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Smail Rapic (Hg.

Habermas
und der
Historische
Materialis-
mus

VERLAG KARL ALBER


https://doi.org/10.5771/9783495861127

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B
Smail Rapic (Hg.)
Habermas und der
Historische Materialismus

VERLAG KARL ALBER A


https://doi.org/10.5771/9783495861127

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Seit dem Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 ist die Kapitalismus-Kri-
tik von Karl Marx und Friedrich Engels von neuem ins öffentliche Be-
wusstsein gerückt. Auf einer Tagung an der Universität Wuppertal ha-
ben Vertreter verschiedener Disziplinen mit Jürgen Habermas über
seine Rekonstruktion des Historischen Materialismus diskutiert.
Durch die Mitwirkung von Karl-Otto Apel und Agnes Heller wurden
Grundfragen der Habermas’schen Kommunikationstheorie und ihre
Rolle in der Geschichte des westlichen Marxismus in die Diskussion
einbezogen. Was den Band von sonstigen Tagungsbänden abhebt, sind
die Entgegnungen von Jürgen Habermas sowie repräsentative Aus-
schnitte aus der öffentlichen Diskussion.

Der Herausgeber:
Smail Rapic, geb. 1958, ist Professor für Philosophie an der Universität
Wuppertal. Buchveröffentlichungen u. a.: »Subjektive Freiheit und
Soziales System. Positionen der kritischen Gesellschaftstheorie von
Rousseau bis zur Habermas/Luhmann-Kontroverse« (2008).

https://doi.org/10.5771/9783495861127

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Smail Rapic (Hg.)

Habermas
und der
Historische
Materialismus

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495861127

.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans Böckler-Stiftung

2. Auflage 2015

© VERLAG KARL ALBER


in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de

Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier

ISBN (Buch) 978-3-495-48566-8


ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86112-7

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Inhalt

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Smail Rapic
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Lambert T. Koch
Grußwort zur Tagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

I. Habermas’ kommunikationstheoretische Wende


und das Erbe des Historischen Materialismus
William Outhwaite
Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Habermas’ Auseinander-
setzung mit dem Historischen Materialismus . . . . . . . . . . . 37
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Manfred Baum
Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie
bei Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

II. Habermas’ Kommunikationstheorie im


zeitgenössischen Kontext
Ágnes Heller
Über Habermas – Von alten Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . 75
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

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Inhalt

Karl-Otto Apel
Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der
Ersten Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

III. Ökonomie und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . 121


Ingo Elbe
Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas . . . . . . . . . . 123
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Smail Rapic
Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus –
Zur Aktualität eines Habermas’schen Textes aus dem Jahre 1973 . 154
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Stefan Müller-Doohm
Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die
Zukunft Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Regina Kreide
Die verdrängte Demokratie. Kommunikations- und Handlungs-
blockaden in einer globalisierten Welt . . . . . . . . . . . . . . 229
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

IV. Moralbewusstsein und Recht


Hans-Christoph Schmidt am Busch
Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
Zu Jürgen Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus . 275
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

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Inhalt

Michael Quante
Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens:
Jürgen Habermas über die Zukunft der menschlichen Natur . . . 296
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

V. Die Selbstverständigung der Moderne


Georg Lohmann
Ernüchterte Geschichtsphilosophie. Zur Rolle der Geschichts-
philosophie in Habermas’ kritischer Gesellschaftstheorie . . . . . 327
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Ernest Wolf-Gazo
Habermas and Young Hegelian Dialectics . . . . . . . . . . . . 347
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
Klaus Erich Kaehler
Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne . . . . . . . . . . . . 373
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Hauke Brunkhorst
Marxismus und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
Jürgen Habermas
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

Kurzbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434

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Siglenverzeichnis

Jürgen Habermas:

DM Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen.


Frankfurt a. M. 1985.
EI Erkenntnis und Interesse. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1973.
FG Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und
des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 1992.
LdS Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien. 5. erweiterte
Auflage Frankfurt a. M. 1982.
LS Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973.
ND Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt
a. M. 1988.
RHM Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt
a. M. 1976.
TkH Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde., 4. Auflage Frank-
furt a. M. 1987:
– TkH I Bd. I
– TkH II Bd. II
TP1 Theorie und Praxis. Neuwied/Berlin 1963.
TP2 Theorie und Praxis. Erweitere Neuauflage, Frankfurt a. M. 1971.
TWI Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Frankfurt a. M. 1968.
VE Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen
Handelns. Frankfurt a. M. 1984.

Karl Marx und Friedrich Engels:

MEGA Marx-Engels-Gesamtausgabe. Berlin/Amsterdam 1975 ff.


MEW Marx-Engels-Werke. 43 Bde., Berlin 1956 ff.

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Einleitung

Jürgen Habermas wertet in Zur Verfassung Europas (2011) die im


Herbst 2008 ausgebrochene Weltfinanzkrise als eine Zäsur in der Ge-
schichte des Kapitalismus. Die Marktwirtschaft konnte sich erstmals
»nicht mehr aus eigener Kraft reproduzieren«. 1 Um die drohende
Kernschmelze des Weltfinanzsystems abzuwenden, wurden Steuergel-
der in bislang unvorstellbarer Höhe für die Rettung systemrelevanter
Banken bereitgestellt. Dieses »Systemversagen« des Kapitalismus hat
sich – so Habermas – »im Bewusstsein der Staatsbürger festgesetzt«,
die als Steuerbürger hierfür haften müssen. 2 Daraus resultierte jedoch
kein nachhaltiger Politikwechsel in den kapitalistischen Ländern. Die
Konsolidierungsprogramme der Europäischen Union für überschuldete
Staaten tragen eine neoliberale Handschrift: Durch Gehaltseinbußen
der Arbeitnehmer, Einschnitte bei Sozialleistungen und Renten sowie
die Privatisierung von öffentlichem Eigentum soll die Rückzahlung der
Staatsschulden samt der Zinsen sichergestellt werden; Schuldenschnit-
te sollen eine Ausnahme bleiben. Die Politik unterwirft sich hiermit
nach Habermas’ Diagnose im »Teufelskreis zwischen den Gewinninte-
ressen der Banken und Anleger und dem Gemeinwohlinteresse über-
schuldeter Staaten« den Imperativen der Finanzmärkte. 3 Dass die Kon-
solidierungsprogramme in der Eurozone den nationalen Parlamenten
von den EU-Leitungsgremien »mithilfe von Sanktionsandrohungen
und Pressionen« aufgezwungen wurden, markiert den Übergang zu
einer »postdemokratisch[en]« Regierungsform. 4 Habermas weist be-
reits in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973) und in der

1 Habermas: »Am Euro entscheidet sich das Schicksal der Europäischen Union«. In:
ders.: Zur Verfassung Europas. Berlin 2011, S. 112–119, hier: S. 117.
2
Ebd.
3 Habermas: »Heraus aus dem Teufelskreis«. In: Süddeutsche Zeitung, 22./23. Septem-

ber 2012, S. 15.


4 Habermas: »Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konsolidierung des

11

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Einleitung

Theorie des kommunikativen Handelns (1981) auf ein »unauflösliches


Spannungsverhältnis« zwischen Kapitalismus und Demokratie hin
(TkH II 507, vgl. LS 54 f.). Unter dem Einfluss des Neoliberalismus
haben sich die Gewichte unangesehen des kapitalistischen Systemver-
sagens zugunsten des Kapitals verschoben. 5
Unter dem Eindruck der Weltfinanzkrise ist die Kapitalismus-Kri-
tik von Karl Marx und Friedrich Engels von Neuem ins öffentliche
Bewusstsein gerückt. Das Scheitern des sog. »real existierenden Sozia-
lismus« in den osteuropäischen Ländern nahm sich zunächst als Sieg
des westlichen Kapitalismus auf ganzer Linie aus. Die marxistische
Gesellschaftstheorie schien sich hiermit erledigt zu haben. Nur zwei
Jahrzehnte später sind jedoch die kapitalistischen Prosperitätsverspre-
chen von Grund auf zweifelhaft geworden. Der Ausbruch der Welt-
finanzkrise 2008 fällt in eine Zeit, in der die ökologischen Grenzen des
Wirtschaftswachstums unübersehbar zutage getreten sind. Stimmt
man Habermas’ These in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
zu, dass kapitalistische Gesellschaften »Imperativen der Wachstums-
begrenzung ohne Preisgabe ihres Organisationsprinzips nicht folgen«
können (LS 63), stellt sich der 2008 drohende Kollaps des Weltfinanz-
systems als Symptom einer tiefgreifenden Systemkrise des Kapitalis-
mus dar. Hiermit wird die Frage nach der Erklärungskraft wie auch den
praktisch-politischen Konsequenzen des Marxismus erneut aktuell –
wobei dessen ideologische Funktion in den sog. »real-sozialistischen«
Staaten nicht aus dem Blick geraten darf. Dies verleiht der Marxismus-
Rezeption von Jürgen Habermas, der sich bereits mit seiner Habilita-
tionsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) als Demokratie-
theoretiker profilierte, besonderes Gewicht.
Habermas hebt in Zur Rekonstruktion des Historischen Materia-
lismus (1976) das marxistische Erbe seiner Gesellschaftstheorie hervor:
»Den theoretischen Anspruch des Historischen Materialismus möchte
ich mir zu eigen machen.« (RHM 129) Mit der Applikation des von
Engels geprägten Titels »Historischer Materialismus« auf das marxis-
tische Theoriegebäude im Ganzen bringt Habermas das leitende Er-

Völkerrechts – Ein Essay zur Verfassung Europas«. In: ders: Zur Verfassung Europas
(s. Anm. 1), S. 39–96, hier: S. 81.
5 Wie Habermas betont auch Colin Crouch, dass der Neoliberalismus »nach dem Zu-

sammenbruch der Finanzmärkte politisch einflussreicher dasteht denn je.« (Das be-
fremdliche Überleben des Neoliberalismus. Berlin 2011, S. 12).

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Einleitung

kenntnisinteresse seines Rekonstruktionsprogramms zum Ausdruck:


Die marxistische Gesellschaftstheorie soll als Theorie der sozialen Evo-
lution aktualisiert werden. Ihre inhaltlichen Parallelen zur soziologi-
schen Systemtheorie – insbes. Talcott Parsons’ – werden von Habermas
weiter ausgestaltet und mittels der programmatischen Unterscheidung
von Beobachter- und Teilnehmerperspektive, die er bereits in seinem
Beitrag zur Adorno-Festschrift (1963) programmatisch skizziert 6 und
in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus erstmals konkret aus-
gestaltet hat (LS 11 ff.), in das Paradigma einer selbstreflexiven Gesell-
schaftstheorie im Sinne der Frankfurter Schule integriert. 7 1981 legt
Habermas mit der Theorie des kommunikativen Handelns einen um-
fassenden Gegenentwurf zu den Systemtheorien Parsons’ und Luh-
manns, die auf dem deskriptiv-explanatorischen Beobachter-Stand-
punkt verharren, vor. Die marxistische Theorietradition spielt nun
allerdings keine zentrale Rolle mehr; Habermas unterzieht vielmehr
das gesellschaftstheoretische Kernstück von Marx’ Kapital – die Ana-
lyse der Warenform – einer weitreichenden Kritik (TkH II 492 ff.).
Der vorliegende Band, der eine Tagung an der Universität Wup-
pertal im März 2012 dokumentiert, rückt auf dem Hintergrund von
Habermas’ Kritik am neoliberalen Kapitalismus in seinen politischen
Schriften seit den 1990er-Jahren 8 sein Programm einer Rekonstruktion
des Historischen Materialismus, das er bis zur Mitte der 70er-Jahre
verfolgt hat, erneut in den Fokus. Das Themenspektrum des Bandes
enthält vier Schwerpunkte:
(1) Die Diagnose von Herrschaftsverhältnissen und Krisensymp-
tomen der gegenwärtigen Form des Kapitalismus steht in den Beiträ-
gen von Stefan Müller-Doohm und Regina Kreide im Zentrum. Smail
Rapic versucht, zentrale Aspekte der Krisenanalyse in Habermas’ Legi-
timationsprobleme im Spätkapitalismus auf die 2008 ausgebrochene
Systemkrise des globalisierten Kapitalismus zu applizieren.

6 Habermas: »Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik«. In: Max Horkheimer


(Hrsg.): Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1963,
S. 473–501.
7 Vgl. Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie« (1937). In: ders.: Gesammelte

Schriften. Bd. 4: Schriften 1936–1941. Hrsg. von A. Schmidt und G. Schmid Noerr.
Frankfurt a. M. 1988, S. 162–216.
8 Vgl. insbes. Habermas: Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt

a. M. 1998, S. 78–90, 137–169; ders.: Zeit der Übergänge (Kleine Politische Schriften
IX). Frankfurt a. M. 2001, S. 85–104; Zur Verfassung Europas (s. Anm. 1), S. 99–119.

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Einleitung

(2) William Outhwaite und Manfred Baum erörtern Habermas’


Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus in einer
werkgeschichtlichen Perspektive. Outhwaite hebt die fortwirkenden
Motive hervor, während Baum auf die Neuakzentuierungen im Zuge
von Habermas’ kommunikationstheoretischer Wende in den 70er-Jah-
ren hinweist.
Ágnes Heller und Karl-Otto Apel führen ihren langjährigen Dia-
log mit Jürgen Habermas, worin sich die jeweilige Entwicklung ihres
Denkens widerspiegelt, fort. Heller antwortet auf die Kritik, die Haber-
mas in Der philosophische Diskurs der Moderne (1988) an ihrem Ver-
mittlungsversuch von Marxismus und Phänomenologie in Das All-
tagsleben (dt. 1978) geführt hat, und äußert zugleich Vorbehalte
gegen Habermas’ kommunikationstheoretische Wende. Apel beleuch-
tet die sachlichen Parallelen zwischen dem Historischen Materialismus
und dem amerikanischen Pragmatismus, an den die diskurstheoreti-
schen Konzeptionen, die er gemeinsam mit Habermas in den 1960er-
und 70er-Jahren entwickelt hat, anknüpfen. Apel hebt die Relevanz der
im Historischen Materialismus unterbelichteten philosophischen
Grundlagenreflexion hervor und verteidigt die wahrheitstheoretische
Konzeption des Pragmatismus, wonach die idealtypische Konsensbil-
dung in the long run als die regulative Idee unserer Erkenntnis anzu-
sehen ist, gegen Einwände, die Habermas in Wahrheit und Rechtfer-
tigung (1999) zu einer Modifikation seines Standpunkts bewogen
haben.
(3) Für Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialis-
mus ist seine Reformulierung des Basis/Überbau-Theorems von zen-
traler Bedeutung. Habermas hält noch in der Theorie des kommunika-
tiven Handelns an ihm fest: Er nennt die Ökonomie den »strukturbil-
denden« Bereich der Gesellschaft (TkH II 265), verwirft jedoch die –
durch einige zugespitzte Formulierungen von Marx und Engels nahe
gelegte – reduktionistische Lesart des Basis/Überbau-Theorems, der-
zufolge Politik, Recht und Kultur in einem direkten kausalen Abhän-
gigkeitsverhältnis von der Ökonomie stehen (MEW 3, 27; 13, 8 f., 470;
RHM 157 ff.). In der Theorie des kommunikativen Handelns wendet
Habermas gegen Marx’ Analyse der Warenform im Kapital ein, sie
verkenne das Eigenrecht der normativ-rechtlichen Sphäre und leiste
damit einer »ökonomistisch verkürzte[n]« Sicht der bürgerlich-kapita-
listischen Gesellschaft Vorschub (TkH II 504). Habermas betont aller-
dings, dass sich bei Marx und Engels auch Ansätze zu einer nicht-

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Einleitung

reduktionistischen Fassung des Basis/Überbau-Theorems finden (RHM


157 f.). Habermas’ eigener Version dieses Theorems liegt die These zu-
grunde, dass das normative Bewusstsein eine gattungsgeschichtliche
Entwicklungslogik aufweist. Gesellschaftliche Fortschritte kommen –
so die These – dadurch zustande, dass drängende sozioökonomische
Systemprobleme den Anstoß zu Innovationen in der normativen Sphä-
re geben, die deren immanenter Entwicklungslogik folgen und die Lö-
sung der sozioökonomischen Probleme durch eine Reorganisation der
Gesellschaftsstruktur ermöglichen.
Der Rolle des Rechts in Habermas’ Reformulierung des Basis/
Überbau-Theorems ist der Artikel von Hans-Christoph Schmidt am
Busch gewidmet; auch im Beitrag Manfred Baums ist dies ein Kern-
thema. Ingo Elbe verteidigt Marx’ Kapital gegen Habermas’ Vorwurf,
eine ökonomistisch verkürzte Interpretation der bürgerlich-kapitalisti-
schen Gesellschaft zu befördern. Smail Rapic bezieht die selbstreflexive
Verknüpfung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in Haber-
mas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, womit der Dualität
von sozioökonomischen und normativen Entwicklungen methodisch
Rechnung getragen werden soll, auf Horkheimers und Adornos Kon-
zeption einer ideologiekritischen Gesellschaftstheorie zurück und sieht
hierin zugleich den Interpretationsschlüssel für die Theoriestruktur
der Ursprungsgestalt des Historischen Materialismus in den Früh-
schriften von Marx und Engels.
Michael Quante erörtert im Rekurs auf die anthropologische
Dimension des Historischen Materialismus das Verhältnis von uni-
versalistisch-deontologischen und gattungsethischen Argumenten in
Habermas’ Stellungnahme zur Humangenetik in Die Zukunft der
menschlichen Natur (2001).
(4) Georg Lohmann setzt Habermas’ Auseinandersetzung mit
dem Historischen Materialismus in einer geschichtsphilosophischen,
Klaus Erich Kaehler in einer subjektivitätstheoretischen Perspektive
zu seiner Rezeption des Deutschen Idealismus in Beziehung. Ernest
Wolf-Gazo schildert im Blick auf die Einleitung zu Habermas’ Schel-
ling-Dissertation (1954) die Genese der für sein späteres Werk charak-
teristischen Verknüpfung von philosophischen und politischen Inten-
tionen.
Hauke Brunkhorst bettet in seinem Schlussbeitrag eine Analyse
von Krisensymptomen des globalisierten Kapitalismus in die evolu-
tionstheoretische Dimension der Habermas’schen Rekonstruktion des

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Einleitung

Historischen Materialismus ein und führt damit die zeitdiagnostische


mit der gesellschaftstheoretischen Fragestellung der Tagung nochmals
zusammen.
Die (geringfügig gekürzte) Wiedergabe der Diskussion auf der Ta-
gung ist dadurch motiviert, dass sich eine sachgerechte Auseinander-
setzung mit dem Historischen Materialismus, der ursprünglich keine
»Doktrin« sein wollte, sondern einen experimentellen Duktus hatte, als
»Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche« mit
offenem Ausgang vollziehen muss. 9 Dies hat gerade die Frankfurter
Schule gegenüber den dogmatischen Fixierungen des orthodoxen Mar-
xismus geltend gemacht.

Übersicht über die Beiträge und Habermas’ Entgegnungen

William Outhwaite wendet sich in seinem Eröffnungsbeitrag »Kon-


tinuitäten und Diskontinuitäten in Habermas’ Auseinandersetzung
mit dem Historischen Materialismus« gegen die – u. a. von Tom Rock-
more und Martin Hartmann vertretene – Auffassung, Habermas habe
sich mit seiner Marx-Kritik in der Theorie des kommunikativen Han-
delns vom Historischen Materialismus entfernt. Die prominente Rolle
Max Webers in der Theorie des kommunikativen Handelns läuft – wie
Outhwaite hervorhebt – nicht auf eine Abkehr vom Historischen
Materialismus hinaus, da Habermas der Weber’schen Deutung des neu-
zeitlichen Rationalisierungsprozesses eine dezidiert kapitalismuskriti-
sche Wendung gibt. Outhwaite schließt mit zwei kritischen Anmerkun-
gen: (1) Er äußert den Verdacht, dass die klassischen Einwände gegen
den soziologischen Funktionalismus, die integrativen Kräfte einer Ge-
sellschaft einseitig zu akzentuieren und ihre Wirkungsweise letztlich
nur zu beschreiben, nicht eigentlich zu erklären, auch Habermas’ Re-
konstruktion des Historischen Materialismus treffen. (2) Outhwaite
meldet zugleich Zweifel daran an, dass Habermas’ Kommunikations-
theorie als ein zum möglicherweise überholten Historischen Materia-
lismus alternatives Fundament für eine kritische Gesellschaftstheorie
fungieren könne. – Habermas stimmt Outhwaites Lesart seiner Werk-

9 Engels: Die Kommunisten und Karl Heinzen (1847), MEW 4, 321 f.; Marx an Ruge,

September 1843. In: Ein Briefwechsel von 1843 [zwischen Marx, Ruge, Bakunin und
Feuerbach], MEW 1, 346.

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Einleitung

geschichte zu. Er entgegnet auf Outhwaites ersten Einwand, dass sein


Gedanke einer Entwicklungslogik des normativen Bewusstseins durch-
aus ein Erklärungspotential für die historische Evolution von Gesell-
schaftsformationen enthält. In Bezug auf Outhwaites zweiten Einwand
räumt er ein, dass der Historische Materialismus ein umfassenderes
Erklärungsmodell gesellschaftlicher Transformationsprozesse bildet
als seine Theorie des kommunikativen Handelns. Habermas bekräftigt
jedoch seinen Anspruch, eine zeitgemäße Alternative zum Historischen
Materialismus, dessen geschichtsteleologischer Aspekt die Kontingenz-
spielräume historischer Entwicklungen vernachlässige, entworfen zu
haben.
Manfred Baum stellt in seinem Beitrag »Historischer Materialis-
mus und Kommunikationstheorie bei Habermas« die Verknüpfung
dieser beiden Theorieansätze im Ausgang von zwei hierfür charakte-
ristischen Textstücken aus Zur Rekonstruktion des Historischen Mate-
rialismus und der Theorie des kommunikativen Handelns dar: den
»Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«
(RHM 260–267) und dem Gesellschaftsmodell wechselseitiger Aus-
tauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt, die durch die
»Steuerungsmedien« Geld und Macht vermittelt sind (TkH II 489–
547). Nach Baum steht Habermas’ Anknüpfung an Marx, Lukács und
Horkheimer hierbei – wie bei den beiden Letztgenannten – im Banne
der Soziologie Max Webers und seiner Nachfolger, wenn sie sich auch
gegen den Parsons-Luhmann’schen Funktionalismus abgrenzen will.
Das Gesellschaftsmodell der Austauschbeziehungen zwischen System
und Lebenswelt soll eine befriedigendere Erklärung des Spätkapitalis-
mus ermöglichen, als sie der ursprüngliche Marxismus mit den für ihn
typischen ökonomistischen Verkürzungen liefern kann. Gleichwohl
sieht Habermas in seiner Kommunikationstheorie eine Rückkehr zu
Marx, genauer zu derjenigen Interpretation von Marx, die durch die
Weber-Rezeption im westlichen Marxismus vorbereitet worden ist.
Baums Beitrag lässt erkennen, dass er die Verknüpfung von Weber
und Marx bei Habermas für problematisch hält. – Habermas weist in
seiner Replik darauf hin, dass sein zentraler Kritikpunkt an Marx in der
Theorie des kommunikativen Handelns an der für die Architektonik
dieses Buches grundlegenden Doppelung von systemischer Beobach-
ter- und lebensweltlicher Teilnehmerperspektive festgemacht ist; diese
Unterscheidung wird von Weber nicht getroffen – zumindest nicht ex-
plizit. Habermas’ zentraler Einwand gegen Marx’ Kritik der politischen

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Einleitung

Ökonomie lautet, dass er aufgrund der totalisierenden Tendenz seiner


Grundbegriffe die Rationalisierungsgewinne des kapitalistischen Sys-
tems, an denen er festhalten will, von den degenerierenden bzw. patho-
logischen Effekten der kapitalistischen Klassenherrschaft, die er auf der
Ebene der Handlungsanalyse kritisiert, nicht angemessen abtrennen
könne.
Ágnes Heller schildert die wichtigsten Etappen ihres philosophi-
schen Austauschs mit Habermas, wobei der Historische Materialismus,
von dem sie sich seit langem verabschiedet hat, 10 im Hintergrund bleibt
(»Über Habermas – Von alten Zeiten«). Heller führt Habermas’ Ein-
wand in Der philosophische Diskurs der Moderne gegen ihr Buch, Das
Alltagsleben, dort werde durch das Produktionsparadigma der Blick auf
die gesellschaftliche Realität verengt, auf ein Missverständnis ihrer
Verwendung der Begriffe »gesellschaftliche Reproduktion« und »Ob-
jektivation« zurück, an denen Habermas seine Kritik festmacht (DM
98 f.): Heller benutzt in Das Alltagsleben beide Begriffe nicht in einer
marxistisch-orthodoxen terminologischen Bedeutung, sie appliziert sie
vielmehr in einem unspezifischen Sinne auf Grundstrukturen unseres
In-der-Welt-Seins. Habermas räumt in seiner Entgegnung ein, dass er
in Der philosophische Diskurs der Moderne seine Kritik an der Rolle
des Produktionsparadigmas bei György Márkus (DM 100–103) wohl
zu Unrecht auf Ágnes Heller übertragen hat. Heller wendet in ihrem
Tagungsbeitrag gegen Habermas’ Kommunikationstheorie ein, diese
laviere zwischen der transzendentalen und einer empirischen Ebene.
Habermas’ Analyse der in allen Sprechakten implizit erhobenen Gel-
tungsansprüche ist auf der transzendentalen Ebene angesiedelt; indem
er einen argumentativen Konsens der Diskursgemeinschaft zum Telos
sprachlicher Verständigung erklärt, bezieht er zugleich die empirische
Ebene ein. Nach Heller bleibt hierbei die Heterogenität menschlicher
Lebensformen unterbelichtet. Habermas entgegnet auf diesen Kritik-
punkt, dass Argumentationen ohne die gemeinsame Orientierung an
der Universalität von Ansprüchen auf Wahrheit und normative Rich-
tigkeit ihren Sinn verlieren. Er bagatellisiere keinesfalls das Faktum des
Dissenses, sondern mache auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen
Basis für den produktiven Umgang mit Meinungsverschiedenheiten
aufmerksam.

10 Vgl. ihren Diskussionsbeitrag auf S. 104 f.

18

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.
Einleitung

Karl-Otto Apel weist auf die sachlichen Bezüge zwischen den mit-
einander verwandten Konzeptionen seiner eigenen Transzendental-
pragmatik und der von Habermas in den 1970er-Jahren entwickelten
Universalpragmatik auf der einen Seite und dem Historischen Mate-
rialismus auf der anderen hin, wobei aus seiner Kritik an der »ortho-
doxen Endfassung« des Historischen Materialismus bei Marx und En-
gels hervorgeht, dass er vor allem deren Frühschriften im Blick hat. Die
dort entworfene Wissenschaft der Geschichte, die das Potential für ge-
sellschaftliche Veränderungen in der gegenwärtigen historischen Si-
tuation freilegen soll, versteht sich als kritische Selbstreflexion der
menschlichen Praxis. Während Marx und Engels der Philosophie kein
selbständiges Existenzrecht zubilligen, insistiert Apel darauf, dass der
Historische Materialismus, sofern er sich als Selbstreflexion der
menschlichen Praxis begreift, eine genuin philosophische Dimension
in sich birgt: Er muss sich selbst in die Entwicklungsgeschichte der
kollektiven Praxis, die er rekonstruieren will, einordnen und hierbei
die normativen Maßstäbe, mittels derer er die herrschenden Verhält-
nisse kritisiert, rechtfertigen.
Apel und Habermas sind sich mit dem Historischen Materialis-
mus darin einig, dass die metaphysische Ursprungsgestalt der Ersten
Philosophie überholt ist. Das von Descartes inaugurierte zweite Para-
digma der Ersten Philosophie – die Bewusstseinsphilosophie – ist nach
Apel und Habermas methodisch unzureichend; es spielt auch für den
Historischen Materialismus keine Rolle. Der Ursprung des dritten Pa-
radigmas liegt im amerikanischen Pragmatismus, der die sprachana-
lytische Philosophie maßgeblich beeinflusst hat. Apel verknüpft ihn
in seiner Transzendentalpragmatik, Habermas in seiner Universalprag-
matik mit der transzendentalen Fragestellung Kants. Der amerika-
nische Pragmatismus berührt sich insofern mit dem Historischen
Materialismus, als er die Vernunft in eine zukunftsorientierte ge-
schichtliche Praxis einbettet. Dies geschieht im Pragmatismus in drei-
facher Hinsicht: (1) Sein Begründer, Charles S. Peirce, stellt die »prag-
matische Maxime« zur Klärung und eventuellen Neudefinition tra-
dierter Begriffe auf, dass deren Sinn anhand von zukunftsorientierten
Gedankenexperimenten auf den Prüfstand zu stellen sei. (2) Auch
Peirce’s Verständnis der Wahrheit ist zukunftsorientiert: Er betrachtet
die Herbeiführung eines Konsenses unter den jeweiligen Experten in
the long run – diesen nennt er die ultimate opinion – als das maßgeb-
liche Wahrheitskriterium. (3) Als ethisches Pendant zu dieser regulati-

19

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.
Einleitung

ven Idee unserer Erkenntnis postuliert Peirce ein normativ verbind-


liches letztes Ziel unseres Handelns.
Gegen die Schlüsselrolle, die der regulativen Idee konsensueller
Wahrheitsfindung unter idealtypischen Bedingungen bei Peirce, Apel,
in Habermas’ diskurstheoretischen Veröffentlichungen der 1970er- bis
in die frühen 90er-Jahre 11 wie auch in Hilary Putnams Reason. Truth
and History (1981) und Realism and Reasons (1983) zukommt, ist von
Donald Davidson, Richard Rorty, Albrecht Wellmer und Cristina La-
font eingewandt worden, dass die Idee der ultimate opinion als prin-
zipiell unerreichbarer Zielpunkt von Erkenntnisfortschritten keinen
Orientierungsrahmen für unsere gegenwärtigen Erkenntnisbemühun-
gen bilden könne und daher als metaphysisches Relikt anzusehen sei:
Wenn man den Abstand, der uns stets von einer unüberholbaren ulti-
mate opinion trennt, ernst nimmt, sei die Schlussfolgerung unaus-
weichlich, dass die Wahrheit für uns letztlich unerkennbar ist; behaup-
tet man dagegen, dass wir eine ultimate opinion schon jetzt erfolgreich
antizipieren können, unterschlage man den grundsätzlichen Fallibilis-
musvorbehalt gegenüber faktischen Erkenntnisansprüchen, der mit
dem Konzept regulativer Ideen untrennbar verknüpft sei. Habermas
hat unter dem Eindruck dieser Kritik seine wahrheitstheoretische Po-
sition modifiziert. 12 Apel hält den genannten Einwand jedoch für ver-
fehlt. In Paradigmen der Ersten Philosophie 13 und erneut im vorliegen-
den Band weist er darauf hin, dass wir nicht umhin kommen, für
bestimmte erkenntnistheoretische Aussagen Infallibilität in Anspruch
zu nehmen: Dies trifft gerade auch auf den genannten Einwand zu, mit
dem regulative Erkenntnisideen definitiv verabschiedet werden sollen.
Apel insistiert darauf, dass der Gedanke des Erkenntnisfortschritts, der
die Quintessenz des Konzepts der Wahrheit als regulativer Idee aus-
macht, nicht dadurch hinfällig wird, dass wir uns den Abstand vor
Augen halten, der uns stets von einer unüberholbaren Erkenntnis des
Weltganzen trennt.
Ingo Elbe verteidigt Marx gegen Habermas’ Vorwurf, soziale Ein-
heit nach dem Muster technisch-manipulativer Objektbezüge zu kon-

11 Habermas: »Wahrheitstheorien« (1972), VE 127–183; FG 28 ff.


12
Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M.
1999, S. 48–55, 251–266, 286–294.
13
Apel: »Wahrheit als regulative Idee«. In: ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie.
Berlin 2011, S. 322–349.

20

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.
Einleitung

zeptualisieren und hierdurch die interaktive Dimension moderner Ge-


sellschaften zu verfehlen (»Habermas’ Kritik des Produktionsparadig-
mas«). Elbe vertritt die These, dass Habermas den insbes. in Marx’
reifem ökonomiekritischen Werk entwickelten Begriff der abstrakten
Arbeit als versachlichter und entfremdeter Form der Anerkennung
von Privatarbeiten im Kapitalismus verfehle und lediglich die anthro-
pologische Dimension konkreter Arbeit erfasse. Habermas verkenne
mit seiner Ersetzung des Begriffs »Produktionsverhältnis« durch den
des »institutionellen Rahmens« bzw. der »Interaktion« einerseits und
des Konzepts des »Subsystems zweckrationalen Handelns« anderer-
seits den innovativen Gehalt des Marx’schen ökonomiekritischen
Gesellschaftsbegriffs. Dies habe zur Folge, dass Habermas die Sozial-
theorie in eine äußerliche Kombination von symbolisch-interaktionis-
tischem Reduktionismus und systemtheoretischer Affirmation gesell-
schaftlicher Entfremdung transformiere. Er trenne das Klassenverhält-
nis von seiner gegenständlichen Vermittlung, d. h. seinem im engeren
Sinn ökonomischen Charakter, ab und verharmlose verselbständigte
ökonomische Mechanismen, indem er sie als handlungsentlastende
Kommunikationsmedien mit dem Ziel der optimalen materiellen Re-
produktion interpretiert. – Habermas entgegnet auf Elbes Kritik, dass
es ihm nie um eine historisch-philologische Marx-Interpretation ge-
gangen ist; sein Ziel sei es vielmehr gewesen, Aspekte der Marx’schen
Theorie für systematische Probleme – z. B. die erkenntnistheoretische
Fragestellung von Erkenntnis und Interesse (1968) – und die Analyse
einer veränderten geschichtlichen Situation fruchtbar zu machen.
Smail Rapic spricht Habermas’ marxistisch inspirierter Diagnose
kapitalistischer Krisenphänomene in Legitimationsprobleme im Spät-
kapitalismus in inhaltlicher wie auch methodischer Hinsicht anhalten-
de Aktualität zu. Da Habermas in diesem Buch die These vertritt, dass
kapitalistische Gesellschaften Imperativen der Wachstumsbegrenzung
ohne Preisgabe ihres Organisationsprinzips nicht folgen können, ist es
konsequent, dass er in dem Augenblick, als die ökologischen Grenzen
des Wirtschaftswachstums zutage traten, die Forderung nach gesell-
schaftlicher Kontrolle wirtschaftlicher Verfügungsmacht erhob. Rapic
plädiert dafür, die Perspektive eines Dritten Weges zwischen Kapitalis-
mus und Staatssozialismus, die Habermas 1970 gegenüber Willy
Brandt geltend machte, von neuem auszuleuchten. In methodischer
Hinsicht interpretiert Rapic die Verschränkung einer systemischen
Kausalanalyse von Gesellschaftsformationen in der Beobachterper-

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Einleitung

spektive mit der geltungslogisch orientierten Rekonstruktion der Evo-


lution von Weltbildern in der Teilnehmerperspektive in Legitimations-
probleme im Spätkapitalismus als konsequente Weiterführung von
Horkheimers und Adornos Konzept einer selbstreflexiven kritischen
Gesellschaftstheorie: Diese soll durch die Aufdeckung zeitgenössischer
Ideologien die spezifischen Möglichkeitsspielräume der gegenwärtigen
geschichtlichen Situation freilegen. Rapic versucht zu zeigen, dass mit-
tels der Habermas’schen Doppelung von Beobachter- und Teilnehmer-
perspektive die Theoriestruktur der Frühschriften von Marx und En-
gels aufgeschlüsselt werden kann. Im Schlussteil seines Beitrags
verteidigt Rapic Habermas’ Kritik an Marx’ Warenform-Analyse im
Kapital in der Theorie des kommunikativen Handelns gegen die Meta-
kritik Michael Heinrichs und Moishe Postones. – Habermas stimmt in
seiner Entgegnung Rapics Zielsetzung grundsätzlich zu, die Zeitdiag-
nose in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus für die Analyse
der gegenwärtigen Systemkrise des globalisierten Kapitalismus frucht-
bar zu machen und die Theoriestruktur des Buches, die auf der dialek-
tischen Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive
beruht, als Leitfaden für die Interpretation der Frühschriften von Marx
und Engels zu benutzen. Er äußert aber zugleich mehrere Vorbehalte
gegen Rapics Argumentation: (1) Die Krisendiagnose in Legitimations-
probleme im Spätkapitalismus lässt sich auf die heutige Situation nur
mit Einschränkungen applizieren. Habermas konstatiert im kritischen
Rückblick auf dieses Buch, dass er – ebenso wie Claus Offe – auf dem
Höhepunkt des Hobsbawm’schen »Golden Age« in den frühen 1970er-
Jahren die Steuerungsfähigkeit kapitalistischer Staaten überschätzt
hat. Beide hätten damals mit dem manifesten Ausbruch ökonomischer
Krisen nicht mehr gerechnet und sich daher sogleich der Verschiebung
der Krisenpotentiale in die Dilemmata der staatlichen Administration
und in den Motivationshaushalt der heranwachsenden Generationen
zugewandt. (2) Die Theorie des kommunikativen Handelns ist auf-
grund ihres kommunikationstheoretischen Ansatzes von Habermas’
Schriften der 1950er- und 60er-Jahre weiter entfernt, als es in Rapics
Darstellung den Anschein hat. (3) Das Konzept einer auf Ideologiekri-
tik angelegten Gesellschaftstheorie, an dem Rapic festhält, ist nach Ha-
bermas nicht mehr zeitgemäß, da die Wahlbevölkerungen nicht länger
festgefügten Weltanschauungen religiöser oder philosophischer Her-
kunft verhaftet seien.
Stefan Müller-Doohm diskutiert Habermas’ Kritik am gegenwär-

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Einleitung

tigen neoliberalen Kapitalismus auf dem Hintergrund seiner Marxis-


mus-Rezeption (»Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die
Zukunft Europas«). Habermas meldete bereits in seinen ersten Ver-
öffentlichungen Vorbehalte gegenüber dem marxistischen Verständnis
des Klassenantagonismus als der entscheidenden Triebkraft gesell-
schaftlicher Veränderungen an. Seine in den 1970er-Jahren formulierte
These, dass der Entwicklungslogik des normativen Bewusstseins eine
gesellschaftliche Schrittmacherfunktion zukommt, schließt eine Kritik
an Marx’ Anspruch ein, die Wertformanalyse des Kapital decke den
Nukleus der kapitalistischen Gesellschaftsformation auf. In der Theorie
des kommunikativen Handelns betrachtet Habermas das Geld nicht
primär als Ausdruck eines Klassenverhältnisses, sondern als systemi-
sches Steuerungsmedium, dessen entsprachlichte Eigendynamik de-
mokratische Diskursstrukturen zwar bedrohe, von diesen jedoch kana-
lisiert werden könne. Habermas’ zentraler Einwand gegen die westliche
Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte lautet dementsprechend, dass
durch die neoliberalen Privatisierungsprogramme die Möglichkeiten
einer staatlichen Sanktionierung der kapitalistischen Wettbewerbs-
und Profitlogik, von deren prinzipieller Effizienz er nach wie vor über-
zeugt ist, aus der Hand gegeben wurden. Da Habermas einen staatli-
chen Paternalismus ablehnt und zugleich hervorhebt, dass komplexe
ökonomische Systeme nicht basisdemokratisch gelenkt werden kön-
nen, gehen seine konkreten Vorschläge zur Domestizierung des Kapi-
talismus über die weitgehend konsensfähigen Forderungen nach grö-
ßerer Kontrolle des Finanzsektors und der Stärkung transnationaler
Rechtsmedien sowie des europäischen Einigungsprozesses nicht we-
sentlich hinaus. – Habermas erklärt sich mit Müller-Doohms Darstel-
lung seiner Kapitalismus-Kritik ohne Abstriche einverstanden. Er
räumt ein, dass seine Vorschläge für eine demokratische Zähmung des
Kapitalismus eine begrenzte Reichweite haben, da er seine Krisen-
diagnosen der letzten Jahre nicht mehr gesellschaftstheoretisch unter-
mauert habe. Diese Lücke werde durch die Arbeiten insbes. von Hauke
Brunkhorst, Claus Offe und Wolfgang Streeck geschlossen.
Regina Kreide analysiert die Aushöhlung demokratischer Ent-
scheidungsprozesse durch den Neoliberalismus am Leitfaden von Ha-
bermas’ These in der Theorie des kommunikativen Handelns, dass
kommunikative Praktiken der Lebenswelt in fortschreitendem Maße
von systemischen Mechanismen des Marktes und der Administration
kolonialisiert werden (»Die verdrängte Demokratie. Kommunikations-

23

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Einleitung

und Handlungsblockaden in einer globalisierten Welt«). Die Demo-


kratie ist durch Globalisierung, Eliten- und Lobbygruppen sowie die
Finanz- und Wirtschaftskrise in Bedrängnis geraten. Der Konkurrenz-
kampf auf dem Weltmarkt engt nationalstaatliche Gestaltungsspiel-
räume ein, schwächt die Position der Lohnabhängigen und stärkt den
Einfluss der ökonomischen global players auf die transnationalen poli-
tischen Entscheidungsgremien, die sich parlamentarischer Kontrolle
zunehmend entziehen. Die Politische Theorie und die Philosophie rea-
gieren auf diese Herausforderungen nach Kreide entweder mit einer zu
›weltabgewandten‹ idealistischen Position, mit einem empirisch un-
zulänglichen und normvergessenen Governance-Ansatz oder mit einer
Dissenstheorie, die ohne empirische Rückendeckung die Demokratie
als Ort des nicht begründbaren Konfliktes ansieht. Kreide vertritt die
These, dass die normative Demokratietheorie auf eine empirische in-
formierte Gesellschaftstheorie angewiesen ist. Ein solcher wechselsei-
tiger Verweis von Demokratie- auf Gesellschaftstheorie ist bereits in
Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns angelegt. Kreide
zeigt, dass eine revidierte, den aktuellen Gegebenheiten angepasste
Version der Habermas’schen ›Kolonialisierungsthese‹ das notwendige
sozialwissenschaftliche und philosophische Rüstzeug bietet, um eine
gesellschaftstheoretische Rekonstruktion von Demokratieblockaden
und -potentialen zu gewährleisten. Diese Analyse lässt zugleich Rück-
schlüsse auf eine Demokratietheorie zu, bei der neben der Reflexivität
des demokratischen Verfahrens vor allem die außer-institutionelle
kommunikative Macht eine wichtige Rolle spielt. Diese könnte, so
Kreides Annahme, trotz einer unverrückbaren Übermacht des Marktes
und privatrechtlicher, technisierter Politik die Triebfeder für Umwand-
lungsprozesse sein. – Habermas stimmt Kreides Analyse der fort-
schreitenden Monetarisierung privater und öffentlicher Lebensberei-
che im neoliberalen Zeitalter ohne Abstriche zu. Er betont zugleich,
dass Kreide seine Analyse der Ambivalenz des modernen Rechts in
der Theorie des kommunikativen Handelns im Blick auf den globali-
sierten neoliberalen Kapitalismus adäquat fortschreibt. Gemäß der
Theorie des kommunikativen Handelns ermöglicht die Rechtsordnung
des neuzeitlichen Verfassungsstaats auf der einen Seite die demokrati-
sche Partizipation der Bürger, auf der anderen Seite bringen die Ver-
rechtlichungsschübe moderner Gesellschaften eine Ausweitung der ad-
ministrativen Kontrolle des sozialen Lebens mit sich (TkH II 530 ff.).
Diese »Ambivalenz von Freiheitsverbürgung und Freiheitsentzug«

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Einleitung

(TkH II 531) hat sich durch die fortschreitende Globalisierung dahin-


gehend transformiert, dass die zunehmende Verrechtlichung interna-
tionaler Organisationen und Ordnungsstrukturen einerseits das Poten-
tial zur Eindämmung nationalstaatlicher Machtpolitik enthält, die
Entscheidungsspielräume der Bürger andererseits aber dadurch einge-
engt werden, dass ihr Einfluss auf die internationale Rechtssetzung
schrumpft und die neoliberale Privatisierungspolitik zugleich die
Macht der ökonomischen global players stärkt.
Hans-Christoph Schmidt am Buschs Beitrag »Welchen norma-
tiven Status hat das Privatrecht?« nimmt seinen Ausgang von der
Beobachtung, dass eine Bestimmung des normativen Status’ des Pri-
vatrechts hinsichtlich der Möglichkeiten der Fundierung einer Kapita-
lismuskritik von großer Wichtigkeit ist. Angesichts dieses Umstands
fragt Schmidt am Busch, ob Habermas’ Rekonstruktion des Histori-
schen Materialismus eine zufriedenstellende Erörterung privatrecht-
licher Institutionen ermöglicht. Im Zuge der Untersuchung dieser
Frage analysiert Schmidt am Busch die Grundannahmen und Kern-
elemente des Historischen Materialismus in der von Habermas vertre-
tenen Version und grenzt diese Theorie gegenüber Marx und dem or-
thodoxen Marxismus ab. Schmidt am Busch führt dann aus, warum der
Historische Materialismus Habermas’scher Prägung in der uns vorlie-
genden Fassung keine einheitliche Grundlage für eine Bestimmung des
normativen Status’ des Privatrechts zur Verfügung stelle und deshalb
zeitgenössische Kapitalismus-Kritiken in diesem Punkt sachlich nicht
bereichern könne. Abschließend benennt Schmidt am Busch einige Er-
fordernisse, die der Historische Materialismus erfüllen können muss,
wenn er auf dem Feld der Kapitalismus-Kritik ein ernst zu nehmender
Kandidat sein möchte. – Habermas entgegnet auf den Einwand, seine
Darstellung des neuzeitlichen Privatrechts bleibe zweideutig, dass
Schmidt am Busch einen Kernpunkt seiner Argumentation missver-
steht: Habermas will gerade herausstellen, dass das neuzeitliche Pri-
vatrecht gegenläufige Tendenzen in sich birgt, indem es auf der einen
Seite eine Funktion im kapitalistischen Wirtschaftskreislauf erfüllt und
auf der anderen mit Rechtfertigungsansprüchen verknüpft ist, die nur
auf demokratischem Weg erfüllt werden können. Die von Schmidt am
Busch der Habermas’schen Darstellung angekreidete Zweideutigkeit
ist demnach in der Sache selbst verortet.
Michael Quante verfolgt in seiner Auseinandersetzung mit
Habermas’ Die Zukunft der menschlichen Natur (2001) das Ziel, den

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Einleitung

Historischen Materialismus, den er im Kern als eine kritische philoso-


phische Anthropologie versteht, für die Klärung des Verhältnisses von
universalistischer deontologischer Moral und gattungsethisch unver-
zichtbaren Elementen der Vorstellung eines gelingenden Lebens
fruchtbar zu machen (»Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungs-
wesens. Jürgen Habermas über die Zukunft der menschlichen Natur«).
Habermas betont, dass die rein deontologische, den Standards nach-
metaphysischer Universalisierbarkeit genügende Moral nicht aus-
reicht, um die konstitutive Bedeutung eines natürlich Unverfügbaren
für ein selbstbestimmtes und gelingendes Leben aufzuweisen – was er
in Die Zukunft der menschlichen Natur intendiert. Daher bringt er
weitere normative Ressourcen unter den Titeln »Gattungsethik« und
»Gattungswesen« ins Spiel. Quante bezweifelt, dass es für die selbst-
bestimmte Lebensführung des Individuums von ausschlaggebender
Bedeutung ist, ob das Unverfügbare, dessen Relevanz Habermas her-
vorhebt, aus der unbeherrschten Natur stammt oder sozial bzw. tech-
nisch induzierte Ursprünge hat. Nach Quante lässt sich zwischen bei-
den Bereichen keine strenge Grenze ziehen. Er beruft sich hierbei auf
die Kritik des Historischen Materialismus am Bild der Natur als eines
invarianten Fundaments menschlicher Selbstverständigung. Quante
vermutet, dass Habermas’ grundsätzlicher Ablehnung eugenischer
Eingriffe ein ahistorisches Verständnis der Naturwüchsigkeit des Men-
schen zugrunde liegt – was Habermas in seiner Entgegnung allerdings
bestreitet. Quante erklärt es für legitim, den Marx’schen Gedanken der
Humanisierung der (menschlichen) Natur auf die Humangenetik zu
übertragen, wobei er sich aber ebenso entschieden wie Habermas gegen
Fremdsteuerungsmechanismen der Humantechnologie wendet. –
Habermas hebt in seiner Entgegnung die unterschiedlichen Zielsetzun-
gen der gattungsethischen Reflexionen Quantes und seiner eigenen
Stellungnahme zu eugenischen Eingriffen hervor: Während Quante
im Rekurs auf die Anthropologie des Historischen Materialismus nor-
mative Kriterien für die Ausschöpfung der »humanen Potentiale«, die
im Bereich der Humangenetik zu erreichen sind, gewinnen will, weist
Habermas der Gattungsethik die Aufgabe zu, die – für sich genommen
nicht durchschlagenden – Einwände der deontologischen Moral gegen
eugenische Eingriffe zu untermauern.
Georg Lohmann zeigt in seinem Beitrag »Ernüchterte Geschichts-
philosophie«, dass Habermas trotz seiner in den 1970er-Jahren vor-
genommenen Abkehr von objektivistischen Geschichtskonzeptionen

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Einleitung

idealistischer wie auch marxistischer Provenienz bis heute an einer


pragmatischen Geschichtsdeutung in der Tradition Kants festhält. Loh-
manns Vorschlag lautet, die ernüchterten Motive dieser durchgehend
ambivalenten Geschichtsphilosophie zurück zu beziehen auf die rausch-
haft-spekulative Geschichtsphilosophie Schellings einer Kontraktion
Gottes, die der junge Habermas in seiner Dissertation Das Absolute
und die Geschichte (1954) so beeindruckend interpretiert hat. Von der
Rekonstruktion des Historischen Materialismus bis zum Projekt einer
»Konstitutionalisierung des Völkerrechts« (2004 u. ö.) ist Habermas’
beibehaltene Geschichtsphilosophie einer »realistischen Utopie«
(J. Rawls) durch »eine – eher aus Verzweiflung geborene – Hoffnung«
(Faktizität und Geltung, 1992) charakterisiert, die den für politisches
Handeln notwendigen pragmatischen Optimismus auf die Rechts- und
Verfassungsentwicklung konzentriert und zugleich mit dem Eingeden-
ken unabgegoltener Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten kontras-
tiert. – Habermas räumt in seiner Entgegnung ein, dass in seinem de-
zidiert nachmetaphysischen Denken ein spekulatives Freiheitspathos
nachwirken könne. Diesem fehlt allerdings bei Schelling, der von der
Mystik beeinflusst war, eine zureichende Begründung. Der pragmati-
sche Optimismus, den Lohmann bei ihm entdeckt, entspringe aus der
Verpflichtung, gegen die Verzweiflung anzudenken: Nur so könne man
verantwortlich handeln.
Ernest Wolf-Gazo stellt die von Georg Lohmann angesprochenen
Keime späterer Entwicklungslinien von Habermas’ Denken in seiner
Schelling-Dissertation detailliert dar (»Habermas and Young Hegelian
Dialectics«). Wolf-Gazos besonderes Augenmerk gilt der Einleitung
zur Dissertation, die Habermas erst nach der Fertigstellung des Haupt-
textes verfasst hat. Die Einleitung beleuchtet eine Traditionslinie, die
Schellings Geschichtsphilosophie an die Theosophie Jakob Böhmes und
die jüdische Mystik anbindet und beim jungen Marx nachwirkt. Die
spezifische Verknüpfung des naturphilosophisch-dialektischen mit
den emanzipatorischen Aspekten dieser Traditionslinie spielt auch für
Ernst Bloch und Herbert Marcuse eine zentrale Rolle; beide Autoren
wurden für Habermas allerdings erst nach dem Abschluss seiner Dis-
sertation relevant. Wolf-Gazo sieht in der Tatsache, dass Habermas
nicht im Haupttext, sondern nur in der später verfassten Einleitung
auf Marx eingeht, den Ausdruck eines biographischen Umbruchs:
Habermas’ gesellschaftspolitische Interessen, die zuvor von seinen phi-
losophischen Studien abgetrennt waren, wurden nun zum integralen

27

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Einleitung

Bestandteil seiner akademischen Arbeit. – Habermas stimmt dieser


Deutung im Wesentlichen zu. Er relativiert allerdings die von Wolf-
Gazo akzentuierte Relevanz seiner Dissertation für sein weiteres Den-
ken: Seine Tätigkeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung war
ein tiefgreifender Neubeginn.
Die zentrale These des Beitrags von Klaus Erich Kaehler: »Hegel,
Marx und das Subjekt der Moderne« besagt, dass ein »Ausweg aus der
Subjektphilosophie« nur dann nötig scheint, wenn der Subjektbegriff
der Moderne nicht von Anfang an in prinzipieller Schärfe unterschie-
den wird von demjenigen Subjekt, das intradisziplinär als sich selbst-
reflexiv entwickelndes Prinzip der Philosophien von Descartes bis He-
gel rekonstruierbar ist. Erst aus dieser kritischen Rekonstruktion des
äußersten Anspruchs der suisuffizienten Vernunft und ihres Subjekts
ergibt sich eine argumentative, kritisch-genetische Rechtfertigung für
die Neubestimmung des Subjekts der Moderne in prinzipieller Bedeu-
tung, nämlich als endliches Subjekt in den drei nicht mehr hierar-
chischen, sondern gleichursprünglichen Dimensionen der Naturalität,
Individualität und Pluralität/Sozialität. Dann ist allerdings der Anfang
der Moderne als nachmetaphysisches Denken nicht bei Kant zu haben
und erst recht bei Hegel nur ex negativo. Darin liegt zwar eine Diffe-
renz zum historischen Ansatz der Moderne bei Habermas, doch wird
die inhaltliche Ausführung der Philosophie der Moderne nach dem
Maßstab dieses nachmetaphysischen (»dezentrierten«) Subjekts, abge-
sehen von einem Plädoyer für eine eindeutigere Berücksichtigung der
qualitativ irreduziblen Dimension der Individualität, mit der kritischen
Darstellung der Moderne und ihres normativen Gehalts bei Habermas
im Wesentlichen konvergieren. – Habermas erklärt sich mit Kaehlers
Sicht der Rolle Hegels im philosophischen Diskurs der Moderne
grundsätzlich einverstanden, setzt in seiner Entgegnung jedoch andere
Akzente. Um das junghegelianische Programm einer Dezentrierung
der absoluten Subjektivität für die Gegenwartsphilosophie fruchtbar
zu machen, müsse man dem linguistic turn eine größere systematische
Relevanz zuerkennen, als Kaehler es tut. Habermas wendet sich darü-
ber hinaus gegen Kaehlers Verständnis der neuzeitlichen Philosophie
als einem linearen Prozess: Während Kaehler das nachmetaphysische
Denken erst mit den Junghegelianern beginnen lässt, lokalisiert Haber-
mas dessen Ausgangspunkt bei Kant.
Hauke Brunkhorst spitzt Habermas’ Korrektur des Primats der
Ökonomie in der marxistischen Theorie der sozialen Evolution dahin-

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Einleitung

gehend zu, dass das Verlangen der Unterdrückten nach Gerechtigkeit


eine basale geschichtliche Triebkraft ist (»Marxismus und Evolution«).
Obwohl Marx in seinen historischen Arbeiten selber gezeigt hat, dass
die großen Revolutionen nicht aus bloßen Verteilungskämpfen, son-
dern stets auch aus konfligierenden normativen Forderungen ent-
sprungen sind, hat er das Wirtschaftssystem und den politischen Dis-
kurs in seiner Kritik der politischen Ökonomie nicht als gleich-
ursprüngliche Aspekte der sozialen Evolution anerkannt. Er tendierte
zu einer funktionalistischen Sicht des Klassenkampfs als des Motors
des ökonomischen Fortschritts. Habermas korrigiert – so Brunkhorst
– diese Einseitigkeit, indem er die Eigenlogik normativer Diskurse
und Kontroversen hervorhebt. Die Evolution des Rechts erweitert das
argumentative Arsenal der Herrschaftskritik und kann hierdurch die
Emanzipation der Opfer und Verlierer der Geschichte vorantreiben.
Die ökonomischen Krisen des modernen Kapitalismus gehen immer
mit Legitimationskrisen einher. Die 2008 ausgebrochene Wirtschafts-
krise hat den ideologischen Charakter der neoliberalen Prosperitätsver-
sprechen ans Licht gebracht. – Habermas bekräftigt in seiner Stellung-
nahme zu Brunkhorsts Beitrag ihre gemeinsame Gegenwendung gegen
rein funktionalistische Erklärungen der sozialen Evolution.

Ohne das unermüdliche Engagement meiner Mitarbeiter Karina


Schlingensiepen, Nikolai Plößer und Andreas Thomas, das strecken-
weise bis an die Grenzen des Zumutbaren ging, hätte das Tagungspro-
jekt nicht realisiert werden können. Ihnen gilt mein besonderer Dank.
Florian Schimpe hat uns bei der Drucklegung des Tagungsbandes
engagiert unterstützt. Die Hans-Böckler-Stiftung stellte für den Ta-
gungsband einen großzügigen Druckkostenzuschuss zur Verfügung.
Hierfür sei insbesondere der Leiterin der Abteilung Forschungsför-
derung, Frau Dr. Claudia Bogedan, gedankt.

Wuppertal, Juli 2014 Smail Rapic

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Grußwort zur Tagung
Lambert T. Koch, Rektor der
Bergischen Universität Wuppertal

Liebe Tagungsteilnehmer,

ein herzliches Willkommen an der Bergischen Universität Wuppertal!


Es ist mir eine große Freude, Sie in so großer Zahl zur Tagung »Haber-
mas und der Historische Materialismus« an unserer Hochschule be-
grüßen zu dürfen. Und nicht allein angesichts dieses Titels ist es mir –
natürlich – eine ganz besondere Ehre, Herrn Professor Habermas per-
sönlich willkommen zu heißen. Ich denke, ich bin mir mit allen Ver-
sammelten darin einig, dass Ihre Anwesenheit, verehrter Herr Haber-
mas, unserer Veranstaltung Glanz verleiht und unsere Gespräche und
Diskussionen in besonderer Weise beflügeln wird. Danke dafür, dass
Sie hier sind!
Dass so viele aus dem In- und Ausland gekommen sind und dass
auch die breitere Öffentlichkeit einen so regen Anteil nimmt, ist ein
besonders schönes Zeichen: Darf es doch einmal mehr als Echo Ihres
überaus großen Engagements und der über lange Jahre so hohen Prä-
senz als »öffentlicher Intellektueller« gewertet werden. Bereits als jun-
ger Doktorand habe ich bewundert, wie Sie es verstanden haben, ein
breites Publikum für die Debatte um die großen gesellschaftlichen He-
rausforderungen unserer Zeit zu interessieren, wie es Ihnen immer
wieder neu gelungen ist, gewissermaßen das Interesse der Zivilgesell-
schaft an sich selbst real-akademisch zu qualifizieren.
So möchte ich es eingangs auch nicht versäumen, dem Ideengeber
und Organisator unserer heutigen Tagung, Herrn Professor Rapic –
natürlich mit seinen Helfern – herzlich zu danken! Danke dafür, lieber
Herr Rapic, dass Sie diese geschichtsträchtige Veranstaltung, in lang-
fristiger Vorbereitung, möglich werden ließen.
Was das Tagungsthema selbst anbetrifft, so liegt auf der Hand,
dass sich darüber ganz im Sinne des Wirkens von Jürgen Habermas
vielerlei spannende Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen, wirtschaft-

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Grußwort zur Tagung

lichen und politischen Entwicklungen herstellen lassen. Und das Pro-


gramm zeigt, dass diese Chance genutzt zu werden verspricht: Ziel der
Tagung ist die Verknüpfung gesellschaftstheoretischer und philosophi-
scher Fragestellungen mit aktuellen gesellschaftspolitischen Anliegen.
Dabei wird – in der Geburtsstadt von Friedrich Engels – der Bogen
gespannt zu dem von Marx und Engels entscheidend geprägten His-
torischen Materialismus, verbunden mit der Frage, inwieweit sich Fa-
cetten dieses Gedankengebäudes mit Blick auf heutige Herausforde-
rungen wieder neu fruchtbar machen lassen.
Zentrales Movens ist wohl vor allem die von immer mehr Men-
schen geteilte Befürchtung, dass sich unser globalisierter Kapitalismus
in einer nicht mehr so einfach zu überwindenden Systemkrise befindet.
Wenn die überkommene materialistische Anschauung der Geschichte
zutrifft, dass es insbesondere die ökonomischen Prozesse sind, die un-
sere Gesellschaften formieren oder auch deformieren, dann drängt sich
die Frage auf, wie die darin wirkenden materiellen Triebkräfte so außer
Rand und Band geraten konnten. Belege dafür, dass dies so ist, begeg-
nen uns ja nahezu täglich in den Medien – denken wir nur an die ak-
tuellen Friktionen an den Finanzmärkten im Umfeld der »Euro-Krise«
und an die Leiden derjenigen Menschen, die etwa in Griechenland na-
hezu tatenlos miterleben müssen, wie ihre Wohlstandspositionen zu-
nehmend erodieren.
Vielen scheint es heute, als hechele der Reparaturbetrieb Politik
immer weiter und unkontrollierter hinter dem verlorengegangenen
Anspruch her, die alles entscheidenden Marktkräfte zum Wohle der
Menschheit zu zähmen. Doch was könnten die richtigen Konsequen-
zen aus dieser Beobachtung sein? Sind die immer mehr zu einem
globalen Kapitalismus konvergierenden marktwirtschaftlich-demo-
kratischen Ordnungssysteme westlicher Prägung gar nicht mehr re-
parierbar? Oder, wenn doch, wo hätten Reparaturen anzusetzen? Wer
kann, darf und müsste Verantwortung im supranationalen Kontext
übernehmen?
Institutionenökonomen betonen ja, dass der Markt selbst zu-
nächst ein in ethisch-moralischer Hinsicht neutrales Abstraktum dar-
stelle. Ihm in platter Manier die Hauptschuld für die beobachtbaren
Verwerfungen zu geben, wie es naive Kapitalismuskritiker gerne tun,
führt nicht weiter. Denn die realen Markt-Ergebnisse und -Entwick-
lungskräfte, die wir je nachdem als gut oder schlecht, als nützlich oder
schädlich, als moralisch oder unmoralisch empfinden, lassen sich erst

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Lambert T. Koch

aus einer eingehenden Analyse des umgebenden Regelsystems verste-


hen. Die Konsequenz wäre es dann, dass aus der Unzufriedenheit mit
Marktergebnissen, die ja nun einmal die Qualität unseres sozialen Zu-
sammenlebens entscheidend beeinflussen, Regeländerungen resultie-
ren müssten.
Es geht dabei eben nicht um die binäre Frage, Kapitalismus oder
nicht, sondern darum, wie über solche Regeländerungen die Produk-
tion und Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen so erfolgen
kann, dass sie nachhaltig möglichst vielen in einer Gesellschaft von
Nutzen ist. Mit anderen Worten: Erstrebenswert wäre eine sozialver-
trägliche Zähmung des Kapitalismus – ohne freilich die Problem-
lösungskompetenz des Systems zu lähmen. Doch warum scheinen sich
unsere Regelsysteme heute eher in die entgegengesetzte Richtung zu
verändern?
Hier gilt es wohl, die Aufmerksamkeit zunächst auf diejenigen
Kräfte und Mechanismen zu richten, welche die maßgeblichen Regeln
hervorbringen. Wie beispielsweise gehen in die zugrunde liegenden
Prozesse Einzelinteressen ein? Welche Interessen gehen mit welcher
Gewichtung ein? Wie »herrschaftsfrei« ist der begleitende Dialog?
Sind alle Interessenträger hinreichend souverän bei der Beantwortung
der Frage, was ihnen tatsächlich frommt? Wie demokratisch sind unse-
re Demokratien? Wie autonom sind Individuen im Zeitalter der Me-
dienherrschaft? Wie entwicklungsmächtig ist das institutionelle Nir-
wana, das die ökonomische und kulturelle Globalisierung in vielen
Bereichen unserer Interaktion erzeugt?
Und wenn wir nach der Leistungsfähigkeit unserer Regelsysteme
fragen, muss der Blick schließlich auch auf unser immer konturenlose-
res Moralbewusstsein und die es aufweichenden Kräfte gerichtet wer-
den. Es könnte dann die Frage resultieren: Ist die Krise des Kapitalis-
mus nicht eigentlich und zu allererst eine Krise unserer Regel- und
Wertesysteme? Und: Welche Herausforderungen ergeben sich daraus
möglicherweise für die Verantwortlichen in den Bereichen Bildung und
Erziehung?
Meine Damen und Herren, dies sind nur einige der Überlegungen
und Fragen, die mir bei der Befassung mit dem Tagungsprogramm in
den Sinn kamen. Sicherlich bringt jeder von Ihnen auch eigene Asso-
ziationen und Ideen mit – und das ist gut so! Ich bin mir sicher, dass sie
alle hoch motiviert sind, sich von spannenden Beiträgen zu nicht min-
der spannenden Diskussionen inspirieren zu lassen. In dieser Hoffnung

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Grußwort zur Tagung

wünsche ich Ihnen einen guten Tagungsverlauf und unseren Gästen


von auswärts einen angenehmen Aufenthalt in Wuppertal und an un-
serer Universität!

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I. Habermas’ kommunikationstheoretische
Wende und das Erbe des Historischen
Materialismus

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William Outhwaite
Kontinuitäten und Diskontinuitäten in
Habermas’ Auseinandersetzung mit dem
Historischen Materialismus 1

»I do think that I have been a reformist all my life, and


maybe I have become a bit more so in recent years. Ne-
vertheless, I mostly feel that I am the last Marxist.« 2

Es geschieht oft, dass sich Leute in der Jugend zum Marxismus beken-
nen und später langsam von ihm entfernen. Dies ist, wie mir scheint,
bei Habermas allerdings nicht der Fall. War er schon in Theorie und
Praxis (1963) ein kritischer Freund des Historischen Materialismus, so
ist er es danach geblieben, mal freundlicher, mal kritischer. Ein ortho-
doxerer Marxist hätte sich nicht schon 1960 so ernsthaft mit »vier Fak-
ten gegen Marx« auseinandergesetzt. Diese gegenwärtigen Fakten in
den entwickelten kapitalistischen Ländern (Verschränkung von Staat
und Gesellschaft, steigender Lebensstandard, Auflösung des Proleta-
riats, sowjetische Diktatur) »bilden gegen eine theoretische Rezeption
des Marxismus […] eine unüberwindliche Barriere« (TP1 166), wie
auch gegen die »verschwiegene Orthodoxie« (gemeint ist vermutlich
Adorno): »deren Kategorien verraten sich in der kulturkritischen An-
wendung, ohne als solche ausgewiesen zu werden« (TP1 170). Trotz-
dem sei der Marxismus als »Geschichtsphilosophie in politischer Ab-
sicht« noch ernst zu nehmen und nicht in den Einzelwissenschaften
aufzulösen (wie bei Schumpeter und vielleicht auch bei Habermas’
Freund und ehemaligem Kollegen Ralf Dahrendorf). Noch früher,
1955, hat Habermas in einer Rezension eine umfassende Kenntnis der
gegenwärtigen Literatur zu Marx demonstriert. Hier nimmt man die
Präsenz von Motiven wahr, die in seinen späteren Äußerungen zu

1
Ich danke Simon Susen (City University, London) sehr herzlich für seine Ermutigung
und stilistischen Korrekturen.
2
Jürgen Habermas: »Concluding Remarks«. In: Craig Calhoun (Hrsg.): Habermas and
the Public Sphere. Cambridge, Mass. 1992, S. 462–479, hier: S. 469.

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William Outhwaite

Marx eine wichtige Rolle spielen. Erstens die Kritik an Ansätzen, die
»Marx sehr dicht, zu dicht, an Hegel heranrücken«. 3 Dann die Vertei-
digung von Marx gegen verleumderische und unseriöse Kritik (hier ein
Buch von Leopold Schwarzschild), bei gleichzeitiger Betonung der
»ernsthafte[n] Frage, […] wie eine humanistische Ideologiekritik [auch ein
wichtiges Motiv der Habermas’schen Marx-Aneignung] zu einer institutio-
nalisierten Ideologie der Inhumanität entarten könnte. Unsere Vermutung
geht dahin, dass Marx’ Mißverständnis der Technologie, obschon er zu ihrem
Verständnis wie kein zweiter beigetragen hat, in diesem Zusammenhang eine
wichtige Rolle spielt.« 4
Etwas später, 1958, betont Habermas in einem Handbuch-Artikel zur
Anthropologie den innovativen Charakter des Marxismus im Gegen-
satz zu einem
»Idealismus, der die eigentlich anthropologische Problematik nur in Funktion
zur Fundamentallogik eines transzendentalen Bewußtseins oder eines abso-
luten Geistes abhandeln konnte. Erst von den Neuhegelianern, Feuerbach
und Marx voran, wird ein neuer Problemboden gewonnen: zusammen mit
Kierkegaard arbeiten sie die Situationsbezogenheit des Menschen heraus: sie
erkennen, daß der Mensch die ›Welt‹ des Menschen ist.« 5
Habermas schließt den Artikel mit einem Hinweis auf die »Verbindung
von Anthropologie und Theorie der Gesellschaft«, die Marcuse und
andere in den USA über die Psychoanalyse versuchen. 6 Im selben Jahr,
1958, so hat er 1981 in einem Interview berichtet, habe er Marx zum
ersten Mal als ökonomischen Denker ernst genommen und, unter
Adornos Einfluss, es sich abgewöhnt, Marx anthropologisch zu lesen. 7

3 Habermas: »Marx in Perspektiven« (1955). In: ders.: Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt.

Aufsätze 1954–1970. Amsterdam 1970, S. 75–80, hier: S. 78. Siehe dazu: Tom Rock-
more: Habermas on Historical Materialism. Bloomington/Indianapolis 1989, S. 185
Anm. 42.
4 Habermas: »Marx in Perspektiven« (s. Anm. 2), S. 80. Das Thema der Technokratie

hat Matthew Specter überzeugend als Grundlage der Habermas’schen Öffentlichkeits-


politik betont (Specter: Habermas. An Intellectual Biography. New York 2010).
5 Habermas: »Marx in Perspektiven« (s. Anm. 2), S. 167.

6 A. a. O., S. 180.

7 Habermas: »Dialektik der Rationalisierung. Jürgen Habermas im Gespräch mit Axel

Honneth, Eberhard Knödler-Bunte und Arno Widmann«. In: Ästhetik und Kommuni-
kation 45–46 (1981), S. 126–157. Dies ist ein möglicher Diskussionspunkt, weil Hon-
neth und Joas ihre kritische Theorie teilweise in Verbindung mit Anthropologie ent-
wickelt haben.

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Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit dem Historischen Materialismus

Was seine jetzige Position ist, berichtet er selber an anderer Stelle


in diesem Heft; ich darf vielleicht eine persönliche Erinnerung dazu
beitragen. Ich habe einmal versucht, Habermas für einen geplanten
Sammelband zum Postkommunismus zu gewinnen. Er riet mir, ich
solle mich lieber an Claus Offe wenden (was ich natürlich auch tat); er
selber sei noch marxistisch genug, um zu meinen, man solle den Kapi-
talismus eher in seinen fortgeschrittensten Formen untersuchen.
Infolgedessen stehe ich der folgenden Deutung Tom Rockmores
eher skeptisch entgegen. Rockmore hat behauptet, vielleicht jetzt noch
stärker als in seinem früheren Buch von 1989, dass Habermas sich vom
Historischen Materialismus entfernt habe. In einem Sammelband zu
Nietzsche schreibt Rockmore im Jahre 1999:
»Habermas, who breaks with Marx to avoid ideological distortion in claims to
know, reconceives the subject as independent of context. As a result, he re-
treats back behind Hegel, for whom the subject of knowledge is a real human
being, to a quasi-Kantian conception of subjectivity with Piercean elements.« 8
Auch Martin Hartmann spricht im Kontext der Rekonstruktion des
Historischen Materialismus von einer »grundsätzliche[n] Abkehr von
einer wesentlichen marxistischen Doktrin«, 9 die dann, wie er zeigt, so-
wohl hier als auch in Habermas’ späteren Schriften teilweise kompen-
siert wird.
Es ist zwar richtig, dass Habermas’ frühe Unterscheidung zwi-
schen Arbeit und Interaktion unter anderem von seiner Kritik an dem
marxistischen Reduktionismus bzw. dem simplifizierten Basis/Über-
bau-Schema motiviert ist – aber vielleicht auch unter Einfluss von
Adornos boutade, Marx wolle die ganze Welt als eine Fabrik darstellen.
Ich sehe bei Habermas eher ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen
kantischen, hegelianischen und marxistischen Prinzipien und Motiven.
Es mag sein, dass Habermas’ Verhältnis zum Historischen Mate-
rialismus eine gewisse Glockenkurve beschreibt, wobei marxistische
Motive stärker in den 1970er-Jahre zu beobachten sind, als er einerseits
den marxistischen Krisenbegriff reformuliert und andererseits, damit

8 Rockmore: »Habermas, Nietzsche, and Cognitive Perspective«. In: Babette E. Babich


(Hrsg.): Nietzsche, Theories of Knowledge, and Critical Theory: Nietzsche and the
Sciences. Dordrecht 1999, S. 281–288, hier: S. 284.
9 Martin Hartmann: »Historischer Materialismus«. In: Hauke Brunkhorst, Regina

Kreide, Cristina Lafont (Hrsg.) Habermas-Handbuch. Stuttgart/Weimar 2009, S. 320–


322, hier: S. 321.

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William Outhwaite

zusammenhängend und teilweise im selben Buch – Legitimationspro-


bleme im Spätkapitalismus (1973) –, ein moralisches Entwicklungs-
modell dem marxistischen Modell der Entwicklung der Produktivkräfte
an die Seite setzt (Habermas’ Doppelbeschluss, könnte man frivol sa-
gen, in Anspielung auf die nukleare Mobilisierung der NATO einige
Jahre später). Dieses Modell wird dann im Aufsatzband Zur Rekon-
struktion des Historischen Materialismus (1976) fortgesetzt sowie in
der Theorie des kommunikativen Handelns (1981).
Matthew Specter hat in seiner Intellectual Biography zu Haber-
mas auf sehr interessante Weise das Thema der Technologie bzw. Tech-
nokratie betont.
»The agenda he set as co-director of the Max Planck Institute extended his
preoccupation of the late 1960s with the significance of science and technol-
ogy for Marxist theory. The relevant query, therefore, is not ›What is the
significance of Habermas’s linguistic turn?‹ but rather, ›What is the signifi-
cance of Habermas’s desire to reconstruct historical materialism?‹ Under-
standing Habermas’s reconstruction of historical materialism depends first
on understanding the West German discourse on technology in the 1960s.
Framed by a pervasive discourse on ›technocracy‹, the positions Habermas
advocated between 1966 and 1969 have a structural coherence that is apparent
only in historical retrospect.« 10
Laut Specter ist Habermas’ frühe Technokratiekritik also noch rich-
tungsweisend für seine spätere Arbeit: Die Wasserscheide ist das von
Herbert Marcuse stark beeinflusste Technologieverständnis der Stu-
dentenbewegung. Wie Max Weber 1918/1919 wolle Habermas seinen
Lesern und Leserinnen ein Stück Realismus und Verantwortungsethik
beibringen.
»Caught off guard by the students’ unfamiliar modes of protest […] Haber-
mas fell back on Weber’s distinction between aesthetic-expressive and purpo-
sive-rational action, arguing that student tactics blurred this essential differ-
ence to disastrous effect. He viewed Marcuse’s technological utopianism,
increasingly popular with the students, through a similar Weberian lens:
Neither nature nor science could be reenchanted. Striking, however, is the
equal attention Habermas paid to the weaknesses of the Weberian theory of
modernity as rationalization. This was embodied in his repeated recognition
that the students’ ›sensitivity‹ toward and alienation from the work ethic
were both emotionally legitimate and politically promising.« 11

10
Matthew Specter: Habermas (s. Anm. 4), S. 90.
11 A. a. O., S. 122.

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Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit dem Historischen Materialismus

Specters Argument, das vielleicht ein Übergewicht politischer im Ver-


hältnis zu eher wissenschaftsinternen Themen verrät, lenkt unsere
Aufmerksamkeit auf zwei Texte: erstens Marcuses Weber-Kritik, vor-
getragen auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
1964, 12 und zweitens die Marcuse-Kritik in der von Habermas 1968
herausgegebenen Festschrift Antworten auf Herbert Marcuse und in
seinem längeren (ursprünglich für die Festschrift bestimmten) Titel-
aufsatz in Technik und Wissenschaft als Ideologie (TWI 48–103).
Das Hauptthema in Marcuses Aufsatz ist, dass in Webers angeb-
lich wertfreie Soziologie Kategorien des Kapitalismus eingebaut sind:
»In Max Webers Soziologie wird formale Rationalität bruchlos zur
kapitalistischen Rationalität.« 13
»Die formale Rationalität des Kapitalismus stieß auf ihre Grenzen an zwei
Stellen: an der gegebenen Tatsache der privaten Unternehmung, an der Exis-
tenz des ›freien Arbeiters‹, und an der gegebenen Tatsache der Trennung des
Arbeiters von den Betriebsmitteln der freien Arbeit.
Diese beiden Tatsachen gehören für Max Weber zur spezifischen Ratio-
nalität des Kapitalismus: sie sind für ihn technologische Notwendigkeiten.
Als solche begründen sie nach seiner Meinung Herrschaft als integrales Ele-
ment kapitalistischer, ja wirtschaftlicher Rationalität in der modernen Indus-
triegesellschaft.« 14
Weber sehe nicht, »daß nicht die ›reine‹, formale, technische Vernunft,
sondern die Vernunft der Herrschaft das ›Gehäuse der Hörigkeit‹ her-
stellt, und daß die Vollendung der technischen Vernunft sehr wohl In-
strument der Befreiung des Menschen werden kann.« 15 Die letzten
Seiten des Aufsatzes entwickeln diesen Gedankengang weiter. 16

12 Herbert Marcuse: »Industrialisierung und Kapitalismus«. In: Otto Stammer (Hrsg):


Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologen-
tages. Tübingen 1965, S. 161–180.
13
Marcuse: »Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers«. In: ders.:
Kultur und Gesellschaft 2. Frankfurt a. M. 1965, S. 107–129, hier: S. 110.
14 A. a. O., S. 120.

