein Mo
dell der Beziehungen zwischen Menschen, das heißt zwischen den
Sprechern einer Sprache, entziffert. In Wirklichkeit geht es aber
bei dem, was Adorno mit »Negativer Dialektik« meint, gar nicht
um Strukturen der Kommunikation, sondern vor allem um die
Form der Synthesen, an denen Kommunikation sich jeweils neu
entzünden kann; und hierin geht es zugleich um die Logik einer
»nicht-verdinglichcnden« Argumentation. Wenn Adorno über
das ästhetische Moment in der Philosophie spricht oder über das
I
Moment der Darstellung, das »ihrer Idee immanent«5 sei, so
geht es ihm nicht um das Ob des philosophischen Argumentie
rens, sondern um das Wie, das heißt um die spezifische Logik
eines philosophischen Gedankenzusammenhanges, um den Cha
rakter der philosophischen Sprache und damit letztlich um einen
Aspekt von Sprache und Rationalität, der sich kommunikations
theoretisch deshalb nicht fassen läßt, weil er in jeder Kommuni
kation a tergo wirksam ist: er läßt sich nur durch eine Reflexion
auf das Was des zu Kommunizierenden erschließen. Ich möchte
nicht mißverstanden werden: Ich behaupte natürlich nicht, daß es
hier etwas gibt, über das nicht argumentiert werden kann; ich
behaupte nur, daß die Überlegungen, die Adorno zur Sprache der t
Philosophie anstellt, etwas mit der Frage zu tun haben, was denn i
5 Ebd., S. 29.
233
eine rationale Argumentation genannt werden darf. Habermas’
Konsenstheorie der Wahrheit ist ein Versuch, auch diese Frage
noch kommunikationstheoretisch zu lösen. Mich überzeugt diese
Lösung nicht. Wenn aber eine konsens- oder diskurstheoretische
Antwort auf die Fragen, die Adorno stellte, unmöglich wäre,
dann wäre immerhin denkbar, daß Adornos Philosophie noch un
gehobene Schätze enthält: nämlich Beiträge zu einer Sprach- und
Rationalitätstheorie, die sich als notwendiges Komplement einer
kommunikationstheoretischen Sprach- und Rationalitätstheorie
verstehen ließe. Habermas behielte freilich recht gegen Adorno,
wenn er den von Adorno kritisierten Identitätszwang nicht als
Ausdruck diskursiver Rationalität, sondern als Mangel an diskur
siver Rationalität deutet; Adorno aber behielte recht gegen Ha
bermas, wenn er an dem, was wir mit Habermas getrost
»diskursive Rationalität« nennen wollen, ein kommunikations
theoretisch nicht faßbares Moment namhaft zu machen versucht.
Dies Moment ist zwar, wenn wir nicht auf einen rationalistischen
Sprachbegriff zurückfallen wollen, nicht außerhalb der Kommu
nikation; ich vermute aber, daß es sich — und das ist etwas ganz
anderes - mit Kategorien der Kommunikation nicht fassen läßt.
Mein Interesse an diesem Moment diskursiver Rationalität rührt
von meinem Interesse an dem her, was der Sprach- und System
kritik Adornos und Wittgensteins, und vielleicht auch derjenigen
Heideggers, gemeinsam ist - gewissermaßen einem gemeinsamen
Fluchtpunkt der Metaphysik-Kritik Adornos, Wittgensteins und
Heideggers. Ich möchte diese Kritiken der Metaphysik verstehen
als das Bewußtsein einer bodenlosen und doch nicht hilflosen Ver
I nunft; einer Vernunft ohne letztes Fundament und ohne die
Aussicht auf endgültige Versöhnung, und doch genau darin auch
einer Vernunft, die dem, was Adorno »Identitätszwang« nannte,
entronnen wäre. Adorno hat die Vernunft am Ende nur versöh
nungsphilosophisch denken können. Ich glaube aber, cs kommt
nicht nur darauf an, die Idee der Versöhnung gleichsam kommu
nikationstheoretisch zu verweltlichen, wie Habermas dies getan
hat; es käme vielmehr auch noch darauf an, gerade jene Züge von
Adornos Rationalitätsbegriff herauszuarbeiten, in denen es weder
um instrumentelle noch um kommunikative Rationalität geht,
sondern, traditionell gesprochen, um die Dialektik von Besonde
rem und Allgemeinem als Problem der Erkenntnis- und Sprach
kritik. Wenn Adorno gelegentlich von »gewaltloser Synthesis«
234
H
spricht, so meint er nicht - oder doch nicht nur - die Gewaltlo
sigkeit einer Kommunikation, die gleichsam jederzeit zum ratio
nalen Diskurs hin offen ist; er meint vielmehr Bedingungen der
Möglichkeit einer kommunikativen Rationalität, die das Verhält
nis zwischen Sprache und Wirklichkeit betreffen und nicht -
primär - das Verhältnis zwischen Sprecher und Sprecher; die die
nichtkommunikativen Aspekte der Konstitution kommunizierba
rer sprachlicher Bedeutungszusammenhänge betreffen und nicht
- primär - den Umgang der Sprecher mit dem jeweils Kommuni
zierten. Vielleicht läßt sich an diesem Punkte auch Adornos
Beharren auf einem Subjekt-Objekt-Modcll der Erkenntnis noch
rechtfertigen. Vielleicht, so meine ich, sind in Adornos Gebrauch
dieses Modells Elemente eines Rationalitätsbegriffs verborgen,
der nicht Versöhnung meint, sondern die Möglichkeit, Vernunft
auch ohne die Hoffnung auf eine letzte Versöhnung zu denken.
'I
235
1
ui.
Zeit-Bilder
[
I
9. Ludwig Wittgenstein -
Uber die Schwierigkeiten einer Rezeption seiner
Philosophie und ihre Stellung
zur Philosophie Adornos
240
dings sogar ein dokumentarischer Roman.1 Durch diese Veröf
fentlichungen hat sich die Faszination, die die Person Wittgen
steins einmal auf einen kleinen Kreis von Freunden und Schülern
in Cambridge ausgeübt hat, posthum über alle Kontinente ver
breitet. An dieser Faszination ist sicherlich sehr viel Unphiloso
phisches; in diesem Frühjahr hatte man zuweilen den Eindruck,
daß die Jahrgangs- und Schulgenossen Wittgenstein und Hitler im
Feuilleton wie Engel und Teufel miteinander konkurrierten. (Mit
Trauer sei hinzugefügt, daß Hitler Deutschland und Wittgenstein
England brauchte, um sich ganz zu entfalten.)
Aber auch wenn die direkt philosophische und die biographisch-
ästhetische Wirkung Wittgensteins oft kaum etwas miteinander zu
tun haben, auch wenn der Wittgenstein-Kult häufig an die Stelle
einer philosophischen Rezeption tritt, bleibt doch die Tatsache hl
bestehen, daß die biographisch-ästhetische Wirkung Wittgen
steins auf vielfache Weise zusammenhängt mit seiner Art zu
philosophieren, mit dem Typus einer philosophischen Existenz,
den er verkörperte, und daher letztlich auch mit dem Gehalt sei
ner Philosophie. Wenn man den gewaltigen Abstand zwischen
dem frühen Wittgenstein und dem logischen Empirismus des
Wiener Kreises oder zwischen dem späten Wittgenstein und ei
nem Großteil der Ordinary-langiiage-Philosophic erklären will,
muß man auf jene radikalen, asketischen, mystischen und exzen
trischen Züge seines Habitus verweisen, die zu seinem Denken
ebenso gehören wie zu seiner Person. Wittgenstein selbst war
wohl der Ansicht, daß niemand seine Philosophie verstehe, der sie
nicht auf dem Hintergrund jenes in ihr Nicht-Gesagten versteht;
einem Hintergrund, der für uns literarisch nur faßbar ist in den
Gesprächen, den Bemerkungen zur Kunst und zur Religion, ja in
seinen moralischen und ästhetischen Reflexen und daher in jenen
seiner Äußerungen, die seiner Biographie ungleich näher sind als
die eigentlich philosophischen Texte. Wo dieser Hintergrund
nicht das Interesse von Wittgensteins Philosophie abzieht — was
oft genug der Fall ist —, mag er ebensowohl die extremen Kontu
ren dieser Philosophie erst hervortreten lassen. In diesem Sinne
mag gelegentlich das biographisch-ästhetische Interesse an Witt 1
genstein die Funktion einer philosophischen Propädeutik haben.
Dies unterscheidet Wittgenstein radikal von Adorno, mit dem ihn
241
philosophisch im übrigen mehr verbindet, als man gemeinhin an
nimmt. Drei für ihre Philosophie zentrale Gemeinsamkeiten fal
len ins Auge: die Obsession durchs Nicht-Identische, die mit der
Kritik am Szientismus aufs engste zusammenhängt, die Obsession
durch das Problem der Darstellung und schließlich der Gestus
radikaler Kritik gegenüber der Entwicklung der modernen Kul
tur. Von Drury ist eine Bemerkung Wittgensteins über seine
eigene Philosophie im Unterschied zur Systemphilosophie Hegels
überliefert: »Mir scheint«, sagt Wittgenstein, »Hegel will immer
sagen, daß Dinge, die verschieden aussehen, in Wirklichkeit gleich
sind, während es mir um den Nachweis geht, daß Dinge, die
gleich aussehen, in Wirklichkeit verschieden sind.«2 Das Ver
schiedene, das Nicht-Identische, wird verdeckt durch die Ge
wohnheiten eines gedankenlosen Sprachgebrauchs; die Anstren
gung der Philosophie muß daher dem »Kampf gegen die
Verhexung des Verstandes durch die Mittel unserer Sprache«3
gelten; oder, wie Adorno es formuliert: »An ihr (der Philosophie,
A. W.) ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff
hinauszugelangen.«4 Es ist diese Anstrengung, die mit jedem
neuen Satz das Problem der Darstellung erneut ins Zentrum
rückt. »Idiosynkratische Genauigkeit in der Wahl der Wörter«,
sagt Adorno, »so als ob sie die Sache benennen sollten, ist keiner
der geringsten Gründe dafür, daß der Philosophie die Darstellung
wesentlich ist.«5 Man weiß heute, wie unendlich lange Wittgen
stein zuweilen an Sätzen gefeilt hat, mit Varianten experimentiert
hat, um die Nuance zu treffen, die ihn befriedigte. Aber das Pro
blem der Darstellung betrifft nicht nur die Wörter und Sätze, es
betrifft ebensosehr den Zusammenhang der Sätze, die Komposi
tion der Texte. Jeder Satz ist gleichnah zum Mittelpunkt; daher
kann die Kohärenz der Texte nicht die Kohärenz eines Ablei
tungszusammenhangs oder die eines Systems sein; das System ist
in den Augen Adornos und Wittgensteins vielmehr nur ein ande
rer Ausdruck für die Versuchungen zur Sistierung des Denkens,
I:
Ji
2 Vgl. Rush Rhees (Hg.), Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche,
r
Frankfurt: Suhrkamp 1987.
3 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Schriften,
Bd.i, Frankfurt: Suhrkamp 1960 (§ 109).
4 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt: Suhrkamp 1973,
5 Ebd., S.6if.
5 242
zur Unterdrückung des Nicht-Identischen, an denen der traditio
nelle philosophische Gebrauch der Sprache krankt. Die Stringenz
eines philosophischen Gedankenzusammenhanges läßt sich nicht
an Kriterien messen, die diesem Gedankenzusammenhang äußer
lich sind: sie ist jeweils, in Anmessung an die Logik der Sache, neu
herzustcllen. In der Einleitung zur Negativen Dialektik finden
sich zahllose Formulierungen, in denen Adorno das authentische
Philosophieren so beschreibt, wie Wittgenstein es praktiziert hat.
Ich will hier nur eine dieser Formulierungen anführen: »Das tra
ditionelle Denken«, so sagt Adorno, »und die Gewohnheiten des
gesunden Menschenverstandes, die es hinterließ, nachdem es phi
losophisch verging, fordern ein Bezugssystem, ein framc of refe-
rence, in dem alles seine Stelle findet. Nicht einmal allzuviel Wert
wird auf die Einsichtigkeit des Bezugssystems gelegt - es darf
sogar in dogmatischen Axiomen niedergelegt werden -, wofern
nur jede Überlegung lokalisicrbar wird und der ungedeckte Ge
danke ferngchalten. Demgegenüber wirft Erkenntnis, damit sie
fruchte, ä fond perdu sich weg an die Gegenstände. Der Schwin
del, den das erregt, ist ein Index veri; der Schock des Offenen, die
Negativität, als welche es im Gedeckten und Immergleichen not
wendig erscheint, Unwahrheit nur fürs Unwahre.«6 Dies
Adorno-Zitat zeigt im übrigen, daß die Obsession durch das Pro
blem der Darstellung für Adorno - wie für Wittgenstein - nicht
aus einer Verwechslung der Philosophie mit der Literatur resul
tiert. Beiden, Adorno wie Wittgenstein, ging es vielmehr um ein
Drittes zwischen Wissenschaft und Literatur: Durch die Kritik
am Szientismus, am wissenschaftlichen Anspruch der Philosophie
als einer Meta- oder Überwissenschaft, stellt sich nämlich die
Frage nach dem Status philosophischer Sätze in einer vorher un
erhörten Radikalität. Im Falle Adornos wie im Falle Wittgensteins
bezeugt die Obsession durch das Problem der Darstellung das
Bewußtsein der Notwendigkeit, den Raum und die Funktion phi
losophischer Sätze jenseits von Wissenschaft und Literatur neu zu
i I
bestimmen. I
Daß schließlich Wittgenstein den Entwicklungstendenzen der
modernen Kultur mit der gleichen radikalen Distanz gegenüber i',i
stand wie Adorno, ist zwar in seinen philosophischen Texten
nicht in der gleichen Weise ablesbar, wie dies bei Adorno der Fall
6 Ebd., S.43.
M3
J
ist, es ist aber unzweideutig greifbar in jenen Äußerungen und
Verhaltensweisen, die den moralischen und ästhetischen Hinter
grund seiner Schriften bezeichnen. In beiden Fällen ist diese
Distanz gegenüber der modernen Kultur unmittelbar verknüpft
mit dem insistierenden Blick auf das Nicht-Identische, mit dem
Kampf gegen die Verhexung des Verstandes durch die zum Kli
schee gewordene Sprache. An dieser Stelle wäre eine weitere
auffällige Gemeinsamkeit zu erwähnen: die Rolle, die die Musik
im Leben und Denken Adornos und Wittgensteins gespielt hat.
i Die tiefsten Erfahrungen Adornos und Wittgensteins, diejenigen
Erfahrungen, in denen sie die Sphäre des Absoluten - im Falle
Adornos - oder die Sphäre des Mystischen - im Falle Wittgen
i steins — unmittelbar zu berühren glaubten, scheinen musikalischer
Art gewesen zu sein. Zwar reichte Adornos musikalische Erfah
rung weiter als diejenige Wittgensteins - nämlich bis in seine
unmittelbare Gegenwart-, aber die folgende, ebenfalls von Drury
überlieferte Äußerung Wittgensteins hätte sicherlich, wenn nicht
den Beifall, so doch die unmittelbare Sympathie Adornos gefun
den: »Ich ging in der Stadt spazieren«, berichtet Wittgenstein, »da
kam ich an einer Buchhandlung vorbei und im Schaufenster stan
den Bilder von Russell, Freud und Einstein. Kurz darauf sah ich in
einer Musikalienhandlung Bilder von Beethoven, Schubert und
Chopin. Als ich diese Bilder miteinander verglich, hatte ich das
bewegende Gefühl, daß der menschliche Geist nur hundert Jahre
gebraucht hatte, um einen derart schrecklichen Niedergang zu
1 erleben.«7 Bei genauerem Nachdenken hätte allerdings wohl
Adorno Freud in der ersten, Chopin in der zweiten Trias ausge
lassen.
Diese ins Auge fallenden Gemeinsamkeiten zwischen Adorno
und Wittgenstein, die nicht zuletzt auf ihre gemeinsame Verwur
1 zelung im selben Wiener kulturellen Milieu hindeuten, sollten
allerdings nicht die geradezu abgrundtiefen Unterschiede verges
244
Einsichten sind formuliert als Antworten auf die Fragen, Ein
würfe und Zweifel einer obstinaten Gegenstimme, die freilich
niemals endgültig zum Schweigen zu bringen ist. Es ist die Dia
lektik einer dialogischen Verhandlung über eine Sache, in der einer
fragt und einer antwortet, in der einer recht und einer unrecht hat,
auch wenn die Verhandlung niemals zu einem definitiven Ende
kommt. Die Wahrheit blitzt auf in den Augenblicken, in denen die
Gegenstimme temporär zum Schweigen gebracht ist. Demgegen
über ist Adornos Dialektik eine negativ gewendete Hegelsche
Dialektik; nicht eine Dialektik des Ja oder Nein, sondern eine
Dialektik des Ja und Nein, eine verstehende Dialektik. Auch hier
ist die Wahrheit das Resultat einer Destruktion von Unwahrhei
ten, aber kaum eine Gegenstimme gibt es, der nicht ein partielles
Recht, ein Moment der Wahrheit, zugestanden wird. Hiermit
hängt zusammen, daß man bei Adorno zu fast jeder These auch
die Gegenthese finden wird, nicht als eine zum Schweigen ge
brachte Stimme, sondern als Baustein einer Wahrheit, die als in
I
sich dialektisch gedacht ist. Daher muß zugleich jede zentrale
These Adornos relativiert werden im Lichte all der Gegenthesen,
die den dialektischen Kommentar zu dieser These liefern. Ador
nos anti-systematisches Philosophieren drängt insgeheim, apore-
tisch, zum System. Diese paradoxe Verknüpfung zweier Grund
impulse - des anti-systematischen und des systematischen - ist
verantwortlich für das dialektisch Wuchernde seiner zentralen
philosophischen Texte, eine von jenen Eigenschaften, durch wel
che Adornos Philosophie an die von ihm geliebte Musik seines
Kompositionslehrers Alban Berg erinnert. Nichts liegt Wittgen
stein ferner als solche - wie auch immer aporetisch - zum System
drängende Dialektik. Wittgenstein selbst hat seine Philosophi
schen Untersuchungen als eine Reihe von »Landschaftsskizzen«
beschrieben, und das heißt: die Landschaften, Perspektiven, Pro
bleme wechseln in einer durch die jeweils neu auftauchenden
Fragen bestimmten Weise. Diese ständig und unvorhersehbar auf i |
tauchenden und immer wieder neu sich meldenden Fragen sind
das Moment der Beunruhigung, das Wittgensteins Philosophieren ■ j
in Gang hält. Zwar gibt es einen roten Faden, der die Fragen und
Probleme miteinander verbindet - bezeichnet durch die Probleme
der Bedeutung, des Meinens und des Verstehens bezeichnend
aber ist, daß die Fragen immer wieder neu gestellt, die Antworten
immer wieder neu gegeben werden - kein Ende der »langen und
*45
verwickelten Fahrten«, auf denen jene Landschaftsskizzen ent
standen sind, ist absehbar.8 Und gerade deshalb ist ein Ende
jederzeit möglich: »Die eigentliche Entdeckung«, sagt Wittgen
stein, »ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubre
chen, wann ich will.«9 Solange aber das Philosophieren nicht
abbricht, melden sich auch jene Gegenstimmen immer wieder zu
Wort, die den Philosophen zum Kampf herausfordern, sei es wie
die eines Versuchers, sei es wie die eines begriffsstutzigen Schü
lers. Jeder Augenblick erfordert eine entschiedene und geistesge
genwärtige Antwort, ein Ja oder Nein. Diesen - im Hegelschen
i; Sinne undialektischen - Geist des Ja oder Nein atmet im übrigen
auch Wittgensteins Bemerkung über die »schweren Irrtümer« des
Tractatus im Vorwort zu den Philosophischen Untersuchun
!• gen.'0
Die tiefen Unterschiede zwischen Wittgenstein und Adorno kom
men nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß im Falle Wittgen
steins, aber nicht im Falle Adornos, der biographische Hinter
grund von unmittelbarem Interesse ist für die Interpretation der
philosophischen Schriften. Zwar ist dies in gewissem Sinne para
dox: Wittgenstein hätte, wie Fania Pascal glaubwürdig versichert,
»Nachforschungen über sein Privatleben« verabscheut, während
Adorno nicht müde wird, so etwa wiederum in der Einleitung zur
Negativen Dialektik, den Anteil des »Subjekts« an der Objektivi
tät philosophischer Erkenntnis zu betonen.11 Es handelt sich um
eine scheinbare Paradoxie: Adornos ganzer Ehrgeiz ging darauf,
.. sein empirisches Ich in seiner Philosophie zu objektivieren, es
zum Organ philosophischer Erkenntnis zu machen, so daß cs am
Ende in seinen philosophischen Texten aufgehoben wäre; Witt
li.
JI
gensteins Ehrgeiz ging darauf, sein empirisches Ich zu läutern, so
daß es zum Organon einer philosophischen Erkenntnis werden
könnte, die das empirische Ich hinter sich gelassen hätte. In bei
den Fällen ist die Authentizität des philosophierenden Ich als
Bedingung philosophischer Erkenntnis unterstellt; aber Wittgen
stein war sich des Standes der Gnade weit weniger gewiß als
Adorno. Hierin liegt die eigentümlich protestantische Radikalität
Wittgensteins. Sie erklärt das Schroffe und Exzentrische seiner
8 Vgl. Wittgenstein, a.a.O., S. 285.
9 Ebd., § 133.
I 10
11
Ebd., S. 286.
Adorno, a.a.O., S. 50.
1 246
li !
Person im Gegensatz zur katholischen Zivilisierthcit und Suavität
Adornos; und sie erklärt - angesichts des gemeinsamen jüdischen
Hintergrunds beider Philosophen - das unterschiedliche Interesse i
an ihrer Biographie ebensowohl als den Umstand, daß Adorno
das Entscheidende immer wieder zu sagen versuchte, während
Wittgenstein auf der Differenz bestand zwischen dem, was philo
sophisch gesagt werden kann, und dem, was sich nur zeigen kann.