15 A. a. O., S. 127.

16 Der letzte Absatz erscheint in englischer Übersetzung in Negations in der ursprüng-

lichen Form des Konferenzbandes Max Weber und die Soziologie heute (s. Anm. 12).
Siehe auch Marcuse: »Some Social Implications of Modern Technology«. In: Andrew
Arato/Eike Gebhardt (Hrsg.): The Essential Frankfurt School Reader. New York 1982,
S. 138–162 sowie Marcuse und Franz Neumann: »A History of the Doctrine of Social
Change« (1941). Mit einer Einleitung von Bill Scheuerman. In: Constellations 1.1
(1994), S. 113–143.

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William Outhwaite

In der Einleitung zur Festschrift charakterisiert Habermas Mar-


cuses These,
»daß Technik und Wissenschaft in den industriell fortgeschrittensten Län-
dern nicht nur zur ersten Produktivkraft geworden sind, die das Potential
für eine befriedete und befriedigte Existenz bereitstellt, sondern auch zu einer
neuen Form von Ideologie, die eine von den Massen abgeschnittene adminis-
trative Gewalt legitimiert.« 17
Zu der Studentenbewegung bemerkt er, Specters spätere These stüt-
zend: »Die ›große Weigerung‹ ist Metapher für eine Einstellung, aber
nicht per se eine Einsicht.« 18
In seiner Einleitung geht Habermas nicht weiter auf diese Themen
ein. Claus Offe aber entdeckt bei Marcuse »eine erstaunliche und be-
unruhigende Verwandtschaft zu konservativ-institutionalistischen
Analysen von Autoren wie Hans Freyer, Helmut Schelsky und Arnold
Gehlen.« 19 Für Offe, Axel Honneths spätere Kritik der Macht und seine
Kritik der ersten Frankfurter Generation vorwegnehmend, meint
»Marcuse […], auf die Rolle schon absehbarer, manifest werdender histori-
scher Konflikte und Motive für die Konstruktion seiner kritischen Theorie
verzichten zu können, weil einerseits die Manipulation universell, anderer-
seits die Realität des befriedeten Daseins so nah sei, daß es nur des kollektiven
Entschlusses bedürfe, sie herbeizuführen […]. Die Realität des befriedeten
Daseins ist nah und fern zugleich.
Auf beiden Seiten dieses Paradoxons unterschätzt Marcuse die histori-
sche Rolle praktischer Intentionen […]. [So] […] muß die kritische Theorie
[…] sowohl die Stabilität wie die historische Hinfälligkeit des industriellen
Herrschaftssystems aus der Dynamik konkreter, sozial interpretierter Inte-
ressen rekonstruieren.« 20
In Technik und Wissenschaft als Ideologie beginnt Habermas mit einer
Kritik an Marcuse:
»Die Schwierigkeit, die Marcuse mit dem Ausdruck des politischen Gehalts
der technischen Vernunft nur zudeckt, ist die, kategorial genau zu bestim-

17 Habermas: »Einleitung«. In: ders. (Hrsg.): Antworten auf Herbert Marcuse. Frank-

furt a. M. 1968, S. 14 f.
18 A. a. O., S. 13.

19
Claus Offe: »Technik und Eindimensionalität – Eine Version der Technokratie-The-
se?« In: Habermas (Hrsg.): Antworten auf Herbert Marcuse (s. Anm. 17), S. 73–85,
hier: S. 81.
20 A. a. O., S. 87 f.

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Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit dem Historischen Materialismus

men, was das heißt: daß sich die rationale Form von Wissenschaft und Tech-
nik, also die in Systemen zweckrationalen Handelns verkörperte Rationalität,
zur Lebensform, zur ›geschichtlichen Totalität‹ einer Lebenswelt erweitert.
Ich meine, daß das weder Max Weber noch Herbert Marcuse befriedigend
gelungen ist. Darum möchte ich versuchen, Max Webers Begriff der Ratio-
nalisierung in einem anderen Bezugssystem neu zu formulieren.« (TWI 60)
The rest is history, genauer die Geschichte der Rekonstruktion des His-
torischen Materialismus und weitgehend auch des zweiten Halbbandes
der Theorie des kommunikativen Handelns, die Habermas in den da-
rauffolgenden Seiten vorwegnimmt. In der Moderne
»werden die traditionalen Zusammenhänge zunehmend Bedingungen der in-
strumentalen oder der strategischen Rationalität unterworfen: die Organisa-
tion der Arbeit und des wirtschaftlichen Verkehrs, das Netzwerk des Trans-
ports, der Nachrichten und der Kommunikation, die Institute des privaten
Rechtsverkehrs und […] die staatliche Bürokratie. So entsteht die Infrastruk-
tur einer Gesellschaft unter Modernisierungszwang.« (TWI 71)
Bis er dorthin kommt, bleibt für Habermas nicht nur der lange Marsch
durch die Universalpragmatik, sondern auch noch die Etappe der Legi-
timationsprobleme im Spätkapitalismus. Habermas’ Krisenbegriff
wird in einem Kapitel der Dissertation des chilenischen Soziologen Ro-
drigo Cordero Vega sehr einleuchtend analysiert. Cordero beschreibt
eine mögliche Folgerung:
»that the concept of crisis is itself an act of communication with critical in-
tentions. In essence, diagnoses and explanations of crisis phenomena are par-
ticular forms of communicative codification of the objective problems of so-
cial reproduction that seek to make visible at which level and in what form
they damage social and individual life. In that capacity, the sociological con-
cept of crisis, and the empirical analyses derived from it, are intended to make
sense of the diremptions of social life, that is to say ›in den seltenen Augen-
blicken, da sie [Kultur und Sprache] als Ressourcen versagen […] dann bedarf
es der Reparaturleistungen von Dolmetschern, Interpreten oder Therapeu-
ten.‹ [TkH II 204].« 21
So werden Kritik und Krise aufeinander bezogen, wie Vega auch in
Bezug auf Arendt und Foucault argumentiert. 22

21 Rodrigo Cordero Vega: Diremptions of the Social. The Ideas of Crisis and Critique in
Contemporary Social Theory. University of Warwick, Sociology Dept. 2011, S. 180.
22 Zum Kritikbegriff siehe auch Gerard Delanty: »Varieties of critique in sociological

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William Outhwaite

Habermas’ Modell der normativen Evolution kann vielleicht in


Zusammenhang mit früheren Versuchen der kantischen Marxisten ge-
bracht werden. Während es hier um den Versuch geht, moralische
Motive an den Marxismus anzuknüpfen, 23 wird bei Habermas eher he-
gelianisch versucht, normative Lernprozesse als wesentlichen Teil des
reformulierten Historischen Materialismus einzubeziehen. Wie er in
einem schriftlichen Interview 1984 mit Perry Anderson und Peter
Dews schreibt: »Having rejected the orthodoxy of the philosophy of
history, I had no wish to lapse back either into ethical socialism, or into
scientism […].« 24 So sind das Vorbild, wenn es eines gibt, eher die Aus-
tromarxisten und Kautsky. 25 Im selben Interview fährt er fort:
»So you can see that from the outset my theoretical interests have been con-
sistently determined by those philosophical and socio-theoretical problems
which arise out of the movement of thought from Kant through to Marx.
My intentions were given their stamp by Western Marxism in the mid-fif-
ties, through a coming-to-terms with Lukács, Korsch and Bloch, Sartre and
Merleau-Ponty, and of course with Horkheimer, Adorno and Marcuse.
Everything else which I have made my own has only acquired its significance
in connection with the project of a renewal of the theory of society grounded
in this tradition.« 26
In Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus kann man viel-
leicht eine gewisse Instabilität konstatieren. Einerseits schreibt Haber-
mas in der »Einleitung«: »Kultur […] bleibt ein Überbauphänomen,
auch wenn sie beim Übergang zu neuen Entwicklungsniveaus eine Rol-
le zu spielen scheint, die prominenter ist als viele Marxisten bisher
angenommen haben« (RHM 12). Wie Hartmann bemerkt, hält Haber-
mas in der Theorie des kommunikativen Handelns
»am evolutionären Modell der Gesellschaftsentwicklung und auch an den
marxistischen Begriffen ›Basis‹ und ›Überbau‹ fest. Die evolutionären Impul-
se für sozialen Wandel, etwa für die Ausdifferenzierung des Wirtschafts- und

theory and their methodological implications for social research«. In: Irish Journal of
Sociology 19.1 (2011), S. 68–92.
23 Wie in dem späteren Versuch von Steven Lukes: Marxism and Morality. Oxford

1982.
24
Habermas: Autonomy and Solidarity. Interviews. Ed. by Peter Dews. London 21992,
S. 149.
25
Vgl. Lukes: Marxism and Morality (s. Anm. 24), S. 14–19.
26 Habermas: Autonomy and Solidarity (s. Anm. 24), S. 149.

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Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit dem Historischen Materialismus

des Herrschaftssystems, gehen ›vom Bereich der materiellen Produktion‹ aus


[TkH II 251].« 27
Andererseits wird der normativen Entwicklung ein gewisses Primat
gegeben. Wie Habermas sein Argument in Zur Rekonstruktion des
Historischen Materialismus resümiert:
»daß […] Wissen erst mit der Folge einer Produktivkraftentfaltung imple-
mentiert werden kann, wenn der evolutionäre Schritt zu einem neuen insti-
tutionellen Rahmen und einer neuen Form der Sozialintegation vollzogen ist.
Offen geblieben ist die Frage, wie dieser Schritt vollzogen wird. Die de-
skriptive Antwort des Historischen Materialismus heißt: durch soziale Kon-
flikte, durch Kampf, durch soziale Bewegungen und politische Auseinander-
setzungen […]. Aber nur eine analytische Antwort kann erklären, warum
eine Gesellschaft einen evolutionären Schritt vollzieht, und wie es zu verste-
hen ist, daß soziale Kämpfe unter bestimmten Umständen zu einer neuen
Form der Sozialintegation führen. Die Antwort, die ich vorschlagen möchte,
heißt: die Gattung lernt nicht nur in der für die Produktivkraftentfaltung ent-
scheidenden Dimension des technisch verwertbaren Wissens, sondern auch in
der für die Interaktionsstrukturen ausschlaggebenden Dimension des mora-
lisch-praktischen Bewußtseins. Die Regeln kommunikativen Handelns ent-
wickeln sich wohl in Reaktion auf Veränderungen im Bereich des instrumen-
tellen und strategischen Handelns, aber sie folgen dabei einer eigenen Logik.«
(RHM 162)
In diesem Vorgriff auf die zu entwickelnde Theorie des kommunikati-
ven Handelns scheint sich eine Kontinuität abzuzeichnen und auch
plausibel zu machen, dass Habermas seine Rekonstruktion des Histori-
schen Materialismus nicht, wie Wittgenstein seine Stufenleiter, ver-
worfen hätte. Ein gründlicher textanalytischer Versuch würde hier zu
weit führen; ich möchte stattdessen zwei prinzipielle Fragen aufwerfen,
wovon die erste sich eher auf die Rekonstruktion des Historischen Ma-
terialismus bezieht und die zweite auf die Theorie des kommunikativen
Handelns.
Die erste Frage dreht sich um die Begriffe evolutionäres Lernen,
Systemprobleme, usw. An der Evolutionstheorie scheiden sich be-
kanntlich die soziologischen Geister (als zwei Beispiele unter vielen
kann man vielleicht zwei ehemalige Cambridge-Kollegen nennen: To-
ny Giddens und Garry Runciman). Wenn es gesellschaftliche System-
probleme überhaupt gibt, so sagen sie wenig darüber, ob oder wie sie

27 Hartmann: »Historischer Materialismus« (s. Anm. 9), S. 322.

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Entgegnung auf William Outhwaite

gelöst werden. Die bekannte Kritik des Funktionalismus scheint mir


auch hier noch relevant, auch wenn der zweite Band der Theorie des
kommunikativen Handelns als »Kritik der funktionalistischen Ver-
nunft« etikettiert wird. Habermas würde vielleicht erwidern, dass mein
langes Zitat soeben schon die Antwort gibt, aber die Vorstrukturierung
der, wie er sagt, »analytischen Frage« scheint die »deskriptive« Ant-
wort zu präjudizieren.
Die zweite Frage lautet, ob die Theorie des kommunikativen Han-
delns in der Lage ist, den Historischen Materialismus zu ersetzen oder
wenigstens zu ergänzen. Sie pari passu mit dem Historischen Materia-
lismus zu setzen, wie es das oben angeführte Zitat zu tun scheint, sehe
ich eher als einen Kategorienfehler an. Auch wenn der Historische
Materialismus vollkommen unhaltbar ist, steckt er wenigstens einen
Rahmen ab, der effektiver ausgefüllt werden könnte. Die Theorie des
kommunikativen Handelns kann eine so allgemeine Rolle kaum in An-
spruch nehmen. (Ein Zeichen dafür ist der Versuch Axel Honneths, sie
durch eine Theorie der Anerkennungskämpfe zu ergänzen. Für Hon-
neth müsste die Theorie des kommunikativen Handelns durch eine
Foucault’sche Machtanalyse erweitert werden, sowie durch einen pro-
minenteren theoretischen und nicht nur politischen Blick auf konkrete
soziale Konflikte.) 28 Mit anderen Worten, die Theorie des kommunika-
tiven Handelns kann, wie mir scheint, nur ein Bestandteil, wenngleich
ein sehr wichtiger Bestandteil, einer kritischen Gesellschaftstheorie
sein.

Entgegnung von Jürgen Habermas

Zunächst meinen Dank an die Gastgeber. Als geborenem Gummers-


bacher ist mir die Umgebung vertraut; obwohl ich zum ersten Mal als
Gast dieser Universität in Wuppertal bin, kehre ich gewissermaßen aus
der Peripherie der oberbergischen Heimat ins Zentrum des Bergischen
zurück. Mein Dank gilt auch Herrn Outhwaite, der seit vielen Jahren

28
Habermas hat natürlich immer die politische Szene sehr nah betrachtet, aber er un-
terscheidet seine politischen Schriften von seinen theoretischen Arbeiten. So trug auch
Die postnationale Konstellation (1998), die nicht in der Reihe der politischen Schriften
erschienen ist, den Untertitel Politische Essays.

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Entgegnung auf William Outhwaite

und mit großem hermeneutischen Wohlwollen meine Publikationen in


einem schwierigen Kontext begleitet hat. Nach meiner Erfahrung ist
das englische Milieu schwierig für die Rezeption meiner Sachen. Die
analytische Philosophie ist in England vom Junghegelianismus und
vom Pragmatismus, der amerikanischen Version des Junghegelianis-
mus, nicht wesentlich berührt worden, und die Gesellschaftstheorie
ist dort stärker als anderswo von Althusser und anderen strukturalisti-
schen Theorien geprägt worden. Andererseits bringt mir dieser werk-
biographische Vortrag zu Bewusstsein, dass ich meiner Historisierung
beiwohne, auch wenn das vielleicht nicht ganz die Absicht dieser Ta-
gung ist. Dem möchte ich, bevor ich auf die beiden kritischen Fragen
zurückkomme, mit ein paar Bemerkungen im zweifelhaften Stil der
Selbsthistorisierung begegnen. Denn diese Tagung hat mich veranlasst,
in früheren Schriften, die ich längst vergessen hatte, zum ersten Mal
wieder zu blättern.
Mir gefällt natürlich William Outhwaites These, dass ich mich
von meinen Anfängen gar nicht so weit entfernt habe. Die Herausfor-
derung der historischen Zäsur von 1945 hat mich in den Jahren bis zum
Abitur im Jahre 1949 zu einem political animal gemacht, auch wenn
meine ersten Reaktionen auf die Nazizeit eher moralischer als politi-
scher Natur waren. Ich stamme aus einem bürgerlichen und keines-
wegs nonkonformistischen Elternhaus, das mich nicht dazu disponiert
hat, Marx zu lesen. Das verdanke ich vielmehr der erfolgreichen leni-
nistischen Strategie der aus den KZs zurückgekehrten Kommunisten,
die ja zunächst noch Fraktionen in den meisten westdeutschen Par-
lamenten gebildet haben. Jedenfalls gab es in Gummersbach, damals
eine Kleinstadt von 10–15.000 Einwohnern, eine kommunistische
Buchhandlung, die neben den Parteischriften ein zwar selektives, aber
in der Zeit vor der Währungsreform vergleichsweise großes literari-
sches Angebot hatte. Dort also habe ich die kleinen Schriften von Marx,
Engels, Plechanow und Stalin gekauft und mit den Schriften der Ordo-
liberalen, vor allem von Eucken und Röpke, die mir mein Vater in die
Hand drückte, verglichen. Ich bin also auf eine sehr bürgerliche Weise
mit dem Marxismus in Berührung gekommen. Dieser akademische
Zugang erklärt wohl auch, warum ich später den Versuch der Studen-
ten, die bürgerliche von der marxistischen Wissenschaft zu unterschei-
den, kritisiert habe. Da ich Herders und Kants Geschichtsphilosophie
schon auf dem Gymnasium kannte, war Marx für mich von Anfang an
der Hegelianer, der den Deutschen Idealismus vom Kopf auf die Füße

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Entgegnung auf William Outhwaite

gestellt hatte und den man gegen den Strich des Sowjetmarxismus le-
sen musste. Dass man diesen nicht ernst nehmen konnte, war nicht
etwa das Verdienst einer politischen Einsicht oder gar Ausdruck jenes
Antikommunismus, der sich ja erst in den frühen 50er-Jahren so richtig
entfaltete. Vielmehr reichte der Anschauungsunterricht, den die Kon-
trollen am Übergang Bahnhof Friedrichstraße nach Ost-Berlin bot, um
sich über den realen Sozialismus keine Illusionen zu machen.
Was mich während meines Studiums zwischen 1949 und 1954
wieder zu meiner frühen Marx-Lektüre zurückgeführt hat, waren die
täglichen Erfahrungen der Adenauer-Republik: einerseits die ver-
schwiemelte Mentalität der alten Eliten, die nicht ausgewechselt wor-
den waren, sondern wieder fest im Sattel saßen und mit eiskaltem
Schweigen jede Reflexion auf die moralische Katastrophe verpönten;
andererseits der furiose Antikommunismus der CDU und der anderen
konservativen bis reaktionären, sogar faschistischen Parteien (wenn ich
an Otto Ernst Remer denke, dessen Versammlung ich während meines
ersten Semesters in Göttingen noch besucht habe). Die CDU-Propagan-
da – »Alle Wege führen nach Moskau« – gab seit dem Beginn des Kalten
Krieges den alten Nazis das Gefühl, immer schon gegen den richtigen
Feind gekämpft zu haben. Daher war unser Anti-Anti-Kommunismus
gewissermaßen der zeitgeschichtlich motivierte Hintergrund für die er-
neute Beschäftigung mit einem Marx, den man gegen die stalinistische
Verballhornung – wie es Iring Fetscher in volkspädagogischer Absicht
mit vielen einflussreichen Publikationen getan hat – in Schutz nehmen
musste. Nach Abschluss des Studiums besorgte mir Rothacker kopf-
schüttelnd ein DFG-Stipendium zu dem von mir gewünschten Thema
»Der Begriff der Ideologie«, sodass ich schon in Bonn, bevor ich 1956
nach Frankfurt ging, mit dem ganzen historischen Spektrum der Zwei-
ten und Dritten Internationale ganz ordentlich vertraut war, also mit
der sowjetischen Theorieentwicklung und Kautsky und den Austro-
marxisten, auch mit Lukács und Karl Korsch, mit den Nelsonianern,
überhaupt mit den hegelianisierenden und den kantianischen Marxis-
ten der 20er-Jahre. Seit damals besitze ich auch die Dialektik der Auf-
klärung in der ersten Amsterdamer Auflage des Querido-Verlages.
Im Hinblick auf die Theorieentwicklung, die William Outhwaite
skizziert, kann ich kaum mein eigener Historiker sein. Daher nur kurz
zu den beiden Einwänden. Die Aufsätze, die in der Rekonstruktion des
Historischen Materialismus gesammelt sind, greifen auf Marx unter
dem Gesichtspunkt zurück, wie wir daraus eine konkurrenzfähige

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Entgegnung auf William Outhwaite

Alternative zu den Theorien der sozialen Evolution, die damals von


Parsons bis Luhmann auf dem Tisch lagen, gewinnen können. Das er-
klärt auch die Wahl des von Engels stammenden Ausdrucks »Histori-
scher Materialismus«. Das Ergebnis war am Ende die Theorie des kom-
munikativen Handelns. Ich sehe nicht, wie die methodische Kritik am
Funktionalismus diesen Ansatz treffen könnte. Der Grundgedanke ist
einfach: Die beschleunigte Entwicklung der Produktivkräfte erzeugt in
einem jeweils gegebenen institutionellen Rahmen Probleme, die nur
gelöst werden können, wenn die bestehende Organisationsform der
Gesellschaft auf eine erweiterte sozialkognitive Grundlage umgestellt
wird. Aber die Revolutionierung des moralisch-praktischen Bewusst-
seins verlangt Lernprozesse anderer Art als Fortschritte in der Dimen-
sion von Wissenschaft und Technik. Damals habe ich gemeinsam mit
Klaus Eder diese normativen Lernprozesse anhand der sozialkognitiven
Niveaus von Rechtsinstitutionen untersucht, mit denen auch die For-
men der politischen Herrschaft variieren. Ich sehe das heute im
Wesentlichen immer noch so. Auch die Krise, in die sich heute die
Staaten der europäischen Währungsgemeinschaft verwickeln, wäre
nur durch eine gemeinsame Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in
Kerneuropa zu lösen; aber die dafür nötigen institutionellen Änderun-
gen könnten auf dem in unseren Verfassungsstaaten erreichten Legiti-
mationsniveau erst herbeigeführt werden, wenn die politischen Eliten
und die Bevölkerungen lernten, Interessenkompromisse nicht mehr
ausschließlich aus den jeweiligen nationalen Perspektiven der Mit-
gliedstaaten vorzunehmen, sondern gleichzeitig eine Interessenverall-
gemeinerung aus einer europaweit erweiterten Wir-Perspektive vor-
zunehmen – das beispielsweise wäre ein sozialkognitiver Schub in der
Selbst- und Fremdwahrnehmung der europäischen Nationen.
Auch der andere Einwand leuchtet mir nicht ganz ein. Es ist rich-
tig, dass der Historische Materialismus breiter angelegt ist als die
Theorie des kommunikativen Handelns, weil er von vornherein den
dynamischen Aspekt der Klassenkämpfe einbezieht. Aber verrät nicht
gerade die marxistische Theorie der Klassenkämpfe ein geschichts-
teleologisches Denken, das den Kontingenzspielräumen der histori-
schen Abläufe nicht gerecht wird? Das Verhältnis zwischen sozialer
Evolution und Geschichte ist komplex; beide sind methodisch ganz ver-
schieden angelegt, allerdings auch aufeinander angewiesen. Jedenfalls
muss sich jede Theorie der sozialen Evolution an dem von Historikern
aufbereiteten Material bewähren.

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Manfred Baum

Historischer Materialismus und


Kommunikationstheorie bei Habermas

Durch die beiden Titelbegriffe ist ein Thema bezeichnet, das nur einen
Ausschnitt aus dem sehr umfangreichen Werk von Jürgen Habermas
vorstellig macht und das auch nur einige Phasen seiner Tätigkeit als
Forscher, Lehrer und Autor beherrscht. Die kritische Gesellschafts-
theorie, an der er seit vielen Jahrzehnten arbeitet und deren Grund-
legung sein Hauptinteresse in Anspruch nimmt, ist neben seiner poli-
tischen Publizistik dasjenige, was seit den Sechzigerjahren des vorigen
Jahrhunderts, insbesondere für diejenigen seiner Leser, denen Philoso-
phie am Herzen lag und für die seine Version der Frankfurter Sozial-
philosophie eine wichtige Orientierung lieferte, von großer Anzie-
hungskraft war und ist. In diesen Kontext gehört auch das Thema
meines Vortrags, in dem ich einige Hauptpunkte von Habermas’ Re-
zeption des Marx’schen Historischen Materialismus und seiner Ergän-
zung und Überformung durch die Theorie des kommunikativen Han-
delns rekapitulieren und durch wenige Bemerkungen kommentieren
werde. Dabei setze ich voraus, dass das vor mehr als dreißig Jahren
erschienene Hauptwerk, wenn es heute neu erschiene, auf die seitdem
eingetretenen Veränderungen in der Ausbreitung, Struktur und Funk-
tionsweise des Kapitalismus Bezug nähme.
Unter Berufung auf den frühen Horkheimer hat Habermas in
seinem Buch Theorie des kommunikativen Handelns von 1981 eine
Bestimmung des Zusammenhangs von Gesellschaftstheorie und ge-
sellschaftlicher Praxis wiederholt, die er 1971 der Neuauflage seiner
wirkungsmächtigen sozialphilosophischen Studien unter dem Titel
Theorie und Praxis von 1963 hinzugefügt hatte:
»Der Historische Materialismus will eine Erklärung der sozialen Evolution
leisten, die so umfassend ist, dass sie sich auch noch sowohl auf den Entste-
hungs- wie auf den Verwendungszusammenhang der Theorie selber erstreckt.
Die Theorie gibt die Bedingungen an, unter denen eine Selbstreflexion der
Gattungsgeschichte objektiv möglich geworden ist; und sie nennt zugleich

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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas

den Adressaten, der sich mit Hilfe der Theorie über sich und seine potenziell
emanzipative Rolle im Geschichtsprozess aufklären kann. Mit der Reflexion
ihres Entstehungs- und der Antizipation ihres Verwendungszusammenhangs
begreift sich die Theorie selbst als ein notwendiges katalysatorisches Moment
desselben gesellschaftlichen Zusammenhangs, den sie analysiert, und zwar
analysiert sie ihn als einen integralen Zwangszusammenhang unter dem Ge-
sichtspunkt seiner möglichen Aufhebung.« (TkH II 591)
Hier liegt erkennbar eine, wenn auch akademisch verhaltene, Anknüp-
fung an Marx’ Begriffszwilling »Waffe der Kritik« und »Kritik der
Waffen«, an Georg Lukács’ Konzept des Klassenbewusstseins und an
Horkheimers Definition einer »kritischen Theorie« vor, in deren Nach-
folge sich Habermas offenbar stellen will. Was aber kann dann »Rekon-
struktion des Historischen Materialismus« heißen? In der »Einleitung«
zur gleichnamigen Aufsatzsammlung von 1976 heißt es dazu betont
schlicht:
»Rekonstruktion bedeutet in unserem Zusammenhang, dass man eine Theo-
rie auseinander nimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das
Ziel, dass sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen: das ist der normale […]
Umgang mit einer Theorie, die in mancher Hinsicht der Revision bedarf,
deren Anregungspotenzial aber noch (immer) nicht ausgeschöpft ist.«
(RHM 9)
Das ist eine deutliche Akzentverschiebung gegenüber dem Bekenntnis
von 1971, das aber, wie wir gesehen haben, 1981 wiederholt wurde.
Glücklicherweise beschränkt sich der Gebrauch, den Habermas vom
Historischen Materialismus macht, nicht darauf, diese Theorie aus-
einanderzunehmen und wieder neu zusammenzusetzen. Aber diese
»Rekonstruktion« löst auch nicht das Versprechen ein, den Entste-
hungs- und Verwendungszusammenhang dieser Theorie aus der »so-
zialen Evolution« selbst zu erklären, die ihr Gegenstand ist. Die an den
Historischen Materialismus anknüpfende Kommunikationstheorie von
Habermas scheint mir weder die Bedingungen anzugeben, unter denen
eine solche »Selbstreflexion der Gattungsgeschichte« möglich wurde,
noch zielt diese Theorie erkennbar auf die Wirkung eines Katalysators
im Prozess der künftigen Aufhebung des »integralen Zwangszusam-
menhangs« der kapitalistischen Gesellschaft. Das scheint mir zunächst
kein Einwand gegen eine Theorie zu sein, die häufig gegen »Bewusst-
seinsphilosophie« polemisiert und deshalb auch darauf verzichten
kann, sich in den Begriffen der spezifisch Hegel’schen Bewusstseins-
philosophie zu beschreiben.

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Manfred Baum

Als ein nicht ganz zufällig gewähltes Beispiel für eine handlungs-
theoretische Ergänzung und Überformung der materialistischen Ge-
schichtsauffassung durch Habermas gehe ich kurz auf seine Ȇber-
legungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«
(RHM 260–267) ein, wobei wir unter »modernem Recht« die »ver-
nünftige Grundlage der Organisation von Staat und Gesellschaft« in
Europa seit dem 16. Jahrhundert verstehen sollen, deren Legitimierung
durch das »rationale Naturrecht von Hobbes bis Hegel« geleistet wor-
den sei (RHM 263).
In einer Anmerkung grenzt Habermas seine Betrachtungsweise
des evolutionären Stellenwerts des modernen Rechts von anderen Ver-
suchen, die Gesellschaft in der Tradition von Marx zu denken, ab:
»Ich halte die heute [d. h. 1976] allseits beliebten Versuche, die juristischen
und politischen ›Formen‹ des kapitalistischen Staates aus der Form des öko-
nomischen Verkehrs, letztlich aus der Warenform ›abzuleiten‹, für verfehlt.
Ich gehe stattdessen von den formalen Bestimmungen des strategischen
Handlungstyps aus, der mit der Ausdifferenzierung eines kapitalistischen
Wirtschaftssystems im Innern der Gesellschaft freigesetzt und in mehr oder
weniger reiner Form institutionalisiert wird; zeige, dass das moderne Recht
strukturell auf diesen Handlungstyp zugeschnitten ist; und untersuche, wel-
che moralischen Bewusstseinsstrukturen diese Form des modernen Rechts
möglich machen, d. h. in ihm institutionell verkörpert sind.« (RHM 266,
Fn. 1)
Der Historische Materialismus ist also nur teilweise im Recht, er kann
nämlich infolge der Eingeschränktheit seiner Perspektive einen we-
sentlichen Zug des modernen Rechts nicht erklären:
»Für die Entwicklungsdynamik, die die Inhalte und Funktionen des bürgerli-
chen Rechts erklärt, ist die kapitalistische Produktionsweise allerdings ent-
scheidend, aber nicht für die Entwicklungslogik, welche allein die Form und
die Rationalitätsstrukturen des bürgerlichen Rechts erklärt.« (RHM 267)
Durch die hier verwendeten Begriffe wird auch philosophisch geneig-
ten Lesern, die nicht in der Soziologie zu Hause sind, klar, dass wir uns
in einer Gesellschaftstheorie bewegen, deren Grundbegriffe, wie z. B.
»Rationalisierung von Handlungssystemen« (RHM 260) durch Max
Weber bestimmt sind, und deren Abgrenzung vom Parsons-Luh-
mann’schen Funktionalismus eines ihrer Hauptanliegen ist. Gehen
wir davon aus, dass die Evolution der europäischen Gesellschaften spä-
testens seit dem 16. Jahrhundert einem Rationalisierungsprozess un-

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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas

terliegt und dass in diesem Prozess die Rationalitätsstrukturen des mo-


dernen Rechts eine wichtige Rolle spielen, so stellt sich die Frage, »wo-
rin die Rationalität des Rechtssystems […] besteht« (ebd.) und um
welche Art von Rationalität es dabei geht. Aber noch vor dieser Unter-
suchung stellt Habermas klar, um wessen Rationalität es hier gehen
soll: »So lassen sich die Rationalitätsstrukturen, beispielsweise des mo-
dernen Rechts, an der Handlungsrationalität der Subjekte, nicht an der
Systemrationalität des Verkehrs, für den das moderne Recht Funktio-
nen erfüllt, nachweisen.« (ebd.) Offenbar gibt es für Habermas Ge-
meinsamkeiten in der Verkennung des gesuchten Rationalitätstyps
zwischen Funktionalisten und einäugigen Marxisten.
Im Sinne von Max Webers Untersuchungen zur Rationalisierung
von Handlungen besteht Handlungsrationalität darin, dass eine Hand-
lung »als Lösung eines objektiv entscheidbaren Handlungsproblems«
gelten kann (RHM 260 f.). Solche Probleme sind entweder technische
Aufgaben, die durch angemessene Mittel gelöst werden können, oder
sogenannte »strategische« Aufgaben, deren Lösung in der »zweck-
rationalen Einflussnahme auf die Entscheidungen konkurrierender Ge-
genspieler« besteht (RHM 261). Die entscheidende Erweiterung dieser
kurzen Liste besteht nun darin, dass man die Wahl von Handlungsnor-
men selbst zu den Handlungen rechnet und damit eine dritte Art von
Handlungsproblemen gewinnt: die »praktischen« Aufgaben, die je-
weils in der »Rechtfertigung von Normen und Werten« bestehen sol-
len (ebd.). Somit lässt sich die zunächst unbestimmte Rede von der
Rationalisierung von Handlungen jetzt konkretisieren: »Die Rationali-
sierung setzt […] jeweils an den Regeln instrumentellen, strategischen
oder kommunikativen Handelns an. Es geht [also] um die Rationalisie-
rung der Mittel, der Mittelwahl und der Übereinstimmung [von Hand-
lungssubjekten] in Normen und Werten.« (ebd.) Vor der Rationalität
tierischen Verhaltens und der Systemrationalität wird die Handlungs-
rationalität von Subjekten von Habermas privilegiert: »Ich behalte also
›Rationalität‹ zunächst den Bewusstseinsstrukturen vor, die in erkennt-
nis- und handlungsfähigen Subjekten oder in deren Äußerungen, z. B.
Sätzen oder Institutionen verkörpert wird.« (ebd.)
Wenn die Rechtfertigung von Normen und Werten zum Bereich
des kommunikativen Handelns gehört und die Rationalisierung bei
dessen Regeln ansetzt, so bezieht sich die hier als möglich postulierte
»Normrationalität« unmittelbar auf die »diskursiv zu bewältigenden
Rechtfertigungsprobleme« zwischen kommunizierenden Handlungs-

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Manfred Baum

subjekten und mittelbar auf »die institutionellen Voraussetzungen für


die Thematisierung von Geltungsansprüchen [und deren] argumenta-
tive Prüfung« (RHM 262). Ein hoher Grad von Normrationalität liegt
also dann vor, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind, dass eine
Prüfung stattfinden kann, »ob eine problematische Norm verallgemei-
nerungs- oder kompromissfähige Interessen (Werte) so zum Ausdruck
bringt, dass sie von allen potenziell Betroffenen (wenn sie sich an
einem praktischen Diskurs beteiligen würden) akzeptiert […] werden
könnte« (ebd.).
Nach dieser langen Vorbereitung stellt Habermas erneut die von
Weber inspirierte und nunmehr gegen die Einseitigkeiten einer funk-
tionalistischen und vulgärmarxistischen Beantwortung abgesicherte
Frage: »Worin besteht nun die Rationalität des modernen Rechts?« In
deren Beantwortung durch Habermas wird sich auch klären, warum
und in welchem Sinne allein die »Entwicklungslogik« des bürgerlichen
Rechts »die Form und die Rationalitätsstrukturen« dieses Rechts erklä-
ren kann.
Die Rationalität des modernen Rechts ist offenbar eine vierfache.
(1) Die Inhalte des modernen Privatrechts, mit seiner institutionellen
Garantie des Eigentums, der Vertragsfreiheit, des Gewerbe- und des
Erbrechts sind »in erster Linie durch Bedürfnisse des kapitalistischen
Wirtschaftsverkehrs bestimmt« (ebd.). Ebenso verhält es sich mit dem
Verfassungsrecht, das den Bedürfnissen eines Staates angepasst ist, der
»die Bestandsvoraussetzungen einer entstaatlichen Wirtschaftsord-
nung garantiert« (ebd.). Es lässt sich also in einer funktionalen System-
analyse »der wichtigsten Rechtsmaterien« zeigen, »wie das Recht zur
Systemrationalität der Gesellschaft beiträgt« (ebd.). So lassen sich »die
Systemprobleme dingfest machen, die mit der Einführung des moder-
nen Rechtssystems gelöst werden konnten« (ebd.). Aber trotz der Er-
giebigkeit einer solchen funktionalen Systemanalyse wird man, nach
Habermas, die Rechtsstrukturen nicht durch ihre Funktionalität erklä-
ren können. Genauer gesagt: »[D]ie systemrationalen Folgen [des mo-
dernen Rechts] begründen nicht die Rationalität des Rechts« (RHM
263), sondern setzen sie voraus.
(2) Die von Max Weber selbst betonte »Rechtssystematik« als we-
sentliches Merkmal der Rationalität des modernen Rechts, seine
»Durchrationalisierung […] nach internen, rein formalen Maßstäben«
bzw. seine »formale Durchstrukturierung« als eines nur noch von
Fachspezialisten durchschaubaren »Juristenrechts« ist nach Habermas

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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas

nicht dasjenige, worin der »Rationalitätszuwachs des modernen


Rechts« besteht (ebd.). Vielmehr ist diese interne Systematisierung
nach ihm »Folge einer Rationalisierung von rechtlich organisierten
Handlungsbereichen«, durch die »die Rechtsfolgen privater Handlun-
gen vorhersehbar und kalkulierbar« werden (ebd.). Es handelt sich bei
dieser Folgerationalität also um eine instrumentelle Rationalität, die
ihrerseits die spezifische Rationalität des Rechts nicht erklären kann.
(3) Der Handlungstypus des strategischen Handelns und die ihm
zugeordnete strategische Rationalität erscheinen am ehesten geeignet
zu sein, den Rationalitätsfortschritt des modernen Rechts gegenüber
früheren Strukturen der Gesellschaft zu beschreiben. Der Wirtschafts-
prozess im Inneren dieser Gesellschaft ist durch Entscheidungen pri-
vater Handlungssubjekte gesteuert, die einen Bereich »des kapitalisti-
schen Wirtschaftsverkehrs« konstituieren (ebd.). In ihm »wird strate-
gisches Handeln die legitime Form der egoistischen, d. h. sittlich
neutralisierten Verfolgung von Privatinteressen. Das bürgerliche Pri-
vatrecht, von dem her das moderne Recht konstruiert ist, ist das Orga-
nisationsmittel für diesen Handlungsbereich.« (ebd.) Damit scheint
endlich eine zureichende Bestimmung des Rationalitätstyps des moder-
nen Rechts gefunden zu sein, oder, wie Habermas sagt: »[D]ie Ratio-
nalität des Rechts könnte […] darin gesehen werden, dass es auf die
strategische Rationalität zweckrational handelnder Rechtssubjekte zu-
geschnitten ist.« (RHM 264)
Für diese Auffassung sprechen insbesondere drei Strukturmerk-
male des modernen Rechts. (A) seine Positivität, d. h. seine Gesetztheit
durch einen souveränen Gesetzgeberwillen und damit seine Konven-
tionalität, (B) sein »Legalismus«, der nach Habermas darin besteht,
dass dieses Recht keine sittlichen Motive der Rechtspersonen unter-
stellt und nur normabweichende äußere Handlungen sanktioniert,
und (C) seine »Formalität«, die darin bestehen soll, dass der Privat-
rechtsverkehr »keinen positiven Regelungen« und »materialen Ge-
boten« (ebd.) unterliegt, sondern »negativ auf dem Wege der Ein-
schränkung von prinzipiell anerkannten Berechtigungen geregelt«
wird (ebd.), so dass »alles erlaubt [ist], was nicht rechtlich verboten ist«
(ebd.). Diese drei Strukturmerkmale definieren nach Habermas »ein
Handlungssystem, in dem unterstellt wird, dass sich alle Systemmit-
glieder strategisch verhalten« (ebd.), d. h. zweckrational ihre privaten
Interessen verfolgen. So scheint sich in der Zusammenfassung der bis-
herigen Überlegungen die These zu ergeben, »dass die Rationalität des

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Manfred Baum

Rechts in der modernen Gesellschaft […] allein unter dem Gesichts-


punkt der Durchsetzung strategischer Rationalität im Verkehr der Pri-
vatrechtssubjekte untereinander analysiert werden kann« (ebd.). Aber
obwohl diese Analyse richtig ist, greift diese These »noch zu kurz«
(ebd.). Es fehlt also noch ein entscheidendes Element.
(4) Zu ihm gelangen wir, indem wir auf ein viertes Strukturmerk-
mal des modernen Rechts aufmerksam machen, seine »Generalität«
(ebd.). »Seinem Anspruch nach soll das moderne Recht aus allgemei-
nen Normen bestehen, die grundsätzlich keine Ausnahmen und keine
Privilegierungen zulassen.« (ebd.) Zwar ist es also wahr, dass »das mo-
derne Recht einen Bereich strategischen Handelns […] regelt«, aber
nur »wenn und soweit [es diesen Bereich] universalistisch regelt, kann
das Rechtssystem insgesamt als Ausdruck verallgemeinerbarer Inte-
ressen gerechtfertigt werden« (RHM 265). Diese Art der Rechtfer-
tigung des Rechtssystems gehört aber nicht mehr in den Bereich der
strategischen Rationalität.
»Sobald wir […] auf […] den Zusammenhang zwischen privatem und öffent-
lichem Recht, wie auch den zwischen Recht und Moral sehen, lässt sich die
evolutionär entscheidende Rationalisierung des Handelns, die mit der moder-
nen Rechtsentwicklung eingeleitet worden ist, unter Gesichtspunkten der
Normrationalität begreifen.« (RHM 265)
Die bisher genannten Strukturmerkmale des modernen Rechts, seine
Konventionalität, Legalität und Formalität »machen die Form explizit,
aufgrund deren das moderne Recht die funktionalen Imperative eines
über Märkte regulierten Wirtschaftsverkehrs erfüllen kann« (RHM
265 f.). Darin besteht also die Systemrationalität des modernen Rechts,
sie ist Folge der Strukturen des modernen Rechts, durch die zweck-
rationales Handeln »allgemein werden« kann (RHM 266). Aber diese
Folge kann nicht erklären, »wie diese Strukturen möglich sind« (ebd.).
Zur Erklärung der Möglichkeit der Form und der Strukturmerk-
male des modernen Rechts greift Habermas auf die Theorie der Ent-
wicklung des Moralbewusstseins von Piaget-Kohlberg zurück, die er
auf die Evolution der Gesellschaft überträgt, indem er annimmt, »dass
Gesellschaften evolutionär lernen« (RHM 260). Insbesondere geht es
um das »postkonventionelle« Stadium dieser Entwicklung und seine
Stufen 5 und 6. Auf diese Theorie hatte Habermas schon verwiesen,
als er behauptete, »allein […] die Entwicklungslogik« erkläre »die Form
und die Rationalitätsstrukturen des bürgerlichen Rechts« (s. o., cf.

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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas

RHM 267). Diese Erklärung besteht also darin, dass die »Form des mo-
dernen Rechts […] entwicklungslogisch betrachtet« wird (ebd.).
Geschieht dies, so »kann die Form des modernen Rechts als eine Ver-
körperung postkonventioneller Bewusstseinsstrukturen begriffen wer-
den« (RHM 266). Diese Strukturen des postkonventionellen Moralbe-
wusstseins liegen also der Form des modernen Rechts und seinen
Strukturen »evolutionär« zugrunde.
»Die Konventionalisierung, Legalisierung und Formalisierung des Rechts be-
deutet, dass es nicht länger von der selbstverständlichen Autorität sittlicher
Traditionen zehren kann, sondern einer autonomen Begründung bedarf.
Einer solchen Forderung kann aber das moralische Bewusstsein erst auf post-
konventioneller Stufe genügen: hier erst entsteht die Idee der grundsätz-
lichen Kritisierbarkeit und Rechtfertigungsbedürftigkeit von Rechtsnormen
[…], der Begriff einer prinzipiengeleiteten Erzeugung von Normen, die Vor-
stellung […] eines Kontraktes […], die Einsicht in den Zusammenhang der
Allgemeinheit und der Begründungsfähigkeit von Rechtsnormen […]
u. s. w.« (RHM 266)

Damit hat die Evolution des moralischen Bewusstseins der Gesellschaft


in ihrer »Entwicklungslogik« alle »postkonventionellen Grundbegrif-
fe« hervorgebracht, »die in Philosophie und Rechtstheorie auch schon
vorher entwickelt worden waren. [Sie] konnten mit dem Übergang zur
Moderne das geltende Recht durchdringen und umstrukturieren«
(ebd.) und damit einen Rationalitätszuwachs bewirken, der eindeutig
einer der Normrationalität gewesen ist.
Diese Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des moder-
nen Rechts sind m. E. ein paradigmatischer Fall für Habermas’ An-
knüpfung an die Theorietradition des Historischen Materialismus, de-
ren Ergänzung durch Elemente der Soziologie Webers und seiner
Nachfolger und deren Korrektur durch seine eigene Theorie des kom-
munikativen Handelns. Der kurze Text von 1976 liefert nur eine Mo-
mentaufnahme aus der Entstehungsgeschichte der Theorie des kom-
munikativen Handelns von 1981. In dem Text von 1976 ist zwar von
der »selbstverständlichen Autorität sittlicher Traditionen« die Rede,
nicht aber von der »Lebenswelt«. Hingegen geht die Kommunikations-
theorie von einem Gesellschaftsmodell aus, in dem sich »Lebenswelt«,
die sich in Privatsphäre und Öffentlichkeit gliedert, und »System«, das
seinerseits aus den Subsystemen Ökonomie (= Wirtschaftssystem)
und Staat (= Verwaltungssystem) besteht, gegenüber stehen und durch
wechselseitige »Austauschbeziehungen« vermittelt sind, genauer ge-

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Manfred Baum

sagt durch die Steuerungsmedien »Geld« und »Macht«. Dieses Modell


der Austauschbeziehungen soll nach Habermas, wie wir noch sehen
werden, auch eine befriedigendere Erklärung des Spätkapitalismus er-
möglichen (TkH II 504 f.), als sie der Marxismus mit den für ihn typi-
schen ökonomistischen Verkürzungen liefern kann.
Wendet man das System/Lebenswelt-Begriffsschema auf die so-
ziale Evolution moderner Gesellschaften an, so können wir über deren
Ergebnis mit Habermas sagen: »Kapitalismus und moderne Staats-
anstalt haben wir als Subsysteme begriffen, die über die Medien Geld
und Macht aus dem Institutionensystem, also der gesellschaftlichen
Komponente der Lebenswelt ausdifferenziert werden.« (TkH II 471).
Diese Annahme ermöglicht zugleich eine »Rückkehr zu Marx, genau-
er: zu der Interpretation von Marx, die durch die Weberrezeption im
westlichen Marxismus vorbereitet worden ist« (TkH II 489), nämlich
die von Lukács, Horkheimer und Adorno. Es ist dies also keine Rück-
kehr zu Marx selbst, vielmehr geht es um eine Erneuerung und Neu-
begründung der Verknüpfung, die schon Lukács zwischen »Webers
Rationalisierungstheorie« und »Marxens Politischer Ökonomie« her-
gestellt hatte (ebd.), wobei Horkheimer und Adorno die »Verknüpfung
von Weber und Marx in noch deutlicherer Anlehnung an Weber« (TkH
II 490) vollzogen haben als Lukács. Die Interpretation, die diese west-
lichen Marxisten vorbereitet haben, ist Habermas’ eigene, die ihrerseits
auf einer Verknüpfung von Weber und Marx beruht. In dieser Inter-
pretation verändern sich Webers und Marx’ Positionen im Lichte der
von Habermas angenommenen Ausdifferenzierung bzw. Entkoppelung
von Lebenswelt und System und der sie voraussetzenden »Mediatisie-
rung« und »Kolonisierung« der Lebenswelt durch das System. Was die
Rückkehr zur Verknüpfung von Weber und Marx empfiehlt, ist ins-
besondere ein Gewinn für die Erklärung dieser Vorgänge: Es »könnte
die Dynamik von Klassenauseinandersetzungen die der Bürokratisie-
rung innewohnende Eigendynamik erklären – also jenes hypertrophe
Wachstum der mediengesteuerten Subsysteme, welches ein Übergrei-
fen administrativer und monetärer Steuerungsmechanismen auf die
Lebenswelt zur Folge hat.« (ebd.) Es kann dann auch erklärt werden,
warum »die Verdinglichung kommunikativ strukturierter Handlungs-
bereiche nicht in erster Linie klassenspezifisch zurechenbare Effekte
[…] erzeugt«. Denn »die Phänomene, die Max Weber auf Bürokrati-
sierungstendenzen zurückführt, charakterisieren keineswegs bestimm-
te Klassenlagen, sondern modernisierte Gesellschaften im ganzen«

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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas

(ebd.). Kurz, die Verknüpfung von Weber und Marx bestätigt das von
Habermas angenommene Gesellschaftsmodell und die in seinen Be-
griffen mögliche Beschreibung der Entstehung moderner Gesellschaf-
ten. Habermas will also die Schwächen in der theoretischen Verknüp-
fung von Weber und Marx bei Lukács, Horkheimer und Adorno durch
seinen eigenen Ansatz überwinden, aber zugleich auch die Marx’sche
Werttheorie und die Marx’sche Ideologienlehre selbst im Lichte jener
Verknüpfung und damit im Lichte seiner eigenen Kommunikations-
theorie neu bewerten.
Am Beispiel des sich aus der Analyse der Warenform ergebenden
»Doppelcharakters der Ware Arbeitskraft« (TkH II 493) lässt sich illus-
trieren, wie Habermas der Marx’schen Werttheorie zu Leibe rückt.
»[Es] bildet die vom Produzenten veräußerte Arbeitskraft eine Kategorie, in
der die Imperative der Systemintegration mit denen der Sozialintegration zu-
sammentreffen: als Handlung gehört sie zur Lebenswelt des Produzenten, als
Leistung dem Funktionszusammenhang des kapitalistischen Betriebes und
des Wirtschaftssystems im ganzen an. […] Das Lohnarbeitsverhältnis neu-
tralisiert die Leistungen des Produzenten gegenüber dem lebensweltlichen
Kontext seiner Handlungen. […] Diese monetarisierte, als Ware angeeignete,
dem Lebenszusammenhang des Produzenten entfremdete Arbeitskraft nennt
Marx ›abstrakte Arbeit‹. […] Diesen Vorgang der Realabstraktion erklärt
Marx mit der Versachlichung sozial integrierter Handlungszusammenhänge,
die eintritt, wenn Interaktionen nicht länger über Normen und Werte, oder
über die Prozesse der Verständigung, sondern über das Medium Tauschwert
koordiniert werden. […] Insofern bedeutet die Verwandlung konkreter in
abstrakte Arbeitskraft ein[en] Prozess der Verdinglichung des gemeinschaft-
lichen wie des jeweils eigenen Lebens.« (TkH II 494)
Es geht mir hier nicht darum, die Detailgenauigkeit dieser Kurz-
beschreibung der Marx’schen »Realabstraktion« in Begriffen der Ha-
bermas’schen Kommunikationstheorie zu diskutieren, aber ich mache
darauf aufmerksam, dass Habermas, wenn er sich auf »diesen theoreti-
schen Ansatz« (ebd.) bezieht, an dem sich »Stärken« und »Schwächen«
aufweisen ließen, ohne weiteres vorauszusetzen scheint, dass Marx
eine kommunikationstheoretisch fundierte Gesellschaftstheorie be-
absichtigt habe, die ihm mehr oder weniger gut gelungen sei. An spä-
terer Stelle (TkH II 498) sagt Habermas selbst, dass er bei seiner »Re-
konstruktion« der Marx’schen Werttheorie »stillschweigend von dem
erst bei Parsons explizit hervortretenden Problem der Verknüpfung der
Paradigmen Handlung/Lebenswelt und System ausgegangen« sei, und

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Manfred Baum

er findet: »Das ist eine starke Stilisierung.« (ebd.) Aber die Bedenken,
die der Autor hier selbst artikuliert, betreffen gar nicht die problemati-
schen Begriffe »System« und »Lebenswelt« selbst, sondern das von
Parsons thematisierte Problem der »Verknüpfung« der dadurch be-
zeichneten »Paradigmen«, das seinerseits deren »Trennung« »voraus-
setzt«. Die Marx’schen »politikökonomischen Grundbegriffe« hin-
gegen, und das sei eine erste Schwäche seiner Werttheorie, setzen die
Trennung von »System« und »Lebenswelt« »nicht eigentlich voraus«
(ebd.). Das ist sogar die entscheidende Schwäche dieser Theorie für
Habermas.
Diese Schwäche erklärt Habermas damit, dass Marx »den Ver-
suchungen des Hegelschen Totalitätsdenkens« (TkH II 501) nicht habe
widerstehen können. Aber obwohl es viele Belege für die Richtigkeit
dieser Diagnose gibt und allgemein Marx’ Abhängigkeit von Hegel die
Erklärung für viele Schwächen seiner Theorie liefert, so ist doch der
Grund dafür, dass für Marx (in den Formulierungen von Habermas)
»das kapitalistische System […] nichts weiter als die gespenstische Ge-
stalt der ins Anonyme verkehrten und fetischisierten Klassenverhält-
nisse« ist, und dafür, dass bei ihm »der von Gebrauchswertsorientie-
rungen losgerissene Akkumulationsvorgang buchstäblich als Schein«
anzusehen ist (TkH II 499), nicht darin zu verorten, dass dies nur die
von Marx gezogenen Konsequenzen aus einer von Hegel übernomme-
nen »Prämisse« sind. Diese Prämisse soll darin bestehen, dass Marx
wie Hegel die »Einheit von System- und Lebenswelt« voraussetzte
und in dieser Einheit ein Ganzes sah, dessen Wahrheit das »kapitalisti-
sche System« in »Schein« und zum »Gespenst« verkehrte: »Tatsächlich
begreift Marx die Einheit von System- und Lebenswelt wie der junge
Hegel nach dem Modell der Einheit einer zerrissenen sittlichen Totali-
tät, deren abstrakt auseinandergetretene Momente zum Untergang
verurteilt sind.« (TkH II 498 f.)
Aber obwohl Marx in seinen schwächeren Momenten so gedacht
haben mag, so nötigt uns nichts zu der Annahme, dass diese Art von
Totalitätsdenken seinen Behauptungen zugrunde liegt, dass das Ver-
hältnis zu den Produktionsmitteln der Ursprung der Klassendifferen-
zierung einer Gesellschaft ist, dass die Produktionsverhältnisse einer
Gesellschaft durch die Differenz von Eigentum und Nichteigentum an
Produktionsmitteln bestimmt sind, dass das Privateigentum an Pro-
duktionsmitteln zur Konsequenz hat, dass »die Arbeitskraft eine Ware
wie jede andere« (TkH II 493) wird, dass der »Prozess der Bestander-

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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas

haltung des ökonomischen Subsystems als eine durch Versachlichung


unkenntlich gemachte Dynamik der Ausbeutung« (TkH II 497) zu be-
zeichnen ist, und die Erklärung dafür liefert, dass er a posteriori »davon
überzeugt [ist], dass er im Kapital nichts anderes als die mystifizierte
Gestalt einer Klassenbeziehung vor sich« habe (TkH II 499). Diese Be-
hauptungen beruhen nämlich nicht darauf, dass für ihn die »systemi-
sche Verselbständigung des Produktionsprozesses […] den Charakter
der Verzauberung« hat (ebd.), die man auch a priori erkennen kann,
sondern darauf, dass Marx seit den Pariser Manuskripten den Ur-
sprung dieser selbst gemachten Dehumanisierung der Gesellschaft in
der Einführung des Privateigentums sieht, das nicht mehr nur wie bei
Rousseau in einem eingezäunten Stück Land besteht, sondern in der
ausschließenden Verfügungsgewalt über nur gesellschaftlich brauch-
bare Produktionsmittel.
Habermas’ Kritik an Marx besteht in dem Vorwurf einer Fehl-
interpretation der Dynamik der sozialen Evolution. Er verkenne, dass
der »systemische Zusammenhang von kapitalistischer Wirtschaft und
moderner Staatsverwaltung […] auch ein gegenüber staatlich organi-
sierten Gesellschaften höheres und evolutionär vorteilhaftes Integrati-
onsniveau darstellt« (ebd.). Habermas hält es offenbar für evident, dass
jedermann (und nicht bloß ein Sozialdarwinist) einen solchen Mangel
an einem höheren und evolutionär vorteilhaften Integrationsniveau
beklagen müsse, so dass Marxens Blindheit für diese Vorteile nur durch
seine Anhänglichkeit an Hegel’schem Totalitätsdenken erklärt werden
kann. Ebenso steht es mit Marxens Verkennung des »evolutionären
Eigenwerts«, den »mediengesteuerte Subsysteme besitzen« (ebd.).
Marx wird sogar nachgesagt, er sehe nicht, was doch jedermann sieht,
»dass die Ausdifferenzierung von Staatsapparat und Wirtschaft auch
eine höhere Ebene der Systemdifferenzierung darstellt, die gleichzeitig
neue Steuerungsmöglichkeiten erschließt und eine Reorganisation der
alten, feudalistischen Klassenverhältnisse erzwingt« (ebd.). Habermas
setzt offenbar voraus, dass jedermann eine höhere Ebene der System-
differenzierung als etwas Gutes ansehen werde, und es kommt ihm
offenbar nicht der Verdacht, dass der gegenüber der Wirtschaft diffe-
rente Staatsapparat ebenso oder in höherem Grade ein Klassenstaat
sein kann als der über alte, feudalistische Klassenverhältnisse wachen-
de absolutistische Staat. Denn dem höheren »Integrationsniveau
kommt«, nach Habermas, »eine über die Institutionalisierung eines

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Manfred Baum

neuen Klassenverhältnisses hinausreichende Bedeutung zu« (ebd.), die


vermutlich in einem zivilisatorischen Fortschritt besteht.
Auch Marxens Revolutionstheorie leidet unter dieser von Hegel
induzierten »Fehlperzeption« (ebd.). Seine »praktisch-politische Hand-
lungsperspektive« soll bestimmt sein durch die Idee eines »futurischen
Zustands« nach der Beseitigung der Klassenherrschaft, »in dem […]
die unter dem Diktat des Wertgesetzes gefangen gehaltene Lebenswelt
ihrer Spontaneität zurückgegeben worden ist« (TkH II 500). Diese
freundliche Utopie steht gewiss nicht im Widerspruch zu dem Weni-
gen, was Marx über eine künftige kommunistische Gesellschaft gesagt
hat, wenn ihm auch der Begriff der Lebenswelt befremdlich erschienen
wäre. In Habermas’ Erläuterung zu dem, was es heißt, die kapitalisti-
sche »Gesellschaft zu revolutionieren«, findet sich, wenn ich recht
sehe, erstmals der für Marx zentrale Begriff des »Eigentums an Pro-
duktionsmitteln«: Es wird sich eine »Bewegung« formieren, die »zu-
sammen mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln […] die insti-
tutionellen Grundlagen des Mediums, über die die kapitalistische
Wirtschaft ausdifferenziert worden ist, zerstören [wird]« (ebd.). Nach
diesem Zerstörungswerk wird Marxens revolutionäre Bewegung nach
Habermas »den systemisch verselbstständigten Prozess wirtschaftli-
chen Wachstums wieder in den Horizont der Lebenswelt einholen«
(ebd.), da dies offenbar ein Erfordernis der Restitution der Hegel’schen
sittlichen Totalität ist. Jedenfalls will Marx nach Habermas einen »Tri-
umph der Lebenswelt über das System der entweltlichten Arbeits-
kraft« herbeiführen (ebd.).
Im Übrigen hat Max Weber gegenüber Marx Recht behalten.
Denn Marx hat sich darüber getäuscht, »dass jede moderne Gesell-
schaft, gleichviel wie ihre Klassenstruktur beschaffen ist, einen hohen
Grad an struktureller Differenzierung aufweisen muss« (TkH II 501).
Zu den weiteren Schwächen des werttheoretischen Ansatzes ge-
hören die Unbestimmtheit des Entfremdungsbegriffs, die eine Folge
dessen ist, dass Marx nicht über den Begriff einer historischen Ratio-
nalisierung der Lebenswelt verfügte, und die »Überverallgemeinerung
eines speziellen Falles der Subsumtion der Lebenswelt unter System-
imperative« (TkH II 503), in der Habermas sogar die entscheidende
Schwäche der Werttheorie sieht. Der Prozess der Verdinglichung kön-
ne sich ebenso im öffentlichen wie im privaten Leben »manifestieren«
und »ebensogut an der Konsumenten- wie an der Beschäftigtenrolle
ansetzen« (ebd.), während die Werttheorie Verdinglichung nur als Fol-

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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas

ge der »Monetarisierung der Arbeitskraft« des Produzenten kennt,


durch die seine »Arbeitshandlungen« auf »Leistungen« reduziert wer-
den. Hinzu komme die Einseitigkeit des Marx’schen Handlungs-
begriffs, der den Begriff der Zwecktätigkeit als fundamental auch für
soziales Handeln ansehe. Dadurch würden die »Verformung der inter-
aktiven Beziehungen selbst, also die Entweltlichung des auf Kommuni-
kationsmedien umgestellten kommunikativen Handelns sowie die da-
mit [?] eintretende Technisierung der Lebenswelt« zu bloß abgeleiteten
Phänomenen (TkH II 504).
Zusammengenommen erklären diese Schwächen, warum Marx’
Kritik der politischen Ökonomie »keine befriedigende Erklärung des
Spätkapitalismus ermöglicht hat« (ebd.) Eine ökonomistisch verkürzte
Interpretation der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften wird
durch den Marx’schen Ansatz befördert. Statt dieses »Monismus« der
Werttheorie bedarf es einer Kommunikationstheorie von der Struktur,
die wir oben kurz als Modell von Austauschbeziehungen skizziert ha-
ben. Habermas’ Einwände gegen das, was er Marx-Orthodoxie nennt,
scheinen mir als historisch gut belegbare Hinweise auf Schwierigkeiten
einer sich als marxistisch verstehenden Politik im Europa der Nach-
kriegszeit wohl begründet:
»Die Marx-Orthodoxie tut sich mit einer plausiblen Erklärung von staat-
lichem Interventionismus, Massendemokratie und Wohlfahrtsstaat schwer.
Der ökonomistische Ansatz versagt angesichts der Pazifizierung des Klassen-
konflikts und des langfristigen Erfolges, den der Reformismus in den euro-
päischen Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg im Zeichen einer im weiteren
Sinne sozialdemokratischen Programmatik errungen hat.« (TkH II 595)
Allerdings hieße es, den Empirismus zu weit zu treiben, wenn man
solche historischen Fakten, deren Auswahl absichtsvoll erfolgt, um-
standslos als Argumente für oder gegen eine bestimmte Theorie gelten
ließe.
Auch Habermas will von »theoretischen Defiziten« ausgehen, die
die marxistischen Versuche zur Erklärung des Spätkapitalismus auf-
weisen. Unter dem Stichwort »Massendemokratie« finden wir Haber-
mas’ Diagnose: »Zwischen Kapitalismus und Demokratie besteht ein
unauflösliches Spannungsverhältnis.« (TkH II 507) Von Seiten der De-
mokratie heißt das, dass ihr »normativer Sinn« sich »gesellschaftstheo-
retisch auf die Formel bringen [lässt], dass die Erfüllung der funktiona-
len Notwendigkeiten systemisch integrierter Handlungsbereiche an

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Manfred Baum

der Integrität der Lebenswelt, d. h. an den Forderungen der auf soziale


Integration angewiesenen Handlungsbereiche ihre Grenze finden soll.«
(ebd.) Ob dies faktisch der Fall ist, bleibt dem Zeitzeugen zu beurteilen
überlassen. Für den Sozialstaat überhaupt heißt das, dass er
»sowohl die unmittelbaren negativen Auswirkungen des kapitalistisch orga-
nisierten Beschäftigungssystems wie auch die dysfunktionalen Nebenwir-
kungen eines über Kapitalakkumulation gesteuerten ökonomischen Wachs-
tums auf die Lebenswelt auffangen soll, ohne Organisationsform, Struktur
und Antriebsmechanismus der wirtschaftlichen Produktion antasten zu dür-
fen.« (TkH II 511)
Dieses »Dilemma« scheint mir Ausdruck des von Habermas diagnosti-
zierten Spannungsverhältnisses zu sein. Auch bezüglich des Sozial-
staats und seiner Rolle bei der Vermittlung von Demokratie und Kapi-
talismus lässt sich nach Habermas die Marx’sche Theorie kritisieren:
»Zu Unrecht hat die Werttheorie die Austauschbeziehungen, die zwischen
dem politischen System und der Lebenswelt bestehen, vernachlässigt. Denn
die Pazifizierung der Arbeitswelt ist nur das Gegenstück zu einem Gleichge-
wicht, das sich auf der anderen Seite zwischen einer zugleich erweiterten und
neutralisierten Staatsbürger- und einer aufgeblähten Klientenrolle herstellt«
(TkH II 514),
womit die Rolle der Abnehmer, die in den Genuss des Sozialstaats kom-
men, gemeint ist (TkH II 515). Wo Spannungsverhältnisse und Dilem-
mata sich in Pazifizierung und Gleichgewicht auflösen, da erscheint der
Spätkapitalismus als eine konfliktfreie Form der Gesellschaft. Das ist
offenbar nur ein Oberflächenschein, der aber nicht trügen muss.
»Nur im Rahmen einer Kritik der funktionalen Vernunft [die dem 2. Band
der Habermas’schen Kommunikationstheorie den Namen gegeben hat] lässt
sich plausibel machen, warum unter der Decke eines mehr oder weniger ge-
lungenen sozialstaatlichen Kompromisses überhaupt noch Konflikte sollten
aufbrechen können – Konflikte, die nicht primär in klassenspezifischer Ge-
stalt auftreten und gleichwohl auf eine […] verdrängte Klassenstruktur zu-
rückgehen.« (TkH II 518)
Dieser Klassenantagonismus kann nämlich nur unter der Bedingung
unschädlich sein, »dass die staatsinterventionistisch gehütete kapitalis-
tische Wachstumsdynamik nicht erlahmt« (ebd.). Solange dies der Fall
ist, werden über die beiden »Kanäle« Massenkonsum und bürokrati-
sche Daseinsfürsorge »die Kompensationen abgewickelt, die der Sozial-
staat für die Pazifizierung der Arbeitswelt und die Neutralisierung der

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Entgegnung auf Manfred Baum

rechtlich eingeräumten Teilhabe an politischen Entscheidungsprozes-


sen bereitstellt« (TkH II 516). Das ist Habermas’ Paradebeispiel für
die Erklärung spätkapitalistischer Gesellschaften durch sein »hoch sti-
lisiertes, nur mit wenigen idealisierenden Annahmen arbeitendes« Ge-
sellschaftsmodell (TkH II 515). Diese »in System/Lebenswelt-Begrif-
fen reformulierte Theorie der spätkapitalistischen Verdinglichung«
(TkH II 522) verzichtet auf die ȟberholte Theorie des Klassenbewusst-
seins« (ebd.) und will dennoch ihrer Aufgabe einer Rekonstruktion des
Historischen Materialismus gerecht werden.

Entgegnung von Jürgen Habermas

Ich möchte mich zunächst bei Herrn Kollegen Baum dafür bedanken,
dass er die Struktur meines gesellschaftstheoretischen Grundgedan-
kens transparent macht. Dann versieht er eine bestimmte Schluss-
folgerung aus der Theorie des Kommunikativen Handelns mit einem
Fragezeichen. Die »deutliche Akzentverschiebung«, die nach 1971, also
mit der in den Gauss-Lectures vollzogenen linguistischen Wende ein-
getreten ist, ist mir bei der Abfassung meiner Einleitungen zum ersten
und zum fünften Band der Philosophischen Texte, also 2009, zu Be-
wusstsein gekommen. Manfred Baum bezieht sich auf ein 1982 in einer
Fußnote wiederholtes Zitat aus der frühen Zeit. Es geht dabei um eine
Denkfigur, die das Ganze reflexiv aus dem eigenen Entstehungskontext
einholt. Soweit dieser Gedankengang dem Hegel’schen Idealismus ver-
haftet geblieben ist, war diese Volte am Ende der Theorie des kom-
munikativen Handelns tatsächlich inkonsequent. Jedenfalls hatte ich
das Programm einer »Selbstreflexion der Gattungsgeschichte«, die
einen »integralen Zwangszusammenhang« auflösen hilft, 1982 schon
aufgegeben. Andererseits begreift auch ein rekonstruktiv vertiefter
hermeneutischer Ansatz seinen Gegenstand nicht objektivistisch, son-
dern als »zweite«, d. h. symbolisch konstituierte Natur. Daher müsste
die grundbegriffliche Umstellung von »Institution« auf »Kommunika-
tion« (die Hauke Brunkhorst bei Luhmann und bei mir feststellt) auch
ein gewisses fundamentum in re haben. Über die Rekonstruktion von
Lernprozessen behält die Theorie des kommunikativen Handelns,
wenn auch auf ganz andere Weise als die Systemtheorie, einen, wenn
man das so nennen will, »essentialistischen« Rest.

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Entgegnung auf Manfred Baum

Was meine Kritik an Marx anbetrifft, so lässt sich zu meinem ro-


busten Umgang mit Klassikern überhaupt vieles sagen. Gerade im Stil
einer systematisch sortierenden »Aneignung« von Theorietraditionen
bin ja ich noch am ehesten Hegelianer geblieben. Der systematisierende
Rückgriff auf bestimmte Theoreme, die ich aus der Sicht einer Inter-
pretation des Gesamtwerks des jeweiligen Autors vornehme, ist etwas
anderes als Philosophiegeschichtsschreibung. Die These, dass Marx in
der Gesamtanlage seiner Theorie den Grundbegriffen der Hegel’schen
»Logik« zu sehr verhaftet bleibt, halte ich allerdings aufrecht. Aus die-
ser totalisierend auf die Vernunft in der Geschichte gerichteten Sicht
kommt eine wichtige Unterscheidung, die Marx selber praktiziert, ohne
sie aber als solche zu reflektieren, nicht zu ihrem Recht. Das ist die
Unterscheidung zwischen einer systemischen Ebene einerseits, auf der
Marx seine folgenreichen werttheoretischen Grundannahmen entfal-
tet, sowie der historischen, in einem handlungstheoretischen Rahmen
durchgeführten Analyse der Klassenkämpfe andererseits. Dieser Unter-
schied äußert sich auch in den Formen der literarischen Darstellung:
hier der systematische Duktus in den Grundrissen und im Kapital, dort
die historische Darstellung im 18. Brumaire – ein Musterbeispiel der
politischen Klassenanalyse. Nach meiner Auffassung hat Marx aus die-
ser Differenz der beiden Zugänge zum Objektbereich nicht die richtige
Konsequenz gezogen. Sonst hätte er das, was er – der ja vom revolutio-
nierenden Schwung der kapitalistisch entfesselten Produktivkräfte fas-
ziniert war – an Modernisierungsgewinnen des Kapitalismus festhalten
wollte, auf andere Weise von den Pathologien und Entfremdungseffek-
ten der über das Privateigentum an Produktionsmitteln systemisch und
unpolitisch ausgeübten Klassenherrschaft unterschieden.
Der Holismus, der das wirtschaftliche Funktionssystem zum Kern
des Ganzen macht, hat noch eine andere Konsequenz: Marx schließt aus
der funktionalen Verschränkung von Ökonomie und Staat auf die
durchgängige kausale Abhängigkeit des Staates von der Ökonomie.
Das betrifft auch die heute wiederum aktuelle Frage, wie demokratisch
eine kapitalistische Demokratie überhaupt sein kann. In den Legitima-
tionsproblemen und noch in der Theorie des kommunikativen Han-
delns war mein Tenor im Rückblick auf die sozialstaatlichen Errungen-
schaften von Hobsbawms »Goldenem Zeitalter« – bei allen Vorbehalten
– optimistisch. Seit dem Ende der Systemkonkurrenz und der weltwei-
ten Durchsetzung des neoliberalen Politikmusters befinden wir uns of-
fensichtlich in einer ganz anderen Situation.

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Entgegnung auf Manfred Baum

In Europa sind wir gerade dabei, dieses Politikmuster mit Verfas-


sungsrang auszustatten. Die Finanzmärkte diktieren die policies, die
den Interessen der Anleger auf Kosten der sozialen Sicherungssysteme,
des öffentlichen Sektors und der staatlich bereitgestellten kollektiven
Güter Vorrang einräumen und dafür eine fortschreitende soziale Un-
gleichheit in Kauf nehmen. Diese Politiken werden mithilfe des Euro-
päischen Rates hinter dem Rücken der Bevölkerungen insbesondere
von der deutschen Bundesregierung durchgesetzt. Die technokratische
Entkoppelung der policies von politics lässt die auf die nationalen Are-
nen beschränkte Demokratie kaltschnäuzig zu einer bloßen Fassade
degenerieren. Aber ist das ein Naturgesetz? Wir dürfen den Pfad der
Krisenbewältigung, den demokratisch organisierte Steuerstaaten im
Spannungsverhältnis zwischen den Imperativen des Marktes und den
Legitimationserfordernissen der Wahlbevölkerung schon immer haben
suchen müssen, nicht durch die Anlage unserer Theorie zugunsten der
einen oder der anderen Seite präjudizieren. Die Theorie darf sich weder
von systemischen Notwendigkeiten noch von voluntaristischen
Wünschbarkeiten eine schon auf analytischer Ebene vorgenommene
Weichenstellung suggerieren lassen. Es sind die offenen Kontingenz-
spielräume der politischen Geschichte, in denen jede kapitalistische De-
mokratie gleichzeitig von Wählern und von Steuern abhängig ist. Der
in eine Wirtschaftsgesellschaft eingebettete demokratische Staat muss
unter wechselnden Umständen immer wieder dasselbe, von Claus Offe
vorbildlich analysierte Problem lösen – wie er gleichzeitig für profi-
table Investitionsbedingungen Sorge tragen und die normativen An-
sprüche der Bevölkerung erfüllen kann, anhand deren er sich legitimie-
ren muss. Es sei denn, das Wachstum, das durch die kapitalistische
Dynamik angetrieben wird, stieße überhaupt an definitive, z. B. öko-
logische Grenzen.
Es ist eine offene Frage, wie viele Zumutungen eine an Freiheit
und Wohlstand gewöhnte Bevölkerung hinzunehmen bereit ist. Frei-
lich ist auch eine anomische Entwicklung nicht ausgeschlossen, wenn
eine von Regierungen und Parteien über die tatsächliche politische
Lage vorsätzlich im Unklaren gelassene und desorientierte Wahlbevöl-
kerung den Cavalieres, Scharfmachern und Populisten in die Arme ge-
trieben wird. Die systematische Entkoppelung der Legitimations-
beschaffung von den Informationen und Gründen, die die Wahl der
Politiken tatsächlich bestimmen, kann die demokratische Kulisse zer-

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Entgegnung auf Manfred Baum

stören und das politische System durch Ratlosigkeit, Chaos und Still-
stand lähmen.
Im Umgang mit Krisentheorien der verschiedensten Art habe ich
eines gelernt: Zwar kann die Philosophie in der Gestalt nachmetaphy-
sischen Denkens keinen Trost mehr spenden. Aber sie kann auf den
tröstlichen Umstand hinweisen, dass der Mensch das Wesen ist, das
nicht nicht lernen kann. Manchmal freilich lernt er, das ist die scho-
ckierende historische Erfahrung meiner Generation, erst in der Folge
von, also erst nach Katastrophen – zu spät für die Opfer!

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Diskussion
Moderation: Heinz Sünker

Stefan Müller-Doohm: Ich möchte an das Ausgangsthema Histori-


scher Materialismus anknüpfen. Max Horkheimer hat ja gesagt, wir
nennen das anders, wir nennen das Kritische Theorie, machen aber in
dieser Tradition weiter. Dieses Weitermachen, scheint mir, gibt es für
Habermas nicht, und das sollte viel schärfer herausgestellt werden als
bisher. Diese von William Outhwaite thematisierte »verschwiegene
Orthodoxie« findet man nicht in den früheren Arbeiten von Habermas,
schon gar nicht in den späteren, und ich meine, dass da eine schärfere
Abgrenzung vorgenommen werden müsste zu Marx, auch zur Kriti-
schen Theorie. Denn wenn man sich die Theorie des kommunikativen
Handelns genau anschaut, wird einem schnell klar, dass es hier darum
geht, eine Rekonstruktion des Lebensprozesses der Gesellschaft als
eines durch Sprechakte vermittelten Erzeugungsprozesses zu themati-
sieren. Und das ist in der Tat etwas anderes als das, was gewissermaßen
in der Theorie des Historischen Materialismus noch zu verankern wä-
re. Und das ist, wie mir scheint, etwas zu kurz gekommen. William
Outhwaite hat ein wenig geschwankt, während das im Referat von
Herrn Baum schon deutlicher wurde. Habermas tradiert, wie mir
scheint, keine Theorie, sondern entwickelt etwas ganz Neues, etwas
ganz Anderes, wie es mir überhaupt ein Irrtum zu sein scheint, immer
wieder zu sagen, das ist eine andere Generation von Kritischer Theorie,
hier wird eine Kritische Theorie weitertradiert, weiterentwickelt, das
ist, glaube ich, ein falscher Eindruck, so verbreitet er auch ist.