Das jüdische Bilderverbot bedeutete radikal Verschiedenes für
Adorno und für Wittgenstein: Für Adorno bedeutete es das Tabu
über der Ausmalung der Utopie; für Wittgenstein bedeutete cs das
Tabu über dem Versuch, das Unsagbare zu sagen. Hiermit hängt
das Interesse an der Person Wittgensteins zusammen. In ihren
Bewegungen, Gesten und zufälligen Äußerungen, ihren morali
schen und ästhetischen Reflexen scheint sich etwas von dem
Nicht-Gesagtcn mitzuteilen, das die philosophischen Texte nur
umkreisen. Es ist, als ob diejenigen Züge der Person, die sich in
den philosophischen Texten nicht direkt niedergeschlagen haben,
den Schlüssel für das Verständnis der Philosophie enthielten,
gleichsam den für das Verständnis der Texte notwendigen Kom
mentar. Natürlich steckt hierin ein gutes Stück Illusion; aber daß
man überhaupt versucht sein kann, so zu denken, zeigt etwas von
der Eigentümlichkeit von Wittgensteins Philosophieren.
Wittgensteins Askese gegenüber dem Unsagbaren hat ihn dazu
befähigt, in einem anderen Sinne philosophisch radikal zu sein als
Adorno. Wittgenstein hat nämlich das Nicht-Identische gleich
sam im Innern der Sprache aufgesucht, dort, wo Adorno die
Quelle des Identitätszwanges sah. Was Adorno das »Zurüstendc
und Abschneidende« des Begriffs genannt hat, entspringt nach
Wittgenstein dem Mißbrauch der Sprache, insbesondere dem phi
losophischen Mißbrauch der Sprache. Wittgenstein hat das Ver
schiedene, das Nicht-Identische, im Innern jener sprachlichen
Konstruktionen ans Licht gebracht, die für Adorno den Inbegriff
des »identifizierenden Denkens« ausmachten: der Logik, der Ma
thematik und der Wissenschaft. Wittgensteins Bedeutung für die
Entwicklung einer post-empiristischen Wissenschaftstheorie und
einer post-rationalistischen Kulturanthropologie ist unüberseh
bar, auch wenn sein Einfluß hier - wie eigentlich überall, wo er
wirksam geworden ist — zugleich viel Verwirrung gestiftet hat.
Was die Logik, die Sprachphilosophie und die Philosophie der
Mathematik betrifft, so glaube ich, daß eine produktive Rezeption i
247
. j
1 erst ganz vereinzelt stattgefunden hat, in Deutschland nicht weni
! ger als anderswo. Wittgenstein war weder ein Naturalist im Sinne
Rortys, noch war er der Relativist, als den Apcl ihn kritisiert. Ich
glaube vielmehr, daß sowohl die naturalistische als auch die rela
tivistische Interpretation eine zentrale Pointe seiner Denkweise
verfehlt. Versteht man Wittgenstein relativistisch, so liegt es nahe,
nach sprachspicliibergreifenden Kriterien der Wahrheit und Ra
tionalität zu suchen, um die Vernunft zu retten. Dies ist Apels
Antwort auf Wittgenstein. Demgegenüber glaube ich, daß es sich
hier um eine jener Fragestellungen handelt, von denen Wittgen
stein zu zeigen versuchte, daß in der Formulierung der Frage ein
Fehler steckt. Daß wir niemals andere Kriterien der Wahrheit und
der Rationalität zur Verfügung haben als diejenigen, die zu unse
rer Sprache gehören, bedeutet nicht, daß wir unsere Sprache und
die zu ihr gehörigen Kriterien nicht mit Gründen transzendieren
könnten. Das Gegenteil könnte nur behaupten, wer an einem for
malistischen und monologischen Begriff der Rationalität fest
hielte, gegen den man, ich möchte einmal sagen: gute Gründe bei
Wittgenstein finden kann. Die Kritik an diesem formalistischen
und monologischen Rationalitätsbegriff ist bei Wittgenstein ver
knüpft mit einer Kritik an den objektivistischen Denktraditionen
der Neuzeit. Deshalb ist auch eine naturalistische Lesart Wittgen
steins verfehlt. Bestünde der Witz der Philosophischen Untersu
chungen darin, daß sie die transzendentale Analyse des Tractatus
in eine empirische Analyse überführen, dann wäre uneinsichtig,
weshalb man Wittgenstein heute noch lesen sollte.
Demgegenüber würde ich Charles Taylors These12 zustimmen,
daß Wittgenstein die Frage nach den Bedingungen der Möglich
li keit des Redens über die Welt nicht als unsinnig abgeschafft,
sondern daß er sie in eine neue Form überführt hat. Versteht man
i Wittgensteins Sprachphilosophie auf dem Hintergrund traditio
neller philosophischer Alternativen, so läßt sie sich verstehen als
Versuch einer Aufhebung des Gegensatzes zwischen transzenden
talem Idealismus und Naturalismus; nicht durch eine Naturalisie
rung des Erkenntnissubjekts, sondern durch die Analyse der
f
L. 12 In: Brian McGuinness u.a., »Lichtung oder Lebensform. Parallelen
zwischen Wittgenstein und Heidegger«, in: *Der Löwe spricht... und
i
■
wir können ihn nicht verstehen*. Ein Symposion an der Universität
Frankfun anläßlich des hundertsten Geburtstags von Ludwig Witt
genstein, Frankfurt: Suhrkamp 1991, S. 94 ff.
248
Z:
!
sprachlichen Verfaßtheit seiner Lebenswclt. Es handelt sich um
eine »Transzendcntalphilosophie« ohne Letztbegründungsan
sprüche, ja, ohne das Geländer systematischer Rekonstruktionen.
Es ist dieser anti-systematische Impuls von Wittgensteins Philo
sophieren, der einer adäquaten Rezeption von Wittgensteins
Philosophie am stärksten entgegensteht. Denn dieser antisystema
tische Impuls hängt einerseits mit zentralen Gehalten von Witt
gensteins Philosophie zusammen, andererseits gehört er zur
unverwechselbaren Physiognomie des Philosophen Wittgenstein.
Daher sind weder die Systematisierung Wittgensteinschcr Ein
sichten noch die Imitation seines anti-systematischen Gestus
sinnvolle Formen der Fonführung seiner Philosophie. Was von
Wittgenstein, abgesehen von zentralen philosophischen Einsich
ten, zu lernen wäre, ist ein zugleich strenges und ungeschütztes
Denken. Dem stehen die Gewohnheiten des gesunden Menschen
verstandes ebenso entgegen wie metaphysische oder szientistische
Ordnungsbedürfnisse und die Erfolgsbedingungen akademischer
Karrieren. Was die szientistisch-bürokratischen Tendenzen des
Zeitalters allenfalls begünstigen, und zwar als ihr Komplement, ist
eher eine Karikatur von Wittgensteins offenem Philosophieren:
nämlich den unverbindlichen Tief- und Leichtsinn postmoderner
Anti-Philosophen. Schrecklich die Vorstellung, daß Wittgenstein
vom Haupt einer Schule — schon dies nicht unproblematisch —
zum Modephilosophen der Postmoderne avancieren könnte.
Aber für eine solche falsche Aneignung ist sein Denken vermut 1
lich doch zu sperrig. Eins scheint mir im übrigen sicher: Man wird
die produktiven Rezeptionen von Wittgensteins Philosophie in
Zukunft weder an stilistischen Ähnlichkeiten erkennen können
noch an charakteristischen philosophischen topoi noch daran, daß
der Name Wittgensteins genannt wird. Die einzige authentische
Wirkung Wittgensteins bestünde darin, daß er andere Philoso
phen zum Denken anregt. Das Resultat mag aber keinerlei Ähn
lichkeit haben mit der Gestalt der Wittgensteinschen Philosophie.
249
io. Der Mythos vom leidenden
I und werdenden Gott
Fragen an Hans Jonas
2J0
i
sl -
sehen Geiste Kants: Diesem Mythos kann keine mögliche Er
kenntnis entsprechen; es ist ein Mythos vom Ganzen der Welt
jenseits aller möglichen Erkenntnis. Jonas geht sogar einen Schritt
über Kant hinaus, der ja glaubte, die metaphysischen Ideen kri
tisch, und das heißt auch: begrifflich rechtfertigen zu können. Da
Jonas’ Mythos in gewissem Sinne den Platz besetzen soll, der in J
I
der Kantischen Philosophie durch den Zusammenhang zwischen
der intelligiblen Welt und den Ideen von Gott, Freiheit und Un
sterblichkeit bestimmt wird, besetzt dieser Mythos - »hypothe
tisch«, wie Jonas sagt - zugleich den leergewordenen Platz der I
Metaphysik. In dieser Funktion aber läßt er sich nicht einmal mit
derjenigen Art von Erkenntnisanspruch verbinden, den Kant für
seine kritische Metaphysik immerhin noch erheben konnte: näm
lich dem Anspruch auf eine kohärente begriffliche Explikation
notwendiger metaphysischer Ideen. Was der Mythos sagen will,
ist strictu sensu begrifflich unsagbar. »Solcherart«, sagt Jonas, »ist
der hypothetische Mythus, von dem ich glauben möchte, er sei
>wahr< - in dem Sinne, in dem durch gutes Glück ein Mythus eine
Wahrheit schattenhaft andeuten mag, die notwendig unerkennbar
und sogar, in direkten Begriffen, unsagbar ist, dennoch aber durch
Selbstbckundungen in unserer tiefsten Erfahrung unsere Fähig
keit in Anspruch nimmt, indirekt Rechenschaft von ihr zu geben
in widerruflichen, anthropomorphen Bildern.«6 Das erkenntnis
kritische Bewußtsein von der Transzendierung alles möglichen
Wissens in dieser mythischen Erzählung ist somit bei Jonas ver
knüpft mit einem sprachkritischen Bewußtsein von der - wört
lichen - Unsagbarkeit dessen, was der Mythos zu sagen versucht. 1
Nun sehe ich bei Jonas eine gewisse Spannung zwischen diesem
sprachkritischen Bewußtsein von der Unsagbarkeit dessen, was
der Mythos zu sagen versucht, und seinem Versuch, es gleichwohl
philosophisch zu sagen. Was das erstere betrifft - das sprachkriti
sche Bewußtsein von der Unsagbarkeit dessen, was der Mythos zu
sagen versucht -, so repräsentiert es, wie ich glaube, eine nach-
Kantische, radikalisierte Form der Metaphysik-Kritik, wie sie
sich etwa durch die sprachkritischen Reflexionen Wittgensteins i
und Derridas exemplifizieren ließe; was das letztere betrifft-Jo
nas’ tastenden Versuch, das begrifflich Unsagbare doch noch
philosophisch einzuholen -, so verweist es auf die - vielleicht : i
251
I
J
i' ; künftige - Möglichkeit einer Metaphysik, die die Kantische über
bietend aufbewahren würde. Zwei Möglichkeiten einer Über
schreitung Kants - und Hegels die einander, wie ich glaube,
wechselseitig ausschließen. Diese Vermutung möchte ich ansatz
weise begründen, und zwar in zwei Schritten:
(1) Wenn der Mythos sagt, was »in direkten Begriffen unsagbar«
ist, so heißt das zunächst: er ist ein Bild, ein Bild nicht des Men
schen, sondern der Menschen-in-der-Welt. In solchen Bildern
blitzt eine Wahrheit auf, aber wenn wir begrifflich zu sagen versu
chen, was in ihnen aufblitzt, geraten wir notwendigerweise in
Aporien und Widersprüche (das ist es ja, was gemeint ist, wenn
wir sagen, daß das, was das Bild sagt, »begrifflich« unsagbar ist.)
Daß das Bild anthropomorph ist, heißt hier ja nicht, daß es wie
eine Metapher gebaut ist (die vielleicht Erkenntnis vermitteln
kann), sondern daß es mit Worten operieren muß, die dem, was
das Bild zum Ausdruck bringen soll, eo ipso unangemessen sind:
Zwischen Gemeintem und Gesagtem besteht eine unüberbrück
bare Kluft - nichts anderes meint das Wort »unsagbar«. Wir
kennen freilich ein Paradigma, wo diese Kluft sich schließt, weil
sie gleichsam ins Innere des Bildes verlegt wird und der Anspruch,
mit dem Bild etwas sagen zu wollen, verschwindet: dies Para
digma ist das ästhetische Bild. Ein Mythos wie der von Jonas, so
meine Vermutung, ist nur als ein literarisches Bild möglich. Was
soll das heißen?
In seiner Korrespondenz mit Bultmann hat Jonas den Blick aufs
Ganze der Welt, den sein Mythos entwirft, gegen den bei Bult
mann angedeuteten metaphysik-kritischen Einwand verteidigt
mit dem Argument, »daß die Ethik auf der Ontologie gegründet
i sein muß, das heißt: das Gesetz menschlichen Verhaltens aus der
Natur des Ganzen abgeleitet werden muß«.7 Es geht ihm also
letztlich um die Begründung der Ethik. Wenn nun sein Mythos
bloß ein literarisches Bild wäre, so hieße das: Anders als beim
Mythos mythologischer Zeiten kann von diesem, einem modernen
Mythos, nicht erwartet werden, daß er zu einem für alle Menschen
verbindlichen und unbefragten Verständnis- und Orientierungs
horizont werden könnte. Gerade von diesem Schritt zur Moderne,
durch welchen die ästhetischen Bilder die Orientierungskraft der
mythologischen Bilder eingebüßt haben, ist schwer zu sehen, wie
25^
er sich ohne Verrat an der Freiheit der Modernen sollte rückgängig
machen lassen. Andererseits deutet sich im Bewußtsein der Unsag-
barkeit dessen, was der Mythos sagen will, die Unmöglichkeit an,
ihn in eine philosophische Theorie, in eine neue Metaphysik zu
»übersetzen«. Dann wäre es aber eher der bildhafte Ausdruck eines
ethischen Selbstverständnisses als dessen mögliche Begründung.
Dies deutet Jonas selbst an, wenn er von der »Sicherheit wißbarer
Normen« spricht, »die nach den Worten der Bibel unserem Herzen j
nicht fremd sind«.8 In der Tat scheint mir Jonas’ Mythos eine
schöne bildhafte Erläuterung eines ethischen Selbstverständnisses
zu sein, das seinen Grund nicht in diesem Bilde, sondern »in un
serem Herzen«, d. h. in der Wirklichkeit und den Bedingungen un
seres Zusammenlebens hat. Anders ausgedrückt: wo dies ethische
Selbstvcrständnis nicht schon vorhanden und anderswie gegründet
ist, wird es sich durch ontologische Argumente nicht herbeiführen
lassen: warum, so könnte man ja fragen, sollte ich mich für das
Schicksal der leidenden und werdenden Gottheit interessieren,
wenn ich doch, wie Jonas meint, mit persönlicher Unsterblichkeit
nicht rechnen darf?
(2) In meinem zweiten Schritt möchte ich gewissermaßen die Ar
gumentationsrichtung umkehren: Meine Vermutung ist jetzt, daß
Jonas’ Mythos vom werdenden Gott, soweit er sich philoso
phisch-begrifflich einholen läßt, ununterscheidbar wird von einer
Position radikaler Endlichkeit. Was diesen Mythos vom werden
den Gott, der sich in die Welt entäußert und hierbei sich selbst
aufs Spiel setzt, gegenüber aller positiven Theologie so überzeu
gend macht, ist, daß er mit der Endlichkeit der Menschen ernst i I
macht und hierin ein Grundmotiv der modernen Metaphysik-
Kritik seit Nietzsche in sich aufnimmt. Ich möchte insbesondere
auf Jonas’ Antwort auf die Frage hinweisen, warum denn Gott
»sich und sein Schicksal dem Treiben des ins Außen Explodieren
den und damit den bloßen Chancen der darin beschlossenen
Möglichkeiten unter den Bedingungen von Raum und Zeit«9
überließ. Jonas’ Antwort ist: »Eine erlaubte Vermutung ist, daß es
geschah, weil nur im endlosen Spiel des Endlichen, in der Uner
schöpflichkeit des Zufalls, in den Überraschungen des Ungeplan
ten und in der Bedrängnis durch die Sterblichkeit, der Geist sich
253
J
selbst im Mannigfaltigen seiner Möglichkeiten erfahren kann, und
daß die Gottheit dies wollte.«10 Diese Antwort nun läßt sich
unschwer in ein Argument für eine radikale Endlichkeitsthese
übersetzen: Zum Begriff des Geistes gehört, daß er an individu-
r I ierte - endliche — Einzelwesen geknüpft ist; und zwar so, daß die
■ i
10 H. Jonas, a.a.O.
11 H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, a.a.O., S. 34 f.
12 A.a.O., S. 34.
*54
Wenn aber diese Überlegung richtig ist, so kann der Mythos vom i
|
werdenden Gott nicht mehr als ein Bild, er kann - aus begrifflich
angebbaren Gründen - nicht die Vorstufe einer künftigen Meta I '
physik sein. Denn diese müßte die im Gedanken Gottes implizier i
ten »transzendenten« Bestimmungen in Grenzbegriffe überset
zen, die im hier angegebenen Sinne inkohärent sind: den etwa
einer ursprünglichen »Allgüte« oder den einer möglichen positi
ven Erfüllung des Schicksals Gottes. Ich möchte diesen Gedanken
abschließend verdeutlichen durch einen Kommentar zu Jonas’ (im i .
ij A.a.O., S. 69.
*5S
H ■
idealen Kommunikationsgemeinschaft; sobald wir aber einen sol
chen letzten Konsens, ein solches letztes Urteil zu denken versu
chen, verwickeln wir uns in jene Inkohärenzen, die Jonas an den
Begriffen der absoluten Macht und der absoluten Freiheit aufge-
wicsen hat. Und das heißt: wir müssen auch die Idee des Guten
vercndlichen, so verendlichen, wie Jonas es in seinem schönen
Mythos mit der Idee Gottes unternommen hat.
I
■
2 56
ii. Architektur und Territorium
i-
I.
i
Meine Neugier auf das Thema dieses Symposiums wurde durch
eine merkwürdige Erfahrung geweckt, die ich vor ein paar Mona
ten in Tromso gemacht habe. Seit ich vor zehn Jahren zum
erstenmal nach Tromso kam, habe ich den einzigartigen Charakter
der nord-norwegischen Landschaft, ihrer Menschen und Traditio
nen, den spektakulären Wechsel von Licht und Dunkelheit in
dieser Landschaft und ihre anarchischen Verlockungen immer
stark empfunden. Am Anfang war es wie ein Dejä vu, wie eine
Materialisierung von Bildern, die ich seit meiner frühen Hamsun-
Lektüre im Kopf hatte. Später erfuhr ich - durch meine Freunde
in Tromso, vor allem durch Jakob Meloe - mehr über diese Land
schaft, ich meine etwas mehr »Prosaisches« über die »Territorien«
und die Lebensformen der nord-norwegischen Fischer und der
Saami, über die Stadt Tromso und was es für das Lebensgefühl
bedeutet, wenn der Wechsel von Sommer und Winter wie der
Wechsel von Tag und Nacht ist. Natürlich erfuhr ich auch von der
totalen Zerstörung Nord-Norwegens durch die Deutschen am
Ende des Krieges. Als ich nun vor einigen Monaten nach Tromso
zurückkam, verbrachte ich einige Zeit an der - noch nicht fertig
gebauten - neuen Universität von Tromso, die ich von innen sehr
attraktiv fand. Damals erzählte mir Jakob Meloe vom Plan und
dem Thema dieses Symposiums, nachdem ich mit ihm eine Zeit
lang in der Cafeteria gesessen und - wie gewöhnlich - über die
Fischer und die Saami geredet hatte. Und plötzlich begann ich
mich zu fragen, was diese attraktive neue Universität mit dem
Territorium zu tun hat, zu dem sie gehört. Natürlich hat sie etwas
sehr Skandinavisches: die klare, großzügige und trorzdem intime
Organisation des Innenraumes, das Wechselspiel zwischen Stein
und Holz, die modernistische Einfachheit des Designs und die
sorgfältige Ausarbeitung von Details - und vermutlich gibt es Ver
weise und Anspielungen auf die Umgebung von Tromso und auf
die lokale Geschichte, die ich übersehen habe. Auch bin ich mir
sicher, daß bei der Planung dieser Universität viel Sorgfalt darauf
verwendet wurde, den besonderen Bedürfnissen und Lebensbe-
257
dingungen von Menschen Rechnung zu tragen, die in einem
Gebiet leben, in dem die Kulturen der Fischer und der Saami noch
immer eine wichtige Rolle spielen. Und schließlich habe ich das
Gefühl, daß es kein Zufall ist, daß diese Universität gleichsam
»nach innen« gebaut ist: die Artikulation des öffentlichen Raums
findet im Inneren statt, so daß man dieses Gebäude in einem ge
wissen Sinne nicht wirklich von außen wahrnehmen kann. Es
schien mir ganz natürlich, daß die Dialektik von Innen und Außen
unter den klimatischen und den Lichtbedingungen dieses Gebiets
t i ganz anders ausgetragen wird als beispielsweise in einer Stadt am
Mittelmeer. Ich hatte das Gefühl, daß der ganze öffentliche Raum
sich nach innen verlagert hatte, so daß die Außenwelt eher als ein
natürliches Panorama, denn als eine Erweiterung und als ein Kon
trapunkt des Innenraums erschien. Noch auffallender fand ich je
doch, bis zu welchem Grad diese Universität nichts mit dem Ter
ritorium zu tun hat, zu dem sie gehört; das heißt, daß ich sie als eine
attraktive neue Universität wahrnahm, die im Prinzip auch in Ka
lifornien oder in Westdeutschland hätte gebaut werden können
(wenn die westdeutschen Behörden nur mehr Gedanken und Geld
in die Konstruktion neuer Universitäten investieren würden). Und
ich glaube, daß es hiefür gute Gründe gibt. Denn gerade die Idee der
Universität ist eine kosmopolitische; die Begriffe »Universität«
und »universal« sind linguistisch eng miteinander verwandt. Die
Praxis des Lehrens, Lernens und Forschens ist - und wird immer
mehr - eine internationale Kultur; dementsprechend haben die
neuen Universitäten überall auf der Welt mehr miteinander ge
meinsam als die meisten von ihnen beispielsweise mit dem Ensem
ble von Colleges in Oxford oder der Humboldt-Universität in
Berlin. Es gibt eine zeitliche und historische Bedingtheit der Ar
chitektur, die heute, wo es kaum noch Grenzen des internationa
I
len Austausches gibt, zugleich die Bedingungen definiert, unter
1 denen territoriale Besonderheit noch möglich (oder sogar wün
schenswert) ist. Etwas Ähnliches galt bereits für die große euro
! päische Kunst der vergangenen Jahrhunderte, obwohl aus nahelie
genden Gründen weniger für die Architektur als beispielsweise
i für Musik und Malerei. Was Musik und Malerei betrifft, so ist es
für einen Laien in der Regel offensichtlich viel einfacher, ein Mu
sikstück oder ein Gemälde zeitlich zu datieren, als sie »territorial«
zu lokalisieren. Und das heißt einfach, daß Komponisten und Ma
ler in Europa ihre spezifisch nationalen oder »territorialen« Bei-
258
IQ
träge zur europäischen Kultur immer zugleich als Mitglieder einer
internationalen Gemeinschaft von Künstlern, von »Zeitgenossen«
leisteten. Dies gilt nur in geringerem Maße für die Architektur,
und zwar trotz der Existenz cpochenspczifischer »Stile« - wie des
romanischen, gotischen, Renaissance- oder Barockstils. Bis vor
kurzem hatten Städte und sogar individuelle Häuser überall in
Europa neben ihrer temporalen eine stark territorial bestimmte
Identität. Niemand könnte das Stadtbild von Celle in Nord
deutschland mit dem einer süddeutschen Stadt verwechseln, ganz
zu schweigen von italienischen oder französischen Städten, und
niemand könnte die Physiognomie von Prag mit der von Oslo
verwechseln. Offensichtlich hat genau mit Bezug auf diesen
i
Aspekt »territorialer Identität« während der letzten Dekaden die
ses Jahrhunderts eine dramatische Veränderung stattgefunden.
Und offensichtlich ist genau dies der Grund dafür, daß Architek
ten nun Symposien über »Architektur und Territorium« veran
stalten. Daß sich auch in der Architektur ein internationaler Stil
entwickeln konnte - nicht nur für Kirchen, Schlösser oder Thea
ter, sondern auch für Wohn- und Bürohäuser und für ganze
Vorstädte ist natürlich zum Teil nur ein Ausdruck des interna
tionalen Charakters der modernen Technologie, der modernen
Industrialisierungsprozesse und der modernen kapitalistischen
Ökonomie. Der Internationalismus der modernen Architektur ist
jedoch nicht nur der Internationalismus der modernen Technolo-
gieund Ökonomie;er hat vielmehr Aspekte eines ästhetischen
Internationalismus, vergleichbar dem der epochenspezifischen
Stile der großen europäischen Architektur; dieser ästhetische In
ternationalismus hat die Architektur in einem bestimmten Sinn in
eine Position gebracht, die mit der von Musik und Malerei wäh
rend der letzten Jahrhunderte vergleichbar ist. Weil Architektur
im Gegensatz zu Musik und Malerei jedoch immer mit einem
bestimmten Territorium verknüpft bleibt, entsteht eine Dialektik
von historischer Zeit und historischem Raum, die die Architektur
mit einem neuen Problem konfrontiert; mit dem Problem näm
lich, wie die legitimen »kosmopolitischen« Aspekte moderner !' !
Architektur mit dem legitimen Bedürfnis nach einer territorialen
Identität ihrer Gebilde versöhnt werden können. Im folgenden
möchte ich mit einigen Reflexionen über die »kosmopolitischen«
Aspekte oder, wenn Sie so wollen, über das temporale »Territo
rium« der zeitgenössischen Architektur beginnen.
259
II.
i
sind Bezeichnungen für eine architektonische Praxis, in der es
üblich geworden war, traditionelle ästhetische Gesten, ein aus sei
nem sozialen, historischen und funktionalen Kontext herausgeris
■■ senes traditionelles ästhetisches Vokabular auf neue Konstruk
tionsformen aufzupfropfen, wodurch sie mit falschen und
unauthentischen Bedeutungen aufgeladen wurden. Der Funktio
nalismus war vor allem anderen eine polemische Parole, die sich
260
gegen die falschen ästhetischen Gesten der Viktorianischen und
Wilhelminischen Architektur richtete. Er war ebensosehr ein mo
ralischer Protest wie ein ästhetisches Programm: und es ist die
diesem Programm innewohnende Ambivalenz, die die Quelle der
Dialektik des Funktionalismus ist. Obwohl Interpretationen des
funktionalistischen Programms möglich sind, denen zufolge der
Funktionalismus ästhetischen Modernismus mit avancierter Tech
nologie im Bereich der Architektur versöhnt,1 ist der Funktio
nalismus hauptsächlich in der Form eines vulgären Funktionalis
mus architektonische Realität geworden; d. h. als jener »interna
tional style«, gegen den dann postmoderne Architekten rebelliert
haben. Die Gründe für diese »Degeneration« des funktionalisti
schen Programms, wie ich es nennen möchte, sind sicherlich
teilweise - aber ich glaube nicht hauptsächlich - ideologischer
Art; die wesentlichen Gründe dürften eher sozio-ökonomische
sein, d. h. Gründe, die das sozio-ökonomische System der archi
tektonischen Produktion in kapitalistischen wie sozialistischen
Ländern nach dem Krieg betreffen. Soweit ideologische Gründe
eine Rolle gespielt haben, hängen sie direkt mit dem prekären
Status der Architektur zwischen Kunst und Technologie zusam
men, wie er im Moment der Krise offenbar wurde. In ihrer
Abkehr von der falschen Ästhetik des Historismus und Eklekti
zismus tendierten frühe Funktionalisten, wie z. B. Adolf Loos,
dazu, die ästhetische Dimension der Architektur in Begriffen ih
rer technologischen Verfahren umzudefinieren. »Form follows
function« wird jedoch ein anti-ästhetisches Programm, wenn im
Begriff der »Funktion« bereits technisch eindeutige Lösungen
mitgedacht werden; diese kann es jedoch nur für Probleme geben,
die zuerst in Begriffen artikuliert - oder reformuliert - werden,
die sie klargeschnittenen technischen Lösungen zugänglich ma
chen. Eine Maschine zu bauen, die fliegen kann, eine Brücke zu
konstruieren, die große Belastungen aushält oder auch ein funk
tionierendes Heizungssystem oder sonnige Balkone für jede
Mietpartei in einem Hochhaus — dies sind technische Probleme,
für die ein guter Ingenieur unter gegebenen Randbedingungen
eine technische Lösung finden wird oder auch nicht. Und natür
lich sind dies wichtige Probleme, die alle Energie, alles Talent und
alle Phantasie eines guten Ingenieurs verdienen. Wenn man nun
261
'J
| i
bedenkt, daß wir eine gut konstruierte Brücke, ein gut konstruier
tes Flugzeug oder einen gut konstruierten Bahnhof schön finden
können, obwohl der Architekt oder der Ingenieur, der sie gebaut
hat, keine ästhetischen Ambitionen hatte, sondern nur technische
Probleme auf ingeniöse Weise gelöst hat, dann könnte man ver
sucht sein zu glauben - und Funktionalisten im heroischen Zeit
alter moderner Architektur glaubten dies gelegentlich -, daß die
einzigen genuin ästhetischen Qualitäten moderner architektoni
scher Gebilde in dem technisch Angemessenen oder Ingeniösen
h ihrer Konstruktion liegen. Sobald man dies aber akzeptiert, redu
ziert man die Sprache der Architektur auf die internationale
Sprache der modernen Technologie, die jedoch offensichtlich
keine Sprache mehr ist. Aber in dieser ideologischen Reduktion
geht die Degeneration des Funktionalismus zum Vulgärfunktio
nalismus nicht auf; die entscheidenden Gründe liegen, wie schon
erwähnt, anderswo. Schon die engen Beziehungen zwischen ar
chitektonischem und ästhetischem Modernismus sind zu offen
sichtlich, um vernachlässigt zu werden; so war etwa der Kon
struktivismus, der Zwilling des Funktionalismus, nicht zuletzt ein
ästhetisches Programm, keines zur Reduktion des Ästhetischen
auf das Technologische. Große moderne Architektur meinte des
halb nicht die Negation der ästhetischen Dimension von Archi
tektur; was sie meinte, war eher die Erfindung der modernen
Kunst in der Sphäre der Architektur, d. h. die Erfindung einer
neuen Synthese von ästhetischen und technologischen Aspekten
in der Architektur. Deshalb glaube ich, daß sozio-ökonomische
Ursachen für die Degeneration des Funktionalismus zum Vulgär
funktionalismus wichtiger waren als die der funktionalistischen
Ideologie einbeschriebenen Grenzen. Ich werde hier aber nicht
für diese These argumentieren, weil die These selbst nicht von
1 zentraler Bedeutung ist für das, was ich sagen will.
i!
!j
III.
i'
Die Unterscheidung zwischen einem ästhetischen und einem
technologischen Aspekt der Architektur ist, wie schon angedeu
tet, eine moderne. Erst während der letzten Jahrhunderte haben
sich die Sphären der Technologie und der autonomen Kunst all
mählich in dem Sinn voneinander getrennt, in dem wir heute
262
technische Probleme und technische Lösungen als klar von ästhe
tischen Problemen und Lösungen unterschieden verstehen. Das
autonome Kunstwerk hat keine religiöse oder praktische Funk
tion mehr, während das typische Produkt moderner Technologien
eine rein utilitäre oder »instrumentelle« Bedeutung hat: Schönheit
und Nützlichkeit einerseits, Schönheit und Moral andererseits
sind jeweils unterschiedliche Wertsphären mit eigenen »Logiken«
der Entwicklung, der Veränderung, des Lernens und des Fort
schritts geworden. Nur auf der Grundlage dieser Differenzierung
von Wertsphären sind die großen Innovationen moderner Tech
nologie und ebenso jene der modernen Kunst möglich geworden.
Während wir in den autonomen Kunstwerken unsere subjektive
Welterfahrung als ästhetisch objektivierte erfahren, dienen uns die
Produkte der modernen Technologie als Mittel der Kontrolle
einer vergegenständlichten Natur. Im Gegensatz hierzu sind die
typischen Produkte des traditionellen Handwerks weder als
Kunstwerke noch als rein instrumentelle Objekte gemeint. Sicher
lich waren weder der griechische Tempel noch die mittelalterliche
Kathedrale, noch das Wikingerschiff oder die Stadt Venedig als
Kunstwerke gemeint; aber wenn wir solche Gebilde als schön
wahrnehmen, dann ist das, was wir wahrnehmen, nicht nur eine
ästhetische Qualität zusätzlich zu und unabhängig von ihren »uti
litären« und instrumentellen Funktionen, es ist eher eine ästheti
sche Ausdruckskraft von Objekten, die untrennbar ist von ihrer
technischen Funktionalität oder praktischen Nützlichkeit. Als
funktionale objektivieren und verkörpern diese Objekte zugleich
eine Lebensform, eine Weise des In-der-Wclt-Seins, ein Univer
sum von Bedeutungen. Material, Funktion, Form und Bedeutung
scheinen auf eine Weise durch einander vermittelt zu sein, die ty
pisch für Kunstwerke ist, obwohl diese Objekte nicht als Objekte
ästhetischer Kontemplation gemeint waren, sondern als Ce-
branchsobjekte. Weil die ästhetischen Qualitäten dieser Objekte ■ !
263
1
i
!i
lismus liegt in seiner Tendenz, die moderne Technologie zu hypo-
stasieren, d. h. in der Überzeugung, daß eine Technologie, die ihre
Verbindungen mit einem traditionalen Universum von Bedeutun
gen durchtrennt hat, ihr eigenes kohärentes Bedeutungsuniversum
hervorbringen und deshalb ganz allein für die ästhetische Dimen
sion der Architektur aufkommen könnte.
H IV.
I
nisch geformtem Raum, die dann zum zentralen Einsatzpunkt der
postmodernen Architektur wurden, versucht Adorno als etwas zu
entziffern, das schon den Postulaten des Funktionalismus und des
Konstruktivismus immanent war. Dementsprechend bedeutet für
Adorno »funktionale« Architektur eine Artikulation des Raumes, '• i
die im technischen Sinn des Wortes funktional ist, indem sie zu
gleich unserer Erfahrung der Welt Ausdruck verleiht, sie objekti
viert und transformiert.
In Adornos Interpretation sind weder »Funktionen« oder
»Zwecke« noch Materialien und Formen letzte Gegebenheiten.
Funktionen und Zwecke müssen in eine räumliche Realität über
setzt und als eine räumliche Realität artikuliert werden, während
Materialien und Formen eine Sedimentierung von Geschichte,
von vergangenen Bedeutungen ebenso in sich enthalten wie kon
struktive Möglichkeiten. Deshalb beschreibt Adorno den Prozeß
des Entwerfens als einen Prozeß der Vermittlung von Zwecken,
Materialien und Formkonstruktionen. Da Gebäude im Unter
schied zu Bildern nicht in einem gleichsam leeren Raum entwor
fen werden, sondern ihr Sein nur als Teil eines konkreten
räumlichen und historischen Kontextes haben, könnte man das
Klima, den historischen, sozialen und architektonischen Kontext
als weitere Bestimmungen und Elemente jenes Vermittlungspro
zesses nennen. Ein Bild ist ein autonomes Universum von Bedeu
tungen, das keinen territorialen, sondern nur einen ästhetischen
Kontext hat - nämlich den Kontext anderer Bilder. Demgegen
über bedeutet ein Gebäude immer eine Erweiterung und Verände-
5 Ebenda, S. 388.
265
rung eines bestehenden sozialen und territorialen Kontextes;
deshalb ist es nie ein autonomes Bedeutungsuniversum; es hat sein
Sein vielmehr in einem Verhältnis der Spannung, der Kommuni
kation, des Konflikts oder der Korrespondenz mit einem natürli
chen, sozialen und architektonischen Kontext. In einem bestimm
ten Sinn sind die Grenzen der Werke der Architektur nicht klar
definiert, weil ein Gebäude immer Teil eines Ensembles, einer
Landschaft oder einer Stadtlandschaft ist. Gelungene Architektur
ist Architektur, die in bezug auf ihren Kontext gelungen ist - eine
beinahe triviale Wahrheit. Deshalb ist genaugenommen nie ein
isoliertes Gebäude der Gegenstand ästhetischer Bewertung, Ob
jekt der Bewertung ist vielmehr das Gebäude in seinem produkti
ven Eingriff in einen natürlichen oder architektonischen Kontext,
oder auch ein architektonisches Ensemble oder schließlich eine
Stadtlandschaft. Im Gegensatz zu Bildern aber haben Werke der
Architektur nicht nur keine klar bestimmten Grenzlinien, sie
können auch nicht in derselben Weise wahrgenommen werden
wie Bilder. Sinnliche Erfahrung eines Gebäudes bedeutet, um es
und in ihm herumzugehen, eine Pluralität von Perspektiven ein
zunehmen, sein Inneres mit seinem Äußeren in Beziehung zu
setzen, ein Gefühl für das Material zu bekommen, die Bewegung
des eigenen Körpers in einem artikulierten Raum zu erfahren;
diese Erfahrung impliziert somit eine Aktivierung und Reaktion
des ganzen Körpers sowie die Integration einer Pluralität von Per
.1 spektiven und Erfahrungen. Nicht nur das Objekt der Erfahrung
ist ein räumliches und körperliches, auch die Erfahrung selbst
wird zur räumlichen und körperlichen. Der Raum jedoch, der als
artikulierter erfahren wird, ist immer ein sozialer Raum. Meine
Wahrnehmungen, meine Selbsterfahrung sind nicht die meines na
türlichen, sondern die meines sozialen Körpers. Die anderen sind
mit mir in einem sozialen Raum präsent, der mit Bedeutungen
aufgeladen oder bedeutungsarm sein kann, der Möglichkeiten
oder Barrieren für intersubjektive Beziehungen in sich enthalten,
unsere sozialen Erfahrungen komplexer oder ärmer machen, un
■ '
sere Phantasie in Bewegung versetzen oder hemmen kann und der
- last, but not least - unsere kollektive Erinnerung produktiv in
sich aufheben und transformieren oder sie ignorieren und ab
.1
schneiden kann. Deshalb könnte man sagen, daß in den Werken
der Architektur nicht nur Raum, sondern auch soziale und histo
rische Zeit artikuliert wird. Die Artikulation des Raumes, der
266
-?>
d
immer ein sozialer Raum ist, in den Werken der Architektur
bedeutet dann nicht nur, daß die Werke der Architektur eine
bestimmte Lebensform ausdriieken, sondern auch, daß sic an
der Konstitution und der Veränderung von Lebensformen parti
zipieren; daß sie Welt nicht nur artikulieren, sondern auch er
schließen.
Nimmt man all diese Elemente zusammen - das Fehlen klarer
Grenzen für die Werke der Architektur, den räumlichen und so
zialen Charakter der sinnlichen Erfahrung von Gebäuden und
Stadtlandschaftcn, die Verkörperung und Transformation von Le
bensformen durch die Werke der Architektur -, dann kann es
nicht überraschen, daß die moderne Revolution in der Architek
tur schnell zu Visionen eines architektonischen »Gesamtkunst
werks« der Zukunft geführt hat, das, van Doesburg zufolge,
einzelne Formen autonomer Kunst überflüssig machen würde.
Solche Visionen enthalten, wie es in Le Corbusiers utopischen
Projekten manifest wird, ein Element technologischer Hybris.
Denn die komplexe Interdependenz heterogener Elemente, die in
den Prozeß des architektonischen Entwerfens und Planens einge
hen, wird hier als kalkulierbarer Zusammenhang von Variablen in
einem möglichen technologischen Projekt reinterpretiert; ästhe
tischer Radikalismus wird in ein radikales Projekt ahistorischer
Sozialtechnologie verkehrt. Wenn die Befreiung der modernen
Architektur von den Fesseln traditioneller Technologie und tradi
tioneller Ästhetik gelegentlich zu solchen selbstherrlichen Miß
verständnissen der möglichen Rolle der Architekten in der
modernen Welt geführt hat, dann ist dies meiner Meinung nach
darauf zurückzuführen, daß die modernen Architekten sich selbst
als zu zwei verschiedenen Produktionssphären zugehörig ent
deckt haben: der der ästhetischen Avantgarde und der der moder
nen Ingenieure. In beiden Rollen, der des Künstlers und der des
Ingenieurs, konnten die Architekten sich als kreative Produzenten
verstehen: als Schöpfer ästhetischer Objekte auf der einen Seite,
als Produzenten gut konstruierter Maschinen auf der anderen.
Und weil das Universum der Architektur zwischen diesen beiden
Polen angesiedelt ist, und da dies Universum eines des sozialen
Lebens selbst ist, muß es eine natürliche Versuchung gewesen sein,
die beiden Rollen des Künstlers und des Ingenieurs mit dem Ziel,
eine neue Lebensform zu kreieren, in sich zu vereinigen. Lebens
formen können aber nicht gemacht werden, weder von Künstlern
267
H
li
268
V.
269
J 1
I
270
•i
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'S.
sic J. Mcloe in einem schönen Essay beschrieben hat, als die zwei
»Territorien« Nord-Norwegens - das der Fischer und das der
H
Saami. Mir scheint, daß die Art des Wissens über ein Territorium,
über die zu ihm gehörigen Praktiken und Lebensformen, wie Mc-
loe sie vermittelt, genau die Art von Wissen ist, das ein guter
Architekt haben sollte, wenn das, was er oder sie baut, in einem h
gegebenen natürlichen und sozialen Kontext Sinn machen soll.