William Outhwaite: Zu Stefan Müller-Doohms Frage: Ich bin unsi-


cher; das Einzige, was ich sagen möchte, ist, dass ich vollkommen mit
der Ansicht von Habermas übereinstimme, dass die Unterscheidung
zwischen bürgerlicher und marxistischer Wissenschaft zu verwerfen
ist. Ich bin Alt-Achtundsechziger und wir haben uns nicht so sehr für
Althusser interessiert, weil er offenbar kein guter Marxologe war, son-

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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas

dern für Kuhns Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen, weil das


eine scharfe Unterscheidung zwischen Marxismus, den wir alle machen
wollten, und bürgerlicher Wissenschaft ermöglichte. Später habe ich
als Magisterstudent und Doktorand bei Tom Bottomore gelernt, dass
diese Unterscheidung nicht funktioniert. Wir Sozialwissenschaftler
oder Philosophen haben uns alle den Marxismus soweit angeeignet,
dass die Frage, ob etwas marxistisch oder nicht-marxistisch, unmarxis-
tisch ist, enorm schwer zu beantworten ist.

Georg Siegmann (Universität Wuppertal): Ich möchte nach dem


Verhältnis der Philosophie zum Historischen Materialismus und dem,
was Habermas daraus macht, fragen. Ich habe die bisherigen Vorträge
so verstanden, dass in der Spannung zwischen sozialempirisch angeleg-
ten Praktiken und Theorien (etwa im Sinne von Weber oder eben Ha-
bermas) und dem philosophischen Anspruch, der irgendwie trotz des
Endes der Metaphysik nicht zu Ende gegangen ist, die eigentliche Pro-
blematik liegt, die hier auf dieser Tagung verhandelt wird. Deshalb
frage ich: Was heißt uns dabei »Philosophie«? Immer noch letztlich
dasselbe bei Marx oder sogar bei Habermas wie bei Hegel oder Kant
oder Platon? Oder ist das, was uns auch Marx einen Philosophen nen-
nen oder auch Habermas einen Philosophen nennen lässt, doch mehr
als nur eine gewisse Sinnverschiebung im Begriff der Philosophie,
nämlich eine Äquivokation, also ein Missverständnis?

Manfred Baum: Der Frage von Herrn Siegmann liegt offenbar ein ge-
wisses Interesse an der Philosophie zugrunde: dass sie womöglich auch
in Zukunft noch existieren möge. Marx hat sich tatsächlich, und auch
Engels natürlich, nach der Deutschen Ideologie nicht mehr als Philo-
soph verstanden. Das hat mehrere Gründe, aber der wichtigste Grund
scheint mir der zu sein, dass Marx tatsächlich glaubte – und er war
nicht allein, alle diese linken Berliner Hegelianer waren dieser Mei-
nung –, dass Hegel nicht nur der letzte Philosoph gewesen sei, sondern
auch der letztmögliche. Die Hegel-Kritik von Feuerbach oder Stirner
oder auch Kierkegaard und natürlich von Marx ist zwar im Detail oft
sehr treffend – in Marx’ Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie
haben wir einen Text, der auf der Höhe der Hegel’schen Theorie ist –,
aber in Bezug z. B. auf die Hegel’sche Logik und Naturphilosophie sind
diese Leute inkompetent. Es ist ja auch wirklich so, dass ein solches

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Diskussion

System der Philosophie, wie Hegel es in seiner Enzyklopädie vorgelegt


hat, seitdem nicht mehr vorgelegt wurde.
Mir leuchtet die Verbindung von Marx mit dem bürgerlichen An-
ti-Marx, nämlich Max Weber, sehr wenig ein, obwohl Lukács das schon
gemacht hat, obwohl Adorno und Horkheimer und Habermas das ma-
chen – auch Parsons, obwohl da wenig Marx zu sehen ist, sondern viel
amerikanischer Naturalismus. Ich halte das – unabhängig von Details
der Theorie – für eine Verkennung von Marx. Marx wollte kein So-
zialwissenschaftler sein, Marx hat sich nicht für politische Ökonomie
als Spezialwissenschaft interessiert. Marx wollte erkennen, warum die
1848er Revolution gescheitert war, und als gründlicher Deutscher
wollte er das dann wissenschaftlich herausbringen. Er glaubte, dass die
jeweilige politische Herrschaft ein reales Fundament in der Gesell-
schaft hatte, und deshalb betätigte er sich als Ökonom – als Anatom,
so nannte er das – dieser Gesellschaft. Die Gesellschaft, die man revo-
lutionieren will, muss man erkennen können. Marx ist für mich primär
Politiker. Die Praxis, für die Marx steht, ist die politische Praxis, aber
die folgt nicht einfach aus ökonomischen Einsichten.

Jürgen Habermas: Den Marxismus muss man auch philosophiehis-


torisch in einen größeren Zusammenhang rücken. Erst Hegel hat einen
philosophischen Diskurs der Moderne begonnen. Er hat den klassi-
schen Themenkatalog der Philosophie erweitert. Seit Plato beschäftigt
sich die Philosophie mit der Aufgabe, intuitiv verwendetes Wissen zu
explizieren. Wir heben aus der Tiefe des Bewusstseins also anamne-
tisch etwas ans Licht, wenn wir das intuitiv gebrauchte Wissen, mit
dessen Hilfe wir erkennen, sprechen oder handeln, zum Thema machen
und begrifflich analysieren. Weil sich die Philosophie damit beschäf-
tigt, performatives Wissen in explizites zu überführen, ist die Begriffs-
analyse zu ihrem Königsweg geworden. Logik und Erkenntnistheorie,
Sprachphilosophie und Handlungstheorie sind bis heute ihre theoreti-
schen Kerndisziplinen geblieben. Außerdem war die Philosophie in ih-
ren Anfängen, spätestens seit Plato, eine Konkurrentin der großen
Weltreligionen. In dieser Rolle sucht der Idealismus Antworten auf
die Frage »Wie soll ich leben und was darf ich hoffen?«. Für die Phi-
losophie ist der Mensch nicht nur das Wesen, das mit Begriffen han-
tiert, sondern eines, das sich, indem es sich in der Welt orientiert, auch
über sich, seine kulturellen Produktionen und sein eigenes Leben Re-
chenschaft ablegen will. Aber Hegel hat diesem klassischen Katalog der

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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas

theoretischen und praktischen Philosophie eine vollkommen neue Fra-


gestellung hinzugefügt.
Er hat der Philosophie die Aufgabe einer Theorie der Gegenwart
zugemutet: die Aufgabe, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen. Hegel war
Zeitgenosse der Entstehung einer neuen Politischen Ökonomie, die aus
dem traditionellen Rahmen der aristotelischen Ethik, Politik und Öko-
nomik ausbrach. Und er war der erste, der die damals entstehenden
historischen Geisteswissenschaften, und damit geschichtliches Denken
und historisches Bewusstsein, philosophisch ernst genommen hat.
Wenn nun die Philosophie diese neue Sorte von Realwissenschaften
auf den Begriff brachte, konnte sie das zeitdiagnostische Bedürfnis
nach einer Selbstverständigung der Moderne befriedigen. Schon in
der nächsten Generation aber wurde klar, dass dieses zeitdiagnostische
Geschäft, das Hegel noch in Gestalt seiner Rechtsphilosophie bewältigt
hatte, auf eine breitere empirische Basis angewiesen war; auf etwas, das
Philosophie von Haus aus gar nicht als ihre eigene Aufgabe betrachten,
sondern sich höchstens reflexiv aneignen konnte. Das markiert den
Übergang von Hegel zur Gesellschaftstheorie. Marcuses Reason and
Revolution ist die beste Geschichte genau dieser Periode des Übergangs
von Hegel zur ersten Generation der Gesellschaftstheoretiker, zu
Saint-Simon, Comte usw. Darauf folgen die soziologischen Klassiker,
die in den 1860er-Jahre geboren wurden – Weber, Durkheim und
George Herbert Mead. Nur die Soziologie hat also den von der Politi-
schen Ökonomie alsbald aufgegebenen gesellschaftstheoretischen An-
spruch, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen, bis in die zweite Hälfte des
20. Jahrhunderts fortgeführt, allerdings zeitweise unterstützt von der
Ethnologie oder Kulturanthropologie. Inzwischen hat auch die Sozio-
logie im Zuge ihrer Professionalisierung diesen Anspruch aufgegeben.
Am längsten hat sich die Theoretisierung der Zeitdiagnose im Rahmen
der marxistischen Tradition erhalten, in Verbindung mit einem seriö-
sen wissenschaftlichen Anspruch allerdings nur im westlichen Marxis-
mus. Die Arbeiten von Wolfgang Streeck zeigen, dass es nicht unmit-
telbar Marx sein muss, dass es auch Polanyi sein kann, an den man in
gleicher Absicht anknüpfen kann.

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II. Habermas’ Kommunikationstheorie im
zeitgenössischen Kontext

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Ágnes Heller
Über Habermas – Von alten Zeiten

Ich begegnete einem Werk von Habermas, bevor ich seinen Namen
kannte.
In den frühen kommunistischen Zeiten wussten wir, junge Phi-
losophen aus Ungarn, über unsere Zeitgenossen überhaupt nichts. Ihre
Bücher bekamen wir nicht zu lesen, auch nicht in den geheimen Sek-
tionen der Universitätsbibliothek (was in Moskau möglich war).
In den Sechzigerjahren begann der Luchterhand-Verlag damit,
Lukács’ Werke zu veröffentlichen. Als Geschenk schickten sie Lukács
einige ihrer neuen Publikationen. Lukács hat die Bücher nicht gelesen,
aber er fragte mich, ob ich an dem einen oder anderen Interesse hätte.
Weil ich keine »Namen« kannte, ging ich nach den Titeln. Ich habe
zwei Titel ausgewählt: Die höfische Gesellschaft und Strukturwandel
der Öffentlichkeit. Die Titel haben mich nicht betrogen. Ich habe beide
Bücher mit Enthusiasmus gelesen.
So habe ich den Namen Habermas kennengelernt. Ich habe mich
gleich entschlossen, alles von ihm zu lesen, was ich nur bekommen
konnte. Und als ich zum ersten Mal »Westdeutschland« besuchte und
Iring und Elisabeth Fetscher mich fragten, wen sie zum Tee einladen
sollten, habe ich ohne Zögern Habermas genannt. Später, schon 1981,
als ich Gastprofessorin in Konstanz war, hat unser gemeinsamer
Freund Albrecht Wellmer, der Die Theorie des kommunikativen Han-
delns eben bekam und las, mir einige Gedanken des Buches erzählt und
darüber mit mir diskutiert.
Wenn ich mich recht erinnere, habe ich nur zweimal nicht nur
über Habermas’ Konzeptionen, Gedanken oder Thesen, sondern im
Allgemeinen über ihn geschrieben. Zum ersten Mal in meinem Bericht
über den Positivismus-Streit, der bei Suhrkamp in einem Buch ver-
öffentlicht wurde. Darin habe ich Habermas’ Fähigkeit zur Rezeption
entschieden gelobt. Ich wunderte mich darüber, dass der von mir als

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Ágnes Heller

Musikphilosoph hochgeschätzte Adorno, der das Vorwort schrieb,


überhaupt nicht verstand – oder nicht verstehen wollte –, worum es
bei Popper geht, während der junge Habermas dies sehr gut verstand
und sich mit den wirklichen Fragen auseinandersetzte. Zum zweiten
Mal, viel später, als ich mich schon längst nicht mehr als Marxistin
verstand, schrieb ich einen Essay mit dem Titel Habermas und der
Marxismus, doch kann ich ihn nicht finden und habe heute keine Ah-
nung mehr, was er beinhaltete. (Meine während der letzten zehn Jahre
geschriebenen beiden Essays über Habermas kommen hier selbstver-
ständlich nicht in Betracht.)
Lassen Sie mich einige Worte über Habermas’ Kritik meines Bu-
ches Alltagsleben vorausschicken. Ich habe auf die Kritik damals aus
vielen Gründen nicht reagiert. Habermas’ Der philosophische Diskurs
der Moderne erschien 1988, während ich das kritisierte Buch bereits
1967 abgeschlossen hatte. Was ich zwanzig Jahre früher geschrieben
hatte, war für mich damals nicht sehr interessant, und damit befand
ich mich sowieso in guter Gesellschaft. Die deutsche Auflage des Bu-
ches enthielt ohnehin nur die Hälfte des Originals, und somit hatte ich
keine Ahnung, was Habermas de facto gelesen hat.
Da ich vor vier oder fünf Jahren, als ich mein Büchlein Die kurze
Geschichte meiner Philosophie schrieb, mein altes Buch wieder lesen
musste, kann ich es heute kurz verteidigen. Habermas’ Vorwurf laute-
te, dass ich mich zum Paradigma der Produktion bekannte. Der Beweis
war der folgende Satz: »Um ihre Gesellschaft zu reproduzieren, müs-
sen die Menschen sich selbst reproduzieren.« Dieser Satz formuliert
ebenso wenig das Paradigma der Produktion wie zum Beispiel der Satz:
»Um leben zu können, müssen die Menschen essen und trinken« das
Paradigma der Biologie. Beide stellen einfach empirische Tatsachen
fest. Sie beschreiben Evidenzen. Wie ich es weiterhin später tat (das
habe ich von Kant gelernt), wollte ich auch hier mit einem empirischen
Satz beginnen, um meine Geschichte ebenso auf der transzendentalen
Ebene weiterzuentwickeln.
Der andere Beleg für das Paradigma der Produktion ist meine Ver-
wendung der Kategorie »Objektivation«. Ich gebe zu, dass die Katego-
rie »Objektivation« bei Hegel wie auch bei Marx und Lukács eine be-
deutende Rolle spielt und dass ich meinen Grundgedanken auch mittels
einer anderen Kategorie hätte ausdrücken können, wie ich es später tat.
Doch wenn ich über die verschiedenen Schichten der »Objektivatio-
nen« spreche, beschreibe ich die Welt. Ich spreche über die Geworfen-

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Über Habermas – Von alten Zeiten

heit durch den Zufall der Geburt. Wir sind zufällig in eine konkrete
Welt hineingeworfen, wo wir uns zumindest unsere engere Welt an-
eignen müssen, um heranzuwachsen. Was wir uns aneignen müssen,
ist, wie ich mich damals ausdrückte, die Sphäre der »Objektivation an
sich«, die, wie auch Habermas hervorhebt, aus drei Konstituentien be-
steht: der Alltagsprache, den Gewohnheiten und Normen der gesell-
schaftlichen Umgebung sowie der Art und Weise, die Dinge derselben
Umgebung zu benutzen. Die Produktion hat in dieser Konzeption nicht
nur keine Priorität, sie ist auf dieser ersten Objektivationsebene noch
gar nicht erwähnt.
Ich möchte diese Erklärung meiner selbst nicht weiter ausführen.
Kurz und gut, mein Buch Alltagsleben ist eine Art Daseinsanalyse.
Zumindest der Entwurf zu einer Daseinsanalyse. Ich habe kein Ge-
heimnis daraus gemacht, dass ich von Sein und Zeit beeinflusst war
und genau gegen dieses Buch polemisierte. Die Polemik verlief eben
über das Alltagsleben. Ich wollte zumindest theoretisch begründen,
dass unser Alltagsdenken und -leben authentisch sein kann. Ob mir
dies gelungen war, ist eine andere Frage.
Es gibt in diesem Buch zu viel überspanntes Pathos, zu viele Kurz-
schlüsse, Naivitäten, auch Dummheiten, doch das Paradigma der Pro-
duktion gehört nicht zu ihnen.
Seitdem bin ich auch mit der Anwendung des Paradigma-Kon-
zepts in philosophischen Werken unzufrieden geworden. Falls es phi-
losophische Paradigmen überhaupt gibt – was natürlich von der jewei-
ligen Konzeption derjenigen Philosophen, wie z. B. Habermas, die es
voraussetzen, abhängt –, sind sie meiner Meinung nach philosophisch
ohne besondere Bedeutung. Der so genannte »linguistic turn« war
meines Erachtens eine philosophische Modeerscheinung. Was meiner
Meinung nach wesentliche philosophische Bedeutung in der Gegen-
wart hat, ist die Daseinsanalyse. In dieser Hinsicht ist Heideggers Sein
und Zeit das programmatische Werk der postmetaphysischen Philoso-
phie. Alle bedeutenden und auch weniger bedeutenden philosophi-
schen Werke, die sich noch immer darum bemühen, »zur Sache selbst«
zu kommen, sind Daseinsanalysen. Ich weiß, dass Heidegger selbst alle
anderen Daseinsanalytiker als falsche Interpreten betrachtete, aber dies
ist in philosophischen Kreisen üblich. Cosi fan tutti.
Ich unterscheide in der Entwicklung der Philosophie drei wesent-
liche Phasen. Zuerst ging es in den Schulen von Plato, Aristoteles, den
Stoikern, Epikureern um die Hierarchie des Kosmos, der Seele, der Er-

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Ágnes Heller

fahrung, der Gesellschaft. Dann, in der zweiten Phase, erscheint die


Frühmoderne, und von Descartes bis Hegel ging es um das Subjekt-
Objekt-Verhältnis. Drittens geht es im Prozess der Dekonstruktion
der Metaphysik um das Da-sein, um das In-der-Welt-sein und um die
Erneuerung der philosophischen Sprache. Diese dritte Tendenz begann
mit der Auflösung der Hegel’schen Philosophie und dauert bis zum
heutigen Tag. Sie lässt sich bei Habermas ebenso beobachten wie bei
Luhmann, auch bei Foucault sowie beim späten Wittgenstein. Diese
Tendenz lässt sich bei allen feststellen, die, wie gesagt, noch immer
darum bemüht sind, »zur Sache selbst« zu kommen.
Alle »postmetaphysischen« Denker sind meines Erachtens per-
sönliche Denker, auch wenn es sich um ein gemeinsames Denken von
zwei oder drei Personen handelt. Natürlich kann man, wenn man will,
die Differenzen, Kontroversen, das theoretische Gefecht der postmeta-
physischen Philosophen der Verschiedenheit ihrer Paradigmen zu-
schreiben.
Jetzt fange ich endlich wirklich an.
Meine ausführlichste Diskussion von und Kritik an Habermas be-
traf die rationale Kommunikationstheorie. Ich bezog mich teilweise
auch auf Apel, wenn die beiden Theorien miteinander übereinstimm-
ten.
Die Diskussion und Kritik von Habermas’ Position beherrschen
beinahe den ganzen zweiten Teil meines Buches, das in deutscher Spra-
che unter dem Titel Philosophie des linken Radikalismus veröffentlicht
wurde. Der Originaltitel lautet Bekenntnis zur Philosophie. Es existiert
eine ursprüngliche Fassung des Buches, die erst nach meinem 80. Ge-
burtstag erschienen ist. Jetzt konnte ich nachlesen, dass meine Polemik
gegen Habermas (und Apel) in der ersten Fassung schärfer war als in
der endgültigen Version. Im Folgenden werde ich mich auf beide Fas-
sungen berufen. Ich bitte in Betracht zu ziehen, dass meine kritischen
Bemerkungen 16 Jahre vor dem Erscheinen der Theorie des kommuni-
kativen Handelns geschrieben wurden.
Ich habe Habermas zweifellos – mit gutem Recht, wie ich glaubte
– für meine Daseinsanalyse ausgebeutet. Ich habe damals auch seine
Theorie als eine andere Art von Daseinsanalyse betrachtet. Tatsächlich
ging es ja um das »In-der-Welt-Sein«. Die von mir am meisten aus-
gebeutete Habermas’sche Theorie betraf die Konzeption der herr-
schaftsfreien Kommunikation und des Diskurses im Allgemeinen. Die
daseinsanalytische Voraussetzung und Interpretation habe ich in mei-

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Über Habermas – Von alten Zeiten

ner Werttheorie vorausgeschickt. Habermas hat zuweilen über Werte


gesprochen, doch in seiner Theorie der Kommunikation sprach er eher
über Normen und Prinzipen. Ich glaube, dass er im Wertbegriff eine
Art von Verdinglichung entdeckte; vielleicht hat ihn in negativer Weise
damals auch Nietzsche beeinflusst. Doch wenn man das In-der-Welt-
Sein als Ausgangspunkt einer Analyse betrachtet, muss man von einer
Situation ausgehen, in der Menschen in eine Welt hineingeboren sind,
wo sie mit den in ihrer Umgebung gültigen Werten (die bei den Alten
das Gute oder die Güter genannt wurden) konfrontiert werden. Ich
definiere Werte wie folgt: »Ich nenne Werte alle theoretischen und
praktischen Ideen, sei es in ihrer theoretischen oder praktischen, regu-
lativen oder konstitutiven Verwendung.« Wenn man dies voraussetzt,
muss man, falls man einer Theorie der Diskussion beistimmt, über
Wertdiskussionen sprechen, obendrein auch über die Möglichkeit der
Wert-Wahl, was für Habermas nach Dezisionismus roch.
Es ist jetzt interessant zu sehen, wie ich mit dieser Theorie häufig
denselben Schwierigkeiten begegne, deren problematische Behandlung
ich Habermas oft vorwarf. Es ging beinahe immer um die ungeschickte
und unreflektierte Bewegung zwischen der empirischen und der trans-
zendentalen Ebene. (Die damalige deutsche Übersetzung verwendet
den Ausdruck »Ideale« statt »Ideen«, was ganz verfehlt ist.) Habermas
bezeichnete vielleicht auch schon zu dieser Zeit seine Theorie als Uni-
versalpragmatik und vermied das Wort »transzendental«, vielleicht
wegen Kants Identifikation von »transzendental« mit »a priori«. Da-
mals habe ich in diesem Buch das Kontrafaktische, das Nichtempirische
als transzendental bezeichnet. Heute würde ich dasselbe tun, warum
und wie, kann ich hier nicht näher erläutern.
Unter drei verschiedenen Gesichtspunkten war für mich Haber-
mas’ Kommunikationstheorie so wichtig gewesen, dass ich beinahe
den ganzen zweiten Teil meines über die Philosophie geschriebenen
Buches ihrer »Interpretation und Kritik« widmete. Diese drei Gesichts-
punkte sind: die Theorie der Moderne, die Theorie der Demokratie so-
wie die Theorie der Philosophie.
Was die Theorie der Moderne betrifft, sah ich in der Idee der herr-
schaftsfreien Kommunikation eine philosophische Ausarbeitung der
Konzeptionen von Strukturwandel der Öffentlichkeit. Dass die Moder-
ne den Spielraum für Diskussionen schafft, dass Diskussionen notwen-
dig zur Moderne gehören und sie aufrechterhalten, diese Idee war hier
meines Erachtens von der geschichtlichen auf die philosophische Ebene

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Ágnes Heller

»gehoben«. Der »allgemeine Geltungsanspruch« war auch die leitende


Idee (oder wie ich mich ausdrückte: einer der leitenden Werte) der Mo-
derne.
Zweitens war die Theorie meines Erachtens als die Grundlegung
einer radikalen Demokratie gedacht und so auch im philosophischen
Sinn radikal. (Dass meine Unterscheidung zwischen rechtem und lin-
kem Radikalismus ganz voluntaristisch gewesen war, dass ich, was ich
liebte, »links«, und was ich zurückwies, »rechts« genannt habe, gehört
nicht in diese Betrachtung.)
Wegen des wesentlichen Einverständnisses mit Habermas waren
alle meine kritischen Bemerkungen »immanent«, wie man sich damals
ausdrückte. Und nicht nur immanent, sondern rein philosophisch: Ich
wollte die Konzeption »verbessern« (was natürlich in allen Fällen, nicht
nur in diesem, unmöglich ist).
Wie schon erwähnt, war meine wichtigste kritische Bemerkung,
dass Habermas zwischen der transzendentalen und der empirischen
Ebene nicht klar unterscheidet. Einerseits konnte man die Idee des »all-
gemeinen Geltungsanspruchs« auch empirisch-historisch verstehen,
weil moderne Menschen im Sinne der Aufklärung für ihre Wahrheiten
gleichsam selbstverständlich auf allgemeine Gültigkeit Anspruch erhe-
ben. Doch wenn Habermas als Bedingung des allgemeinen Geltungs-
anspruches die kontrafaktischen Bedingungen der herrschaftsfreien
Kommunikation, der idealen Kommunikationsgemeinschaft anführt,
bewegt er sich auf der transzendentalen Ebene. Dennoch setzt er zu-
mindest die Möglichkeit eines de facto universalen Konsenses voraus,
und damit hat er sich aus der transzendentalen Ebene wieder ins Empi-
rische begeben, ohne darüber Rechenschaft abzulegen. Allgemeines
Einverständnis, consensus omnium, ist nämlich empirisch unmöglich.
Für Kant stellte sich dies noch nicht als Problem dar. Die trans-
zendentale Freiheit ist das absolute Gesetz der Menschheit in mir, da-
rüber brauchen wir nicht mit empirischen Menschen unter nicht-em-
pirischen, herrschaftsfreien Bedingungen zu diskutieren, um Konsens
zu erzielen. Wenn man aber vom In-der-Welt-Sein und nicht vom
transzendentalen Subjekt ausgeht, dann ist Konsens prinzipiell aus-
geschlossen.
Ich kam zur Konklusion, dass Habermas eben wegen seines fort-
währenden Lavierens zwischen der transzendentalen und der empiri-
schen Ebene einige Probleme der empirischen Welt nicht reflektiert. In
den Paragraphen 83 und 84 schreibe ich z. B.: »Man kann eine Gesell-

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Über Habermas – Von alten Zeiten

schaft der symmetrischen Reziprozität denken, wo alle gleich vernünf-


tigen Menschen dieselben Sprechakte anwendend miteinander rational
argumentieren.« »Doch kann man keine solche Gesellschaft denken,
wo diese vernünftige Wesen nicht verschiedene Erfahrungen hätten,
nicht über mehr oder weniger Wissen verfügten, wo die Argumente
des einen nicht mehr Gewicht hätten als die Argumente der anderen.«
Wenn Habermas die drei Hauptwerte der idealen Kommunikati-
onsgemeinschaft – Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit – aufzählte,
dann war ich nicht bloß einverstanden, sondern auch entzückt. (Der
Habermas’schen Liste füge ich als Grundwert das Leben hinzu.) Doch
ich ergänzte, dass diese drei Prinzipien, Hauptwerte, archai, nicht nur
in der Moderne, nicht nur unter der Voraussetzung einer idealen Kom-
munikationsgemeinschaft gültig sind. In unserer traditionellen Kultur
waren und sind sie immer selbstverständlich. Für die Grundwerte
braucht man nicht zu argumentieren, sagte ich (das hat Aristoteles
auch so gemeint). Man argumentiert mit den Grundwerten (Prinzi-
pien, archai) und nicht für oder gegen sie, einige Krisen ausgenommen.
Die Argumentation (Wertdiskussion, wie ich es nannte) dreht sich
nicht um die Anerkennung der Hauptwerte oder Prinzipien, sondern
um ihre Interpretation und ihre Hierarchie. Wenn man dies anerkennt,
dann braucht man auch nicht (meiner Meinung nach zu Unrecht) vo-
rauszusetzen, dass Wahrheit und Rationalität miteinander immer
übereinstimmen.
Wenn es aber nicht nur um die Anerkennung der Prinzipien, son-
dern auch um den Konsens bezüglich ihrer Interpretationen geht, fügte
ich hinzu, wo bleiben dann die empirischen Menschen? Laut Kant gibt
es auch zwei »materiale« Normen nebst den formalen, unbedingt gül-
tigen, nämlich die Normen, die eigene Vollkommenheit und die Glück-
seligkeit der anderen zu fördern. Wo ist deren Platz im Haber-
mas’schen Modell der Moderne?
In diesem Kontext zitiere ich Apels Gedanken, demzufolge man
menschliche Bedürfnisse nur dann anerkennt, wenn man sie interper-
sonal rechtfertigen kann. (Ich habe keine Ahnung, ob Habermas da-
mals diese Auffassung geteilt hat oder nicht.) Diesen Gedanken habe
ich leidenschaftlich angegriffen. Meines Erachtens soll man alle Be-
dürfnisse anerkennen. Weder Bedürfnisse noch der Anspruch auf ihre
Befriedigung bedürfen der Rechtfertigung, nur im Falle der Nicht-Be-
friedigung der Bedürfnisse ist dies erforderlich. (Diese Polemik war
insbesondere gegen Marcuse gerichtet.)

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Ágnes Heller

Was Habermas’ »wahren Konsens« betrifft, war ich im Allgemei-


nen mehr als skeptisch. Die Konsenstheorie der Wahrheit war für mich
besonders unverdaulich. Die Idee der gegenseitigen Verständigung ha-
be ich als eine regulative Norm nur dann anerkannt, wenn mit »Ver-
ständigung« das Verstehen des Standpunktes oder der Argumente der
anderen gemeint ist. Auch hier war ich, zumindest auf der empiri-
schen, nicht regulativ-normativen Ebene, skeptisch. Ich habe ja mehr-
fach betont, dass Verständnis immer auch Missverständnis ist (obwohl
dies umgekehrt nicht immer gilt).
Doch wenn Habermas mit gegenseitiger Verständigung nicht Ver-
stehen, sondern Einverständnis bezüglich der Interpretation der
Grundprinzipien »Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Leben« meinte,
war ich radikal dagegen – ausgenommen im Fall eines praktischen Dis-
kurses unter Handlungsdruck. Hier kann Einverständnis auch auf
einem Kompromiss beruhen.
In der damaligen Übersetzung lautete mein zu pathetisch for-
mulierter kritischer Satz folgendermaßen: »Auszusetzen habe ich an
Habermas’ Theorie nicht, dass sie kontrafaktisch ist, sie ist ja eine phi-
losophische Idee, ihre Kontrafaktizität ist also zugleich ihre Begrün-
dung. Mein Problem besteht darin, dass ich sie auch als Idee nicht ak-
zeptieren kann.« Ich fügte, wieder mit zu viel Pathos und mit zu wenig
Begründung, Folgendes hinzu: »Ich will nämlich nicht, dass die
Menschheit je in Fragen von Gut und Wahr Konsens erreiche. Ich will
nicht, dass es je eine einzige wahre Hamlet-Interpretation gebe. Ich will
nicht, dass es je eine einzig wahre Philosophie gebe, ich will nicht, dass
je ein einzig gutes Ziel sein soll. Ich will keinen Konsens.« »Ich setze
die Pluralität der Lebensformen voraus.«
Wenn Habermas in seiner Theorie der herrschaftsfreien Kom-
munikation davon ausgeht, dass die Gesprächspartner dieselben Sprech-
akte benützen können, rekurriere ich wieder einmal auf ein empiri-
sches Faktum. Ja, Menschen können als gleich rationale Kreaturen
miteinander in Diskussion treten, da kann die Diskussion wahrlich
herrschaftsfrei, jedoch nicht machtfrei sein. Wie ich es schon oft getan
habe und weiter tun werde, möchte ich auch hier betonen, dass Men-
schen nicht nur Ratio, sondern auch Leib sind.
Eine relativ machtfreie Kommunikation, füge ich hinzu, kann nur
dann stattfinden, wenn die Diskutanten Zuschauer sind und überhaupt
kein Einverständnis, kein Konsens erzielt wird. Dies ist der Fall bei
Kants Geschmacksurteil. Ich kann auf Allgemeingültigkeit Anspruch

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Über Habermas – Von alten Zeiten

erheben und wollen, dass meinem Urteil (»Diese Rose ist schön.«) alle
zustimmen sollen. Doch falls ich mit Freunden am Mittagstisch sitze
und mit ihnen diskutiere, werde ich mich mit der Verschiedenheit der
Geschmacksurteile auseinandersetzen. Falls alle mit mir überein-
stimmten, wäre nämlich überhaupt keine Diskussion möglich. (In
Strukturwandel der Öffentlichkeit war auch von einer derartigen Dis-
kussion die Rede. Später, in meinem Essay »Immanuel Kant lädt uns
zum Mittagessen ein«, bin ich auf diese Frage zurückgekommen.)
Obwohl ich Habermas oft mit Zustimmung zitiere, wenn er be-
züglich der herrschaftsfreien Kommunikation die Zeit und den Hand-
lungsdruck ausschließt, füge ich hinzu, dass er hier wieder einmal auf
der transzendentalen (kontrafaktischen) Ebene verweilt, ohne Rück-
sicht auf die empirischen Bedingungen zu nehmen. Tatsächlich stehen
wir jedoch immer unter Zeit- und Handlungsdruck, schon aus dem
einfachen Grund, dass wir sterblich sind, und ebenso sind es auch alle
unsere Kulturen. Es gibt meiner Meinung nach jedoch eine einzige
Ausnahme – die philosophische Diskussion: Vielleicht war Habermas’
Gedanke eben deshalb für mein Buch über Philosophie so wichtig ge-
wesen. Was Habermas darstellt, schreibe ich, ist wesentlich die philo-
sophische Diskussion. In einer philosophischen Diskussion ist die Idee
der herrschaftsfreien Kommunikation nicht nur regulativ, sondern
auch konstitutiv. Sie kann zumindest als konstitutive Idee fungieren.
Die philosophische Kommunikation ist herrschaftsfrei, die Diskussi-
onsteilnehmer können die gleichen Sprechakte benützen. Es gibt kei-
nen Handlungsdruck, da Kommunikation selbst die eigentliche Hand-
lung ist. Es gibt keinen Zeitdruck, da wir auch mit Denkern, die seit
zweitausend Jahren tot sind, sowie mit den Ungeborenen kommunizie-
ren können. So verstanden ist »Kausalität durch Freiheit« in die Theo-
rie der herrschaftsfreien Kommunikation integriert. Mein einziges
Problem blieb hier, wieder einmal, mein Unbehagen mit dem Konsens.
Die philosophischen Debatten (agon) setzen immer Dissens voraus.
Außerdem dachte ich, dass Habermas in seiner Konsenstheorie der
Wahrheit das Hegel’sche »Das Wahre ist das Ganze« in einer sehr pro-
blematischen Version rehabilitierte. Hegel sprach von der Vergangen-
heit, von Erinnerung, doch Habermas von der Gegenwart, die Zukunft
miteinbegriffen.
Was ich an Habermas’ damaliger Idee der Kommunikations-
gemeinschaft eindeutig akzeptierte, war seine Idee der Demokratie (in
meiner Lesart: radikalen Demokratie). Besonders ansprechend war der

83

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Entgegnung auf Ágnes Heller

Gedanke für mich, dass die »Universalisierung der Grundnormen« und


die »Verinnerlichung der Verhaltenskontrollen« Aspekte desselben
Prozesses sind. Meiner damaligen Interpretation zufolge meinte Ha-
bermas, dass die demokratische Persönlichkeit ebenso die Vorbedin-
gung wie auch das Resultat der institutionalisierten radikalen Demo-
kratie ist.
Am Ende schöpfe ich allerdings den Verdacht, Habermas damals
im Versuch seiner Ausbeutung missverstanden zu haben. Ich wollte
diesen Verdacht heute nicht überprüfen, um mein jetziges »Selbst«
nicht in mein damaliges »Selbst« hineinzuschmuggeln.
Habermas hat seitdem viele wichtige Bücher geschrieben. Ich habe
von meinen damaligen theoretischen Gedanken mehrere hinter mir
gelassen. Luhmann, einer von Habermas’ damaligen Gesprächspart-
nern, ist längst gestorben. Nehmen sie diese Zeilen als Zeichen der
Erinnerung an alte Zeiten.

Entgegnung von Jürgen Habermas

Seitdem wir uns Mitte der 60er Jahre bei Iring Fetscher kennengelernt
haben, nehme ich Ágnes Heller nicht nur als Philosophin ernst, was bei
dem Format ihrer Werkes und ihrer philosophischen Anstrengung
selbstverständlich ist. Vielmehr hat sich von Anfang an eine Art der
persönlichen Beziehung hergestellt. Freundschaft trifft diese Bezie-
hung nicht genau. Es war von meiner Seite neben dem Respekt und
der freundschaftlichen Verbundenheit immer auch ein Stück Solidari-
tät desjenigen, der vom geschichtlich-politischen Schicksal verschont
und begünstigt worden ist, mit einer ähnlich gesinnten Altersgenossin,
die unter so unvergleichlich schwierigeren Lebensbedingungen so viel
mehr an Mut und Kampfgeist aufbringen, und die bis zum heutigen
Tage so viel größere Risiken und Entbehrungen auf sich nehmen muss-
te, wenn sie für die gleichen Ideen ihren Kopf hinhielt. Ágnes Heller
hat ihre Philosophie in einem buchstäblich existentiellen Sinne »leben«
müssen, während wir in Westdeutschland von ernstlich herausfordern-
den Situationen verschont geblieben sind.
Kurz zu dem Exkurs in Der philosophische Diskurs der Moderne,
auf den sich Ágnes bezieht. Dort habe ich mich anhand des Aufsatzes
eines gemeinsamen Kollegen und Freundes, György Márkus, mit einer

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Entgegnung auf Ágnes Heller

marxistischen Lesart von Praxisphilosophie auseinandergesetzt, der ich


vor allem auf Korčula und später in Dubrovnik bei den jugoslawischen
Freunden aus Zagreb und Belgrad begegnet war. Darin steckt übrigens
auch ein Stück Selbstkritik meiner eigenen Anfänge. In diesem Zusam-
menhang habe ich auch Ágnes Heller zweimal zitiert, dabei mag ich
mich einer Übergeneralisierung schuldig gemacht haben. In Ágnes
Heller selbst habe ich immer den politisch verwandten Geist gesehen,
der sich von uns im Westen allerdings philosophisch – wie es bei vielen
Kollegen aus Mitteleuropa der Fall war – durch den Denkstil und durch
ein etwas zu pathetisches Verständnis der Philosophie unterschied. Wir
aus dem Westen begegneten hier, wenn auch in egalitärer Abwand-
lung, einem geistigen Profil, das wir aus der Generation unserer Leh-
rer, vor allem der Generation der Heideggerschüler, kannten.
Ein Streitpunkt zwischen uns beiden trat in Ágnes Hellers Schrif-
ten aus der Emigrationszeit in New York deutlicher hervor. Aber eini-
ges beruht auch auf Missverständnissen. Zwar ist Ágnes ihren Anfän-
gen beim jungen Lukács und beim Heidegger von Sein und Zeit in
gewisser Weise treu geblieben – Lucien Goldmann hat ja deren Ver-
wandtschaft in seiner Dissertation gut herausgearbeitet. Aber die Si-
tuationsethik, die sie daraus entwickelt, muss man nicht in einen un-
versöhnlichen Gegensatz zum Universalismus der Gerechtigkeitsmoral
bringen. Die diskursethische Lesart der kantischen Moraltheorie ist mit
dem Pluralismus der Lebensformen, der existentiellen Wertorientie-
rungen und Lebensentwürfe, der Kulturen und geschichtlichen Kon-
texte nicht nur vereinbar, sondern gerade der Schlüssel zum Verständ-
nis der Legitimität der Andersheit des Anderen. Und was den Respekt
vor den Bedürfnissen des Anderen angeht – ja, in dieser Hinsicht gilt
prima facie selbstverständlich die Autorität der ersten Person. Aber die
Interpretation, in der jeder seine Bedürfnisse zur Geltung bringt, muss
sich einer Sprache bedienen, die ja kein Privatbesitz ist. Es kann deshalb
eine berechtigte Diskussion darüber geben, ob nicht die Bedürfnisse
eines Betroffenen von anderen als den eigenen Worten besser »getrof-
fen«, mit einer anders formulierten Beschreibung genauer interpretiert
werden. Und ein Diskurs ist erst recht nötig, wenn die interpretierten
Bedürfnisse oder Interessen verschiedener Personen im gegebenen Fall
miteinander konfligieren; dann müssen die Parteien herausfinden, wie
das anstehende Problem »gerecht«, also im gleichmäßigen Interesse
aller Betroffenen gelöst werden kann.
Einen anderen Streitpunkt, der allerdings einen zentralen Gedan-

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Entgegnung auf Ágnes Heller

ken betrifft, muss ich noch berühren – die vermeintliche Konfusion


von oder das Hin und Her zwischen transzendentaler und empirischer
Ebene. Mit der ungewöhnlichen Denkfigur der »unvermeidlichen
Kommunikationsvoraussetzungen idealisierenden Gehalts« hole ich
tatsächlich ein Element des Intelligiblen in den Bereich der symbolisch
strukturierten gesellschaftlichen Realität ein. Diese allgemeinen und
notwendigen Voraussetzungen kommunikativen Handelns haben aber,
wie ich meine, eine starke phänomenologische Evidenz: In einem Dia-
log muss (!) der eine dem anderen Zurechnungsfähigkeit im Sinne
einer Orientierung an Geltungsansprüchen unterstellen. Wenn einer
den anderen über eine Tatsache informiert, muss (!) er actu unterstel-
len, dass seine Behauptung nicht nur im gegebenen Kontext oder »für
uns«, sondern überhaupt und »an sich« wahr ist. Ohne die gemeinsame
Orientierung an der Universalität von Ansprüchen auf die Wahrheit
oder die Richtigkeit von assertorischen bzw. moralischen Aussagen ver-
lieren Argumentationen ihren Sinn. Andererseits ist die Verständi-
gungsabsicht samt ihren pragmatischen Unterstellungen doch nur eine
notwendige Voraussetzung für die Erzeugung von Dissens und für die
Feststellung begründeter Nicht-Übereinstimmung. Die Orientierung
an vernünftigem Einverständnis zielt nicht auf totalitäre Homogenisie-
rung, sondern macht Widerspruch erst möglich. Das fundamentale
Menschheitsmonopol des Nein-Sagen-Könnens setzt die Orientierung
an Einverständnis voraus.

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Karl-Otto Apel

Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma


der Ersten Philosophie

Mein Thema vereinigt im Titel vier Begriffe, die zwar heute bekannt
sind, aber kaum je so gebraucht werden, wie sie hier von mir gemeint
und zu einer Titel-These zusammengestellt sind.
Es geht mir um »Erste Philosophie«, wie der letzte Begriff im Titel
anzeigt. Das klingt heute sehr ungewöhnlich und fremdartig, aber, so-
weit der Terminus noch bekannt ist, erinnert er an Aristoteles’ Be-
zeichnung der Wissenschaft vom »Seienden« als dem »Seienden« oder
auch vom »höchsten Seienden«, das heißt von Gott als dem »unbeweg-
ten Beweger« von Allem. Dieser Terminus wurde später von den Aris-
toteles-Kommentatoren auch »Metaphysik« genannt und im 17. Jahr-
hundert noch genauer »Ontologie«. In meiner Titel-These wird aber
der Begriff der »Ersten Philosophie« nicht so gebraucht; denn das von
mir gemeinte Paradigma der »Ersten Philosophie« ist nicht die Meta-
physik oder Ontologie, in der die Welt als begrenztes Ganzes von au-
ßen gedacht wird, z. B. von einem göttlichen Standpunkt aus, sondern
ein postmetaphysisches Paradigma der Fundamentalphilosophie. Doch
was ist ein Paradigma?
Der Begriff »Paradigma« geht zwar auf Platon zurück, doch er
wird heutzutage meist so gebraucht, wie ihn der Wissenschaftshistori-
ker Thomas S. Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revo-
lutions neu eingeführt hat. 1 Bei Kuhn aber geht es nicht um einen
metaphysischen Begriff der philosophischen Tradition, sondern eher
um einen historisch-soziologischen Leitbegriff der empirischen Rekon-
struktion der Wissenschaftsentwicklung. Der Inhalt von Kuhn’schen
Paradigmen ist zwar epochal maßgebend und insofern auch normativ
zu verstehen, aber keineswegs im Sinne eines einheitlichen, rational
rekonstruierbaren Fortschritts. Genau dies aber möchte ich mit mei-
nem, durchaus von Kuhn inspirierten Begriff des »Paradigmas« nahe-

1 Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 21970.

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Karl-Otto Apel

legen; und zwar so, dass der Begriff des Paradigmas als historisch-her-
meneutischer Leitbegriff auf einen postmetaphysischen Begriff der
Ersten Philosophie anwendbar sein soll. Das heute maßgebende Para-
digma der Ersten Philosophie sollte m. E. zwar postmetaphysisch, aber
zugleich für unsere Begründungsreflexion nicht hintergehbar, daher
argumentativ unbestreitbar und insofern Instanz einer nicht dedukti-
ven, sondern reflexiven Letztbegründung philosophischen Denkens
sein.
Damit komme ich zum Eingangsterminus meiner Titel-These:
»Transzendentalpragmatik«. Dieser Terminus bezieht zwei heute gän-
gige Schlüsselbegriffe der Ersten Philosophie aufeinander, aber so, dass
ihre paradigmatische Funktion für die Konzeption der Ersten Philoso-
phie erst verständlich und deutlich wird, wenn die Teilbegriffe »trans-
zendental« und »Pragmatik« radikal rekonstruiert werden.
Beginnen wir mit dem Begriff »transzendental«. Er wird heute oft
als Teil des Begriffs »metaphysisch« verstanden, und zwar so, dass die
postmetaphysisch orientierten Denker dann zugleich die Forderung der
»Detranszendentalisierung« damit verbinden. (So z. B. Richard Rorty
und in letzter Zeit auch Jürgen Habermas.) Der Begriff »transzenden-
tal« ist in der Tat sehr vieldeutig, so schon bei Kant. Er hängt einerseits
– schon in der vorkantischen Tradition – mit dem Begriff »transzen-
dent« zusammen, wird aber gerade bei Kant als Gegenbegriff zu
»transzendent« eingeführt, nämlich als Zielthema der reflexiven Frage
nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültiger
Erfahrungserkenntnis: Kant hat aber diese reflexive Frage auch mit
der quasi-ontologischen Untersuchung des Verhältnisses zwischen
dem Bewusstsein und dem unerkennbaren »Ding an sich« gleichge-
setzt. So wird in der transzendentalen Erkenntnistheorie das transzen-
dente »Ding an sich« als letztaffizierende Ursache der Erfahrung vo-
rausgesetzt, aber zugleich von der Erkenntnis und von allen
Gegenständen möglicher Erkenntnis ausgeschlossen. (Jacobi hat diese
Grundschwierigkeit des kantischen Systemansatzes als bleibendes
Grundproblem der Kant-Interpretation markiert.)
Wie soll aber nun das Verhältnis des Transzendentalen zur er-
kenntnisvorgängigen und insofern »an sich« bestehenden Realität ge-
dacht werden, wenn man – mit Kant – an der reflexiven Frage nach den
subjektiven Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültiger Erfahrung
festhalten will? – was ich in der Tat für notwendig halte.
Hegel hat festgestellt, dass die neuzeitliche Philosophie seit Des-

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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie

cartes als »Reflexionsphilosophie« zu verstehen ist, so auch die Ver-


nunftkritik Kants. Diese ist freilich – im Unterschied zur reflexiven
Erkenntnispsychologie des Britischen Empirismus – auf die objektiv
und intersubjektiv universal gültige Erkenntnis der Wissenschaft be-
zogen und insofern – wie Hegel sagt – in »absoluter Reflexion« auf die
eigene Erkenntnis als Philosophie. Die Erkenntniskritik als Vernunft-
kritik kann daher nicht, wie Kant vorschlägt, vor aller Erkenntnis der
Wirklichkeit und unabhängig von ihr betrieben werden, sondern nur
als identisch mit der höchsten Stufe der Wirklichkeit: Als Heimkehr
des in der Natur entäußerten Geistes zu sich selbst; wie man mit Hegel
auch sagen kann.
An dieser Stelle ist die Transzendentalphilosophie – nach ihrer
Radikalisierung als idealistische Reflexionsphilosophie – noch einmal
zur ontologischen Metaphysik geworden, und zwar bei Hegel als spe-
kulativ-idealistische Geschichtsphilosophie, welche vor der Aufgabe
steht, die Wirklichkeit bis in die Zukunft hinaus, also die Wirklichkeit
im Ganzen, als »vernünftige« zu rekonstruieren. Dieses Problem He-
gels war die Herausforderung für die Junghegelianer, insbesondere für
die Zukunftsphilosophen August von Cieszkowski, Moses Hess und
Karl Marx. Damit zugleich verwandelte sich die spekulative Ge-
schichtsphilosophie Hegels in den »Historischen Materialismus«. Die-
ser wurde jedoch in der orthodoxen Endfassung bei Marx und Engels
und vor allem in der sowjetisch fixierten Version wieder zu einer onto-
logischen Metaphysik, nämlich zu der mit der Freiheit, Emanzipations-
fähigkeit und Unbestimmtheit der menschlichen Praxis nicht zu ver-
einbarenden Konzeption des »Dialektischen Materialismus«. 2 Damit
scheiterte philosophisch gerade die zukunftsbezogene Konzeption des
konstruierbaren Fortschrittes der kollektiven Praxis, die mit dem »His-
torischen Materialismus« bei Marx verknüpft wurde.
In Westeuropa aber verlor die geschichtsdialektische Konzeption
der kollektiven Praxis sowohl in ihrer idealistischen wie in ihrer mate-
rialistischen Fassung ihre führende Position in der Ersten Philosophie.
Eine auf Hegel antwortende zukunftsbezogene Praxisphilosophie gab
es hier schließlich nur in dem von Kierkegaard ausgehenden individua-
listischen und geschichtsfremden Existenzialismus und, strukturell
komplementär dazu, in dem – ebenfalls geschichtsfreien – Neopositi-
vismus, in dem der Praxisbezug der Vernunft auf die Dimension der

2 Vgl. Dietrich Böhler: Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Frankfurt a. M. 1971.

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Karl-Otto Apel

verifikativen Anwendung der Wissenschaft – genauer: der Naturwis-


senschaft – beschränkt war.
Hier stellt sich nun m. E. die folgende Frage: Lässt sich das von
Hegel (in der Konzeption der wohl letzten Metaphysik) immerhin
exponierte Problem einer rational einsehbaren Verknüpfung der
Selbstreflexion der menschlichen Praxis mit der Rekonstruktion der
Geschichte einschließlich der aufgegebenen Fortsetzung dieser Ge-
schichte: Lässt sich dieses Problem auch ohne die Voraussetzung einer
dogmatischen Metaphysik explizieren? Lässt sich dieses Problem viel-
leicht so explizieren, dass man dabei an eine transformierte Transzen-
dentalphilosophie ohne »Ding an sich« anschließen kann?
Tatsächlich ergab sich in Amerika noch eine dritte Konzeption
einer Zukunftsphilosophie als Antwort auf Hegel: im später so genann-
ten »Pragmatismus«. Damit wurde m. E. ein neues, allerdings sehr viel-
deutig interpretierbares Paradigma der Ersten Philosophie eingeführt.
Und es ist anscheinend immer noch schwierig, ja erscheint vielen als
unplausibel, dieses Paradigma auf der Linie einer kritisch transformier-
ten Transzendentalphilosophie verständlich zu machen – was ich in der
Tat für notwendig halte: Damit komme ich zum Leitbegriff meiner
Titel-These: zum Paradigma »Transzendentalpragmatik«.
Es empfiehlt sich m. E., den philosophischen Paradigma-Charakter
des »transzendentalen Pragmatismus« anhand zweier Hauptargumen-
te von Charles Peirce – dem meist so genannten, aber immer noch
wenig verstandenen Begründer des »Pragmatismus« – einzuführen:
einerseits anhand der Peirce’schen Schlüsselthese des »Pragmatismus«:
der so genannten »pragmatischen Maxime« der »Klärung von Ideen«
(in dem Aufsatz von 1878 »How to Make our Ideas Clear«) und an-
dererseits anhand der weniger bekannten Einführungsthese der Peir-
ce’schen »Semiotik« über die nicht reduzierbare Dreistelligkeit der
Zeichenfunktion oder »Semiosis«, die nach Peirce auch in der Erkennt-
nistheorie als Bedingung der Möglichkeit der Realitätsinterpretation
und des möglichen Erkenntnisfortschritts berücksichtigt werden
muss. 3
Mit Hilfe einer kritischen Interpretation dieser beiden Schlüssel-
argumente von Peirce lässt sich einerseits die mit Charles Morris und

3 Vgl. Karl-Otto Apel: Der Denkweg von Charles S. Peirce. Eine Einführung in den
amerikanischen Pragmatismus. Frankfurt a. M. 1975 sowie ders.: Paradigmen der Ers-
ten Philosophie. Frankfurt a. M. 2011, Teil I.

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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie

Rudolf Carnap beginnende Berücksichtigung der so genannten »prag-


matischen Dimension« in der analytischen Philosophie kritisch rekon-
struieren und andererseits auch die Entwicklung des amerikanischen
»Pragmatismus« selbst: von der normativen Adaption der »regulativen
Ideen« Kants bei Peirce über die populäre Rezeption des »Pragmatis-
mus« bei William James und John Dewey bis zur Verabschiedung aller
normativen Geltungsansprüche der Philosophie im »Neopragmatis-
mus« von Richard Rorty.
Beginnen wir mit der Rezeption des semiotischen Pragmatismus
in der analytischen Philosophie. Hier wurde von Rudolf Carnap im
Anschluss an den Amerikaner Charles Morris die so genannte »Prag-
matik« als dritte Dimension der Zeichenfunktion neben der »logischen
Syntax« und der »logischen Semantik« in die Wissenschaftstheorie
eingeführt. Doch damit wurde, anders als bei Peirce, keine normativ
relevante Integration des Begriffs der Wissenschaft selbst eingeführt,
sondern nur eine – zunächst behavioristisch interpretierte – Dimension
der empirischen Thematisierung der Anwendung von Wissenschaft.
Die spätere Entwicklung der sprachanalytischen Philosophie (ein-
schließlich der Sprechakttheorie und der Sprachspielphilosophie des
späten Wittgenstein) kann zwar dem neuen Paradigma der Sprach-
pragmatik im weiteren Sinne zugerechnet werden, doch auch sie liefer-
te der Philosophie keine normative Dimension der explikativen Be-
gründung des Sinns der Begriffe wie bei Peirce.
Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein Vergleich der sinnkriti-
schen und therapeutischen Funktion des Wittgenstein’schen Rekurses
auf die alltäglichen Sprachspiele mit der in mancher Hinsicht ähn-
lichen Funktion der »pragmatischen Maxime« von Peirce. Gewiss kann
die Wittgenstein’sche Sprachspielpragmatik manchen Irrweg der Me-
taphysik in sinnlose Probleme abschneiden; aber sie kann einem Wis-
senschaftler in einer echten Verlegenheit über den Sinn von unklaren
Grundbegriffen nicht einen innovativen normativ relevanten Weg zur
Neudefinition von Grundbegriffen aufzeigen. Genau das aber vermag
die Anwendung der »pragmatischen Maxime«, die Peirce auch als Me-
thode der »mellonization«, das heißt etwa: der Sinn-Heuristik durch
zukunftsbezogene Gedankenexperimente, kennzeichnet.
So geht es z. B. in der Speziellen Relativitätstheorie Einsteins um
eine Neudefinition des Sinns der Begriffe »Raum« und »Zeit« und
speziell der »Gleichzeitigkeit von Ereignissen«. Der von Wittgenstein
praktizierte Verweis auf den Sinn des einschlägigen Sprachgebrauchs

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Karl-Otto Apel

vermag nun hier der Wissenschaft nicht weiter zu helfen; denn in den
Alltags-Sprachspielen werden Raum und Zeit beim Messen als völlig
getrennte Maßbegriffe behandelt. Unter dieser Voraussetzung kann
jedoch die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse im physikalischen Raum
gerade nicht gemessen werden, wie Einstein gezeigt hat. Er hat in der
Speziellen Relativitätstheorie tatsächlich eine Reihe von Gedanken-
experimenten im Sinne der Peirce’schen »mellonization« durchgeführt
und auf diese Weise die pragmatische Dimension des Begriffs der
»Gleichzeitigkeit« im Sinne des postklassischen Paradigmas der Physik
neu bestimmt.
Nun hat Peirce die »pragmatische Maxime« im Wesentlichen auf
naturwissenschaftliche Begriffe angewandt. (Erst Josiah Royce, der
Lehrer von George Herbert Mead, hat die Peirce’sche Semiotik im Sin-
ne einer Begriffs-Hermeneutik auf die historisch verstehenden Geis-
teswissenschaften angewandt.) Andererseits hat aber Peirce selber er-
klärt, dass ohne den »pragmatischen« und im Sinne Kants praktischen
Vernunftbezug auf die Zukunft, d. h. ohne ein normativ verbindliches
letztes Ziel unserer Handlungen, eine philosophische Moral nicht mög-
lich sei. Es ist interessant, wie John Dewey, der den »Pragmatismus« als
»Instrumentalismus« interpretierte, auf das Peirce’sche Postulat eines
»letzten Zieles« unserer Handlungen reagierte. Dewey insistierte da-
rauf, dass in unseren aktuellen Handlungssituationen niemals eine
Orientierung an letzten Handlungszwecken gefragt sei, sondern viel-
mehr eine Orientierung durch »intelligent mediation of means and
ends«. Es fällt nicht schwer, sich die Plausibilität dieser – im üblichen
Sinne »pragmatischen« – Suggestion an den Entscheidungsorientie-
rungen etwa eines Bürgermeisters verständlich zu machen. Dennoch
ist es m. E. kaum möglich, eine als moralisch maßgeblich einzuschät-
zende Antwort eines Politikers auf eine historisch relevante Situation –
etwa bei der Entscheidung zwischen Krieg und Frieden oder auch zwi-
schen langfristig relevanten Strategien der Parteiergreifung – vor-
zustellen, ohne sich auch eine Orientierung an letzten Zwecken vor-
zustellen.
Eine ähnliche Alternative bei der teleologischen Interpretation der
»pragmatischen Maxime« lässt sich in der Frage nach dem zukunfts-
bezogenen Sinn des Begriffs der »Wahrheit« bei Peirce und den ande-
ren Pragmatisten feststellen. Bekannt ist hier der Unterschied zwischen
der Orientierung an der »Nützlichkeit« bei James und Dewey (bei
James sogar an der individuellen Bewährung eines religiösen Glau-

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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie

bens) einerseits und der Peirce’schen Orientierung am Begriff der »ul-


timate opinion« andererseits, das heißt der letzten, nicht mehr kritisier-
baren und daher universal gültigen Übereinstimmung der Gemein-
schaft der wissenschaftlichen Forscher. Doch ich will hier auf eine
andere, subtilere Unterscheidung bei Peirce selber hinweisen.
Peirce hat zunächst (so in dem frühen Aufsatz »The Will to Be-
lieve«) die pragmatisch relevante Wahrheitssuche nicht an dem Ziel der
»ultimate opinion«, die allem Zweifel ein Ende setzt, verständlich ge-
macht, sondern im Gegenteil, den hier vorausgesetzten universalen
Zweifel als bloßen »paper doubt« diskreditiert. Die wissenschaftlich
relevante Wahrheitssuche hat er damals am Ziel der Beseitigung der
aktuell bestehenden Dissensprobleme einer Forschergemeinschaft ver-
deutlicht.
Später hat Peirce jedoch – ähnlich wie Karl Popper – ein univer-
sales »Fallibilismusprinzip« eingeführt. Dadurch hat er alle innerzeiti-
gen Konsensergebnisse der Wissenschaftler als hypothetisch und pro-
visorisch erklärt und gleichzeitig die Wahrheitssuche prinzipiell auf die
»ultimate opinion« bezogen. Es versteht sich, dass er dadurch auch in
normativer Hinsicht die Interpretation der »pragmatischen Maxime«
im Sinne John Deweys zurückgewiesen hat. Doch wie soll man im
Rahmen des Pragmatismus Peirces spätere Orientierung an einem
universalen Zweifel und einem entsprechenden, alle Zweifel ausschlie-
ßenden Wahrheitsbegriff verstehen? Stellt sie eine Rückkehr zur
Metaphysik dar, da ja eine definitive empirische Verifikation von For-
schungsergebnissen nun nicht mehr vorgesehen ist? (Karl Popper hat
sich hier mit der These geholfen, dass ja definitive Falsifikationen im-
mer noch möglich sind, womit freilich kein definitiver, forschungsrele-
vanter Wahrheitsbegriff bestimmt ist.)
M. E. stellt der empirisch universale Gewissheitszweifel des Falli-
bilismusprinzips und der Wahrheitsbegriff des späteren Peirce (der in
seiner Semiotik eine Entsprechung in der Theorie des letzten »logi-
schen Interpretanten« der Bedeutung jedes Zeichens gefunden hat)
keine Rückkehr zur Metaphysik dar. Er stellt vielmehr, wie der Peir-
ce’sche Begriff der »Realität des Realen«, der an die Stelle des kanti-
schen Begriffs des »Ding an sich« tritt, eine innovative Orientierung an
Kants Begriff der »regulativen Ideen« dar. Schon Kant hat die neuartige
Funktion dieses Begriffes dadurch vorgeprägt, dass er ausdrücklich be-
stimmt hat, die »regulativen Ideen« dürften weder im Sinne Platons
ontologisch hypostasiert werden, noch sei in der zeitlichen Erschei-

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Karl-Otto Apel

nungswelt ihre definitive Einlösung empirisch erfahrbar und dennoch


hätten sie die Funktion von normativen »Richtmaßen« des Erkenntnis-
fortschritts. Damit hat Kant m. E. schon eine Verständnismöglichkeit
für die uns aufgegebenen potentiell unendlichen »Synthesisprozesse«
der Erkenntnis angebahnt. Diese neue Konzeption ist einerseits
schwieriger zu verstehen als Kants kategoriale Logik der Erkenntnis-
konstitution in Raum und Zeit, andererseits beseitigt sie gerade die
Schwierigkeit, die mit der Vorstellung eines definitiven Wahrheitskon-
senses in der Zeit verbunden ist. (Albrecht Wellmer hat m. E. die zweite
Schwierigkeit in seiner Kritik wieder hergestellt, indem er die notwen-
dige Erfahrbarkeit einer »regulativen Idee« tatsächlich unterstellt, das
heißt im Falle der Peirce’schen Wahrheitsidee die Einlösung des letztes
Wahrheitskonsenses in der Zeit und damit allerdings die Auflösung des
Begriffs der menschlichen Kommunikations- und Kritikprozesse. Da-
mit hat Wellmer jedoch m. E. den Sinn der regulativen Ideen, der als
»Richtmaß« allein normativ anleitend und nicht utopisch-antizipativ
ist, aufgehoben. 4) Mir scheint, dass die normative Funktion der »regu-
lativen Ideen« bei der Anwendung der »pragmatischen Maxime« der
Begriffsklärung, die für Peirces späte Philosophie durchweg maßgebend
ist, als Beitrag des Pragmatismus zu einer kritisch transformierten
Transzendentalphilosophie entscheidend ist. Sie widerspricht nicht et-
wa dem Diktum Peirces: »there is no need for transcendentalism«. Da-
mit nämlich meinte Peirce gerade nur diejenigen Teile der Kant’schen
Philosophie, die er selber durch eine semiotische Transformation der
Kategorienlehre und eine im Sinne der regulativen Ideen ohne Voraus-
setzung von »Dingen an sich« verstandene Erkenntnistheorie, das heißt
durch eine Theorie synthetischer Schlussprozesse, ersetzen wollte.
Auch im Peirce’schen Pragmatismus fehlt allerdings eine Radika-
lisierung der reflexiven Begründung der transzendentalen Erkenntnis-
theorie, wie sie in Bezug auf Kant von Hegel gefordert wurde. Dieses
Problem führt uns zur Theorie der »Universal«- bzw. »Transzenden-
talpragmatik«, wie sie in jüngster Zeit von Jürgen Habermas bzw. von
mir entwickelt wurde: von Habermas allerdings mit dem Endergebnis
der »Detranszendentalisierung« der Philosophie; von mir dagegen im
Sinne eines dritten Paradigmas der Ersten Philosophie nach der onto-

4 Albrecht Wellmer: »Der Streit um die Wahrheit. Pragmatismus ohne regulative Ide-
en«. In: Dietrich Böhler/Matthias Kettner/Gunnar Skirbekk (Hrsg.): Reflexion und Ver-
antwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M. 2003.

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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie

logischen Metaphysik und der Subjekt-Philosophie der Neuzeit. Damit


komme ich zur Begründung der Titelthese meines Vortrages.
In mehreren Aufsätzen und im ersten Band der Theorie des kom-
munikativen Handelns hat Jürgen Habermas im erweiternden Aus-
gang von G. H. Mead und von der Sprechakttheorie Austins und Sear-
les die Konzeption der »Universalpragmatik« entwickelt, die er später
auch »Formalpragmatik« nannte. Man kann sich m. E. diesen Ansatz
zunächst durchaus auch im Rahmenkontext des von mir so bezeichne-
ten dritten Paradigmas der Ersten Philosophie verständlich machen,
das heißt im Horizont des reflexiven Sprach- und Kommunikations-
aprioris einer transformierten Transzendentalphilosophie. Anderer-
seits kann man sie in ihrem weiteren Kontext auch als Fortsetzung der
Antworten auf Hegel verstehen, die zum Historischen Materialismus
führten. Ich kann dies im Folgenden nur in kritischer Konzentration
aus der Perspektive meines Themas verdeutlichen.
Ich selbst war bei der Rezeption der Habermas’schen »Universal-
pragmatik« vor allem von der Interpretation der Sprechakte im Sinne
der performativ-propositionalen Doppelstruktur beeindruckt und von
der Verknüpfung dieser Struktur mit der – auch nach Habermas –
»quasi-transzendentalen« Struktur der »Präsuppositionen« der Argu-
mentation, insbesondere von der Beziehung des performativen Teils
der Sprechaktstruktur auf die – wiederum »quasi-transzendentalen« –
»Geltungsansprüche der Rede« im Sinne der drei Grunddimensionen:
(1.) der »Wahrheit«, (2.) der subjektiv-expressiven »Wahrhaftigkeit«
und (3.) der moralischen »Richtigkeit«. Hier deutete sich für mich eine
Gesamtstruktur an, welche die reflexive Besinnung der traditionellen
Subjekt-Philosophie seit Descartes im Sinne der sprachlichen und an-
thropologischen Integration der Gesamtsicht auf die Lebenswelt ver-
tieft.
Allerdings gab es von vorneherein auch Differenzperspektiven in
meiner Habermas-Rezeption, die auf verwandte Ansätze meiner eige-
nen Entwicklung zurückgingen. Der wichtigste Differenzpunkt ergab
sich natürlich in Bezug auf die Gesamtkonzeption der »Universalprag-
matik« aus meiner nicht-empirischen Konzeption einer »Transzenden-
talpragmatik«, wie noch zu zeigen ist.
Es gab und gibt aus meiner Sicht aber auch schon Differenzper-
spektiven in Bezug auf die drei Geltungsansprüche als Präsuppositio-
nen der menschlichen Rede. So musste ich schon im Zusammenhang
mit meiner Reflexion auf die sprachlichen Voraussetzungen der Argu-

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Karl-Otto Apel

mentations-Präsuppositionen noch eine vierte Dimension der Gel-


tungsansprüche postulieren. Sie ist auch bei Habermas angedeutet,
aber m. E. in einer trivialisierten Form. Ich würde diese vierte (oder,
richtiger gesagt: erste) Dimension als »Sinngültigkeits-Anspruch« ver-
stehen.
Hier geht es m. E. nicht nur, wie Habermas erläutert, um den kon-
ventionell-linguistischen Verständigungsanspruch, der natürlich vor
allen Geltungsansprüchen der Rede eingelöst werden muss, sondern
um den argumentativ relevanten Sinn-Anspruch insbesondere der
philosophischen Rede, der gegen den »Unsinn« bzw. die »Sinnlosig-
keit« auch berühmter philosophischer Argumente zur Geltung ge-
bracht werden muss. Dieser Gesichtspunkt hat besonders in der Meta-
physikkritik – so im Logischen Positivismus, bei Wittgenstein und im
Pragmatismus von Peirce – eine Rolle gespielt; er kann aber auch phä-
nomenologisch expliziert werden.
Nehmen wir z. B. das Traumargument Descartes’. Es kann, lin-
guistisch gesehen, durchaus in verständlicher Form vorgebracht wer-
den, etwa so: »Vielleicht ist alles, was wir für real halten, nur ein
Traum.« Descartes brauchte einen Gottesbeweis, um dieses Argument
auszuräumen. Doch ein transzendentalpragmatisch-sinnkritisches Ge-
genargument könnte lauten: Wenn alles vermeintlich Reale nur ein
Traum sein soll, dann ist nur ein neues Sprachspiel eingeführt: ein
Sprachspiel, das in Ermangelung eines Kontrastes zu »Traum« in der
Praxis wohl nicht funktionieren kann. Radikaler ist insofern Wittgen-
steins Version und Widerlegung des Traumargumentes: »Das Argu-
ment ›Vielleicht träume ich‹ ist darum sinnlos, weil dann eben auch
diese Äußerung geträumt ist, ja auch das, daß diese Worte eine Bedeu-
tung haben.« 5 Diese Version rekurriert m. E. auf die Unmöglichkeit, die
transzendentalpragmatischen Präsuppositionen der Argumentation
ohne »performativen Selbstwiderspruch« zu bestreiten. Darin liegt be-
reits ein Hinweis auf das stärkste Argument der Transzendentalprag-
matik.
Ich möchte die philosophische Tragweite der Reflexion auf den
»Sinngeltungs-Anspruch« vorerst durch die folgende Vermutung il-
lustrieren: In der Subjekt- bzw. Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit
vor der sprachphilosophischen Wende – so zuletzt im Neukantianis-

5
Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit. Werkausgabe Bd. 8. Frankfurt a. M. 1984,
S. 113–257, Nr. 383.

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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie

mus – galt die »Erkenntnis-Kritik« als methodisch fundamental und


insofern als Nachfolgedisziplin der »ontologischen Metaphysik«. In
der an die sprachphilosophische Wende anschließenden Fundamental-
philosophie aber könnte noch vor der Erkenntniskritik eine transzen-
dentale pragmatische Sinnkritik – so etwa schon bei der Interpretation
der philosophischen Fragen – ihren Platz haben. Eine Dimension der
Rede vom dritten Paradigma der Ersten Philosophie wäre damit bereits
angedeutet.
Doch ich möchte zuvor noch eine Differenzperspektive in Bezug
auf den moralischen Richtigkeitsanspruch in der Habermas’schen Uni-
versalpragmatik andeuten. Ich kann an dieser Stelle nicht auf die um-
fangreiche und viel diskutierte Problematik der Diskursethik, insbe-
sondere in ihrem aktuellen Zusammenhang mit Recht und Politik,
eingehen. 6 Ich muss aber wenigstens diejenigen Aspekte kurz diskutie-
ren, die m. E. den Platz der »Diskursethik« im Rahmen eines neuen
Paradigmas der Ersten Philosophie betreffen. Dazu gehört an erster
Stelle die Letztbegründung der Diskursethik einschließlich ihrer mög-
lichen Anwendung aus der Perspektive der Reflexion auf den »mora-
lischen Richtigkeitsanspruch« jeder rationalen Diskussion. Ich komme
damit wiederum zu einem problematischen Punkt in der Haber-
mas’schen »Universalpragmatik« – oder vielleicht, genauer gesagt, im
späteren Begriff der »Formalpragmatik«: Habermas hat nämlich, wenn
ich recht verstehe, die zuerst vertretene Begründung der Ethik in einer
Diskurs-Präsupposition aufgegeben und die hier relevante normative
Relevanz des von uns anzuerkennenden Diskursaprioris auf die mora-
lisch neutrale Funktion einer »formalen« Diskursbedingung reduziert. 7
Wäre eine solche Reduktion möglich, so wäre damit die Möglich-
keit einer rationalen Begründung der Moral überhaupt aufgegeben,
denn nur die Struktur des argumentativen Diskurses selbst ist in jeder
rationalen Diskussion ein nicht hintergehbares und daher unbestreit-
bares Apriori, wie noch genauer zu erläutern ist. 8
Ich muss an dieser Stelle kurz auf eine Diskussion über die Mög-

6 Dazu Jens-Peter Brune: Moral und Rechte. Zur Diskurstheorie des Rechts und der
Demokratie von Jürgen Habermas. Freiburg/München 2010.
7 Dazu Apel: »Auflösung der Diskursethik? Zur Architektonik der Diskursdifferenzie-

rung in Habermas’ ›Faktizität und Geltung‹«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Er-


probung des transzendentalpragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998, S. 727–837.
8
Vgl. jetzt Böhler: Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der
sprachpragmatischen Wende. Freiburg/München 2013.

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Karl-Otto Apel

lichkeit philosophischer Letztbegründung eingehen, die ich in den


60er-Jahren mit dem Popperianer Hans Albert geführt habe. 9 Es ging
hier um die These Alberts, dass eine Letztbegründung in der Philoso-
phie prinzipiell unmöglich sei, da sie an einem Trilemma scheitere:
Entweder (1.) führe sie in einen unendlichen Regress, weil jede Prä-
misse selbst wieder zu begründen ist; oder (2.) in einen logischen Zir-
kel, dann nämlich, wenn die zu begründende These selbst schon als
Prämisse vorausgesetzt wird, oder schließlich (3.) in ein bloßes Dogma,
wenn die letzte Prämisse als evident und somit nicht begründungs-
bedürftig behauptet wird.
Ich selbst habe Alberts Trilemma als solches niemals bestritten.
Bestritten habe ich allerdings die Voraussetzungen Alberts hinsichtlich
des philosophisch relevanten Begründungsbegriffes. Albert setzt näm-
lich – mit der philosophischen Tradition – einen deduktiven oder auch
weiter gefassten Begriff der Ableitung aus etwas Anderem voraus.
Stattdessen habe ich von vorneherein einen reflexiven Begründungs-
begriff vorausgesetzt, dessen logische Pointe in der Vermeidung des
performativen Selbstwiderspruches der Argumentation besteht. Wolf-
gang Kuhlmann, der diese Pointe und ihre philosophischen Kon-
sequenzen zuerst aufgegriffen hat, hat dafür den Terminus der »strik-
ten Reflexion« eingeführt. 10
Dieser Begründungsbegriff setzt seinerseits voraus, dass der Phi-
losoph erkennt und nicht vergisst, dass er als kritischer Beurteiler jed-
weder Position in seiner aktuellen Argumentation stets eine höhere
Reflexionsstufe voraussetzt, die als solche nicht hintergehbar und da-
her mögliche Basis universal-gültiger Argumente ist. Dieses »strikt re-
flexive« Argument war offenbar auch die Basis von Hegels Kant-Kritik
im Namen der »absoluten Reflexion«; und es zeigt sich heute, dass
dieses Argument geradezu die Grenze zwischen den drei Hauptpara-
digmen der Ersten Philosophie kennzeichnet. Denn die logische Argu-
mentationsvoraussetzung Hans Alberts und der meisten anderen Kri-
tiker der Möglichkeit einer philosophischen »Letztbegründung« geht

9 Vgl. Apel: »Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer trans-
zendentalen Sprachpragmatik. Versuch einer Metakritik des ›kritischen Rationalis-
mus‹«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmati-
schen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998, S. 33–79.
10 Vgl. Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung. Freiburg i. Br. 1985; vgl. auch

ders.: Unhintergehbarkeit. Studien zur Transzendentalpragmatik. Würzburg 2009 so-


wie Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. Frankfurt a. M. 1985,.

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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie

offenbar auf die ontologischen und logischen Voraussetzungen des ers-


ten Paradigmas der Ersten Philosophie bei Aristoteles zurück. Die re-
flexionstheoretische Perspektive der Letztbegründung in ihrer noch
bewusstseinsphilosophischen Pointe geht dagegen auf Descartes und
das zweite Paradigma der Ersten Philosophie zurück. Und die kom-
munikationstheoretische und strikt reflexive Perspektive der Letzt-
begründung geht auf das dritte Paradigma zurück.
Das dritte Paradigma der Ersten Philosophie, also die Transzen-
dentalpragmatik, liefert nun auch den Horizont für die Letztbegrün-
dung der Diskursethik; denn die »moralische Richtigkeit« der
Argumentation bezieht sich reflexiv nicht allein auf das je meinige
Bewusstseinsapriori – das nach Husserl, dem letzten Vertreter des
zweiten Paradigmas, einen »transzendentalen« bzw. »methodischen
Solipsismus« impliziert 11 –, sondern auf die dialogische Reziprozität
der intersubjektiven Verständigung zwischen Argumentierenden.
Ohne diese Voraussetzung, die mit der Sprache immer schon gegeben
ist, ist ein Gedanke, ist so auch die reflexive Einsicht in das cogito ergo
sum, nicht denkbar. Diese Voraussetzung aber ist nicht moralisch neu-
tral, sondern impliziert für die nicht-hintergehbare transzendental-
pragmatische Reflexion prinzipiell die universale Gleichberechtigung
und – nicht zu vergessen – die universale Mitverantwortung aller mög-
lichen Teilnehmer einer im Prinzip nicht begrenzten Argumentations-
gemeinschaft. 12
An dieser Stelle muss ich auf das Verhältnis von Letztbegründung
und Anwendung der Diskursethik kurz eingehen, um eine umstrittene
Schwierigkeit zu beseitigen. Man hat als entscheidendes Argument ge-
gen die Möglichkeit der Letztbegründung der Diskursethik die Mög-
lichkeit der Diskursverweigerung angeführt. Dieses Argument betrifft
aber nicht die Begründung, sondern allein die Anwendung der Ethik.
Auf der Reflexionsebene der philosophischen Begründungsargu-
mentation kann das – an sich sehr ernst zu nehmende Verweigerungs-
argument – keine Sinngeltung haben, da es ja selbst ein Argument ist,
das im Diskurs gelten soll. Auf der Ebene der Anwendung der Diskurs-

11 Vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hrsg. von

Stephan Strasser (Husserliana, Bd. I). Den Haag 21963.