Meloe verdanke ich auch die Information, daß das traditionelle
Fischerhaus nicht in einem Zuge gebaut wurde, daß vielmehr neue
Anbauten ohne viele Gedanken an »ästhetische« Kohärenz hinzu
gefügt wurden, wenn, über die Generationen hinweg, neue Be
dürfnisse auftauchten — eine Art spontaner »non-finito«-Archi-
tektur (im Sinne von Frank Gehry). Es scheint, daß die Fischer 11
ihre konstruktiven und ästhetischen Energien und Ambitionen
vor allem in die Konstruktion und das Design ihrer Boote, das
Zentrum ihres Lebens, investiert haben. Meloes Beobachtungen
konzentrieren sich auf die traditionellen Lebensformen der Fi
scher und der Saami. In diesen Lebensformen spielten Architek
ten im modernen Sinn weder eine Rolle, noch wurden sie
gebraucht. Gerade in bezug auf diese traditionalen Lebensformen
zeigt das Entstehen einer Vereinigung von Architekten nördlich
des Polarkreises eine dramatische Veränderung an, die nicht nur
im nördlichen Skandinavien stattgefunden hat, sondern überall
auf der Welt im Verlaufe der letzten Generationen. Die entspre
chenden Schlagworte sind Modernisierung, Urbanisierung, Indu
strialisierung und neuerdings ökologische Zerstörung. Überall in i I
der Welt führten oder führen diese Prozesse zur Zerstörung von
»Territorien«, wie sie mit traditionalen Lebensformen verbunden
waren. Traditionale Territorien wurden in eine Dynamik der Ver
änderung verstrickt, die zumindest in den reichen kapitalistischen
Ländern des Westens zu einer zunehmenden Einebnung von Un
terschieden in den Lebensbedingungen, den sozialen Praktiken,
den Produktionsformen und im Konsumverhalten führt. Erst im
Kontext dieser dynamischen und oft zerstörerischen Veränderun
gen haben Begriffe wie »Territorium«, »Region« und andere mit
ihrem Bezug auf die besondere Identität eines Volkes, einer Le
bensform, einer Tradition des In-der-Welt-Seins eine spektakuläre
Bedeutung gewonnen. Diese Begriffe, oder doch ihr aktueller Ge
brauch, richten sich polemisch gegen die drohende Zerstörung all
dessen, was im Leben der Menschen geschichtlich individuiert
271
J
und einzigartig ist, gegen die Bedrohung der Identität und Integri
!> *7*
tion nach der anderen denselben Boden bearbeitete, dieselben
Fischgründe ausbeutete, über dasselbe Land zog, um die Rentiere
zu weiden, etc. Das Land gehörte nicht nur dem Volk, sondern
das Volk gehörte dem Land. Diese territoriale Identität eines Vol
kes, das zu einem bestimmten geographischen Raum gehört, ist
durch den Prozeß der Modernisierung immer mehr in Frage ge
stellt worden. Der Bürgermeister von Stuttgart, Manfred Rom
mel, hat kürzlich vorausgesagt, daß um das Jahr 2000 alle
größeren europäischen Städte wesentlich internationale Städte
sein werden, die aus einer Pluralität von ethnischen Gruppen zu
sammengesetzt sind - was heute schon für alle größeren amerika
nischen Städte zutrifft. Seine plausible Schlußfolgerung war, daß-
was deutsche Städte betrifft - alle ihre Bewohner deutsche Pässe
haben sollten, auch wenn sie außerdem noch andere Staatsangehö
rigkeiten haben; ferner, daß jeder Mann das Recht haben sollte zu
entscheiden, in welchem seiner »Heimatländer« er den Militär
dienst leisten will etc. Sicherlich gibt es die Tendenz zu einer
solchen »Internationalisierung« von »Territorien« zur Zeit nur in
den größeren europäischen Städten; ich glaube jedoch, daß es sich
um eine strukturelle Tendenz handelt, die letztlich auch jene Ge
biete in Europa betrifft, wo es vielleicht heute noch Sinn macht zu
sagen, daß nicht nur das Land einem Volk gehört, sondern gleich
zeitig die Mehrheit des Volkes dem Land gehört. Ich frage mich
jedoch, ob nicht der Begriff des Territoriums, wie er heute gele
gentlich gebraucht wird, implizit beide Konnotationen hat: die
eines Landes, das einem Volk gehört, und die eines Volkes, das
einem Land gehört; und das heißt, ob nicht der Begriff des Terri
toriums versteckte Konnotationen einer vormodemen Gesell
schaft hat, in der die Individuen in einem Territorium, von dem sie
selbst ein Teil sind, geboren werden und aufwachsen, ihr Leben
führen, arbeiten und sterben. Wenn dem aber so wäre, dann ent
hielte der Begriff des Territoriums eine bedenkliche politische
Dialektik - oder vielleicht verbirgt er sie -, indem er auf der einen
Seite auf das Recht von Individuen und Kollektiven verweist, ihre
Identität und Integrität zu bewahren sowie ihr eigenes Schicksal
zu bestimmen, und auf der anderen Seite die Sehnsucht nach Be
wahrung einer wesentlich vormodernen Beziehung zwischen den
Menschen und ihrem Land zum Ausdruck bringt. Ich vermute
nicht nur, daß beide Konnotationen unvermeidbar sind, sondern
auch, daß ihre dialektische Beziehung ziemlich komplexer Art ist,
273
weil sie ein Feld von Konnotationen abdeckt, das am einen Ende
an eine moderne Tradition radikaler Demokratie grenzt und am
anderen an eine Tradition des romantischen Nationalismus als
einer Form des Protestes gegen die Moderne. Der ersten Tradition
zufolge könnte man allenfalls sagen, daß eine Nation, nicht aber,
daß Individuen in einem Territorium »verwurzelt« sein können;
moderne Individuen sind in einem mehr oder weniger dramati
schen Sinn »entwurzelte« Individuen, die die Freiheit haben, ihre
communities im Laufe ihres Lebens zu wechseln. Demgegenüber
sind dem normativen Bild zufolge, das die zweite Tradition von
Individuen entwirft, auch diese »verwurzelt« - verwurzelt nicht
nur in einer Sprache, sondern auch in einem Boden und in einem
Netzwerk von Traditionen und Loyalitäten. In beiden Fällen ha
ben ein Territorium und die entsprechende Community gegenüber
den Individuen über die Zeit hinweg eine Art unveränderter Iden
tität; aber im ersten Fall ist der »Fluß« der Individuen durch ein
Territorium zumindest teilweise ein »horizontaler«: sie kommen
und gehen, d.h. sie kommen hinein und gehen hinaus — man
denke daran, daß ihnen heute Autos, Züge, Schiffe und Flugzeuge
als Mittel der Fortbewegung zur Verfügung stehen. Im zweiten
Fall ist der »Fluß« der Individuen durch ein Territorium ein we
sentlich »vertikaler«: die Individuen werden auf demselben Boden
geboren und aufgezogen, auf dem sie auch sterben und begraben
I- werden. Das Land ist das Land ihrer Vorväter und ihrer Kinder;
der »Fluß« der Individuen durch das Territorium ist eine Abfolge
von Generationen, die alle demselben Land gehören. Das zweite
Modell ist das Modell traditionaler agrarischer Gesellschaften;
und ich glaube, daß es nicht als Norm verstanden werden sollte,
wenn der Begriff des Territoriums im Kontext einer Debatte über
gegenwärtige Architektur verwendet wird, selbst wenn jenes Mo
dell in einem begrenzten Maße auch im Kontext moderner Gesell
: ! schaften noch Gültigkeit besitzt. Der Grund, weshalb ich glaube,
daß es nicht als eine - vielleicht implizite - Norm verstanden wer
den sollte, ist der, daß eine Fixierung auf dies Modell eine Diskus
sion über den möglichen Beitrag der Architektur zur richtigen
Veränderung und zur Humanisierung unserer Welt unmöglich
1 machen würde. Wenn ich den Begriff des »Territoriums« gebrau
che, verstehe ich ihn deshalb im ersten Sinn -, in dem sogar eine
Stadt wie New York als ein Territorium verstanden werden kann.
Der kritische Sinn des Begriffs wäre dann wesentlich mit der Idee
274
einer lokalen und dezentralen Autonomie von kulturell oder po
litisch definierten Gruppen verknüpft; d. h. mit deren Recht,
diejenigen Lebensformen und Prioritäten zu wählen, die für sie
aufgrund der einzigartigen Ressourcen ihres natürlichen oder so
zialen Ortes und ihrer kulturellen Traditionen attraktiv sind.
Verwendet man den Begriff des Territoriums in diesem Sinn, dann
verhielte er sich komplementär zum Universalismus moderner de
mokratischer Ideen, wäre zugleich aber auch untrennbar von
ihm.
Demokratie ist der terminus medius, der allein die Architektur
gegen die ihr inhärenten Gefahren der technologischen Perver
sion, der politischen und ökonomischen Korruption und der
ästhetischen Degeneration schützen kann. Damit will ich nicht
sagen, daß der Prozeß architektonischen Entwerfens und Kon
struierens demokratisiert werden soll. Technische Sachkenntnis,
ästhetische Phantasie und professionelle Erfahrung können nicht
wirklich demokratisiert werden. Aber es macht einen gewaltigen ■
Unterschied, ob diese Elemente der architektonischen Produk
tion in Formen demokratischer Selbstbestimmung und öffent
licher Diskussion eingebunden sind oder nicht und ob sie mit der
kollektiven Erfahrung und der Phantasie der Menschen, für die
Gebäude gemacht werden, kommunizieren oder nicht. Das mag
trivial klingen, und ich denke, daß es in einem bestimmten Sinn
trivial ist. Dennoch glaube ich, daß das, was ich eben gesagt habe,
den einzig möglichen Weg bezeichnet, auf dem Architektur die
Architektur ihres Territoriums bleiben - oder wieder werden - '1
kann, d. h. eine Architektur, die bestimmte Lebensformen artiku i i
liert und transformiert und sie gleichzeitig mit Hilfe all der
Ressourcen bereichert, die man aus der modernen Technologie
ebenso wie aus den sozialen und ästhetischen Erfahrungen ver
gangener Epochen und fremder Kulturen gewinnen kann. Alvar
Aalto hat Elemente der italienischen Piazza in die finnische Archi
tektur eingeführt, und trotzdem erscheint seine Architektur finni
scher als die Birkenwälder. Le Corbusier hat Elemente der
archaischen Architektur des Mittelmeerraums und des Nahen
Ostens wieder in die moderne europäische Architektur einge
führt, und dennoch erscheinen viele seiner Gebäude immer noch
moderner und europäischer als vieles, was heute in Zentraleuropa
gebaut wird.
Das bringt mich zurück zum Thema architektonischer Interven-
*75
J
I
li
lich. Und das heißt zugleich, daß wir gar nicht die Wahl haben
zwischen Fortschritt und Bewahrung. Die einzige Wahl, die wir
haben, ist die zwischen verschiedenen Richtungen des Fort
schritts, verschiedenen Richtungen der Veränderung. Diese Kon
i ; stellation schließt romantisch-konservative Hypostasierungen
i dessen, was mit dem Begriff des Territoriums gemeint ist, aus.
Auch Territorien werden von jenem dialektischen Sog erfaßt, der
- um ein Marx-Wort zu variieren - alles »Stehende und Ständi
sche« in der Moderne in Bewegung versetzt. »Heimat ist das
276
1
Entronnensein«, hat Adorno einmal gesagt; und das besagt zu
gleich, daß Bewahrung nur als rettende Veränderung möglich ist.
Nur in diesem Sinne kann die Integrität von Territorien bewahrt
werden; genau in diesem Sinne aber sollten auch die besten Tradi
tionen der modernen Architektur bewahrt werden. Gerade wenn
es stimmt, daß die ästhetischen, praktischen und politischen
Aspekte der Architektur unlösbar miteinander verknüpft sind,
dann, so glaube ich, verdient insbesondere etwas von der ästhe
tischen Radikalität und Kühnheit und sogar einiges von den
utopischen Energien der modernen Architektur gerettet zu wer
den, auch wenn wir inzwischen wissen, daß die Technologie uns
nicht retten kann und daß die menschliche Welt nie ein architek
tonisches Gesamtkunstwerk sein wird.
i i
277
12. Terrorismus und Gesellschaftskritik
(i979)
Vorbemerkung
I 278
dieses heute für die Simplifizierungen, Regressionen und Wahn
bildungen des terroristischen Bewußtseins verantwortlich ge
macht wird, so deshalb, weil der »Staat«, der bei uns heute gegen |
den Terrorismus verteidigt wird, allzu häufig nicht mehr der libe-;
rale Rechtsstaat ist, sondern ein Status quo, dessen Verteidiger'
offenbar Grund haben, sich vor kritischen Gedanken zu fürchten.
Mit dem Versuch, Gesellschaftskritik in die Nähe des Terrorismus
i ■
zu rücken, sind im übrigen, wie so oft in der deutschen Ge
schichte, die gesellschaftlichen Zustände wieder einmal freige
sprochen, während alles Schlimme den Kritikern dieser Zustände
angekreidet werden kann.
Ich möchte im folgenden dem Thema »Terrorismus und Gesell
schaftskritik« eine andere Wendung geben, als es der Optik derje
nigen entspricht, für die die Formulierung des Themas bereits eine
Anklage enthält. Ich gehe davon aus, daß der Vorwurf an die
Adresse der kritischen Theorie aufs engste zusammenhängt mit
dem inzwischen auf die gesamte Linke gemünzten Verdacht der
»Sympathie« mit dem Terrorismus. Das zu verhandelnde Thema
ist also zugleich »Der Terrorismus und die Linke«. Da die Terro
risten sich als »links«, als »sozialistisch« verstehen, gibt es Gründe
genug, dieses Thema nicht den Rechten zu überlassen. Allerdings
ist es keineswegs einfach, sich bei der Diskussion dieses Themas
der objektiven Gewalt des Freund-Feind-Denkcns zu entziehen,
welches das Verhältnis zwischen dem »Staat« und den »Terrori
sten« in den letzten Jahren zunehmend beherrscht. Je mehr die
gesamte Linke zum Opfer dieses Freund-Fcind-Dcnkens wird,
desto mehr hinterläßt dasselbe seine Spuren auch in den Diskus
sionen und Selbstverständigungsversuchen der Linken. Wer zum
Feind des Staates und zum Freund der Terroristen stilisiert wird,
der mag am Ende keine andere Wahl mehr sehen als die zwischen
billiger Distanzierung vom Terrorismus und emotionaler Solidari
sierung mit denen, die inzwischen zum Opfer ihrer eigenen Ge
waltstrategie geworden sind. Ich finde es demgegenüber wichtig,
daß die Linke jenseits von falschen Distanzierungen und falschen
Solidarisierungen — zwei Reaktionsweisen, die einander wechsel
seitig herausfordern - ihr Verhältnis zum Terrorismus in einer ra
tionalen, ihr nicht von außen aufgezwungenen Weise bestimmt.
Ich möchte im folgenden zunächst einige kritische Überlegungen
zum sozialistischen Selbstverständnis der RAF und anderer
»Stadtguerilla«-Gruppen anstellen; ich möchte ferner auf das für
279 !?
die Linke fatale Zusammenspiel von Terrorismus und politischer
Reaktion Hinweisen; schließlich möchte ich, nicht zur Verteidi
ii gung der kritischen Theorie, wohl aber aus ihrer Perspektive,
einige Überlegungen zu den gesellschaftlichen Hintergründen des
Terrorismus und zu den Voraussetzungen seiner propagandi
stisch-politischen Ausschlachtung durch die politische Rechte
vortragen.
' Ich werde zunächst für eine These argumentieren, deren Mangel
an Originalität nichts an ihrer Wahrheit ändert. Die These lautet:
Es gibt keinen Grund, den Terrorismus der RAF und der ihr ver
I wandten »Stadtguerilla«-Gruppen als eine radikalisierte Spielart
linker bzw. sozialistischer Politik anzusehen. Die Linke hat daher
allen Anlaß, zwischen sich und den Terroristen einen klaren poli
tischen Trennungsstrich zu ziehen; dies gilt um so mehr, als die
Folgen terroristischer Strategien für die Linke heute vor allem in
einer Gefährdung ihrer eigenen Existenz- und Handlungsmög
lichkeiten bestehen.
Vorweg möchte ich erläutern, in welchem Sinne hier von einem
klaren Trennungsstrich zwischen der Linken und den Terroristen
die Rede sein soll. Es gibt innerhalb der Linken heute Formen der
Distanzierung vom Terrorismus, in denen ein Stück Verdrängung
steckt: nämlich eine Verdrängung der Tatsache, daß, historisch
l genealogisch betrachtet, der Terrorismus der RAF und anderer
i Gruppen natürlich sehr wohl einmal als eine - radikalisierte -
Spielart linker Politik intendiert war. Damit meine ich nicht nur,
daß es biographische Verbindungslinien von der Neuen Linken
der sechziger Jahre zu den terroristischen Gruppen gibt; ich
meine auch, daß etwa eine Frau wie Ulrike Meinhof von ihren
I Motiven, ihrer Biographie und ihrem Selbstverständnis her^/s So
zialistin der RAF sich angeschlossen hat. Ich meine, daß wir es
uns nicht leisten können, diese Tatsachen zu verdrängen, wenn
wir zum Terrorismus ein theoretisch, politisch und moralisch an
gemessenes Verhältnis gewinnen wollen. Genau auf dieser Ebene
hat auch die Forderung nach Solidarität noch einen Sinn: ich
■
meine nicht die falsche politische Solidarität mit Gruppen, deren
Aktionen längst objektiv reaktionär geworden sind, sondern die
z8o
i
h
Solidarität mit Menschen, mit denen wir ein Stück gemeinsamer
Geschichte - d. h. Erfahrungen, Intentionen und Verzweiflungen
i
- einmal geteilt haben.
Ich möchte jetzt die These erläutern, daß der individuelle Terro
rismus der RAF und anderer »Stadtguerilla«-Gruppcn nicht als i
radikale Spielart linker Politik verstanden werden kann, daß er;
vielmehr objektiv der gesellschaftlichen Reaktion in die Hände ■
arbeitet. Und zwar möchte ich, vor allem am Beispiel der RAF, i
r.auf einige Grundirrtümer und wahnhafte Verzerrungen der
Wirklichkeit hinweisen, die dem Terrorismus als einer Verzweif
lungsform sozialistischer Praxis oder doch einer sozialistisch ge
meinten Praxis von allem Anfang an zugrunde lagen; und ich
möchte 2. auf einige Mechanismen hinweisen, die dazu beigetra
gen haben, daß eine einmal sozialistisch gemeinte Form der
illegalen Praxis objektiv in die Nähe einer Gewaltkriminalität von
rechts gerückt ist.
Ad i: Der erste Irrtum oder besser: die erste Illusion, betrifft die
Übertragung von Modellen, die an Befreiungsbewegungen der
Dritten Welt gewonnen waren, auf Verhältnisse hochindustriali
sierter, parlamentarisch-demokratisch organisierter Gesellschaf
ten.1 Ich möchte in diesem Zusammenhang von einem Mao-
Fanon-Che-Gucvara-Syndrom sprechen. Nachdem erst einmal
»der Imperialismus« als die eiserne Klammer erkannt worden
war, die alle Formen der Unterdrückung und Entfremdung und
alle Emanzipationsbewegungen auf der Welt zusammenhält,
konnten die Mitglieder der RAF die Emanzipationsprobleme der
Ersten Welt in Kategorien von Befreiungsbewegungen der Dritten
Welt deuten. Aus der richtigen Einsicht, daß gesellschaftliche Ver
änderungen nur dort bewirkt werden, wo Individuen den Ent
schluß zu verändernder Praxis fassen, wurde die Illusion, daß
»einige Dutzend Kämpfer, die wirklich beginnen und nicht nur
endlos diskutieren, [...] die politische Szene grundlegend verän
dern« können, und zwar in dem Sinne, daß durch den bewaffne
ten Kampf einiger weniger die »Zustimmung der Massen« zum
bewaffneten Kampf bewirkt werden und damit die Emanzipation
der Massen in Gang gesetzt werden könne.2 Nur die gewaltsame
1 Vgl. Rote Armee Fraktion, »Das Konzept Stadtguerilla«, in: texte: der
RAF, Lund 1977, S. 337ff., insbes. S. 3$ 5 ff.
2 Vgl. Kollektiv RAF, Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa, Wa
genbach-Rotbuch, S. 43.
28 I
Verdrängung alles dessen, was man aus einer auf Marx sich beru
■I
fenden kritischen Gesellschaftstheorie über die Möglichkeiten
einer Veränderung spätkapitalistischer Gesellschaften lernen
kann, läßt einen solchen gewaltsamen Kurzschluß von der Dritten
1. I auf die Erste Welt begreiflich erscheinen. Und in der Tat möchte
man bezweifeln, daß die Terroristen jemals ernsthaft an diese Per
spektive ihres illegalen Kampfes geglaubt haben können; ich neige
dazu, sie für die pseudopolitische Rationalisierung einer Ver
I
I i
5!
sich gegen Enttäuschungen abgesichert. Diese Absicherung warin
ihrem Verständnis von »proletarischem Internationalismus« be
gründet. Sie verstanden ihren Kampf ja als Teil eines internationa-
3 Vgl. »Erklärung zur Sache« (Januar 1976), in: Der Tod Ulrike Meinhofs.
-.1 Dokumentation, Hg. Schwarze Hilfe, S. 121.
4 texte: der RAF, a.a.O., S. 260.
282
len Befreiungskrieges gegen den Imperialismus und die multina
tionale Organisation des Kapitals. Damit hatten sie aber ihren
Rückhalt in einer Massenbewegung bereits gewonnen, nämlich im
antiimperialistischen Kampf der Völker der Dritten Welt. Unter
diesem Gesichtspunkt erscheint die Verschärfung der Widerspru
che und der Repression in den Metropolen als eine ohnehin
h
zwangsläufige »Rückwirkung der Befreiungskriege der Völker der
dritten Welt auf die Metropolcngescllschaft«.5 Die Funktion der
Metropolcnguerilla wird noch einmal umdefiniert: diese erscheint
als leninistischer Kader, der dem Volk für die in Zukunft unver
meidlich werdenden Klassenauseinandersetzungen »eine poli
tisch-militärische Avantgarde, einen politisch-militärischen
Kern« bcreitstellen wird, um die Bedingungen revolutionärer
Handlungsfähigkeit zu gewährleisten.6 Unter dieser Perspektive
erscheinen die zunächst als eigentliche Adressaten der revolutio
nären Initiative anvisierten Massen der kapitalistischen Metropo
len nur noch langfristig als potentielle Subjekte des revolutionären
Kampfes. Jetzt geht es nämlich nicht mehr - jedenfalls nicht mehr
direkt - darum, Emanzipationsprozesse in den Metropolen in
Gang zu setzen, sondern nur noch darum, im Herzen des Feindes
am Befreiungskampf der Dritten Welt gegen den Imperialismus
teilzunehmen: Zerschlagung der Metropole wird zum Ziel des
bewaffneten Kampfes, und die Massen der Metropole erscheinen
nur noch als Objekte dieses Kampfes. Unter diesen Umständen
konnte aber auch eine längerfristige Isolierung der Terroristen
vom Volk, von den zu befreienden Massen, konnte auch eine Ver
schärfung der Repression ohne die Folge der Entstehung einer
revolutionären Massenbasis für die RAF und die ihr nahestehen
den Gruppen letztlich keine negative Beweiskraft mehr haben.
Ich meine, daß die Interpretationen, Rechtfertigungen und die
strategischen Kalküle der RAF insgesamt Züge eines Wahnsystems
aufweisen, und zwar deshalb, weil realitätsgerechte und realitäts
ferne Elemente sich bei den Mitgliedern der Gruppe am Ende so
zu einem enttäuschungsfesten System von Ideen zusammenge
schlossen hatten, daß genuine und selbstkritische Erfahrungspro
zesse für sie wohl kaum noch möglich waren. Dies ist, wie ich
glaube, einer der Umstände — neben anderen, die die RAF nicht zu
5 A.a.O., S.252.
6 A.a.O., S. 253.
283 . i
verantworten hat —, die es so schwer machen, die Wahrheit hcraus-
zufinden über das, was in Stammheim (und in anderen Gefängnis
sen) wirklich geschehen ist. Natürlich ist zu vermuten, daß gerade
die jahrelange Isolation der zum Umkreis der RAF gehörenden
Gruppen - sowohl unter den Bedingungen des illegalen Kampfes
als auch später in den Gefängnissen - erheblich dazu beigetragen
hat, daß sie sich gegen eine Korrektur durch Erfahrung immuni
sierten. »Theorie und Praxis werden eine Einheit nur im
Kampf«,7 so steht es in einem schon mehrfach zitierten Spiegel-
K i Interview mit dem RAF-Kollektiv aus der Zeit des dritten Hun
gerstreiks der RAF-Häftlinge; in dem Kontext, in dem diese
Äußerung steht, wirkt sie, als käme sie aus einer fernen Phantasie-
Welt, sie wirkt wie eine aus dem Zusammenhang gerissene Wahr
heit, die einem deshalb fast die Sprache verschlägt.
Im selben Interview steht auch der folgende Satz: » Wts für Lenin
die bolschewistische Kaderpartei war, ist unter den Bedingungen
der multinationalen Organisation des Kapitals, der transnationa
len Struktur der imperialistischen Repression nach innen und
außen heute die Organisation proletarischer Gegenmacht, die aus
der Guerilla entsteht.«3 Ich zitiere diesen Satz, um noch einmal
das Irreale am leninistischen, geschweige denn am marxistischen
Selbstverständnis der RAF zu verdeutlichen. Was an der Lenin
schen Parteikonzeption marxistischen Theorieansätzen wider
spricht, läßt sich durch Hinweis auf die Verhältnisse in einem
autokratisch regierten und rückständigen Land, wie es Rußland
vor dem Ersten Weltkrieg war, zumindest verständlich machen.
Immerhin stand diese Konzeption im Zusammenhang mit derA/>-
i lösung terroristischer Strömungen durch das Aufkommen einer
marxistisch orientierten, aber zur Illegalität weithin verurteilten
Arbeiterbewegung. Wie problematisch die Leninsche Konzeption
gleichwohl war - auch wenn sie unter rein machtpolitischen Ge
sichtspunkten erfolgreich war -, das hat m. E. die stalinistische
i Entwicklung der Sowjetunion deutlich gezeigt. Die RAF hat aber
nicht nur, wie andere leninistische Parteisekten auch, diese Kon
zeption auf demokratisch regierte westliche Industriegesellschaf
ten übertragen - worin allein schon ein gehöriges Stück Verzer
■ 1
rung der Realität steckt sie hat vielmehr diese Konzeption in
i
7 A.a.O., S. 247.
8 A.a.O., S. 253 f.
284
1
einer geradezu wahnwitzigen Weise, sozusagen nach rückwärts,
zu Ende gedacht: die westlichen Metropolen erscheinen am Ende
als das St. Petersburg eines weltweiten Unterdrückungssystems, in
dem allein noch der bewaffnete Kampf entschlossener Gucrille-
ros, die sich an die Spitze der geknechteten Massen setzen, der
Tyrannei eines allgegenwärtigen und zugleich zum Super-Zaren
personifizierten Kapitals ein Ende bereiten kann. Nur eine ge
waltsame Vermengung von Bildern und Modellen in der Phantasie
der Terroristen kann am Ende ihre Überzeugung begreiflich ma
chen, daß eine mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes herbei
geführte Zerrüttung der Metropolen notwendigerweise zu einer
besseren, einer befreiten, einer sozialistischen Gesellschaft führen
müsse.
I
Nun handelt es sich bei dem ursprünglichen Kern der RAF ja um
eine außergewöhnliche Gruppe von Frauen und Männern, deren
selbstgcwähltes Schicksal - ich spreche nicht von ihrem Ende,
über das ich nur mutmaßen kann - bei vielen, die nie in Versu
chung standen, ihre Aktionen zu billigen, Entsetzen und Trauer
ausgelöst hat. Aufgrund ihrer Lebensgeschichte, ihres Reflexions
niveaus und ihrer Verbindung mit der Studentenbewegung der
sechziger Jahre nehmen sie innerhalb des terroristischen Unter
grunds noch einmal eine eigentümliche Sonderstellung ein. Das
gilt auch deshalb, weil sie - obschon für Kritik von selten der
Linken längst nicht mehr erreichbar - sowohl die Intelligenz als
auch den Willen noch hatten, sich öffentlich zu erklären, und weil
ihre Aktionen wenigstens zum Teil politischen Interpretationen
noch zugänglich waren. Für die nachfolgenden Generationen von
Terroristen gilt, wie mir scheint, nicht einmal dies mehr in irgend
einem vergleichbaren Maße. Man gewinnt vielmehr den Eindruck,
daß sich der terroristische Untergrund in einer geradezu rasanten
Talfahrt noch einmal von dem politischen Reflexionsniveau der
RAF-Gründer entfernt hat und daß seine Aktionen mehr und
mehr »sub-politischen« Charakter angenommen haben. Dem ent
spricht eine zunehmende Desensibilisierung gegenüber den Op
fern der Gewalt, eine zunehmende Ausweitung der Kategorie
jener, die als Opfer des Terrors in Kauf genommen werden, eine
zunehmende Einengung der politischen Praxis auf militärisch ■ i
strategisches Handeln, eine zunehmende Einengung der politi
schen Perspektiven auf sekundäre Ziele wie Gefangenenbefreiung
und schließlich wohl auch die Verselbständigung des bewaffneten
285
Kampfes zu einer Lebensform, die zum Selbstzweck geworden
ist, weil sie dem Guerillcro die einzige Möglichkeit bietet, seine
auf eine Haßbeziehung zum System zusammengeschrumpfte
Gruppenidentität zu wahren und auszuagieren - ganz abgesehen
davon, daß die Fortführung des bewaffneten Kampfes zur einzi
gen Chance eines Überlebens in Freiheit wird, zur einzigen
Chance also, dem Martyrium einer lebenslangen Freiheitsstrafe
zu entgehen. Dies alles gilt in gewissem Sinne auch schon für den
alten Kern der RAF; aber es scheint eine »Logik« der Verstärkung
solcher Tendenzen zu geben. Zur Logik eines zunehmenden Rea-
litäts- und Erfahrungsverlustes tritt die Logik einer zunehmenden
»Partikularisierung« und Entpolitisierung der handlungsorientie
renden Realitätsdeutungen hinzu. Hierdurch ist bereits einer je
ner Mechanismen bezeichnet, die einer unter sozialistischen
Vorzeichen begonnenen Form des illegalen Kampfes am Ende
Züge einer Gewaltkriminalität von rechts verliehen haben. Damit
komme ich zum zweiten Schritt meiner Überlegungen.
i ■1 Ad 2: Ich möchte auf zwei miteinander zusammenhängende Me-
!. chanismen hinweisen, die dafür verantwortlich zu sein scheinen,
'! daß aus einer revolutionär gemeinten Form des illegalen Kampfes
I ein Zusammenspiel von Terrorismus und Reaktion geworden ist.
Der erste Mechanismus betrifft die psychisch-soziale Situation
der Terroristen, der zweite die politisch-gesellschaftlichen Folgen
des Terrorismus. Den ersten Mechanismus haben z. B. Michael
»Bommi« Baumann (in seinem Erfahrungsbericht Wie alles an
fing') und Horst Mahler (in einem Fernsehinterview) - wie ich
meine: glaubhaft - beschrieben. Baumann und Mahler schildern
/übereinstimmend, wie unter Bedingungen der Illegalität, der kon-
1 ( spirativen Mimikry und eines wachsenden Drucks der Außenwelt
(die Erfahrungs- und Kommunikationsgewinne der antiautoritä-
Iten Phase der Studentenbewegung wieder verlorcngingen. Die
Isolation der Gruppe von der Außenwelt führt dazu, daß sie von
den Erfahrungen, Bedürfnissen und Lernprozessen derer abge
! i schnitten ist, für die stellvertretend zu handeln sie sich entschlos
sen hat. Der wachsende Druck der Außenwelt und die Überle
bensprobleme der Gruppe haben zur Folge, daß ihre Beziehungen
zur Außenwelt immer mehr auf strategische Primitivformen redu
ziert werden; Menschen erscheinen nur noch als strategisch je
weils verschieden bewertete Charaktermasken (Bullen, Sympathi
santen, Verräter usw.). Und schließlich hat der zunehmende
286
!
Druck der Außenwelt Rückwirkungen auch auf die interne Grup
penstruktur. Der Erfahrungs- und Realitätsvcrlust nach außen
reproduziert sich als Erfahrungs- und Kommunikationsverlust i
nach innen. Das heißt aber, daß allein schon die Lebcnsbedingun- j
gen der terroristischen Gruppen sie zu einer Angleichung gerade
an die inhumansten Züge der von ihnen bekämpften Apparate
zwingen. Nachdem sie den nackten Schrecken, den das von ihnen
bekämpfte System an seinen Rändern verbreitet (Vietnam), zur
einzigen Realität des Systems erklärt haben, machen sie durch die
Form ihres Kampfes an sich selbst wahr, was sie für das System
behauptet hatten, nämlich die Reduktion aller Lebensprozesse auf
die Verbreitung von Schrecken. »Bommi« Baumann hat diesen
Mechanismus besonders drastisch geschildert:
»Obwohl es die ganze Zeit darum ging, daß du von Siemens wegkommst,
auf einmal bist du genau wieder da. Du stehst mit kurzen Haaren, mit
Anzug, mit allem wieder da, wo du hergekommen bist, und die Leute
drumherum reagieren [...] auch genauso, sie sind abgebrüht wie gehabt.
Da hast du dich abgestrampelt all die Jahre und hast alles gemacht und auf
einmal bist du genau da wieder angekommen [...]. Daran sind die Leute
kaputt gegangen, an den psychischen Schwierigkeiten innerhalb der
Gruppe am Schluß. Die überall auftauchen, die du aber, wenn du ein
größeres Spektrum nach außen hast, leichter abbauen kannst. Oder Lern
prozesse, wo auch mal Fremde dabei sind, mit denen du dann diskutieren
kannst, so ist es ja bei allen Kommunen gewesen. [...] Du bildest einfach
nur noch solche Raubtierinstinkte aus, du läufst nachher nur noch wie ein
Revolvermann. Jedes geschärfte Auge könnte dich im Grunde genommen
erkennen. Irrsinn, was du machst, immer mit ’ner Knarre rumzulaufen.
Ein Mann, der mit der Knarre rumläuft, der verlagert seinen Mittelpunkt
zur Waffe hin, da wo du sie trägst, da ist dein Mittelpunkt. [...] Zu ande
ren Leuten hast du ja nur noch einen Sachkontakt, wenn du jemanden
triffst, sagst du ja nur noch, Alter hör mal zu, du mußt mir jetzt die und j
die Sache besorgen, da und da ’ne Wohnung mieten und in drei Tagen
treffen wir uns hier an der Ecke. Wenn er irgendeine Kritik an dir hat, sagst V
du, das interessiert mich alles gar nicht. Entweder du machst mit oder läßt i i-l
es bleiben, klipp und klar. Du wirst wie der Apparat, den du bekämpfst,
zum Schluß hat er dich eingeholt.«9
Der zweite Mechanismus, auf den ich hinweisen möchte, betrifft
, i
die politischen und sozialen Folgen des Terrorismus. Da die Ter
roristen sich bewußt von den Bedürfnissen, Erfahrungen und
I
lich sein sollte. Physische Gewalt, je schwerer und unwiderruf
licher sie ist, bedarf daher in jedem Falle einer besonderen
Legitimation, die solche Gegengründe für bestimmte Fälle außer
| Kraft setzt. Daß es Situationen gibt, in denen Gegengewalt bis hin
288
i
zur Tötung von Menschen moralisch gerechtfertigt werden kann,
wird andererseits auch von Liberalen in der Regel nicht bestritten;
Beispiele wären Situationen, in denen Gewalt das einzig mögliche
I
Mittel ist, um erfolgreich Widerstand zu leisten gegen eine un
erträgliche Unterdrückung oder eine unerträgliche moralische
Korrumpierung. Es mag sogar in gewissen Situationen eine mora
lische Verpflichtung zum physischen Widerstand oder zur physi
schen Gewaltanwendung geben. Wer sich aber für die Gewalt f
entscheidet, nimmt eine schwere Bcweislast auf sich. Wenn gezeigt |
werden kann, daß die Rechtfertigung der Gewalt einem Wahn
system entstammt, d. h. aus Verblendung und Selbsttäuschung
kommt, dann folgt hieraus nicht nur eine moralische Verurteilung
der gewalttätigen Aktionen, cs folgt vielmehr auch ein Urteil über
die »moralische Pathologie« der Gewalttäter - selbst wo deren
Handeln, wie bei einem Teil der Terroristen, die moralische Form
der Selbstlosigkeit annimmt.
Dem möchte ich allerdings hinzufügen, daß ich aus guten Grün
den nur an dieser einzigen Stelle die moralischen Implikationen
meiner bisherigen Überlegungen explizit gemacht habe. Direkte
moralische Verurteilungen des Terrorismus weisen nämlich in der
Regel nicht weniger Züge von Rationalisierung und interessierter
Selbsttäuschung auf als die Rechtfertigungen der Gewalt durch
die Terroristen. Die Sprache der Moral ist auch ein Herrschafts
mittel. Die moralische Kritik am Terrorismus wird zur puren
Heuchelei, wo sie einhergeht mit der stillschweigenden Duldung,
der Beschönigung oder der offenen Rechtfertigung von Formen
staatlich organisierten Terrors oder technologisch programmierter
Mißachtung des menschlichen Lebens. Die Mißachtung mora
lischer Normen durch die Terroristen ist aber nur ein Reflex der
ideologischen Funktionen, die diese Normen in der Gesellschaft
erfüllen. Wäre es möglich, die moralischen Energien, die heute
gegen den Terrorismus sich entladen, auf das Ziel einer Humani
sierung der Gesellschaft umzulenken und sie dadurch zugleich
von ihrem repressiven und ideologischen Charakter zu befreien,
so würde das Problem des Terrorismus sich von selbst erledigen.
Die Grundillusion der Terroristen ist, daß eine solche »Umlen
kung« moralischer Energien und die damit notwendig verbun
dene Veränderung von Erfahrungsweisen, Bedürfnisinterpretatio
nen und Einstellungen eine Folge ihres bewaffneten Kampfes sein
könnte.
289
II.
29O
sich aus ihrer Verschränkung mit praktisch-politischen wie auch
mit philosophischen Diskursen nicht hcrauslösen lassen, da sie
gleichsam systematisierte Versuche einer Selbstverständigung
handelnder Individuen über ihre gesellschaftliche Situation dar
stellen. Sic führen nicht zu einem »wertneutralen«, technisch
verwertbaren prognostischen Wissen, sondern - bestenfalls - zur
Aufklärung und Selbstaufklärung handelnder Individuen über die
Bedeutung und die Möglichkeiten ihrer gesellschaftlichen Praxis.
Mit den folgenden, sehr vorläufigen Überlegungen möchte ich
andcuten, wo ich das theoretische »Potential« der Kritischen
Theorie sehe, das uns zu einem besseren Verständnis - und damit
auch zu einer gründlicheren Beurteilung - des gegenwärtigen Ter
rorismus verhelfen könnte.
Zunächst zu den Legitimationsproblemen und Systempatholo
gien unserer Gesellschaft: In Anknüpfung an Marx, Weber und
Lukacs haben bereits Adorno und Horkheimer die Entwicklung
kapitalistischer Gesellschaften als einen von praktischer Rationa
lität abgekoppelten Prozeß technischer und bürokratischer »Ra
tionalisierung« analysiert, in welchem der zunehmenden Zerstö
rung der äußeren Natur eine zunehmende technische und
manipulative Kontrolle der inneren Natur der Individuen sowie
eine zunehmende bürokratische Administration sozialer Bezie
hungen entspricht. Dieser Verselbständigung instrumenteller Ra
tionalität korrespondiert ein Fortdauern von Gewaltverhältnissen
auch noch dort, wo die Gewalt nicht in der Form des Terrors - sei
es im Faschismus oder an den »Rändern« demokratisch organi
sierter Industriegesellschaften (Vietnam) — unverhüllt in Erschei
nung tritt. Analysiert man moderne Industriegesellschaften unter
diesem Gesichtspunkt einer in den technisch-bürokratischen Ra-
tionalisicrungsprozessen und unter der Decke demokratisch
rechtsstaatlicher Institutionen fortdauernden »strukturellen Ge
walt«, einer strukturellen Gewalt, die auch die sozialen Beziehun
gen der Individuen und ihre psychische Konstitution durchdringt,
dann versteht sich von selbst, daß individueller Terrorismus be
stenfalls als eine Form ohnmächtigen Widerstands erscheinen \
kann, die der Logik des Systems verfallen bleibt und sie gewisser
maßen auf die Spitze treibt. Allerdings kann eine Theorie, die die
l'l
Realität kapitalistischer Industriegesellschaften als einen tenden
ziell total werdenden Verblendungszusammenhang versteht, ei
gentlich nicht mehr begreiflich machen, woher denn überhaupt
29I
die kritischen Intentionen und die Erfahrungen noch kommen
können, die das Universum instrumenteller Rationalität in Frage
■
stellen könnten. Wenn man der älteren Kritischen Theorie, etwa
seit der Dialektik der Aufklärung, im Zusammenhang mit dem
Terrorismus eines vorwerfen kann, dann dies, daß sic, sozusagen
in ironischer Übereinstimmung mit einem heute auf die gesamte
Linke gemünzten »Terrorismusverdacht« gegen radikale Kritik,
kaum noch Formen emanzipatorischer Praxis zu denken erlaubt,
die nicht von der Irrationalität des Systems infiziert wären, gegen
das sie sich richten. Von diesem Vorwurf ist es in Wirklichkeit
allerdings ein weiter Weg bis zu jenen Vorwürfen von rechts, mit
denen nicht die resignativen Züge der Kritischen Theorie ge
troffen, sondern ihre kritischen Gehalte kriminalisiert werden
sollen.
( Ich gehe im folgenden i. mit der klassischen - Marxschen - Form
der Kritischen Theorie davon aus, daß der Reproduktionsprozeß
kapitalistischer Gesellschaften Widersprüche und Krisen erzeugt,
\ die die Reproduktion dieser Systeme unter den beiden Randbe
dingungen private Verwertung von Kapital und repräsentative
1 Demokratie zumindest tendenziell als problematisch erscheinen
' lassen. Im Gegensatz zu Marx unterstelle ich allerdings, daß eine
Analyse des Krisenzusammenhangs kapitalistischer Gesellschaf
ten nicht ausreicht, um eindeutige »Systemschranken« zu be
zeichnen; im Gegensatz zu Marx und zur Kritischen Theorie
I Adornos und Horkheimers unterstelle ich ferner, daß dieser Kri-
I senzusammenhang keinen objektiv eindeutigen »Sinn« hat, weder
den der notwendigen Heraufkunft einer klassenlosen Gesellschaft
noch den eines gegen praktische Vernunft immer mehr sich ab
schließenden Universums instrumenteller Vernunft. Ich gehe
I I 2. mit neueren Entwicklungen der Kritischen Theorie (Habermas,
I Offe, Castoriadis) davon aus, daß die systembedrohenden Wider-
I Sprüche und Krisen des Kapitalismus nicht mehr primär auf der
\ Ebene des ökonomischen Systems zu suchen sind, sondern daß sie
I vor allem Probleme der Legitimation, der Motivation und der Ad-
1 ministration betreffen.10 Es sind diese Widersprüche und Krisen,
die, wie es scheint, heute auf der einen Seite die wesentlichen An-
io Vgl. insbes. J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus,
Frankfurt 1975; C. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates,
Frankfurt 1973; C. Castoriadis, PostScript zur Neudefinition der Revo
lution, MAO-Flugblatt, Berlin 1974.
292
satzpunkte für eine emanzipatorische Praxis darstellen, die auf
eine sozialistische (im Sinne einer radikal-demokratischen) Alter
native zum organisierten Kapitalismus abzielt; auf der anderen
Seite sind sie zugleich die Ansatzpunkte für regressive und terro
ristische Formen des »Austritts« aus der Gesellschaft und der
radikalen Verweigerung. Zu verstehen wäre, wie die kurzschlüs
sige Art der Erfahrung und Verarbeitung von Widersprüchen und
Problemen bei den Terroristen zusammenhängt mit diesen Wider
sprüchen und Problemen selbst. Dazu einige Andeutungen, die
vor allem durch Analysen von Habermas angeregt sind.