12 Vgl. Apel: »Diskursethik als Ethik der Mitverantwortung vor den Sachzwängen der

Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft«. In: ders./Holger Burckhart (Hrsg.): Prin-
zip Mitverantwortung. Grundlage der Ethik und Pädagogik. Würzburg 2001, S. 69–95.

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Karl-Otto Apel

ethik, die natürlich bei der Letztbegründung schon vorgesehen ist, ist
dagegen eine konkrete geschichtlich bedingte Reziprozitäts-Situation
zu berücksichtigen: Eine Situation, in der alle möglichen Arten der
moralischen Kooperation und der Nichtkooperation möglich sind, so –
in grober Unterscheidung –: traditionell moralische oder diskursive
Verständigung über Normen, partiell moralische oder strategische
Verständigung durch Verträge, und schließlich auch Verweigerung der
Verständigung und möglicherweise Ersatz durch gewaltsame Aus-
einandersetzungen.
Angesichts dieser insoweit voraussehbaren Anwendungssituatio-
nen der Diskursethik muss nun die transzendentalpragmatische Letzt-
begründung eine grundlegende Unterscheidung zwischen zwei Teilen
der Ethik einführen, die ich Teil A und Teil B genannt habe.
Geht man, wie das zumeist in der metaethischen Kant-Nachfolge
geschieht, von der Voraussetzung aus, dass die Diskursethik eine rein
deontologische Normenbegründungsethik ohne teleologische Dimen-
sion sein soll, dann ergibt sich zunächst die Konsequenz, dass ihr
Grundprinzip gewissermaßen auf einer kommunikationsbezogenen
und dialogischen Entsprechung zum »kategorischen Imperativ« von
Kant beruhen muss. Etwa so: Diejenigen moralischen Normen sind
universal gültig, die von allen Mitgliedern einer unbegrenzten Kom-
munikationsgemeinschaft aufgrund einer idealen argumentativen
Verständigung akzeptiert werden können. Dies wäre das formale
Grundprinzip von Teil A der Diskursethik. Geht man aber von der an-
gedeuteten Anwendungssituation der Diskursethik aus, so ist der Teil
A durch einen Teil B zu ergänzen, dessen Grundprinzip nicht rein de-
ontologisch, sondern das einer geschichtsbezogenen Verantwortungs-
ethik sein muss. Das bedeutet nicht, dass das Prinzip von Teil A
schlechthin ungültig wird. (Dies ist allerdings eine – selten offen aus-
gesprochene – Meinung von Vertretern der Politik und der Wirtschaft.
Sie besagt etwa: Moral ist Privatsache, ähnlich wie Religion; sie gehört
jedenfalls nicht in den Anwendungsbereich solchen Handelns, dessen
Effektivität auf der Anwendung reziprok-instrumenteller, also strate-
gischer Rationalität beruht. Machiavelli hat das klar ausgesprochen. Es
ist allerdings nicht zu bestreiten, dass strategisches Handeln in den hier
gemeinten Lebensbereichen eine unentbehrliche Rolle spielt, das heißt:
nicht nur im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, sondern auch in der
Selbstverteidigung, und darüber hinaus auch beim Schutz Anderer,

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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie

z. B. in der Verteidigung der Menschenrechte. (Es gibt immer noch »ge-


rechte Kriege«.)
Aber diese letzte Bemerkung zeigt schon, dass in Teil B der Ethik,
also in der geschichtsbezogenen Verantwortungsethik, der Teil A seine
Gültigkeit nicht völlig verliert. Er ergänzt vielmehr den deontologi-
schen Teil der Ethik durch einen zugleich teleologischen und situati-
onshermeneutischen Teil. Das höchste deontologische Prinzip von Teil
A der Diskursethik, der universale Konsens einer idealen Kommunika-
tionsgemeinschaft, wird hier zur »regulativen Idee«.
Auch bei Kant kann diese Konzeption in vielen nicht rein deonto-
logischen Beiträgen zur politischen Moral belegt werden. So kann vor
allem das »Reich der Zwecke«, in dem schon das transzendental-solip-
sistische Apriori des »Bewusstseins überhaupt« durch das Apriori einer
ideal-reziproken Kommunikationsgemeinschaft ersetzt ist, nicht nur
als »intelligible«, also metaphysisch-transzendente Konzeption, son-
dern auch als »regulative Idee« des moralischen Fortschritts in der Ge-
schichte verstanden werden. Kant hat diese Fortschrittsidee der Sache
nach mehrfach verteidigt – z. B. durch das interessante Argument, die
Beweislast gegen die Möglichkeit des Fortschritts liege bei den Bestrei-
tern dieser Möglichkeit; und solange dieser negative Beweis nicht er-
bracht sei, seien wir verpflichtet, die Realisierung des Fortschritts für
möglich zu halten und uns dafür einzusetzen. 13
Besonders wichtig war diese Perspektive für Kant, wenn es um die
Realisierung der Idee des Völkerrechts ging, die für ihn Vorrang vor
der Idee des auf den souveränen Nationalstaat begrenzten Rechts hatte,
sofern sie allein der Konzeption des »ewigen Friedens« entsprach. Da
Kant die Realisierung eines Weltrechtsstaats für unmöglich und sogar
für eine Gefahr für die Freiheit hielt, schlug er statt dessen das Projekt
eines »Völkerbundes« vor, an dem wir uns zur Zeit – nach dem Schei-
tern der Genfer Konzeption in den 1930er-Jahren – in der UNO zum
zweiten Mal abarbeiten.
Die von mir soeben skizzierte transzendentalpragmatische Letzt-
begründung der Ersten Philosophie im dritten Paradigma wurde je-

13 Vgl. Immanuel Kant: Ȇber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein,
taugt aber nicht für die Praxis«, Teil III: »Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im
Völkerrecht«. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Akademie der Wissen-
schaften. Berlin 1900 ff., Bd. VIII, S. 309 f.; ferner: ders.: Kritik der reinen Vernunft.
Kant’s Gesammelte Schriften Bd. III, S. 15–31 und S. 341–385.

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Karl-Otto Apel

doch sowohl mit Bezug auf die theoretische als auch die praktische Phi-
losophie in Frage gestellt, weil sie in ihrer möglichen Anwendung von
dem von mir eingangs eingeführten Konzept der »regulativen Ideen«
abhängig ist. Schon Kant hat diese schwer verständliche Konzeption
dadurch charakterisiert, dass sie weder platonisch hypostasiert noch
empirisch verifizierbar gedacht werden kann, doch ich habe gerade die-
se Konzeption auf die m. E. allein mögliche rezeptive Interpretation des
normativen Pragmatismus (»Pragmatizismus«) des späten Peirce ange-
wandt. Dagegen ist jedoch in der jüngsten Phase der durch den Prag-
matismus geprägten Analytischen Philosophie von maßgeblichen Den-
kern – wie z. B. Putnam, Davidson und Rorty und auch, wie ich
verstehe, von Wellmer und Habermas – ein scheinbar definitives Ar-
gument vorgebracht worden. (Ich beziehe mich im Folgenden auf die
Pointe des Arguments bei Davidson.) Gibt man zu, dass jeder Gewiss-
heitsanspruch, der mit einem faktischen Wahrheitskonsens der For-
schergemeinschaft verbunden wird, durch den Fallibilismusvorbehalt
in Frage gestellt wird, so scheint dieser Vorbehalt auch die Peirce’sche
Gleichsetzung der Wahrheit mit der »ultimate opinion« (d. h. mit der
nicht mehr kritisierbaren Meinung einer unbegrenzten Forscher-
gemeinschaft) aufzuheben, da die »ultimate opinion« nicht mehr von
einer realen Kommunikationsgemeinschaft menschlicher Forscher in
einem Diskurs erreicht werden könnte. Das Ziel der regulativen Idee
der Wahrheit wäre einerseits zu weit weg für eine Diskursidee der
Wahrheit, andererseits aber wäre jeder faktische Wahrheitskonsens
einer Forschungsgemeinschaft in der Zeit zu nahe an der Möglichkeit
einer nachfolgenden Infragestellung.
Dieses Argument scheint tatsächlich dem postmetaphysischen,
d. h. undogmatisch begründbaren Wahrheitsanspruch der Philosophie
jeden Sinn zu nehmen. (Es hat in der Tat bei Rorty zur Negation aller
theoretischen und praktischen Geltungsansprüche der Philosophie und
zu ihrer pragmatischen Ersetzung durch das literarisch-rhetorische
Konzept einer »edifying conversation« geführt.) Doch diese – heute in
der öffentlichen Einschätzung der Philosophie überhaupt durchaus na-
heliegende – Suggestion ist nur dann verständlich, wenn die – von
Hegel so genannte – »absolute Reflexion«, die mit jeder prinzipiellen
Selbstkritik am philosophischen Erkenntnisanspruch automatisch ver-
bunden ist, vergessen wird. Denn der in dieser Reflexion performativ
implizierte Wahrheitsanspruch ist ja zugleich unfehlbar (da Bedingung
der Möglichkeit jeder widerspruchsfreien philosophischen Argumenta-

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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie

tion) und zum realen Diskurs in der Zeit gehörig. Hier ist also der
Dualismus von einerseits empirisch erfahrbaren, andererseits prinzi-
piell bezweifelbaren Wahrheitskonsensen der Erkenntnis immer schon
überwunden. Zugleich wird deutlich, dass in diesem nicht hintergeh-
baren Ausgangspunkt philosophischer Reflexion der normative Maß-
stab als Zielpunkt der regulativen Idee der diskursiven Wahrheitssuche
schon festgelegt ist. So lässt sich m. E. das Zentralproblem der He-
gel’schen Philosophie: die dialektische Vermittlung zwischen der Re-
konstruktion (und aufgegebenen Fortsetzung) der kontingenten Ge-
schichte des »objektiven Geistes« und der reflexiven Selbstgewissheit
des »absoluten Geistes« (zumindest als transzendentalpragmatische
Rahmenkonzeption einer zugleich theoretisch wie praktisch verbind-
lichen Grundlegung der Ersten Philosophie und damit indirekt auch
der Wissenschaften) begreifen. (Der Unterschied und Zusammenhang
zwischen der rein theoretischen und der praktischen Dimension würde
dann darin liegen, dass im letzteren Fall – z. B. im Fall der Erforschung
der Realität der menschlichen Kultur, die von ihrer Erforschung mit-
konstituiert wird – die praktische, z. B. ethische Bewertung der Tat-
sachen mitberücksichtigt werden müssen.)
So kann man m. E. dem provokativen und berüchtigten Satz He-
gels: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist
vernünftig« einen – freilich immer auch von der zukünftigen Praxis
abhängigen – Sinn abgewinnen. Die nachhegelschen Philosophien des
19. und 20. Jahrhunderts haben das skizzierte Zentralproblem nicht
gelöst. Heute ist aber seine reflexionsbezogene Struktur (insbesondere
der Unterschied zwischen dem weltweiten Diskurs über die Ergebnisse
der empirischen Sozialwissenschaften und den – nach wie vor a priori
gültigen – Einsichten philosophischer Reflexion, die im Gegensatz zur
Psychologie m. E. ein zentraler Bestandteil einer erweiterten Transzen-
dentalphilosophie sein muss) nicht nur vergessen, sondern geradezu
aus dem Bewusstsein verdrängt. Daran scheint auch das sprach- und
kommunikationsbezogene Paradigma der Philosophie Mitschuld zu
tragen, das verständlicherweise von vielen sogar mit dem neuen Para-
digma der Ersten Philosophie gleichgesetzt wird. Doch m. E. ist diese
Gleichsetzung nur dann – und dann allerdings – berechtigt, wenn sie
nicht »detranszendentalisiert« wird, sondern in der hier angedeuteten
Form reflexionsbezogener Transzendentalpragmatik thematisiert
wird.

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Diskussion

Diskussion
Moderation: Smail Rapic

Smail Rapic: Frau Heller, Sie haben in Ihrem Vortrag betont, dass Sie
sich seit langem nicht mehr als marxistische Philosophin verstehen.
Hat der Historische Materialismus für Sie noch eine philosophische
Bedeutung? Hat er eine gesellschaftspolitische Bedeutung?

Ágnes Heller: Der Historische Materialismus steht auf vier Füßen.


Der erste Fuß ist das große Narrativ der Weltgeschichte, die voran-
schreitet. Der zweite Fuß ist das Produktionsparadigma: Die Produk-
tion ist die unabhängige Variable der geschichtlichen Entwicklung. Der
dritte Fuß ist die Arbeitswerttheorie. Der vierte Fuß ist die welthistori-
sche Rolle des Proletariats. Diese Füße sind allesamt zerbrochen. Wir
glauben kaum mehr an große Narrative, an einen universalen gesell-
schaftlichen Fortschritt. Wir akzeptieren das Paradigma der Produktion
nicht mehr. Wir sehen heutzutage keine welthistorische Aufgabe des
Proletariats. Am schlechtesten fährt die Arbeitswerttheorie. Wir haben
heute ein ökologisches Bewusstsein und können nicht mehr verstehen,
wie jemand Mitte des 19. Jahrhunderts sagen konnte, dass uns die Na-
tur alles umsonst liefert, dass nur Arbeit Wert schafft und die Natur
überhaupt keinen Wert hat bzw. keinen Wert repräsentiert.
Wenn wir uns jedoch anschauen, was Marx in empirischer Hin-
sicht, unabhängig von diesen vier Füßen, über den Kapitalismus gesagt
hat, so stellt sich heraus, dass seine Prophezeiungen korrekt waren. Er
sprach über die Konzentration und Zentralisierung des Kapitals, über
die Kapitalisierung der Agrikultur, über die Globalisierung des Kapita-
lismus: All das ist eingetreten – ganz im Gegensatz zu den Vorher-
sagen, die sich aus den vier Füßen seiner Theorie ergaben. Es kam nicht
zum Endkampf zwischen den Produktivkräften und den kapitalisti-
schen Produktionsverhältnissen; zur Revolution des Proletariats. Marx
hat also auf der empirischen Ebene in vielem Recht behalten, dagegen

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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext

wurden seine Grundannahmen auf der theoretischen Ebene, auf der er


die Fakten organisierte, falsifiziert.
Dies ist allerdings für die Frage nach der philosophischen Bedeu-
tung von Karl Marx nicht ausschlaggebend. In der Philosophie geht es
nicht um Tatsachenwahrheiten – andernfalls würde niemand mehr Pla-
ton oder Leibniz lesen, denn es gibt weder Ideen noch Monaden. Wenn
man sich Marx als Philosophen nähert, kann man die Tatsachenwahr-
heiten vergessen. In der Philosophie besteht die Wahrheit in der Tiefe
des Gedankens, in der Inspiration, der Botschaft, die sie dir gibt, mit der
du etwas anfangen kannst. Eine solche Botschaft, eine solche Inspira-
tion findet man auch bei Marx. In diesem Sinne wird er lebendig blei-
ben und immer von neuem wiederentdeckt werden, obwohl die vier
Füße seiner Theorie zerbrochen sind. Ich meine hiermit nicht den Mar-
xismus. Meiner Meinung nach – wahrscheinlich sehen das viele andere
genauso – ist die Zeit der Ismen vorbei. Ausdrücke wie »Strukturalis-
mus« oder »Funktionalismus« sind heutzutage bloße Namen, die wir
unserer eigenen Philosophie geben. Auch in Bezug auf Karl Marx
hängt alles davon ab, ob wir seine philosophische Denkart in einer
neuen, eigenen Form ausdrücken können.

Arnim Regenbogen (Universität Osnabrück): Ich habe eine Frage zu


den intersubjektiven Voraussetzungen der Kommunikation, über die
Jürgen Habermas, Ágnes Heller und Frau Kreide gesprochen haben.
Ich spitze es mal auf die Formulierung zu, die Karl-Otto Apel in seinem
Vortrag gewählt hat: Die Intersubjektivität der Kommunikation kon-
zentriert sich nach seiner Meinung auf den normativen Konsens, der
zwischen Individuen hergestellt wird. Die Frage ist, warum die Inter-
subjektivität auf die normative Ebene beschränkt wird, bei der die
Kommunikation nur zum Zwecke der Aufstellung von Regeln, Geset-
zen und dergleichen geführt wird – wo es doch die viel umfassendere
Kommunikation über Werte gibt. Der Unterschied zwischen der nor-
mativen Orientierung und der Wertorientierung ist der, dass normati-
ve Kriterien ausschließlich die des Gebotenen, des Erlaubten und des
Verbotenen sind, während im riesigen Spektrum des Erlaubten dem-
gegenüber umfassende Kommunikationen stattfinden, nämlich über
das, was als das Bessere dem Schlechteren vorzuziehen ist. Brauchen
wir die Einschränkung der Thematik der Intersubjektivität auf das Nor-
mative?

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Diskussion

Ágnes Heller: Es geht um die intersubjektive Voraussetzung der


Kommunikation. Ich glaube, wir brauchen das Wort »intersubjektiv«
nicht. Wir sind in eine Welt hineingeboren, wo es Normen gibt, wo
man eine Alltagssprache spricht, wo man als ein Kleinkind die Alltags-
sprache erlernt, wo man lernt, was die Gewohnheiten und die Normen
der Gesellschaft sind. Alle Gewohnheiten beinhalten Normen. Im All-
tag differenziert man zwischen wahr und falsch, gut und schlecht, ge-
recht und ungerecht. Was den Normen einer Gesellschaft entspricht,
wird normalerweise »recht« und »gut« genannt, was ihnen wider-
spricht, wird »schlecht«, »falsch« oder »hässlich« genannt, d. h. die nor-
mative Vorbedingung existiert in der Gesellschaftlichkeit unserer Exis-
tenz. Ich glaube aber, dass wir nicht über Intersubjektivität sprechen
sollten, wenn wir vom In-der-Welt-Sein ausgehen. In diesem Sinne
stimme ich Heidegger zu. Wir sind in eine Welt hineingeworfen und
wir verstehen uns als In-der-Welt-Sein. Dies besagt: Wir sind in eine
konkrete Welt hineingeboren, die verschiedene konkrete Normen, ver-
schiedene Werte enthält. In diesem Zusammenhang muss man das
Wort »intersubjektiv« nicht benutzen. Der Begriff »intersubjektiv« ist
eine postcartesianische Konzeption: Nach dem »Subjektiven« brauchen
wir das »Intersubjektive«. Tatsächlich brauchen wir »das Intersubjekti-
ve« jedoch nicht. Warum? Wir sind immer schon intersubjektiv in dem
Sinne, dass wir uns Normen und Gesellschaftliches aneignen. Die Nor-
men beengen oder erweitern die Möglichkeit der Kommunikation.
Wenn es zu Krisen kommt, kann man diese Normen in Frage stellen.
Man kann sich hierbei aber nicht damit begnügen zu sagen: »Diese
Normen sind schlecht, weil sie schlecht sind.« Wir müssen uns auf eine
andere Autorität berufen. In alten Zeiten berief man sich auf Gott:
»Gott will das nicht, erlaubt das nicht« usw. Heute können wir uns
auf Werte berufen, insbesondere auf den Wert der Freiheit: »Dies ist
schlecht, weil es uns unserer Freiheit beraubt«, »unserer Lebensmög-
lichkeiten beraubt«. Mittels dieser Grundwerte kann man die beste-
henden Normen kritisieren, auch verwerfen; das geschieht in allgemei-
nen Krisenperioden. In der Philosophie passiert das immer. Das ist doch
die Logik der Philosophie, stets zu sagen: Was Ihr behauptet, ist nur
Eure Meinung, etwas anderes ist wahr. Was Ihr sagt, ist nicht das wahr-
haft Schöne, das Schöne ist etwas anderes. Die Philosophie operiert mit
dieser dynamischen Konzeption. Wir verwerfen einige Normen bzw.
Werte oder interpretieren einige Normen bzw. Werte neu. Ich möchte

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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext

nochmals betonen, dass das Wort »intersubjektiv« hier überflüssig ist.


Es macht keinen Unterschied, ob man es verwendet oder nicht.

Micha Brumlik (Universität Frankfurt a. M.): Frau Heller, Herr Apel,


ich finde es elektrisierend, Sie hier nebeneinander sitzen zu sehen. Jür-
gen Habermas hat in der Diskussion mit William Outhwaite und Man-
fred Baum den Satz Hegels zitiert, Philosophie sei »ihre Zeit in Ge-
danken erfasst«. Sie haben das 20. Jahrhundert intensiv – im Guten
wie im Schlechten – durchlebt: im Zweiten Weltkrieg, im Kalten Krieg,
nach dem Zusammenbruch des sogenannten »real existierenden Sozia-
lismus«. Ich hoffe, es ist nicht indiskret, wenn ich Sie beide frage, wie
die Erfahrungen dieses 20. Jahrhunderts Ihre philosophischen Motive
mitgeprägt haben. Ich möchte das mit einer konkreten Frage verbin-
den: Wie haben Sie den ungarischen Aufstand von 1956 erlebt? Und
wie haben Sie ihn philosophisch und politisch gedeutet?

Ágnes Heller: Ich glaube, Hegel hatte recht. Das mag etwas merkwür-
dig klingen, man kann aber sagen, dass ich einverstanden bin. Philoso-
phie ist immer auch ihre Zeit, ihr Zeitalter in Gedanken erfasst. Die
Philosophen fassen ihr Zeitalter aber in ganz verschiedene Philo-
sophien, d. h. zwei Philosophien sind nie einander gleich. Wenn sie
wesentlich sind, wenn sie wirkliche Philosophie sind, so drückt jede
denselben Zeitgeist in ihrer eigenen Weise aus. Die eigenen Lebens-
erfahrungen sind von großer Bedeutung für die Art und Weise, in der
man eine Zeit, einen Zeitgeist in der Philosophie ausdrückt. Die unga-
rische Revolution von 1956 hat mein Denken selbstverständlich beein-
flusst. Aber ich glaube nicht, dass solche konkreten geschichtlichen Er-
eignisse stets in einer direkten Weise auf die Philosophen Einfluss
haben. Sie können dies auch auf indirekte Weise tun. Es gibt in der
Tat so etwas wie den Zeitgeist – zumindest in einem allegorischen Sin-
ne. Der Geist verändert sich. Ich war erstaunt, als sich herausstellte,
dass die Entwicklung, die meine Gedanken in Ungarn von den 50er-
bis zu den 70er-Jahren nahmen, derselbe Weg war, den die französi-
schen Philosophen, die ich überhaupt nicht kannte, durchgemacht ha-
ben. Das war eben der Zeitgeist. Man geht durch dieselbe Transforma-
tion, aber in verschiedener Weise. Philosophie ist eine persönliche
Sache. 1956 war für mich ein großes Ereignis. Zuvor sprach ich über
den Dialektischen Materialismus, danach nie mehr. Das steht in keinem
direkten Verhältnis zu der Revolution, indirekt hat es aber etwas damit

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Diskussion

zu tun. Ich sagte mir: »Etwas stimmt mit diesem ganzen Gedanken
nicht«, deshalb habe ich diese Terminologie weggelassen; aber das ist
kein direkter, sondern ein indirekter Einfluss der Revolution.

Smail Rapic: Das war ja eine Frage auch an Sie, Herr Apel: Gilt der Satz
Hegels, die Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken erfasst, auch für Ihre
Philosophie?

Karl-Otto Apel: Dieser Satz gilt für mich nur mit einigen Änderun-
gen. Hegel hat die absolute Reflexion, das Zu-sich-Kommen dieser Re-
flexion im Laufe des Ganzen thematisiert. Das Ganze der Wirklichkeit
sollte vernünftig sein und die Vernunft sollte wirklich sein – und das
kann sich ja nur auf das Ganze beziehen. Er hat dann versucht, das in
kleine Münze zu übersetzen: Zwischen der absoluten Reflexion und
den kontingenten Details der Geschichte eine Brücke zu schlagen; das
ist das riesige Projekt seines Lebens gewesen, an dem er – das muss
man schon sagen – gescheitert ist. Die erste groß durchgeführte Ge-
schichtsphilosophie – das konnte natürlich nicht befriedigend ausfal-
len. Er soll jeden Morgen die englischen Zeitung gelesen haben, um
sich darüber zu informieren, was in Großbritannien an Neuem passier-
te und wie sich das zu seiner Rechts- und Staatsphilosophie verhielt,
obwohl er doch eigentlich nicht erwarten konnte, dass die List des
Weltgeistes seinen Satz, das Vernünftige sei wirklich und das Wirk-
liche vernünftig, jetzt Schritt für Schritt realisieren würde. Aber das
ist jetzt nicht entscheidend. Was Sie, Frau Heller, gerade gesagt haben,
ist allerdings für mich sehr wichtig. Um mit dem Wort »Intersubjekti-
vität« anzufangen: das ist ein ganz zentraler Begriff. Er zeigt nämlich,
wenn man ihn ernst nimmt und ihm seinen Platz in der Philosophie
unserer Gegenwart gibt, dass die gesamte Philosophie der Neuzeit eine
Subjektphilosophie war, die die Intersubjektivität, die bereits mit dem
»ich denke«, dem »ego cogito« gegeben ist, nicht verstanden, nicht be-
rücksichtigt hat. Sie war eine Philosophie des methodischen Solipsis-
mus. Am schärfsten hat das Husserl zum Ausdruck gebracht. Er sagte,
ein redlicher Denker habe mit dem methodischen Solipsismus zu be-
ginnen und erst dann zu zeigen, wie es zur Intersubjektivität kommt.
Husserl hat dieses Programm jedoch nicht einlösen können. Im Grunde
ist er der letzte Klassiker des zweiten Paradigmas der Ersten Philoso-
phie geblieben. Dies kommt auch in seiner Evidenztheorie der Wahr-
heit zum Ausdruck. Dass »Wahrheit« die Erfüllung unserer Intentio-

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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext

nen betrifft, setzt dieselbe sprachliche Welterschließung voraus. Diese


Voraussetzung muss jedoch problematisiert werden; daher ist die Evi-
denztheorie der Wahrheit unzureichend. Auch der Satz, der redliche
Denker müsse mit dem methodischen Solipsismus anfangen, ist ver-
fehlt. Das »ich denke« könnte gar nicht gefunden und verständlich ge-
macht werden, wenn die Sprache nicht schon berücksichtigt wäre. Es
gehört zur sogenannten sprachphilosophischen Wende, dass einem klar
wird, dass Descartes’ »cogito ergo sum« die Intersubjektivität, das Dia-
logische, die Sprache bereits voraussetzt. Dies im Einzelnen auszu-
arbeiten, ist in meinen Augen die Hauptaufgabe der Philosophie un-
serer Zeit.

Smail Rapic: Herr Apel, der zweite Teil der Frage von Herrn Brumlik
hat uns neugierig gemacht: Gab es auch zu Ihrem Philosophieren kon-
krete gesellschaftspolitische Anstöße, gab es politische Ereignisse, die
Sie philosophisch beeinflusst, bewegt, vielleicht auch motiviert haben?

Karl-Otto Apel: Das kann ich nicht so direkt beantworten. Natürlich


gab es solche Anstöße. Der riesige Anstoß war selbstverständlich das
Ende des Krieges, die große Katastrophe – ich war fünf Jahre Soldat –
und die völlige Neuausarbeitung des In-der-Welt-Seins, so könnte man
sagen, die uns als Studenten aufgegeben war. Dennoch wäre es irgend-
wie falsch zu sagen, dass ein bestimmter politischer Anstoß für die
Ausarbeitung meiner Philosophie maßgebend gewesen sei. Das vollzog
sich eher indirekt. Leitend war der Wille, alles von vorne zu denken,
vom Punkt Null aus – und der Glaube, dass die Philosophie der richtige
Weg dazu sei, eine pedantische Philosophie, die sich selber ernst
nimmt, die nicht bei der edifying conversation endet – um mit Rorty
zu reden –, sondern Geltungsansprüche erhebt und verteidigt, solange
das irgend möglich ist. Dies führt zum Problem von Werten und Nor-
men. Ich denke, dass diese beiden Begriffe bis in die letzten Vorausset-
zungen des Denkens und des Argumentierens hineinreichen. Hierbei
ist ein Unterschied zu berücksichtigen. Die Werte sind von vornherein
auf eine gewisse Relativität angelegt: Es kann sich z. B. um die Werte
meiner Berufswahl handeln; es können meine Werte sein oder die Wer-
te einer Kultur, eines Volkes usw. Aber auch wenn ich sie so auffasse,
unterliegen sie einer Kritik aus der Sicht universaler Normen. Diese
kann man nach meiner Überzeugung letztbegründen. Man kann nicht
die Werte letztbegründen, man kann aber durchaus die Negation, das

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Diskussion

Abschneiden von bestimmten Werten aus der Sicht der universalen


Normen als unangemessen beurteilen.

Georg Siegmann (Universität Wuppertal): Im Anschluss an das eben


von Herrn Apel Gesagte habe ich eine Frage an ihn und Frau Heller
zugleich. Wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie beide ein
drittes Paradigma nach dem griechischen und dem neuzeitlichen vor-
geschlagen: Herr Apel die Transzendentalpragmatik und Frau Heller
die Daseinsanalyse als fundamentale Disziplin. Einmal geht es um Gel-
tungsansprüche, das andere Mal um das In-der-Welt-Sein. Ich würde
Sie beide gerne fragen: Was ist das Verbindende und was ist das Tren-
nende dieser Ihrer beider philosophischen Grundansichten?
Was ist das, was Ihre Transzendentalpragmatik, Herr Apel, oder
was die Transzendentalpragmatik überhaupt trennt von der Daseins-
analyse Heideggers, auf die sich Frau Heller bezieht (nicht genau im
Sinne Heideggers, sondern in dem freien Sinne, in dem Frau Heller sie
vertritt)? Sie sagen beide, dass es ein Drittes nach der Kosmologie der
Griechen und der erkenntniskritischen Einstellung, der Subjekt-Ob-
jekt-Thematik der Neuzeit gibt – und ich frage, ob es ein Verbindendes
zwischen diesen beiden neuen »dritten« Paradigmen gibt? Ist dann
nicht das Verbindende das Entscheidende? Vielleicht die Sprache, viel-
leicht der Geltungsanspruch? Oder gibt es mehr noch ein Trennendes,
etwas, was also die Transzendentalpragmatik definitiv scheidet von
Heideggers Perspektiven auf Sein und Zeit? Das würde ich gerne von
Ihnen beiden erklärt haben.

Karl-Otto Apel: Ich will versuchen, das in Kürze zu erklären, obwohl


es ein kompliziertes Thema ist. Ich habe meine Doktorarbeit über
Heidegger geschrieben und war damals ein ziemlich begeisterter Leser
von Sein und Zeit. Ich halte Heidegger auch heute noch für einen be-
deutenden Denker, bin aber in der Zwischenzeit immer kritischer ge-
worden und geradezu entsetzt über das, was er in seiner Spätphiloso-
phie über die Vernunft gesagt hat. Er hat zwar darin Recht, dass das In-
der-Welt-Sein relativ, nicht universal gültig ist. Dass man jedoch über
das In-der-Welt-Sein Aussagen treffen kann, die philosophisch wahr
sind, die Heidegger in Sein und Zeit auch richtig getroffen hat, das ist
allerdings universal – und muss es sein. Dies hat er allerdings niemals
berücksichtigt: Er hat die Reflexionsstufe, auf der er selber denkt und
Sein und Zeit geschrieben hat, nicht thematisiert – so wenig wie eine

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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext

Reihe anderer bedeutender Denker unserer Zeit. Dies kommt in seiner


Spätphilosophie in schrecklicher Weise zum Ausdruck. Dort macht er
die Vernunft lächerlich, diskreditiert sie. In der Vorlesung über Logik
als die Frage nach dem Wesen der Sprache (1934) schreibt er: »Eine
Wahrheit wird dadurch nicht weniger Wahrheit, dass sie nicht von je-
dermann zugeeignet werden kann.« 1 In den Beiträgen zur Philosophie
(Vom Ereignis) (1936–38) heißt es im selben Sinne: »Wo Wahrheit sich
in die Gestalt der ›Vernunft‹ und des ›Vernünftigen‹ hüllt, ist ihr Un-
wesen an der Arbeit, jene zerstörerische Macht des für alle Gültigen,
wodurch jedermann beliebig ins Recht gesetzt wird.« 2 Hiermit verfällt
Heidegger in den performativen Selbstwiderspruch, die eigenen Gel-
tungsansprüche auf der Reflexionsstufe, auf der der Philosoph denkt,
nicht zu berücksichtigen. Ich kann Heideggers Gedanken der Seins-
vergessenheit etwas abgewinnen; sein eigener Fehler war jedoch die
Logosvergessenheit – und der ist im Laufe der Jahre immer schlimmer
geworden.

Smail Rapic: Frau Heller, was sagen Sie zu dieser Heidegger-Kritik?

Ágnes Heller: Etwas ganz Einfaches und Kurzes: Meiner Meinung


nach ist Philosophie ein Genre der Literatur. In allen Genres der Lite-
ratur, dem Drama, dem Roman oder eben der Philosophie, gibt es Gen-
re-Grenzen. Diese Grenzen können elastisch sein, aber nicht absolut
elastisch. Es gibt in der Philosophie einige konstante – sagen wir ein-
mal: Kategorien – die ich auch Personen nennen kann. Dies sind die
Grundwörter der Philosophie, wie Heidegger es ausgedrückt hat. Es
gibt auch eine Grammatik, die man »Methode« oder »System« nennt.
Die Grammatik und das Wörterbuch der Philosophie können sich ver-
ändern und verändern sich tatsächlich. Aber jede Philosophie braucht
ein Wörterbuch und eine Grammatik. Die Distinktion zwischen trans-
zendentaler und empirischer Ebene gehört zum Spiel der Philosophie.
Das gilt auch für Ihre Philosophie, Herr Apel, das gilt ebenso für Hei-
deggers Philosophie. Foucault hat über Dasein das Folgende gesagt –

1 Martin Heidegger: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (SS 1934). Auf

der Grundlage einer Vorlesungsnachschrift von Wilhelm Hallwachs. Frankfurt a. M.


1998, S. 79.
2
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. M. 1989,
S. 343.

111

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Diskussion

ein sehr schöner Ausdruck –: transzendental-empirische Dublette, das


ist Dasein. Ich bin mit Foucault in dieser Sache einverstanden. Was
Heidegger betrifft: Er hat zwei sehr wichtige Sachen entdeckt. Das
war doch vielleicht eine Intuition. Wie kann man über das alte Problem
Subjekt – Objekt – Intersubjektivität – Interobjektivität hinauskom-
men? Es galt, einen neuen Ausgangspunkt zu finden. Ich glaube, in
Sein und Zeit hat er ihn gefunden: mit der Kategorie des Daseins und
der ontisch-ontologischen Dublette im Verständnis dieses Daseins.
Und er hat noch etwas entdeckt, dass nämlich die alten philosophischen
Charaktere, Akteure, Spiele ein wenig veraltet sind. Außer der Wahr-
heit und dem Sein sind im Wesentlichen alle veraltet. Wir sprechen
nicht mehr über Wesen und Erscheinung, über Eines und Vieles und
… und … und … Wir können mit diesen philosophischen Kategorien
nichts mehr anfangen. Schon Marx wollte eine neue philosophische
Sprache erfinden; ebenso Freud und Nietzsche. Heidegger hat – zu-
mindest in Sein und Zeit – mit einer radikal neuen philosophischen
Sprache experimentiert. Diese zwei Dinge, Dasein als der ontisch-on-
tologische Zentralpunkt, und das Experimentieren mit den neuen
Grundwörtern, machen Sein und Zeit in meinen Augen zu einem
grundlegenden Werk der modernen Philosophie. So ist es auch mit
dem Werk Wittgensteins, dem Werk Foucaults.

Georg Lohmann: Ich habe eine Frage an Frau Heller, an Herrn Apel
und an den Historischen Materialismus, der ja in effigie auch da vorne
sitzt. Und zwar nach dem Verhältnis von Kontextualität oder Partiku-
larismus auf der einen Seite und Universalismus auf der anderen Seite.
In einer Diskussion mit Rorty – der meinte, wir müssten den Univer-
salismus von Normen nicht eigens begründen, wenn wir das Glück ha-
ben, in einer universellen, also liberalen Kultur zu leben – haben Sie,
Herr Apel, gesagt: Was wäre, wenn Sie das Pech gehabt hätten, im Na-
tionalsozialismus zu leben? 3 Ich habe den Eindruck, dass das ein wich-
tiger Einwand war und dass man sich bei der Frage, wie man von einer
kontextualistischen Position aus zu einem universalistisch begründ-
baren Anspruch von Normen kommt, nicht so bescheiden geben kann
wie Frau Heller. Also: wenn die Umstände günstig sind – dann ja; aber

3 Vgl. Karl-Otto Apel: »Zurück zur Normalität?« In: ders.: Diskurs und Verantwor-

tung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a. M.


1988, S. 370–474, hier S. 408 f.

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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext

da wir nicht immer in günstigen Umständen leben, muss man für den
Universalismus argumentieren können. Ich glaube, dass Herr Apel zu
Recht sagt, was wir argumentativ einholen können, ist die Ebene von
Normen, also von verbindlichen Vorschriften, und wir lassen die Ebene
von Wertungen, denen immer etwas Partikulares anhaftet, außen vor,
weil wir sie jeweils kontextspezifisch etwas anderem vorziehen.
Wenn man nun fragt: »Wie kommt der Historische Materialismus
zu universalistischen Normen?«, so ist eine Antwort, dass Marx
glaubt, sagen zu müssen, dass die Interessen der revolutionären Arbei-
terklasse universalistisch sind, weil sie am radikalsten unterdrückt wer-
den. Das finde ich aber eine viel zu einfache Konstruktion. Erstens, weil
das Proletariat hier als ein Gesamtsubjekt gesehen wird; die Normen
einer universalistischen Moral beziehen sich aber nicht auf ein Groß-
subjekt, sondern auf den intersubjektiv akzeptablen Zusammenhang
von vielen Einzelnen oder allen Einzelnen. Und zweitens, selbst wenn
das gegeben ist, ist es nicht automatisch so, dass, wenn die Interessen
aller Arbeiter berücksichtigt sind, auch alle Menschen (oder alle mög-
lichen moralischen Objekte, inkl. Tiere) berücksichtigt sind. Wir kön-
nen uns eine Allgemeinheit vorstellen, die einfach nur faktisch ist, aber
sie muss nicht dem universellen Anspruch entsprechen, den wir mit
universellen Normen der Moral verbinden. Also ich würde sagen, weil
der Historische Materialismus dieses Problem nur unzureichend lösen
kann – womit ich nicht sagen will, dass er dazu gar nichts sagen kann –,
deswegen ist er kein Garant für einen automatischen Universalismus,
der sich, wenn man nur die Interessen der Menschen, die am meisten
unterdrückt werden, angemessen berücksichtigt, ergeben würde.
Bei Herrn Apel würde ich das umgekehrte Problem sehen. Sie
schaffen es wunderbar, letztbegründet universelle Normen zu formu-
lieren, aber ich habe den Eindruck, dass Sie bei der Frage: »Welche von
den Wertungen sind wichtig?« eigentlich passen müssen. Da sind Sie
dann vielleicht zu willkürlich oder Sie müssen letztendlich einräumen:
»Dazu kann ich nichts sagen, das ist kontextabhängig.« An dieser Stelle
sind Sie vielleicht auf Literatur und Rorty angewiesen, weil Sie dann
sagen müssten: »Komm, ich lebe Dir vor – unter den universellen Be-
dingungen, die wir nicht aufgeben können –, welche von den partiku-
laren Werten akzeptabel oder nicht akzeptabel sind.« Die Kriterien aber
für die »Vermittlung« von universalistischen Normen und partikula-
ristischen Werten sind ein besonderes Problem, und wahrscheinlich
nicht (nur) ein Problem im Anwendungsteil B Ihrer Ethik.

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Diskussion

Ágnes Heller: Nur kurz: Wir verstehen alles im Kontext. Alle Aus-
sagen sind Aussagen im konkreten Kontext. Auch die Interpretationen
sind Interpretationen im Kontext. Ebenso die Gefühle, die wir haben:
Wir verstehen ein Gefühl in unterschiedlicher Weise, abhängig vom
jeweiligen Kontext. In einer philosophischen Theorie muss man einen
Gedankengang im Kontext des Ganzen verstehen. Es gibt jedoch
Grundwörter der Philosophie, die kontextfrei sind. Wenn man zum
Beispiel fragt: »Was ist Wahrheit?«, dann ist die Antwort kontextfrei.
Man kann auf diese Frage nicht entgegnen: »Das ist die Wahrheit im
Kontext – im Kontext ist das jeweils verschieden.« Es gibt Sein, das
versteht man nicht im Kontext. Was ist der Kontext von Sein? Es gibt
keinen Kontext. Wenn man über ein konkretes Sein spricht, dann
spricht man über dieses und dieses Sein im Kontext. In der Philosophie
gibt es also kontextfreie Grundwörter.

Karl-Otto Apel: Ich muss in der Tat etwas Ergänzendes zum Verhält-
nis von Normen und Werten sagen. Zuvor möchte ich jedoch auf den
Begriff des Universalismus zurückkommen. Dieser Begriff war eines
der Stichworte, wo bei mir nach 1945 das philosophische Motiv und
der Anstoß durch die deutsche Katastrophe zusammengekommen sind.
Es war immer ein Anliegen von mir, eine universalistische Begründung
der Ethik zustande zu bringen. Das ist natürlich ein weites Feld, das ich
jetzt nicht im Einzelnen behandeln kann.
Zum Universalismus: Heidegger hat bekanntlich den Begriff der
Wahrheit zuerst so verstehen wollen, dass er das bedeutet, was die
Griechen eigentlich mit »aletheia« gedacht hätten, nämlich »Entber-
gung«. Daran hat Tugendhat eine berechtigte Kritik geübt: Dies sei
noch nicht Wahrheit – obwohl er von diesem Begriff der »Entber-
gung«, der zugleich »Verbergung« ist, beeindruckt war. Hierauf hat
Heidegger 1964 geantwortet: Tugendhats Kritik sei richtig – das ist
interessant –; die seinsgeschichtliche Entbergung, die zugleich Verber-
gung ist, sei jedoch die Bedingung der Möglichkeit für Wahrheit im
Sinne von richtig und falsch; und diese Entbergung sei wiederum kul-
turrelativ, sie sei zum Beispiel durch die Seinsgeschichte bedingt, die
bei den Griechen beginnt. Dies war Heideggers Umgang mit dem Uni-
versalismus in Bezug auf Wahrheit.
Zu den Themen »Wahrheit« und »Werte« möchte ich Folgendes
ergänzen: Ich halte die Option für Werte nicht für willkürlich. Meine
Ethik würde ich niemals im Sinne einer bloßen Pflichtethik, einer rein

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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext

normativen Ethik im kantischen Sinne anlegen; sie muss vielmehr


auch ein letztes Ziel, eine teleologische Dimension haben. Dies wird
bei der Anwendung der Ethik besonders deutlich. Hierbei muss der Fall
berücksichtigt werden, dass es zu keiner Verständigung über Normen
kommt, sondern nur zu Verhandlungen, in denen es um strategische
Vorteile geht, oder gar zu kriegerischen Auseinandersetzungen. In die-
sem Fall ist die Dimension der Teleologie erforderlich: um ein letztes
Ziel im Auge zu haben, um in dieser Situation, in der die anderen nicht
mitmachen, sondern lieber Krieg führen, zur Begründung der Ethik zu
stehen. Und dann braucht man die Werte im Sinne einer geschichts-
bezogenen Verantwortungsethik; diese steht zu einer reinen Pflicht-
ethik im Sinne von Kants kategorischem Imperativ in Kontrast. Man
könnte anhand einer Reihe von Beispielen zeigen, dass Kant den An-
satz seiner Pflichtethik selber erweitern musste, weil man mit einer
reinen normativen Ethik konkrete Handlungssituationen – vor allem
politischer Art – nicht meistern kann. An dieser Stelle kann man die
positive Bedeutung der Option für Werte einführen, obwohl Werte
nach wie vor nicht universal sind, im Gegensatz zu Normen, die man
letztbegründen kann. Werte sind vielmehr auf die Entbergung – um
mit Heidegger zu reden – bezogen oder auf die Optionen der einzelnen
Individuen, Völker oder Kulturen. Diese Werte sind nicht beliebig, es
gibt meines Erachtens ein letztes Ziel, von dem sie ihre Orientierung
empfangen müssen; sie können auch von der Dimension der univer-
salen Normen aus kritisiert werden. Es gibt viele solche Werte, die
man vernichtend kritisieren kann. Man denke nur an den bekannten
Wert der Fürstensöhne, das ererbte Reich zu erweitern und die Feinde
zu besiegen; dies geht durch die ganze Geschichte hindurch. Das sind
Werte, die aus der Dimension der universal begründeten Normen ver-
nichtend kritisiert werden müssen. Sie können auch nicht vom letzten
Ziel einer teleologischen Verantwortungsethik her gerechtfertigt wer-
den.

Smail Rapic: Ich würde gerne die Frage von Herrn Lohmann, die ich
ganz zentral finde, aufgreifen und dabei auf das Thema »Historischer
Materialismus« zurückkommen. Herr Lohmann wendet sich, wenn ich
ihn richtig verstanden habe, gegen eine Trennung von Universalismus
und Partikularismus, d. h. gegen eine Ethik-Konzeption, die zunächst
eine universalistische Dimension entwickelt, woran sich die Dimension
des Partikularismus anschließt, so dass beides zuletzt miteinander ver-

115

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Diskussion

mittelt werden muss. Können wir eine Theoriekonzeption entwerfen,


die beides schon ab ovo miteinander vermittelt? Ich bin der Meinung,
dass Habermas’ Programm einer Rekonstruktion des Historischen Ma-
terialismus das eigentlich leistet oder zumindest einen sehr frucht-
baren Ansatz hierfür bildet. In den Frühschriften von Marx und Engels
gibt es zwei Aussagen, deren Verhältnis zueinander klärungsbedürftig
ist. Die erste steht in der Deutschen Ideologie: »Wir kennen nur eine
einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte«, die zweite in
Marx’ »Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie«: Dort wird der
»kategorische Imperativ« formuliert, »alle Verhältnisse umzuwerfen,
in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächt-
liches Wesen ist«. Die Rede vom kategorischen Imperativ enthält einen
deontologischen Anspruch, eine quasi-universalistische Forderung.
Wie passt beides zusammen? Dass beide Aussagen nebeneinander ste-
hen, heißt doch, dass es möglich sein muss, sie miteinander zu vermit-
teln. In Habermas’ Zur Rekonstruktion des Historischen Materialis-
mus spielt der Gedanke einer Entwicklungslogik des normativen
Bewusstseins eine zentrale Rolle. Er entsteht im 18. Jahrhundert. Man
findet ihn bei Herder und natürlich bei Hegel, wobei er dort in eine
ahistorische Dimension gestellt wird. Wie kann der Gedanke einer Ent-
wicklungslogik des normativen Bewusstseins so formuliert werden,
dass man in keinen ahistorischen Universalismus Hegel’scher Pro-
venienz zurückfällt? Wie kann man diesen Gedanken postmetaphy-
sisch fassen? Der programmatische Satz aus der Deutschen Ideologie,
es gebe nur die Wissenschaft der Geschichte, besagt, dass es Faktizitä-
ten gibt, nämlich die Reproduktionsbedingungen des Gattungswesens
Mensch, aus denen eine Entwicklungslogik entspringt. Marx spricht ja
in Zur Judenfrage von den Entwicklungsstufen des menschlichen Geis-
tes. Die theoretischen Mittel des Historischen Materialismus reichen
allerdings für die Bestimmung dieser Entwicklungsstufen nicht aus.
Hierfür bedarf es nach meiner Überzeugung einer universalpragmati-
schen bzw. transzendentalpragmatischen Reflexion, die ein Moment
von Apriorität ins Spiel bringt, was im Historischen Materialismus so
nicht bedacht wird. Es muss sich letztlich um ein prozedurales Ver-
nunftkonzept handeln, und darum glaube ich, dass das prozedurale
Vernunftkonzept von Habermas und Apel dieses Problem lösen könn-
te. Es ist heute umstritten, ob es tatsächlich eine Entwicklungslogik des
normativen Bewusstseins gibt. Nach meiner Überzeugung ist der Ge-
danke einer solchen Entwicklungslogik essentiell. Das darf nur keine

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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext

ahistorische Teleologie sein. Ich weiß nicht, wie die Vermittlung von
Universalismus und Partikularismus funktionieren soll, wenn man den
Gedanken einer Entwicklungslogik aufgibt.

Karl-Otto Apel: Sie wissen vielleicht, dass ich ein Buch über Diskurs
und Verantwortung geschrieben habe, wo ich versucht habe, die ent-
wicklungsgeschichtliche Dimension im Sinne Kohlbergs in die Trans-
zendentalpragmatik zu integrieren, in eine geschichtsbezogene Verant-
wortungsethik. Das geht noch ein bisschen über Kohlberg hinaus.

Smail Rapic: Das Problem, Herr Apel, das Herr Lohmann angespro-
chen hat, besteht darin, dass Sie zwischen A und B trennen. Kann man
das wirklich so machen: erst A, dann B?

Karl-Otto Apel: Dazu wird man gezwungen. Es gibt ja genug Leute –


ich könnte Ihnen Namen nennen –, die gesagt haben, lasst die Moral
aus der Politik raus, es geht nur um die Effektivität strategischer Ent-
scheidungen.

Smail Rapic: Das will ja niemand von uns. Die Frage von Herrn Loh-
mann zielt auf die Theoriestruktur. Wie muss die Theoriestruktur aus-
sehen? Das ist wirklich ein heikler Punkt … Aber es gab noch eine
weitere Frage.

Horst Müller (Nürnberg): Frau Heller, Sie haben ein paar Mal vom
In-der-Welt-Sein als einer Art ontologisch-anthropologischer Grund-
these, die von Heidegger herkommt, gesprochen. Nun ist ja marxis-
tisch versucht worden, die Weise des In-der-Welt-Seins zu bestimmen.
Die Feuerbach-Thesen sagen, dass die Weise des menschlichen In-der-
Welt-Seins durch den Begriff »Praxis« ausgedrückt wird. Herbert Mar-
cuse hat dies, von Heidegger herkommend, mit Marx’schen Theo-
remen herausgearbeitet. Ich erinnere auch an Gajo Petrović, der von
der Praxis als der Existenzweise des Menschen in der Welt gesprochen
hat. Ich würde das verteidigen wollen und würde Sie, Frau Heller, fra-
gen, ob in Ihrem Wörterbuch der Philosophie der Begriff »Praxis« noch
eine Rolle spielt, und wenn ja, welche. Wenn man die Auffassung ver-
teidigt, dass die Weise des In-der-Welt-Seins Praxis ist, dann ergibt sich
eine kritische Sicht der Intersubjektivitätstheorie. Denn die Praxis als
ein multidimensionales Vollzugsgeschehen impliziert eine Schicht ob-

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Diskussion

jektiven Sinnes, auch wenn wir gar nichts davon wissen. Es gibt also
keine Garantie dafür, dass dieser Sinn im intersubjektiven Verständi-
gungsprozess erschlossen wird. Die Marx’sche Kapital-Analyse ist der
Versuch, einen vorher nicht bewussten objektiven, im Handeln impli-
zierten Sinn zu explizieren. Das ist ein Hinweis auf die Grenzen der
Intersubjektivitätstheorie
Ein weiterer Punkt: Wenn die Weise des In-der-Welt-Seins Praxis
und diese auf die Zukunft hin geöffnet ist, handelt es sich um ein
schöpferisches Geschehen, in dem es verschiedene Wege gibt; hier
kommt etwas Perspektivisches ins Spiel. Wenn verschiedene Menschen
bzw. Gruppen unterschiedliche Wege einschlagen und ihre jeweilige
Praxis ihr Bedeutungsraum ist, dann können sie sich nicht konsensuell
einigen. Das heißt: die Perspektivität der menschlichen Praxiswirklich-
keit ist eine Grenze des Konsensualismus.
Ein letzter Gedanke zu dem Problem, ob dann nicht alles relativ
wird – das könnte man ja vermuten. Im gesellschaftlichen Maßstab gibt
es aus dem Praxis-Denken heraus eine gewisse Lösung oder zumindest
eine Lösungsrichtung für die Problematik der verbindlichen Normen-
orientierung. Das wird nicht in der Weise ausgedrückt, dass man sagt,
wir müssen uns jetzt auf diese oder jene Norm einigen; Bloch spricht
stattdessen von einer »Invariante der Richtung«. Das heißt, es gibt eine
große Richtungsangabe aus geschichtlicher Erfahrung. Demokratie
z. B. ist ein vertragliches Eingebettetsein in die Naturbedingungen der
menschlichen Existenz. Das ist eine Richtungsangabe, keine Ausdefi-
nition von Normen, die nun unmittelbar handlungsleitend werden
könnten.

Ágnes Heller: Ich möchte über die arkadischen Zeiten sprechen – Ha-
bermas hat die arkadischen Zeiten erwähnt. Da saßen wir zusammen
und die Frage wurde gestellt, wer ein Marxist sei. Alle sagten, der ist
ein Marxist, das ist ein Kriterium von Marxismus, der ist kein Marxist,
wir sind Marxisten usw. Am Ende sprach Lucien Goldmann und sagte,
wir können die Sache sehr leicht erledigen. Marxist ist, wer sich Mar-
xist nennt. Das taten wir alle. Ich habe nicht bestritten, dass man be-
stimmen kann, was den Marxisten ausmacht, es gibt einige wesentliche
Gedankenstrukturen. Ich glaube aber, dass nicht nur der Marxismus,
sondern auch alle anderen Ismen heutzutage keine grundlegende Rolle
in der Entwicklung unserer Gedanken mehr spielen. Es gibt auch keine
Schulen mehr. Die Frankfurter und die Budapester Schule waren wahr-

118

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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext

scheinlich die letzten Schulen. Es gibt nur noch persönliches Denken;


individuelle Denker. Ich sehe dies aber nicht so wie Rorty. Rorty sprach
nicht über persönliches, sondern über privates Denken. Es gibt aber
keine private Philosophie. Alle Philosophie ist per definitionem öffent-
lich. Was öffentlich ist, bemisst sich danach, wie wir es der Öffentlich-
keit anbieten: »Bitte, dies ist unsere Philosophie – wenn es Euch gefällt,
wenn Ihr darin etwas findet, was in Eurem Leben einen Sinn gibt, wenn
es Euren Gedanken einen neuen Weg bereitet, dann macht es Euch zu
eigen.« Man braucht die Philosophie nicht als totale zu rezipieren, es
gibt auch eine partielle Rezeption der Philosophie, etwa in der Politik.
So kann die Philosophie die Welt verändern, aber nicht direkt durch
ihre unverfälschten Gedanken, sondern durch die partielle Rezeption
der Philosophie.
Noch ein Wort über Ethik. Ich teile Max Webers Auffassung, dass
wir in der modernen Welt in verschiedenen Sphären denken: Öko-
nomie, Politik, Kunst usw. Diese Sphären sind elastisch, aber getrennt.
Sie haben jeweils ihre eigene Ethik: Es gibt eine Ethik der Ökonomie,
eine Ethik der Politik, eine Ethik der Kunst usw. Ihre Normen sind
verschieden. Demgegenüber ist die Moral, die Moralität, universal –
nicht in dem Sinne, dass dies immer der Fall war, aber in der heutigen
Welt ist die Moralität universal. In diesem Sinne unterscheide ich zwi-
schen Ethik und Moral. Ein letzter Punkt: Kein Philosoph hat die Ethik
erfunden. Es gibt sie in der Welt. Kant hat Recht gehabt: Er hat den
kategorischen Imperativ nicht erfunden, sondern hat eine Formel für
eine Moral aufgestellt, die im Leben schon ausgebildet war, die im Be-
wusstsein der Menschen damals existierte. Er kannte doch den Roman
Clarissa sehr gut. Clarissa hat in ihrem Leben selber eine Art von ka-
tegorischem Imperativ formuliert. Wir können nichts Neues über die
Ethik unserer Welt sagen, wir können ihre Normen nur ernst nehmen;
ernster als sie die Menschen normalerweise nehmen. Das ist die trans-
zendentale Ebene. Moralität ist – ich möchte es wiederholen – etwas
Praktisch-Universales. Aber das ist nur mein Verständnis des Verhält-
nisses von Moralität und Ethik.

119

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III. Ökonomie und Politik

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Ingo Elbe
Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

Jürgen Habermas’ Projekt einer Reformulierung der kritischen Gesell-


schaftstheorie stand von Beginn an im Zeichen einer Auseinander-
setzung mit Marx und der marxistischen Tradition. Insbesondere deren
Konzepte von Arbeit, Produktion und gesellschaftlicher Synthesis ge-
langten über Jahrzehnte immer wieder in den Fokus von Habermas’
Aufmerksamkeit und wurden zum Gegenstand seiner Kritik. Die Ab-
lehnung des später sogenannten ›Produktionsparadigmas‹ erfolgt dabei
auf drei Ebenen: sozialtheoretisch wird bezweifelt, dass sich ein aus-
reichender Begriff sozialer Einheit durch Arbeit gewinnen lässt; so-
zialphilosophisch werden die dürftigen normativen Potentiale des Ar-
beitsbegriffs moniert; soziologisch wird die Relevanz von Arbeit als
Leitkategorie im Zeitalter des Spätkapitalismus hinterfragt. Im Folgen-
den will ich mich auf die sozialtheoretische Dimension konzentrieren.
Habermas unterstellt Marx seit Erkenntnis und Interesse, kulmi-
nierend in seiner Kritik des Produktionsparadigmas im Philosophi-
schen Diskurs der Moderne, ein Modell gesellschaftlicher Synthesis
durch ›Arbeit‹. Habermas’ Kritik lautet, dass die Eingrenzung des Pra-
xisbegriffs auf Arbeit im Sinne der »Herstellung von Produkten« bzw.
des »Stoffwechselprozess[es] zwischen Gesellschaft und Natur« (DM
99) das Problem einer Reduktion von »Regeln der sozialen Interaktion«
auf »technisch-utilitäre […] Regeln der Produktion und der Verwen-
dung von Produkten« (DM 101) mit sich bringt. Wenn sich marxisti-
sche Theoretiker 1 dennoch zur Differenzierung dieser Dimensionen
entschließen, verlassen sie Habermas zufolge zwangsläufig den kate-
gorialen Rahmen des Produktionsparadigmas. ›Arbeit‹ lässt sich für

1
Wie György Márkus, der 1980 eine Entgegnung zu Habermas’ Kritik verfasst hat
(»Die Welt menschlicher Objekte. Zum Problem der Konstitution im Marxismus«. In:
Axel Honneth/Urs Jaeggi (Hrsg.): Arbeit, Handlung, Normativität. Theorien des His-
torischen Materialismus 2. Frankfurt a. M. 1980, S. 12–136).

123

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Ingo Elbe

Habermas also nur nach dem Muster eines nichtsozialen, 2 technisch-


manipulativen Objektbezugs verstehen. Demnach soll »sich das Pro-
duktionsparadigma allein für die Erklärung von Arbeit und nicht von
Interaktion« eignen (DM 102), d. h. Praxis in diesem Sinne soll »allein
für den Stoffwechselprozeß zwischen Mensch und Natur strukturbil-
dende Effekte« haben (DM 101). Dagegen stellt sich Gesellschaft in
Habermas’ zweistufigem Konzept dar »einerseits als Herstellungs-
und Aneignungsprozeß, der sich nach technisch-utilitären Regeln voll-
zieht und das jeweilige Niveau des Austauschs zwischen Gesellschaft
und Natur, also den Stand der Produktivkräfte anzeigt; andererseits als
Interaktionsprozeß, der nach sozialen Normen geregelt ist und den
selektiven Zugang zu Macht und Reichtum, also die Produktionsver-
hältnisse zum Ausdruck bringt.« (DM 101)
Dass »Praxis im Sinne normengeleiteter Interaktion […] sich […]
nicht nach dem Muster der produktiven Verausgabung von Arbeits-
kraft und der Konsumtion von Gebrauchswerten analysieren« lässt
(ebd.), ist eine nachvollziehbare Aussage. Es fragt sich allerdings, ob
ein solcher Reduktionismus tatsächlich in der Marx’schen Ökonomie-
kritik entwickelt wird. Im Folgenden werde ich darlegen, dass Haber-
mas durch seinen von den Frühschriften ausgehenden Zugang zu Marx
konstitutive Veränderungen sozialtheoretischer Kategorien im Zuge
der Marx’schen Werkentwicklung nicht wahrnimmt. Dies betrifft vor
allem die formanalytische Differenzierung von abstrakter und konkre-
ter Arbeit, die erst im Kapital ausgereift ist. 3
Als Kernproblem der Habermas’schen Gesellschaftstheorie wird
sich dabei erweisen, dass mit der Ersetzung des Begriffs ›Produktions-
verhältnis‹ durch den des ›institutionellen Rahmens‹ bzw. der ›Inter-
aktion‹ einerseits und des Konzepts des ›Subsystems zweckrationalen

2 Das Nichtsoziale bezieht sich dabei nicht auf die Genese, die nur gesellschaftlich ver-
mittelt sein kann, sondern auf die Regelstruktur und deren Inhalte: In die technischen
Regeln instrumentalen Handelns geht Habermas zufolge »allein Kausalität der Natur
und nicht Kausalität des Schicksals ein« (TWI 33). Sie führen, mit anderen Worten, zu
effektiver Naturbeherrschung, sind aber nicht als soziales Band konzipierbar.
3 Vgl. zum methodischen Bruch, der 1857 einsetzt: Michael Heinrich: »Praxis und Fe-

tischismus. Eine Anmerkung zu den Marx’schen Thesen über Feuerbach und ihrer Ver-
wendung«. In: Christine Kirchhoff/Lars Meyer u. a. (Hrsg.): Gesellschaft als Verkeh-
rung. Perspektiven einer neuen Marx-Lektüre. Freiburg 2004, S. 249–270; sowie zur
Entwicklung des Arbeitsbegriffs seit den Grundrissen: Dieter Wolf: Marx’ Verständnis
des Werts und der abstrakt menschlichen Arbeit in den ›Grundrissen‹. http://www.
dieterwolf.net/pdf/Arbeit_Grundrisse.pdf (2008).

124

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

Handelns‹ andererseits der innovative Gehalt des ökonomiekritischen


Gesellschaftsbegriffs verfehlt wird, wobei Sozialtheorie in eine äußer-
liche Kombination von symbolisch-interaktionistischem Reduktionis-
mus und systemtheoretischer Affirmation gesellschaftlicher Ent-
fremdung transformiert wird. Gesellschaft löst sich in die Dualismen
von Arbeit und Interaktion, Technik und Ethik, Mensch-Ding- und
Mensch-Mensch-Verhältnissen auf. Dabei vollzieht Habermas eine
Trennung des Klassenverhältnisses von seiner gegenständlichen Ver-
mittlung, d. h. seinem im engeren Sinn ökonomischen Charakter, so-
wie eine Verharmlosung verselbständigter ökonomischer Mechanis-
men zu vor allem handlungsentlastenden Kommunikationsmedien
mit dem Ziel der Nutzenvermehrung und optimalen materiellen Re-
produktion.

Synthesis durch Arbeit

Habermas bedient sich bereits in seiner Grundlegung der Kritik des


Produktionsparadigmas in Erkenntnis und Interesse des Verfahrens,
dieses Paradigma aus Textpassagen des Marx’schen Werkes zusam-
menzusetzen, in denen dieser, wie in den Frühschriften, noch gar keine
Kritik der politischen Ökonomie und entsprechend auch noch keinen
Begriff des Doppelcharakters der Arbeit entwickelt hat, und in denen,
wie im fünften Kapitel des Kapital, erklärtermaßen transhistorische
Ausführungen zum Arbeitsprozess unter bewusster Abstraktion der
spezifischen Produktionsverhältnisse vorgenommen werden. Das er-
gibt folgendes Bild einer materialistischen Konzeption von Arbeit:
Diese habe hier »den Stellenwert von Synthesis« (EI 40), die als Bil-
dungsprozess der Gattung durch Auseinandersetzung mit der Natur
verstanden werde (EI 41). In einem solchen Konzept der Synthesis
durch ›Arbeit‹ im Sinne einer konkreten Arbeit im Allgemeinen – oder,
wie Habermas sagt, eines »Funktionskreis[es] instrumentalen Han-
delns« (EI 57) – werde der Bildungsprozess der Gattung aber reduktio-
nistisch konzeptualisiert: »Durch den Arbeitsprozeß«, so Habermas’
Referat, »verändert sich nicht nur die bearbeitete Natur, sondern über
die Arbeitsprodukte auch die bedürftige Natur der arbeitenden Subjek-
te selber.« (EI 41) Die Regeln dieser Synthesis sollen sich schließlich
»zu Produktivkräften vergegenständlichen« (EI 49), »die Identität der
gesellschaftlichen Subjekte« sich »mit der Reichweite ihrer technischen

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Ingo Elbe

Verfügungsgewalt« verändern (EI 50). Der Prozess der sozialen Evo-


lution werde also als eine monologische Dialektik von ›Mensch‹ und
›Natur‹ im Prozess der Arbeit begriffen.
Um dieses Bild materialistischer Synthesis zu zeichnen, muss
Habermas den für den reifen Marx fundamentalen Begriff der gesell-
schaftlichen Form ebenso außer Acht lassen wie dessen Erkenntnis des
Primats der Produktionsverhältnisse vor den Produktivkräften im
Spätwerk. Habermas versteht unter der ›Form‹ lediglich die Verände-
rung der »Naturalform« von Gegenständen im Prozess konkreter Ar-
beit, das heißt die Umformung der Natur gemäß menschlichen Zwe-
cken im Arbeitsprozess (EI 48). »Der Mensch«, so wird Marx zitiert,
»›kann in seiner Produktion nur so verfahren, wie die Natur selbst, d. h.
nur die Formen der Stoffe ändern.‹« (MEW 23, S. 57) 4 Nach dieser
Aussage über Arbeit als Prozess der Gebrauchswertproduktion folgt
bei Marx allerdings der Satz: »Gehn wir nun von der Ware, soweit sie
Gebrauchsgegenstand, über zum Waren-Wert« (MEW 23, S. 58) – Ha-
bermas geht hier nicht mit. Daher resümiert er den Begriff der Syn-
thesis durch Arbeit als »Synthesis des Stoffes der Arbeit durch die
Arbeitskraft«, die ihre Einheit »unter Kategorien des hantierenden
Menschen« erhalte (EI 48). Durch Arbeit werde also eine Einheit »von
Mensch und Natur« hergestellt, »die einerseits die Objektivität der
Natur an die gegenständliche Tätigkeit der Subjekte bindet, aber ande-
rerseits die Unabhängigkeit ihrer Existenz nicht aufhebt« (EI 46), wo-
bei von Subjekt eigentlich nur »in der Einzahl« gesprochen werden
dürfe, insofern es »der Entwicklungsstand der Produktivkräfte« sei,
der »das System der gesellschaftlichen Arbeit insgesamt« (EI 75) be-
stimme. Produktion soll nichts anderes sein als »sinnliches Arbeiten
und Schaffen« (EI 55), 5 das »handgreiflichere Produzieren der Gat-
tung« (EI 60). Den dabei unterstellten Bildungsprozess der Gattung
identifiziere »Marx mit einer Aneignung der in der Bearbeitung eines
Materials entäußerten Wesenskräfte.« (EI 60). Da Marx derart »Refle-
xion nach dem Muster der Produktion« (EI 61) begreife, verfehle er
den epistemologischen Status der Gesellschaftswissenschaften und be-
greife »Ökonomie als eine […] ›menschliche Naturwissenschaft‹«
(EI 64).

4 Zit. in EI 48; die Hervorhebung stammt ohne Kennzeichnung von Habermas.


5
Wie Habermas Marx’ anthropologischen Arbeitsbegriff aus den Frühschriften zitiert,
vgl. auch EI 46.

126

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

Marx konzipiere mit seiner Rede vom Bewegungsgesetz der kapi-


talistischen Produktionsweise die gesellschaftliche Entwicklungslogik
»als ein ›Naturgesetz‹« (EI 62). Damit orientiere er sich am szientisti-
schen Zeitgeist und unterschlage die reflexive Spezifik von Kritik, die
ihren Gegenstand nicht nur als Registraturapparat betrachte, sondern
in Selbstbestimmung einzuholen gedenke. Gegen diese Lesart muss an
dieser Stelle der Hinweis genügen, dass Marx’ Ökonomiekritik in
zweifacher Hinsicht als Materialismus der zweiten Natur zu begreifen
ist. Einmal als Theorie der realen Verselbständigung und Versach-
lichung der Produktionsverhältnisse: Wenn Marx daher beansprucht,
die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise »als einen natur-
geschichtlichen Prozeß« (MEW 23, S. 16) zu fassen, so ist festzuhalten,
dass ›Natur‹ bzw. ›Naturwüchsigkeit‹ in diesem Kontext negativ be-
stimmte Kategorien sind: 6 Unter historisch spezifischen Bedingungen
nehmen die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen die Form
eines tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisses der Sachen an, das
ihrer Kontrolle weitgehend entzogen ist. 7 Zum anderen ist Marx’ Öko-
nomiekritik eine Kritik des gegenständlichen Scheins, der falschen Na-
turalisierung sozialer Verhältnisse innerhalb der kapitalistischen Pro-
duktionsweise. Er wendet sich also gerade gegen naturalisierende,
anthropologisierende und empiristische Konzeptualisierungen des Fel-
des der politischen Ökonomie und versucht diese zugleich aus den For-
men des kapitalistischen Alltagslebens zu erklären. 8 Eine Theorie, die
darlegt, dass ihre Gegenstände, die kapitalismusspezifischen Reich-
tumsformen, »kein Atom Naturstoff« (MEW 23, S. 62) enthalten, als
»Naturwissenschaft« (EI 64) zu bezeichnen, wie Habermas das tut, ist
also mehr als verwunderlich. 9

6 Vgl. Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. 4. überarb. u.
verb. Aufl. Hamburg 1993, S. 35, 201.
7
»Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie [die Produzenten] die Form
einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollie-
ren« (MEW 23, S. 89). Diese Bewegung, die Marx auch ein »regelndes Naturgesetz«
nennt, das sich »gewaltsam durchsetzt« (ebd.), geht aber nicht von den Sachen aus,
sondern vom Bezug der Sachen aufeinander durch Menschen unter historischen Bedin-
gungen. Daher handelt es sich hier um zweite Natur.
8 Vgl. Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Öko-

nomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition. Münster


21999, S. 82, 310.

9
Marx wehrt sich auch dagegen, seine Geschichtstheorie in eine deterministische Ge-
schichtsphilosophie zu verwandeln (vgl. MEW 3, S. 27, 63; MEW 19, S. 112). Ein wich-

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Ingo Elbe

Substituierung anonymer durch personale Herrschaft

Allerdings muss auch Habermas konstatieren, dass Marx in seinen ma-


terialen Untersuchungen keineswegs die »selbstbewusste Kontrolle des
Lebensprozesses« mit der »automatischen Steuerung des Produktions-
prozesses« identifiziert (EI 69). Diese Differenz weise aber auf den Un-
terschied zwischen monologischen Arbeits- und intersubjektiven Ge-
walt-, resp. Anerkennungsverhältnissen hin. Der Vorwurf lautet, wie
bekannt, Insuffizienz des Konzepts einer Synthesis durch Arbeit, das
eine unzulässige »Reduktion des Selbsterzeugungsaktes der Men-
schengattung auf Arbeit« (EI 58) beinhalte. Das Konzept bedürfe daher
der Ergänzung durch eine als »symbolisch vermittelte […] Interakti-
on« in einem »institutionellen Rahmen« (ebd.) verstandene »Synthesis
durch Kampf« (EI 77), die hier noch der Hegel’schen Dialektik der Sitt-
lichkeit von Verbrecher und Gemeinwesen 10 entnommen ist (EI 78).

tiges Element dieser Geschichtsphilosophie ist die Idee der Produktivkraftentwicklung


als universalhistorischer Selbstauslöser und Fortschrittsmotor – tatsächlich findet sich
dieses Konzept vornehmlich in den Frühschriften, aber auch im Kapital (MEW 23,
S. 194 ff.) sind noch derartige Relikte zu finden. Allerdings kann man hier Marx mit
Marx kritisieren, der in seiner Theorie der reellen Subsumtion das Determinationsver-
hältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen umkehrt, womit die Idee
einer universellen Entwicklungslogik dahin ist. Habermas meint aber verallgemei-
nernd, die historisch veränderliche Form von Wissen und Gegenständen ebenso wie
die von Individuen und sozialen Beziehungen seien Marx zufolge vom »Entwicklungs-
stand der Produktivkräfte« (EI 50) abhängig (v. a. EI 54): »die Entfaltung der Produktiv-
kräfte ist es, die jeweils den Anstoß zur Aufhebung einer in Positivität erstarrten […]
Lebensform gibt« (EI 60). Diese Idee eines Primats der Produktivkräfte hat Habermas
später zu Recht kritisiert (RHM 161), allerdings nicht hinreichend, weil er nur die De-
terminationskraft der Produktivkräfte gegenüber den Produktionsverhältnissen leug-
net, nicht aber eine »endogen verursachte Produktivkraftentfaltung« (RHM 160). Wie
ein »spontanes Wachstum des technisch und organisatorisch verwertbaren Wissens«
(ebd.) möglich ist, bleibt unklar.
10
»Die strafende Kausalität des Schicksals vollzieht sich an den Herrschenden als
Kampf der Klassen, der in Revolutionen mündet. Die revolutionäre Gewalt versöhnt
die entzweiten Parteien, indem sie die durch die Repression anfänglicher Sittlichkeit
eingetretene Entfremdung des Klassenantagonismus aufhebt […]. Die Positivität des
erstarrten politischen Lebens spiegelt die Zerrissenheit der sittlichen Totalität; und die
Umwälzung, die eintreten muß, ist die Reaktion des unterdrückten Lebens, die die Herr-
schenden mit der Kausalität des Schicksals treffen wird.« (EI 78 f.) Erst dann wird die
»Zwanglosigkeit des dialektischen Sich-Erkennens-im-Anderen« (EI 81) wieder her-
gestellt. Diese Herrschaftsfreiheit ist aber nur als kommunikativer Sachverhalt aus-
zubuchstabieren, nicht in Termini von Produktion, Steigerung technischer Verfügungs-
gewalt und funktionaler Differenzierung.

128

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

Zwar reflektiere Marx faktisch diesen Rahmen, verfehle diese Dimen-


sion menschlichen Handelns aber begrifflich (EI 58 f.). Daher bliebe
»umwälzende Praxis« heimatlos im »beschränkteren Konzept einer
Selbstkonstitution der Gattung allein durch Arbeit« (EI 59). Die »Syn-
thesis durch Arbeit«, so Habermas, »vermittelt das gesellschaftliche
Subjekt mit der äußeren Natur als ihrem Objekt. Aber dieser Vermitt-
lungsprozeß ist verschränkt mit einer Synthesis durch Kampf«, die
Marx als »ein Verhältnis sozialer Gewalt, nämlich die Macht einer so-
zialen Klasse über eine andere« verstehe (EI 77). Dieses Gewaltverhält-
nis werde begründet und sei »ökonomisch bestimmt« durch »die pri-
vatrechtliche […] Form des freien Arbeitsvertrages« (EI 70), welche
wiederum nichts anderes als eine »Entstellung des dialogischen Ver-
hältnisses« zwischen den Menschen sei, die eine »Kausalität abgespal-
tener Symbole und vergegenständlichter, […] empirisch zwingender
grammatischer Beziehungen« (EI 81) repräsentiere.
Es wundert daher nicht, dass der frühe Habermas revolutionäre
Praxis mit der »kritischen Aufhebung von Ideologien« durch »Reflexi-
on« identifiziert (EI 59) und die Emanzipation von entfremdeten For-
men analog zur kommunikationstheoretisch modifizierten Psychoana-
lyse deutet: Ganz im Sinne der Bestimmung des Werts als »in der
Sache selbst waltende«, objektive »Begrifflichkeit«, als »Schein« und
»bloß Gedachtes« 11 bei Adorno, fasst Habermas die Reichtumsformen
als »objektive[n] Schein« (EI 81): »Die Warenform der Arbeit«, so be-
hauptet er, »ist Ideologie, weil sie die Unterdrückung eines zwanglos
dialogischen Verhältnisses zugleich verheimlicht und ausdrückt.« (EI
82) Für Marx ist die Warenform aber keineswegs Ideologie, objektive
Gedankenform oder abgespaltenes (sprachliches) Symbol, sondern an
diesem realen sozialen Verhältnis entzündet sich eine ideologische Ver-
kennung dieses Verhältnisses als natürliche Eigenschaft einer Sache.
Allerdings wird dadurch die Kritik des späten Habermas verständlich,
in der er Marx die seines Erachtens nun unhaltbare Ansicht unterstellt,
»daß der systemische Zusammenhang der kapitalistisch organisierten
Wirtschaft und ihres staatlichen Komplements bloßer Schein ist, der
sich mit der Abschaffung der Produktionsverhältnisse in nichts auf-
lösen wird« (DM 83), bzw. dass er den »von Gebrauchswertorien-
tierungen losgerissene[n] Akkumulationsprozeß buchstäblich [!] als

11
Theodor W. Adorno: »Soziologie und empirische Forschung«. In: ders.: Soziologische
Schriften I. Frankfurt a. M. 1979, S. 196–216, hier: S. 209.