Die Probleme und Widersprüche, auf die es mir ankommt, betreff
betrcR
fen das bürgerliche Legitimationssystem ebenso wie die bürger-l
liehe Lebensform, also: a) die demokratisch-rechtsstaatlichcj
Sclbstinterpretation westlicher Industricgescllschaften, b) die
bürgerliche Leistungsethik sowie c) die auf Kleinfamilie und Be
rufskarriere privatistisch zentrierte Lebensform der Individuen,.
a) Die politisch-moralischen Grundnormen der bürgerlichen Re
publik werden als unglaubwürdig erfahren: i.weil ihnen keine
entsprechende demokratisch-moralische Qualität des Alltagsle
bens und weil ihnen keine transparente Beziehung zwischen den
politischen Entscheidungsprozessen einerseits und den Erfahrun
gen, Bedürfnissen und Handlungsmöglichkeiten der Individuen
andererseits entspricht. Dabei scheint es, daß die fortschreitenden
Rationalisierungs- und Bürokratisierungsprozesse zunehmend
eine selbsttätige Teilnahme der ihnen unterworfenen Individuen
ebenso verlangen wie blockieren.11 2. Weil diese Normen viel
fach im Widerspruch stehen zu den von den kapitalistischen
Systemen reproduzierten Ungerechtigkeiten und Ausbeutungs
verhältnissen und weil sie sich als machtlos erweisen gegenüber
der Macht der Apparate und den zerstörerischen Folgen des öko
nomischen und sozialen Fortschritts. Schließlich 3. weil diese
Normen bei Bedarf von den herrschenden Machtelitcn benutzt
werden, um imperialistische Gewaltverhältnisse zwischen Staaten
der Ersten und der Dritten Welt zu verschleiern und zu rechtfer
tigen. Die Ersatzideologie des Wirtschaftswachstums und der aus
Imperativen des Wirtschaftswachstums hervorgehenden »Sach
zwänge« kann dieses Legitimationsdefizit der bürgerlichen De
mokratie vermutlich so lange und nur so lange kompensieren, wie
293 i
N
□ 1
Probleme der materiellen Existcnzsichcrung und der privaten
Konsumsteigerung noch als die entscheidenden Orientierungs
punkte des politischen Verhaltens wirksam sind. Für die radikalen
Minderheiten, die gegenkulturellen Strömungen, die drop outs
wie auch für die sich vielfach konstituierenden »außerparlamenta
■ l rischen« Formen der politischen Organisation und der politischen
i Initiative ist das ersichtlich nicht mehr oder nicht mehr aus
schließlich der Fall, b) Die bürgerliche Leistungsethik verliert
ihre Glaubwürdigkeit in dem Maße, in dem i. eine Proportionali
tät zwischen sachlicher Qualifikation und beruflichem Erfolg
strukturell nicht mehr gewährleistet werden kann, und in dem
2. eine Proportionalität zwischen einer Anpassung an den Lei
stungsdruck sowie der Möglichkeit eines sinnvollen und erfüllten
Lebens nicht mehr erfahren werden kann. Schließlich verlieren
c) auch die traditionellen Normen einer privatistisch an Familie
und Berufskarriere des Mannes orientierten bürgerlichen Lebens
form und die entsprechenden Tugenden der Disziplin und einer
mit der Fähigkeit zum Gratifikationsaufschub verbundenen vor
ausplanenden Rationalität in dem Maße ihre Plausibilität, wie
durch den fortschreitenden Rationalisierungsprozcß die traditio
nellen Sinngrundlagen von Familie und Beruf zerstört werden,
ohne daß zugleich der bürgerlichen Lebensform ein Potential an
existentiell erfahrbarem Sinn nachgewachsen wäre. Dieser Punkt
betrifft Frauen und Männer aufgrund ihrer unterschiedlichen So-
zialisations- und Lebensbedingungen ersichtlich in verschiedener
Weise, zumal da die Frauen mit dem Zerfall der Legitimationen
für die traditionelle Geschlechtsrollenverteilung einer patriarcha
H lischen Gesellschaft sich als unterdrückte und unterprivilegierte
Hälfte der Gesellschaft wiederfinden. Zwar gibt es ein Emanzipa
I tionsproblem für Männer ebensosehr wie für Frauen; es stellt sich
aber für beide nicht in der gleichen Weise und mit der gleichen
Unmittelbarkeit. Für die Männer stehen nämlich gesellschaftlich
anerkannte, in ihrer Sozialisation vorbereitete Rollen- und Identi
fikationsmuster noch weithin zur Verfügung; sie können sich in
ihnen einrichten, wie sehr auch immer um den Preis einer Ver
drängung von Konflikten oder einer Unterdrückung von Bedürf
nissen. Für Frauen gilt dies in ungleich geringerem Grade; sie sind
heute weithin einem in sich widersprüchlichen System von Rol
lenerwartungen konfrontiert, wobei die einander widersprechen
den Rollen für sie oft ebenso unausweichlich wie inakzeptabel
294
,!i
sind. Für sie gibt es daher kaum Rollen- und Identifikationsmu
ster, in die nicht Identitätskonflikte, ein Defizit oder ein Verlust
an sozialer Anerkennung oder die Bedrohung eines affirmativen
Selbstbildes gleichsam schon strukturell eingebaut wären. Aus
diesem Grunde stellt sich für die Frauen das Sinnproblem unaus
weichlicher und massiver als für die Männer als ein Emanzipa-
nonsproblcm dar, für dessen Lösung die existierende (Männer-)
Gesellschaft keine gangbaren Wege vorzeichnet. Soweit es um die
Aufklärung des spezifischen Motivationshintergrundes weiblicher
Terroristen geht, müßte man diese Umstände sicherlich mitbe
rücksichtigen.12
Vielleicht könnte man, stark vereinfachend, von zwei »Hauptzo
nen« des Widerspruchs bzw. des Legitimationsdefizits sprechen.
Die erste betrifft den Widerspruch zwischen den sowohl in die
politischen Institutionen als auch in die Sozialisationsprozesse der
Individuen eingelassenen universalistischen Normen der Freiheit,
Menschenwürde, der Selbstbestimmung und des rationalen Dis
kurses einerseits und den Strukturen einer Gesellschaft anderer
seits, die nicht nur Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Zerstörung
und praktische Irrationalität fortwährend reproduziert, sondern
die auch dazu tendiert, ihre normativen Ansprüche an sich selbst
immer dann zynisch einzuziehen, wenn cs um die Verteidigung
von Herrschaftspositionen, sei es intern oder extern (im Verhält
nis zu Ländern der Dritten Welt), geht. Ich gehe davon aus, daß es
sich hierbei um einen strukturellen Widerspruch zwischen nor
: 1
mativem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit handelt,
der sich nur dadurch beseitigen ließe, daß entweder die kapita
listischen Randbedingungen der Produktion aufgehoben oder
aber die mit ihnen verbundenen normativen Ansprüche vollends
eingezogen würden. Letzteres ist jedenfalls so lange nicht mög
lich, wie die universalistischen Nonnen der bürgerlichen Demo
kratie noch in die politischen Institutionen und die Sozialisations
prozesse kapitalistischer Systeme eingelassen sind.
Die zweite Hauptzone des Legitimationsdefizits betrifft die Dis H
krepanz zwischen Systemstrukturen und Systemnotwendigkeiten
einerseits und den Bedingungen der Ausbildung einer tragfähigen
12 Einen Ansatz in dieser Richtung finde ich bei Ilse Korte-Pucklitsch, ■ i
»Warum werden Frauen Terroristen?«, in: Merkur, Nr.357, Februar
1978. Vgl. auch S. v. Paczensky (Hg.), Frauen und Terror, Hamburg
(rororo aktuell) 1978. ■'I
295
i
Identität und der Möglichkeit eines als sinnvoll erfahrenen Lebens
Bi
■I andererseits. Hierbei geht es also um die unmittelbaren Lebens
möglichkeiten der Individuen. Die systemstrukturell erzeugten
Prozesse der technischen und bürokratischen Rationalisierung
zerstören, im Zusammenhang mit ökonomischen Imperativen des
Wirtschaftswachstums, Traditionen, eingelebte Lebensformen
und Orienticrungsmuster und damit gleichsam die letzten tradi
tionalistischen Grundlagen einer tragfähigen Identität, ohne zu
gleich die Grundlagen für eine universalistisch konstituierte
» Besonderheit, also die Möglichkeit sinnvollen Lebens unter den
Bedingungen eines universalistisch gewordenen Bewußtseins,
mitzuerzeugen. Das mit der Komplexität moderner industrieller
Systeme wachsende Maß an »Entfremdung«, »Atomisierung«,
»Fragmentierung« und »Entwurzelung« geht in dramatischer
Weise über das hinaus, was Hegel als »Verlust der Sittlichkeit« in
der bürgerlichen Gesellschaft analysierte. Denn jene Traditionen,
gewachsenen Verhältnisse und traditionalistischen Deutungsmu
ster, auf die auch heute wieder die Konservativen gern in kompen
satorischer Absicht zurückgreifen, werden durch den mit den
Staatsfunktionen längst aufs engste verzahnten Reproduktionszu
sammenhang der Gesellschaft selbst - durch ökonomischen Fort
schritt und technisch-bürokratische Rationalisierung - entweder
zerstört oder außer Kraft gesetzt. Dieser Zerstörungsprozeß ist
zwar nicht notwendigerweise ein Aufklärungsprozeß, wie Marx
und Engels wohl noch glaubten, wenn sie schrieben:13
»Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwür
digen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugcbil-
deten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und
Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind
endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen
mit nüchternen Augen anzusehen.«
Aber dieser Prozeß könnte in seinen zerstörerischen Wirkungen
nur dann aufgehalten werden, wenn er als Aufklärungsprozeß zu
Ende geführt würde; konservative Strategien können Aufklärung
nur blockieren, die repressive Gewalt des Systems lediglich ver
stärken, ohne doch Traditionen als Traditionen wieder zum Leben
zu erwecken. Kompensiert werden könnte der durch den Repro-
296
duktionsprozcß industrieller Systeme erzeugte »Verlust der Sitt
lichkeit« nur durch demokratische Organisationsformen, die die
gesamtgesellschaftlichen Prozesse mit der Alhagswirklichkeit und
den Bedürfnissen der Individuen wieder in einen einsichtigen Zu
sammenhang brächten.
Die beiden eben bezeichneten Problemzonen hängen natürlich
aufs engste miteinander zusammen. Beide nämlich bezeichnen ge
sellschaftliche Bedingungen, unter denen es immer unwahrschein
licher zu werden scheint, daß Systemnotwendigkeiten, ein univer
salistisch gewordenes Bewußtsein und die Ansprüche und
Bedürfnisse der Individuen sich noch zur Form eines zugleich
richtigen und guten Lebens miteinander vermitteln könnten.
Die hieraus resultierenden Pathologien des Bewußtseins sind viel- I
facher Art. Ich möchte nur einige nennen, von denen ich glaube, ,
daß sie auch für ein sozialpsychologisch nicht eigens geschärftes '
Auge erkennbar sind: i. das Austrocknen der Sphäre praktischer •
Rationalität und damit eine Reduktion praktischer Probleme auf
technisch-instrumentelle; z. Formen der Regression auf eine vor
universalistische Stufe des moralischen Bewußtseins und dadurch j
- scheinhaft - ermöglichte Rückkehr zu Solidarität, Geborgenheit ;
und sinnvollem Leben; 3. alle die Formen der Pathologie, die aus
der Verdrängung der für die Individuen nicht mehr lösbaren Kon
flikte sowie ihrer Bedürfnisse und Ansprüche resultieren - soweit
diese aus den gesellschaftlich lizensierten Bedürfnisinterpretatio
nen und den ökonomisch etablierten Mechanismen der Bedürf
nisbefriedigung gleichsam herausfallen; 4. ein neuer Kult der
Unmittelbarkeit, d. h. Formen der aktionistischen und existenti- I
; i
I
alistischcn Lebensbewältigung, in denen gleichsam die Komplexi
tät der gesellschaftlichen Wirklichkeit verdrängt wird, Sinn und
Identität auf Kosten der Realität gesucht und in Formen unmittel
barer Solidarität stabilisiert und ausgelebt werden; 5. eine Verhär
tung des verletzten moralischen Bewußtseins gegen eine Wirk
lichkeit, die nur noch als totaler Verblendungszusammenhang ■
wahrgenommen werden kann, d. h. als das absolute Böse; ein sol-1
ches moralisches Bewußtsein bleibt notwendig abstrakt und kann ;
Wirklichkeitsdeutungen nur noch in der Form von Wahnsyste
men entwerfen; 6. die Redogmatisierung eines aus allen Sicherhei- !
ten traditioneller Lebensorientierungen, Weltbilder und identi-l
tätsverbürgender Interpretationssysteme herausgefallencn Be
wußtseins, das keine Bedingungen vorfindet, unter denen es das
297
I i
d Bedürfnis nach sinnkonstituierenden Interpretationen mit den
Normen kritischer Rationalität noch in Einklang bringen könnte.
Ich traue mir nicht zu anzugeben, in welcher spezifischen Mi
schung die hier angedcuteten Pathologien des Bewußtseins in
terroristischen Gruppen wiederkehren. Indes ist mir wichtiger,
bi plausibel zu machen, daß der Terrorismus der in dieser Gesell
i schaft möglichen »Normalität« gleichsam nähersitzt, als unsere
professionellen Staatsverteidiger glauben mögen, und daß er die
Pathologien des Systems reflektiert und auf die Spitze treibt, ge
gen das er sich richtet. Wollte man mehr zur Erklärung des
Terrorismus sagen, müßte man spezifischer werden. Ganz abgese
hen davon, daß terroristische Formen des Gucrillakampfes in
Ländern der Dritten Welt oder in Irland trotz aller heute sichtba
ren internationalen Verflechtungen eine andere Bedeutung und
andere Wurzeln haben als der Terrorismus in hochindustrialisier
ten Staaten, müßte man, wie mir scheint, auch bei einem Vergleich
etwa der RAF mit den Roten Brigaden jeweils noch spezifische
kulturelle, gesellschaftliche und historische Unterschiede der be
treffenden Systeme in Anschlag bringen. In Deutschland z. B. ist
die Entstehung des Terrorismus, wie mir scheint, kaum zu begrei
fen ohne den Hintergrund einer unbewältigten faschistischen
Vergangenheit und ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß die
republikanische Staatsform nicht Resultat eines geschichtlichen
Emanzipationsprozesses, sondern Resultat der Niederlage des Fa
schismus war. Das Legitimationsdefizit des Systems hat bei uns
gleichsam eine persönliche Note, weil es sich verbindet mit einem
spezifischen Legitimationsdefizit der älteren gegenüber der jünge
ren Generation; und es hat eine historisch besondere Note, weil es
verknüpft ist mit dem Problem einer politischen Tradition, in der
1 im Zweifelsfall eine obrigkeitsstaatliche bzw. autoritär durchge
setzte Ordnung immer höher im Kurs stand als individuelle
Freiheitsrechte, und in der deshalb Gehorsam und Disziplin -
selbst angesichts staatlich organisierten Terrors - immer noch we
niger sich verdächtig machen als die kritische Infragestellung
durchgescheuerter Autoritäten und Ordnungen.
li
298
ii
in.
299
ir
l Freude« über den Mord an Buback nicht etwa verteidigte, son
dern durchaus selbstkritisch eingestand, ging ein Aufschrei der
Empörung durch die öffentlichen Medien - selbst die Frankfurter
Rundschau sprach von »blankem Faschismus« (FR vom 8. Mai
1977); ein Großeinsatz der Polizei kontrapunktierte die öffent
liche Erregung. Der Versuch von achtundvierzig Hochschulleh
rern und Rechtsanwälten, der Aufheizung der Empörung über
den linken »Sympathisantensumpf« an den Universitäten zu be
- gegnen, indem sie den vollen Text des umstrittenen »Nachrufs«
i einer systematisch desinformierten Öffentlichkeit zugänglich
machten, verfehlte nicht nur seinen Zweck, er schlug vielmehr voll
auf seine Urheber zurück und hat am Ende zu einer der beklem
mendsten Episoden im Kampf gegen die möglichen oder ver
meintlichen »Sympathisanten« des Terrors geführt.14 Wenn
300
Konturen eines mit Ordnung verbundenen, d. h. staatlich organi
sierten Terrors verschwimmen, wogegen sic Terror vor allem in
der unmittelbaren Nachbarschaft einer Kritik wahrnehmen läßt,
welche an die in den Begriffen der -Freiheit* und der -Demokra
tie* gelegenen uneingclöstcn Versprechen erinnert. So geht am
Ende wieder die Freiheit oder dasjenige an ihr, was in der existie
renden Ordnung nicht aufgeht, für die Konservativen mit dem
»Schrecken« schwanger16 - als wäre das deutsche Problem nicht
vielmehr der Schrecken vor der Freiheit.
Der Versuch, Gesellschaftskritik in die Nähe des Terrorismus zu
rücken, verdeckt in Wirklichkeit das Zusammenspiel von Terro
rismus und Reaktion. Er paßt sich ein in die Bestrebungen, aus
dem Terrorismus der RAF und der ihr verwandten Gruppen Le
gitimationen abzuleitcn für eine Einschränkung demokratischer
Grundrechte, für eine Verschärfung der politischen Repression
und für die Einführung von Elementen eines Gesinnungs- (und
Gcfühls-)Strafrechts in die deutsche Rechtsprechung. Die Ten
denz zu einer schrittweisen Einschränkung demokratischer Frei
heiten hat in den vergangenen Jahren bereits dazu geführt, daß die
Äußerung radikaler Kritik und die kritische Wahrnehmung demo
kratischer Grundrechte immer mehr zu einem persönlichen Ri
siko, insbesondere für Angehörige der jüngeren Generation,
geworden sind; aber nicht nur für sic, wie der Fall Brückner zeigt.
Die Bereitschaft zur Anpassung wird in Deutschland wieder ein
mal höher bewertet als jene Tugenden, ohne welche eine demokra
tisch verfaßte Republik zum autoritären Staat verkommen muß.
In diese Tendenz fügt sich ein, daß zunehmend Bereiche der fak
tischen gesellschaftlichen Ordnung nicht mehr nur in der Rheto
rik von Politikern und in der Praxis staatlicher Bürokratien,
sondern auch in der Rechtsprechung mit dem Kernbestand unse
rer republikanischen Verfassung gleichgesetzt werden. Die frei
heitlich demokratische Grundordnung wird damit auch offiziell
3oi
immer mehr zu einem Synonym für die faktischen Machtverhält
nisse und die ökonomischen Strukturen unserer Gesellschaft.
Unter diesen Umständen wird jede Form der Kritik und der kri
tischen Analyse, die auf uneingelöste Versprechen des republika
nischen Grundrechts- und Freiheitskanons hinweist, tendenziell
zu einem Angriff auf die Verfassung und damit verfassungsfeind
lich.
Die schleichende Kriminalisierung kritischer Positionen erfüllt,
wie mir scheint, mindestens drei verschiedene Funktionen: 1. hat
f
sie Züge eines Verdrängungsprozesses, sie dient der Wiederher
stellung eines guten Gewissens angesichts der von den Gesell-
schaftskritikem benannten Pathologien des Systems; 2. verschafft
sic eine Legitimation für die Verschärfung der politischen Repres
sion; und 3. dient sie der Identifizierung von Sündenböcken:
Wenn die Linken im allgemeinen und die linken Theoretiker im
besonderen für den Terrorismus verantwortlich sind, dann
braucht die Gesellschaft in den Terroristen nicht mehr ein Spiegel
bild ihrer eigenen ungelösten Probleme zu erkennen, sie kann
diese Probleme vielmehr auf ihre Kritiker abwälzen und dadurch
zu lösen versuchen, daß sie die Kritiker zum Schweigen bringt.
Die Einsicht in den Zusammenhang von Terrorismus und Reak
tion wie auch die Einsicht, daß die Verteidigung der demokrati
schen Republik heute zu einer Existenzfrage der sozialistischen
Linken geworden ist, sollten innerhalb der Linken freilich auch
Anlaß geben zu einer kritischen und u. U. auch selbstkritischen
>• Besinnung auf den Sinn einer Verteidigung von bürgerlich-demo
kratischen Grund- und Freiheitsrechten. Damit komme ich zu
einigen Schlußüberlegungen, mit denen ich andeuten möchte, in
welchem Sinne der Terrorismus auch für die Linke ein Anlaß zur
Klärung ihrer Positionen sein sollte. Und zwar geht es mir vor
allem um die in der marxistischen Tradition zentrale Frage nach
der angemessenen Unterscheidung zwischen »ideologischen« und
1
»progressiven« Gehalten der bürgerlichen Demokratie. Der alte
und berechtigte Vorwurf, diese sei bloß »formal«, hängt zusam
! men mit der Einschätzung, die bürgerlich-parlamentarische De
mokratie sei die politische Form der kapitalistischen Klassenherr
schaft. Wie schon Rosa Luxemburg feststellte, kann dies nur
I heißen, sie sei nicht demokratisch genug; d. h. sie verhindere die
j
Ausbreitung von Formen demokratischer Selbstbestimmung auf
alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens - einschließlich des Be-
302
reichs der materiellen Produktion, der nach dem bürgerlichen
Demokratieverständnis als vorpolitisch aus dem Bereich demo
kratischer Willensbildung ausgegrenzt bleiben sollte. »Material«
wäre demnach eine Demokratie, die als eine den gesellschaftlichen
ll
Lebenszusammenhang im ganzen durchdringende und also das
Alltagsleben der Individuen bestimmende Form der Freiheit er
fahren werden könnte. In der marxistischen Tradition knüpft sich
hieran die Erwartung, daß mit der Aufhebung der Schranken der
bürgerlichen Demokratie - nach der Abschaffung des kapitalisti
schen Privateigentums - Formen des gesellschaftlichen Lebens
sich entwickeln würden, in denen Freiheit, Solidarität und eine
nicht mehr blockierte Selbstverwirklichung der Individuen mit
einander zur Deckung kämen. Ich glaube, wir müssen uns heute
eingestehen, daß wir nicht wissen können, wie weit und in wel
chem Sinne eine zukünftige Form des gesellschaftlichen Lebens
dieser Idee nahekommen kann. Für den klassischen Marxismus
und für den klassischen Anarchismus existierte das Problem - in
der Form, in der es sich für uns stellt - m. E. deshalb nicht, weil
beide - insgeheim oder offen - davon ausgingen, es gälte nur,
bestimmte Hindernisse - das kapitalistische Privateigentum, den
Staat, die Spuren der Entfremdung in den Subjekten - zu über
winden, und die Freiheit würde sich ungehindert entfalten. Ein
solches Modell bezieht seine Plausibilität aus Situationen einer als
unerträglich erfahrenen Unterdrückung oder Unfreiheit; Meta
phern wie die vom »Zerbrechen der Ketten« gehören in diesen
Zusammenhang. Gesellschaftstheoretisch wird dies Modell aber
in dem Maße falsch, wie es beansprucht, negative Bedingungen als
empirisch notwendige und hinreichende Bedingungen gesell
schaftlicher Freiheit zu fassen - auch wenn dies, wie in der
marxistischen Theorie, nur mit Bezug auf einen bestimmten Stand
der geschichtlichen Entwicklung geschieht. Entweder sind näm
lich die als notwendig angegebenen Bedingungen nicht hinrei
chend (Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmit
teln), oder aber sie sind nur deshalb hinreichend, weil das, was in I
ihnen gedacht wird, mit Freiheit selbst zusammenfällt (Aufhe
bung der Entfremdung, der Klassenherrschaft usw.). Daß sich für
Marx ein entsprechendes Problem nicht ernsthaft stellte, liegt
nicht zuletzt daran, daß die negative Bestimmung der Bedingun
gen von Emanzipation ursprünglich im Sinne einer dialektischen
Negation der Negation in seine Theorie hineingekommen war, '
I
3°3
Ii 1
J I
und zwar am ehesten zu verstehen im Sinne einer gcschichtsphi-
losophischen »Temporalisicrung« der Dialektik von Entzweiung
und Versöhnung aus der Hegelschcn Rechtsphilosophie. Diese dia
lektische Figur hat Marx aber niemals wirklich in seine geschichts
materialistische Theorie einarbeiten können, sic blieb zurück als
ein gcschichtsmetaphysischer Überschuß.
Das bedeutet aber, daß auch die positiven Bedingungen einer anti
zipierten, zukünftigen Form gesellschaftlicher Freiheit einer Be
stimmung bedürfen, wenn diese Antizipation nicht ins Leere
gehen soll. Nun ist es sicher richtig zu sagen, daß eine solche
Bestimmung selbst nur das Resultat geschichtlicher Praxis sein
kann - in dem Sinne, in dem Marx von der »Entdeckung« der
politischen Form der Kommune gesprochen hat. Damit verlagert
sich das Problem aber nur — jedenfalls solange man an der Idee
einer theoretischen Erhellung emanzipatorischer Praxis festhält.
Das Problem stellt sich jetzt nämlich so, daß die Theorie einen
angemessenen Begriff der historisch bereits existierenden Formen
der Freiheit haben muß, wenn sie Emanzipation nicht als bloße
Negation, sondern als »Aufhebung« dieser Freiheit antizipieren
will. Bloßes Hinausphantasieren auf künftige Formen der Freiheit
ohne klares Bewußtsein der historisch bereits — wie immer auch
gebrochen - existierenden Formen der Freiheit kann immer nur
zu einer abstrakten Negation des Bestehenden führen und ent
spricht daher letztlich auch den strengen Maßstäben nicht, die
durch die Marxsche Theorie selbst gesetzt sind. Das Bewußtsein
4 . der bereits existierenden Formen der Freiheit ist aber zugleich das
Bewußtsein derjenigen (positiven) Bedingungen, unter denen al
lein gesellschaftliche Veränderungen als Emanzipationsprozesse
vor sich gehen können; es ist, mit anderen Worten, ein Bewußt
sein dessen, was in einer uns vorstellbaren Welt eine (Minimal-)
Bedingung der Möglichkeit vernünftiger Freiheit bleibt.
Mit diesen Überlegungen will ich nicht für eine Einschränkung
der praktisch-emanzipatorischen Phantasie plädieren; es geht mir
vielmehr darum, eine falsche Form des phantasierenden revolutio
nären Bewußtseins zu kritisieren. Damit komme ich noch einmal
unter veränderter Perspektive zu dem gegen die bürgerliche De
mokratie erhobenen Vorwurf des bloß »Formalen« zurück. Die
ser Vorwurf wird nämlich von einem Teil der marxistischen
Linken, insbesondere soweit sie sich auf Lenin beruft, noch in
einem anderen als dem vorher erwähnten Sinne gegenüber der
3°4
I]
bürgerlichen Demokratie erhoben. Nach diesem Verständnis sind
die für die bürgerliche Demokratie charakteristischen allgemeinen
und formellen Rcchtsgaranticn - insbesondere Grundrechtsga
rantien - insgesamt bloßer Ausdruck bürgerlicher Klassenherr
schaft und daher unter Bedingungen sozialistischer Demokratie
überflüssig. Wir haben inzwischen genügend historische Erfah
rungen sammeln können, um zu wissen, daß in dieser Auffassung
ein verhängnisvoller Irrtum steckt, ein Irrtum, der zur Folge hat,
daß die Ersetzung der formalen durch eine materiale Demokratie
in diesem zweiten Sinne auf die Abschaffung der Demokratie und
damit zugleich auf die Verhinderung des Sozialismus hinausläuft.
Demgegenüber ist es mittlerweile zu einer Lebensfrage der Lin
ken geworden, daß sie zu einem klaren Bewußtsein nicht nur der
ideologischen und repressiven, sondern auch der progressiven
und emanzipatorischen Gehalte der bürgerlichen Demokratie
kommt. An dieser Frage scheidet sich heute die demokratische
von der dogmatischen und neostalinistischen Linken. Für die de
mokratische Linke kann die Verteidigung von Grundrechten und
demokratischen Freiheiten innerhalb unserer Gesellschaft niemals
eine bloß taktische Frage sein; sie verteidigt damit vielmehr auch
noch ihre zukünftigen Lebensbedingungen.
Man kann politische Begriffe nicht aus den historisch-politischen
Kontexten herauslösen, in denen sie entstanden sind. Indes wäre
es an der Zeit, die Begriffe »links« und »rechts« nach Maßgabe des
Verhältnisses politischer Gruppierungen zu demokratisch-repu
blikanischen Formen der Selbstbestimmung politisch neu zu defi
nieren. Man könnte dann ein für allemal den Zynismus gegenüber
den uneingelösten Versprechen einer demokratischen Republik
den Rechten überlassen. Hierdurch würde zwar der »linke« Ter
rorismus nicht einfach zu einem »rechten« Terrorismus; die Linke
- d. h. die demokratische Linke - könnte sich aber wirkungsvoller
gegen Versuche einer Kriminalisierung wehren, bei denen der
Wahnsinn und die Gewaltaktionen selbsternannter radikaler Vor
huten die Vorwände liefern. Auch das wäre ein Beitrag zur
Bewältigung des Terrorismus.
305
j
■
i
Anhang
iS
I
b
i
13. Hannah Arendt on Judgement:
The Unwritten Doctrine of Reason ■
(1985)
1.
i H. Arendt, The Life of Mind, Vol. i: Thinking. New York and London:
Harcourt Brace Jovanovich 1978, p. 193; dt.: Vom Leben des Geistes,
Bd. 1: Das Denken. München: Piper 1979, S. 192.
3>o
tional cases of indepcndcnce from prcfabricated opinions or of
resistance against the indiffercncc of the many.
That Arendt increasingly camc to considcr the faculty of judge-
ment as an autonomous faculty, therefore does not merely rcflcct
her indcbtedness to Kant’s philosophy, whose architectonics she
was to rcly upon in her last work. It also reflects the fact that her
thcory of autonomous judgement was, at the samc time, a theory
of the corruption of judgement in our time, and was thus implic-
itly related to a pcssimistic theory of modemity. The autonomy of
judgement manifests itself in those, who, in a world without gods,
metaphysical certaintics, and ultimate values, resist the temptation
to stop thinking and to succumb to the false consolations of ideo-
logy on the one hand, or to escapc into shcer conformism, on the
other. It was in particular Arendt’s expcrience of Nazi-Germany
which provided the negative background for her theory of judge
ment. Not The Human Condition, but her book on totalitarian-
ism and Eichmann in Jerusalem constitute the preparatory stages
for her theory of judgement. This is true in a twofold sense: First,
in both cases Arendt analyzes the condition of an utter corruption
of judgement, where people, eithcr being in the grip of ideologies,
or exchanging a discredited value System for a corrupt one, or out
of sheer stupidity, become unable to perceive or to recognize what
is going on. Arendt formulates the problem of personal responsi-
bility under conditions of a collectively corrupted judgement- i.e.
the problem of how the justice of the Nuremberg and the Eich
mann trials were to be understood - in terms of the demand
»that human beings be capable of telling right from wrong even when all
they have to guide them is their own judgement, which, moreover, hap
pens to be completely at odds with what they must regard as the
unanimous opinion of all those around them ... Those fcw who were still
able to teil right from wrong went really on their own judgements, and
they did so freely; there were no rules to be abided by, under which the
particular cases with which they were confronted could be subsumed.
They had to decide each instance as it arose, because no rules existed for
the unprecedented.«2
The autonomy of judgement bccomes manifest in those, who
without the support of socially accepted rules and values, nay,
2 H. Arendt, Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil.
New York: Viking Press 1965, pp. 294-295; dt.: Eichmann in Jerusalem.
Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper 1964, S. 22f.
3”
against them are still able to teil right from wrong. Secondly,
however, Arendt’s two books, besides providing the negative
background for her theory of judgement, providc two powerful
positive examples for the exercise of political judgement. Both
books are paradigm cases of a non-conformist political Inter
pretation of our time and both are written from the standpoint of
a reflecting spectator. Therefore, one could say that Arendt’s
theory of judgement is the attempt to give a philosophical ac-
count of the basic content of her two books as well as of her
own way of Corning to grips with the problems discussed in these
books.
To be sure, both books are highly discursive. They try to argue for
certain interpretations and only in this sense can be called exam
ples of political judgement from a spectator’s point of view.
I
Otherwise, they could not have become the topics of extended
.■!
and sometimes heated public or scientific debate. Moreover, both
books certainly do have implications as far as practical Orienta
tions are concerned. Although they do not provide premises for a
practical syllogism, one could not accept what they say as truc and
yet act as a Neo-Nazi or a Stalinist. Therefore both books belong
to a continuum of political discourse, occurring on many different
levels. This discourse is not only concerned with the evaluation of
past events, but affects future action as well. In the case of moral
judgements it is even more obvious that there exists an unavoid-
able internal relationship to action, and not only past ones, as
1 Arendt’s own examples show. That every actor is a potential spec
tator, as Arendt admits, therefore not only means that he may
become a judge after he acted; for certainly he may have been a
moral judge before he acted. That judgement is possible only after
h the event, that the owl of Minerva begins to fly only after dusk, is
therefore true only in the sense that the whole story can be told
only after it is over. But is it ever over? It seems to me that
£.! . Arendt’s own critique of a teleological conception of history im-
plies that the spectator’s judgement is never final, that it is rather
always woven back into the unfolding web of human action and is
waiting for those, who will judge this judgement. But if this is
indeed the case, would not an internal link between judgement,
action and argumentation have been restored as a necessary con-
sequence of Arendt’s attempt to rehabilitate the rational faculty of
judgement? Although this might not be quite the recovery of an
■
-r 312
Aristotelian conccption of phronesis, it might well bc a modern, a
post-Kantian equivalent of it.
I think there arc several possiblc reasons why Arendt’s thought
did not move in this direction. One, as Ronald Beiner has pointed
out in his excellent Interpretation of Arendt’s theory of judge-
ment, could have been that Arendt did not sce any prospccts for
genuine action and for freedom in our world. Another could have
been that Arendt’s own theory of action, as she developed it in
The Human Condition, did not - contrary to appearances - allow
for such a move. Arendt was never able to explain what thc Con
tent of genuine political action could be, since for her everything
related to the material reproduction of society - to the societal
sphere of labour and to material interests - had to be conceivcd of
as lying outside the sphere of political action proper. Since, how-
ever, even under conditions of a democratic polity political action
and political debate can get their content, their theme, their
»about« only from thc ongoing life process of society, it appears
that no form of political praxis could ever correspond to Arendt’s
model of action. Or rather, what Arendt called action could only
be exemplified either by the revolutionary action of those who
found a democratic polity, or by the quasi-actions of those disin-
terested spectators, who try to form and publicly express an
impartial judgement about what has happened in the sphere of
action in the ordinary sense of the word. Paradoxically, it is a
consequence of Arendt’s own theory of action that the judging
activity of the disintercsted spectator may in the end become the
only genuine form of political action. There would therefore be
no place for an internal relationship between political judgement,
political discourse and political action in her theory of action. A
third reason for Arendt’s reluctance to move in the direction I
have indicated could finally be that the Kantian framework of
concepts from which she borrowed the term judgement, and in
terms of which she tried to articulate her own theory of judge
ment, did not provide her with the conceptual »space« to weave
the different thrcads of her theory together. This has been sugge-
sted by several of her critics like Bernstein, Habermas or Beiner.
To be sure, I do not really believe that Arendt’s Kantianism gives
us the explanation for the impasses of her theory; or rather, I
think it could as well be argued that she chose Kant — and it was, as
everybody knows, a free extrapolation from Kant - because it was
3'3 ■I
I
in Kant that she found what she needed for her theory of judge
ment. Neverthelcss I believe that it might be Arendt’s Kantianism
- her latent orthodox Kantianism, as it were - which defines the
Ümits of her thcory. I want to explore this possibility in what
follows.
I will attempt to show that Arendt, in trying to overcome certain
limitations of Kant’s practical philosophy, remained fixated on
! basic presuppositions underlying these limitations, presupposi-
tions which concern a scientistic conception of truth and a forma-
listic notion of rationality. This is why Arendt, in her attempt to
uncover Kant’s unwrittcn political philosophy, could not operate
from within his practical philosophy, which she rathcr dismissed
j altogether. Instead she could only refer to the critiquc of aesthetic
1 judgement as the place in the Kantian System that allows for
judgements which are neithcr arbitrary nor compelling for every
rational being, and where the idca of the validity of judgements is
explicitly tied to the idea of an intersubjective agrecment among a
plurality of sensuous and worldly beings. Given the contextual
presuppositions of Kant’s notion of aesthetic judgement, how-
ever, there remains a gulf between »logical« and aesthetic judge
ments: the former, the intersubjective validity of which springs
from concepts, are susceptible to rational argument; the latter,
which are not based on definite concepts, are not open to argu
ment, but only to »contention«. Now it is this very distinction
between conceptual or objective and non-conceptual or subjective
general validity, and the corresponding distinction between
judgements open to argument or dispute (which, according to
Kant, allow for a »decision by means of proof«) and judgements
which are only open to »contention«, which might be put into
question. Since Arendt, however, did not herseif question these
! distinctions, her attempt to remove the problematic of political
and moral judgement from the context of Kant’s practical philo
sophy and assimilate it to the problematic of aesthetic judgement,
was bound to result in what I would call a mythology of judge
ment- a mythology of judgement, since the faculty of judgement
now begins to emerge as the somewhat mysterious faculty to hit
upon the truth when therc is no context of possible arguments by
which truth claims could be redeemed. Of course, Arendt would
not speak of »truth« here. However, the word does not matter as
long as it is clear that what is at stäke is a claim to intersubjective
-
<
j 3’4
validity, and this ccrtainly belongs to thc very notion of reflcctivc
judgement.
Bccause of prcsuppositions Arendt shared with Kant, therc was
no place in her thought for a broader conception of rationality
which would have allowcd her to tie reflective judgement to ratio
nal argument. Such a conception of rationality would have to be
locatcd, as it were, in bctween the formal rationality of logical
demonstration and the speculative rationality of what she callcd
»thinking« - in bctween, that is, the rationality of intellect and the
rationality of reason. For Arendt, what is in betwecn these two
rationalities, or, one might even say: what mediates betwecn
them, is the rationality of judgement. This mcans, howevcr, that
the faculty of judgement reveals itsclf as a kind of place-holder for
a conception of rationality, which would have cxploded the for-
malistic constraints imposed on the idca of rationality in thc
empiricist-rationalist tradition of modern philosophy. If I say a
»place-holder«, this could be undcrstood in a double sense: First,
of course, in a theoretical sense, for we are trying to get clear
about Arendt’s thcory of judgement. But secondly, it could also
be understood in a more practical sense. Arendt, as a philosopher
in dark times, ccrtainly had good reasons to doubt the reality of
such a broader conception of rationality. As a result, the faculty of
judgement, cxercised only by the few, became for her a place-
holder for practical reason, which seemed to have finally disinte-
grated as an existing idea. Arendt’s idea of this faculty of judge
ment, which for her was not least the faculty to perceive
differences and to perceive the particular in its own right, has a
dcep affinity with Adorno’s idea of non-identifying thought, that
is, a form of thought, in which the concept, as Adorno says,
would »transcend the concept, i.e. the manipulative and exclu-
sionary character of the concept, and thereby rcach the non-
conceptual«? I think, however, that in both cases the paradoxi-
cal character of those ideas - the faculty of judgement, non-
identifying thought - can only in pari be explained by the fact that
j Th. W. Adorno, Negative Dialectics. New York: The Seabury Press
1973, P-9 (translation changed); dt.: Negative Dialektik. Gesammelte
Schriften Bd.6 (Hg. R.Tiedemann), Frankfun am Main: Suhrkamp
1973, S. 21 (»[daß] der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Ab
schneidende übersteigen und dadurch ans Begriffsiose heranreichen
[könne]«).
3>$
both thinkers must have feit a desperate disproportion between
their attempt to defend reason on the one hand, and the reality of a
dc-humanized world on the other. I rather believe that in both
cases an undissolved residue of the philosophical tradition, which
they criticized, was operative in their thinking and forced them
'i into paradoxical constructions.
Let me, then, try to clarify some of those Kantian presuppositions
which I think prevented Arendt from pursuing the internal rela-
tions between judgement and rational argument. Moreover, I
wish to indicate how this relationship may be understood, once
those presuppositions are questioned.
J
P
II.
I Kant, as Arendt has pointed out, uses the term »reflective judge
ment« in a rather broad sense. It can only somewhat deceptively
be rendered by the usual definition, according to which reflective
judgement allows us to find a universal or a universal rule under
which a given particular can be subsumed. This definition has the
advantage, though, that it points to the role of Imagination in
reflective judgement. It therefore indicates the Creative dimension
of language use which is always involved when we have to find
appropriate descriptions, words, problem-formulations, explana-
tions or rules to fit a given Situation and which do not lic ready at
hand when we start to reflect on such situations. It seems, how-
ever, that Kant did not really pursue this line of thinking, which is
suggested by his definition of reflective judgement, very far. And
it might well be the case that to pursue it seriously would under-
mine the conceptual framework of a philosophy of consciousness.
In the decisive passages of the Critique of Judgement reflective
judgement in its broader sense is related to what Kant calls an
|r-
S; ;
»enlarged mind«; the »maxim« of judgement is »to think from the
standpoint of everyone eise«, or, as he also puts it, to »reflect upon
one’s own judgement from a universal standpoint«. Both quota-
tions are from the § 40 of the Critique ofJudgement on »Taste as a
kind of sensus communis«, which became central to Arendt’s re-
flections on political judgement. I want to quote one of the crucial
passages at length:
316
»However, by the name sensus communis is to bc undcrstood the idca of a
public sense, i.e. a critical faculty which in its reflective act takcs account (a
priori) of the mode of representation of everyone eise, in order, as it were,
to weigh its judgement with the collective reason of mankind, and thereby
avoid the illusion arising from subjective and personal conditions which
would readily be taken for objective, an illusion that would exert a preju-
dicial influence upon its judgement. This is accomplished by weighing the
judgement, not so much with actual, as rather with the merely possible,
judgements of others, and by putting ourselves in the position of everyone
eise, as the result of a mere abstraction from the limitations which contin-
gently affect our own estimate.«4
That Kant does not only refer to aesthetic judgement here, be-
comes clear from other remarks in the same paragraph, but also
from remarks he made in letters to Markus Herz, from which
Arendt has quoted in her lectures on Kant’s political philosophy.
I want to give one of these quotations, in which Kant even hints at
something like a dialcctical progress in argumentation:
»You know that I do not approach reasonable objcctions with the inten-
tion merely of refuting them, but that in thinking them over I always
wcave them into my judgements, and afford them the opportunity of over-,
turning all my most cherished beliefs. I entertain the hope that by thus
viewing my judgements impartially from the standpoint of others some
third view that will improve upon my previous insight may be obtainablc.«5
3’7
Here wc have thc germ of a notion of reflcctive judgement which
would be intimately related to a conception of rational argumen-
tation, potentially covering the whole field of possible intersub-
jectivc validity Claims. But Arendt did not draw this conclusion,
and in this, as we shall see, she was faithful to Kant, even against
his own explicit intentions. But let us first corne back to Arendt.
The autonomy of judgement as she conceives it is articulated in
« terms of a sharp Opposition between thinking and judging, on the
one side, and Cognition and truth, on the other. »Truth«, Arendt
i writes, »is what we are compelled to admit by the nature either of
our senses or of our brain.«6 This Statement is amazingly in
accord with modern mainstream epistemology, even if in natura-
I listic disguise. The »brain« Stands for logical deduction and de-
i monstration, the »senses« for empirical evidcnce or sensual
Intuition. This is the monological conception of Cognition and
! rationality, which runs through modern philosophy from early
empiricism via Kant to Husserl, to the early Wittgenstein and
twentieth Century empiricism. As everything of importance for
her lies outside this sphere of Cognition and truth, Arendt does
not even care aboüt sticking to a transcendental formulation of
this position. What Arendt accepts above all from thc cpistemolog-
ical tradition of modern philosophy, is the model of a singulär
cognitive subject (or organism) confronting an external world
which leaves its imprints in the internal representations of this
subject, the corresponding primacy of Cognition over language,
318
cognition in Arendt’s sense - i.e. scientific Cognition - can be
understood in tcrms of the compelling force of unintcrpreted in-
tuitions or the compelling force of a worldless, i.e. specchless
logic. This much has certainly bccome clcar in the often puzzling
debate about paradigm shifts in Science. Since Arendt accepts a
questionable epistemological model of cognition from the philo-
sophical tradition, she must locate the human world, i.e. the
common world of men opened up by Speech, the world of politics
and poetry, of thinking and judging, beyond or above the sphere
of cognition. But this is again something like a world of action
beyond or above a sphere of labour and work. More importantly,
since the strategically crucial concepts of truth and rational com-
pulsion have been handed over, as it were, to the extraworldly
subjects of cognition, those rational activities, which for Arendt
are the truly humane ones - thinking and judging -, can only be
characterized by a series of negations: Thinking has no definite
rcsults (as cognition has), it is destructive (rather than construc-
tive); judgement is not compelling (as truth is) and is not arrived at
by moving within a rule governed calculus (as logical conclusions
are). What Arendt fails to see, however, is that with these negative
characterizations of thinking and judging not only a legitimate
boundary line has been drawn with respect to scientific and in
strumental rationality, but that the whole field of conceptions,
which we need to articulate an idea of discursive reason, has been
ceded to Science and technology, which in fact had occupied this
whole field of conceptions in modern times. The Opposition of
»meaning« versus »truth«, on which Arendt relies to reclaim the
idea of reason for the field of thinking and for the field of human
affairs, is not sufficient to mark a distinction between poetry and
discursive reason, between good and bad judgement, or between
the merely excentric and the intersubjectively valid.