129

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Schein« konzipiere, ja als »Verzauberung« (TkH II 499). Dies kann als


eine Selbstkritik an Habermas’ Position in Erkenntnis und Interesse
begriffen werden.
Der Topos des ›Systemischen als Schein‹ kann allerdings in eine
nichthegelianisierende Sprache übersetzt werden, und dann wird deut-
lich, dass Habermas mit seiner späteren Kritik auch die teilweise naiv
anmutende Reduktion der Emergenz sozialer Zusammenhänge auf
Entfremdung ins Visier nimmt, die an vereinzelten Stellen der Früh-
schriften von Marx/Engels und in der Kritischen Theorie anklingt. So
tendiert z. B. Alfred Schmidt zu einem methodologischen Individualis-
mus in emanzipatorischer Perspektive, der davon ausgeht, dass der So-
zialnominalismus die korrekte Beschreibungsweise für kommunisti-
sche Gesellschaften sei: »Sobald die Menschen aufhören, sich […] die
dinghafte Herrschaft des Allgemeinen […] gefallen zu lassen, gilt der
›Nominalismus‹ wieder, das heißt, es wird ein Zustand erreicht, in wel-
chem die merkwürdigen Entitäten verschwinden, denen die Menschen
ausgeliefert sind […] Das Ganze geht planvoll aus bewußten und ver-
nünftigen Akten der Individuen hervor«. 12 Dadurch verliere auch der
Bereich des Geistig-Kulturellen seinen »Überbaucharakter«. 13 Aller-
dings geht Habermas weit über die Kritik an solchem Idealismus hi-
naus und will zugleich das »evolutionär vorteilhafte […] Integrations-
niveau« (TkH II 499) verselbständigter Formen wie Staat und Kapital
loben, womit er ein sozialdemokratisches Lebensweltschutzprogramm
in den Rang einer kritischen Gesellschaftstheorie erhebt. 14 Habermas

12 Schmidt: »Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie – Diskussion«.


In: ders./Walter Euchner (Hrsg.), Kritik der politischen Ökonomie heute. 100 Jahre
›Kapital‹. Frankfurt a. M. 1972, S. 48–57, hier: S. 52.
13 Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx (s. Anm. 6), S. 143. Meinhard

Creydt versucht, gegen utopistische Leugnungen der Emergenz und Komplexität mo-
derner Gesellschaften und zugleich gegen deren gestaltungspessimistische Verding-
lichung zu argumentieren, wie sie bei Habermas spätestens seit 1981 anzutreffen ist
(Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Gestaltungspessimismus und Utopismus im ge-
sellschaftstheoretischen Denken. Frankfurt a. M./New York 2000).
14 Die Ausblendung klassenspezifischer Probleme des Sozialstaats, die bei Habermas

vor allem in den 1980er-Jahren erkennbar wird, ist ein Kapitel für sich. Dass hier die
Eigendynamik der Akkumulation und bürokratischen Machtausübung mit kommuni-
kativ rationalisierten Lebensweltstrukturen, sprich: dem, was Habermas noch unter
Emanzipation versteht, »versöhnt« (TkH II 530) sei, dass die »Beschäftigtenrolle ihre
krankmachenden proletarischen Züge« verliere (TkH II 514), dass »der Kapitalismus«
»solange gut [ging]«, wie er sich auf die »materielle […] Reproduktion« (Habermas: Die
Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V. Frankfurt a. M. 51991, S. 194,

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

behauptet dabei ohne empirische Fundierung, lediglich aus der ver-


harmlosenden definitorischen Zurichtung seines Geld- und System-
begriffes heraus, 15 es ließe sich eine »schmerzlose Entkoppelung des
monetär-bürokratischen Komplexes« von der »›schmerzensreiche[n]‹
Kolonialisierung der Lebenswelt unterscheiden«. 16 Ich komme darauf
zurück.
»Marx«, so jedenfalls Habermas, »hätte sich« des Hegel’schen
»Modells bedienen und jene disproportionale Aneignung des Mehrpro-
duktes, das den Klassenantagonismus zur Folge hat, als ›Verbrechen‹
konstruieren können.« (EI 78) Das Modell einer zerrissenen sittlichen
Totalität bezieht sich aber, wie Habermas betont, auf einen »aus kul-
tureller Überlieferung gezimmerte[n] institutionelle[n] Rahmen« (EI
79). Die Verkehrsform begreift er daher als Praxis »unter Normen, die
mit der Gewalt von Institutionen darüber entscheiden, wie Kompeten-
zen und Entschädigungen, Obligationen und Belastungen des sozialen
Haushaltes auf die Mitglieder verteilt werden« (EI 71). Im Philosophi-
schen Diskurs wird dies, György Márkus zustimmend referierend, wie-
derholt: »Handlungsnormen« begründen ein System von »Rechte[n]
und Pflichte[n]«, das sich in »soziale[n] Rollen« manifestiert, »die ih-
rerseits Tätigkeiten, Fähigkeiten und Bedürfnisbefriedigungen« ebenso
festlegen wie die »Verteilung der Produktionsmittel und des produzier-
ten Reichtums« (DM 100).
Gegen diesen rechtsphilosophischen Reduktionismus ist geltend
zu machen, dass die von Habermas im Zusammenhang mit dem insti-
tutionellen Rahmen erwähnte Privatrechtsordnung die Form eines
nichtrechtlichen Inhalts darstellt, der wiederum eine ökonomisch-so-
ziale Form ist. 17 Hier identifiziert Marx Geltungsverhältnisse gänzlich

189, 194) konzentrierte, darf füglich bezweifelt werden. Habermas’ Konsequenz war der
Satz: »Ich finde es eleganter [!] und plausibler, dem Kapitalismus zu geben, was des
Kapitalismus ist« (ebd.). Lars Meyer stellt fest, dass »wesentliche theoretische Grund-
entscheidungen« von Habermas sich »an der als Normalzustand antizipierten Dynamik
des Fordismus« orientieren. Dieser Fordismus wird dann auch nur noch bürokratiekri-
tisch angegriffen (Absoluter Wert und allgemeiner Wille. Zur Selbstbegründung dia-
lektischer Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005, S. 225).
15 Hans Joas: »Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus«. In: ders.:

Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1992, S. 171–204, hier: S. 204.


16
A. a. O., S. 203.
17 Das moderne Recht ist für Marx notwendige Implikation des Warenverhältnisses:

Umberto Cerroni bezeichnet es als »Form des Zusammenhangs des Willens der einzel-
nen Individuen, die durch die wirkliche Vermittlung der Sachen gesellschaftlich auf-

131

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Ingo Elbe

anderer Art, als sie auf der Ebene bewusster moralisch-juridischer An-
erkennungskonflikte zu identifizieren sind, und das macht das eigent-
lich Ökonomische an seinem Gegenstand aus. 18 Habermas hingegen
bildet die Assoziationskette: (Rechts-)Norm – institutioneller Rahmen
– Klassenkampf – Gewalt. »Die Klassenbeziehungen erscheinen bei
Habermas« damit, wie Klaus Ottomeyer anmerkt, »als personal-un-
mittelbare«, 19 eben weil er die spezifische Synthesis durch Arbeit, wie
Marx sie anhand der Warenform entfaltet, ausblendet. An ökonomi-
schen Verhältnissen nimmt Habermas nur das zwangsbewehrte wech-
selseitige Willensverhältnis privat-dissoziierter Rechtssubjekte wahr,
die ökonomische Form, die sachlich vermittelte Einheit der Arbeiten
und Produkte unter der Bedingung ihrer systematischen Dissoziation,
existiert für ihn gar nicht. Sie fällt zwischen Mensch-Mensch- (Inter-
aktion) und Mensch-Ding-Verhältnissen (›Arbeit‹) hindurch. Das Ei-
gentumsverhältnis – beim frühen Habermas der Kern des normativ
gesteuerten institutionellen Rahmens – ist hingegen ein weit über nor-
mativ regulierte Vergesellschaftung hinausgehender Reproduktions-
kreislauf, 20 der historisch mit der gewaltsamen Trennung der unmittel-
baren Produzenten von ihren Produktionsmitteln beginnt und sich
anschließend als strukturelle Reproduktion dieser Ausgangssituation
vermittelt durch Tausch von Äquivalenten und den darin implizierten
Anerkennungsverhältnissen der Tauschsubjekte darstellt. Rechtliche
Willensverhältnisse, soziale Kämpfe und staatliche Rechtsgarantien
bleiben zwar ein konstitutives Element der modernen Eigentumsver-

einander bezogen sind« (Marx und das moderne Recht. Frankfurt a. M. 1974, S. 91).
Wenn Marx davon spricht, dass der Rechtsinhalt die Rechtsform bestimmt oder diese
jenen ausdrückt bzw. widerspiegelt (MEW 23, S. 99), so nur dahingehend, als dieser
Inhalt, das ökonomische Verhältnis, selbst eine spezifische Form aufweist: den Wert als
Vergesellschaftungsform privat-dissoziierter Produkte, die sich im Willensverhältnis
der Akteure reproduzieren muss. Keineswegs ist damit gemeint, dass sich ein partiku-
lares Klasseninteresse unmittelbar zum Recht aufschwingt.
18 Vgl. Heinrich: Wie das Marxsche »Kapital« lesen? Hinweise zur Lektüre und Kom-

mentar zum Anfang von »Das Kapital«. Stuttgart 2008, S. 119: »Die Geltung, um die es
hier geht, ist also weder eine von den Tauschenden vereinbarte noch eine vom Staat
auferlegte Geltung. Es ist vielmehr ein mit der auf Tausch beruhenden Ökonomie
strukturell gegebenes Verhältnis.«
19 Klaus Ottomeyer: Soziales Verhalten und Ökonomie im Kapitalismus. Vorüber-

legungen zur systematischen Vermittlung von Interaktionstheorie und Kritik der poli-
tischen Ökonomie. 2. durchges. u. erw. Aufl. Gießen 1976, S. 31.
20
»Das bürgerliche Eigentum definieren heißt somit nichts anderes, als alle gesell-
schaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Produktion darstellen« (MEW 4, S. 165).

132

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

hältnisse, die aber eben nicht darauf reduzierbar sind. Die ökonomische
Vermittlung, die bei Habermas in der rechtlichen Dimension des »frei-
en Arbeitsvertrages« (EI 70) aufgeht, hängt vielmehr am Wert- qua
Tauschverhältnis und dessen Verselbständigungstendenzen. Diese blei-
ben in der Perspektive von Habermas ausgespart. Zwar gibt es auch
Marx zufolge keine Eigentums- und Austauschverhältnisse ohne Recht
(Synthesis der Willen unter der Bedingung und mit der Folge ihrer
systematischen Dissoziation in privat-isolierte), dieses ist aber zugleich
Implikation von normativ unkontrollierten, originär ökonomischen
Relationen (Synthesis der Arbeiten und Produkte unter der Bedingung
und mit der Folge ihrer systematischen Dissoziation in privat-iso-
lierte).
Dieter Wolf stellt daher zu Recht fest, die Konsequenz der Haber-
mas’schen Theoriestrategie sei, dass »die mit dem ›institutionalisierten
Gewaltverhältnis‹ angesprochene Gesellschaftlichkeit der Produktion
nichts mit dieser in ihrer historisch spezifisch gesellschaftlichen Form-
bestimmtheit zu tun« habe, weshalb dieses Gewaltverhältnis dann
»ohne jegliche Rücksicht auf die Produktion« als »im Rahmen ›sym-
bolischer Interaktion‹« veränderbar erscheine: »Losgelöst von der Pro-
duktion, ohne eine historisch spezifische […] Formbestimmtheit zu
besitzen, hat sich unter der Hand das Kapitalverhältnis in irgendein
›institutionalisiertes Gewaltverhältnis‹ verwandelt, das wie jedes ande-
re Herrschafts-Knechtschaftsverhältnis […] ein Verhältnis von Men-
schen zueinander ist, dessen Spezifik darin besteht, seit Menschen-
gedenken ein ›Zusammenhang symbolisch vermittelter Interaktion‹
zu sein.« 21 Habermas spricht denn auch meist von der Aneignung von
Mehrprodukt, der tatsächlich vorkapitalistischen Form der Ausbeu-
tung, nicht von Mehrwert, der tauschvermittelten kapitalistischen
Form, die eine Synthesis durch Arbeit voraussetzt. Habermas erscheint
der anonyme, wertvermittelte Herrschaftscharakter des gesellschaftli-
chen Verhältnisses der Produzenten als bloß sachlich verschleierte Ge-
stalt personaler Herrschaft, 22 was sich schließlich auch an seinem Sank-

21 Wolf: Habermas’ Kritik des ›Marxschen Produktionsparadigmas‹. http://www.dieter


wolf.net/pdf/Habermas_Schmidt_Produktionsparadigma.pdf (2012), S. 44.
22 Hartmut Neuendorff weist auf diese Verfehlung des Marx’schen Gegenstands hin,

wenn er bemerkt, die »entscheidende Differenz« zwischen Normen und Preisen liege
darin, »daß das gesellschaftliche Verhältnis der Individuen in ihren produktiven Tätig-
keiten im Marktverkehr als ein Verhältnis von Sachen erscheint, und zwar vermittelt
durch die in Preisen erscheinenden Wertrelationen der Waren. Eine derartige Verkeh-

133

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tionsbegriff zeigt: Er unterscheidet zwei Formen von Sanktionen, näm-


lich Bestrafungen aufgrund konventioneller Normen im Sinne eines
»Scheitern[s] an Autorität«, sowie ein »Scheitern an der Realität« im
technischen Sinne (TWI 64). Die Sanktionierung, die der Markt bereit-
hält, besteht aber weder in der einen noch in der anderen Form, son-
dern liegt zwischen materiellen Zwängen, die »aus der Gegebenheit der
materiellen Welt und den physischen Merkmalen des Körpers« her-
rühren und negativen Sanktionen, die »aus bestrafenden Reaktionen
einiger Handelnder anderen gegenüber abgeleitet« 23 sind. Sie liegt in
sozialstrukturellen Zwängen. Denn die »Bewegungen des Marktes«, so
stellt Ottomeyer fest, »gehorchen weder ›technischen Regeln‹ noch
Normen, die einer Dialektik der Anerkennung entstammen – es sei
denn, man wolle das Wertgesetz, welches sich […] über die Intention
[sic!] aller Beteiligten hinweg durchsetzt, auf irgendeine Übereinkunft
der betroffenen Subjekte zurückführen«. 24 Statt die über das gesell-
schaftliche Verhältnis der Sachen im Tausch vermittelte Reproduktion
sozialer Gruppen und die klassenspezifisch vermittelte Reproduktion
verselbständigter ökonomischer Formen und Funktionen als notwen-
digen Zusammenhang zu begreifen, zerteilt Habermas diesen: Wäh-
rend im interaktionistischen Teil seiner Theorie anonyme Zwänge auf
personale reduziert werden, wird im technizistischen, später system-

rung gesellschaftlicher Verhältnisse in ein Verhältnis von Sachen tritt […] nie im norm-
geregelten Verhalten zwischen Interaktionspartnern auf.« (Der Begriff des Interesses.
Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx. Frankfurt a. M.
1973, S. 107 cf. Fn.).
23 Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der

Strukturierung. Frankfurt a. M./New York 1992, S. 230.


24 Ottomeyer: Soziales Verhalten und Ökonomie im Kapitalismus (s. Anm. 19), S. 30.

Daher sind Ottomeyer zufolge auch die Begriffe ›Charaktermaske‹ und ›Rolle‹ zu un-
terscheiden: »Die aus der Eigendynamik der ökonomischen Verhältnisse resultierende
Formbestimmtheit der Begegnung konkret-sinnlicher Personen tritt diesen als Charak-
termaske gegenüber.« Im Gegensatz zur Rolle seien die mit der Charaktermaske be-
zeichneten »Anforderungen nicht als Erwartungen von Personen«, sondern als struk-
turelle Zwänge zu kennzeichnen (ebd., S. 83). Márkus konstatiert, dass im Kapitalismus
die »grundlegenden Maximen ökonomischen Verhaltens […] als universelle und wert-
freie Vernunftprinzipien« erscheinen (Die Welt menschlicher Objekte (s. Anm. 1),
S. 46). Die Verletzung dieser Prinzipien lasse das Verhalten des Akteurs »dank kausaler
Zusammenhänge (und nicht aufgrund unmittelbarer sozialer Sanktionen) [als] genauso
›erfolglos‹ erscheinen […], als wenn es gegen die technischen Regeln des Gebrauchs
eines bestimmten Werkzeugs verstoßen hätte« (ebd.). Dieser Als-ob-Charakter geht
bei Habermas verloren.

134

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

theoretischen, Teil Herrschaft in differenzierungstheoretisch unver-


meidliche Sachzwänge aufgelöst. Bezeichnend dafür ist auch die
Angabe des Rationalisierungsziels im ›Subsystem zweckrationalen
Handelns‹, das Habermas mit »Steigerung der Produktivkräfte; Aus-
dehnung der technischen Verfügungsgewalt« (TWI 64) angibt. Auch
hier erscheint Ökonomie generell als Veranstaltung zur technischen
Effizienzsteigerung, nicht zur Profitmaximierung.
Die Verfehlung des mit den Kategorien der abstrakten Arbeit und
des Werts verbundenen Konzepts ökonomisch-anonymer Zwänge lässt
sich schließlich auch in Habermas’ Auseinandersetzung mit Peter
Winchs sprachspieltheoretischer Konzeptualisierung des Sozialen ent-
decken. Winch zufolge sind gesellschaftliche Verhältnisse ausschließ-
lich durch Rekurs auf das Wirklichkeitsverständnis der Handelnden zu
begreifen. 25 Für ihn gilt, »daß die sozialen Beziehungen zwischen Men-
schen und den in den Handlungen der Menschen verkörperten Ideen in
Wahrheit dieselbe Sache« 26 sind, gesellschaftliche Verhältnisse »zwi-
schen Menschen nur in ihren Ideen und durch diese« 27 existieren.
Solche Ideen seien auch Geld, Eigentum oder ökonomische Transaktio-
nen. 28 Habermas hat zwar bereits 1967 u. a. 29 diesen Idealismus kriti-
siert. So folgert er: »Die Objektivität eines Überlieferungsgeschehens,
das aus symbolischem Sinn gemacht ist, ist nicht objektiv genug.« Die
»Metainstitution der Sprache als Tradition ist offenbar ihrerseits ab-
hängig von gesellschaftlichen Prozessen, die nicht in normativen
Zusammenhängen aufgehen.« (LdS 307) Die »nichtnormativen«
Zwänge, »die in Sprache als Metainstitution hineinragen«, fasst Haber-
mas aber lediglich als unmittelbare »Gewalt« einerseits, die »Systemen
der Herrschaft« zugeordnet wird (LdS 308), als »Zwang der äußeren
Natur« andererseits, der sich in »Systemen der Arbeit« geltend machen
soll (LdS 309). Wieder fällt spezifisch-ökonomischer Zwang durch die-
ses anthropologisierende Raster hindurch.
Nun könnte eingewendet werden, Habermas spreche doch zumin-
dest an wenigen Stellen den anonymen Charakter ökonomischer Herr-
schaft an. Tatsächlich liest man in Legitimationsprobleme im Spät-

25 Vgl. Peter Winch: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philoso-
phie. Frankfurt a. M. 1974, S. 34 f.
26
A. a. O., S. 154.
27 A. a. O., S. 157.

28
Vgl. a. a. O., S. 151.
29 Dies ist zugleich gegen Gadamers Hermeneutik gerichtet.

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Ingo Elbe

kapitalismus, »das Klassenverhältnis« könne Marx zufolge »in der un-


politischen Form der Lohnabhängigkeit anonyme Gestalt annehmen«
(LS 43), oder wird in der Theorie des kommunikativen Handelns er-
wähnt, Marx spreche von einem »versachlichten, anonym gewordenen
Prozeß der Ausbeutung« (TkH II 492). Habermas verbleibt hier aber
im personalistischen Paradigma des Traditionsmarxismus. Diese Ano-
nymität ist nämlich wieder nichts anderes als die sachliche Verschleie-
rung von Klassenverhältnissen und Ausbeutung – Habermas geht es
lediglich um die »privatrechtlich sanktionierte Macht« von »Produkti-
onsmitteleigentümern« (LS 43), die hinter der ›sachlichen Hülle‹ ste-
cke. Diese Macht existiert zwar auch, doch bezeichnet anonyme Herr-
schaft gerade die Verselbständigung von Strukturmomenten sachlich
vermittelten Handelns allen Akteuren gegenüber – die Herrschaft des
Werts bzw. Kapitals, nicht eine bloß verschleierte Herrschaft der Kapi-
talisten. 30 Zudem dient Habermas dieses Marx-Referat lediglich zur
Abgrenzung von dessen Position: Er erwähnt diese Verkopplung von –
unbegriffener – Sachlichkeit und Herrschaft lediglich, um sie sogleich
zu leugnen und den »evolutionären Eigenwert« (TkH II 499) verselb-
ständigter Subsysteme herauszustellen – sprich: die vermeintlich für
alle nützlichen Errungenschaften von Staat und Kapital zu loben.

Normfreie Steuerung mittels Geldmedium

In seinen späteren Schriften wird das technizistische Vokabular, mit


dem die Sphäre der ›Arbeit‹ charakterisiert wird, systemtheoretisch
variiert. Hier ist vor allem das Konzept des Geldes als symbolisch ge-
neralisiertes Kommunikationsmedium zu nennen, mit dem Habermas
nun die interaktionistisch nicht zu erfassende Dimension moderner
Gesellschaften beschreiben will. Der Medienbegriff ist aber kein Ersatz
für den ökonomiekritischen Begriff der sozialen Formen Geld und Ka-
pital, weil er deren Herrschaftsaspekt ignoriert, die darin angelegten
Krisenpotentiale verdeckt und die Frage der Möglichkeit einer syste-
matischen, sich reproduzierenden Tauschökonomie, in der das Mittel
jenseits aller Nutzenerwägungen der Akteure zum Zweck verkehrt

30 ›Anonym‹ ist in der Habermas’schen Begriffsverwendung eine Anonymisierung tat-


sächlich personal zurechenbarer Verhältnisse – so, wie man einen Autor unkenntlich
macht, der aber nach wie vor existiert.

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

wird, gerade nicht beantworten kann. 31 Zwar spricht Habermas in der


Theorie des kommunikativen Handelns von einem Bereich »normfreie
[r] Sozialität« (TkH II 362) und bezeichnet Marktmechanismen als
»nicht-normative Steuerung von subjektiv unkoordinierten Einzelent-
scheidungen« (TkH II 226): Während in der Lebenswelt bzw. dem in-
stitutionellen Rahmen ein Prozess normenregulierter Vergesellschaf-
tung über reziproke Abstimmung der Handlungsorientierungen der
Beteiligten aufeinander stattfinde, werde in den Subsystemen Ver-
gesellschaftung auf entsprachlichte Steuerungsmedien umgestellt (vgl.
TkH II 269, 273), wobei der gesellschaftliche Zusammenhang über die
»funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen« (TkH II 226) her-
gestellt werde. Diese Bestimmungen werden allerdings nicht inhaltlich
mit der verselbständigten Kapitallogik, anonymen Zwängen und der
Reproduktion von Klassenverhältnissen verbunden. Im Gegenteil be-
trachtet Habermas die Leistungen des Subsystems Wirtschaft als Er-
füllung von »Erhaltungsbedingungen soziokultureller Lebenswelten«
(TkH II 228). Er schließt sich dem neoklassischen Ansatz von Parsons
an, der die Funktion des Wirtschaftssystems »auf die Produktionsleis-
tungen der Wirtschaft« (TkH II 363) bezieht. Oder um es klarer aus-
drücken, er strickt mit an der Ideologie, die Wirtschaft sei auch im
Kapitalismus eigentlich für den Menschen da. Zwar weist auch Haber-
mas auf Differenzen zwischen Sprache und Geld hin (TkH II 397), doch
er konzipiert Geld kritiklos in neoklassischer Weise als Nutzensymbol:
Es wird erstens als bloßes Medium des Austauschs und zwar zweitens
von Gütern (!) verwendet, wobei es schließlich drittens »messbare
Wertmengen verkörpern« soll, »auf die sich […] alle Teilnehmer als
objektive Größe beziehen können« (ebd.). Der »generalisierte Wert«
des Geldes soll dabei im »Nutzen« liegen und steht in einem nicht

31 Vgl. zur Kritik der Verharmlosung des Geldes als Kommunikationsmedium: Heiner
Ganßmann: Geld und Arbeit. Wirtschaftssoziologische Grundlagen einer Theorie der
modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M./New York 1996, S. 130–146; Creydt: Theorie
gesellschaftlicher Müdigkeit. (s. Anm. 13), S. 149–151; Hanno Pahl: Zu Begriff und
Wirklichkeit des ökonomischen Systems bei Marx und Luhmann. http://www.rote-
ruhr-uni.com/cms/Zu-Begriff-und-Wirklichkeit-des.html (2003). In den Grundrissen
findet man folgende Aussage, die auf die unpassende Analogie zwischen in Sprache
ausgedrückten Ideen und im Geld ausgedrücktem Wert Bezug nimmt: »Das Geld mit
der Sprache zu vergleichen ist […] falsch. Die Ideen werden nicht in der Sprache ver-
wandelt, so daß ihre Eigentümlichkeit aufgelöst und ihr gesellschaftlicher Charakter
neben ihnen in der Sprache existierte, wie die Preise neben den Waren.« (MEW 42,
S. 96).

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näher erläuterten Zusammenhang mit dem »Gebrauchswert«, den


Habermas als »[r]eale[n] Wert« (TkH II 409) bezeichnet. 32 Heiner
Ganßmann weist zu Recht auf den unklaren Nutzenbegriff und die
noch unklarere Idee einer Nutzenmessung hin, die Habermas hier un-
terstellt. Gibt er doch nicht den leisesten Hinweis darauf, wie er sich die
Messung von Nutzen vorstellt und was es bedeutet, dass Geld »Wert-
mengen« »symbolisiert« (TkH II 397), diese misst und speichert. Wenn
»eine Quantifizierung von Macht« laut Habermas »nicht möglich« ist
(TkH II 402), dann fragt sich, warum dies mit Nutzen der Fall sein soll.
Mehr als eine verschwiegene neoklassische Orthodoxie hat Habermas
hier nicht zu bieten: er konstatiert mit einem fragwürdigen Autoritäts-
argument lediglich den »Umstand, daß die Wirtschaftswissenschaft
Geld […] bereits gut analysiert hatte« (TkH II 387). 33 Auch die neo-
klassische Idealisierung des Tausches zur symmetrischen Veranstal-
tung optimaler reziproker Nutzenmaximierung wird von Habermas
reproduziert, stellt er doch fest, dass »die Tauschbeziehung keinen der
Beteiligten strukturell in seinem Nutzenkalkül benachteiligt, und der
Tauschvorgang, wie wir sagen [!], im beiderseitigen Interesse liegt«
(TkH II 405).
Die Tatsache, dass Geld die Partizipation am gesellschaftlichen
Reichtum für die Akteure buchstäblich äußerlich werden lässt – es mar-
kiert eine Vermittlung, die eine scharfe Trennung vom Gegenstand des
Bedürfnisses, das Privateigentum, den Ausschluss vom Reichtum, vo-
raussetzt (vgl. MEW 3, S. 75–77; MEW 42, S. 90, 95 ff., 148, 173 ff.) –
wird in diesem Zusammenhang ebenso ignoriert, wie die Möglichkeit
der Krise, die bereits mit dem Geld gegeben ist (vgl. MEW 23, S. 128), 34
sowie die Verkehrung des Mediums in ein Ziel der Ökonomie, das sich
von allen menschlichen Zwecksetzungen emanzipiert und diese unter

32 Auch diese ›entsprachlichten Medien‹, die die systemische Einheit stiften sollen, wer-
den von Habermas also nicht auf ihren Zusammenhang mit gesellschaftlicher Arbeit
hin durchsichtig gemacht.
33 Zur Kritik des neoklassischen und traditionskeynesianischen Geldbegriffs vgl. Hans-

jörg Herr: »Geld – Störfaktor oder Systemmerkmal?«. In: Prokla 63 (1986), S. 108–132;
Ganßmann: Geld und Arbeit. (s. Anm. 31), S. 128 ff.; Heinrich: Die Wissenschaft vom
Wert (s. Anm. 8), S. 69 ff., 250 f.
34 Vgl. auch Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 8), S. 251: »Der Bezug auf

Geld, über den sich überhaupt erst ein kohärenter gesellschaftlicher Zusammenhang
herstellt, impliziert so zugleich die Gefahr einer Zerstörung dieser Kohärenz […] Indem
Klassik und Neoklassik das Geld auf die Rolle eines bloß technischen Mittlers reduzie-
ren […], abstrahieren sie von der Möglichkeit der Krise.«

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

sich subsumiert. Lediglich ein verwaschener Hinweis darauf, dass Geld


»von Unternehmern investiert« werden kann (TkH II 397), bleibt da-
von übrig. Ansonsten will Habermas »[a]uf den systembildenden Ef-
fekt« des Geldes unter »bestimmten evolutionären Bedingungen«
»hier nicht näher eingehen« (TkH II 399), er benötigte dazu auch einen
Begriff von Kapital und Klassen, den er nicht liefert. Im Gegenteil stellt
er einseitig auf die Reduzierung von Interpretationsaufwand und die
Verringerung von Dissensrisiko ab, welche das Geld mit sich bringen
soll (TkH II 392 ff.), womit er es einem bloßen technischen Mittel der
Nutzenmaximierung annähert, dessen Imperative nur nicht auf die le-
bensweltlichen Bereiche übergreifen dürfen, um als tolerabel zu gelten.
Solche Übergriffe oder Kolonialisierungseffekte, wie Habermas sie be-
zeichnenderweise nennt, sind für ihn allerdings rein äußerliche 35 (da-
her die Kolonialisierungsmetapher) und »zufällige Verselbständigung
[en]«, 36 die mit dem universalisierten Geldmedium nicht intrinsisch
verknüpft sind. 37 In einem späteren Aufsatz stellt Habermas allerdings
fest, dass »die Umstellung auf mediengesteuerte Interaktionen« für
den Handelnden »eine objektive Verkehrung von Zwecksetzung und
Mittelwahl zur Folge« hat, weil das »Medium selbst […] jetzt die Be-
standserhaltungsimperative des zugehörigen Systems« »übermittelt«
und solche Interaktionen daher »nicht mehr eine instrumentelle, in
der Zweckrationalität der Entscheidungsträger lokalisierte Vernunft
[verkörpern], sondern eine den selbstgesteuerten Systemen innewoh-
nende funktionalistische Vernunft« (ND 83). Diese Einsicht bleibt aber
abstrakt. Sie wird weder ökonomie- oder politiktheoretisch gefüllt,
noch wird überhaupt klar, was Bestandserhaltung inhaltlich bedeutet
oder was an der funktionalistischen Vernunft vernünftig sein soll,
wenn hier eine Entkopplung von Akteursrationalität jeglicher Art
stattfindet. 38 Alles in allem ist Ganßmann zuzustimmen, wenn er mit
35
Habermas’ Kolonialisierungsbegriff ignoriert systemimmanente Friktionen zudem
weitgehend, sodass seine Theorie an »ökonomische[n] Krisen und eine[r] hohe[n] Dau-
erarbeitslosigkeit«, wie sie zunehmend die Zeit seit den 1980er-Jahren prägt, schlicht
»vorbeizielte« (Hans Joas/Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vor-
lesungen. Frankfurt a. M. 22006, S. 346).
36 Lars Meyer: Absoluter Wert und allgemeiner Wille. Zur Selbstbegründung dialekti-

scher Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005, S. 230.


37
Dies geht so weit, dass Habermas einmal gar die Utopie einer Entkopplung von
Marktwirtschaft und Lohnarbeitsverhältnis andeutet (ders.: Die Neue Unübersichtlich-
keit (s. Anm. 14), S. 255). Das bleibt allerdings theoretisch folgenlos und m. W. singulär.
38 Meyer kritisiert dies als Versuch, verselbständigte Dynamiken mittels einer »objek-

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Blick auf Habermas’ Geldbegriff feststellt, er führe »durch Begriffs-


muster erstaunlicher Ziseliertheit, um dann zu dem Ergebnis zu kom-
men, daß das Geld eine komplizierte, aber harmlose Einrichtung ist.« 39

›Arbeit‹ als Modell für Praxis?

Zu Recht hält Moishe Postone fest, dass Habermas’ »Kritik der


Marxschen Auffassung einer Synthesis durch Arbeit auf einem Ver-
ständnis von Arbeit als konkreter Arbeit überhaupt […] beruht.« 40
Marx reduziere Praxis aber nicht auf Arbeit, sondern untersuche, »wie
das gesellschaftliche Leben, das in anderen Gesellschaften zwei Dimen-
sionen ausmachen dürfte, im Kapitalismus verschmolzen ist, insofern
beide Dimensionen hier durch Arbeit vermittelt werden.« 41 D. h. kon-
krete Arbeit hat für Marx zwar stets gesellschaftlichen Charakter. Er
betont, dass die Menschen nur produzieren, »indem sie auf eine be-
stimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander
austauschen […] nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen
und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf die Natur statt« (MEW 6,
S. 407). Allerdings, und darauf will Postone hinaus, ist konkrete Arbeit
in vorkapitalistischen Verhältnissen wesentlich normativ vermittelt,
während sie in kapitalistischen vor allem durch abstrakte Arbeit ver-
mittelt ist. Warum ignoriert Habermas dann aber diese zusätzliche ge-
sellschaftliche Dimension der Arbeit als abstrakte Arbeit? Eine wesent-
liche Quelle der Unterstellung, Marx favorisiere einen weitgehend
monologischen Arbeitsbegriff, ist fraglos der selektive Bezug auf un-
terschiedliche Ebenen der Darstellung im Kapital: Habermas’ Deutung
reißt dabei Aussagen u. a. aus dem 5. Kapitel aus ihrem Zusammen-
hang und erklärt diese zu Marx’ sozialtheoretischer Grundlegung
schlechthin. Was nicht berücksichtigt wird, ist die Tatsache, dass Marx
hier bewusst die Abstraktion »des« Arbeiters konstruiert und dessen
Tätigkeit in ihren »einfachen und abstrakten Momenten« (MEW 23,
S. 198) betrachtet, um zu zeigen, dass es dabei um Bestimmungen geht,

tivistische[n] Vernunftmetaphorik« zu erfassen (Absoluter Wert und allgemeiner Wille


(s. Anm. 36), S. 235).
39
Ganßmann: Geld und Arbeit. (s. Anm. 31), S. 131.
40 Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpreta-

tion der kritischen Theorie von Marx. Freiburg 2003, S. 350.


41 A. a. O., S. 352.

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

die allen menschlichen Arbeitsprozessen eigentümlich sind und die


sich von der gesellschaftlichen Form unterscheiden, die der Arbeitspro-
zess im Kapitalismus annimmt – nämlich Verwertungsprozess des
Werts zu sein. So kann Marx denn auch sagen, es sei »daher nicht
nötig, den Arbeiter im Verhältnis zu andren Arbeitern darzustellen.
Der Mensch und seine Arbeit auf der einen, die Natur und ihre Stoffe
auf der andren Seite genügten« (MEW 23, S. 198 f.). Aus einer metho-
disch bewussten Abstraktion zu schließen, hier würden bestimmte
Gestalten des Arbeitsprozesses schlechterdings auf eine einsame hand-
werklich-künstlerische Tätigkeitsform reduziert, bedeutet also ledig-
lich, die Abstraktionsebenen der Marx’schen Argumentation zu igno-
rieren. Dieter Wolf weist auf den spezifischen Charakter der Darstel-
lungsebene des einfachen Arbeitsprozesses hin, die einerseits eine
Abstraktion von allen gesellschaftlichen Aspekten vollziehe, die die
Genese und Reproduktion humanspezifischer Kompetenzen (Denken,
Sprache usw.) bewirken, andererseits aber keine Abstraktion von den
Resultaten dieser gesellschaftlichen Prozesse beinhalten dürfe, ohne zu
einer falschen Abstraktion auf »die instinktartigen Operationen von
bestimmten Tieren« zu geraten: Es werde von der Gesellschaftlichkeit
der Arbeit abstrahiert, ohne die Denken und Sprechen nicht zu er-
klären seien. Dennoch wird, nachdem das geschehen ist, die übrig ge-
bliebene Seite der gesellschaftlichen Arbeit betrachtet, »ohne in ›tieri-
sche instinktartige Vorformen der Arbeit‹ zurückzufallen«. 42
Wenn Habermas nun die »Kooperation« als »Form gesellschaft-
licher Arbeit« bezeichnet, in der die Abstraktion des einfachen Arbeits-
prozesses »immer schon« qua Interaktion verknüpft sei (EI 72 Fn.), so
verlässt er Wolf zufolge gar nicht den Arbeitsprozess, sondern geht
zum Arbeitsprozess über, der unter dem Einfluss des Kapitalverhält-
nisses »die auf einfacher innerbetrieblicher Arbeitsteilung beruhende
Form der Kooperation erhalten« hat. 43 Mit der Kooperation erfasse
man aber nicht die ganze Gesellschaftlichkeit der Arbeit, weil hier die
Form gesellschaftlicher Arbeitsteilung zugunsten der betrieblichen
einfach ignoriert werde – und gerade bezüglich gesellschaftlicher Ar-
beitsteilung gehe es Marx um die synthetisierende Funktion der Arbeit
als Wertsubstanz und rein gesellschaftliches Verhältnis. Wir sahen
bereits, dass Habermas diese gesellschaftliche Arbeitsteilung wiederum

42
Wolf: Habermas’ Kritik des ›Marxschen Produktionsparadigmas‹ (s. Anm. 21), S. 25.
43 A. a. O., S. 36.

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vom »institutionellen Rahmen«, der rein juridisch verstandenen


»Eigentumsordnung« (EI 74 Fn.), abhängig machen will, während die
Kooperation im kapitalbestimmten Arbeitsprozess eine bewusst kalku-
lierende instrumentelle Rationalität bezeuge. Wert und gesellschaft-
liche Synthesis qua abstrakter Arbeit bleiben auch hier unthematisiert.

Naturalistischer Reichtums- und empiristischer Arbeitsbegriff

Es lässt sich zusammenfassend feststellen, dass Habermas’ Begriff des


Reichtums in seinen frühen Schriften in der Tradition einer ricardia-
nischen Marxinterpretation (Robinson, Sweezy, Dobb, Baran u. a.) 44
steht, welche die 50er und 60er Jahre entscheidend geprägt hat. Diese
reduziert, anknüpfend an einige missverständliche Passagen im Kapi-
tal, in denen in der Tat naturalistisch klingende Charakterisierungen
der Wertquelle als »Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel,
Nerv, Hand usw.« (MEW 23, S. 58, vgl. auch S. 61) zu finden sind, die
sogenannte Wertsubstanz auf eine physiologische oder wenigstens em-
pirische Größe: Marx versuche, in der Bestimmung der Wertsubstanz
»realistisch zu sein, […] etwas Beobachtbares und Wichtiges«, 45 resp.
»einen physiologischen Prozeß […] eine Naturbasis-Ebene« 46 zu ent-
decken. Diese naturalisierende und vornehmlich quantitativ orientierte
Interpretation der Marx’schen Kategorien blendet erstens den qualita-
tiven Aspekt der Frage nach Wert- und Wertsubstanz aus und rekur-
riert hinsichtlich der Bestimmungsgründe des Werts lediglich auf die
quantitative Dimension der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeits-
zeit; sie lässt zweitens den inneren Zusammenhang von Wert und
Wertform, resp. Geld außer acht und verhält sich drittens gegenüber
der Struktur dialektischer Darstellung ökonomischer Kategorien völlig
indifferent.
So unterstellt auch Habermas Marx bereits 1960 eine Auffassung
von Wert als »naturgeschichtliche[m] Datum« (TP2 257) und spricht
von »physischer Ausbeutung« (TP2 256). Dieser naturalistisch ver-

44 Vgl. Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit (s. Anm. 14), S. 214.


45
Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II. Falsche Propheten:
Hegel, Marx und die Folgen. Tübingen 82003, S. 206.
46
Wolfgang Fritz Haug: Vorlesungen zur Einführung ins ›Kapital‹. Berlin/Hamburg
51989, S. 113.

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

engte Blickwinkel liegt auch seiner Deutung Marx’scher Aussagen in


den Grundrissen als These einer Wertproduktivität der Maschinerie
zugrunde: Marx, so Habermas, habe den Übergang zur automatisierten
Produktion in den Grundrissen so verstanden, dass nun »die Wert-
schöpfung von der unmittelbar produktiven Arbeit auf Wissenschaft
und Technologie übergehen wird« (TP2 258). Tatsächlich spricht Marx
hier aber von der »Schöpfung des wirklichen Reichtums« im Sinne von
Gebrauchswerten, der weniger abhängig werde »von der Arbeitszeit,
als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewe-
gung gesetzt werden«, während die kapitalistische Form des Reichtums
nach wie vor vom »Quantum angewandter Arbeit« (MEW 42, S. 600) 47
im Rahmen des Klassenverhältnisses abhängig bleibe. Habermas arbei-
tet in dieser Marx-Interpretation bereits mit einem Reichtumsbegriff,
der Gebrauchswert- und Wertproduktion konfundiert. Es ist kaum an-
ders zu erklären, dass er Marx’ These aus den Grundrissen in dieser
Hinsicht als »›revisionistischen‹ Gedanken« (TP2 256) auffasst. Es ist
andererseits konsequent, weil es natürlich nicht einleuchtet, einer ›psy-
chophysischen Größe‹ namens Arbeit Wertproduktivität zuzusprechen
und einer anderen psychophysischen Größe, namens Technologie,
nicht. 48 Die darstellungslogische Architektur des Kapital wird von Ha-

47 Vgl. kritisch zu Habermas’ Deutung: Wolfgang Müller: »Habermas und die An-
wendbarkeit der Arbeitswerttheorie«. In: Sozialistische Politik 1 (1969), S. 39–53, hier:
S. 44 ff.; Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 40), S. 353 ff.
48
Gegen die These, technische und arbeitsorganisatorische Strukturen seien als solche
wertproduktiv, zeigt Thomas Seidl (»Materialistische Geschichtstheorie – Ein Problem-
aufriß«. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge (1996), S. 13–34; hier:
S. 22 ff.), dass hier lediglich die stoffliche Produktivität des Kapitals mit der Wertpro-
duktivität der Arbeit konfundiert wird. Tatsächlich gelte der Satz von Marx: »Ihre [der
Arbeiter] Kooperation beginnt erst im Arbeitsprozeß, aber im Arbeitsprozeß haben sie
bereits aufgehört, sich selbst zu gehören […]. Als Kooperierende, als Glieder eines
werktätigen Organismus, sind sie selbst nur eine besondre Existenzweise des Kapitals.
Die Produktivkraft, die der Arbeiter als gesellschaftlicher Arbeiter entwickelt, ist daher
Produktivkraft des Kapitals« (MEW 23, S. 352 f.). Der Synergieeffekt kombinierter Pro-
duktion wird nicht durch Selbstvergesellschaftung der Arbeiter zu einem produktiven
›Organismus‹, sondern durch das Kapital in Gang gesetzt. Die stoffliche Produktivität,
die so erhöht wird – Hervorbringung von mehr Gebrauchswerten in derselben Arbeits-
zeit – affiziert aber »nicht den Tauschwerth unmittelbar. Ob 100 zusammen oder jeder
von den 100 einzeln arbeitet, der Werth ihres Products = 100 Arbeitstagen, ob sie sich in
viel oder wenig Producten darstellen, d. h. gleichgültig gegen die Productivität der Ar-
beit« (MEGA II/3.6, S. 2166 f.). Das nach wie vor von der durchschnittlichen Arbeitszeit
der Einzelnen bestimmte Wertprodukt verteilt sich bei Kooperation also nur auf mehr

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bermas schließlich ebensowenig berücksichtigt wie der systematische


Zusammenhang zwischen Wert und Geld, schließlich schwenkt er spä-
ter auf die subjektive Werttheorie der Neoklassik um, die ebenfalls
naturalistisch ist. 49
Neben diesem frühen Beleg dafür, dass Habermas »die Unter-
scheidung zwischen Wert und stofflichem Reichtum nicht [erfasst]« 50
und den genuin sozialen Gehalt des Begriffes abstrakter Arbeit ver-
fehlt, ließen sich aus späteren Schriften noch viele weitere anführen.
Immer wieder wird Marx vorgeworfen, »[d]ie Werttheorie […] in
handlungstheoretischen Grundbegriffen« durchzuführen, »die dazu
nötigen, die Genese der Verdinglichung unterhalb der Ebene der Inter-
aktion anzusetzen« (TkH II 504), »Handlung nur als produktiv-gegen-
ständliche Tätigkeit verstehen« zu können (G. Lohmann zit. ebd.). »Die
Produktion bildet«, so Habermas, aber »lediglich einen Gegenstand
oder einen Inhalt für normative Regelungen« (DM 101), kann deren
soziale Dimension nicht erfassen. Wie unspezifisch Habermas’ Um-
gang mit Marx’schen Kategorien ist, zeigt auch seine Behauptung aus
der Neuen Unübersichtlichkeit, »[d]ie Klassiker der Gesellschaftstheo-
rie von Marx bis Weber« seien »sich darin einig, daß die Struktur der
bürgerlichen Gesellschaft durch abstrakte Arbeit […] geprägt ist« 51.
Dass Weber einen dem Marx’schen auch nur annähernd ähnelnden
Begriff abstrakter Arbeit formuliert habe, ist allerdings nur dann sinn-
voll zu behaupten, wenn man, wie Habermas, abstrakte Arbeit als eine
besondere Form konkreter Arbeit versteht. Insgesamt macht Haber-
mas’ Rekurs auf die Marx’sche Begrifflichkeit in seinen Spätschriften
zunehmend den Eindruck hochgradiger Beliebigkeit. Was soll zum Bei-

Produkte, wächst aber nicht an, solange die Arbeitszeit nicht verlängert oder die Ar-
beitsintensität nicht vergrößert wird. So erhöht die kapitalbestimmte Kooperation der
Arbeiter die stoffliche Produktivität, ohne mehr Wert hervorzubringen. Die Steigerung
der Produktivkräfte durch arbeitsorganisatorische oder technische Innovationen tastet
keineswegs die quantitativen Grenzen der Wertbildung – Arbeiteranzahl, Arbeitszeit
und -intensität – an, sie umgeht diese Grenzen durch den Prozess relativer Mehrwert-
produktion. Die Aufteilung der Arbeitszeit in notwendige und Mehrarbeit ermöglicht,
in Verbindung mit der sich auf die Konsumtionsmittel der Arbeitskräfte auswirkenden
Produktivkraftsteigerung, eine quantitative Ausdehnung der Verwertung ohne Vergrö-
ßerung des Wertprodukts. Es ist also der gebrauchswertproduktive Charakter des Kapi-
tals, der den Schein seiner Wertproduktivität hervorbringt.
49 Vgl. Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 8), Kap. 2.

50
Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 40), S. 354.
51 Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit (s. Anm. 14), S. 145.

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

spiel »abstrakte […] Arbeitskraft« (TkH II 494) sein? Meint er dequa-


lifizierte Arbeitskraft, wie Marx noch in der Einleitung zu den Grund-
rissen nahelegt? Aber auch diese ist nicht abstrakt und niemals Arbeit
schlechthin im werttheoretischen Sinne. 52 Auch der These, der Tausch-
wert sei die Erscheinungsform des Gebrauchswerts (TkH I 477), ist im
Rahmen der Marx’schen Theorie keinerlei Sinn abzugewinnen, und
einen alternativen bietet Habermas nicht an. Dass schließlich »mone-
tarisierte […] Arbeitskraft« von »Marx ›abstrakte Arbeit‹« genannt
werde (TkH II 493), ist schlichtweg falsch. Allein dass Arbeitskraft
und Arbeit hier zusammengezogen werden, läßt die zunehmende Ten-
denz zu einem regellosen Sprachspiel erkennen, in das Habermas sich
im Zuge seiner Marxaneignung verstrickt.
Einem rein empirischen Arbeitsbegriff verhaftet bleibt schließlich
auch die Diagnose einer »Abwertung der lebensweltlichen Relevanz
der Arbeit« (VE 485). »Das Produktionsparadigma« so Habermas, »gibt
dem Praxisbegriff eine so klare empirische Bedeutung, daß sich die
Frage stellt, ob es mit dem historisch absehbaren Ende der Arbeits-
gesellschaft seine Plausibilität verliert« (DM 99). Hier ist also der Ort
der soziologischen Kritik des Produktionsparadigmas, die Habermas
durch Hinweise auf einen Vortrag von Claus Offe aus dem Jahr 1982
andeutet. Dessen Beobachtungen zum Strukturwandel der Arbeits-
gesellschaft stellen zwar primitive Formen des Arbeiterbewegungsmar-
xismus durchaus in Frage. Doch Offe kann nur glauben, die Erodierung
homogener Industriearbeitermilieus oder die Auflösung kontinuier-
licher Arbeitsbiographien, das Aufkommen neuer sozialer Konflikt-
linien jenseits des Lohnarbeitsverhältnisses und die Ausdehnung staat-
licher Tätigkeiten zur Sicherung allgemeiner Produktionsbedingungen
berührten die Ebene der Marx’schen Kapitalanalyse, weil er den
Arbeitsbegriff des Produktionsparadigmas auf eine besondere Sorte
konkreter Arbeit und spezifische Muster der Organisation des Arbeits-
prozesses, nämlich eine spezifische Ausprägung proletarischer Fabrik-
arbeit, reduziert, die die Lebensverhältnisse vor allem des Kapitalismus
im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert geprägt hätten.
Die »in der Arbeitssphäre gemachte Erfahrung und die dort angetrof-
fenen Verhältnisse« 53 sind gemeint, wenn Offe die These vertritt, dass

52 Vgl. dazu Wolf: Marx’ Verständnis des Werts und der abstrakt menschlichen Arbeit
in den ›Grundrissen‹ (s. Anm. 3).
53 Claus Offe: »Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie?«. In: Joachim Matthes

145

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Ingo Elbe

die »Produktions- und Arbeitssphäre ihre struktur- und entwicklungs-


bestimmende Potenz« 54 verliere und eine »Differenzierung innerhalb
des Arbeitsbegriffs« 55 zu verzeichnen sei. Er reduziert den Marx’schen
Begriff der Arbeit auf die Sphäre unmittelbarer betrieblicher Arbeits-
prozesse und die dort vorherrschenden Formen von »technisch-organi-
satorischer Produktivität«, 56 um die Zunahme funktional unverzicht-
barer, vor allem staatlicher »Dienstleistungsarbeit« als Sprengung des
Marx’schen Begriffsspektrums zu präsentieren. Hier trete nämlich eine
anhand »ökonomisch-strategischer Rationalitätsmaßstäbe« 57 nicht-
normierbare, »aus der unmittelbaren Disziplin erwerbsgesellschaftli-
cher Rationalität und der ihr entsprechenden Leistungs- und Produkti-
vitätskontrolle jedenfalls partiell entlassen[e]« normengeleitete Praxis
zu Tage, die zudem Quelle postmaterialistischer Wertorientierungen
sei und einen »unverzichtbaren Fremdkörper« 58 im System kapitalisti-
scher Reproduktion darstelle.
Offe stellt sich die Form gesellschaftlicher Arbeitsteilung – Marx
zufolge eine »objektive Gleichung, die der Gesellschaftsprozeß gewalt-
sam zwischen den ungleichen Arbeiten vollzieht« – als die »subjektive
Gleichberechtigung der individuellen Arbeiten« (MEW 13, S. 45) bzw.
als bewusst in Zeit gemessene konkrete Arbeit mit ihrem Kriterium
»effizienten Herstellens« 59 innerhalb der betrieblichen Sphäre vor. 60

(Hrsg.): Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologen-


tages in Bamberg 1982. Frankfurt a. M./New York 1983, S. 38–65, hier: S. 41.
54
A. a. O., S. 43 f.
55 A. a. O., S. 48.

56 A. a. O., S. 47.

57 A. a. O., S. 48.

58 A. a. O., S. 49.

59 Offe: Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie? (s. Anm. 53), S. 50.

60 Parallel zu dieser Subjektivierung Marx’scher Kategorien wird der Klassenbegriff auf

das empirische Konzept der sozialen Klasse, auf »in der Arbeit gemachte Erfahrungen«
und Konflikte reduziert (a. a. O., S. 42). Ein Argument gegen die Klassentheorie sieht
Offe darin, »daß sozialökonomischer Status und die in diesen Indikator eingehenden
Einzelvariablen immer weniger geeignet sind, Wahlentscheidungen vorauszusagen.«
(ebd.). Sven Ellmers zufolge können solche Cluster von empirischen »Einzelvariablen«
den formanalytischen Klassenbegriff von Marx nicht treffen, denn dieser ist Element
einer Konstitutionsanalyse sozialformationsspezifischer Reichtumsgestalten (Die form-
analytische Klassentheorie von Karl Marx. Ein Beitrag zur ›neuen Marx-Lektüre‹.
Duisburg 2007, S. 47). Er dient zur Erklärung derjenigen sozialen Verhältnisse, die das
Wesen des Kapitalismus ausmachen. Dagegen erfasst die empirische Sozialstrukturana-
lyse nur asymmetrische Reichtumsverteilungen auf der vorausgesetzten Grundlage der

146

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

Daher sei es der »quantitativ schwer bestimmbare […] Umfang […]« 61


der Leistungen, die die staatlichen Dienstleistungs-, Überwachungs-
und Reproduktionstätigkeiten auszeichnen, die ihre Fremdkörperfunk-
tion ausmachen und an die zumindest Habermas offenbar emanzipato-
rische Hoffnungen geknüpft hat. 62

Schluss

Aufgrund der wenigen mir hier zur Verfügung stehenden Seiten ist es
unmöglich, in auch nur entfernt angemessener Weise zu zeigen, dass
Produktion und Arbeit bei Marx im Gegensatz zur Habermas’schen
Deutung zweidimensionale Kategorien darstellen, die sehr wohl neben
dem Inhalt normativer Regelungen selbst eine Form gesellschaftlicher
Einheit im Kapitalismus darstellen. 63 Es müssen daher wenige Bemer-
kungen genügen.
Arbeit hat Marx zufolge in allen arbeitsteiligen Produktions-
weisen die Funktion der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse,
aber nur unter privat-arbeitsteiligen Bedingungen, die systematische

Wert-, Geld- und Kapitalform. Zudem ist der Inhalt des empirischen Klassenkonzepts
elastisch, da weder die in die Klassenbildung einzubeziehenden Ungleichheitsdimensio-
nen, noch deren quantitativer Aspekt als Grenzwert der vertikalen Unterscheidung
zwischen Klassen eindeutig von den empirischen Verhältnissen festgelegt ist. Dagegen
ist der formanalytische Klassenbegriff durch die »Theorieanlage alternativlos vorgege-
ben, da eine weitergehende Ausfächerung sozialer Klassen zu einer Konfundierung von
kapitalistischer Kernstruktur und einer bestimmten kapitalistischen Entwicklungsphase
führen würde« (a. a. O., S. 54). Für diese Differenz fehlt dem soziologischen Empirismus
von Offe/Habermas jegliches Sensorium.
61 Offe: Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie? (s. Anm. 53), S. 47. Damit wird die

Gültigkeit werttheoretischer Aussagen auf die Beschreibung von mit der Stoppuhr und
in Stückzahlen messbaren konkreten, manuellen Arbeiten begrenzt und rein gesell-
schaftliche Relationen, wie die Wertproduktivität von Arbeiten, auf ihre stofflichen
Träger reduziert.
62 Vgl. u. a. TkH II 581 ff.; Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit (s. Anm. 14),

S. 155 ff.; FG 443 ff.


63 Habermas und seine Schule haben diese seit Jahrzehnten bekannte Kritik ignoriert.

Wer dies nicht nachahmen will, sei zur Entwicklung eines adäquaten Begriffs abstrakter
Arbeit u. a. auf folgende Texte verwiesen: Wolf: Ware und Geld. Der dialektische
Widerspruch im Kapital. Hamburg 1985; Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert
(s. Anm. 8), S. 206–214; zusammenfassend: Ingo Elbe: »Soziale Form und Geschichte.
Der Gegenstand des Kapital aus der Perspektive neuerer Marx-Lektüren«. In: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), S. 221–240.

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Ingo Elbe

Tauschverhältnisse implizieren, kommt ihr die zusätzliche gesell-


schaftliche Funktion zu, einen sozialen Zusammenhang zu stiften. Die
Privatarbeiten »befriedigen [hier] […] nur die mannigfachen Bedürf-
nisse ihrer eignen Produzenten, sofern jede besondre nützliche Privat-
arbeit mit jeder andren nützlichen Privatarbeit austauschbar ist, also
ihr gleichgilt« (MEW 23, S. 87). Die Arbeit des Produzenten erhält
einen Doppelcharakter: »einerseits ist sie eine spezifische Art der Ar-
beit, die besondere Produkte für Andere produziert« – was den gesell-
schaftlichen Charakter konkreter Arbeit ausmacht – andererseits
»dient Arbeit, unabhängig von ihrem besonderen Inhalt, dem Pro-
duzenten als Mittel, die Produkte Anderer zu erwerben.« 64 Diese Funk-
tion kann sie nicht in ihrer konkreten Gestalt ausüben, sondern nur in
ihrer Eigenschaft, Arbeit schlechthin zu sein – als abstrakte Arbeit.
Wir haben es demnach im Kapitalismus mit dem Sachverhalt der Ver-
gesellschaftung von (konkreter) Arbeit durch (abstrakte) Arbeit zu tun.
In allen vorhergehenden Produktionsweisen sind die Arbeiten und
Produkte hingegen nur als »qualitativ besondere bestimmt« 65 und sind
als solche, in ihrer Naturalform, auf Grundlage spezifischer Interakti-
onstypen gesellschaftlich anerkannt. 66 Stofflicher Reichtum als Resul-
tat konkreter Arbeit konstituiert demnach als solcher auch für Marx
keinen sozialen Zusammenhang. 67 Es ist aber »der gesellschaftliche Zu-
sammenhang, worin die Menschen sich ihre Arbeiten wechselseitig als
gesellschaftlich verausgabte anerkennen«, 68 und in vorkapitalistischen
Produktionsweisen ist dieser Zusammenhang dabei den Arbeiten vo-
rausgesetzt – ganz im Habermas’schen Sinne eines ›institutionellen
Rahmens zwingender Normen‹.
Den Unterschied zwischen konkreter und abstrakter Arbeit gibt es
zwar in allen Gemeinwesen und zwar als vom theoretischen Betrachter
gedanklich fixierbare Eigenschaft aller konkreten Arbeiten, auch
menschliche Arbeit schlechthin zu sein. 69 Erst in verallgemeinerten
privat-arbeitsteiligen Produktionsverhältnissen erhält abstrakte Arbeit
aber die Funktion, gesellschaftlich-allgemeine Form der konkreten Ar-
beiten und erst damit Wertsubstanz zu sein: es ist Marx zufolge »nur

64 Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 40), S. 231.
65 A. a. O., S. 233.
66
Vgl. a. a. O., S. 233.
67 Vgl. a. a. O., S. 239.
68
Wolf: Ware und Geld (s. Anm. 63), S. 67.
69 Vgl. a. a. O., S. 47.

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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas

für diese besondre Produktionsform, die Warenproduktion, gültig […],


daß […] der spezifisch gesellschaftliche Charakter der voneinander un-
abhängigen Privatarbeiten in ihrer Gleichheit als menschliche Arbeit
besteht und die Form des Wertcharakters der Arbeitsprodukte an-
nimmt« (MEW 23, S. 88). 70 Damit wird der abstrakten Arbeit eine
Eigenständigkeit zuteil, die sonst »nur dem von ihr verschiedenen ge-
sellschaftlichen Zusammenhang zukommt«, 71 und unterscheiden sich
konkrete und abstrakte Arbeit schließlich wie zwei unterschiedliche
Entitäten voneinander. 72
Es konnte hier nur angedeutet werden, dass Habermas den
Marx’schen Begriff des Doppelcharakters der Arbeit systematisch ver-
fehlt und ihm für die werttheoretische Ebene des Marx’schen Werks
der kategoriale Zugang fehlt. Die versachlichte oder entfremdete Form
der Anerkennung der konkreten Arbeiten unter privat-arbeitsteiligen
Produktionsbedingungen, die mittels abstrakter Arbeit stattfindet, fällt
bei ihm zwischen symbolischem Interaktionismus, ricardianischem
Naturalismus und später der systemtheoretisch-neoklassischen Theo-
rieanlage hindurch. Abstrakte Arbeit und Wert stellen bei Marx aber
keine Produkte konkreter Arbeit in Auseinandersetzung des Menschen
mit der Natur dar, sie stehen für die gesellschaftliche Einheit der Ar-
beiten (und Produkte) unter Bedingung und mit der Folge ihrer syste-
matischen Dissoziation als Privatarbeiten (und -produkte). 73 Wert-
gegenständlichkeit kommt den Waren nur innerhalb dieses spezifisch
gesellschaftlichen Verhältnisses von Sachen zu, ist eine relationale
Eigenschaft, denn kein Gut ist nach Marx für sich allein Ware, »keines
für sich solche Werthgegenständlichkeit […]. Diese gesellschaftliche
Gegenständlichkeit besitzen sie […] nur als gesellschaftliche Bezie-
hung«. 74 Wert ist Bezug der Arbeitsprodukte als Produkte mensch-
licher Arbeit schlechthin aufeinander im Tausch – einer historisch
bestimmten Form der Vermittlung von Arbeiten, die erst im Kapitalis-
mus allgemeine Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels wird. Wert
ist sachlich vermitteltes, sich in Sachen darstellendes und als natürliche

70 Hervorhebung von mir.


71 Wolf: Ware und Geld (s. Anm. 63), S. 317.
72 Vgl. ebd.

73
»Als Gebrauchswerthe oder Güter sind die Waaren körperlich verschiedne Dinge. Ihr
Werthsein bildet dagegen ihre Einheit. Diese Einheit entspringt nicht aus der Natur,
sondern aus der Gesellschaft« (MEGA II/5, S. 19).
74 MEGA II/6, S. 30. Vgl. auch MEGA II/7, S. 55.

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Ingo Elbe

Sacheigenschaft verkanntes gesellschaftliches Verhältnis von Privat-


arbeiten, das bereits in seiner sachlichen Repräsentationsform (Geld)
die strukturell gewaltsame Trennung der Menschen von den Gegen-
ständen ihrer Bedürfnisse sowie die Möglichkeit der Krise impliziert
und sich im Kapital zum Zweck materieller Reproduktion verselbstän-
digt. Diese der Kontrolle der Menschen entzogene, sachlich-anonyme
Form 75 der Vergesellschaftung ihrer Arbeiten geht nicht in normativen
Relationen oder technisch-utilitären Objektbezügen auf. Es ist daher
ein Rückschritt hinter die Marx’schen Einsichten in die Natur des Ka-
pitalismus, wenn Habermas ökonomische Herrschaft auf normative
Rollenzuweisungen reduziert und verselbständigte Reichtumsformen
wie Geld und Kapital als neutrale Formen sozialer Einheit konzipiert.

75 Ökonomische Gegenständlichkeit wird von Marx als historisch spezifisches Verhält-


nis gedeutet, ohne den Verdinglichungen der volkswirtschaftlichen Theoriebildung
oder den differenzierungstheoretischen Neutralisierungen der Systemtheorie zu folgen
– ›Wirtschaft‹ wird von ihm als herrschaftlich verfasste Gesellschaft gedacht. Marx
verfällt aber nicht in einen symbolischen Interaktionismus, der gesellschaftliche For-
men lediglich als Normenkomplexe fasst. Die ökonomischen Formen, so Ulrich Krause,
stellen »weder eine Beziehung zwischen Dingen und Subjekten (wie in der subjektiven
Werttheorie), noch zwischen Subjekten (wie in Macht- und Handlungstheorien)« dar
(»Die Logik der Wertform«. In: Mehrwert. Beiträge zur Kritik der politischen Öko-
nomie 13 (1977), S. 141–164, hier: S. 148). Marx begreift, dass moderne Produktions-
verhältnisse keine bloß sachlich verschleierten interpersonalen Verhältnisse darstellen
oder letztlich auf die Herrschaft von Normen zurückführbar sind. »Die gesellschaftli-
chen Beziehungen ihrer Arbeiten«, so seine lange ignorierte Erkenntnis, »sind und er-
scheinen daher nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in
ihren Arbeiten, sondern als sachliche Verhältnisse der Personen oder gesellschaftliche
Verhältnisse der Sachen.« (MEGA II/5, S. 47). Das Kapital bringt einen Typus von ano-
nymer Herrschaft hervor, dessen Kennzeichen nicht in der Unterordnung des Willens
einer Person unter den einer anderen besteht. Dieser Herrschaftstyp ist nicht vornehm-
lich einer des ›gezwungen Werdens durch Akteure‹, sondern des ›gezwungen Seins‹,
ohne dass dieser Zwang einer der ersten Natur wäre. Der Kapitalismus ist Marx zufolge
eine Gesellschaftsformation, die eine Unterordnung der Willen und Zwecke aller Ak-
teure unter den Akkumulationsimperativ bedingt, der ›Produktion um der Produktion
willen‹ erfordert; er läßt »den Kapitalisten von einer andren Seite ganz ebenso sehr
unter der Knechtschaft des Capitalverhältnisses erscheinen […] als den Arbeiter.« (ME-
GA II/4.1, S. 65).

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Entgegnung von Jürgen Habermas

Zunächst möchte ich Ingo Elbe dafür danken, dass er einen frischen
kritischen Ton in unsere Diskussion hereinbringt, denn die Philosophie
verträgt nichts weniger als eine adorierende Haltung. Andererseits be-
trachte ich seine Kritik als Erlaubnis für eine kurze Metakritik.
Was uns beide unterscheidet, ist in erster Linie ein Stil des Um-
gangs mit dem verzweigten Marx’schen Werk. Entweder man will
Probleme lösen und schaut nach, was aus Marx für die Problemlösun-
gen taugt, oder man verfällt einer – leider in Deutschland sehr verbrei-
teten – historisierenden Manier des Umgangs mit philosophischen
Klassikern. Die Absicht, Marx durch Interpretation – und nur durch
Interpretation – zu neuem Leben zu erwecken, ist wie ich glaube das
Letzte, was dem Marx’schen Selbstverständnis angemessen ist. Der
Vortrag erweckt den Eindruck, als wäre der Autor mit einem Suchpro-
gramm durch meine Arbeiten hindurchgebraust, um alle Marx-Zitate
bis zum Jahre 1982 herauszusuchen und nachzusehen, wie sich meine
Kritik zu einer bestimmten, für orthodox gehaltenen Interpretation der
Marx’schen Politischen Ökonomie verhält. Dieses schematische Ver-
fahren verschleiert die verschiedenen Kontexte, in denen ich mich je-
weils unter verschiedenen Fragestellungen auf verschiedene Teile der
Marx’schen Theorie bezogen habe. Es hätte eines Minimums an her-
meneutischer Anstrengung bedurft, um zu überlegen, ob im jeweiligen
Kontext – sei es beispielsweise im erkenntnistheoretischen Kontext
von Erkenntnis und Interesse oder im Zusammenhang einer Analyse
der Krisentendenzen eines durch korporatistischen Staatsinterventio-
nismus völlig veränderten Kapitalismus oder im abschließenden Kapi-
tel der Theorie des kommunikativen Handelns – meine Rekurse auf
ganz spezielle Begriffe und Theoreme von Marx passen oder daneben-
greifen. Wenn man ein systematisches Interesse verfolgt, würde doch
eine kontextblinde Marx-Apologetik nur unter der Prämisse der Un-
fehlbarkeit dieses Autors sinnvoll sein.
Marx nennen wir wie Adam Smith oder Hegel einen Klassiker,
weil wir trotz des Zeitenabstandes und unter anderen historischen Be-
dingungen noch etwas von ihnen lernen können. Aber dieses »Etwas«
sind Gedanken und Argumente, die man aus ihrem Entstehungskon-
text lösen muss, um sie auf einem anderen Forschungsstand für unse-
ren Kontext nutzen zu können. Denn für Philosophie und Gesell-

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Entgegnung auf Ingo Elbe

schaftstheorie gilt erst recht, dass die alltäglichen Evidenzen der Le-
benswelt eines Autors auch Einfluss haben auf dessen Theoriebildung.
Anhand der Lektüre von Engels über Die Lage der arbeitenden Klasse
in England kann man sich z. B. vergewissern, in welcher zeit-
genössischen Umgebung Marx seine Theorie entwickelt hat. Und wie
extrem verschieden die kapitalistischen Gesellschaften des Westens
nach dem 2. Weltkrieg auf ihrem Wege von einer Arbeits- zu einer
Dienstleistungs- und schließlich zu einer Kommunikationsgesellschaft
gewesen sind. Diese Überlegung berührt natürlich nicht die Korrekt-
heit oder Falschheit von Textinterpretationen. Es ist das gute Recht
eines Kritikers, mir Interpretationsfehler nachzuweisen. Aber zum her-
meneutischen Handwerk gehört es eben auch, die Interpretationsarbeit
eines Autors auf dessen Fragestellung zu beziehen.
Die normale Einstellung, die man gegenüber Marx als dem An-
fang einer kritischen Forschungstradition von mehr als anderthalb
Jahrhunderten einnimmt, wenn man aus dieser Anregungen für die
eigene Arbeit schöpfen möchte, scheint Ingo Elbe fremd zu sein. Sonst
hätte er meinen Exkurs zum Veralten des Produktionsparadigmas im
Philosophischen Diskurs der Moderne als das verstehen müssen, als
was ich ihn ausdrücklich – sofort im ersten Absatz – deklariert habe,
nämlich als die Auseinandersetzung nicht mit Marx, sondern mit einer
auf den frühen Marcuse zurückgehenden praxisphilosophischen Aus-
legung des Historischen Materialismus, die seinerzeit in Ungarn und
Jugoslawien in verschiedenen Varianten verbreitet war. In diesem Text
handelt es sich nicht um den im Kapital entwickelten Kern der
Marx’schen Werttheorie. Tatsächlich habe ich mich seit 1960, nämlich
seit dem in Theorie und Praxis enthaltenen Vortrag über »Marxismus
als Kritik«, mit diesem Thema nur noch kursorisch beschäftigt, weil
mich das Theorem – obwohl es ein Herzstück der ganzen Theorie ist –
nie überzeugt hat. Aber die Grundannahmen des Historischen Mate-
rialismus sind davon ganz unabhängig.
Ingo Elbes hermeneutische Anstrengung ist komisch und erzeugt
skurrile Effekte, weil er so tut, als ginge es mir – sei es bei meinem
Rekurs auf erkenntnisanthropologische Annahmen im Kontext einer
»Vorgeschichte des Positivismus« in Erkenntnis und Interesse, oder
bei der Bezugnahme auf handlungstheoretische Grundbegriffe in mei-
nen ersten Versuchen zu einer Theorie des kommunikativen Handelns
in Technik und Wissenschaft als Ideologie, oder bei der Entwicklung
eines kategorialen Rahmens für Krisentendenzen des Kapitalismus in

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Entgegnung auf Ingo Elbe

den Legitimationsproblemen – immer um dasselbe. In diesem Fall ist es


nur der Kritiker, dem es obsessiv immer um dasselbe geht: Er möchte
mir ein Missverständnis des Fetischcharakters der Ware und jener Art
von »Wertformanalyse« aus den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts
nachweisen, die ich tatsächlich nur im Vorbeigehen zur Kenntnis ge-
nommen habe.

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Smail Rapic

Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus –
Zur Aktualität eines Habermas’schen Textes
aus dem Jahre 1973

1. Die zeitdiagnostische und gesellschaftstheoretische


Relevanz von Habermas’ Legitimationsprobleme im
Spätkapitalismus

»Krisen wird man immer sehen, wenn man mit der Doppelbrille von
Sollwerten und historischem Bewusstsein auf sie blickt. Das braucht
die Zeitgenossen weder zu ängstigen noch zu aktivieren.« Mit dieser
Bemerkung quittierte Niklas Luhmann Habermas’ Diagnose sozioöko-
nomischer und sozialpolitischer Krisentendenzen der westlichen Ge-
sellschaften in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. 1 Zu Be-
ginn der 1970er-Jahre geriet die Weltwirtschaft in eine Phase der
Stagnation; die wachsende Arbeitslosigkeit wurde zu einem gesell-
schaftlichen Unruheherd. Luhmann sah hierin lediglich eine vorüber-
gehende Abschwächung der kapitalistischen Prosperität. Für ihn sprach
aus Habermas’ These, in ökonomischen Krisenzeiten beschädige die
ungleiche Reichtumsverteilung kapitalistischer Gesellschaften deren
Legitimationsbasis (LS 44 ff.), die illusorische Hoffnung eines Sozial-
romantikers darauf, dass sich der Kapitalismus früher oder später – wie
Marx und Engels prophezeit hatten – selbst zerstören und dadurch
Platz für die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft schaffen werde.
Drei Jahrzehnte später waren es jedoch die westlichen Regierungen
und Wirtschaftsführer selber, die die Bürger mit der Vision eines Kol-
lapses des kapitalistischen Systems ängstigten. Die folgenden Sätze aus
Habermas’ Zur Verfassung Europas (2011) konstatieren einen empiri-
schen Befund:
»Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus konnte im Herbst 2008
das Rückgrat des finanzmarktgetriebenen Weltwirtschaftssystems nur noch

1
Niklas Luhmann: »Soziologie der Moral«. In: ders. Luhmann/Stephan H. Pfürtner
(Hrsg.): Soziologie der Moral. Frankfurt a. M. 1978, S. 8–116, hier: S. 38.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

mit den Garantien der Steuerzahler vor dem Zusammenbruch gerettet wer-
den. Und diese Tatsache, dass sich der Kapitalismus nicht mehr aus eigener
Kraft reproduzieren kann, hat sich seitdem im Bewusstsein der Staatsbürger
festgesetzt, die als Steuerbürger für das ›Systemversagen‹ haften müssen.« 2
Habermas vertritt in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus die
These, dass kapitalistische Gesellschaften »Imperativen der Wachs-
tumsbegrenzung ohne Preisgabe ihres Organisationsprinzips nicht fol-
gen« können (LS 63). Er weist zugleich auf die ökologischen Schranken
des mit der Industriellen Revolution einsetzenden, auf den Verbrauch
fossiler Ressourcen gestützten Wirtschaftswachstums hin; hierbei
nennt er an erster Stelle die globale Erwärmung (LS 62 f.). Wenn es
zutrifft, dass das Wirtschaftswachstum das Lebenselement des Kapita-
lismus bildet, wird dieser in seinen Grundfesten erschüttert, sobald die
ökonomische Dynamik an unüberschreitbare ökologische Grenzen
stößt. Wann diese Grenzen erreicht sein werden, lässt Habermas in
Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus offen (vgl. LS 60). Seit
den 1990er-Jahren weisen die Fachwissenschaftler mit zunehmender
Dringlichkeit darauf hin, dass eine Klimakatastrophe nur durch erheb-
liche Einsparungen beim Energieverbrauch abgewendet werden kann.
Im selben Zeitraum vollzog sich infolge des Zusammenbruchs des »real
existierenden Sozialismus« in der Sowjetunion und ihren Satelliten-
staaten ein Globalisierungsschub des Kapitalismus in seiner – seit den
1980er-Jahren dominierenden – neoliberalen Variante, die Wachstums-
kräfte des Marktes durch den Abbau staatlicher Regulierung freisetzen
will. Dass der westliche Kapitalismus nur zwei Jahrzehnte nach seinem
vermeintlich säkularen Sieg über seinen osteuropäischen Konkurren-
ten selber in eine Systemkrise geraten ist, verleiht angesichts der in-
zwischen unübersehbaren Wachstumsgrenzen der Frage nach den
»Chancen« seiner »Selbsttransformation« und damit der Perspektive
einer »nachkapitalistische[n] Gesellschaftsformation«, in die Haber-
mas’ Zeitdiagnose 1973 einmündete (LS 60, 49), neue Aktualität (s. u.
Abschnitt 2).
Die Theoriestruktur der Gesellschaftsanalyse in Legitimations-
probleme im Spätkapitalismus nimmt in Habermas’ Werkgeschichte
einen exponierten Platz ein. In diesem Buch wird die methodische Dop-
pelung von systemischer Beobachter- und lebensweltlicher Teilneh-

2
Jürgen Habermas: »Am Euro entscheidet sich das Schicksal der Europäischen Union«.
In: ders.: Zur Verfassung Europas. Berlin 2011, S. 112–119, hier: S. 117.

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Smail Rapic

merperspektive, die für die Theorie des kommunikativen Handelns


(1981) grundlegend ist und bereits in Habermas’ Beitrag für die Ador-
no-Festschrift (1963) programmatisch skizziert wird, erstmals konkret
ausgestaltet (LS 9 ff.). 3 In Bezug auf die Aufgabenstellung einer kriti-
schen Gesellschaftstheorie besteht zwischen Legitimationsprobleme
im Spätkapitalismus und der Theorie des kommunikativen Handelns
allerdings eine wesentliche Differenz: Während Habermas 1973 dazu
auffordert, den »ideologische[n] Kern« der kapitalistischen Gesell-
schaftsformation, der in sozioökonomischen Systemkrisen angreifbar
werde, durch Reflexion zu zertrümmern – womit er seine Konzeption
einer ideologiekritischen Gesellschaftstheorie in Erkenntnis und Inte-
resse (1968) fortschreibt – (LS 48, vgl. EI 85 f.), vertritt er ein Jahrzehnt
später die These, die »Kommunikationsstruktur der entwickelten Mo-
derne«, die durch fortschreitende Rationalisierungsprozesse geprägt
sei, berge »keine Nischen mehr für die strukturelle Gewalt von Ideo-
logien« (TkH II 520): An die Stelle des »falschen« sei inzwischen das
»fragmentierte Bewusstsein« getreten (TkH II 522); die kritische Ge-
sellschaftstheorie solle daher in erster Linie die »Verarmung und Frag-
mentierung« der Alltagskommunikation infolge der zunehmend
undurchdringlichen Komplexität der Globalzivilisation und der »eli-
täre[n] Abspaltung der Expertenkulturen« von öffentlichen Diskursen
zum Thema machen (TkH II 232 f., 488, 522). Diese Umakzentuierung
der Kernaufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie geht mit einer
Neubewertung der marxistischen Tradition einher. Die Doppelung
von Beobachter- und Teilnehmerperspektive im Abriss der historischen
Evolution von Gesellschaftsformationen im Anfangsteil von Legitima-
tionsprobleme im Spätkapitalismus (LS 9–41) ist ein Beitrag zur »Re-
konstruktion des Historischen Materialismus«, der Habermas in seiner
gleichnamigen Aufsatzsammlung aus dem Jahre 1976 eine Schlüssel-

3 In der Adorno-Festschrift plädiert Habermas dafür, die Vorgehensweise »kausalana-


lytischer Wissenschaft« mit einer »Hermeneutik der sozialen Lebenswelt« zu verknüp-
fen (Habermas: »Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik«. In: Max Horkhei-
mer (Hrsg.): Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1963,
S. 473–501, hier: S. 476, 481). Mit dieser Forderung macht Habermas Husserls Ent-
gegensetzung von »naturalistischer« und »personalistischer Einstellung« für die Gesell-
schaftstheorie fruchtbar (vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie
und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Unter-
suchungen zur Konstitution (= Husserliana, Bd. IV). Den Haag 1952, S. 173 ff., 180,
281).

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

rolle für seine Gesellschaftstheorie zuerkennt. 4 In der Theorie des kom-


munikativen Handelns wird die Skizze der sozialen Evolution in Legi-
timationsprobleme im Spätkapitalismus weiter ausgeführt, wobei der
Historische Materialismus jedoch in den Hintergrund tritt. Habermas
erhebt nun fundamentale Einwände gegen die Analyse der Warenform
in Marx’ Kapital, die in den Legitimationsproblemen noch ein Kern-
element seiner Darstellung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft
bildet (TkH II 498–504, vgl. LS 36–49). 5 In methodischer Hinsicht
wirft Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns Marx
vor, er zwinge in seiner Analyse der Warenform Beobachter- und Teil-
nehmerperspektive durch einen inadäquaten, der Hegel’schen Logik
entnommenen kategorialen Rahmen zusammen (TkH II 498, 501).
Zentrale inhaltliche Kritikpunkte lauten, dass im Kapital (1) aufgrund
einer »ökonomistisch verkürzten Interpretation der entwickelten kapi-
talistischen Gesellschaften« deren evolutionärer Eigenwert im neu-
zeitlichen Rationalisierungsprozess ausgeblendet und (2) die Rolle des
Privateigentums bei der Herausbildung der spezifisch modernen Herr-
schaftsstrukturen überschätzt werde: Max Weber habe Recht darin be-
halten, »dass die Abschaffung des Privatkapitalismus […] keineswegs
ein Zerbrechen des stählernen Gehäuses der modernen gewerblichen
Arbeit bedeuten würde.« (TkH II 499 f., 504) 6 Dass Habermas in der
Theorie des kommunikativen Handelns aus seinem Konzept einer
zweistufigen, Beobachter- und Teilnehmerperspektive miteinander
verschränkenden Gesellschaftstheorie, das in den 1970er-Jahren ein
Kernelement seiner Rekonstruktion des Historischen Materialismus
bildete, einen kritischen Vorbehalt gegen die Analyse der Warenform
im Kapital ableitet, wobei er diese nicht länger – zumindest nirgends
explizit – in den Historischen Materialismus einordnet, gibt Anlass zu
der Frage, in welchem Verhältnis beide Kernstücke des Marxismus zu-
einander stehen. Es ist aufschlussreich, dass Habermas in der Theorie

4 Vgl. RHM 129: »Den theoretischen Anspruch des Historischen Materialismus möch-
te ich mir zu eigen machen.« Der Sammelband Zur Rekonstruktion des Historischen
Materialismus enthält eine thesenhafte Zusammenfassung von Legitimationsprobleme
im Spätkapitalismus (RHM 304–325).
5 Habermas’ Kritik an Marx’ Kapital in der Theorie des kommunikativen Handelns

kann im vorliegenden Beitrag nicht umfassend dargestellt werden. Im Vordergrund


stehen diejenigen Aspekte, in denen eine Neubewertung der Marx’schen Kritik der
politischen Ökonomie zum Ausdruck kommt.
6 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 51972, S. 835.

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Smail Rapic

des kommunikativen Handelns anerkennend auf Georg Lohmanns


Aufsatz »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab. Überlegungen
zu Marx« Bezug nimmt (TkH II 494, 497 f. u. ö.): Lohmann wendet sich
dort gegen Habermas’ Charakterisierung der Marx’schen Kritik der
politischen Ökonomie als einer »Teiltheorie« des Historischen Mate-
rialismus im Sammelband von 1976 (RHM 144) und wirft zugleich
Marx vor, im Kapital »keinen systematischen Begriffsrahmen« für
eine normative Kritik der kapitalistischen Ökonomie zu entwickeln; 7
hiermit konstatiert er – wie Habermas in der Theorie des kommunika-
tiven Handelns – einen ökonomistisch verkürzten Blickwinkel auf die
bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft im Kapital.
In Abschnitt 3 des vorliegenden Beitrags wird die selbstreflexive
Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in Haber-
mas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus nachgezeichnet. In
Abschnitt 4 soll (wenn auch nur umrisshaft) gezeigt werden, dass die
Theoriestruktur dieses Buches einen Interpretationsschlüssel für die
Ursprungsgestalt des Historischen Materialismus in den Frühschriften
von Marx und Engels enthält. In Abschnitt 5 wird – im Anschluss an
Lohmann – dafür argumentiert, dass Marx’ Kritik der politischen Öko-
nomie nicht als Teiltheorie des Historischen Materialismus aufgefasst
werden kann. Dies steht mit der sog. »neuen Marx-Lektüre«, die im
Umkreis Horkheimers und Adornos initiiert wurde, in Einklang. 8 In
Abschnitt 5 soll aber zugleich versucht werden, die Metakritik, die Mi-
chael Heinrich und Moishe Postone auf der Basis der »neuen Marx-
Lektüre« an Habermas’ und Lohmanns Vorwurf einer ökonomistisch
verkürzten Sicht der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im Kapi-
tal geübt haben, zu entkräften. 9

7 Georg Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab. Überlegungen zu


Marx«. In: Axel Honneth/Urs Jaeggi (Hrsg.): Arbeit, Handlung, Normativität (Theo-
rien des historischen Materialismus 2). Frankfurt a. M. 1980, S. 234–299, hier:
S. 235 ff., 281.
8 Vgl. Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur

Marxschen Ökonomiekritik. Freiburg 22011, S. 258–266; Ingo Elbe: Marx im Westen.


Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965. Berlin 22010, S. 18 ff., 184–
227.
9
Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen
Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition. Münster
5
2011, S. 378 f.; Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine
neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx. Freiburg 2003, S. 268–293.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

2. Die Grenzen der kapitalistischen Wachstumsdynamik

Habermas bestimmt in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus


den Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital als das Organisations-
prinzip des Kapitalismus, wobei er im Anschluss an Marx’ Kapital in
der zum Selbstzweck gewordenen und daher unersättlichen Kapital-
akkumulation das Movens der kapitalistischen Dynamik sieht (LS
36 ff., 63). Die These dieses Buches, dass Imperative der Wachstums-
begrenzung die Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Systems in Fra-
ge stellen, lässt sich allerdings auch unabhängig von Marx’ Kapital
begründen. Adam Smith weist im Wohlstand der Nationen darauf hin,
dass in Zeiten ökonomischer Stagnation bzw. Rezession die Unterneh-
mer die Löhne – unter Umständen bis auf das Existenzminimum –
herabdrücken können, da die Lohnabhängigen aufgrund der steigenden
Arbeitslosigkeit gezwungen sind, jede angebotene Arbeit anzuneh-
men. 10 In Zeiten der Prosperität können die Arbeiter und Angestellten
dagegen aufgrund des wachsenden Bedarfs nach Arbeitskräften Lohn-
erhöhungen durchsetzen, sofern es den Unternehmen nicht gelingt,
menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen. Hegel betont in sei-
nen Grundlinien der Philosophie des Rechts, dass sich die sozialen Ge-
gensätze der bürgerlichen Gesellschaft in wirtschaftlichen Krisenzeiten
in »gefährlichen Zuckungen« entladen und hierdurch eine sozioöko-
nomische Intervention des Staates unabdingbar machen können
(§ 236 A). 11 Das marktwirtschaftliche Organisationsprinzip des freien
Spiels der ökonomischen Kräfte lässt sich somit nur bei fortschreiten-
dem Wirtschaftswachstum bruchlos aufrechterhalten.
Der im 19. Jahrhundert etablierte Liberalkapitalismus wurde nach
der Großen Depression von 1929–1932 von einem staatlich geregelten
abgelöst. Mit der Applikation des Ausdrucks »Spätkapitalismus« auf
diese Wirtschaftsform, in der »der interventionistische Staat in die
wachsenden Funktionslücken des Marktes einspringt«, ohne den Pri-
vatbesitz an Produktionsmitteln in Frage zu stellen, macht Habermas
zunächst darauf aufmerksam, dass ein solches Wirtschaftssystem die
kapitalistische Organisationsstruktur nicht mehr in ursprünglicher,

10
Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Übers. von H. C. Recktenwald. München
1974, S. 62.
11
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Hrsg. von E. Moldenhauer
und K. M. Michel. Frankfurt a. M. 1969–78. Bd. 7, S. 385.

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Smail Rapic

»klassische[r]« Gestalt bewahrt (LS 50 f., RHM 306); er weist zugleich


darauf hin, dass stabilisierende Eingriffe des Staates in die kapitalisti-
sche Wirtschaft angesichts der ökologischen Wachstumsschranken
eine fundamentale Systemkrise nur hinausschieben, nicht dauerhaft
abwenden können.
Dass eine solche Systemkrise 2008 ausgebrochen ist, hebt Haber-
mas in Zur Verfassung Europas mit der bereits zitierten Feststellung
hervor, dass sich »der Kapitalismus nicht mehr aus eigener Kraft repro-
duzieren kann« 12. In einem Interview mit der Zeit vom 6. November
2008, das in Zur Verfassung Europas wieder abgedruckt wurde, beur-
teilt Habermas die »Chancen der Selbsttransformation« des Kapitalis-
mus, die er 1973 zur Diskussion stellte (LS 60), allerdings skeptisch:
»Seit 1989/90 gibt es kein Ausbrechen mehr aus dem Universum des
Kapitalismus; es kann nur um eine Zivilisierung und Zähmung der
kapitalistischen Dynamik gehen.« 13 Habermas betrachtet das Scheitern
des Versuchs Gorbatschows, die Ende der 1970er-Jahre einsetzende
Dauerkrise der sowjetischen Ökonomie durch demokratische Refor-
men und die Akzeptanz marktwirtschaftlicher Initiative zu überwin-
den, offensichtlich als einen Beweis für die prinzipielle Ineffizienz eines
sozialistischen Wirtschaftssystems. Habermas’ Sicht des Endes der
kommunistischen Gesellschaftsformation in Osteuropa deckt sich mit
derjenigen Manfred Hildermeiers in seinem Standardwerk Geschichte
der Sowjetunion 1917–1991:
»Wie man es auch dreht und wendet – in der ein oder anderen Form hat sich
der Grundgedanke bewahrheitet, dass die Erfordernisse funktionaler Effi-
zienz zunehmend komplexer Organisationen und technisch anspruchsvol-
lerer Produktion auf Dauer nicht mit der monopolistischen Herrschaft einer
Einheitspartei und noch weniger mit zentraler Anweisungs- und Planungs-
kompetenz in ihrem Auftrag zu vereinbaren waren.« 14
Gegen diese Deutung kann allerdings eingewendet werden, dass der
stürmische wirtschaftliche Aufschwung Chinas seit den 1980er-Jahren
durch die Anweisungs- und Planungskompetenz der Kommunisti-
schen Partei nicht gehemmt wurde. Die Verstaatlichung systemrele-
vanter Banken, die vor dem Zusammenbruch standen, in mehreren

12
S. o. Anm. 2.
13 Habermas: Zur Verfassung Europas (s. Anm. 2), S. 102.
14
Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Aufstieg und Nieder-
gang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 1011.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

westlichen Ländern nach der Pleite von Lehman Brothers im Herbst


2008 zeigt, dass ein gewisses Maß an zentraler Planungskompetenz
auch im Kapitalismus unentbehrlich ist. Habermas kennzeichnet in
Zur Verfassung Europas die Programme der EU-Leitungsgremien zur
Abwendung des Staatsbankrotts überschuldeter Mitgliedsländer, deren
Budgethoheit hierbei ausgehebelt wird, als einen Akt der »zentralen
Steuerung« des europäischen Wirtschaftssystems. 15 Die von ihm
konstatierte Tendenz der Wirtschaftspolitik der EU-Gremien in der
Weltfinanzkrise, »Imperative der Märkte an die nationalen Haushalte
weiter[zu]geben«, wodurch »postdemokratisch-bürokratischer Herr-
schaft« der Weg geebnet werde, kommt in der »himmelschreiende[n]
soziale[n] Ungerechtigkeit« der Rettungsprogramme zum Ausdruck:
Die »sozialisierten Kosten des Systemversagens« werden so verteilt,
dass sie »die verletzbarsten sozialen Gruppen am meisten treffen.« 16
Die »Aufkündigung des sozialstaatlichen Kompromisses« durch die
neoliberale Wirtschaftspolitik der 1980er- und 1990er-Jahre 17 wird
demnach in der 2008 ausgebrochenen Weltfinanzkrise von einem in-
terventionistischen Staatsapparat fortgeschrieben.
Habermas’ These, dass die westliche Politik zum Getriebenen ka-
pitalistischer Mechanismen geworden ist und sich ihnen auch in der
Weltfinanzkrise »unterwirft«, 18 wird durch Colin Crouchs Analyse
der wirtschaftspolitischen Resultate des Neoliberalismus erhärtet. 19
Seit den 1980er-Jahren wurden in einer Reihe westlicher Staaten und
in hochverschuldeten Ländern des globalen Südens unter dem Druck
des Internationalen Währungsfonds bislang öffentliche Sektoren wie
das Verkehrswesen oder die Wasserversorgung zunehmend privati-
siert: mit der Begründung, die marktwirtschaftliche Dynamik werde
durch die Auflösung bürokratischer Verkrustungen zu einer Effizienz-
steigerung führen. Die faktischen Auswirkungen der Privatisierungen
15
Habermas: Zur Verfassung Europas (s. Anm. 2), S. 81.
16 A. a. O., S. 81, 99.
17 Habermas: »Aus Katastrophen lernen? Ein zeitdiagnostischer Überblick über das

kurze 20. Jahrhundert«. In: ders.: Die postnationale Konstellation. Frankfurt a. M. 1998,
S. 65–90, hier: S. 80.
18 »Im Teufelskreis zwischen den Gewinninteressen der Banken und Anleger und dem

Gemeinwohlinteresse überschuldeter Staaten sitzen die Finanzmärkte am längeren He-


bel. Nie zuvor sind demokratisch gewählte Regierungen so umstandslos durch Vertrau-
enspersonen der Märkte […] ersetzt worden.« (Habermas: »Heraus aus dem Teufels-
kreis«. In: Süddeutsche Zeitung, 22./23. September 2012, S. 15).
19 Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Berlin 2011.

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Smail Rapic

laufen ihrer neoliberalen Rechtfertigung jedoch zuwider. Die Über-


tragung staatlicher Aufgaben an private Unternehmen verschaffte die-
sen eine oligopolistische oder sogar monopolistische Stellung und
dementsprechend maßgeblichen Einfluss auf wirtschaftspolitische Pla-
nungsprozesse. 20 Die fortschreitende Verflechtung von Wirtschaft und
Staat im Gefolge des Neoliberalismus, die in offenem Widerspruch zu
dessen offiziellem Programm einer klaren Grenzziehung beider Sphä-
ren steht, wird daran sichtbar, dass Manager von Großkonzernen und
Investmentbanker häufig Regierungsämter übernehmen und nach
ihrem Ausscheiden in die Wirtschaft zurückkehren. 21 Dass aus der neo-
liberalen Deregulierungspolitik keineswegs ein langfristiger Wirt-
schaftsaufschwung resultiert, trat 2008 in der Weltfinanzkrise, die die
westlichen Staatshaushalte bis an ihre Kapazitätsgrenzen belastete, un-
übersehbar zutage. Crouch betont allerdings, dass Großkonzerne im
Zeitalter der Globalisierung unentbehrlich sind, da sie in Kernberei-
chen der Wirtschaft effizienter agieren können als mittelständische Be-
triebe. 22 Er zieht hieraus den Schluss, es gebe keine grundsätzliche Al-
ternative zu einem »von Großkonzernen dominierten Kapitalismus«. 23
Den politischen Impetus der Frage nach den Chancen einer
»Selbsttransformation« des kapitalistischen Systems in Habermas’ Le-
gitimationsprobleme im Spätkapitalismus macht sein Brief an Willy
Brandt vom 8. Dezember 1970 deutlich: Darin wirft Habermas der da-
maligen sozialliberalen Bundesregierung vor, das Ziel einer »Kontrolle
von wirtschaftlicher Verfügungsmacht« aus den Augen verloren zu
haben; eine solche Zielperspektive werde »mittelfristig unvermeidlich
sein, wenn die Regierung sich gesellschaftspolitisch nicht treiben las-
sen, sondern alternative Prioritäten entwickeln […] will.« 24 Habermas
fordert in diesem Brief dazu auf, eine »politische Willensbildung über
Prioritäten der gesellschaftlichen Entwicklung« in Gang zu bringen. 25

20 A. a. O., S. 13, 120 ff.


21 Vgl. a. a. O., S. 186: »Die Vertreter der transnationalen Konzerne der Gegenwart sit-
zen längst nicht mehr in der Lobby, also vor den Kabinettssälen der Regierungen. Sie
sind direkt an politischen Entscheidungen beteiligt. Sie setzen Standards, etablieren pri-
vate Regulierungssysteme, beraten Minister und Regierungschefs und entsenden sogar
Vertreter in die Ministerien.«
22
A. a. O., S. 14, 236.
23 A. a. O., S. 14 f.

24
Zitiert nach: Rolf Wiggershaus: Jürgen Habermas. Reinbek 2004, S. 96.
25 Ebd.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

Gegenwärtig gibt es in der marktwirtschaftlichen Theoriebildung pro-


grammatische, in den Schwellenländern reale ökonomische und politi-
sche Anknüpfungspunkte für die Zielsetzung, eine demokratische
Kontrolle wirtschaftlicher Verfügungsmacht herbeizuführen. Hans
Christoph Binswanger, dem niemand ökonomischen Dilettantismus
oder marktfeindliches Sektierertum unterstellen wird, 26 plädiert ange-
sichts der ökologischen Wachstumsschranken für eine staatliche Kon-
trolle der – für die marktwirtschaftliche Dynamik essentiellen – Geld-
schöpfung. 27 Der Erfolg staatlicher bzw. halbstaatlicher Konzerne von
Schwellenländern wie Brasilien und China auf dem Weltmarkt zeigt,
dass man aus der unentbehrlichen Bedeutung von Großkonzernen in
der globalisierten Wirtschaft nicht – mit Crouch – ohne Weiteres den
Schluss ziehen kann, der Kapitalismus sei alternativlos. In China, wo
seit dem Ende der 1970er-Jahre eine Mischform von staatssozialisti-
scher und marktwirtschaftlicher Ökonomie praktiziert wird, konstitu-
iert sich seit der Jahrtausendwende eine Zivilgesellschaft, die ökonomi-
sche und politische Partizipation einfordert und bereits eine Lockerung
der staatlichen Repression durchgesetzt hat; dies gibt Grund zu der
Hoffnung, dass sich in den kommenden Jahrzehnten Aspekte eines de-
mokratischen Sozialismus herausbilden könnten. In Lateinamerika ha-
ben genossenschaftliche Produktionsformen seit den 1980er-Jahren
ökonomische Relevanz gewonnen. 28 Die Frage, ob es im globalen Maß-
stab eine reale Chance für eine nachkapitalistische Gesellschaftsforma-
tion gibt, muss allerdings bis auf weiteres offen bleiben.

26 Bei Binswanger promovierte (1977) der spätere Deutsche Bank-Chef Josef Acker-
mann.
27 Hans C. Binswanger: Vorwärts zur Mäßigung. Perspektiven einer nachhaltigen

Wirtschaft. Hamburg 22010, S. 139, 144, 157 ff. Binswanger greift hierbei auf Ansätze
zurück, die von Irving Fisher nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 entwickelt und
von Joseph Huber und James Robertson weiter ausgestaltet wurden (a. a. O., S. 142 ff.).
28
Vgl. Elmar Altvater/Nicola Segler (Hrsg.): Solidarische Ökonomie. Reader des Wis-
senschaftlichen Beirats von Attac. Hamburg 2006, S. 85–131.

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3. Die selbstreflexive Struktur der kritischen Gesellschafts-


theorie in Habermas’ Legitimationsprobleme im Spät-
kapitalismus

Die Analyse konkreter Krisenphänomene der zeitgenössischen west-


lichen Gesellschaften in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
ist in eine Theorie der sozialen Evolution eingebettet, die sich als Re-
konstruktion des Historischen Materialismus versteht (LS 7, vgl. RHM
129 f.). Habermas bezeichnet es in den Legitimationsproblemen als ein
Verdienst des Marxismus, erstmals einen sozialwissenschaftlichen Be-
griff der »Systemkrise«, die aus »strukturell angelegte[n] Widersprü-
che[n]« einer Gesellschaftsformation resultiert, entwickelt zu haben
(LS 10 f.). Er verweist in diesem Zusammenhang auf seine Aufsatz-
sammlung Theorie und Praxis (1963, erw. Neuausgabe 1971; LS 10,
Anm. 4), wo er die Aufgabe formuliert, sich der »wissenschaftstheo-
retische[n] Struktur« des Historischen Materialismus »als einer expli-
zit in politischer Absicht entworfenen, dabei wissenschaftlich falsifi-
zierbaren Geschichtsphilosophie« zu versichern (TP2 237, 244). Der
politische Impetus der marxistischen Geschichtstheorie schließt die
Unterstellung ein, dass die herrschenden Verhältnisse veränderbar
sind; diese Annahme soll durch den Nachweis erhärtet werden, dass
aktuelle Krisenphänomene in einer weltgeschichtlichen Perspektive
als Indizien für eine tiefgreifende Destabilisierung der bestehenden
Gesellschaftsordnung anzusehen sind (vgl. TP2 246). Auf diese Weise
soll der »Sinn für das objektiv Mögliche in dem etablierten Wirk-
lichen« geweckt werden (TP2 268). Über den Wahrheitsgehalt der An-
nahme, dass die bestehenden Verhältnisse brüchig geworden und somit
veränderbar sind, kann aber letztlich nicht durch theoretische Reflexi-
on, sondern nur im Medium der Praxis entschieden werden (TP2 246).
Indem Habermas den Begriff des »objektiv Mögliche[n]« ins Zentrum
der marxistischen Geschichtstheorie rückt, 29 wendet er sich gegen ein
im naturwissenschaftlichen Sinne objektivistisches, d. h. geschichts-
deterministisches Verständnis des Historischen Materialismus (TP2
266), für das es bei Marx und Engels durchaus Anknüpfungspunkte
gibt: Sie bezeichnen im Kommunistischen Manifest den weltgeschicht-
lichen Sieg des Proletariats als »unvermeidlich« (MEW 4, 474); Marx

29
Vgl. TP2 438: »Eine ihrem Gegenstand angemessene historische Theorie des Beste-
henden ist Theorie seiner Veränderung.«

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

stimmt im Nachwort zur 2. Auflage des Kapital (1873) der Auffassung


eines russischen Rezensenten zu, er analysiere gesellschaftliche Ent-
wicklungen wie »einen naturgeschichtlichen Prozess (MEW 23, 26 f.);
Engels stellt im Anti-Dühring (1878) die Natur- und die Gesellschafts-
geschichte auf dieselbe Stufe (MEW 20, 132). Habermas sieht in der
»naturalistischen« Selbstinterpretation der marxistischen Gesell-
schaftstheorie in Marx’ Nachwort zur 2. Auflage des Kapital und in
Engels’ späten Schriften ein Selbstmissverständnis der Urheber des
Historischen Materialismus (TP2 266 f., EI 62 f.). Im Folgenden (Ab-
schnitte 3–4) soll dafür argumentiert werden, dass mittels der Haber-
mas’schen Doppelung von systemischer Beobachter- und lebenswelt-
licher Teilnehmerperspektive die Theoriestruktur der Ursprungsgestalt
des Historischen Materialismus in den Frühschriften von Marx und
Engels dahingehend rekonstruiert werden kann, dass sich der Begriff
des »objektiv Mögliche[n]« als Schlüsselbegriff erweist – was einem
»Geschichtsobjektivismus« (RHM 10) zuwiderläuft. 30
In der systemischen Beobachterperspektive, die in den soziologi-
schen Systemtheorien Talcott Parsons’ und Niklas Luhmanns paradig-
matisch ausgestaltet wird, werden die »Steuerungsleistungen« einer
Gesellschaftsordnung als eines »selbstgeregelten Systems« themati-
siert, d. h. die Mechanismen und Strategien, mittels derer es seine Sta-
bilität erhält (LS 14). Hierzu gehört auf der einen Seite eine Ressour-
cenverteilung, die – sei es auch mit Hilfe repressiver Maßnahmen – die
Funktionsfähigkeit der Gesellschaft sichert, auf der anderen Seite ein
normativer Ordnungsrahmen. Dieser wird in der systemischen Be-
obachterperspektive nicht unter dem »Geltungsaspekt«, d. h. in Hin-
blick auf seine ethische Legitimität, untersucht (LS 15), sondern aus-
schließlich in Bezug auf seine systemerhaltende Funktion der sozialen
Disziplinierung der Individuen. In der systemischen Perspektive kom-
men somit – um eine kantische Unterscheidung aufzugreifen – keine
»quid juris?«, sondern nur »quid facti?«-Fragen zur Sprache. 31 Die le-
bensweltliche Teilnehmerperspektive konstituiert sich durch die The-

30 Die Prophezeiung des »unvermeidlich[en]« Siegs des Proletariats im Kommunisti-


schen Manifest lässt sich – mit Wolfgang Streeck – als politische Rhetorik werten, die
die Adressaten des Manifests zur politischen Aktion anspornen soll (Wolfgang Streeck:
»On Fred Block, Varieties of What? Should we still be using the Concept of Capita-
lism?« In: Political Power and Social Theory 23 (2012), S. 311–321, hier: S. 319,
Anm. 9). S. u. Anm. 60.
31 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 84, B 116.

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matisierung von »Geltungsprobleme[n]« als ein eigenständiger metho-


discher Standpunkt (LS 16).
Habermas vertritt die These, dass in der weltgeschichtlichen Ab-
folge der archaischen Stammesgesellschaft, der »traditionale[n]«
Hochkulturen und der modernen, europäisch geprägten Globalzivilisa-
tion eine »Entwicklungslogik« normativer Ordnungsstrukturen er-
kennbar ist: in dem Sinne, dass sich die »Forderung nach diskursiver
Einlösung der normativen Geltungsansprüche« immer stärker durch-
setzt (LS 19, 23), was in der »quid juris?«-Perspektive als ein Weg zu
»wachsender […] Einsicht« in die Begründungsbedürftigkeit normati-
ver Forderungen zu werten ist (LS 27, vgl. RHM 12, TkH II 218). Im
magisch-mythischen Weltbild archaischer Stammesgesellschaften, das
die Natur und die menschliche Gemeinschaft gleichermaßen als Wir-
kungsbereich von Geistern auffasst, haben sich normative Strukturen
noch nicht als eigene Sphäre herausgebildet. 32 Im religiös-metaphysi-
schen Weltbild traditionaler Hochkulturen werden erstmals normative
Argumentationsformen entwickelt, wobei die basalen religiösen Dog-
men und metaphysischen Grundannahmen allerdings statuarisch ge-
setzt werden (RHM 19, TkH II 282). Die neuzeitliche Aufklärung ver-
langt demgegenüber, normative Geltungsansprüche ohne den Rekurs
auf metaphysische Prämissen in der Vernunft zu verankern – womit
die normative Sphäre den universalistischen Charakter menschlicher
Autonomie gewinnt (RHM 19, TkH II 118 f.).
Habermas’ These, dass die »Lernprozesse im Bereich des mora-
lisch-praktischen Bewusstseins« beim Aufkommen der Hochreligio-
nen bzw. metaphysischen Weltdeutungen und in der neuzeitlichen
Aufklärung eine »Schrittmacherfunktion« für die soziale Evolution
übernehmen (RHM 176), lässt sich mit dem marxistischen Basis/Über-
bau-Theorem durchaus in Einklang bringen: Die »Kultur« bleibt für
ihn ein »Überbauphänomen« (RHM 12); Habermas lehnt lediglich eine
reduktionistische Lesart des Basis/Überbau-Theorems ab, demzufolge
die Ökonomie alle übrigen gesellschaftlichen Bereiche determiniert.
Eine solche Sichtweise wird zwar durch eine Reihe plakativer Aussagen
von Marx und Engels nahe gelegt (MEW 3, 27; 13, 8 f., 470), ist jedoch
insofern inadäquat, als die politische Publizistik beider auf der Annah-

32 »Das moralische ist […] mit dem physischen Versagen, das Böse ist mit dem Schäd-
lichen konzeptuell ebenso verwoben wie das Gute mit dem Gesunden und dem Vor-
teilhaften.« (TkH I 80). Vgl. RHM 18.

166

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

me beruht, dass eine »Reform des Bewusstseins« (Marx an Ruge, Sep-


tember 1843, MEW 1, 346), d. h. die Entlarvung systemstabilisierender
Ideologien, Anstöße zur Veränderung der Gesellschaft – einschließlich
ihrer ökonomischen Strukturen – geben kann. 33 Gemäß Habermas’
›nicht-reduktionistischer‹ Version des Basis/Überbau-Theorems wer-
den die normativen Lernprozesse, denen er eine Schrittmacherfunktion
für die soziale Evolution zuerkennt, durch die »evolutionären Heraus-
forderungen ungelöster, ökonomisch bedingter Systemprobleme« an-
gestoßen (RHM 12, vgl. 154). In diesem Sinne spricht er noch in der
Theorie des kommunikativen Handelns vom »strukturbildenden öko-
nomischen Bereich« (TkH II 265).
Die methodische Verschränkung von systemischer Beobachter-
und lebensweltlicher Teilnehmerperspektive in Habermas’ Legitimati-
onsprobleme im Spätkapitalismus lässt sich im Ausgang von einer pro-
grammatischen These in seinem Beitrag zur Adorno-Festschrift nach-
zeichnen: »Indem die dialektische Betrachtungsweise die verstehende
Methode«, d. h. eine »Hermeneutik der sozialen Lebenswelt«, »mit den
vergegenständlichenden Prozeduren kausalanalytischer Wissenschaft
verbindet und beide in wechselseitig sich überbietender Kritik zu ihrem
Recht kommen lässt, hebt sie die Trennung von Theorie und Geschich-
te auf.« 34 Habermas nimmt im Schlussteil dieses Zitats auf Horkhei-
mers Entwurf einer Gesellschaftstheorie, die auf ihre Einbindung in die
soziale Praxis reflektiert, in dem bahnbrechenden Aufsatz »Traditio-
nelle und kritische Theorie« Bezug, auf den er sich in seiner Abhand-
lung »Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik«
ausdrücklich beruft (TP2 242 f.). 35 Auch Adorno spielt in seiner Stel-
lungnahme zu Habermas’ Konzept der methodischen Doppelung von
Beobachter- und Teilnehmerperspektive auf Horkheimers Bestimmung
der kategorialen Differenz von gesellschafts- und naturwissenschaft-
licher Erkenntnis (s. u.) an: Adorno schreibt in seiner Einleitung in

33 Laut Marx’ »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (1844) gehört es zu den
»inneren Bedingungen« der intendierten Revolution, dass der »Blitz des Gedankens« in
den »naiven Volksboden« einschlägt (MEW 1, 391).
34 Habermas: »Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik«. In: Adorno u. a.

(Hrsg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Darmstadt/Neuwied 1969,


S. 155–191, hier: S. 165, 158.
35 Vgl. Max Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie« (1937). In: ders.: Ge-

sammelte Schriften. Bd. 4: Schriften 1936–1941. Hrsg. von Alfred Schmidt und Gun-
zelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M. 1988, S. 162–216, hier: S. 185, 189 f. S. u. S. ###.

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den Sammelband Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie –


im Rahmen eines kritischen Kommentars zur Systemtheorie Parsons’,
worin biologische Paradigmen adaptiert werden 36 –, Habermas habe
»den Übergang zur Dialektik als notwendig begründet mit Hinblick
auf spezifisch sozialwissenschaftliche Erkenntnis.« 37 Im Folgenden soll
zunächst im Ausgang von Horkheimers Aufsatz »Traditionelle und
kritische Theorie« Adornos – von ihm selbst nur summarisch er-
läuterte – These, dass Habermas mittels der Unterscheidung von Be-
obachter- und Teilnehmerperspektive die unverzichtbare Bedeutung
dialektischer Argumentationsformen für eine selbstreflexive Gesell-
schaftstheorie aufgewiesen hat, im Rekurs auf Legitimationsprobleme
im Spätkapitalismus expliziert werden. Auf dieser Basis soll in Ab-
schnitt 4 die zum Geschichtsdeterminismus gegenläufige Lesart des
Historischen Materialismus, die den Begriff objektiver geschichtlicher
Möglichkeiten ins Zentrum stellt, 38 konkretisiert werden. In Abschnitt
5 soll dafür argumentiert werden, dass Habermas in der Theorie des
kommunikativen Handelns der Warenform-Analyse in Marx’ Kapital
zu Recht entgegenhält, aufgrund ihrer Orientierung an einer He-
gel’schen Begrifflichkeit der methodischen Differenz von Beobachter-
und Teilnehmerperspektive nicht adäquat Rechnung zu tragen.
Horkheimer wendet gegen die Applikation naturwissenschaft-
licher Erklärungsmodelle auf die Soziologie ein, dass hierbei der beson-
dere Status gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis verwischt zu
werden droht: Die soziale Realität steht der Gesellschaftstheorie nicht
als bloßes Objekt der Beschreibung und Erklärung gegenüber; die theo-
retische Darstellung sozialer Phänomene kann vielmehr auf ihren Er-
kenntnisgegenstand zurückwirken, indem sie die handlungsleitenden
Überzeugungen ihrer Rezipienten beeinflusst. 39 Eine Soziologie, die
auf diese mögliche Rückwirkung nicht reflektiert, kann fragwürdige
Selbstinterpretationen ihrer Adressaten initiieren bzw. befestigen.
Überträgt man etwa das kausale Erklärungsmodell, mit dem die Ver-
änderungen in ökologischen Systemen nach dem Eindringen neuer
Tierarten erfasst werden können, auf die Wandlungen von Konsum-

36 Vgl. Talcott Parsons: Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1975, S. 10.


37
Theodor W. Adorno: »Einleitung« in: Adorno u. a. (Hrsg.): Der Positivismusstreit in
der deutschen Soziologie. (s. Anm. 34), S. 7–79, hier: S. 23 f. S. u. S. ### f.
38
S. o. S. 164.
39 Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie« (s. Anm. 35), S. 203.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

gewohnheiten durch technische Erfindungen wie das Fernsehen, so


kann dies der Auffassung Vorschub leisten, die faktische Ausweitung
menschlicher Bedürfnisse im Zuge des technischen Fortschritts sei
kausal determiniert. 40 Diese Auffassung nimmt den Charakter der zir-
kulären Selbstimmunisierung eines Vorurteils an, wenn sie dazu ver-
leitet, Alternativen zu den faktischen Entwicklungen nicht einmal
mehr ins Auge zu fassen. Eine Gesellschaftstheorie, die sich ihrer mög-
lichen Rückwirkung auf ihren Gegenstand innewird, muss die traditio-
nelle Entgegensetzung von Theorie und Praxis – und damit von Theo-
rie und Geschichte – relativieren. 41 Durch diese methodische Reflexion
auf das Spezifikum sozialwissenschaftlicher Erkenntnis gewinnt Hork-
heimer den Begriff der »realen Möglichkeit« gesellschaftlicher Ver-
änderungen als zentrale inhaltliche Deutungskategorie der von ihm
konzipierten kritischen Gesellschaftstheorie, wodurch sich diese von
einer rein naturwissenschaftlich orientierten Soziologie grundlegend
unterscheidet. 42 Horkheimer weist allerdings zugleich darauf hin, dass
man sich der Realität antizipierter Möglichkeiten letztlich nur durch
den faktischen Erfolg der Erprobung von Alternativen zum Bestehen-
den vergewissern kann. 43
Adorno erklärt es in den Minima Moralia (1951) zur Kernaufgabe
einer kritischen Gesellschaftstheorie, die von einer bestimmten »Gesell-
schaft […] entwickelte Potentialität« freizulegen. 44 In vergleichbarer
Weise bestimmt Habermas in Legitimationsprobleme im Spätkapitalis-
mus den Begriff des Organisationsprinzips einer Gesellschaftsforma-
tion dahingehend, dass dieses einen »Raum von Möglichkeiten sozialer
Zustandsänderungen festlegt« (LS 18, vgl. 30). Das entscheidende Ar-
gument, mit dem die Rede von den realen Möglichkeitsspielräumen
einer geschichtlichen Situation gegen den Vorwurf unwissenschaft-
licher Spekulation verteidigt werden kann, wird von Adorno prägnant
formuliert, indem er Ideologie als »objektiv notwendiges und zugleich

40 Vgl. Adorno: »Thesen übers Bedürfnis« (1942). In: ders.: Soziologische Schriften I
(= Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann u. a., Bd. 8). Frankfurt a. M. 1972,
S. 392–396.
41 Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie« (s. Anm. 35), S. 196, 205 f.

42
A. a. O., S. 193.
43 A. a. O., S. 194 f.

44
Adorno: Minima Moralia (Gesammelte Schriften, Bd. 4). Frankfurt a. M. 1980.
Nr. 96, S. 172.

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Smail Rapic

falsches Bewusstsein« bestimmt. 45 Adornos Ideologiebegriff verknüpft


einen geltungslogischen mit einem deskriptiv-explanatorischen As-
pekt. In geltungslogischer Hinsicht siedelt Adorno das »falsche Be-
wusstsein« in der Mitte zwischen unverschuldeten Irrtümern und der
bewussten Lüge an: »Falsches Bewusstsein« besteht demnach in in-
kohärenten Selbst- bzw. Weltinterpretationen, deren illusionärer Cha-
rakter den Betreffenden aufgrund von Reflexionsdefiziten bzw. Ver-
drängungsmechanismen verborgen geblieben ist. 46 Um die faktische
Wirkungsmacht von Ideologien erklären zu können, muss der Ideo-
logiekritiker nachweisen, dass sie für die Aufrechterhaltung bestimm-
ter Sozialstrukturen »objektiv notwendig« sind; der Ausdruck »not-
wendig« meint hier nicht: »kausal determiniert« – in diesem Fall wäre
das Unternehmen der Ideologiekritik sinnlos –, sondern: für die Funk-
tionsfähigkeit bestehender Sozialstrukturen unentbehrlich. Die gel-
tungslogische Kritik des falschen Bewusstseins muss somit durch eine
systemfunktionale Gesellschaftsanalyse ergänzt werden: Wenn es die-
ser gelingt, die systemstabilisierende Funktion bestimmter inkohären-
ter Selbst- bzw. Weltdeutungen, deren illusionärer Charakter von den
Betreffenden durchschaut werden könnte, aufzuweisen, ist es gerecht-
fertigt, von der »realen« bzw. »objektive[n] Möglichkeit« zu sprechen,
die bestehenden Verhältnisse durch die Aufdeckung falschen Bewusst-
seins zu verändern. 47
Auf diesem Hintergrund lässt sich Adornos These, dass Habermas
den Übergang zur Dialektik im Hinblick auf spezifisch sozialwissen-
schaftliche Erkenntnis als notwendig begründet hat, in drei Schritten
erläutern:
1. Analysiert man im Anschluss an Horkheimers Aufsatz »Tradi-
tionelle und kritische Theorie« Reflexionsdefizite, die die Einsicht in
die mögliche Rückwirkung sozialwissenschaftlicher Erklärungen auf
ihren Gegenstand versperren können – hierbei kommt der zirkulären

45 Adorno: »Beitrag zur Ideologienlehre« (1954). In: ders.: Soziologische Schriften 1


(s. Anm. 40), S. 457–477, hier: S. 465. Vgl. Adorno: »Soziologie und empirische For-
schung« (1958). In: ders.: Soziologische Schriften 1 (s. Anm. 40), S. 196–216, hier:
S. 215.
46 Adorno: »Beitrag zur Ideologienlehre« (s. Anm. 45), S. 465; »Soziologie und empiri-

sche Forschung« (s. Anm. 45), S. 215.


47 Zum Begriff der »objektiven Möglichkeit« vgl. Adorno: »Spätkapitalismus oder In-

dustriegesellschaft?« (1968). In: ders.: Soziologische Schriften 1 (s. Anm. 40), S. 354–
370, hier: S. 368.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

Selbstimmunisierung von Vorurteilen paradigmatische Bedeutung


zu –, so gewinnt man den Begriff des falschen Bewusstseins in seinem
eigentümlichen Zwischenstatus zwischen unverschuldeten Irrtümern
und bewusster Lüge.
2. Während Horkheimer die Idee der kritischen Gesellschaftstheo-
rie in entschiedener Gegenwendung zur Applikation naturwissen-
schaftlicher Methoden auf die Soziologie entwickelt, erklärt es Adorno
zur entscheidenden Leistung der Habermas’schen Doppelung von Be-
obachter- und Teilnehmerperspektive, vermittels einer immanenten
Kritik des anspruchsvollsten zeitgenössischen Programms einer natur-
wissenschaftlich orientierten Soziologie – der von Parsons initiierten
soziologischen Systemtheorie – deren Erklärungspotential in die kriti-
sche Gesellschaftstheorie integrieren zu können. 48 Eine Schlüsselrolle
kommt hierbei der von Parsons gemeinsam mit Edward Shils verfass-
ten Abhandlung »Values, Motives and Systems of Action« zu. 49 Auf
dem von Horkheimer anvisierten Weg der Gewinnung inhaltlicher
Grundbegriffe der kritischen Gesellschaftstheorie mittels der metho-
dischen Reflexion auf das Spezifikum sozialwissenschaftlicher Er-
kenntnis kann der Begriff des falschen Bewusstseins zunächst nur
hypothetisch entwickelt werden: durch die Analyse möglicher Refle-
xionsdefizite der Urheber bzw. Rezipienten sozialwissenschaftlicher
Theorien. Der genannten Abhandlung von Parsons und Shils lässt sich
ein Argument dafür entnehmen, dass mit diesem hypothetisch einge-
führten Begriff des falschen Bewusstseins ein systemstabilisierendes
Moment faktischer Gesellschaften erfasst wird. Nach Parsons und Shils
lassen sich Widersprüche zwischen den Erfordernissen ökonomischer
Effizienz und den normativen Vorschriften einer Gesellschaft nie voll-
ständig vermeiden. 50 Da sowohl eine leistungsfähige Wirtschaft als
auch die mehrheitliche Befolgung normativer Vorschriften für die
Stabilität einer Sozialordnung unentbehrlich sind, müssen solche Wi-
dersprüche – so Parsons und Shils – durch Verdrängungsmechanismen
im Freud’schen Sinne niedergehalten werden. 51 Die – von Luhmann
aufgegriffene – These von der »Unentbehrlichkeit der Ideologiefunk-

48 Adorno: »Einleitung« in: Adorno u. a. (Hrsg.): Der Positivismusstreit in der deut-


schen Soziologie (s. Anm. 34), S. 23 f.
49
Talcott Parsons/Edward Shils: »Values, Motives and Systems of Action«. In: dies.
(Hrsg.): Toward a General Theory of Action. New York 1951, S. 47–275.
50
A. a. O., S. 153, 174 f., 179.
51 A. a. O., S. 52, 174 f. Vgl. Habermas: TkH II 322 ff.

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tion« 52 gibt Anlass zu der Rückfrage, ob das faktische Ausmaß der ideo-
logischen (Selbst-)Täuschungen in den gegenwärtigen Gesellschaften
notwendig ist, um deren Absturz in die Anarchie zu verhindern, oder
ob sich in den herrschenden Ideologien auch Machtverhältnisse, die
überwunden werden könnten, niederschlagen. Aufschluss hierüber
lässt sich nur durch den Versuch gewinnen, auf die bestehenden Ver-
hältnisse durch Ideologiekritik einzuwirken; solche Versuche können
von der soziologischen Systemtheorie jedoch nicht unternommen
werden, da sie hiermit ihren deskriptiv-explanatorischen Beobachter-
standpunkt verließe. Adorno hält ihr zu Recht vor, das Verhältnis von
Gesellschaft und Individuum in einer verkürzten Perspektive zu the-
matisieren: Die Einzelnen erscheinen als Momente systemischer
Strukturzusammenhänge, wobei die Frage nach ihrer personalen Ver-
antwortung außer Betracht bleibt. 53 Die soziologische Systemtheorie
ebnet somit die kategoriale Differenz von natur- und gesellschaftswis-
senschaftlicher Erkenntnis im Horkheimer’schen Sinne dadurch ein,
dass sie den Begriff der »realen« bzw. »objektiven Möglichkeit« gesell-
schaftlicher Alternativen, der in der deskriptiv-explanatorischen Be-
obachterperspektive keinen Platz hat, als ›unwissenschaftlich‹ werten
muss. Der von Habermas geforderte Überschritt von der Beobachter-
perspektive zur Teilnehmerperspektive, in der aufgrund der Orientie-
rung an »Geltungsprobleme[n]« (LS 16) ideologischer Schein kritisiert
werden kann, ergibt sich demnach stringent aus einer immanenten
Kritik an der soziologischen Systemtheorie. Die Teilnehmerperspektive
der kritischen Gesellschaftstheorie ist aufgrund der Schlüsselrolle, die
der Begriff der Möglichkeit im Sinne der Handlungsalternative in ihr
spielt, an unsere »Lebenswelt« angebunden. Im Zentrum von Haber-
mas’ Lebenswelt-Begriff steht das »Situationsbewusstsein der han-
delnden Individuen«: 54 In der »Innenperspektive«, die für unsere per-
sonale Existenz konstitutiv ist, stellen sich die Situationen, in denen
wir uns jeweils befinden, als Horizonte spezifischer »Handlungsmög-
lichkeiten« dar (TkH II 10, 187 f.); zu diesen Möglichkeiten verhalten
wir uns stets in irgendeiner Weise – sei es auch in dem Sinne, dass wir

52 Luhmann: »Wahrheit und Ideologie«. In: ders.: Soziologische Aufklärung 1. Opladen


1970, S. 54–65, hier: S. 60.
53
Adorno: »Einleitung« in: Adorno u. a. (Hrsg): Der Positivismusstreit in der deutschen
Soziologie (s. Anm. 34), S. 24.
54
Habermas: »Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik« (s. Anm. 3), S. 476,
480.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

Entscheidungen aufschieben bzw. ihnen ausweichen. Wenn in der Teil-


nehmerperspektive der kritischen Gesellschaftstheorie Inkohärenzen
in den Selbstbeschreibungen von Zeitgenossen aufgedeckt werden, ist
der Ideologiekritiker befugt, denjenigen, die einer Auseinandersetzung
mit seinen Argumenten aus dem Weg gehen, vorzuwerfen, falschem
Bewusstsein verhaftet zu bleiben – sofern es Grund zu der Annahme
gibt, dass die Inkohärenzen für sie durchschaubar sind. Dies ist in dem
Maße der Fall, wie – im Zuge der Aufklärung – die Blockade von Re-
flexionsprozessen durch (insbes. religiöse) Tabuisierungen abgebaut
worden ist und die Individuen mit der Forderung nach kohärenter Be-
gründung normativer Ansprüche vertraut sind. Die Rekonstruktion
einer gattungsgeschichtlichen »Entwicklungslogik« des normativen
Bewusstseins im Habermas’schen Sinne weist die fortschreitende Ein-
sichtsfähigkeit der Individuen auf und hat damit eine unentbehrliche
Funktion für die Kritik gegenwärtiger Ideologien.
Hiermit ist allerdings noch nicht verbürgt, dass die faktischen ge-
sellschaftlichen Verhältnisse durch die Enthüllung ideologischer In-
kohärenzen verändert werden können. Die kritische Gesellschaftstheo-
rie muss ihren Anspruch, objektive Möglichkeiten der gegenwärtigen
geschichtlichen Situation freizulegen, mit Argumenten stützen, die
den methodischen Standards der avanciertesten kausalanalytisch ori-
entierten Sozialwissenschaft genügen, d. h. der soziologischen System-
theorie. In einer systemfunktionalen Perspektive hat die Kritik an etab-
liertem falschen Bewusstsein nur dann die Chance, Verdrängungs-
mechanismen zu durchbrechen, wenn das bestehende soziale System
in eine Krise geraten ist, in der es von der herrschenden Ideologie des-
halb nicht länger effizient stabilisiert werden kann, weil es selber dys-
funktional geworden ist. Wenn der Ideologiekritiker Gründe dafür an-
führen kann, dass die intendierte Überwindung falschen Bewusstseins
den Weg zu einer Reorganisation der Gesellschaftsstruktur ebnet, wo-
durch die aufgetretenen systemischen Störungen ausgeräumt werden
könnten, hat er den für die Teilnehmerperspektive der kritischen Ge-
sellschaftstheorie grundlegenden Begriff der objektiven Möglichkeiten
einer geschichtlichen Situation im Durchgang durch die Beobachter-
perspektive gerechtfertigt. Er ist demnach dazu angehalten, seine eige-
ne Tätigkeit als ein Moment des »objektiven Krisenzusammenhang[s]«
auszuweisen, welches diesen »zur Vollendung treibt« und hierdurch
einen Ausweg eröffnet, wie Habermas in »Zwischen Philosophie und
Wissenschaft: Marxismus als Kritik« konstatiert (TP2 246, 266). In die-

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Smail Rapic

sem Sinne schreibt er in »Analytische Wissenschaftstheorie und Dia-


lektik«: »Damit objektiv sinnverstehend die Geschichte selbst theo-
retisch durchdrungen werden kann, muss sich […] Historie zur Zu-
kunft hin öffnen.« 55 Dass es hier nicht um Prophetie geht, sondern
um die Freilegung offener Möglichkeitshorizonte, zeigt die konkrete
Ausgestaltung dieses Programms in Legitimationsprobleme im Spät-
kapitalismus: Die intendierte Zertrümmerung der in sozioökonomi-
schen Krisen brüchigen ideologischen Verzerrungen in der bürgerlich-
kapitalistischen Gesellschaft soll die »Chancen der Selbsttransforma-
tion des Spätkapitalismus« in den Blick bringen (LS 48) – wobei Haber-
mas betont, dass sich aus seiner Analyse keine verlässlichen Prognosen
für die nächsten Jahre bzw. Jahrzehnte ableiten lassen (LS 60).
Habermas’ Forderung nach einer dialektischen Verschränkung
von Beobachter- und Teilnehmerperspektive ergibt sich demnach kon-
sequent aus dem methodischen Argumentationsansatz Horkheimers in
»Traditionelle und kritische Theorie« unter der inhaltlichen Prämisse,
dass der zunächst hypothetisch eingeführte Begriff des falschen Be-
wusstseins etwas Faktisches trifft; diese Prämisse lässt sich mit der Sys-
temtheorie Parsons’ stützen. Auf der einen Seite ergibt sich aus der (in
der Beobachterperspektive formulierten) These Parsons’, Shils und
Luhmanns, dass in jeder Gesellschaft Ideologien wirksam sind, die Not-
wendigkeit, in die ideologiekritische Teilnehmerperspektive zu wech-
seln, wenn die kategoriale Differenz von natur- und gesellschaftswis-
senschaftlicher Erkenntnis nicht verwischt werden soll; auf der anderen
Seite ist der Ideologiekritiker dazu genötigt, sein Unternehmen in
einen objektiven systemischen Zusammenhang einzuordnen, um plau-
sibel zu machen, dass es nicht »zur Folgenlosigkeit verurteilt« ist (TP2
246) – also sich selbst gegenüber wiederum die Beobachterperspektive
einzunehmen. Durch diesen wechselseitigen Umschlag beider Perspek-
tiven ineinander wird ihre jeweilige Einseitigkeit korrigiert. In diesem
Sinne kommen sie »in wechselseitig sich überbietender Kritik« jeweils
»zu ihrem Rechte« (ebd.).
3. Das in Habermas’ Aufsatz »Analytische Wissenschaftstheorie
und Dialektik« skizzierte Programm, die Notwendigkeit dialektischer
Denkformen für die spezifisch sozialwissenschaftliche Erkenntnis ver-
mittels einer immanenten Kritik der kausalanalytisch orientierten So-
ziologie zu erweisen, gelangt ans Ziel, wenn gezeigt werden kann, dass

55 A. a. O., S. 481.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

der von Parsons und Shils konstatierte Widerspruch zwischen öko-


nomischen Systemstrukturen und normativen Vorschriften kein mar-
ginaler Störfaktor sozialer Funktionszusammenhänge ist, wie Parsons
suggeriert, 56 sondern den innersten Kern der historisch-realen Gesell-
schaften betrifft. Genau das leistet laut Habermas’ Legitimationspro-
bleme im Spätkapitalismus der Historische Materialismus: Er siedelt
die Organisationsprinzipien der Gesellschaftsformationen, die sich seit
der Gründung von Staaten etabliert haben, auf einer Ebene an, »wo
sich die normativen Strukturen mit dem materiellen Substrat ver-
schränken«, und weist hierin »strukturell angelegte Widersprüche«
auf (LS 30, 11). Dies soll im nächsten Abschnitt (4) im Rekurs auf die
Frühschriften von Marx und Engels konkretisiert werden. Die Frage,
ob bzw. inwieweit sich Marx’ Kritik der politischen Ökonomie Haber-
mas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus in den 1960er-
und 70er-Jahren einfügt, ist das Thema von Abschnitt 5.

4. Die Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmer-


perspektive in den Frühschriften von Marx und Engels

Im Folgenden sollen zentrale Theoreme der Frühschriften von Marx


und Engels – mit dem Fokus auf die Deutsche Ideologie (1845/46) –
am Leitfaden von Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalis-
mus skizziert werden. Hierbei soll zugleich dafür argumentiert wer-
den, dass die Ursprungsgestalt des Historischen Materialismus gegen
die inhaltliche Kritik, die Habermas in der Theorie des kommunikati-
ven Handelns an Marx’ Analyse der Warenform im Kapital übt – dort
werde die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft unter einem öko-
nomistisch verkürzten Blickwinkel analysiert und die Rolle des Privat-
eigentums an Produktionsmitteln überschätzt 57 – verteidigt werden
kann, sofern man bereit ist, das argumentative Potential der Früh-
schriften von Marx und Engels auf Kosten ihrer utopischen Zielper-
spektive auszuschöpfen. 58

56 Parsons: Das System moderner Gesellschaften. Weinheim/München 1985, S. 10,


21 f. Vgl. TkH II 276.
57
S. o. S. 157.
58 Abschnitt 4 enthält eine – z. T. neu akzentuierte – thesenhafte Zusammenfassung des

den Frühschriften von Marx und Engels gewidmeten Kapitels meiner Monographie
Subjektive Freiheit und Soziales System. Positionen der kritischen Gesellschaftstheorie

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Marx und Engels vertreten in der Deutschen Ideologie die ihrer


kommunistischen Utopie letztlich zuwiderlaufende These, dass die Ar-
beitsteilung und die hiermit historisch verknüpfte Tauschwirtschaft
den Ursprung sozioökonomischer Konflikte bilden, die sich zu Klassen-
gegensätzen verfestigen (MEW 3, 31 ff.). Während jeder Produzent
eine möglichst große Gewinnspanne anstrebt, sind die Konsumenten
an niedrigen Preisen interessiert. Dies führt zu einem Konkurrenz-
kampf unter den ›Anbietern‹, dessen Wechselfälle sich in einer sozio-
ökonomischen Hierarchisierung niederschlagen – da die erfolgreichen
Produzenten ihren Besitz vermehren und hierdurch sich selbst und
ihren Nachkommen eine dauerhafte Überlegenheit sichern können.
Die Angehörigen verarmter oder von vornherein mittelloser Familien
bilden ein Reservoir von Arbeitskräften, das die Begüterten zur wei-
teren Vermehrung ihres Wohlstands nutzen können. Die Konflikte
zwischen den »durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen«
(MEW 3, 33) entwickeln eine Eigendynamik, deren destruktives Poten-
tial die Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols erforderlich
macht. Der Staat kann seine systemische Funktion, eine unkontrollier-
te Eskalation der aus der Arbeitsteilung und der Tauschwirtschaft ent-
springenden Konflikte zu verhindern, nur erfüllen, wenn er sich als
Sachwalter von Allgemeininteressen präsentiert. Seine normative
Selbstbeschreibung tritt somit in »Widerspruch« zum Antagonismus
der sozioökonomischen Partikularinteressen (MEW 3, 31 f.).
Marx und Engels bringen die Gründung von Staaten mit einem
Entwicklungssprung des normativen Bewusstseins in Zusammenhang:
der Ablösung der archaischen, magisch-mythischen Religiosität, worin
sich die Menschen von den Naturmächten »imponieren lassen wie das
Vieh«, durch die Hochreligionen, wo erstmals Gerechtigkeits- und
Solidaritätsprinzipien explizit formuliert werden (MEW 3, 31): »von
diesem Augenblicke an ist das Bewusstsein imstande, sich von der Welt
zu emanzipieren«; die »Theologie, Philosophie, Moral etc.« treten »in
Widerspruch mit den« – vorstaatlichen – »bestehenden Verhältnissen«
(MEW 3, 31 f.). Die »Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Be-
wusstseins« ist allerdings gemäß dem Basis/Überbau-Theorem »ver-
flochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der
Menschen« (MEW 3, 26). Demzufolge können die »Theologie, Phi-

von Rousseau bis zur Habermas/Luhmann-Kontroverse. Freiburg/München 2008,


S. 300–339.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

losophie, Moral etc.« nur dadurch in »Widerspruch« zu den »bestehen-


den gesellschaftlichen Verhältnissen« treten, dass diese »mit der beste-
henden Produktionskraft in Widerspruch« geraten sind (MEW 3, 31 f.).
Beim letztgenannten Widerspruch handelt es sich um die Kollision
einer vorwärtstreibenden wirtschaftlichen Dynamik mit den tradierten
Sozialstrukturen, die den ökonomischen Innovationen kein adäquates
Betätigungsfeld bieten. Hierin sehen Marx und Engels die basale Trieb-
kraft der sozialen Evolution (MEW 3, 73 f.). So machte etwa die Ein-
führung von Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft die Staatsgründung
unerlässlich, da die aus den ökonomischen Antagonismen resultieren-
den sozialen Konflikte von den Ordnungsstrukturen archaischer Stam-
mesgesellschaften nicht unter Kontrolle gebracht werden konnten. In
einer – später allerdings gestrichenen – Textpassage der Deutschen
Ideologie wird die Gegenwendung des normativen Bewusstseins gegen
den Kampf der sozioökonomischen Partikularinteressen zum Konstitu-
tionsprinzip der Staaten erklärt: »das sich emanzipierende, mit der be-
stehenden Produktionsweise in Widerspruch geratene Bewusstsein bil-
det nicht allein Religionen und Philosophien, sondern auch Staaten.«
(MEGA I/5, 572) Da Marx und Engels auch an der bereits zitierten
(nicht gestrichenen) Textstelle von einer Emanzipation des normativen
Bewusstseins von den bestehenden Verhältnissen sprechen (MEW 3,
31 f., vgl. MEGA I/5, 21), ist die Streichung offensichtlich dadurch mo-
tiviert, dass die Formulierung sozialethischer Prinzipien nicht dem
Überbau zugeordnet werden kann, wenn hierdurch die Staaten gebildet
wurden. Dass dem normativen Bewusstsein in der Deutschen Ideologie
gleichwohl die Fähigkeit zuerkannt wird, sich von den bestehenden
Verhältnissen zu emanzipieren, läuft einer reduktionistischen Lesart
des Basis/Überbau-Theorems zuwider. Dieses lässt sich in einer
›nicht-reduktionistischen‹ Version in der Weise auf die Staatsgründung
applizieren, dass die durch Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft her-
vorgerufenen Konflikte zum Anstoß eines normativen Fortschritts
wurden: der Formulierung sozialethischer Prinzipien durch die Hoch-
religionen und die metaphysische Philosophie, womit das normative
Bewusstsein einen Beitrag zur Staatsgründung leistete (vgl. RHM
175 ff.).
Der Widerspruch zwischen der normativen Selbstbeschreibung
des Staates als Sachwalter von Allgemeininteressen und den sozio-
ökonomischen Antagonismen wird dadurch verschärft, dass sich in
allen bisherigen Gesellschaftsformationen ökonomische Macht in poli-

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tischer Macht niedergeschlagen hat (MEW 3, 46, 74). Das Organisa-


tionsprinzip der aus der Staatsgründung hervorgegangenen Gesell-
schaftsformationen ist somit »eine Klassenherrschaft in politischer
Form« (LS 33). Der privilegierte Zugang der ökonomisch dominieren-
den Schicht zu den Machtmitteln des Staates leistet der ideologischen
Verzerrung seiner normativen Selbstbeschreibung durch Partikular-
interessen, die als Allgemeininteressen ausgegeben werden, Vorschub
(MEW 3, 74).
In den Frühschriften von Marx und Engels ergibt sich der Über-
schritt von der kausalanalytischen Beobachterperspektive, in der sich
die bisherigen Erörterungen bewegen, in die geltungslogisch orientier-
te Teilnehmerperspektive durch die Frage, inwieweit ideologische In-
kohärenzen normativer Selbstbeschreibungen von den jeweiligen his-
torischen Akteuren durchschaut werden können. Marx spricht in Zur
Judenfrage (1843/44) von weltgeschichtlichen »Entwicklungsstufen
des menschlichen Geistes« (MEW 1, 349). Obwohl er dies nicht näher
ausführt, ergeben sich Parallelen zum Habermas’schen Gedanken einer
normativen Entwicklungslogik: Die bürgerlichen Ideen der Menschen-
rechte und Volkssouveränität verdanken sich für Marx wie für Haber-
mas der Säkularisierung der religiösen Sozialethik (MEW 1, 360, TkH
II 119, 125). Im Kommunistischen Manifest konzedieren Marx und
Engels der politischen Führungsschicht des Feudalismus, sich unter
dem Einfluss der mittelalterlichen Religion, die die Standesordnung
als gottgewollt hingestellt hat, »Illusionen« über die Ausbeutungs-
strukturen, an denen sie partizipierten, gemacht zu haben, d. h. davon
überzeugt gewesen zu sein, mit der Ausfüllung ihrer Standesrolle ihre
sozialethischen Pflichten zu erfüllen; in diesem Sinne ist im Manifest
von den »heiligen Schauer[n] der frommen Schwärmerei, der ritter-
lichen Begeisterung« die Rede (MEW 4, 464). Demgegenüber hat die
normative Selbstbeschreibung des bürgerlich-kapitalistischen Klassen-
staates den Charakter der »handgreiflichen Lüge« angenommen (Die
Deutsche Ideologie, MEW 3, 60): Die Diskrepanz zwischen seinen nor-
mativen Ansprüchen und den faktischen Machtverhältnissen lässt sich
der herrschenden Klasse als schuldhaftes Versagen zurechnen, da die
Einsichtsfähigkeit der Individuen im Zuge der Aufklärung gewachsen
ist.
Marx formuliert in »Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilo-
sophie« den »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen,
in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes,

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, 385). In seinem »Briefwechsel


von 1843« mit A. Ruge, M. Bakunin und L. Feuerbach weist er dem
Gesellschaftskritiker die Aufgabe zu, »aus den eigenen Formen der
existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und
ihren Endzweck [zu] entwickeln.« (MEW 1, 345) Der Marx’sche kate-
gorische Imperativ ist demzufolge in die »Entwicklungsstufen des
menschlichen Geistes« eingebunden. Dies bedeutet zunächst, dass die
Machtverhältnisse der kapitalistischen Klassengesellschaft mittels der
bürgerlichen Ideen der Menschenrechte und Volkssouveränität imma-
nent kritisiert werden können. Diese Ideen gehören laut dem Kom-
munistischen Manifest zu den »Bildungselemente[n]« des Proletariats
(MEW 4, 471). Sie sind eine unentbehrliche Voraussetzung dafür, dass
der revolutionären Avantgarde die »Erzeugung« eines »kommunisti-
schen Bewusstseins« gelingen kann (MEW 3, 70) – reichen allerdings
nicht aus, um den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft zu einer
normativen Verpflichtung erklären zu können, da das Privateigentum
für die bürgerliche Sozialethik essentiell ist (MEW 4, 480). Um die
kommunistische Forderung nach Vergesellschaftung der Produktions-
mittel normativ fundieren zu können, müsste die bürgerliche Sozial-
ethik in der »quid juris?«-Perspektive transformiert werden. Diese
Aufgabe haben Marx und Engels allerdings nirgends explizit in Angriff
genommen.
Obwohl Marx und Engels dem Kapitalismus keinen evolutionären
Eigenwert zubilligen, kann der Vorwurf einer ökonomistisch verkürz-
ten Interpretation der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, den Ha-
bermas in der Theorie des kommunikativen Handelns gegen Marx’
Kapital erhebt, auf die Frühschriften beider Autoren m. E. nicht über-
tragen werden, wenn man die reduktionistische Formulierung in der
Deutschen Ideologie: »Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, son-
dern das Leben bestimmt das Bewusstsein« (MEW 3, 27) als eine pla-
kativ-einseitige Zuspitzung des Basis/Überbau-Theorems liest. Im
Kommunistischen Manifest räumen Marx und Engels ein, dass die
»Entwicklungsstufen der Bourgeoisie« stets von einem »politischen
Fortschritt« begleitet waren (MEW 4, 464).
Max Webers Prognose, dass die Abschaffung des Privatkapitalis-
mus nicht zum »Zerbrechen des stählernen Gehäuses der modernen
gewerblichen Arbeit« führen werde, 59 findet einen argumentativen

59 S. Anm. 6.

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Smail Rapic

Anknüpfungspunkt in der These der Deutschen Ideologie, dass aus der


Arbeitsteilung und der Tauschwirtschaft per se sozioökonomische
Konflikte und Klassenstrukturen entspringen. Marx und Engels fol-
gern aus dieser These, dass Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft in
einer kommunistischen Gesellschaft beseitigt werden sollen (MEW 3,
33 u. 68 f.), und zwar dadurch, dass die Arbeit selbst im Sinne der er-
zwungenen Berufstätigkeit überflüssig wird, indem alle Produkte, die
für unseren Lebensunterhalt erforderlich sind, von Maschinen her-
gestellt werden. Hierbei blenden Marx und Engels jedoch die weitrei-
chenden Auswirkungen der Tatsache aus, dass die Arbeitsteilung auch
in einer kommunistischen Gesellschaft nicht verschwinden kann, da im
Dienstleistungssektor die fachkundige Arbeit von Menschen unent-
behrlich ist. Wenn die kommunistische Wirtschaftsform marktanaloge
Strukturen enthält, werden die Interessengegensätze und Konkurrenz-
strukturen der Tauschwirtschaft nur modifiziert, aber nicht grundsätz-
lich überwunden. Überträgt man die Kontrolle aller ökonomischen
Austauschprozesse staatlichen Behörden, um dieses Konfliktpotential
einzudämmen, so wird erneut eine Machtelite geschaffen. Aus dem
Argumentationsansatz der Deutschen Ideologie ergibt sich daher die
ernüchternde Konsequenz, dass Herrschaftsstrukturen und damit auch
die ideologische Verschleierung realer Verhältnisse integrale Momente
jeder Gesellschaft bilden. Die Ideologiekritik bleibt demnach eine un-
verzichtbare und unabschließbare Aufgabe.
Dass die Theoriestruktur der kritischen Philosophie der Geschich-
te, die Marx und Engels in ihren Frühschriften konzipieren, auf der
dialektischen Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmerperspek-
tive beruht, zeigt Engels’ programmatische Feststellung in »Die Kom-
munisten und Karl Heinzen« (1847), dass der Kommunismus keine
»Doktrin« ist, sondern »die theoretische Zusammenfassung der Bedin-
gungen der Befreiung des Proletariats« (MEW 4, 321 f.). Die Kausal-
analyse systembedingter Krisentendenzen der zeitgenössischen kapita-
listischen Ökonomie in der Beobachterperspektive – im Zentrum steht
hierbei die Proletarisierung des handwerklichen Mittelstands durch die
Industrialisierung – soll die sozioökonomischen Ausgangsbedingungen
der intendierten Gesellschaftsveränderung ans Licht bringen. Marx
und Engels vertreten die These, dass diese notwendigen Bedingungen
zu hinreichenden werden, wenn der revolutionären Avantgarde die Er-
zeugung eines kommunistischen Bewusstseins durch die Kritik der
normativen Selbstbeschreibung des bürgerlichen Klassenstaates ge-

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

lingt. Die Aussagen ihrer kritischen Geschichtsphilosophie, die Marx


und Engels in ihren Frühschriften konzipieren, über die »Bedingungen
der Befreiung des Proletariats« haben insofern keinen doktrinären Cha-
rakter, als sie nur anhand des Erfolgs oder Misserfolgs von praktischen
Versuchen der Gesellschaftsveränderung verifiziert oder falsifiziert
werden können. In diesem Sinne beziehen sie sich auf Möglichkeits-
spielräume der gegenwärtigen historischen Situation in der Teilneh-
merperspektive. 60 Die in der Deutschen Ideologie geforderte Selbst-
reflexion des Gesellschaftskritikers schließt ein, dass er sich über die
Erfolgsaussichten seines Unternehmens Rechenschaft ablegen soll, in-
dem er den Zusammenhang seiner Kritik mit seiner »eignen materiellen
Umgebung« untersucht, also sich selbst gegenüber die Beobachterper-
spektive des Basis/Überbau-Theorems einnimmt (vgl. MEW 3, 20).
Die Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive
in Habermas Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus kann somit
als Leitfaden für eine zum Geschichtsdeterminismus gegenläufige Re-
konstruktion der Ursprungsgestalt des Historischen Materialismus
fungieren. Die Konsequenz, die sich aus dem Argumentationsansatz
der Deutschen Ideologie ergibt, wenn man ihn gegen den Strich liest:
dass zwischen den Antagonismen der »durch die Teilung der Arbeit
bereits bedingten Klassen« (MEW 3, 33) und der normativen Selbst-
beschreibung des Staates als Advokat von Allgemeininteressen per se
ein ideologieträchtiger Widerspruch besteht, bildet den theoretischen
Ausgangspunkt für den Versuch der vorliegenden Beitrags, Möglich-
keitsspielräume der gegenwärtigen geschichtlichen Situation zu be-
schreiben 61: In den kapitalistischen Ländern ist der ideologische Cha-
rakter der neoliberalen Doktrin, die Deregulierung der Marktkräfte
taste die demokratischen Institutionen des Staates nicht an, offenkun-
dig geworden; der wachsende zivilgesellschaftliche Protest in China
demontiert die ideologische Selbstbeschreibung der kommunistischen
Führungsschicht als des unbestechlichen Anwalts des Volkes. Die Dy-
namik, die hieraus entstanden ist, könnte – dies ist zumindest eine

60 Marx erteilt im »Briefwechsel von 1843« jeder geschichtsdeterministischen »Kon-


struktion der Zukunft« eine Absage (MEW 1, 344). Eine ›doktrinale‹ Lesart des His-
torischen Materialismus läuft somit dem Selbstverständnis von Marx und Engels in den
1840er-Jahren zuwider. Das Diktum vom unvermeidlichen Sieg des Proletariats im
Kommunistischen Manifest (MEW 4, 474) muss demnach als politische Rhetorik ge-
wertet werden.
61 S. o. Abschnitt 2.

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Smail Rapic

realistische Hoffnung – in einen dritten Weg zwischen Kapitalismus


und Staatssozialismus einmünden.

5. Habermas’ Stellungnahme zur Analyse der Warenform in


Marx’ Kapital

Habermas appliziert die methodische Doppelung von systemischer Be-


obachter- und lebensweltlicher Teilnehmerperspektive in Legitima-
tionsprobleme im Spätkapitalismus wie auch in der Theorie des kom-
munikativen Handelns auf Marx’ Analyse der Warenform im Kapital,
wobei er seine Rekonstruktion ihrer lebensweltlichen Dimension 1981
umakzentuiert, da er die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie
nicht länger als eines der »Teilstücke« des Historischen Materialismus
(RHM 41) ansieht. Im Folgenden sollen der systemfunktionale und der
normative Aspekt der Warenform-Analyse nacheinander skizziert und
Habermas’ Kritikpunkte in der Theorie des kommunikativen Handelns
(s. o. S. 157) umrissen werden. Abschließend soll versucht werden, die
Metakritik Michael Heinrichs und Moshe Postones an seinen Ein-
wänden zu entkräften.
Die Warenform-Analyse hat in der systemfunktionalen Beobach-
terperspektive die Aufgabe, die Rolle des »Medium[s] Geld« als des
»Steuerungsprinzip[s]« des »selbstgeregelten Marktverkehrs« zu ex-
plizieren (LS 36, 42 f., TkH II 492). Den Ausgangspunkt der Waren-
form-Analyse, die den für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft
spezifischen Begriff des Geldes entwickeln soll, bildet die Unterschei-
dung zwischen dem Gebrauchswert von Waren, d. h. ihrer Nützlichkeit
für die Befriedigung von Bedürfnissen, und ihrem Tauschwert (MEW
23, 49 ff.). Marx’ Begriff des Tauschwerts beruht auf einer Modifika-
tion von Adam Smith’ Bestimmung der Arbeit als des »Wertmaß[es]«
der Waren. 62 Smith vertritt die These, dass die Arbeit auf der ersten
»Entwicklungsstufe« der Tauschwirtschaft das »Kaufgeld« gewesen sei,
»womit alles übrige bezahlt wurde«: in dem Sinne, dass die Tausch-
partner die Arbeitszeit und -mühe berechnet hätten, die sie aufwenden
mussten, um eine Ware anbieten zu können, und die Preise auf dieser
Basis ausgehandelt worden seien. 63 Marx weist jedoch darauf hin, dass

62
Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen (s. Anm. 10), S. 28 f., 33 f.
63 A. a. O., S. 28, 42

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

ein solcher Warentausch in der antiken Ökonomie nur in beschränk-


tem Maße praktiziert wurde: Die Arbeit von Sklaven wurde nicht in
der von Smith beschriebenen Weise taxiert (MEW 23, 74, 94 f.). Domi-
nierenden Einfluss auf die Warenpreise gewinnt die jeweils erforder-
liche Arbeitszeit und -mühe erst in der neuzeitlichen bürgerlichen
Gesellschaft, die alle ihre Mitglieder als Personen und damit als Eigen-
tümer ihrer Arbeitskraft anerkennt (MEW 23, 89, 97 ff., 116 f.). Der für
diese Gesellschaftsformation spezifische Begriff des Geldes ergibt sich
daraus, dass in ihr Arbeitskraft mit Geld gekauft werden kann – und
muss. Marx stimmt Smith darin zu, dass sich der Marktpreis einer
Ware bei freier Konkurrenz in der Regel der für ihre Produktion erfor-
derlichen Arbeitszeit und -mühe anpasst; 64 Smith’ Begriff des Wert-
maßes wird von Marx aber zugleich in einem entscheidenden Punkt
korrigiert. Nach Smith kann jeder Marktteilnehmer das Wertmaß sei-
ner Waren selber berechnen, indem er die Zeit und Mühe überschlägt,
die er investieren musste; 65 nach Marx bemisst sich dagegen der
Tauschwert einer Ware nach dem »Quantum gesellschaftlich notwen-
diger Arbeit«, die für ihre Produktion erforderlich ist (MEW 23, 54):
Da die für ein Produkt, das niemand kaufen will, aufgewendete Arbeit
offenkundig gesellschaftlich nicht notwendig ist (MEW 23, 122), kann
das Quantum der Arbeitszeit und -mühe, das Marx im Auge hat, nicht
unabhängig vom Tausch und daher nur in Geld gemessen werden. 66
Hieraus ergibt sich ein zirkuläres Verhältnis zwischen dem Tauschwert
von Waren im Marx’schen Sinne und dem spezifischen Begriff des
Geldes in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: 67 Auf der einen
Seite will Marx mittels des Begriffs des Tauschwerts die »Genesis« der
bürgerlich-kapitalistischen »Geldform« rekonstruieren, d. h. den Ur-
sprung der Auffassung aufhellen, dass menschliche Arbeitskraft per
se einen Geldwert hat (MEW 23, 62) – in diesem Sinne ist der Tausch-
wert der bürgerlich-kapitalistischen Geldform vorgeordnet –, auf der
anderen Seite kann der Tauschwert als Materialisierung gesellschaft-
lich notwendiger Arbeitszeit und -mühe nur mittels des Geldes be-
stimmt werden. Marx appliziert auf dieses zirkuläre Verhältnis Hegels

64 MEW 23, 116 f.; Smith: Der Wohlstand der Nationen (s. Anm. 10), S. 48 ff. – Sig-
nifikante Abweichungen ergeben sich z. B. bei begehrten seltenen Produkten.
65
Vgl. a. a. O., S. 42.
66 Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58; MEW 42, 140). Vgl.

Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 9), S. 215, 219.
67 Backhaus: Dialektik der Wertform (s. Anm. 8), S. 45 ff.

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reflexionslogischen Begriff der Substanz (MEW 23, 53, 58 ff.): Das


Geld wird vom Tauschwert der Waren ›gesetzt‹ und zugleich ›voraus-
gesetzt‹. 68
Überträgt man die Marx’sche Kategorie des Tauschwerts, die sich
in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als die dominierende Re-
gelstruktur des Warentauschs etabliert, auf die menschliche Arbeits-
kraft – sie wird in dieser Gesellschaftsformation insgesamt (durch Ar-
beitsverträge) gekauft bzw. verkauft und hat damit den Status einer
Ware –, so bemisst sich ihr Wert nach der für ihre Reproduktion erfor-
derlichen Arbeitszeit (MEW 23, 184 f.). Die ›Arbeitgeber‹ können so-
mit darauf insistieren, dass sie die Arbeitskraft, die die Lohnabhängi-
gen ihnen zur Verfügung stellen, nach ihrem Wert bezahlen, wenn der
Lohn für die Befriedigung der Grundbedürfnisse und die Aufzucht von
Kindern ausreicht, ohne dass die Lohnabhängigen hieraus den Rechts-
anspruch ableiten können, nur so viel zu arbeiten, wie es für die Repro-
duktion ihrer Arbeitskraft unabdingbar ist: Die ›Arbeitgeber‹ können
sie länger für sich arbeiten lassen, da sie ihre Arbeitskraft gekauft ha-
ben; sie können sich demnach den »Mehrwert« an Produkten bzw.
Dienstleistungen, den die Lohnabhängigen in den zusätzlichen Ar-
beitsstunden schaffen, selber – als Profit – aneignen (MEW 23, 201 ff.).
Indem die ›Arbeitgeber‹ den Gewinn für Investitionen nutzen und wei-
tere Lohnabhängige einstellen, kommt die Kapitalakkumulation in
Gang, in der Marx das Movens der kapitalistischen Ökonomie sieht.
Die Lohnabhängigen können sich wiederum dem Bestreben der ›Ar-
beitgeber‹, die Arbeitszeit maximal auszudehnen, mit dem Argument
widersetzen, dass ihre Arbeitskraft nicht durch Überbeanspruchung
beschädigt werden darf: Deren Wert wird ja nur dann anerkannt, wenn
ihre Reproduktion gewährleistet ist (MEW 23, 248). Die Zielsetzung
des systemischen Aspekts der Warenform-Analyse: die ökonomischen
Steuerungsfunktionen des bürgerlich-kapitalistischen Geldmediums
zu explizieren, erstreckt sich nicht nur auf die Preisbildung und die
Kapitalakkumulation, sondern auch auf die Kämpfe zwischen Unter-
nehmern und Lohnabhängigen um Arbeitszeit und Lohnhöhe. In den
ersten Jahrzehnten der Industriellen Revolution konnten die Unter-
nehmer die Arbeitszeit permanent heraufsetzen, da zahlreiche Hand-
werker ihre Existenzgrundlage verloren hatten und die Bevölkerung
zudem kontinuierlich wuchs, woraus ein Überangebot an proletari-

68 A. a. O., S. 45.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

schen Arbeitskräften resultierte; die gravierenden Folgen für die Ge-


sundheit der Lohnabhängigen gaben in den westlichen Ländern Anlass
zu einer staatlichen Reglementierung der Arbeitszeit, die letztlich fi-
nanziell motiviert war: Den Armeen der Kolonialmächte fehlten wehr-
diensttaugliche Rekruten; die soziale Verwahrlosung infolge der Zer-
rüttung von Familien, deren Ernährer starben, drohte die wirtschaft-
liche Expansion zu beeinträchtigen (MEW 23, 253 f., 267 f., 293 ff.).
In der Teilnehmerperspektive der Warenform-Analyse wird die
»konfliktreiche Interaktion« zwischen den sozialen Klassen unter nor-
mativen Gesichtspunkten dargestellt (TkH II 492). Marx nennt den
Mehrwert, den sich die Unternehmer aneignen, eine »dem Arbeiter
ausgepumpte Beute« (MEW 23, 622). In Legitimationsprobleme im
Spätkapitalismus interpretiert Habermas Marx’ Charakterisierung
der Lohnarbeit im Kapitalismus als eines Ausbeutungsverhältnisses
im Sinne des Historischen Materialismus, für den die normative
Selbstbeschreibung des Staates als Anwalt von Allgemeininteressen
seit jeher in Widerspruch zu den sozioökonomischen Antagonismen
und Klassenstrukturen steht (s. o. S. 176): »Der Widerspruch besteht«
– so Habermas in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus – »zwi-
schen den Geltungsansprüchen von Normen- und Rechtfertigungs-
systemen, die Ausbeutung nicht explizit zulassen dürfen, und einer
Klassenstruktur, die die privilegierte Aneignung gesellschaftlich pro-
duzierten Reichtums zur Regel macht.« (LS 35) Ein solcher Wider-
spruch »zwischen Idee und Wirklichkeit« bildet laut Legitimationspro-
bleme im Spätkapitalismus auch in der bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaft den Angriffspunkt der Ideologiekritik (LS 39). Gemäß
der Warenform-Analyse im Kapital entspringt aus der Kategorie des
Tauschwerts zwangsläufig die Auffassung, dass die Arbeitskraft von
Lohnabhängigen ›nach Wert‹ entgolten wird, wenn ihre (bloße) Repro-
duktion gewährleistet ist – so dass die ›Arbeitgeber‹ den von den
Lohnabhängigen produzierten Mehrwert zu Recht als ihr Eigentum
deklarieren können. Laut Habermas’ Legitimationsprobleme im Spät-
kapitalismus lässt sich diese Auffassung, mit der die privilegierte An-
eignung des gesellschaftlichen Reichtums durch die Kapitalisten legiti-
miert wird, im Rekurs auf die »universalistische[n] Wertsysteme«, die
sich in der bürgerlichen Gesellschaft herausbilden, als ideologisch ent-
larven (LS 38 f.). Habermas vertritt in Legitimationsprobleme im Spät-
kapitalismus allerdings nicht mehr – wie noch in Theorie und Praxis –
den Standpunkt, dass zwischen den »liberalen Naturrechtskonstruktio-

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nen der bürgerlichen Gesellschaft« und der Auffassung, die Aneignung


von Mehrwert durch die Kapitalisten sei legitim, ein offener Wider-
spruch besteht (TP2 115 f., 248 ff.): Laut Legitimationsprobleme im
Spätkapitalismus sind die »legitimationswirksamen Traditionsbestän-
de« des bürgerlichen Naturrechts durch die dominierende Rolle, die der
Kapitalismus in der bürgerlichen Gesellschaft erlangt hat, »von einer in
die Basis selbst eingebauten Ideologie abhängig« geworden; Habermas
sieht aber zugleich in den »normativen Strukturen«, die die Natur-
rechtskonstruktionen in Ansatz bringen, einen »Entwicklungsspiel-
raum«, der für eine Kritik der Ansicht, der Mehrwert gehöre den
Kapitalisten, fruchtbar gemacht werden könne (LS 41, 39). Marx be-
zeichnet die Naturrechtslehre Lockes als die »Grundlage« der »ganzen
spätren englischen Ökonomie« (Theorien über den Mehrwert, MEW
26/1, 343). Lockes Menschenrechtsidee, der zufolge jeder Mensch Ei-
gentümer seines Körpers, damit auch seiner Arbeitskraft ist und dem-
entsprechend ein natürliches Recht auf das »Werk seiner Hände« hat, 69
bildet den Ausgangspunkt der von Adam Smith paradigmatisch formu-
lierten bürgerlich-kapitalistischen Auffassung, dass sich der Wert einer
Ware nach der Arbeitszeit und -mühe bemisst, die in sie investiert
wurde, woraus sich wiederum – wie Marx’ Warenform-Analyse zeigt
– die Konsequenz ergibt, dass die Aneignung von Mehrwert durch die
Kapitalisten legitim sei. Hiermit schlägt Lockes Fundierung des Rechts
auf Eigentum in der eigenen Arbeit in ihr »direktes Gegenteil um«
(MEW 23, 609), denn die Kapitalisten, die mit dem Mehrwert, den die
Lohnabhängigen für sie erarbeiten, weitere Arbeitskräfte einstellen,
schlagen aus dem Profit, der ihnen zugeflossen ist, neuen Profit heraus,
ohne selber hierfür noch arbeiten zu müssen: In diesem Sinne wird
Lockes naturrechtliche Fundierung des Eigentums in der Arbeit durch
die Kategorie des Tauschwerts ausgehöhlt. Zugleich zeigt ein ungelös-
tes Problem in Lockes zweiter Abhandlung über die Regierung, dass
von seiner Naturrechtskonzeption Anstöße für eine kapitalismus-kri-
tische Weiterführung der bürgerlichen Sozialethik ausgehen könnten.
Locke folgert aus seiner Eigentumstheorie, im Naturzustand dürfe sich
jeder nur so viel Naturprodukte durch eigene Arbeit aneignen, dass
seinen Mitmenschen noch ausreichend Ressourcen für ihren Lebens-

69 John Locke: Ȇber den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staat-
lichen Regierung« (1690), § 27. In: ders.: Zwei Abhandlungen über die Regierung.
Frankfurt a. M. 1977, S. 216.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

unterhalt zur Verfügung stehen; er tendiert zu der Auffassung, dass


diese naturrechtliche Eigentumsschranke mit der Einführung der Ar-
beitsteilung und Tauschwirtschaft hinfällig geworden sei, da den-
jenigen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft bestreiten
können, nun die Möglichkeit offen stehe, als Lohnarbeiter von den
Besitzenden eingestellt zu werden; Locke bezieht jedoch nicht eindeu-
tig Position. 70 Wenn sich im Rahmen einer produktiven Fortführung
der bürgerlichen Menschenrechtskonzeption Argumente dafür finden
lassen, dass die von Locke für den Naturzustand postulierte Eigen-
tumsschranke auch nach der Einführung der Tauschwirtschaft gilt,
können staatliche Beschränkungen der Kapitalvermehrung zugunsten
der Lohnabhängigen und Besitzlosen normativ gerechtfertigt werden.
Laut Habermas’ Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus tritt
in den Krisen der marktwirtschaftlichen Ökonomie, in der sich die
Kluft zwischen Reich und Arm zuspitzt, offen zutage, dass die Arbeiter
im Kapitalismus ausgebeutet werden, so dass der »ideologische Kern«
der bürgerlichen Gesellschaft – die Warenform der menschlichen Ar-
beit – »durch Reflexion« zertrümmert werden könne, d. h. mittels einer
produktiven Weiterführung der bürgerlichen Menschenrechtsidee (LS
46 ff.). Georg Lohmann wendet jedoch in seinem Aufsatz »Gesell-
schaftskritik und normativer Maßstab«, den Habermas in der Theorie
des kommunikativen Handelns mehrfach heranzieht, gegen die von
Habermas zuvor vertretene Auffassung, die Marx’sche Kritik der poli-
tischen Ökonomie sei in den Theorierahmen des Historischen Materia-
lismus eingebettet (RHM 41, 144), ein, dass Marx in den Grundrissen
und im Kapital die Überzeugung zeitgenössischer Sozialisten (etwa
Proudhons), man könne die kapitalistische Reichtumsakkumulation
auf der Basis der bürgerlichen Sozialethik als ›ungerecht‹ brand-
marken, d. h. immanent kritisieren, verwirft (MEW 42, 174; 23, 99,
559). 71 Nach Marx macht seine Analyse der Warenform deutlich, dass
der ›dialektische‹ Umschlag der Locke’schen Fundierung des Eigentums
in der eigenen Arbeit in die normative Rechtfertigung der Aneignung
von Mehrwert durch die Kapitalisten, so absurd er auf den ersten Blick
erscheinen mag, völlig konsequent erfolgt: Marx spricht von einer »in-

70
A. a. O., §§ 34, 36, 46–50, S. 220 ff., 228 ff. Lockes Schwanken ist insbes. in § 36 be-
merkbar.
71
Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 235, 248.
Vgl. TkH II 494, 497 f., 502, 504.

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nere[n], unvermeidliche[n] Dialektik« (MEW 23, 609), die ans Licht


bringe, dass das kapitalistische »Geldsystem« als »das System der Frei-
heit und Gleichheit« gewertet werden müsse, wenn man die Begriffe
»Freiheit« und »Gleichheit« im Sinne der von Locke geprägten bürger-
lichen Menschenrechtsidee versteht (MEW 42, 174, vgl. 170; 23,
189 f.).
Marx kann aufgrund seiner These, dass die faktische Aneignung
von Mehrwert durch die Kapitalisten mit der bürgerlichen Menschen-
rechtsidee konform gehe, seine Charakterisierung des Tauschwerts als
»sich selbst bewegende[r] Substanz« im Hegel’schen Sinne (MEW 23,
169) auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft im Ganzen auswei-
ten, diese also als im Tauschwert fundierte »substantielle Totalität« 72
interpretieren. Seine Bestimmung des Verhältnisses des Tauschwerts
zur bürgerlich-kapitalistischen Geldform mittels der reflexionslogi-
schen Figur des ›Setzens als Voraussetzen‹ schließt ein, dass auch der
normative Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft vom Tauschwert ›ge-
setzt‹ und zugleich ›vorausgesetzt‹ wird. Auf der einen Seite setzt die
bürgerlich-kapitalistische Auffassung, dass menschliche Arbeit per se
einen Geldwert hat, die Anerkennung jedes Menschen als des Eigentü-
mers seiner Arbeitskraft voraus; auf der anderen Seite appliziert der
späte Marx das Basis/Überbau-Theorem in einer reduktionistischen
Version auf das bürgerliche »Rechtsverhältnis«: mit der These, dessen
»Inhalt« sei »durch das ökonomische Verhältnis gegeben«, werde also
vom Tauschwert ›gesetzt‹ (MEW 23, 99). 73
Wie lässt sich Marx’ Diktum, der von den Kapitalisten angeeig-
nete Mehrwert sei eine »dem Arbeiter ausgepumpte Beute« (MEW 23,
622), damit vereinbaren, dass er eine normative Kritik der kapitalisti-
schen Reichtumsakkumulation im Horizont der bürgerlichen Sozial-
ethik für unmöglich erklärt? Habermas schließt sich in der Theorie
des kommunikativen Handelns dem Lösungsvorschlag Lohmanns an,
demzufolge Marx seine ethische Kapitalismus-Kritik im Kapital von
einem Standpunkt außerhalb des »System[s]« der bürgerlichen Gesell-
schaft (MEW 42, 174) vorbringt. 74 Marx erhebt die schärfsten Vorwür-

72 Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9), S. 523.
73 In den Grundrissen bezeichnet Marx den »Austausch von Tauschwerten« als die
»reale Basis aller Gleichheit und Freiheit« in der bürgerlichen Gesellschaft (MEW 42,
170).
74
Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 255 f.,
281 ff.; TkH II 497.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

fe in seiner historischen Darstellung der Vorgeschichte der kapitalisti-


schen Produktion: Diese komme »blut- und schmutztriefend auf die
Welt« (MEW 23, 788, vgl. 770). Marx’ Verdikt ist einerseits auf die
Gewalttaten der Kolonialherren gemünzt, andererseits auf die – häufig
widerrechtliche – Aufkündigung tradierter Lehnsverhältnisse durch
die Grundbesitzer zu Beginn der Neuzeit in Europa: Die Vertreibung
von Bauern, die nun gezwungen waren, sich in den Städten als Tage-
löhner zu verdingen, machte Platz für gewinnträchtigere Produktions-
zweige, insbes. die Viehzucht und den Anbau des Rohmaterials für die
aufkommenden Textilmanufakturen (MEW 23, 770 ff.). Dass die Vor-
geschichte des neuzeitlichen Kapitalismus massive Verstöße gegen die
Rechtsnormen und ethischen Verpflichtungen, zu denen sich die Zeit-
genossen – zumindest verbal – bekannten, einschloss, steht außer Fra-
ge; hieraus folgt jedoch nicht, dass der Mehrwert, den sich die ›Arbeit-
geber‹ unter den Bedingungen des etablierten kapitalistischen Systems
aneignen, als »Beute« zu deklarieren ist. Da der späte Marx »keinen
systematischen Begriffsrahmen« für eine normative Kritik am Kapi-
talismus entwickelt, kommt es unter geltungstheoretischen Gesichts-
punkten zu einem – mit Lohmann zu sprechen – »Kollaps« der kapi-
talismus-kritischen Zielsetzung des Kapital. 75 Lohmann sieht den
einzigen Ausweg darin, Marx’ Kritik der politischen Ökonomie ver-
mittels einer kritisch-systematischen Rekonstruktion, die sich von sei-
ner eigenen Intention entfernt, in den Historischen Materialismus ein-
zuordnen. 76 Lohmann plädiert hierbei für eine ›nicht-objektivistische‹
Lesart des Historischen Materialismus am Leitfaden von Habermas’
Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive. 77
Habermas hat die These, Marx’ Kritik der politischen Ökonomie
sei eine Teiltheorie des Historischen Materialismus, in der Theorie des
kommunikativen Handelns fallen gelassen. Sein Vorwurf, Marx habe
den »Versuchungen des Hegel’schen Totalitätsdenkens nicht wider-
standen« (TkH II 501), besagt auf der »quid facti?«-Ebene, dass »Öko-
nomie und Staatsapparat« im Kapital nicht als »zwei Steuerungs-

75 Lohmann: a. a. O., S. 281; ders: Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Aus-
einandersetzung mit Marx. Frankfurt a. M. 1991, S. 278.
76 Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 236, 281. –

Dies berührt sich mit Engels’ ›historistischer‹ Lesart des Kapital (MEW 13, 473 ff.). Vgl.
Backhaus: Dialektik der Wertform (s. Anm. 8), S. 229 ff., 258 ff.
77
Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 261 ff.,
280 f.

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Smail Rapic

medien« der sozialen Evolution, die in einem Spannungsverhältnis zu-


einander stehen, konzipiert werden, ihre Relation im Kapital vielmehr
reduktionistisch bestimmt wird, indem die reflexionslogische Figur des
›Setzens als Voraussetzen‹ auf das Verhältnis von Tauschwert und bür-
gerlichem Rechtsverhältnis appliziert wird (TkH II 504). Auf der »quid
juris?«-Ebene besagt Habermas’ Vorwurf, Marx’ Warenform-Analyse
trage aufgrund ihres Rekurses auf Hegels Logik der methodischen Dif-
ferenz von Beobachter- und Teilnehmerperspektive nicht adäquat
Rechnung, dass Marx eine normative Kritik am Kapitalismus im Aus-
gang von der bürgerlichen Sozialethik zu Unrecht für unmöglich er-
klärt: Er kann nicht ausschließen, dass eine solche Kritik mittels einer
produktiven Weiterführung der bürgerlichen Menschenrechtskonzep-
tion formuliert werden kann; in den 1840er-Jahren haben Marx und
Engels einen solchen Weg selber anvisiert. 78 Auf beiden Ebenen leistet
die Orientierung der Warenform-Analyse an Hegels Substanzbegriff
somit einer »ökonomistisch verkürzte[n] Interpretation« der bürger-
lich-kapitalistischen Gesellschaft Vorschub (TkH II 504). Fasst man
diese als eine in sich kreisende substantielle Totalität auf, kann man
sie nur als Ganzes akzeptieren oder verwerfen. Hierdurch geraten die
Rationalitätsgewinne aus dem Blick, die die bürgerlichen Rechtsver-
hältnisse mit der Kodifizierung von Menschenrechtsnormen und der
Beseitigung feudalistischer Standesgrenzen mit sich bringen (vgl.
TkH II 499). Zugleich wird die Illusion befördert, durch die Abschaf-
fung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln würden die Klassen-
gegensätze, die alle bisherigen Gesellschaftsformationen seit der
Staatsgründung durchherrschen, prinzipiell überwunden.
Während sich Lohmann in »Gesellschaftskritik und normativer
Maßstab« explizit für die Einbettung der Marx’schen Kritik der politi-
schen Ökonomie in einen – ›nicht-objektivistisch‹ verstandenen – His-
torischen Materialismus ausspricht, legt Habermas dessen Theorierah-
men, worin dem »Widerspruch« zwischen der Ebene normativer
Selbstbeschreibungen und den sozioökonomischen Antagonismen eine
Schlüsselfunktion zukommt (MEW 3, 31 f.), in der Theorie des kom-
munikativen Handelns implizit als kritischen Maßstab an den »Monis-

78
S. o. S. 179. Der späte Marx »rutscht« mit seinem Rekurs auf Hegels Logik demnach
»begrifflich in die Fiktion«, dass »den historisch-sozialen Lebenswelten kein begrifflich
angebbarer, und daher prinzipieller Widerstand« gegen das Kapitalsystem eigne (Loh-
mann: a. a. O., S. 278).

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

mus« der Warenform-Analyse in Marx’ Kapital (TkH II 504) an. Mi-


chael Heinrich und Moishe Postone halten es demgegenüber – im Sin-
ne der »neuen Marx-Lektüre« – für einen Gewinn, dass Marx seine
Kritik der politischen Ökonomie vom Historischen Materialismus ab-
lösen wollte. 79 Sie versuchen ihren Standpunkt durch eine Metakritik
am Einwand, die Warenform-Analyse im Kapital trage der Dualität
von Beobachter- und Teilnehmerperspektive nicht adäquat Rechnung,
zu erhärten. 80
Heinrich führt seine Auseinandersetzung mit Habermas und Loh-
mann allerdings nicht konsequent auf der systematischen Ebene; er
argumentiert primär textphilologisch, da er beiden Autoren zu Unrecht
unterstellt, das Kapital missverstanden zu haben: »Dass es Marx da-
rum gegangen wäre aufzuzeigen, dass der Kapitalismus seinen eigenen
normativen Standards widerspreche, wurde von Habermas 81 und Loh-
mann 82 vertreten«; Marx intendiere jedoch im Kapital »keine imma-
nente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft.« 83 Dies wird von Lohmann
in seinem Aufsatz »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab«, den
Heinrich nicht erwähnt, ausdrücklich konstatiert; 84 Habermas schließt
sich dem Standpunkt Lohmanns in der Theorie des kommunikativen

79 Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 9), S. 164–179; Postone: Zeit, Arbeit

und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9), S. 390.


80 Bereits Tom Rockmore hat es in seiner Monographie Habermas on Historical Mate-

rialism (Bloomington/Indianapolis 1989) für verfehlt erklärt, die Unterscheidung zwi-


schen Beobachter- und Teilnehmerperspektive als kritischen Maßstab an Marx’ Waren-
form-Analyse anzulegen (a. a. O. S. 135 ff., 146). Hierbei betrachtet er im Unterschied
zu Heinrich und Postone Marx’ Kritik der politischen Ökonomie als integralen Teil des
Historischen Materialismus (a. a. O. S. 128, 146), wobei er jedoch auf die Argumente der
»neuen Marx-Lektüre« und Lohmanns gegen diese Sichtweise nicht eingeht. Die Ein-
wände, die im Folgenden gegen Heinrichs und Postones Metakritik an Habermas’
Marx-Kritik in der Theorie des kommunikativen Handelns vorgebracht werden, kön-
nen m. E. auf die These Rockmores, die Applikation der Unterscheidung von Beobach-
ter- und Teilnehmerperspektive auf die Warenform-Analyse sei als »basic methodo-
logical flaw« zu werten (a. a. O. S. 145), übertragen werden. S. u. Anm. 113.
81 Heinrich führt als Beleg Theorie und Praxis an (TP 114 ff.). A. a. O., S. 179.
2
82 Heinrich verweist an dieser Stelle (ohne Seitenangaben) auf Indifferenz und Gesell-

schaft (s. Anm. 76) und Lohmanns Aufsatz »Zwei Konzeptionen von Gerechtigkeit in
Marx’ Kapitalismuskritik«. In: Emil Angehrn/Georg Lohmann (Hrsg.): Ethik und
Marx. Moralkritik und normative Grundlagen der Marxschen Theorie. Königstein/Ts.
1986, S. 174–194.
83 Ebd.

84
Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 248, 254 f.,
278.

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Handelns an (TkH II 497). Dass der späte Marx eine normative Kritik
am Kapitalismus im Ausgang von der bürgerlichen Sozialethik für aus-
geschlossen hält, ist für Heinrich unproblematisch: »Es geht Marx […]
gar nicht um eine eigene normative Argumentation, sondern darum,
die (strukturelle und nicht etwa historische) Genese der in der bürger-
lichen Gesellschaft als evident betrachteten Normen aufzuzeigen.« 85
Marx will mit seiner Analyse der Warenform eine solche »strukturel-
le« Genese rekonstruieren. Mit dem Aufweis der Genese einer norma-
tiven Überzeugung ist über ihren Geltungsanspruch noch nichts ent-
schieden. Die Geltungsfrage spricht Heinrich im folgenden Zitat an:
»Die für die bürgerliche Sozialphilosophie fundamentale Legitimation
des Eigentums durch eigene Arbeit ist keine klug ausgedachte Recht-
fertigungsideologie. Sie ist vielmehr einem objektiven, von den bür-
gerlichen Verhältnissen selbst hervorgebrachten Schein geschuldet.« 86
Die Rede vom »objektiven […] Schein« der bürgerlichen normativen
Überzeugungen wird von Heinrich folgendermaßen erläutert: »Die
Marxschen Argumente zielen darauf ab, dass die scheinbare Offen-
sichtlichkeit von moralischen Maßstäben und Gerechtigkeitsvorstel-
lungen gerade nichts ›natürliches‹ ist, sondern selbst noch ein histori-
sches und gesellschaftliches Produkt darstellt.« 87 Diese Aussage ist
jedoch wiederum auf der »quid facti?«-Ebene verortet: Sie bezieht sich
auf einen Kernaspekt des Basis/Überbau-Theorems. Die entscheidende
geltungstheoretische Frage, die durch Heinrichs Charakterisierung der
bürgerlichen Normierungen als ›scheinhaft‹ aufgeworfen sind, lautet,
ob allen oder einigen dieser Normierungen in dem Sinne der Status der
Unwahrheit zuzusprechen ist, dass sie in künftigen Gesellschaftsfor-
mationen zu revidieren sind. Hierbei muss insbes. geklärt werden, ob
die ›kapitalistische‹ Überzeugung, die Aneignung von Mehrwert durch
die ›Arbeitgeber‹ sei legitim, in geltungstheoretischer Hinsicht auf der-
selben Stufe steht wie die bürgerliche Menschenrechtsidee, der zufolge
jeder Mensch Eigentümer seines Körpers ist und daher nicht misshan-
delt oder versklavt werden darf. Heinrichs Charakterisierung der bür-
gerlichen Sozialethik als eines »objektiven […] Schein[s]« im obigen
Zitat bezieht sich auf deren Genese: Hiermit soll zum Ausdruck ge-
bracht werden, dass die bürgerlichen Normierungen – im Sinne der

85 Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 9), S. 378.


86
Ebd.
87 Ebd.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

reduktionistischen Version des Basis/Überbau-Theorems – »von den


bürgerlichen Verhältnissen« hervorgebracht wurden. 88 Die geltungs-
theoretische Frage, welche Dignität diesen Normierungen zukommt,
wird von Heinrich abgewiesen: Gesellschaftskritik auf einer »normati-
ven Grundlage« sei nach Marx »nicht mehr möglich«. 89 Verknüpft man
diese Aussage mit Heinrichs Feststellungen, dass der späte Marx eine
immanente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft für ausgeschlossen
hält und auch keine eigene normative Argumentation entwickelt, 90 so
folgt, dass in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie die geltungstheo-
retische Ebene insgesamt obsolet ist.
Heinrich kommentiert die ethischen Vorwürfe, die Marx im Ka-
pital erhebt, 91 dahingehend, dass er »zuweilen recht drastische Begrif-
fe« benutze: »nicht nur Ausbeutung klingt pejorativ, auch ist davon die
Rede, dass das Kapital die Arbeit ›vampyrmäßig‹ einsaugt.« 92 Nach
Heinrich prangert Marx hiermit nicht »die Verletzung bestimmter
Normen« an, er wolle die Arbeiter vielmehr dazu anspornen, um des
»eigenen Interesses« willen politisch aktiv zu werden. 93 Heinrich be-
trachtet Marx’ ethische Vorwürfe im Kapital somit als politische Agi-
tation ohne jede normative Grundlage. Nach Heinrich geht Lohmanns
Diagnose des »Kollaps[es]« von Marx’ Gesellschaftskritik am Kapital
deshalb vorbei, weil Marx die »quid juris?«-Ebene, auf der sich Loh-
mann hiermit bewegt, verabschiedet habe – worin Heinrich kein Defi-
zit sieht. 94 Er will den »Monismus« der Marx’schen Warenform-Ana-
lyse (TkH II 504) somit dadurch retten, dass er die Applikation der
methodischen Differenz von systemfunktionaler Beobachter- und gel-
tungstheoretischer Teilnehmerperspektive auf Marx’ Kritik der politi-
schen Ökonomie verwirft.
Dieser Rettungsversuch bestätigt Habermas’ Einwand in der
Theorie des kommunikativen Handelns, dass Marx’ Warenform-Ana-
lyse den Blick auf eine evolutionäre Transformation der bürgerlich-ka-
pitalistischen Gesellschaft verstellt (TkH II 499): Für eine Verständi-
gung von protestierenden Arbeitern und Kapitalisten gibt es in der

88 A. a. O., S. 378 (s. o.).


89 A. a. O., S. 380.
90 A. a. O., S. 378 (s. o.).
91
S. o. S. 188 f.
92 A. a. O., S. 384, Anm. 12.
93
A. a. O., S. 384.
94 A. a. O., S. 378; Lohmann: Indifferenz und Gesellschaft (s. Anm. 76), S. 278.

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Smail Rapic

Interpretation Heinrichs keinerlei normative Grundlage. Der entschei-


dende Einwand gegen seine Position lautet, dass sie auch jede Möglich-
keit abschneidet, in einer künftigen Gesellschaftsformation Konsens
über die fortdauernde Gültigkeit bestimmter bürgerlicher Normierun-
gen zu erziehen: Wenn allen bürgerlichen Normen gleichermaßen der
Status des »objektiven […] Schein[s]« zuzusprechen ist – wie Heinrich
behauptet –, kann man nicht mehr plausibel machen, dass der Über-
zeugung, jeder Mensch sei Eigentümer seines Körpers, eine höhere
Dignität zukommt als der Auffassung, die Aneignung von Mehrwert
durch die Kapitalisten sei legitim.
Während Heinrich seine Metakritik am Einwand Habermas’ und
Lohmanns, Marx verwische im Kapital mit seiner Interpretation der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als substantieller Totalität die
Differenz von systemischer Beobachter- und lebensweltlicher Teilneh-
merperspektive, implizit vorbringt, zieht Postone dieses Begriffspaar
explizit heran, stellt es jedoch inadäquat dar: Er spricht von einer »qua-
si-ontologischen Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt«
bei Habermas, 95 während es sich tatsächlich um eine methodische Dua-
lität handelt, für die die Differenz von »quid facti?« und »quid juris?«-
Fragen konstitutiv ist. Postone will Marx’ Konzeption der bürgerlich-
kapitalistischen Gesellschaft als substantieller Totalität gegen Haber-
mas’ Kritik mit der Feststellung verteidigen, Marx untersuche, »wie
das gesellschaftliche Leben, das in anderen Gesellschaften zwei Dimen-
sionen ausmachen dürfte« – nämlich von »Arbeit« und sozialer »Inter-
aktion« –, »im Kapitalismus verschmolzen ist, insofern beide Dimen-
sionen hier durch Arbeit vermittelt werden.« 96 Postone übersieht
hierbei, dass sich Habermas’ Kritik am »Monismus« der Marx’schen
Warenform-Analyse auf zwei Ebenen bewegt. Postone hat im ange-
führten Zitat lediglich die »quid facti?«-Ebene im Auge: Indem er ge-
gen Habermas geltend macht, Marx konstatiere zu Recht die Ver-
schmelzung der »Dimensionen« von Arbeit und sozialer Interaktion,
die zuvor eine gewisse Eigenständigkeit gewahrt hätten, im Kapitalis-
mus, vertritt er die These, dass die Rechtssphäre nicht – wie Habermas
in der Theorie des kommunikativen Handelns behauptet (TkH II 504 f.)
– als eigenständiges Steuerungsmedium der bürgerlich-kapitalisti-

95
Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9), S. 382.
96 A. a. O., S. 352.

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

schen Gesellschaft begriffen werden könne. 97 Über diese – auf der


»quid facti?«-Ebene angesiedelte – Kontroverse muss letztlich empi-
risch entschieden werden. Hiermit ist Habermas’ zentraler Einwand
gegen den »Monismus« der Warenform-Analyse: dort komme die me-
thodische Eigenständigkeit der geltungstheoretisch orientierten Teil-
nehmerperspektive zu kurz, aber noch gar nicht berührt. Ob Postones
Metakritik an Habermas plausibel ist, entscheidet sich somit auf der
»quid juris?«-Ebene.
Für Postones eigene Interpretation der Marx’schen Kritik der po-
litischen Ökonomie ist eine Textpassage aus Marx’ Grundrissen, aus
der – wie er vermerkt – auch Habermas in Erkenntnis und Interesse
zitiert (EI 67 f.), von zentraler Bedeutung: 98
»In dem Maße […], wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöp-
fung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und
dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die wäh-
rend der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden […] Sobald die Arbeit in
unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein,
hört und muss aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein […] Damit bricht
die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen […] Das Kapital ist
selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], dass es die Arbeitszeit auf
ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als
einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt.« (MEW 42, 600 f.)
Der angeführte Passus aus den Grundrissen 99 antizipiert einen tech-
nischen Entwicklungsstand, auf dem die gesamte Produktion von Ma-
schinen bewerkstelligt werden kann, so dass keine Arbeiter mehr –
sondern nur noch technologische Führungskräfte – an ihr mitwirken
müssen. Habermas sieht in Marx’ Prognose, dass die (mit der Kategorie
des Tauschwerts untrennbar verknüpfte) kapitalistische Produktions-
weise infolge des technischen Fortschritts zusammenbrechen werde,
einen Beleg dafür, dass er in seiner Kritik der politischen Ökonomie in
der Tat eine Analogie zwischen Naturprozessen und der sozialen Evo-
lution herstellt (MEW 23, 26 f., s. o. S. 164 f.) – wobei Habermas aller-
dings darauf hinweist, dass es zur zitierten Passage aus den Grund-
rissen im Kapital kein Pendant gibt (EI 62 f., 65 ff.). Postone hält

97 A. a. O., S. 380 f.
98
A. a. O., S. 62, 349, 354, 561.
99 Die zitierten Sätze sind einer 1 1/2-Seiten langen Passage entnommen, aus der Ha-

bermas (EI 67 f.) und Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9),
S. 62 unterschiedliche Abschnitte wiedergeben.

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Smail Rapic

Habermas deterministische Lesart der betreffenden Passage für ver-


fehlt. 100 Marx’ Behauptung, dass der Begriff des Tauschwerts einer Wa-
re als Materialisierung menschlicher Arbeitszeit und -mühe im Zuge
des technischen Fortschritts hinfällig werden »muss« (MEW 42, 601),
spricht allerdings für Habermas’ Deutung. 101
Postone interpretiert die zitierte Passage aus den Grundrissen da-
hingehend, dass auf der technologischen Entwicklungsstufe, die Marx
dort im Auge hat, ein »Widerspruch« im »Wesenskern des Kapitalis-
mus« virulent wird, wenn die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse
aufrecht erhalten werden, so dass ein Großteil der Bevölkerung auch
weiterhin gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen; durch den
fraglichen Widerspruch« breche die »immanente Möglichkeit einer
neuen gesellschaftlichen Ordnung« auf: 102 Der »prozessierende Wider-
spruch«, von dem in der Passage aus den Grundrissen die Rede ist,
besteht nach Postone darin, dass auf der einen Seite die Aneignung
von Mehrwert durch die ›Arbeitgeber‹ nur solange gerechtfertigt
werden kann, wie die Kategorie des Tauschwerts von Waren als der
Materialisierung menschlicher Arbeitskraft in Geltung bleibt, auf der
anderen Seite die (im Begriff des Tauschwerts implizit enthaltene) bür-
gerlich-kapitalistische Auffassung, menschliche Arbeit habe per se
einen Geldwert, jedoch in dem Maße unplausibel wird, wie der gesell-
schaftliche Reichtum durch maschinelle Produktion geschaffen wird,
wobei diese von den Kapitalisten vorangetrieben wird, da sie kosten-
günstig ist. 103 In dieser Situation kann – so Postone – eine normative
Kritik an der Aneignung von Mehrwert durch die Kapitalisten mit
durchschlagendem Erfolg vorgetragen werden: Ihnen kann entgegen-

100 A. a. O., S. 349.


101 Auch Heinrich fasst die zitierte Formulierung als Vorhersage des »notwendigen ›Zu-
sammenbruch[s]‹ der kapitalistischen Produktionsweise« auf (Die Wissenschaft vom
Wert (s. Anm. 9), S. 349). Er sieht in der angeführten Passage aus den Grundrissen
allerdings einen bloßen »Gedankenblitz«, den Marx »recht schnell ad acta legte – ganz
im Unterschied zu manchen seiner Interpreten.« (a. a. O., S. 350) Wenn diese Deutung
zutrifft, wird Postones Interpretation der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie
der Boden entzogen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass auch – und gerade – dann,
wenn man Postones ›nicht-deterministische‹ Lesart der Passage aus den Grundrissen
akzeptiert und ihm darin Recht gibt, dass sie einen Interpretationsschlüssel für das
Kapital enthält, sein Versuch scheitert, Marx’ Bestimmung der bürgerlich-kapitalisti-
schen Gesellschaft als substantieller Totalität gegen Habermas’ Kritik zu verteidigen.
102
Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9), S. 68 f., 537 ff.
103 A. a. O., S. 53, 61.

196

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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus

gehalten werden, dass die Beschäftigung von Lohnarbeitern in der Pro-


duktion »überflüssig« geworden ist, die Institution der Lohnarbeit also
nur deshalb aufrechterhalten wird, damit die Kapitalisten durch die
Aneignung von Mehrwert ihr privates Profitstreben befriedigen kön-
nen. 104 Diese Kritik zielt auf die endgültige »Abschaffung« der im Zuge
des technologischen Fortschritts brüchig gewordenen Kategorie des
Tauschwerts ab und findet in der Änderung der Eigentumsverhältnisse
ihren institutionellen Niederschlag. 105 In der nach-kapitalistischen Ge-
sellschaftsformation, die hiermit errichtet wird, soll – so Postone –
mittels einer »kritische[n] soziohistorische[n] Auseinandersetzung
mit dem Charakter moderner Universalität und Gleichheit«, d. h. mit
den neuzeitlichen Ideen der Menschenrechte und Volkssouveränität,
ein normativer Rahmen etabliert werden, der die »Ungleichverteilun-
gen von Reichtum und Macht, die Klassengesellschaften charakterisie-
ren«, eindämmt. 106
Indem Postone den »prozessierende[n] Widerspruch«, von dem in
der zitierten Passage aus den Grundrissen die Rede ist, ins Zentrum
von Marx’ Bestimmung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft
als substantieller Totalität rückt, schreibt er dieser eine »Logik der his-
torischen Entwicklung« zu, die auf das Ende des Kapitalismus zusteue-
re. 107 Postone muss hierbei die vom Textbefund nahe gelegte determi-
nistische Lesart der Passage aus den Grundrissen verwerfen, 108 da sich
andernfalls die groteske Konsequenz ergäbe, dass die Auflösung des
Tauschwerts, den Marx als die »sich selbst bewegende Substanz« der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft kennzeichnet (MEW 23, 169),
im Zuge des technischen Fortschritts den Kollaps der bürgerlichen
Menschenrechtsnormen nach sich zieht. Postone bringt mit seiner
These, dass die Umstellung auf maschinelle Produktion die »Möglich-
keit« der Überwindung des Kapitalismus eröffnet, 109 der Übergang zu
einer postkapitalistischen Gesellschaft aber nur vermittels einer nor-
mativen Kritik an der Kategorie des Tauschwerts vollzogen werden
kann, selber die Differenz von »quid facti?«- und »quid juris?«-Fragen

104 A. a. O., S. 534, 541 f.


105 A. a. O., S. 544 f., 548 f.
106 A. a. O., S. 543, 550.

107
A. a. O., S. 542 ff.
108 Vgl. a. a. O., S. 62: »Der Kapitalismus lässt die Möglichkeit seiner eigenen Negation

entstehen, aber er evolviert nicht automatisch in irgend etwas anderes.«


109 S. Anm. 102.

197

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Smail Rapic

in Ansatz. Seiner Kritik am Habermas’schen Begriffspaar »System/Le-


benswelt« liegt somit das Missverständnis zugrunde, dass es sich hier-
bei um eine »quasi-ontologische« Doppelung handelt. 110 Postone ge-
steht sich nicht ein, dass er mit seiner Forderung, zentrale bürgerliche
Normen in eine postkapitalistische Gesellschaft zu integrieren, 111 den
Monismus von Marx’ Warenform-Analyse verabschiedet. Seine These,
dass »nicht alle Formen« der normativen »Universalität« in der bürger-
lichen Gesellschaft »an den [Tausch-]Wert gebunden« sind, 112 ist mit
Marx’ Bestimmung des Werts als »sich selbst bewegende[r] Substanz«
unvereinbar: Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft kann nur dann
als substantielle Totalität, in deren Zentrum die Kategorie des Tausch-
werts steht, begriffen werden, wenn das »Geldsystem« und das »Sys-
tem« der bürgerlichen »Freiheit und Gleichheit« zusammenfallen.
Hieran scheitert Postones Versuch, Habermas’ Kritik an Marx’ Waren-
form-Analyse in der Theorie des kommunikativen Handelns zu ent-
kräften. 113
Angesichts der systematischen Defizite, die Habermas und Loh-
mann in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie in geltungstheoreti-
scher Hinsicht aufgedeckt haben, erweist sich der Historische Materia-
lismus – in einer ›nicht-objektivistischen‹ Lesart, wie sie am Leitfaden
der selbstreflexiven Theoriestruktur von Habermas’ Legitimationspro-

110
A. a. O., S. 381.
111 A. a. O., S. 552 f.
112
A. a. O., S. 551.
113 Mit dem zentralen Argument, das in den voranstehenden Ausführungen gegen

Heinrichs und Postones Antworten auf Habermas’ Marx-Kritik in der Theorie des kom-
munikativen Handelns vorgebracht wurde: dass die Unterscheidung zwischen der »quid
facti?«- und einer »quid juris?«-Ebene in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie un-
hintergehbar ist, von ihm jedoch nicht angemessen thematisiert wird, lässt sich m. E.
auch die These Rockmores entkräften, Habermas’ Einwände gegen die Warenform-
Analyse beruhten auf der dogmatischen Setzung seines eigenen gesellschaftstheoreti-
schen Konzepts und blieben daher Marx’ Kritik der politischen Ökonomie äußerlich, so
dass sie »keine ernsthafte Herausforderung« für sie bildeten (Rockmore: Habermas on
Historical Materialism (s. Anm. 80), S. 134, 140 ff.). Rockmore geht hierbei so weit zu
behaupten: »Habermas abandons any pretense of an immanent critique of the Marxian
value theory« (a. a. O. S. 140), was dem Textbefund der Theorie des kommunikativen
Handelns zuwiderläuft. Gegen Rockmores These: die Theorie des kommunikativen
Handelns »fails […] even to demonstrate the existence of the problem which Habermas
claims to discern« (a. a. O. S. 138), ist einzuwenden, dass in Marx’ Kapital der Status der
moralischen Kritik, die dort am zeitgenössischen Kapitalismus geübt wird, wie auch die
historische Rolle der bürgerlichen Menschenrechtsidee unklar bleiben.

198

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Entgegnung auf Smail Rapic

bleme im Spätkapitalismus entwickelt werden kann – als der überlege-


ne Theorierahmen, in den auch Marx’ Kritik der politischen Ökonomie
vermittels einer kritischen Reformulierung einzubetten wäre. 114

Entgegnung von Jürgen Habermas

Ich bin Smail Rapic für diesen Vortrag dankbar, weil er mich über die
philosophischen und politischen Motive aufklärt, die unseren – mir bis
jetzt persönlich unbekannten – Gastgeber motiviert haben, zu dieser
Tagung die Initiative zu ergreifen. Die ausführliche Bezugnahme auf
die Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus veranlasst mich zu
einer Bemerkung. In diesem Text schlägt sich eine Diskussion nieder,
die wir zu Beginn unsrer Arbeit am Starnberger Institut geführt haben,
als wir überlegten, welche empirischen Projekte wir in Angriff nehmen
sollten. Der Text ist 1972 entstanden, also kurz vor dem Ende jener
Nachkriegsperiode, die Hobsbawm im Rückblick auf das Zeitalter der
Extreme als »Goldenes Zeitalter« beschrieben hat. In den westeuropäi-
schen Staaten, die ihre sozialen Sicherungssysteme aufgebaut hatten,
traten die Krisentendenzen des Kapitalismus damals nicht in der Ge-
stalt von manifesten Wirtschaftskrisen, sondern in der verschleierten
Form von Inflationstendenzen in Erscheinung. Das erklärt, warum
Claus Offe und ich eine Theorie der Verschiebung des Krisenpotentials
in den Steuerstaat und in die kulturellen Muster der Sozialisation ent-
wickelt haben. Unter anderen Vorzeichen hat damals Daniel Bell ganz
ähnlich über Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus geschrie-
ben. Unter heutigen Bedingungen haben die Legitimationsprobleme
zwar wieder eine gewisse Aktualität gewonnen, aber der inzwischen
eingetretene Szenenwechsel sollte uns auch an die Fallibilität mehr
oder weniger geistreicher Hypothesen erinnern. Wolfgang Streeck
und andere kritisieren diesen Ansatz im Lichte der jüngsten Krise aus
guten Gründen wegen des seinerzeit suggerierten Vertrauens in die
ökonomische Selbststabilisierungsfähigkeit des Kapitalismus. Auf die

114
Vgl. Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 261 ff.,
280 f. – Den Anknüpfungspunkt dieses Programms bildet Engels’ ›historistisches‹ Ver-
ständnis des Kapital, das wiederum von den naturalistischen Zügen seines Spätwerks
abgelöst werden muss.

199

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Entgegnung auf Smail Rapic

Weltfinanzmarktkrise passen unsere damaligen Hypothesen wie die


Faust auf’s Auge. Die neuen Krisentendenzen des Weltwirtschaftssys-
tems können freilich die Aufmerksamkeit der kritischen Gesellschafts-
theorie auch dieses Mal über das Wirtschaftssystem hinaus auf die
Überforderung nationalstaatlicher Steuerungs- und Interventions-
fähigkeiten und auf die marktkonforme Aushöhlung der nationalstaat-
lich verfassten demokratischen Willensbildung lenken. Weil die öko-
nomischen Ursachen der Krise heute sichtbar in Erscheinung treten,
finde ich es richtig, dass Smail Rapic eindringlich vor einer ökonomis-
tischen Verengung der Perspektive warnt und an die »Ursprungs-
gestalt« des später von Friedrich Engels so genannten Historischen
Materialismus erinnert. Nach dieser Lesart bildet das ökonomische
System die Antriebskraft des Komplexitätswachstums, aber trotz die-
ses evolutionären Primats wurzeln Entstehung und Verarbeitung von
Krisentendenzen in »Klassenverhältnissen« oder der Organisations-
form der Gesellschaft im Ganzen.
Allerdings greift Smail Rapic zu sehr auf meine frühen Schriften
aus den 50er- und 60er-Jahren zurück, um alle die Splitter, die im Pro-
zess der allmählichen Ausdifferenzierung dieser Anfänge zu der kom-
plexen Gestalt der Theorie des kommunikativen Handelns abgefallen
sind, aufzulesen und wieder zusammenzusetzen. Dadurch wird die Zä-
sur des Übergangs zur sprachtheoretischen Grundlegung der Gesell-
schaftstheorie, über die ich in den Einleitungen zur Studienausgabe
Rechenschaft abgelegt habe, doch etwas verwischt. Mit Recht hebt er
die sonst kaum bemerkte Kombination von Beobachter- und Teilneh-
merperspektive, die den Aufbau meiner Theorie schon seit dem Positi-
vismusstreit bestimmt haben soll, hervor. Nicht uninteressant und für
mich überraschend ist der Vorschlag, diese folgenreiche methodologi-
sche Entscheidung als eine Differenzierung zwischen zwei, in der dia-
lektischen Methode eng zusammengeführten Operationen zu verste-
hen. Dieser auf Kontinuitäten fixierte Blick führt dann aber doch zu
einem Kurzschluss zwischen der praktischen Absicht der Ideologiekri-
tik und der gesellschaftstheoretischen Arbeit selbst. Die »empirisch
falsifizierbare Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht« war eine
ungare Idee aus dem Jahre 1957. Diese habe ich ebenso aufgegeben wie
den hegelmarxistischen Begriff der gesellschaftlichen Totalität, der
noch für die meisten Aufsätze in Theorie und Praxis 1963 den Hinter-
grund gebildet hat.
Den Ideologiebegriff habe ich aus zwei Gründen aus dem Verkehr

200

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Entgegnung auf Smail Rapic

gezogen. Zum einen ist das politisch relevante öffentliche Bewusstsein


der Wahlbevölkerungen kaum noch durch strukturierte Weltanschau-
ungen religiöser oder philosophischer Herkunft geprägt. Nehmen wir
als Beispiel das Politikmuster des Neoliberalismus. Dieses Hayek’sche
Programm ist von einer ungewöhnlich erfolgreichen scientific commu-
nity in die Ministerien ebenso einflussreicher Regierungen lanciert und
dort, angesichts einer bedrohlichen Inflationsentwicklung, als Heilmit-
tel kritiklos rezipiert und dann unter den politischen Eliten weiter ver-
breitet worden. Aber nicht die Theorien von Hayek und Friedman, son-
dern die daraus abgeleiteten neoliberalen Rezepte und Faustregeln sind
in die breite politische Öffentlichkeit eingedrungen und dort diskutiert
worden. Man kann nicht sagen, dass sich hinter den entsprechenden
Parolen noch große Geheimnisse verbergen, die gelüftet werden müss-
ten. Für den Rest an Transparenz sorgen die Wirtschaftsredaktionen
der Tageszeitungen – was ja nicht heißt, dass diese nicht einäugig wären
und der fälligen Kritik an der gegen die Tatsachen immer noch fest-
gehaltenen Schulmeinung einen fairen Platz einräumten.
Soweit die politische Öffentlichkeit über relevante Tatsachen,
Themen und Gründe – wie heute in der Europapolitik – unaufgeklärt
bleibt, ist das in erster Linie auf eine interessegeleitete Dethematisie-
rung, also auf unterlassene, selektive oder unterdrückte Informationen
vonseiten der Regierungen und Parteien zurückzuführen. Diese Stra-
tegien bleiben beim Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit
in den von Massenmedien beherrschten Öffentlichkeiten unauffällig.
Ablenkung, Fragmentierung und Zerstreuung beschreiben einen für
Stimmungen und kontingent ausgelöste Erregungen anfälligen Zu-
stand des öffentlichen Bewusstseins besser als »Ideologisierung«.
Daher würde heute eine in praktischer Absicht auf Ideologiekritik an-
gelegte Gesellschaftstheorie ins Leere laufen. Auf der Ebene des Ver-
hältnisses von Theorie und Praxis geht es deshalb eher um die Entkop-
pelung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive. Eine unmittelbare
Koppelung würde die kritische Anlage der Gesellschaftstheorie beein-
trächtigen. Der Theoretiker kann nur zu informativen Zeitdiagnosen
gelangen, wenn er die Rolle des auf Objektivität verpflichteten Wissen-
schaftlers mit der Rolle des politischen Akteurs nicht verschränkt. Sei-
ne Aussagen über Tendenzen und Gegentendenzen umschreiben Spiel-
räume für mögliche politische Interventionen, in diesem Sinne für
»objektive Möglichkeiten«.
Die kritische Anlage der Theorie erklärt sich freilich ihrerseits aus

201

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Entgegnung auf Smail Rapic

einer Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive, ge-


rade wenn die Gesellschaftstheorie nicht auf normative, sondern auf
deskriptive, allerdings für die Selbstaufklärung moderner Gesellschaf-
ten relevante Aussagen abzielt. Die Verschränkung kommt zustande
durch die Einbeziehung von Wissen, das aus der Teilnehmerperspektive
gewonnen wird, in Beschreibungen, die aus der Perspektive einer drit-
ten Person vorgenommen werden. Diese Operation bildet auf einer
trivialen, aber oft übersehenen Ebene schon die methodische Grundlage
für die Geistes- und Sozialwissenschaften überhaupt. Der Tatsachen-
blick dieser neuen, erst um die Wende zum 19. Jahrhundert entstan-
denen Wissenschaften konstituiert sich durch die Vergegenständ-
lichung des bis dahin nur performativ gegenwärtigen oder aus der
Teilnehmerperspektive berichteten Wissens. Er transformiert die all-
tagspraktischen Erfahrungen von Teilnehmern, die bisher in Literatur
und Reiseberichten, in Tagebüchern und Chroniken, in Wirtschafts-
und Verwaltungsstatistiken, Kriegsberichten, historischen Erzählun-
gen, praktischen Anleitungen zu Ökonomie, Rechtspraxis, Handwerk
usw. festgehalten worden waren, in »Quellen« oder in Datensätze.
Die Theorie des kommunikativen Handelns erfordert allerdings
zwei weitere Operationen dieser Art. Die aus der analytischen Teilneh-
merperspektive des Sprachphilosophen entwickelte Formalpragmatik
lenkt die Aufmerksamkeit auf jene Sorte von idealisierenden, also
teilweise kontrafaktischen Unterstellungen, ohne die unsere einge-
wöhnten lebensweltliche Praktiken zusammenbrechen würden. Die
rationale Rekonstruktion solcher Unterstellungen kann sich der Sozi-
alwissenschaftler zu Eigen machen, beispielsweise im Fall der kontra-
faktischen Erwartung eines Klägers, vor Gericht Recht zu bekommen.
Dabei geht die aus der Teilnehmerperspektive vorgenommene Rekon-
struktion des im Feld vorgefundenen performativen Wissens in die
empirische Beschreibung dieser Praktiken ein. Auf höherer Stufe kann
schließlich die rationale Rekonstruktion von Lernprozessen zu einer
Beschreibung von latenten Potentialen führen, etwa in der Gestalt
überschüssiger Produktivkräfte oder gültiger, aber systematisch unein-
gelöster Legitimationsansprüche. Die sozialen Pathologien, die unaus-
geschöpfte oder unterdrückte Rationalitätspotentiale anzeigen, werden
dann an Maßstäben gemessen, die die Gesellschaft selbst erzeugt und
die nicht einfach mit dem vermeintlich realistischen Achselzucken
einer zynisch über sich selbst aufgeklärten Gesellschaft beiseitegescho-
ben werden können.

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Stefan Müller-Doohm

Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und


die Zukunft Europas

»Gewiß sind die theoretischen Grundlagen der marx-


schen Kapitalismuskritik überholt. Aber eine kalte Ana-
lyse der zugleich befreienden und entwurzelnden, der
produktiven und destruktiven Auswirkungen unserer
ökonomischen Organisation auf die Lebenswelt haben
wir heute nötiger denn je.« 1

Smail Rapic, der um meine lebens- und werkgeschichtlichen For-


schungsinteressen in Bezug auf Habermas weiß, 2 hat angeregt, dass
ich in meinem Vortrag die Marx-Rezeption und die Phasen der Kapita-
lismusanalyse von Habermas rekonstruiere.
Wenn man darauf einige Schlaglichter wirft, worauf ich mich hier
beschränke, dann stößt man auf eine frühe Habermas’sche Lektüre von
Marx, bei der dessen Entfremdungstheorie aus den Ökonomisch-Phi-
losophischen Manuskripten von 1844 im Vordergrund steht. Ich ver-
weise hier auf die Aufsätze von 1954/55 über »Dialektik der Rationali-
sierung« oder über »Marx in Perspektive«. 3 Schon in diesen Arbeiten
meldet Habermas in technikkritischer Perspektive Zweifel an, dass den
Produktivkräften ein emanzipatorisches Potential zuzuschreiben sei.
In dem umfangreichen Review-Artikel von 1957 »Zur philosophi-
schen Diskussion um Marx und den Marxismus«, den Habermas auf
Einladung von Gadamer in der Philosophischen Rundschau veröffent-
licht hat, interessiert er sich für den Stellenwert, den das marxistische

1 Jürgen Habermas: Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine politische Schriften
VIII. Frankfurt a. M. 1995, S. 92. Das Zitat ist einem Interview entnommen, das Haber-
mas am 18. Juni 1994 im Kölner Stadt-Anzeiger veröffentlicht hat.
2 Stefan Müller-Doohm: Jürgen Habermas. Leben, Werk, Wirkung. Frankfurt a. M.

2008.
3 Habermas: »Dialektik der Rationalisierung. Vom Pauperismus in Produktion und

Konsum«. In: Merkur 8, Nr. 78 (August 1954), S. 701–724; ders.: »Marx in Perspekti-
ven«. In: Merkur 9, Nr. 94 (Dezember 1955), S. 1180–1183.

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Stefan Müller-Doohm

Erbe einer Einheit von Geschichtsphilosophie und Revolutionstheorie


beanspruchen kann. 4
Kaum zwei Jahre später präzisiert Habermas seine Marx-Kritik in
seinem Vortrag »Zwischen Philosophie und Wissenschaft. Marxismus
als Kritik«. Dort meldet er erstmals Zweifel an, dass der Klassenantago-
nismus Motor einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft sei. 5
In dem Aufsatz »Arbeit und Interaktion« aus der Karl Löwith-
Festschrift von 1967 6 sowie in Erkenntnis und Interesse knüpft Haber-
mas an den Begriff weltkonstituierender Arbeit von Marx an, ergänzt
dessen Theorie aber durch das Interaktionsparadigma, womit der Weg
zu einer zweistufigen Gesellschaftstheorie gewiesen ist.
In Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus von 1973 steht die
Revision der Krisentheorie von Marx im Vordergrund: Nämlich die
systembedingte Art und Weise, in der Entscheidungen des Staates so
getroffen werden, dass sie mit den Kapitalverwertungsbedingungen
des ökonomischen Systems sowie den normativ verankerten Prinzipien
der demokratischen Verfassung bzw. ihren Legitimationserfordernis-
sen im Einklang stehen. Das Präfix ›Spät‹ steht bei Habermas für einen
Kapitalismus, der nach dem Liberalkapitalismus entstanden ist (so
schon im Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962), und zwar vor
allem in der Folge von Unternehmenskonzentration und der Beseiti-
gung von Marktkonkurrenz auf der einen und einer interventionisti-
schen Staatstätigkeit auf der anderen Seite.
In seinem 1976 erschienenen Buch nimmt Habermas den Histori-
schen Materialismus auseinander, um zwar nicht das Ganze, aber ein-
zelne seiner Elemente wieder als mehrdimensionale Theorie sozialer
Evolution zusammenzusetzen. Roter Faden der Aufsätze in diesem
Band mit dem programmatischen Titel Zur Rekonstruktion des His-

4 Habermas: »Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Mar-


xismus«. In: Philosophische Rundschau 5 (1957), S. 165–235, wieder abgedruckt in TP2
387–464.
5 TP 228–289; Max Horkheimer brachte sein Missfallen über diesen Neomarxismus in
2
einem langen Brief an Adorno zum Ausdruck, einem Brief, den der Empfänger mit
Verwunderung gelesen haben muss. Das geht aus den handschriftlichen Annotationen
hervor. Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Bd. 18, Frankfurt a. M. 1996, S. 437–
452.
6
Habermas: »Arbeit und Interaktion: Bemerkungen zu Hegels Jenenser ›Philosophie
des Geistes‹«. In: Hermann Braun/Manfred Riedel (Hrsg.): Natur und Geschichte. Karl
Löwith zum 70. Geburtstag. Stuttgart 1967, S. 132–155, wieder abgedruckt in TWI 9–
47.

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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas

torischen Materialismus ist die These, dass die Rationalitäts- und Be-
wusstseinsstrukturen eine unabhängige Entwicklungslogik besitzen
und Schrittmacher der sozialen Evolution sind. An Marx kritisiert er
folgerichtig, dass er übersehen habe, welche evolutionäre Rolle die
Strukturen sprachlich hergestellter Intersubjektivität als strukturelle
Grundtatsache sozialen Lebens spielen. Dennoch stimmt er mit Marx
überein, »die Produktivkraftentfaltung als problemerzeugenden Me-
chanismus [zu] verstehen, der die Umwälzung der Produktionsverhält-
nisse und eine evolutionäre Erneuerung der Produktionsweise zwar
auslöst, aber nicht herbeiführt.« (RHM 161) 7
Ich bilanziere in so groben Zügen, wie ich referiert habe: Haber-
mas gelangt Ende der siebziger Jahre zu zwei Einsichten: Erstens ver-
sucht er nachzuweisen, dass der Spätkapitalismus durch den neuartigen
Typus der Legitimationskrise gefährdet ist. Zweitens zeigt er, dass es
eine von der materiellen Produktion unabhängige Entwicklung in der
Dimension des moralisch-praktischen Bewusstseins gibt, ein Lernpro-
zess, der zur Bewältigung systemischer Krisen beizutragen vermag.
Seitdem kritisiert Habermas einen Marxismus, der »an einem einzigen,
im Äquivalententausch zentrierten Vergesellschaftungsmechanismus«
fixiert ist (FG 62–66, hier S. 66).
Mit der Erinnerung an diese komplementären Einsichten kann ich
diese mehr als schlaglichtartige Rückblende auf die Diskontinuitäten
der Marx-Rezeption von der Entfremdungs-, zur Revolutions- bis zur
Krisentheorie abbrechen und das Thema aufnehmen, das Habermas
seit der Theorie der kommunikativen Handelns vielfach variierend im-
mer wieder aufgegriffen hat: Das Spannungsverhältnis von Kapitalis-
mus und Demokratie. Diese für ihn bis heute gültige diagnostische
Aussage will ich in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stellen.
Ich will so vorgehen, dass ich im ersten Schritt ganz kurz auf die
Konzeptualisierung der Verdinglichungstheorie eingehe, wie sie im
zweiten Band der Theorie des kommunikativen Handelns nachzulesen
ist. Im zweiten Schritt will ich zur Diskussion stellen, ob die Demokra-
tietheorie von Habermas Elemente enthält, die konkrete Hinweise da-
rauf geben, wie der Kapitalismus mit politischen Mitteln gezähmt wer-

7
Vgl. Müller-Doohm: »Zukunftsprognose als Zeitdiagnose. Habermas’ Weg von der
Geschichtsphilosophie zur Evolutionstheorie bis zum Konzept lebensweltlicher Patho-
logien«. In: Victor Tiberius (Hrsg.): Zukunftsgenese. Theorie des zukünftigen Wandel.
Wiesbaden 2012, S. 159–178.

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Stefan Müller-Doohm

den kann. Im dritten Schritt geht es darum, jenen Komplexitäten nach-


zuspüren, die mit der Globalisierung des Kapitalismus gegeben sind:
Wie muss Demokratie unter postnationalen Vergesellschaftungsfor-
men beschaffen sein, dass sie als normative Verfassung ein dauerhaftes
Gegengewicht bildet gegenüber einem weltweit operierenden Kapita-
lismus, dessen Prozesslogik blind ist für politisch verbindliche Postu-
late der Gerechtigkeit.

1. Verdinglichungstheorie

In der Theorie des kommunikativen Handelns reformuliert Habermas


seine Kapitalismuskritik auf systemtheoretischer Ebene. Er geht davon
aus, dass der Kapitalismus die fortgeschrittenste Form eines Wirt-
schaftssystems ist, das sich als Subsystem mit eigenen Umwelten be-
schreiben lässt. Er versucht, die Marx’sche Analyse der Wertform als
Ware-Geld-Beziehung für eine zeitgemäße soziologische Theorie einer
systemisch induzierten Verdinglichung anschlussfähig zu machen, die
sich an dem von ihm eingeführten Begriffsdualismus System/Lebens-
welt orientiert. 8 Marx scheitert daran, so Habermas, dass er »System-
und Handlungstheorie noch zusammenzwängt, um das Ganze der Ge-
sellschaft als Einheit einer zerrissenen Totalität zu erfassen. Aus die-
sem Grund kann er nicht hinreichend trennen »zwischen dem in der
Moderne ausgebildeten Niveau der Systemdifferenzierung und den
klassenspezifischen Formen seiner Institutionalisierung« (TkH II 498,
500 f.).
Statt an die Werttheorie von Marx anzuknüpfen, deren Schwä-
chen Habermas im Einzelnen aufzuweisen versucht, verfolgt er die

8 Die Arbeitswerttheorie von Marx erklärt die Realabstraktion des Tauschs: Die im
Tauschakt sich vollziehende Gleichsetzung unterschiedlicher Waren sowie die Verkeh-
rung von Produktion und Konsum in ein Durchgangsstadium der Kapitalverwertung.
Die Wertform der Waren verweist auf eine gesellschaftliche Paradoxie, die darin be-
steht, dass die an Gebrauchswerten orientierten Bedürfnisse der abstrakten, auf Tausch-
werte fixierten Vermittlungsform unterworfen werden. Mit der Verselbständigung des
Geldes wird die Mehrwertproduktion um des Mehrwerts zu einem eigendynamischen
System. Vgl. die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung der Marx-Interpretation
von Habermas durch Furio Cerutti: »Habermas und Marx«. In: Leviathan 11 (1983),
S. 352–375, der »in einem philologisch gut belegten Artikel Marx gegen die von mir
erhobenen Bedenken verteidigt.« (Habermas: »Entgegnung«. In: Axel Honneth/Hans
Joas (Hrsg.): Kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1986, S. 327–405, hier: S. 395).

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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas

Absicht, das nun ganz in den Vordergrund gestellte Problem der Ver-
dinglichung in Begriffen systemisch induzierter Lebensweltpatholo-
gien zu bestimmen. Damit soll es gelingen, Licht auf das selektive
Muster der kapitalistischen Modernisierung zu werfen.
Fokus der Kapitalismuskritik von Habermas ist keineswegs die Art
und Weise kapitalistischen Wirtschaftens, sondern das, was er die »Mo-
netarisierung der Lebenswelt« nennt: Monetarisierung ist die Erschei-
nungsform einer verkürzten und verselbständigten Systemrationalität
(TkH II 489 ff.). Gegenüber der systemischen Eigenrationalität der
ökonomischen Reproduktion meldet Habermas in seiner Analyse kei-
nen Widerspruch an. Dass die Sicherung der wirtschaftlichen Güter-
produktion und Güterverteilung durch die selbständigen Vermitt-
lungsleistungen des Geldes geschieht, ist aus seiner Sicht – konträr
zur orthodoxen Theorie des Geldes als Kapital von Hans-Georg Back-
haus und Helmut Reichelt 9 – ein unproblematischer Vorgang. Aber
nur, solange das von Habermas als neutrales Steuerungsmedium de-
finierte Geld innerhalb des Wirtschaftssystems zirkuliert. Geld ist
seiner Theorie zufolge ein entsprachlichtes Medium der Handlungs-
koordinierung und nicht (in Form von Kapital) Ausdruck eines Klas-
senverhältnisses. Mit den weiteren Schritten seiner Gegenwartsdiag-
nose kommt er zu dem Ergebnis, dass das ökonomische System wegen
seiner profitbedingten Expansionstendenzen über das Steuerungs-
medium Geld in die verständigungsorientierte kommunikative All-
tagspraxis eindringt, wodurch die sozialen Beziehungen verdinglicht
werden. Insofern ist es überzogen zu behaupten, 10 in der Sozialtheorie
von Habermas gäbe es überhaupt keine kapitalismuskritischen Motive
mehr. 11 Vielmehr wird die philosophische Entfremdungs- und Revolu-
tionstheorie der 50er und 60er Jahre neu grundiert und die Krisentheo-
rie der 70er Jahre ergänzt durch eine allgemeine Theorie systemisch
erzeugter Sozialpathologien – Pathologien, die sich prinzipiell korrigie-

9 Vgl. Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform. Freiburg 1997; Helmut Reichelt:
Der Zusammenhang von Werttheorie und ökonomischen Kategorien bei Marx. Bre-
men 1998.
10 Vgl. Michael Th. Greven: »Die fehlende Demokratietheorie der Kritischen Theorie«.

In: Wolfgang Merkel/Andreas Buch (Hrsg.): Demokratie in Ost und West. Frankfurt
a. M. 1999, S. 73–89.
11 Im Unterschied zu Marx beschränkt sich die Kapitalismusanalyse von Habermas

keineswegs auf die »innere Natur des Kapitals« (Marx: Das Kapital. Bd. 3, MEW 23,
S. 335).

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Stefan Müller-Doohm

ren lassen. 12 Mit solchen Soziopathologien zu rechnen und die Not-


wendigkeit, ihnen präventiv zu begegnen, hat einen seiner Gründe da-
rin, dass die materielle Reproduktion der Gesellschaft auf einer kapita-
listischen Ökonomie basiert, auf deren Produktivität sie angewiesen
ist. 13
Mit seiner Kritik an der Verdinglichung kommunikativ struktu-
rierter Handlungsbereiche im zweiten Band der Theorie des kommu-
nikativen Handelns will Habermas keineswegs die normative Idee
herrschaftsfreier Gesellschaftsverhältnisse zu neuem Leben erwecken.
Vielmehr geht es ihm darum, Diskrepanzen zwischen Kapitalismus
und Demokratie herauszuarbeiten, insofern beide an konträre Prinzi-
pien gesellschaftlicher Integration und Organisation gebunden sind. 14
Diese aktuelle Frage, wie die kapitalistische Dynamik durch die
Demokratie zivilisiert und gezähmt werden kann, hat Habermas zu-
letzt nach der Finanzmarktkrise Ende 2008 in der ZEIT unter dem Titel
»Nach dem Bankrott« thematisiert. 15 Als Auftakt kritisiert er, dass die
Kosten der Finanzkrise jenen sozialen Schichten aufgebürdet würden,
deren Einkommen kaum mehr zulässt als die Sicherung ihres Lebens-
standards. So wachse nicht nur die soziale Ungleichheit, sondern es
müsse mit der Zunahme von materieller Armut inmitten von Reich-
tum gerechnet werden. Die Finanzkrise sei nicht dadurch zu erklären,
dass sich einzelne Personen wie Bankmanager aus Habgier verspeku-
liert hätten. Vielmehr resultiert die Finanzkrise nach Habermas aus der

12
Gravierende Ungleichgewichte zwischen Wirtschaft und Staat einerseits, zwischen
den systemischen Funktionsmechanismen und der lebensweltlichen Sphäre anderer-
seits führen zu Krisenerscheinungen. Demgegenüber sind jene spezifischen Lebens-
weltpathologien die Folge davon, dass Störungen des Wirtschaftskreislaufes oder der
staatlichen Politik auf die Lebenswelt abgewälzt werden und/oder mediengesteuerte
Subsysteme durch Geld und Macht genau jene verständigungsorientierten Kommuni-
kationsweise substituieren, mittels derer sich die Lebenswelt erhält.
13
Dieses Angewiesen-Sein ist der Grund für die Skepsis von Habermas im Hinblick auf
marxistisch inspirierte Konzepte einer politisierten Arbeitsgesellschaft. So wie Gewerk-
schaften auf die »radikal demokratischen Verspreche[n] verzichten« mussten, war sei-
ner Meinung nach die Idee der Arbeiterselbstverwaltung zum Scheitern verurteilt,
ebenso wie die Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft als vorpolitischer Ordnung
(FG 616–622 (Zitat: S. 618); vgl. auch Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine
Politische Schriften V. Frankfurt a. M. 1985, S. 255).
14
Vgl. TkH II 507 ff.; Vgl. David Ingram: Habermas: Introduction and Analysis. Ithaca/
London 2010, S. 260 ff.
15
DIE ZEIT vom 06. 11. 2008; Habermas: Zur Verfassung Europas. Frankfurt a. M.
2011, S. 99–111, hier S. 99, S. 101 und S. 102.

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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas

»Logik der Gewinnmaximierung«. Das Versagen der einzelnen natio-


nalen Staaten bestehe darin, dass diese mit Rücksicht auf die Interessen
von Kapitalanlegern und gemäß ihres neoliberalen Konzepts umfas-
sender Privatisierung öffentlicher Aufgaben von ihren Sanktionsmög-
lichkeiten kaum Gebrauch gemacht hätten und glaubten, das Markt-
geschehen sich selbst überlassen zu können. Dagegen wendet sich
Habermas mit Vehemenz: »Im demokratischen Verfassungssaat«, so
betont er, »gibt es auch öffentliche Güter wie die unversehrte politische
Kommunikation, die nicht auf die Renditeerwartungen von Finanz-
investoren zugeschnitten werden dürfen«. 16
Dieses Argument zielt darauf, den Kapitalismus einzubinden, ihn
im Zaum zu halten, gerade auch den aus den Fugen geratenen Finanz-
kapitalismus. Der Kapitalismus müsse – ich wiederhole dieses Postulat
– durch Demokratie, also mit den Mitteln einer demokratisch legiti-
mierten und öffentlich praktizierten Politik, in seine Schranken gewie-
sen werden. Diese Art der Kritik am Kapitalismus hat ihren Flucht-
punkt in den Versuchen, seinem destruktiven Potential zu begegnen,
bevor es manifest wird. Denn, so wiederholt Habermas in seinem Zei-
tungsbeitrag, seit dem Ende der bipolaren Welt zu Beginn der neunzi-
ger Jahre »gibt es kein Ausbrechen mehr aus dem Universum des Ka-
pitalismus; es kann nur um eine Zivilisierung […] der kapitalistischen
Dynamik von innen gehen.« So alternativlos der Kapitalismus sei, so
sehr bedürfe er der Regulierung. 17 Somit ist der Kapitalismus für
Habermas – darin unterscheidet er sich von Exponenten, die in der
Tradition der kritischen Theorie stehen, die auf der Überwindung der
kapitalistischen Produktionsweise nicht zuletzt wegen ihrer Unverein-
barkeit mit Demokratie insistieren – eine Notwendigkeit hochent-
wickelter Gesellschaften, eine Notwendigkeit, die nur dann zum Übel
werden kann, wenn der Kapitalismus nach dem neoliberalen Credo de-
reguliert bleibt, also an Stelle des Spannungsverhältnisses von Kapita-
lismus und Demokratie das Ungleichgewicht zwischen beiden tritt. Der
Kapitalismus gehorcht dann blind dem Imperativ der Profit- und Wett-
bewerbslogik. Dann beherrschen die Märkte die Politik, statt umge-
kehrt. Habermas geht es um das Primat der Politik, genauer: um die

16
Habermas: »Nach dem Bankrott« (s. Anm. 15).
17 Habermas: »Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik«. In: Pe-
ter Niesen/Benjamin Herborth (Hrsg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Frank-
furt a. M. 2007, S. 406–459, hier: S. 428.