Arendt accused Kant of using the notion of truth in the field of
speculative reason, thereby assimilating thinking to truth. Some
thing similar could have been said by the early Wittgenstein and,
obviously, by Heidegger or Jaspers. And certainly Arendt was
right in pointing to an inconsistency in Kant’s thought: given his
conception of knowledge, his idea of a future System of meta-
physics appears as a scientistic aberration. Criticizing Kant,
Arendt remains faithful to his concept of cognition and to his
formal conception of rationality. These Kantian conceptions of
319
Cognition and of rationality, however, also affect his - and
Arcndt’s - conccption of judgement. Since Kant conceives the
subjcct of cognition as well as thc subject of moral reasoning in a
monological way, therc is no real place for the cxcrcisc of judge
ment - exccpt for a marginal or a transcendental one - within the
spheres of cognition and morality in Kant’s philosophy. Judging
as a cognitive or a moral subject for Kant is equivalent to »thin-
king from thc standpoint of everybody eise«. When we apply the
categories of pure understanding to sensuous phenomena or judge
our maxims in thc light of the Categorical Imperative, we eo ipso
think from a »universal standpoint« — the universal standpoint
being defined by the universal forms of cognition or the »form of
lawfulncss« of our maxims. Kant continues the passage concern-
ing the »sensus communis« which I have quoted above: »This (i.e.
the weighing of our judgements with the possible judgements of
others, A.W.)... is effectcd by so far as possible letting go the
clement of matter, i.e. of Sensation, in our general state of repre-
sentative activity, and confining attention to the formal peculiari-
ties of our representation or general state of representative
activity.«7 Although Kant already speaks here of aesthetic judge
ment, the sentence indicates that thinking from a universal
standpoint is intimately connected for him with the distinction
between matter and form. The formal clement represents what is
not merely subjective and what therefore belongs to a universal
standpoint; in the case of empirieal cognition and of moral judge
ment, however, the conformity to the universal form of thinking-
to the form of lawfulness - is brought about essentially by the
categories of pure understanding and the Categorical Imperative
respectively. In both cases, therefore, the faculty of judgement
could only play a subordinate or secondary role.
Arendt accepted the first part of Kant’s solution but not the se-
cond. As far as moral judgement is concerned, she was too clearly
aware that Kant’s formal-monological conception of moral judge
ment cannot work as it Stands; and 1 think she had good reasons to
7 I. Kant, The Critique ofJudgement, loc. cit.; dt.: Kritik der Urteilskraft,
1 a.a.O., S. 389 f. (»Welches (d.h., daß man sein Urteil an anderer mög
liche Urteile hält, A.W.) [...] dadurch bewirkt wird, daß man das, was
in dem Vorstellungszustande Materie, d.i. Empfindung ist, so viel mög
lich wegläßt, und lediglich auf die formalen Eigentümlichkeiten seiner
Vorstellung, oder seines Vorstellungszustandes, Acht hat.«)
32O
> ’i
read Kant’s conception of reflcctive judgcmcnt back, as it were,
into his moral philosophy. Howevcr, shc then stuck to Kant’s
monological concept of cognition and his formal conception of
rationality, i.c. to the conceptual presuppositions in terms of
which Kant’s notion of rcflective judgement is articulated. There-
fore Arendt could not use the notion of rcflective judgement to
uncover a suppressed dialogical dimension of Kant’s conception
of practical reason, but only to assimilate moral - and political - I
judgement to aesthetic judgement. Arendt remains entrapped
within an epistemological framework, from the perspective of
which physical Science must appear as the paradigm of know-
ledge, physical facts as the paradigm of factuality and logical
demonstration as the paradigm of rational argument; correlati-
vely, the activities of thinking and judging must appear as lying
outside the sphere of cognition, truth and rational argument prop
er. If truth is, »what we are compelled to admit by the naturc
eithcr of our senses or of our brain«, then truth is speechless,
beyond or below Speech, while thinking and judging, the truly
humane faculties, because they depend on speech, i.e. on a plural-
ity of human beings, are beyond truth.
Now Arendt, as is well known, always liked to start with sharp
analytical distinctions, and her distinction between a sphere of
cognition and truth, on the one hand, and the sphere of thinking
and judging, on the other, might be considered as just being one of
those analytical distinctions. Arendt hersclf wams us against hy-
postatizing this analytical distinction, when she points out that
the sphere of cognition itself is shot through with elements of
thinking and therefore, as one might conclude, cannot really cor-
respond to the monological concept of cognition which she takes
over from the epistemological tradition. On the other hand, one
might argue that there does exist an internal relationship between
the logic of modern natural Science, on the one hand, and a mono
logical concept of cognition, on the other. The point, therefore,
would not be to dismiss Arendt’s distinctions altogether, but only
to look at them from a different perspective, which no longer
forces us to oppose the domains of thinking and judging - i.e. the
domain of human affairs and of critical thought - to the sphere of
rational argument proper through a series of negations. We could
takc the debate about paradigm shifts in Science as a starting point
for indicating such a new perspective. What this debate has shown
32»
is, — not that rclativism is truc even for Science, but - that even
physical Science does not correspond to that epistemological para-
digm linking truth and Cognition with calculative rationality,
which Arendt accepts - following a long tradition. However, if no
formal account can be given of rational argument even with re-
spect to physical Science, we may well turn the tables and try to
understand the peculiar rationality of Science from the vantage
point of a broader conception of rationality. Such a conception of
rationality would allow us to recognize the internal relationship
between different kinds of intersubjective validity claims - e.g.,
moral, aesthetic or scientific - and corresponding forms of argu-
mentation, and the internal relationships, by which the different
spheres of validity are also connected with each other. Rational
argumentation - what we call argumentation - rarely corresponds
in actuality to the model of deductive or inductive reasoning
(where ultimate premises are either given by Intuition, empirical
evidence, construction or mere fiat), which has been so widely
accepted as a model of rationality in modern philosophy. Argu
ments always operate in contexts, which are not organizcd in a
linear, but in a holistic way. The compelling force of arguments is
therefore always dependent on contextual presuppositions which
themselves may be questioned as the argument goes on. This does
not only mean that rational discourse cannot rest on ultimate pre
mises which in principle could not be questioned, but also, and
more specifically, that there are no universal and a priori criteria
of what would count as a good argument in specific contexts.
Moreover, arguments often have their own context of explication,
through which thcy attain their specific meaning and their specific
force, if they have any. This means, however, that an intersubjec
tive System of fixed meanings, i.e. a common language, which for
the formalist tradition always was an unquestioned presupposi-
tion and a condition of the possibility of rational argument, may
be as much the result of rational discourse as it is its - always
partially realized - starting point. What the debate about para-
digm shifts in Science has shown is that the deductive or calcula
tive model of reasoning collapses whenever the presupposition of
a stable and transparent intersubjective meaning System is put into
question. But this is precisely one of the points where argument
becomes necessary. Rational discourse, understood in this way -
and I think it is the way in which we do understand it when we
3“
begin to argue -, would not least be an attempt to restore an
intersubjective agreement which in the calculative model is always
taken for granted (or taken as something to be brought about
before we can begin to argue). Kuhn’s original distinction between
the rationality of »normal Science« and the somehow irrational,
rhetorical, or merely persuasive character of interparadigm de-
bates, still presupposes this calculative model of rationality. The
interesting parallel to Arendt is that again only negative characte-
rizations - as far as rationality is concerned - are available for the
description of a non-formalizable type of discourse.
in.
Once the presuppositions of the modern epistemological - empir-
icist-rationalist — tradition have been put into question, we can
begin to redefine the role of the faculty of judgement, since now a
broader conception of rationality will provide us with the missing
link between the notion of judgement and the idea of intersubjec-
tive agreement. A philosophical strategy like this also underlies
Habermas’ theory of discursive rationality. If the validity of
judgements could be explained in the Habermasian sense as the
possibility of a consensus brought about by arguments, then the
faculty of judgement would just be the faculty to hit upon what
also could be agreed upon in a rational consensus; and this faculty
would certainly be inexplicable without some internal relation
ship to an ability to argue and dcliberate well. So the Aristotelian
Connection between phronesis and deliberation would have been
restored in a post-Kantian philosophical framework. I shall not,
however, follow Habermas directly. For I think it can be shown
that a procedural conception of rationality like that of Habermas,
linked to a consensus theory of truth, ultimately requires the re-
introduction of an autonomous faculty of judgement to become
intelligible: a consensus brought about under conditions of an
ideal speech-situation can be a criterion of truth only, if a suffi-
ciently devcloped faculty of judgement of all participants is pre-
supposed. Of course, it might be suspected, then, that it is the
very attempt to set up a formal Standard of intersubjective validity
which gives rise to the postulate of an autonomous faculty of
judgement - as it did already for Kant. If we want to prevent the
whole problem from re-emerging, as it were, behind our back, we
I
323
would therefore have to give up the attempt to ground the idea of
rationality in some sort of formal-universal Standard of intersub-
jective validity. The same point could also be put in a positive
way: we could now understand the faculty of judgement as a
place-holder for a conception of rationality and of intersiibjective
validity respectively, for which no Overall formal criterion and no
overall formal explanation can be given. It seems to me that this
would be in fact the only viable conception of rationality, indis-
tinguishablc from that of discursive reason. This, to be sure, is an
idea of discursive reason which can only be understood and prac
ticed from within, from wherever we happen to be, with the
Standards, criteria and arguments which are available to «s, while
I we know these Standards, criteria and arguments may be question-
ed - although we may have no reason to question them — as time
goes on. The only criteria of validity we have are those we happen
to have, inherited from an existing culture of reason. The next day
may well show us that the only rational thing is to abandon or
modify some of them; however, there can be no outside criterion
of truth and we don’t need any. Needless to say, this has nothing
to do with relativism, since the idea of intersubjective validity is
still tied to that of a rational agreement. This idea of a rational
agreement, however, no longer refers to a point outside history or
at the end of history. Discursive reason only exists as »situated«
reason, to use Benhabib’s expression, and this pertains to its unit-
ing and reconciling as well as to its disruptive and subversive
force. If, however, we conceive reason or rationality in the broad
sense I have suggested and yet allow it to be »situated«, then the
faculty of judgement loses its independent Status as well as some
of its mysterious character; it would simply be a faculty to hit
upon the truth in situations where it is not easy to do so, or where
- depending on the Situation - experience, character, imagination,
or courage is required. The goodness of judgement, however,
could only prove itself by a judgement’s being confirmed through
either experience, or arguments, or - connected with these two -
the independent judgement of others. Disregarding for a moment
Kant’s distinction between reflective and determinant judgement
- the latter being, I would claim, basically a matter of know-how
in about the sense in which rule-following is for Wittgenstein -,
the decisive point could be put as follows: If we say of somebody
that he or she has good judgement - about the character of per-
f 324
sons, in political matters, in mattcrs of art, with rcgard to moral or
practical problems or as a legal or medical expert -, we are imply-
ing that his or her judgement has proven to be right either in a
particular instance or in rnany cases. We say this, judging some-
body’s judgement, after having convinced ourselves in quite ordi-
nary ways that he or she has often been right, has often analyzed
complex situations in the right way, has often seen at once what
nobody eise could see, or has often come up with the right argu-
ment at the right time. This certainly is a faculty, the value of
which cannot be overestimated, a faculty, moreover, which
Arendt herseif seems to have had in an extraordinary degree with
respect to political and moral matters. But we can call it an auto-
nomous faculty in Arendt’s sense only if we dissociate it from its
natural context of rational argumentation. Good judgements must
have the internal capacity of revealing themselves as good and to
convince »everybody eise«.
This brings me back to my initial reflcctions on the Status of the
faculty of judgement in Arendt’s thcory. How do we explain the
functioning of judgement when a context of rational argumenta
tion no longer exists? Or, to put it in more general terms: how do
we account for the fact that the practical power of rational argu-
ment can sometimes be very limited indeed, so that valid judge
ments may not convince anybody? Here, I think, the response
must be the following: Why do we call these judgements valid? Is
it not because they convinced «s? I think there is nothing myste-
rious in somebody’s hitting upon the truth or doing the right
thing while others are unable to see that this is the truth or that this
is the right thing - either because they lack courage, Imagination,
or expericnce, or because their whole form of life has been cor-
rupted. Stupidity, cowardice, self-deception and irrationality are
as much elements of human life as the faculty of reason; we do not
need to postulate an autonomous faculty of judgement to account 1
for the fact that the formet do not always win over. What we do !
need, and here I agree with Beiner - as well as with Arendt and
Kant are institutional conditions under which everybody has a
chance to develop his or her political, moral, or aesthetic judge
ment; for these are the only conditions under which a political,
moral, or aesthetic culture can exist, and therefore the only soil, as
it were, from which good judgement may still spring in those
moments when the world is in shambles.
3*5
IV.
326
anthropic reasons«,10 is the direct expression of this prcsupposi-
tion.
Now if we takc the »negativistic« intcrpretation of the Categorical
Imperative, which I have suggested, for grantcd, the problem of
moral judgement as it has been left open by Kant could be stated
in the following way: In complex situations, or in situations, in
which our moral judgement is not unambiguously supportcd by
an existing moral culture, it may not be obvious which maxims -
or which ways-of-acting-in-this-situation - are not universaliz-
able in an intersubjective sense of the word. A maxim’s not being
universalizable in an intersubjective sense of the word means that
we cannot will it to become a universal law. Which ways of acting
l cannot will to become a universal law, depends on how I de-
scribc a specific Situation and the alternatives of action open to
me; for example, it makes a tremendous differcnce whether I de-
scribe a specific action as handing over a fugitive person to the
legal authorities, who are searching for him, or whether I describe
it as abandoning a helpless and innocent person to a band of ter-
rorists, called police. Both descriptions can be the right ones,
depending on the Situation. But in a specific Situation at most one
of them can be the right one. Depending on the description I
choose, the particular way of acting, which is at stäke, will be or
will not be universalizable for me. This shows, however, that the
problem of moral judgement is not so much a problem of univer-
salization as such, >but rather a problem of getting the relevant
facts of the Situation right; i.e. of interpreting the Situation as well
as the available alternatives of action in the right way. The right
way would be the way in which »everybody eise«, who tries to
form an impartial judgement, would Interpret this Situation. I
mention only in passing, that an Interpretation of a Situation of
action can obviously be the right one only if it takes the different
perspectives of the concrete actors involved into account. Pösing
the problem of the intersubjective validity of moral judgement
therefore also makes the suppressed dialogical dimension of Kan-
tian ethics visible.
However, what I want to point to mainly is: (1) that if we see a
Situation of action in the right way, we usually have no choice,
327
morally spcaking; (2) that we can and do argue about whether the
interpretation of specific situations is the right one; and (3) that
moral discourse takes place to a large extent as discourse about the
»facts« in the widest possible sense. Again we nced not be worried
about the fact that there are no ultimatc criteria of what the right
description of a Situation of action would be; as long as we are in
situations (and not philosophizing), we usually know quite well
how to go about arguing for or against certain interpretations,
although there are also cases, where things are so complicated that
we may be unable to make up our mind. Practically speaking,
there are, of course, Ümits of rational argument; but, as Bciner has
pointed out, we cannot consider these practical Ümits of rational
argument as limits in principle as long as we distinguish between
true and false and think that we do have arguments. I want, how-
ever, to point to one specific limit of rational argument which, I
think, might have induced Arendt to postulate an autonomous
faculty of judgement. I think that all of us, or at least most of us,
sometimes close our eyes to the facts of a Situation, project our
idiosyncratic conditions upon the other, are unable - for lack of
Imagination or good will - to take the perspective of the other into
account, or are unaware of our own motivations. What can pre-
vent this from happening on a large scale or even collectively, is a
moral culture which certainly also requires good institutions.
Now in many of the cases I have mcntioned rational argument
does not work because we do not want to recognize the truth.
This not wanting to recognize the truth, however, goes well to-
/ gether with what I would call moral self-interest, i.e. the interest
of having a good moral opinion of ourselves. The false generalities
and social cliches, which Arendt was criticizing, may often act as a
I. mediating link between this moral self-interest and interested self-
deception. But where this happens, we will consider ways of act-
ing as universalizable, which we could not consider as such if we
dared to acknowledge or if we seriously tried to find out the facts
- the facts about the other, about ourselves, about the context of
our action, etc. That rational argument may not work in such
situations, is due to the fact, that rational argument always can
only work under certain preconditions: experience and know-
ledge in the case of the physicist or physician, aesthetic education
and experience in the case of art, and moral character or sincerity
in the case of moral discourse. And, needless to say, these are
3z8
preconditions which certainly cannot bc brought about by ratio
nal argument alone: they are rather thc practical results of a
scientific, aesthetic or moral cuiture. Such a culture might bc call-
ed a »culturc of rcason«11 inasmuch as discursive rationality
becomes the dement in which it moves and develops. Now as far
as moral character is concerned, it may often remain morc or less
invisiblc undcr normal conditions of social Integration. It be
comes visible only under extreme conditions. I think this is what
Arendt really refers to when she Claims that thc faculty of judge-
ment emerges as an autonomous faculty »when the stakes are on
the table«.12 What really may become visible in such situations,
then, is not a faculty of judgement as an autonomous mental fa
culty, but what kind of person somebody really is; for it shows
itself only, when good judgement has its price.
This, then, is the way in which a formal principle of morality may
coexist with an account of morality in terms of »moral taste«, i.e.
in terms of reflective judgement: The formal principle - a prin
ciple of generalization - defines the moral point of view, from
which we look at situations of action. But whether the »I can
will...« is also a »we can will...«, i.e. whether my moral judge-
ments can claim intersubjective validity, depends on whether my
interpretations of situations of action are the right ones. Only if
they are the right ones, if they could be shared by »everybody
eise«, can they lead to valid moral judgements. A well developed
faculty of judgement is certainly of immense importancc in moral
as well as political matters. But it is not an addition to, but rather
an expression of what we might call the »faculty« of discursive
reason.
32 9
Nachweise
330
1
Vortrags, den ich im Dezember 1989 bei einer Tagung über »Zeit der
Ästhetik« an der Universität in Hamburg sowie im Mai 1990 bei einem
Symposium »Moderne versus Postmoderne - Zur ästhetischen Theorie
und Praxis in den Künsten« im Rahmen der 2. Münchner Biennale
vorgetragen habe. Aus beiden Veranstaltungen gingen Veröffentlichun
gen hervor, in denen der Vortrag abgedruckt wurde (Jahrbuch der
Bayerischen Akademie der Künste, Bd.4, Schaftlach: Oreos 1990;
Ch. Pries und W. Welsch (Hg.), Ästhetik im Widerstreit, Weinheim:
VCH Acta Humaniora 1991).
7. »Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes« war mein Beitrag zum
Stuttgarter Hegel-Kongreß vom 18.-21.Juni 1987. Erstveröffent
lichung in: Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Stutt
garter Hegelkongrcß 1987 »Metaphysik nach Kant?*, Stuttgart
1988.
8. »Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. Fünf Thesen« war mein
Beitrag zu einer Podiumsdiskussion im Rahmen eines Symposiums der
Alexander von Humboldt-Stiftung über »Die Frankfurter Schule und
die Folgen« vom 10.-15. Dezember 1984 in Ludwigsburg. Erstveröf
fentlichung in: Axel Honneth und Albrecht Wellmer (Hg.), Die
Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin/New York: de Gruyter 1986.
9. »Ludwig Wittgenstein - Über die Schwierigkeiten einer Rezeption sei
ner Philosophie und ihre Stellung zur Philosophie Adornos« wurde
für ein Symposium an der Universität Frankfurt anläßlich des hundert
sten Geburtstags von Ludwig Wittgenstein (27.-29. April 1989) ge
schrieben. Veröffentlicht in: Brian McGuinness u.a., »Der Löwe
spricht... und wir können ihn nicht verstehen*, Frankfurt: Suhrkamp
1991.
10. »Der Mythos vom leidenden und werdenden Gott. Fragen an Hans
Jonas« war mein Beitrag zu einem religionsphilosophischen Kollo
quium an der Freien Universität Berlin, das am 12. Juni 1992 aus Anlaß
der Verleihung der Würde eines Ehrendoktors an Hans Jonas stattfand.
Der Beitrag erschien außerdem in: D. Böhler (Hg.), Verstehen und
Verantworten. Im Dialog mit Hans Jonas, München: C. H. Beck 1994.
11. »Architektur und Territorium« ist die leicht revidierte deutsche Fas
sung eines Vortrags, den ich im Juni 1988 unter dem Titel »Architec-
ture and Territory« bei einem gleichnamigen Symposium von Archi
tekten nördlich des Polarkreises in Tromso gehalten habe. Die
englische Fassung erscheint demnächst in: N. Mjaaland (Hg.), Archi-
tecture and Territory, Tromso.
12. »Terrorismus und Gesellschaftskritik« ist die revidierte und erweiterte
Fassung eines Vortrags, den ich im Mai 1978 bei einer vom Philosophi
schen Seminar der Universität Heidelberg initiierten öffentlichen Dis
kussionsveranstaltung über »Terrorismus und Gesellschaftskritik«
gehalten habe. Erstveröffentlichung in: Jürgen Habermas (Hg.), Stich-
331
worte zur »Geistigen Situation der Zeit<t Bd. i, Frankfurt: Suhrkamp
*979-
13. »Hannah Arendt on Judgement: The Unwritten Doctrine of Reason«
ist mein Beitrag zu einem Hannah Arendt Memorial Symposium über
»Political Judgement*, das im Oktober 1985 an der New School for
Social Research in New York stattfand. Vgl. auch das Vorwort zu die
sem Band.
I
332
I
I