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Stefan Müller-Doohm

»Idee einer über Gesetze programmierten Selbsteinwirkung«. Diese


Selbsteinwirkung bezieht »ihre Plausibilität allein aus der Unterstel-
lung, daß die Gesellschaft«, so ist in Faktizität und Geltung nachzule-
sen, »insgesamt als eine Assoziation im ganzen vorgestellt werden
kann, die sich über die Medien Recht und politische Macht selbst be-
stimmt.« (FG 621).
Fassen wir zusammen: Für Habermas ist eine stabile Demokratie
mit dem Kontrollorgan einer politischen Öffentlichkeit das Gegen-
gewicht zu einem Kapitalismus, auf dessen Produktivität komplexe,
funktional differenzierte Industriegesellschaften für ihre materielle
Reproduktion ebenso angewiesen sind wie sie die ökonomisch hervor-
gerufenen Krisenzyklen etwa durch Programme der Konjunktur- und
Subventionspolitik bearbeiten müssen – eine Bearbeitung, die freilich
selbst wieder politischen Sprengstoff in sich birgt. Denn die politische
Exekutive gerät in die Gefahr, sich in eine Schieflage im Hinblick auf
die Kriterien der Gemeinwohlorientierung und Neutralität gegenüber
Partikularinteressen zu manövrieren. So kommt die Politik, die ange-
sichts der Budgetdefizite europäischer Staaten eine Rekapitalisierung
auf dem Rücken der Steuerzahler anstrebt, nicht aus dem von Haber-
mas beschriebenen Dilemma heraus, »für die Lösung der integrations-
gefährdeten Probleme der Gesellschaft eine Art Ausfallbürgschaft« zu
übernehmen. Und zwar – ich beziehe mich erneut auf Faktizität und
Geltung – mit Hilfe des anerkannten Rechts als Instrument einer re-
flexiv gewordenen legitimen Ordnung, mit dessen Hilfe sich Habermas
zufolge kommunikative Macht in administrative Macht umsetzen, de-
mokratische Politik ermöglichen lasse. 18 Aber wie, so stellt sich als
zentrale Frage, lässt sich angesichts einer dramatischen Dynamik be-
standsgefährdender Krisen das Steuerungspotential einer demokra-
tisch legitimierten Politik erhöhen?

2. Demokratietheorie

Damit sind wir bei der Demokratie als der Errungenschaft der Moder-
ne. Ihr traut Habermas zu, dass sich mit ihrer Hilfe der Gordische
Knoten jener schier unlösbaren Probleme zerhauen lässt. 19 Mit dieser

18
FG 99, 366; Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt a. M. 1996, S. 292.
19 Habermas: Vergangenheit als Zukunft. Zürich 1990, S. 128 f.

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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas

Fokussierung demokratischer Entscheidungsprozesse sowie dem Ver-


weis auf jene »schier unlösbaren« Probleme einer kapitalistischen Öko-
nomie, an der sich der Staat – fast im Wortsinn – seine Zähne ausbeißt,
wird sehr deutlich, welche enorme Bürde eine Demokratie zu tragen
hat.
Als allgemeine Voraussetzung von Demokratie müssen zum einen
verfassungsmäßig verankerte individuelle Freiheitsrechte gegeben
sein, die die private Autonomie eines jeden Bürgers im Rechtsstaat
schützen.
Die Basis einer demokratischen Verfassung, mit der das Prinzip
der Maximierung von Freiheit durch Selbstbestimmung rechtsgültige
Gestalt annimmt, ist zum anderen eine autonome, pluralistisch struk-
turierte Öffentlichkeit. Damit sich innerhalb der Öffentlichkeit die ra-
tionalitätsfördernde Kraft politischer Auseinandersetzungen in der
Form von Deliberationen freisetzen kann, muss sie als ein Raum der
Meinungs- und Willensbildung institutionalisiert werden, der von ein-
zelnen Akteuren, aber gerade auch von Assoziationen, Bürgerinitiati-
ven, sozialen Bewegungen und Protestgruppierungen ausgefüllt wird.
Deren politisches Engagement – bis hin zum zivilen Ungehorsam –
zielt auf eine Aktivierung von Öffentlichkeit, die – vermittelt über die
Medien der Massenkommunikation – Druck auf das politische System
ausübt.
Neben den Grundfreiheiten und der Öffentlichkeit ist schließlich
ein Komplex politischer Teilnahmerechte für die Demokratie konstitu-
tiv. Er sichert die Möglichkeit der Mitwirkung am politischen Prozess
durch die Praxis politischer Selbstbestimmung. Habermas übersetzt die
Idee der Volkssouveränität der klassischen Demokratietheorien kom-
munikationstheoretisch: Das Volk spielt insofern die Rolle des Souve-
räns, als es Diskurse über seinen Willen führt.
Ich komme nun auf den springenden Punkt: Die durch Öffentlich-
keit gebildete kommunikative Macht, deren legitime Geltung die sub-
jektiven Freiheits- und demokratischen Teilnahmerechte garantieren,
hat eine doppelte Funktion: Einerseits stellt sie ein Gegengewicht wider
die Verselbständigung von Eigeninteressen des Staatsapparates gegen-
über den Bürgern der Zivilgesellschaft dar. Andererseits muss sich
kommunikative Macht auch als Richtgröße gegenüber der Ökonomie
durchsetzen. Zwar können komplexe ökonomische Systeme Habermas
zufolge nicht durch Formen direkter Partizipation gesteuert werden.
Aber er geht ja davon aus, dass durch die Verfahren demokratisch legi-

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Stefan Müller-Doohm

timierter Meinungs- und Willensbildung »die systemischen Imperati-


ve eines interventionistischen Staatsapparates ebenso wie die des Wirt-
schaftssystems in Schach zu halten« sind. 20
Dieses Postulat, dass gerade auch ein anarchischer Kapitalismus,
der globale Ausmaße annimmt, mit den politischen Mitteln der Demo-
kratie domestiziert werden muss, ist auf den ersten Blick überzeugend.
Beim zweiten Blick fällt freilich auf, dass Habermas in seiner Kon-
zeption eines in Demokratie eingebundenen Kapitalismus zwei Dinge
offen lässt:
Erstens ist unklar, wo eine Zivilisierung des Kapitalismus ansetzen
müsste. Welche Reichweite und Grenze haben solche Versuche, den
Kapitalismus vor sich selbst zu retten? 21
Zweitens fragt sich, wie sich die Rettung des Kapitalismus vor sich
selbst politisch mit Hilfe rechtlich legitimierter Regulative in die Tat
umsetzen lässt.
Der wiederholte Hinweis ist zu allgemein, dass eine Balance zwi-
schen den Gewalten der gesellschaftlichen Integration – Geld, Macht,
Solidarität – gefunden werden müsse, so dass sich die Produktivkraft
Kommunikation durchsetzen »und damit die an Gebrauchswerten ori-
entierten Forderungen der Lebenswelt zur Geltung bringen kann.« 22
Dass nicht zuletzt die Operationsspielräume nationaler Staaten
selbst in Bereichen ihrer eigenen Zuständigkeit begrenzt sind, zeigt
sich daran, dass noch Jahre nach Ausbruch der Finanzmarkt- und dann
der Schuldenkrise in Europa die Staaten der Gemeinschaft trotz per-
manenter Beratungen auf höchsten multilateralen Ebenen politischer
Exekutive in Form exklusiver Gipfeltreffen der G 8- und G 20-Staaten
sowie diverser fiskalischer sowie geldpolitischer Maßnahmen in der
Form von Rettungsschirmen und Stabilitätskriterien kaum in der Lage
waren, gegen die ›Märkte‹ eine erfolgreiche Euro-Rettungspolitik in
die Tat umzusetzen. Hier neigt Habermas keineswegs dazu, dieses
Scheitern alleine dem Kleinmut, der Hilflosigkeit und Überforderung
der politischen Funktionselite zuzurechnen. Vielmehr führt er den
Kollaps des Finanzsystems auf die Restriktionen einzelstaatlicher Poli-

20 Habermas: Entgegnung (s. Anm. 8), S. 393.


21
Wolfgang Streeck: »Und wenn jetzt noch eine Krise käme«. In: Frankfurter All-
gemeine Sonntagszeitung vom 08. 09. 2009.
22
Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie
der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1990, S. 36.

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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas

tik zurück, die jedoch, so seine These, durch Erweiterung ihrer Legiti-
mationsgrundlage auf transnationalem Niveau zu überwinden wären.
Aber auch bei diesem Konzept einer transnationalen Demokratie
eines vereinigten Europas bleibt ungeklärt, welcher politischen Pro-
gramme und staatlichen Initiativen es im Einzelnen bedarf, um auf
das kapitalistische System gemäß jenen Rechtsregeln Einfluss zu neh-
men, die mit demokratischen Legitimationskriterien übereinstimmen.
Immerhin spricht einiges dafür, dass das Ziel einer Domestizierung des
Kapitalismus durch Demokratie angesichts der engen Grenzen der Go-
vernance-Politiken zu nichts anderem gerät als zum Programm einer
Sanierung der gegebenen Wirtschaftsverfassung. 23 Das lässt sich kaum
von der Hand weisen für jene 6 Vorschläge, die Habermas am 20. Mai
2010 in der ZEIT gemacht hat 24: Dass die großen Banken ihr Eigen-
kapital erhöhen, die Hedgefonds durchleuchtet, die Börsen und die
Ratingagenturen kontrolliert werden. Darüber hinaus, so fordert Ha-
bermas, seien die Praktiken der Geldspekulation zu begrenzen, Finanz-
transaktionen zu besteuern, Investment- und Geschäftsbanken zu
trennen. Selbst wenn die Chancen einer Politik genutzt werden, die
darin bestehen, dass staatliche Instanzen im Namen des demokrati-
schen Gemeinwohlprinzips die Auswüchse der kapitalistischen Wirt-
schaftsweise abfedern, dann wächst ein anderes, gerade auch von Ha-
bermas anvisiertes Gefahrenpotential: Das eines neuartigen Etatismus,
der einen Rückfall in technokratisch verkürzte Entscheidungsformen
befördert.
Habermas ist sich darüber im Klaren, dass der Kapitalismus ein
Danaergeschenk ist: Ohne Krisen und pathologische Nebenfolgen ist
er nicht zu haben. Folglich bleiben die schon aufgeworfenen Fragen
auf der Agenda: Erstens: Wie können seine destruktiven Kräfte in
Schach gehalten, wie also kann die Profitlogik der Ökonomie durch
den demokratischen Souverän politisch unter Kontrolle gebracht wer-

23 Dass die staatlichen Instrumente der Makrosteuerung eben nicht auf eine Kontrolle
der Wirtschaft durch den Staat hinauslaufen, sondern in erster Linie Maßnahmen zum
Wohle von Banken der prosperierenden europäischen Staaten sind, also letztlich »allein
auf die Rettung der vor der Selbstzerstörung stehenden marktwirtschaftlichen Syste-
me« hinauslaufen, konstatiert Jens Beckert in seiner Analyse »Die Anspruchsinflation
des Wirtschaftssystems«. (MPIfG Working Paper 09/10. Max-Planck-Institut für Ge-
sellschaftsforschung, Köln, September 2009: http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp09-
10.pdf, S. 12–18, hier: S. 17.)
24 Habermas: »Wir brauchen Europa«. In: DIE ZEIT vom 20. 05. 2010, S. 47.

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Stefan Müller-Doohm

den, ohne dass die gouvernementalen Operationen zu kurz greifen


oder zu einem staatsbürgerlichen Paternalismus führen?
Zweitens: Wie vermag die Gesellschaft mit politischen Mitteln auf
sich selbst beziehungsweise die krisenhaften Erscheinungen ihrer ka-
pitalistisch organisierten Marktwirtschaft einwirken?
Ich habe anzudeuten versucht, dass Habermas bis heute an seiner
Programmatik festhält, dass Wege gefunden werden müssen, die Öko-
nomie durch die Demokratie zu zähmen. Aber die Perspektive erwei-
tert sich. Denn aufgrund der weltweit vernetzten, global operierenden
und zugleich deregulierten Ökonomie bedarf es eines die Nationalstaa-
ten übergreifenden, weltgesellschaftlich umfassenden Ausbaus demo-
kratischer Strukturen und Gegengewichte. Ein für Habermas immer
bedeutsamer gewordenes politisches Element dieser Demokratisierung
im globalen Maßstab sind jene Impulse, die ihm zufolge von einem
vereinigten Europa ausgehen könnten und müssten, Impulse für eine
Internationalisierung demokratischer Politik. Denn »nur regional
übergreifende Regime wie die Europäische Gemeinschaft könnten
überhaupt noch auf das globale System nach Maßgabe einer koor-
dinierten Weltinnenpolitik einwirken.« 25

3. Europa als Teil einer demokratisch verfassten Weltordnung

Mit dem Modell einer supranationalen Integration europäischer Staa-


ten verbindet sich für Habermas die Hoffnung, Kräfte gegen den be-
fürchteten »Substanzverlust der Demokratie« 26 zu mobilisieren. Für
ihn besteht die Zukunft der Europäischen Union darin, Wegbereiter
einer kosmopolitischen Demokratie zu sein. Ich möchte drei Begrün-
dungsaspekte hervorheben. Zum einen: Weil in einer demokratisch
verfassten Weltordnung alle Betroffenen einbezogen sind und jede
Stimme im Beratungsprozess zählt, erhöht sich die Chance, bei Kon-
flikten zu vernünftigen Lösungen zu kommen. Zum anderen: Aus dem
demokratischen Prozess resultiert nicht nur eine kollektive Identität
Europas in Form staatsbürgerlicher Solidarität, sondern auch ein Pa-
triotismus, der sich aus der gemeinsam beschlossenen Verfassung
speist. Schließlich: Als regional übergreifendes Regime vermag Europa

25
Habermas: Die Einbeziehung des Anderen (s. Anm. 18), S. 187.
26 Colin Crouch: Postdemokratie. Frankfurt a. M. 2008, S. 13.

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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas

an Gewicht innerhalb jener globalisierten Welt zu gewinnen, in der


ökologische, militärische und wirtschaftliche Risiken keine territoria-
len Grenzen kennen.
Eine europäische Gesellschaft in der Gestalt einer postnationalen
Demokratie wäre für Habermas nicht nur der historische Durchbruch
für eine Politik der Selbstbestimmung und der Menschenrechte auf
transnationalem Niveau. Vielmehr hätte ein demokratisches Europa
gerade auch die Funktion, jenen so wichtigen Gegenpol zur Anarchie
eines global entfesselten Kapitalismus zu bilden. Dieser Gedanke ist die
Quintessenz des Aufrufs mit Jaques Derrida. Dort heißt es: Um für
»eine zukünftige Politik der Zähmung des Kapitalismus« gerüstet zu
sein, muss die europäische Gemeinschaft neue Formen des »Regierens
jenseits des Nationalstaates« praktizieren. Diese Zähmung des Kapita-
lismus ist eines der Hauptziele, wenn nicht das Hauptziel einer zu-
künftigen Weltinnenpolitik, ausgehend von der historischen Erfah-
rung, dass angesichts der geringen »Leistungsfähigkeit des Marktes«
die »Steuerungskapazitäten des Staates« umso mehr genutzt werden
müssen. 27
Abgesehen von dieser Forderung in der Rolle des öffentlichen In-
tellektuellen hat Habermas die dysfunktionalen Mechanismen eines
globalen Kapitalismus in der »Weltgesellschaft ohne Weltregierung« 28
nicht eigens analysiert. Die Hauptaufgabe einer supranationalen Welt-
organisation als Teil eines mehrstufigen föderalen Systems sieht er in
einer Politik, die sich auf die drei Felder der Friedenssicherung, der
Menschenrechte und der Umwelt konzentriert. Der primäre Funk-
tionsbereich der Weltinnenpolitik, für die regionale Körperschaften
verantwortlich sein sollten, besteht Habermas zufolge darin,
»einerseits das extreme Wohlstandsgefälle der stratifizierten Weltgesellschaft
zu überwinden, ökologische Ungleichgewichte umzusteuern und kollektive
Gefährdungen abzuwehren, andererseits eine interkulturelle Verständigung
mit dem Ziel einer effektiven Gleichberechtigung im Dialog der Weltzivilisa-
tionen herbeizuführen.« 29

27 Habermas: »Der 15. Februar oder: Was die Europäer verbindet«. In: ders.: Der ge-
spaltene Westen. Kleine politische Schriften X. Frankfurt a. M. 2004, S. 47 und S. 48.
28
Habermas: »Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft?« In:
ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt a. M. 2005, S. 324–367, hier
S. 329.
29 A. a. O., S. 346.

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Entgegnung auf Stefan Müller-Doohm

So wie für Habermas ein vollständig liberalisierter Weltmarkt mehr als


suspekt ist, äußert er in der Studie »Hat die Konstitutionalisierung des
Völkerrechts noch eine Chance?« wenig Zuversicht, dass sich die
Krisen auf den kapitalistischen Weltmärkten alleine mit politischen
Mitteln eindämmen lassen. Wie aber dann? Wie schon ausgeführt, ver-
traut Habermas in erster Linie dem normativen Eigensinn des Rechts-
mediums. Seine Hoffnung bei der Zivilisierung des weltweit operieren-
den Kapitalismus gilt den »Steuerungsressourcen Recht und legitime
Macht«. 30
Im Maße wie das ökonomische System angesichts epochaler Glo-
balisierungsprozesse zur Hegemonialität drängt, muss der Expansion
dieses Machtpotentials etwas entgegengesetzt werden. Es ist nicht die
Beharrungskraft kultureller oder ethnischer Traditionen, sondern es ist
das Potential kommunikativer Macht, die aus jenen demokratischen
Verfahren entspringt, die die Bürger in Gang bringen müssen. Es ist
der Diskurs innerhalb der Moderne über die normativen Aspekte der
eigenen Lebensführung, auf den Habermas baut. Wie realistisch diese
Erwartung ist, wäre zu diskutieren. Auch und gerade wenn man davon
überzeugt ist, dass in der Binnenstruktur unserer Kommunikations-
gemeinschaft ein Potential intersubjektiv verfasster praktischer Ver-
nunft angelegt ist.

Entgegnung von Jürgen Habermas

Es gibt wohl kaum jemanden, der – aus naheliegenden Gründen – mit


meinen Gedankeninnereien so gut vertraut ist wie Stefan Müller-
Doohm. Das erklärt, warum jeder Impuls zu einer Metakritik fehlt.
Denn die Kritik, mit der dieser Vortrag endet, muss ich akzeptieren.
In den letzten beiden Jahrzehnten habe ich die These von der demokra-
tischen Zähmung des Kapitalismus zwar im Zusammenhang mit publi-
zistischen Interventionen immer wieder vorgetragen, aber nicht mit
einem erneuten gesellschaftstheoretischen Anlauf untermauert. Wis-
senschaftlich beschäftige ich mich seit meiner Emeritierung eher mit
Fragen der politischen Theorie, der Rechtstheorie und der »Religions-

30
Habermas: »Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?« In:
ders.: Der gespaltene Westen (s. Anm. 27), S. 113–193, hier: S. 175.

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Entgegnung auf Stefan Müller-Doohm

philosophie«; oder genauer mit der Selbstverständigung des nachmeta-


physischen Denkens, sodass ich für die gesellschaftstheoretische Auf-
möbelung von Krisendiagnosen nicht mehr die Zeit und die Kraft habe.
Aber andere Kollegen wie Claus Offe, Wolfgang Streeck und Hauke
Brunkhorst bleiben ja am Ball.
Andererseits betrachte ich das Verhältnis von Demokratie und Ka-
pitalismus auch heute weiß Gott nicht blauäugig oder, wie mir Axel
Honneth vorhält, nur noch aus einer normativen Perspektive. Ich habe
auch meine Demokratie- und Rechtstheorie von vornherein in den
Rahmen einer rekonstruktiv verfahrenden Gesellschaftstheorie einge-
bettet. Allerdings muss uns bewusst sein, dass Sozialwissenschaften
sichere Prognosen nicht hergeben. Und aus historischer Perspektive
beobachte ich, dass sich der Kapitalismus, dem ja eine krisenhafte Ver-
laufsform innewohnt, immer wieder stabilisiert hat. Die Kritische
Theorie ist am Ende der Weimarer Periode auf Horkheimers und Pol-
locks Initiative aus der Fragestellung entstanden, zu erklären, warum
der Kapitalismus nicht zusammengebrochen ist. Daher sollte man
selbst aus empirisch gut belegten Krisendiagnosen (wie denen, die
Streeck in seinen Adorno-Vorlesungen vorgetragen hat) keine voreili-
gen Schlüsse ziehen. 31 Erst dieses fallibilistische Bewusstsein sichert
auch dem Krisentheoretiker den nötigen Spielraum für eine Praxis,
die gerade dann für eine demokratische Gegensteuerung Partei er-
greift, wenn die Finanzmärkte wie heute kraftlose politische Eliten vor
sich her treiben.
Seit meinen Assistententagen am Frankfurter Institut – wo ja in
den 50er-Jahren entgegen dem Eindruck, den man aus Adornos schwar-
zen Büchern gewonnen hat, ein reformistisches Klima geherrscht hat –
bin ich in meinen politischen Einstellungen ein radikaler Reformist
geblieben. Diesem Revisionismus kommt ein theoretischer Ansatz ent-
gegen, der nicht am »Grundwiderspruch« der Ökonomie und den »Be-
wegungsgesetzen« des Kapitalismus ansetzt, sondern an dem Wider-
spruch, an dem sich in kapitalistischen Demokratien der Staat und die
Politik abarbeiten. Diese müssen in demokratisch organisierten Wirt-
schaftsgesellschaften die Politiken suchen, die auf einem schmalen Kri-
senpfad die konkurrierenden Imperative der Wirtschaft und der Wahl-
bevölkerung temporär ausgleichen: die eine Seite will die Sicherung

31
Vgl. Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapi-
talismus. Berlin 2013.

217

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Entgegnung auf Stefan Müller-Doohm

von profitablen Anlagemöglichkeiten, die andere die Befriedigung der


drängendsten Legitimationsbedürfnisse. Wann Umstände, unter denen
das nicht mehr gelingt, anomische Konsequenzen haben, die nicht
mehr »aufgefangen« werden können, lässt sich kaum prognostizieren.
Für diese Frage bieten ja heute die Zustände in Griechenland, Spanien
oder Portugal einen traurigen Anschauungsunterricht. Deshalb hat
mich die Frage »Zivilisierung oder Überwindung des Kapitalismus?«
zu keinem Zeitpunkt umgetrieben. Zwar habe ich jetzt beim Durch-
blättern der Legitimationsprobleme ein Schema wiedergefunden, wo-
rin die aufsteigende Folge der Gesellschaftsformationen mit einer
»postkapitalistischen« Gesellschaft endet. Aber darüber zu spekulieren
ist nicht wirklich interessant. Interessant ist vielmehr, auf welche Wei-
se sich der finanzmarktgetriebene Kapitalismus der Gegenwart erneut
stabilisieren könnte – beispielsweise in der autoritären Form von Kon-
solidierungsstaaten (Streeck) oder in der harmloseren Form technokra-
tisch ausgehöhlter Fassadendemokratien (was ich für wahrscheinlich
halte) oder in der Form supranationaler Demokratien (für die wir
kämpfen sollten). Was man auf dieser Stufe der Verallgemeinerung
theoretisch noch am ehesten verteidigen kann, ist die Luhmann’sche
Aussage, dass jeder revolutionäre Gedanke der klassischen Art an der
Komplexität einer Weltgesellschaft, die jeden Tag komplexer wird,
scheitert. Daran scheitert jeder Gedanke, der, wie verkleidet auch im-
mer, davon ausgeht, dass eine Art Zauber auf diesem System liegt, der
wie bei Rumpelstilzchen durch das Aussprechen des richtigen Wortes
gelöst werden könnte.

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Diskussion
Moderation: Rita Casale

Sabine Doyé (Wuppertal): Ich möchte eine Bemerkung zu Fragen der


Theoriekonzeption machen: Sicher ist es verlockend, Herrn Habermas
in seiner Rolle als öffentlicher Intellektueller anzusprechen, aber die
Tagung ist doch wohl als fachwissenschaftliche angelegt und will die
Aufgabenfelder thematisieren, die zum Habermas’schen Theoriepro-
gramm gehören. Dass nun die unterschiedlichen Themengebiete auch
unterschiedlich rezipiert werden, versteht sich – dass aber die Grund-
impulse des Unternehmens nur noch schwer auszumachen sind, irri-
tiert angesichts der Vorträge von Ingo Elbe und Smail Rapic doch er-
heblich.
So misst Elbe die Aneignung zentraler Theoreme der Marx’schen
Ökonomiekritik bei Habermas am Maßstab einer Lesart, deren Krite-
rien er nicht nur im innermarxistischen Diskurs für unüberholbar hält,
sondern die er auch ohne weiteres der Entwicklung einer kritischen
Gesellschaftstheorie als verbindliche Richtschnur vorhält. Auf dieser
Grundlage erübrigt sich dann der Versuch, einem Ansatz gerecht zu
werden, der die Gesellschaft zweistufig, als Lebenswelt und System,
konzipiert: ein Ansatz, den Habermas bekanntlich u. a. auf Grund-
annahmen der Marx’schen Kritik zurückführt. So kommt es im Zuge
von Elbes »Fehleranalysen« zu gravierenden Verstellungen der Haber-
mas’schen Intentionen; zum Beispiel will Elbe den Primat lebenswelt-
licher Kategorien in der Analyse des spezifisch kapitalistischen Charak-
ters von Herrschaft entdecken, den Habermas im Rechtsinstitut des
Arbeitsvertrags (dem Tausch von Arbeitskraft gegen variables Kapital)
aufweist: dieser habe den anonymen Charakter der Herrschaft, der in
diesem Vertragsverhältnis kaschiert werde, nicht verstanden und be-
greife Herrschaft nach dem Muster des Hegel’schen Begriffs entzwei-
ter Sittlichkeit als unter dem Schein sachlicher Beziehungen verbor-
genes Verhältnis persönlicher Herrschaft. Das Verstörende dieser
Analyse, dass nämlich gerade in diesem von Habermas registrierten

219

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.
Diskussion

nicht-personalen, anonymen Charakter kapitalistischer Herrschafts-


verhältnisse die gesellschaftliche Realität selbst die Prinzipiendifferenz
von System- und Sozialintegration unkenntlich macht, und damit die
normativen Grundlagen des Projekts der Moderne bedroht werden,
bringt Elbes verengter Blickwinkel nicht vor Augen.
Smail Rapic empfiehlt Habermas die Rückkehr zu den Anfängen
der Kritischen Theorie, wie sie Horkheimer in der Idee einer nicht in
ontologischer, sondern in praktischer Absicht betriebenen Theorie kon-
zipiert hatte; die Grundannahmen dieses Theorietyps, die der junge
Habermas mit Adorno im sog. »Positivismusstreit« verteidigte, liegen
dem Konzept von Erkenntnis und Interesse zugrunde. Eine Theorie
dieses Zuschnitts versteht sich als Gesellschaftstheorie, die in Form
der Ideologiekritik durchzuführen ist: gut marxistisch durch die Rück-
führung geltend gemachter Herrschaftslegitimationen auf Überbau-
funktionen, die gemessen am Stand der Produktivkräfte objektiv über-
holt sind, und hegelisch, weil am Leitfaden eines Gattungssubjekts
entfaltet, das die Theorie – analog zur Geschichte des kraft Selbstrefle-
xion stufenweise von selbstproduzierten Einschränkungen sich befrei-
enden Bewusstseins – als Träger eines objektiven Entwicklungsprozes-
ses begreift; das sich reflexiv seiner Subjektivität im Medium der
Theorie versichert. Es ist dies zweifellos ein Theoriekonzept, dem Ha-
bermas mit der Abkehr von der Subjektphilosophie und der Wende
zum Paradigma kommunikativer Rationalität den Boden entzogen hat.
Aber, so wendet nun Rapic mit Hinweis auf das Aufkommen neuer
religiöser Fundamentalismen und die Beharrungskraft alter ideologi-
scher Rechtfertigungsmuster ein, ist die Preisgabe des Konzepts der
Gesellschaftstheorie als Ideologiekritik denn schon an der Zeit? Hat
die moderne rationalisierte Lebenswelt wirklich die strukturellen Mög-
lichkeiten für Ideologiebildung eingebüßt, so dass, wie Habermas be-
hauptet, der Begriff des seiner synthetisierenden Kraft beraubten, kul-
turell verarmten fragmentierten Alltagsbewusstseins an die Stelle der
überkommenen Vorstellung falschen Bewusstseins zu treten hat? Und
ist die Aufgabe, die Habermas der Philosophie »in praktischer Absicht«
zuspricht, nämlich in der Orientierung an der Idee des »freien Zusam-
menspiels« der radikal ausdifferenzierten Vernunftmomente das Pro-
jekt der Moderne zu verteidigen, nicht doch zu bescheiden? – Diese auf
empirisch-zeitdiagnostischer Grundlage geäußerten Einwände, Erwar-
tungen und Empfehlungen dürften bei den Habermas-Lesern, die das
Selbstverständnis einer im Begriff prozeduraler Rationalität fundierten

220

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zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm

kritischen Theorie verinnerlicht haben, zu blanker Ratlosigkeit führen!


Oder ist es einfach nur so, dass wir beobachten, wie die Grenzen zwi-
schen den Diskussionsbeiträgen des/der öffentlichen Intellektuellen
und den thematischen Debatten im Umkreis eines diskurstheoretisch
gesicherten Theoriekonzepts ins Schwimmen geraten? Und da sollte
man ganz entspannt zuschauen?

Georg Lohmann: Ich habe eine Frage an Herrn Elbe und dann eine
etwas polemische Bemerkung dazu und indirekt vielleicht auch eine
Frage an Herrn Baum zum gestrigen Vortrag. Also ich habe gar nicht
gesehen, was eigentlich das positive Ziel Ihrer Interpretation ist. Geht
es um einen irgendwie nicht richtig beachteten Kontext bei Marx, aus
dessen Begrifflichkeit man da etwas machen kann? Also ich sehe gar
nicht – das ist meine Frage –: Für was wollen Sie diesen Marx, den Sie
da sozusagen mit Wertform und ähnlichen Begriffen umschrieben
haben, gebrauchen? Für welche Probleme soll das taugen?
Und auf die Bemerkung, die Sie am Schluss gemacht haben, dass
Ihr Vortrag ein Beispiel für eine neue Marxlektüre sei, möchte ich
polemisch antworten. Hier in Wuppertal gibt es traditionellerweise
viele Freikirchenbildungen, und ich habe den Eindruck, wir sind hier
Zeugen einer neuen, und ich würde jetzt sagen, »sektenhaften« Marx-
Interpretation geworden. Aber neu kann das gar nicht sein, was Sie
vorgeschlagen haben; es erinnert mich an die orthodoxen Marx-Inter-
pretationen in den 70er-Jahren, und die hatten m. E. viel von dem ver-
gessen, was an kritischer Marx-Lektüre seit den 20er-Jahren des letz-
ten Jahrhunderts gemacht worden war. Und das irritiert mich. Ich
glaube hingegen, man kann nur – und das war ja auch Marxens Um-
gang mit allen Klassikern gewesen – in kritischer Weise mit diesen
Autoren und auch mit Marx selbst umgehen. Und Marx würde sich
im Grabe umdrehen, wenn er sieht, dass an ihm jetzt Dinge festgehal-
ten werden, ohne dass eine kritische Interpretation, die Marx heute
erst Recht bräuchte, überhaupt vorgenommen wird. Aber wenn man
das nicht macht, dann entsteht m. E. ein neoorthodoxes Zeug und ich
sehe überhaupt nicht, dass das für irgendetwas nötig ist, außer – und
Luhmann hat gesagt, Selbstbefriedigungen sind in der Wissenschaft
verboten – außer für eine wissenschaftliche Selbstbefriedigung von
Marxologen.

221

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Diskussion

Hauke Brunkhorst: Ich möchte noch einmal an die Frage der Ideo-
logiekritik anschließen. Es ist ziemlich klar, dass die Hoffnung auf Ideo-
logiekritik und auf die Auflösung falschen Bewusstseins gewisserma-
ßen durch ein Wort die Hoffnung eines intellektuell immer schon
überdehnten Hegel-Marxismus war, wie ihn Lukács paradigmatisch
verkörpert hat, und der dann interessante Debatten ausgelöst hat, näm-
lich über die systematischen Grundlagen der Gesellschaftstheorie, die
bis Habermas’ Erkenntnis und Interesse reichen. Aber die Hoffnung,
damit politische Verhältnisse direkt zu verändern, indem man das fal-
sche Bewusstsein einfach zerstört, für diese Hoffnung gibt es übrigens
bei Marx nicht die geringste Evidenz – es ist auch egal, ob Marx es so
gesehen hat –, aber dass das intellektualistisch überdehnt ist, sieht man
eigentlich sofort. Wobei es natürlich falsches Bewusstsein gibt und
Ideologiekritik ihre Gegenstände hat. Wenn ich so fernsehe, erinnere
ich mich immer an einen Satz von Adorno: dass Bewusstsein töte, sei
ein Ammenmärchen, tödlich sei nur falsches Bewusstsein. Ja, das ist
wahr, wenn man sich das Fernsehen so anguckt, und da entsteht eine
Form von Ideologie, die zeigt, dass diese neoliberale Episteme völlig
undurchdringlich geworden ist. 2008, als die Finanzkrise im September
loskrachte mit Lehman Brothers, da sah ich eine Talkshow, ich weiß
nicht mehr genau von wem, und die Moderatorin sagt, »ja also jetzt
können wir uns ja nicht mehr auf Herrn Ackermann und die Banken
verlassen, an wen sollen wir uns denn noch halten?«, nachdem sie zwei,
drei, vier, fünf Jahre die Politiker gemobbt und die Banken hochgeju-
belt hatten. Dann ein zweiter Fall, da wird das richtig plastisch greifbar:
eine sehr intelligente und scharfe Moderatorin dieser ZDF-Nachrich-
tensendung fragt einen dieser vielen Chef-Ökonomen der Deutschen
Bank – weil man ja immer Chef-Ökonomen fragen muss, weil sie so
unabhängig sind, weil sie Ökonomen sind, und weil sie die wissen-
schaftliche Meinung darlegen. Und da fragt sie den nach dem letzten
Rettungsschirm kurz vor Weihnachten: »Also erklären sie uns doch
jetzt einmal, hat die Bundesregierung jetzt das Problem gelöst?« – »Ja,
also das weiß ich nicht«, sagt er, »das entscheiden ja nicht wir, das ent-
scheidet bei uns der kleine Sparer.« Und jetzt passiert folgendes: jetzt
fragt sie pseudo-scharf nach, aber nicht nach dem kleinen Sparer, nach
dem, was er gesagt hatte, und der erzählt geschlagene fünf Minuten
lang, dass bei der Deutschen Bank der kleine Sparer alles entscheidet.
Das ist eine Form von Ideologie, von der man denkt, da würde ein Wort
an der richtigen Stelle genügen, um dem ganzen Spuk ein Ende zu

222

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zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm

machen. Da hat Wolfgang Streeck einen sehr schönen kleinen Aufsatz


im Internet veröffentlicht, 1 der einfach darauf hinweist, dass die Sozio-
logie als Kritik ausgerechnet von der Ökonomie abgelöst worden ist,
die gar keine Wissenschaft der Gesellschaft ist oder allenfalls eine ko-
mische Wissenschaft der Gesellschaft, die mit einer fiktiven Vorstel-
lung einer Gesellschaft rational agierender Homunculi arbeitet und
sie in ein analytisches leeres Formelwerk presst und auf dieser nicht
vorhandenen gesellschaftlichen und politischen Grundlage scharfe po-
litische Optionen und strategische Optionen für bestimmte Positionen
vertritt, über die in der Öffentlichkeit gar nicht mehr diskutiert werden
können, die einfach einen transzendentalen Rahmen der Debatte dar-
stellen und eine einfach formulierbare Linie im Stil der »schwäbischen
Hausfrau« (Merkel) absolut setzen, wie: »Ohne ausgeglichene Haus-
halte keine gesunde Ökonomie. Kein Wachstum auf Pump. Alles für
die nationale Wettbewerbsfähigkeit. Sparen, Sparen, Sparen.« Dadurch
werden Alternativmöglichkeiten, von denen die Demokratie lebt, von
vornherein zugestellt und ausgeschlossen. Also die neue Transforma-
tion der Öffentlichkeit zur »Fassadendemokratie« (Habermas), das ist
schon, glaube ich, ein Thema auch für Ideologiekritik.

Ingo Elbe: Dann fange ich mal an, ich bin ja ein paar Mal auch direkt
angesprochen worden. Ich finde es erst einmal sehr interessant, wie
hier das Wissen verbreitet ist, was Marx alles so denken würde und
wie er sich im Grabe umdrehen würde. Das finde ich immer hochinte-
ressant. Ich möchte Herrn Lohmanns Wortbeitrag mit dem von Herrn
Habermas verknüpfen und auch auf die Kritik von Frau Doyé einge-
hen. Zunächst einmal: Meine Kritik an Habermas ist kontextfrei in
dem Sinne, dass sie eine Kontinuität in der Marx-Deutung bei Haber-
mas herausgearbeitet hat. Da ist es völlig irrelevant, ob die Quelle
Erkenntnis und Interesse ist – ein erkenntnistheoretischer Zusammen-
hang – oder Der philosophische Diskurs der Moderne – ein philo-
sophiegeschichtlicher Zusammenhang –; Habermas’ Kritik an Marx
bleibt bezüglich des Arbeitsbegriffes identisch, und deswegen ist von
mir eine berechtigte Dekontextualisierung dieser Aussagen vorgenom-
men worden. Das wäre der erste Punkt.

1 Wolfgang Streeck: »Public Sociology as a Return to Political Economy«, abrufbar


unter: http://publicsphere.ssrc.org/streeck-public-sociology-as-a-return-to-political-
economy/ (zuletzt abgerufen am 30. Juli 2014).

223

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Diskussion

Ich halte es für einen Taschenspieler-Trick, wenn Sie behaupten,


was ich betreibe, sei lediglich Marx-Philologie. Dann wird man so ein
bisschen getätschelt, weil Sie ja inhaltlich nichts dagegen anführen
können; aber man wird als Philologe in die Ecke gestellt, und angeblich
bearbeiten andere demgegenüber ja eigentliche Probleme. Also meine
Motivation, mich mit Marx zu beschäftigen, ist schon ein Problem, ein
Problem mit dem Markt, ein Problem mit dem Kapitalismus, ein Pro-
blem mit Krisen. Und da möchte ich als Beispiel nur einen Aspekt an-
bringen: Herr Müller-Doohm hat – wie ich finde völlig zu Recht –
erwähnt, dass Habermas einen neutralen Begriff des Geldes hat. Ein
neutraler Begriff des Geldes ist genau ein zentrales Problem in der
Krisentheorie der Neoklassik. Und das kann man mit Marx sehr gut
kritisieren, weil ihm zufolge im Geld schon die Möglichkeit der Krise
steckt. Ein neutraler Begriff des Geldes hingegen verkennt das und
kann Krisen immer nur als zufällige, extern verursachte begreifen.
Das ist nur ein Beispiel für das, was man mit dieser Marx-Rekonstruk-
tion machen kann. Natürlich will man damit Probleme lösen. Aber auf
der anderen Seite: Es geht doch hier auch um Wissenschaft oder um
Philosophie. Daher ist es doch erst einmal wichtig, dass ich den Theo-
retikern, auf die ich mich beziehe, wenn ich ein Problem lösen will –
und das ist ja völlig berechtigt, dass Herr Habermas ein Problem lösen
will –, Gerechtigkeit widerfahren lasse. Ich muss auch ihre Texte erst
einmal wahrnehmen, versuchen, sie so zu verstehen, wie sie vermut-
lich verstanden werden wollten, oder ihre wissenschaftliche Revoluti-
on, ihren wissenschaftlichen Beitrag erst einmal rekonstruieren. Und
wenn – Herr Müller-Doohm hatte das zitiert – Herr Habermas sagt, die
theoretischen Grundlagen der Marx’schen Kapitalismus-Kritik sind
überholt, und Habermas über Jahrzehnte hinweg den Begriff der abs-
trakten Arbeit bei Marx nicht erfasst, dann ist da ein Problem, und
darauf wollte ich hinweisen. Das ist der Punkt. Und das ist weder
Selbstbefriedigung noch Philologismus, weil es inhaltliche Konsequen-
zen für das Verständnis des Kapitalismus hat.
Ein zweiter Punkt: Frau Doyé hat darauf hingewiesen, dass Ha-
bermas einen Begriff des Arbeitsvertrages und des Klassenverhältnis-
ses hat. Natürlich hat er den, aber worauf ich hinweisen wollte war,
dass er den werttheoretischen Gehalt dieses Verhältnisses nicht rekon-
struiert, der fundamental ist, wenn man den apersonalen Herrschaft-
scharakter des Kapitals verstehen will. Genau diese werttheoretischen
Begriffe fallen bei Habermas immer durch. Und dann kommen diese

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zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm

merkwürdigen Begriffskonstruktionen zustande wie »Tauschwert als


Erscheinungsform des Gebrauchswerts« oder »abstrakte Arbeitskraft«
oder ähnliche Dinge. Das hat schon Züge eines regellosen Sprachspiels,
wie Jean Améry den Jargon der Dialektik genannt hat. Und darauf
wollte ich hinweisen.
Noch einmal zu Herrn Lohmann, zu der neuen Marx-Lektüre. Die
ist wirklich nicht so neu, da haben Sie vollkommen Recht. Ich beziehe
mich in der Tat auf die Deutungen, die seit 1965 weltweit entstanden
sind. Mir leuchtet aber nicht ein, warum die alles vergessen haben sol-
len, was in den 20er-Jahren zu Marx geschrieben wurde. Die haben es
erst einmal wiederentdeckt, was in den 20er-Jahren gewesen ist, näm-
lich solche bedeutenden Denker wie Isaak Iljitsch Rubin oder Eugen
Paschukanis, die in den Stalin’schen Lagern ermordet wurden und die
ganz wichtige Beiträge nicht nur für eine »Marx-Philologie«, sondern
auch für ein Verständnis der politischen Ökonomie und der Rechts-
theorie geliefert haben. Also insofern »neu« ist die Lesart nicht in
dem Sinne, dass sie in diesem Jahrzehnt oder vor zwei Jahren begrün-
det wurde; da hat man es vielleicht mit einem Benennungsproblem zu
tun. »Neu« wurde sie genannt, weil sie sich gegen die vorherrschende
parteioffizielle Marx-Deutung gewendet hat.
Also, meine Antwort auf die Diskussionsbeiträge ist: Ich halte die
Trennung von Philologie und Problemorientierung für eine Immuni-
sierungsstrategie. Reden wir doch über Marx-Interpretationen auch in
dem Sinne, dass Marx uns ein theoretisches Instrumentarium liefert,
um Krisenphänomene, aber auch den normal funktionierenden Kapita-
lismus zu analysieren. Ich finde nämlich, dass der normal funktionie-
rende Kapitalismus auch genug Leid produziert, und nicht nur die Kri-
sen im Kapitalismus.

Manfred Baum: Zur Frage von Herrn Lohmann: Ich habe in meinem
Vortrag gesagt, dass es mir hier nicht darum geht, die Detailgenau-
igkeit der Habermas’schen Kurzbeschreibung der Marx’schen »Real-
abstraktion« in Begriffen seiner Kommunikationstheorie zu disku-
tieren. Mir ging es nur darum, darauf hinzuweisen, dass Hegels
unglücklicherweise großer Einfluss auf Marx nicht auch dazu führte,
dass dieser mit Hegel das kapitalistische System als zerrissene sittliche
Totalität dachte, sondern – zumindest in seinen Anfängen – als eine
Folgeerscheinung des Privateigentums, das er, mit Rousseau und sehr
gegen Hegel, für das Grundübel der kapitalistischen Gesellschaft hielt.

225

https://doi.org/10.5771/9783495861127

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Diskussion

Stefan Müller-Doohm: Weil es offensichtlich eine Frage zu meinen


Ausführungen nicht gibt, gehe ich zunächst einmal über die Thesen
meines Referats hinaus. Was mich an dem Referat von Ingo Elbe und
der Diskussion irritiert, sind dogmatischen Einstellungen gegenüber
einer Theorie, die für sich beansprucht, kritisch zu sein. Das ist höchst
problematisch, weil die kritischen Theorien in der Tradition von Marx,
vor allem in der Tradition von Horkheimer und Adorno, davon aus-
gehen, dass aller Wahrheit ein Zeitkern innewohnt. Kritische Theorien
haben ihren zeitgeschichtlichen Kontext und ihre Aussagen sind kei-
neswegs überzeitlich gültig. Also ich glaube, am Prinzip des Fallibilis-
mus sollten wir nicht rütteln. Was an Theorien meines Erachtens inte-
ressant ist, ist folgende Frage: wenn wir uns der Gesellschaftstheorien
bedienen, ist zu prüfen, was wir mit diesen Theorien erklären können?
Haben Sie eine Reichweite für die Erklärung der Phänomene, die uns
heute unter den Nägeln brennen? Und das ist doch das Entscheidende.
Der Erklärungsgehalt, der ihnen eigen ist, macht Theorien interessant,
abgesehen natürlich von empirischen Projekten, die parallel zu Theo-
rien durchzuführen wären und an deren Ergebnissen sich Theorien zu
bewähren hätten. Das ist das eine.
Das andere: Ich habe den Eindruck, dass es uns nicht an guter
Normativität mangelt. Die demokratische Verfassung ist ja in vieler
Hinsicht vorbildlich und wir können uns darauf beziehen. Es ist die
beste Verfassung und politische Ordnung, die es in Deutschland – bis-
lang jedenfalls – gegeben hat, sage ich jetzt bewusst etwas euphorisch.
Aber das Problem, ein uraltes, besteht doch darin, diese gute Normati-
vität zu einer legitimierbaren politischen Praxis werden zu lassen. Da-
rauf zielten auch meine Fragen an Herrn Habermas, die ich in meinem
Vortrag formuliert hatte: wie man solche fundamentalen Probleme, die
mit der Zivilisierung des Kapitalismus verbunden sind, praktisch in den
Griff bekommen kann, genauer: wie man andere wirtschaftspolitische
Konzepte wie Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum realisieren
kann. Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum sind immer noch
die großen Fetische, aus diesem Grund gefährdet sich die Gesellschaft
durch selbst induzierte Risiken immer wieder. So drängt sich die Frage
auf: Wie kriegen wir etwas hin, das anders ist als das, was wir schon
immer ökonomisch und politisch machen bzw. gemacht wird? Aus mei-
ner Sicht hat das Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demo-
kratie ja etwas Positives, und da bin ich ganz bei den Habermas’schen
Überlegungen. Es ist ja in der Tat nichts Schlechtes, dieses Spannungs-

226

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zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm

verhältnis, allerdings nur, wenn das Spannungsverhältnis in die richti-


ge Richtung drängt, nämlich, wenn die Demokratie den Kapitalismus
in Schach hält, und nicht umgekehrt.

Smail Rapic: Ich möchte das Thema der Ideologiekritik ins Zentrum
stellen, das mehrfach angesprochen wurde. Nach meiner Überzeugung
ist das Problem der Ideologie unvermindert aktuell. Hierzu einige Bei-
spiele: Ich habe 2000/2001 und 2005–2007 in Kopenhagen gelebt und
bei meinem zweiten Aufenthalt eine tiefgreifende Veränderung des
gesellschaftlichen Klimas erlebt: in Richtung Xenophobie bis hin zu
offener Fremdenfeindlichkeit. Für die in Dänemark lebenden Auslän-
der war es in der Zwischenzeit erheblich schwieriger geworden, einen
Arbeitsplatz zu finden; dies führte zu einer Ghettoisierung und zu
wachsender Aggressivität unter den Nicht-Dänen. Bei meinem ersten
Aufenthalt wohnte ich in einem traditionell proletarisch geprägten
Viertel, beim zweiten in einem relativ wohlhabenden; dort sagte mir
ein Nachbar: »Seien Sie froh, dass Sie jetzt hier sind. In dem Viertel, wo
Sie früher gewohnt haben, leben so viele Ausländer.« Da meinem Na-
men unschwer zu entnehmen ist, dass ich einen Migrationshinter-
grund habe, fügte er hinzu: »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin
kein Rassist.« Der Nachbar wollte mich auf eine reale Gefahr hinwei-
sen: In der Straße, in der ich bei meinem ersten Aufenthalt gewohnt
hatte, war kurz zuvor ein Mord passiert. Es ist hinreichend belegt, dass
die konsequente Benachteiligung und Ghettoisierung einer Minderheit
Aggressivität seitens der Betroffenen hervorruft; und es ist eine klassi-
sche ideologische Struktur, die durch Diskriminierung hervorgerufene
Gewalttätigkeit als einen Beleg dafür hinzustellen, dass man sich vor
einer bedrohlichen Randgruppe schützen müsse. Untersuchungen zu
den Ausschreitungen in mehreren englischen Städten 2011 haben ge-
zeigt, dass zu den Ursachen der Gewalttaten die Tatsache gehörte, dass
Farbige viel häufiger als Weiße von der Polizei auf der Straße angehal-
ten und kontrolliert wurden: Den Farbigen wurde hiermit das Gefühl
vermittelt, Bürger zweiter Klasse zu sein. In Jugoslawien – wo ich ge-
boren bin – haben sich die Jahrzehnte lang tradierten, zum Teil religiös
gefärbten Vorurteile der verschiedenen Volksgruppen gegeneinander
in einem Bürgerkrieg entladen, der 200.000 Menschen das Leben ge-
kostet hat. Auch der sogenannte »Krieg gegen den Terror« der USA
und ihrer Verbündeten nach dem 11. September 2001 war ideologie-
durchtränkt. Der islamische Fundamentalismus wurde in den 1980er-

227

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Diskussion

Jahren von den USA gefördert, weil er sich im Kampf gegen die sowje-
tische Invasion in Afghanistan als nützlicher Verbündeter erwies. Osa-
ma Bin Laden versteckte sich nach dem Angriff der USA auf Afgha-
nistan in der Höhlenfestung Tora-Bora, die er Jahre zuvor mit Hilfe der
CIA gebaut hatte. Es ist eine klassisch ideologische Struktur, die Bun-
desgenossen von gestern zu Erbfeinden zu erklären, nachdem sich die
Machtkonstellation verändert hat.
Als George W. Bush 2004 wiedergewählt wurde, fragten deutsche
Fernsehjournalisten ihre US-amerikanischen Kollegen, wie es zu er-
klären ist, dass ein Präsident mit einer so katastrophalen Bilanz ein
zweites Mal gewählt wird: Die wirtschaftliche Lage hatte sich ver-
schlechtert, das internationale Ansehen der USA war aufgrund der Fol-
terungen in Guantanamo und Abu Ghraib auf dem Tiefpunkt ange-
langt. Die Antwort der US-amerikanischen Journalisten lautete: Bush
hatte es geschafft, dass die Angst vor dem islamischen Fundamentalis-
mus alle anderen Themen überdeckte, wobei sich niemand mehr daran
erinnern wollte – oder konnte –, dass der islamische Fundamentalis-
mus in Afghanistan von US-amerikanischen Regierungen viele Jahre
gefördert worden war. Diese Beispiele belegen meines Erachtens, dass
die Ideologiekritik eine Kernaufgabe der kritischen Gesellschaftstheo-
rie geblieben ist.
Zum Einwand von Herrn Brunkhorst, dies sei ein intellektualis-
tisch überdehnter Ansatz: Eine Antwort hierauf finde ich bei Habermas
in Legitimitätsprobleme im Spätkapitalismus, wo er betont, dass die
Ideologiekritik nur in Zeiten der Krise wirksam ist. In der gegenwärti-
gen Krise des globalisierten Kapitalismus haben wir nach meiner Über-
zeugung die Chance, eine kritische Öffentlichkeit zu erreichen.
Zu den Einwänden von Frau Doyé: (1) Ich habe versucht, mit Hilfe
der Habermas’schen Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmer-
perspektive von einem objektivistischen Verständnis des Historischen
Materialismus, an dem Sie festhalten, wegzukommen. (2) Empirische
Zeitdiagnosen bilden nach meiner Überzeugung den Ausgangspunkt
kritischer Gesellschaftstheorien, die Alternativen zum Bestehenden
ins Auge fassen.

228

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Regina Kreide

Die verdrängte Demokratie


Kommunikations- und Handlungsblockaden
in einer globalisierten Welt 1

Es ist unbestritten, dass die Demokratie gegenwärtig von mehreren


Seiten bedrängt wird. Zum einen schaffen der Klimawandel, aber auch
andere Risiken mit transnational spürbaren Auswirkungen (etwa Fu-
kushima) eine schiere Notwendigkeit, Modi transnationalen Handelns
und transnationaler Regulierung zu kreieren. Nationale demokratische
Parlamente allein können eine wie auch immer geartete Einhegung von
Krisenfolgen nicht mehr leisten. Die Demokratie wächst jedoch diesem
Regelungsdruck äußerst langsam und auch nur in wenigen Teilen der
Welt hinterher. Zweitens lässt sich eine Erosion nationaler Souveräni-
tät durch Globalisierungsprozesse und die trotz der Krise weiter er-
starkten Finanz- und Wirtschaftssysteme erkennen. Unter anderem
Colin Crouch hat das Phänomen, dass Expertenkomitees, internationa-
le Organisationen und globale Unternehmen an die Stelle des Volks-
willens treten, als »Postdemokratie« beschrieben. 2 Und drittens sind
moderne Gesellschaften durch einen Wertepluralismus und tiefrei-
chende politische, religiöse und soziale Konflikte gekennzeichnet. Das
Subjekt der Demokratie, der souveräne Volkswille, ist längst nicht
mehr homogen und einheitsstiftend, sondern plural und dissensanfäl-
lig. Ein Problem stellt dies dar, wenn politische Entscheidungen nicht
mehr im Sinne dessen getroffen wird, was gut für alle sein könnte,
sondern Interessenvertretungen und Lobbygruppen in den Entschei-
dungsprozessen die Oberhand gewinnen.
Wir sind somit mit drei Formen der Verdrängung von Demokratie
konfrontiert: Bürger sind von transnationalen Regeln betroffen, auf die
sie keinen Einfluss mehr nehmen können. Das bisherige, demokrati-
sche und staatliche Repräsentativsystem wird zunehmend machtlos.

1 Ich möchte Hauke Brunkhorst für hilfreiche Kommentare und Smail Rapic für wert-
volle Hinweise zum Text danken.
2 Colin Crouch: Post-Democracy. Cambridge 2004.

229

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Regina Kreide

Und schließlich wird der Demos, also das Volk, selbst nach innen und
auf globaler Ebene pluraler, was eine konsensuelle Einigung auf das
Gemeinwohl schwieriger werden lässt.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stellt sich für die po-
litische Theorie und Philosophie die Frage, ob die Demokratie den
Kampf mit den unversöhnlichen Folgen einer kapitalistischen Welt-
gesellschaft schon verloren hat oder ob es eine Transformation der
Demokratie geben kann, die trotz der repressiven Bedingungen selbst
demokratisch verläuft. Es überrascht, dass sich weite Teile der gegen-
wärtigen politischen Theorie bislang nicht sonderlich intensiv mit die-
sen neueren Herausforderungen auseinandergesetzt haben. Während
verschiedene ›Governance-Theorien‹ auf Basis einer funktional-einsei-
tigen Gesellschaftsanalyse kaum auch nur Demokratiepotentiale zu
erkennen glauben, gehen ›idealistische Ansätze‹ davon aus, moralphi-
losophisch begründete Prinzipien könnten ohne den Umweg demokra-
tischer Prozeduren auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ›angewendet‹
werden, und ›Dissenstheorien‹ wiederum gehen von einer zu einseitig
beschriebenen kontingenten Verfasstheit politischer Prozesse aus (I).
Demgegenüber vertrete ich die These, dass die normative Demo-
kratietheorie auf eine empirisch informierte Gesellschaftstheorie ange-
wiesen ist (II). Ein solcher wechselseitiger Verweis von Demokratie-
auf Gesellschaftstheorie ist bereits in Jürgen Habermas’ »Theorie des
kommunikativen Handelns« angelegt. Ich möchte zeigen, dass eine
revidierte, den aktuellen Gegebenheiten angepasste Version der ›Kolo-
nialisierungsthese‹ die notwendigen sozialwissenschaftlichen und phi-
losophischen Werkzeuge bietet, um eine gesellschaftstheoretische
Rekonstruktion von Demokratieblockaden und -potentialen zu ge-
währleisten (III). Diese Analyse wiederum lässt Rückschlüsse auf eine
Demokratietheorie zu, bei der neben der Reflexivität des demokrati-
schen Verfahrens vor allem die außer-institutionelle kommunikative
Macht zentral ist. Sie könnte, trotz einer unverrückbaren Übermacht
des Marktes und privatrechtlicher, technisierter Politik, Triebfeder für
Umwandlungsprozesse sein (IV).

I. Die Verdrängung der Demokratie

Auf die hier nur kurz skizzierten Herausforderungen hat die politische
Theorie auf unterschiedliche Weise, jedoch nicht sonderlich überzeu-

230

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Die verdrängte Demokratie

gend reagiert. Ich werde mich hier auf die Diskussion dreier Strömun-
gen beschränken, um grundlegende Probleme des vorherrschenden
Umgangs mit der Demokratie in der politischen Theorie herauszu-
arbeiten. 3
1. Idealistische Theorien sind um die Entwicklung globaler Ethi-
ken bemüht. 4 Die Implosion der Sowjetunion, des letzten gewaltsam
zusammengehaltenen Imperium, kann als einschneidender Punkt die-
ser Theorieentwicklung gesehen werden. Durch den Aufschwung nor-
mativer, idealistischer Theorien Anfang der 1990er Jahre wurde die bis
dato übliche Hegemonie der politikwissenschaftlich-realistischen
Standpunkte in Frage gestellt. Es ist zweifellos ein Verdienst idealisti-
scher Theorien, dass sie uns ins Bewusstsein rufen, was realistische
Theorien systematisch verdrängen, nämlich die bahnbrechende Rolle
der Ideen in der Evolution von Gesellschaften. Man denke an Olympe
de Gouges und ihren Kampf für die Frauenrechte während der Franzö-
sischen Revolution, den sie mit ihrem Leben bezahlte, oder an den
französischen Arbeiterführer Auguste Blanqui, der vor Gericht angab,
sein Beruf sei Proletarier, wie der von Millionen Franzosen. Trotz die-
ser Hinwendung zu Werten und Visionen, oder gerade deshalb, basie-
ren idealistische Theorien nicht auf empirischen Untersuchungen.
Vielmehr konstruieren sie, ausgehend von einem moralischen Stand-
punkt, zunächst globale normative Prinzipien, beispielsweise globale
Gerechtigkeits- oder Tauschprinzipien, die dann in einem zweiten
Schritt auf die politische Realität ›angewendet‹ werden.
Ein wesentliches Problem dieser methodischen Vorgehensweise
liegt darin, dass die systemische Komplexität gesellschaftlicher Ver-
hältnisse, vom internationalen Recht über die globale Ökonomie hin
zu interessengeleitetem Widerstand in politischen Kämpfen, nur als

3 Die folgenden Unterscheidungen finden sich, wenn auch ausführlicher und mit einer
etwas anderen Ausrichtung, in Regina Kreide/Andreas Niederberger: »Politik – Das
Politische«. In: Gerhard Göhler/Mattias Iser/Ina Kerner (Hrsg.): Politische Theorie. 22
umkämpfte Begriffe zur Einführung, 2. Auflage (als: Politische Theorie. 25 umkämpfte
Begriffe zur Einführung). Wiesbaden 2011, S. 292–307.
4 Bei aller Verschiedenheit lassen sich beispielsweise die Theorien von Simon Caney,

Darrell Moellendorf und Otfried Höffe unter das Dach der idealistischen Theorien sub-
sumieren. Simon Caney: Justice Beyond Borders: A Global Political Theory. Oxford
2005; Darrell Moellendorf: Cosmopolitican Justice. Notre Dame 2002; Otfried Höffe:
Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. München 1999.

231

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Regina Kreide

Randerscheinungen politischen Handelns thematisiert werden können.


Da der von den idealistischen Theorien verwendete Begriff der Ver-
nunft durch die ›richtige‹ Vorstellung von Moral oder Gerechtigkeit
legitimiert wird, kann er nicht durch so etwas wie ›unfreundliche‹ ma-
terielle und politische Bedingungen erschüttert werden.
Idealistische Theorien lassen jedoch nicht nur den Bezug zur ge-
sellschaftlichen Realität vermissen, sondern sie verfehlen auch die dia-
lektische Pointe. Der dualistische Charakter von Moral – zwischen
Freiheit und Pflicht hin- und hergerissen zu sein – wird nur halbwegs
aufgelöst: ›Idealisten‹ betonen zwar die Freiheit, die normative Ideale
bergen können, und berufen sich häufig auf die Menschenrechte, aber
sie lassen die so gar nicht freiheitsspendende, bevormundende Seite
von idealen Vorstellungen außer Acht. Doch auch die Idee der Men-
schenrechte kann, wie wir wissen, zu unterdrückerischen Interventio-
nen, einer imperialistischen Geopolitik oder auch für die Rechtfer-
tigung neokolonialer Politik missbraucht werden. Die Aufgabe der
Demokratie liegt in diesen Szenarien entweder darin, Gerechtigkeits-
vorstellungen, die die gesellschaftliche Grundstruktur prägen sollen, in
einem »Anwendungsschritt« durch öffentlichen Vernunftgebrauch zu
legitimieren. 5 Oder aber Demokratie wird als bestmögliche Bedingung
für die Verhinderung von Armut deklassiert und damit in den Dienst
der Entwicklungsarbeit gestellt. 6 Beide Male werden Demokratie und
Politik, mit Raymond Geuss gesprochen, zu einer Art angewandter
Ethik, die die gesellschaftlichen Bedingungen verkennt. 7
2. Eine weitere, einflussreiche Reaktion auf die skizzierten He-
rausforderungen stellen die inzwischen breit ausgefächerten Gover-
nance-Theorien dar. 8 Sie wurden tonangebend, als sich die erste Eu-

5 John Rawls: Die Idee des politischen Liberalismus. Frankfurt a. M. 1992, S. 333–363.
6 Thomas Pogge: World Poverty and Human Rights: Cosmopolitan Responsibilities
and Reforms. Second Edition. Cambridge 2008, S. 152–173.
7 Raymond Geuss: Philosophy and Real Politics. Princeton 2008, S. 8 ff.

8 In frühen Ansätzen zur Steuerungs-Problematik erschien der demokratische Staat als

Objekt und die Bürger als Subjekt. Das änderte sich in späteren Governance-Theorien,
die sich mit der Besonderheiten der transnationalen (europäischen und globalen) Gover-
nance beschäftigten und die Subjekt-Objekt-Beziehung umkehrten. Während in frühen
Ansätzen Forscher wie Renate Mayntz und Streeck/Schmitter eine Politik-Analyse be-
trieben, bei der die Regelungsmöglichkeiten des demokratischen Staates, beispielsweise
auf den Gebieten von Finanzen, Gesundheit, Bildung auf der einen Seite und die Hand-
lungsspielräume der Akteure (Bürger) auf der anderen Seite untersucht wurden (Renate
Mayntz: »Zur Selektivität der steuerungstheoretischen Perspektive«. In: Burth/Görlitz:

232

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Die verdrängte Demokratie

phorie nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums und die Vor-


stellung einer weltumspannenden Demokratisierung nicht erfüllt hat-
ten. Eine angemessene Beschreibung davon, wie das Regieren in einer
ausdifferenzierten, globalisierten Welt jenseits des Nationalstaates
aussehen könnte, könne nur gelingen, so die Schlussfolgerung ange-
sichts der in den 1990er Jahre fortschreitenden Globalisierung, wenn
keine starken normativen Annahmen vorausgesetzt werden. Diese
Vorbehalte gehen einher mit der – bei aller Verschiedenheit – ebenfalls
geteilten Annahme, eine Gesellschaft könne losgelöst von konkreten
Akteuren als sich koordinierende, soziale Systeme beschrieben werden,
die über funktionale Erfordernisse in den Bereichen Wirtschaft, Recht
und Politik integriert sind. Regieren wird dann inner- wie zwischen-
staatlich als effiziente Regulierung verstanden, die es erlaubt, jenseits
des Staates auch andere, nicht-staatliche Akteure (wie Unternehmen
und NGOs) zu erfassen. Statt einer Analyse staatlicher Politik und Ver-
waltung, die stets die vertikale Beziehung zwischen staatlichen Insti-
tutionen und den Bürgern im Blick hat, werden nun Regelungen zwi-
schen funktional ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereichen
aus horizontaler Sicht analysiert. Transnationale Koordinationsleis-
tungen und Entscheidungsprozesse zwischen staatlichen Finanz-,
Wirtschafts-, Antiterror-, und Bildungsabgeordneten sowie zwischen
ebenfalls trans- und zwischenstaatlich operierenden Sport-, Gesund-
heits-, Verkehrsexperten unterschiedlicher Verbände, Firmen, NGOs

Politische Steuerung in Theorie und Praxis. München 2001, S. 17–28, siehe online:
http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp01-2/wp01-2.html; Wolfgang Streeck/Philippe
Schmitter: Private Interest Government. Beyond Market and State. London 1985), wur-
de recht bald schon diese Akteursperspektive aufgegeben. Die ökonomische Transakti-
onstheorie, vertreten etwa durch Olivier Williamson, beschrieb Governance als das Be-
stehen von Regeln und als Art und Weise, diesen Regeln in ökonomischen Prozessen
Geltung zu verschaffen. Oliver Williamson: »Transaction-Cost Economics: The Govern-
ance of Contractual Relations«. In: Journal of Law and Economics 22 (1979), S. 233–261.
Unter anderem die Politikwissenschaftler Ouchi 1980 und Powell 1990 übertrugen die-
sen Begriff auf die Regulierung (regulation) von Clans, Vereinigungen und Netzwer-
ken, die man alle ebenfalls in der Wirtschaft antreffen konnte. W. G. Ouchi: »Markets,
Bureaucracies, and Clans«. In: Admininistrative Science Quarterly 25 (1980), S. 129–
141 und W. W. Powell: »Neither Market nor Hierarchy: Network Forms of Organiza-
tion«. In: Organizational Behavior 12 (1990), S. 295–336. Aus systemtheoretischer
Sicht siehe auch Helmut Wilke: Entzauberung des Staates. Königstein 1983.

233

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Regina Kreide

und Lobbygruppen erscheinen dann als nicht-hierarchische Aktivitä-


ten zwischen gleichgestellten Partnern. 9
Das mag wie ein kritischer Gegenentwurf zu hierarchisch organi-
sierten Steuerungsprozessen anmuten, doch die Analyse aus Sicht ver-
meintlich nicht-hierarchischer Netzwerke birgt erhebliche praktische
und theoretische Schwierigkeiten. Zum einen wird der Unterschied
zwischen Steuerungsobjekt und Steuerungssubjekt verwischt, was
nicht ohne Folgen für das Verständnis von Bürgern und Öffentlichkeit
bleibt. Das Steuerungssubjekt, einstmals das Volk, nun private Akteu-
re, erscheint als hochgradig abstrakt und zugleich fragmentiert. Geteil-
te Interessen können, so die Unterstellung, nicht mehr ausgemacht
werden. Im »Schatten der Hierarchie« 10 (Scharpf 1993) internationaler
und europäischer Gewaltmonopole wird die Effektivität nicht-hierar-
chischer Steuerungsformen analysiert, ohne dass die Rolle einer trans-
nationalen oder auch lokalen kritischen Öffentlichkeit einschließlich
Bürgerprotesten, -initiativen, Aufständen und Revolutionen theo-
retisch erfasst werden könnte. 11 Damit greifen Governance-Theorien
empirisch viel zu kurz. Zweitens wird als Objekt der Steuerung nicht
mehr allein der Staat angesehen, sondern auch die Politik selbst. Die
Analyse gilt insbesondere den öffentlich-privaten Kooperationen (Pu-
blic-Private-Partnerships), die durch Unterstützung finanzstarker In-
vestoren kollektive Anliegen wie Wasser-, Renten- und Gesundheits-
versorgung übernehmen und als Paradebeispiel nicht-hierarchischer
Regelungsformen gelten. Verschwunden ist die Machtasymmetrie je-
doch nur vordergründig. Denn zur Hierarchie zwischen staatlichen In-
stitutionen und Bürgern ist stärker denn je jene zwischen besitzenden
und nicht-besitzenden Bürgern, zwischen denen, die zahlen können
und wollen, und den have-nots hinzugetreten. Gerade diese Macht-
asymmetrie jedoch können Governance-Theorien begrifflich nicht ein-
fangen. Und schließlich wird Politik auf technisch bestimmbare Regu-
lierungseffekte reduziert. Die Legitimität politischer Planung und
Durchsetzung wird an der Effizienz der Ergebnisse bemessen, losgelöst

9 Adrienne Héritier: »Introduction«. In: ders. (Hrsg.): Common Goods. Reinventing

European and International Governance. Lanham 2002, S. 1–12.


10 Fritz W. Scharpf: »Positive und negative Koordination in Verhandlungssystemen«.

In: Adrienne Héritier (Hrsg.): Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung. PVS Son-
derheft 24, Opladen 1993, S. 57–83, hier: S. 67–68.
11
Bernhard Peters: Der Sinn von Öffentlichkeit (hrsg. von Hartmut Weßler). Frankfurt
a. M. 2007.

234

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Die verdrängte Demokratie

von der Input-Frage, wer Autor dieser Resultate hätte sein sollen. Go-
vernance wird somit zum Werkzeug marktgerechter Regelung und
zum bloßen Substitut der Demokratie. 12
3. Einer dritten Position schließlich geht es weder um die Ver-
ortung der Politik in Bezug auf Tatsachen oder Ideen noch um eine
angemessene Beschreibung trans- und internationaler Regelwerke:
»Dissenstheorien« interessieren sich dafür, auf welche Art und Weise
sich Politik mit Konflikten auseinandersetzt und zu Entscheidungen
findet. Im Denken einiger französischsprachiger Philosophen (Nancy,
Lyotard, Mouffe) ist das Politische zentrales Element. Die öffentliche
Auseinandersetzung und kontroverse Entscheidung wird damit Kern-
bestand politischer Aktivitäten. Im Unterschied dazu ist Politik die »im
Machbaren befangene Ordnung des Empirischen« 13. Politik verkörpert
das Statische, das politische System, den Staat. Während sich das Poli-
tische auf das Sichtbarmachen der Differenz zwischen Politik und
Nicht-Politik bezieht, auf das, was sich, ähnlich wie bei Arendt, den
Zwängen gesellschaftlicher Reproduktion und des Ökonomischen ent-
zieht, geht Politik als Ort der Entscheidungen im institutionellen Ap-
parat auf. 14 Die genannten Position teilen eine Annahme, die sie von
Carl Schmitt entlehnen: Jede politische Entscheidung ist stets nur vor-
läufig und im Moment der Entscheidung unbegründet, sie überwindet
den Dissens nicht. Demokratie trägt daher ein Element der Dezision in
sich. 15
Dissens-Theorien suggerieren, sie könnten die große Pluralität
der Ansichten und Interessen bestens integrieren. Doch die Inklusion
vor allem marginalisierter Teile der Bevölkerung muss letztlich arbiträr

12 Auch ein demokratischer Governementalismus wie der von Ann-Marie Slaughter


offeriert nur eine ›halbierte Demokratie‹, da bei einer indirekten Legitimation politi-
scher Entscheidungen die gewählten Repräsentanten den Bürgern gegenüber doch nur
Rechenschaft schuldig sind, aber direkte politische Partizipation auf transnationaler
Ebene nicht vorgesehen ist. Ann-Marie Slaughter: A New World Order. Princeton
2004. Hierzu ausführlich und kritisch: Markus Patberg: Against Democratic Inter-
governementalismus – A Case for a Theory of Global Constituent Power. Unver. Ma-
nuskript.
13 Thomas Bedorf: »Das Politische und die Politik«. In: ders/Röttgers (Hrsg.): Das Poli-

tische und die Politik. Frankfurt a. M. 2010, S. 13–37, hier: S. 14.


14
Chantal Mouffe: »Deliberative Democracy or Agonistic Pluralism«. In: Social Re-
search 66 (1999), S. 745–758.
15
Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radi-
cal Democratic Politics. London 1985.

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Regina Kreide

bleiben. Es wird kein normativer Rahmen bereitstellt, der Auskunft


darüber geben könnte, wer in politische Entscheidungen einbezogen
wird, wer teilnehmen und sprechen sollte bzw. welche Gründe diejeni-
gen geltend machen können, die ausgeschlossen sind. Aber nicht allein
politische Entscheidungen bleiben unbegründet, auch die Frage, wie
verhindert werden könnte, dass nur die ohnehin starken, politisch
mächtigen, wortgewaltigen und ökonomisch erfolgreichen Bürger am
politischen Geschehen beteiligt sind, bleibt offen. Dissens-Theorien be-
ziehen dazu ganz bewusst keine dezidierte Position, weil sie in jeder
Begründung selbst schon ein Unrecht vermuten, deren Vorläufigkeit
nur durch die Annahme der Unentscheidbarkeit gewährleistet werden
kann. Ohne Begründung jedoch bleibt von Politik nur die Irrationalität
übrig. 16
Während also, so lässt sich festhalten, idealistische Theorien den
Bezug zur gesellschaftlichen Gegebenheit verlieren und Demokratie
nur als Anwendungsfall einer globalen Ethik missverstehen, reduzie-
ren Governance-Theorien ihre Analysen transnationaler Interessen-
vertretungen ohne die Berücksichtigung von normativen Ideen und
kämpferischen Öffentlichkeiten auf sozial-technokratische Unter-
suchungen. Nur jedoch, wenn das Einfallstor zum weltlosen Moralisie-
ren geschlossen wird und das emanzipatorische Potential von Ideen
theoretisch eingefangen wird, kann die normative Theorie mit Erfolg
die Hegemonie realistischer Ansätze überwinden. Die Dissens-Theo-
rien hingegen gehen davon aus, eine überzeugende Vorstellung von
Demokratie zu bieten, wenn sie politische Konflikte in dezisionistischer
Manier dem Spiel irrationaler Kräfte überlassen. Sie übersehen dabei,
dass sie keine theoretische Handhabung besitzen, die Exklusion der
Ausgeschlossenen zu kritisieren und begründete Alternativen angeben
zu können.
Dieser kursorische Durchgang durch einige Ansätze der politi-
schen Theorie und Philosophie, die sich auf die eine oder andere Weise
mit den gegenwärtigen Herausforderungen befassen, muss an dieser
Stelle unvollständig bleiben. Dennoch lässt er einen beunruhigenden
Schluss zu: Die Verdrängung der Demokratie in der Praxis spiegelt sich
auf fatale Weise in der politischen Theorie wider. Wir sehen uns nicht
nur einer Krise demokratischer Politik gegenüber, sondern offensicht-

16
Micha Brumlik: »Neoleninismus und Postdemokratie«. In: Blätter 8 (2010), S. 105–
116.

236

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Die verdrängte Demokratie

lich auch einer Krise der politischen Theorie, da eine ganze Reihe pro-
minenter Positionen nicht adäquat auf die gegenwärtigen Probleme
reagieren. Das Verdrängen der Demokratie wird so noch einmal, psy-
choanalytisch gesprochen, in der Theorie verdrängt.

II. Warum Gesellschaftstheorie?

Die Frage, die sich unmittelbar anschließt, ist, wie die politische Theo-
rie vorgehen müsste, um einerseits den Herausforderungen eines glo-
balisierten Kapitalismus mit seinen desaströsen Nebenfolgen gerecht
zu werden, auf der anderen Seite aber die normativen Anforderungen
an die Demokratietheorie nicht so weit zu verwässern, dass von politi-
scher Selbstbestimmung der Bürger nicht viel mehr übrigbleibt als das
Skelett eines erlegten Tieres. Die politische Theorie, so meine These,
müsste sich vermehrt der Gesellschaftstheorie zuwenden, um Hand-
lungs- und Kommunikationsblockaden analysieren zu können, die
einer Demokratisierung im Wege stehen. Dies wiederum ließe dann
Rückschlüsse auf mögliche Demokratisierungspotentiale unter den ge-
gebenen gesellschaftlichen Bedingungen zu. Zunächst aber muss ich
erläutern, wieso überhaupt eine Verbindung zwischen politischer
Theorie und Gesellschaftstheorie für beide Seiten von Vorteil sein soll-
te. Ich denke, es sind vor allem vier Gründe, die für ein solches Vor-
gehen sprechen.
Erstens sehe ich in der Fokussierung auf Politische Theorie eine
unnötige Beschränkung, die den Ansprüchen sozialer Wirklichkeit
nicht gerecht wird. Die politische Theorie verschließt sich damit den
realen Voraussetzungen von Demokratie und der Frage danach, wer in
den politischen Prozess ein-, wer ausgeschlossen ist; welche Mechanis-
men zur gesellschaftlichen Exklusion führen; welche Hindernisse, wel-
che motivationalen, welche strukturellen Blockaden einer gleichen po-
litischen Teilnahme im Weg stehen. Nun könnte man einwenden, dass
eine Analyse gesellschaftlicher Bedingungen keine Auskunft über die
normative Richtigkeit von Prinzipien gibt, die einer begründeten De-
mokratievorstellung zugrunde liegen. Denn wie sollte man, so das klas-
sische Sein-Sollen-Problem, von den empirischen Bedingungen zu nor-
mativen Begründungen gelangen? Die Kritische Theorie hat darauf
von Anfang eine Antwort gegeben: Keineswegs nämlich erschöpft sich
die praktische Vernunft im bloßen Sollen, sondern entfaltet ihre Wirk-

237

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Regina Kreide

samkeit in der Wirklichkeit. Es ist die Aufgabe rekonstruktiver Wis-


senschaft, jene performativen, normativen Ideale herauszuarbeiten,
mit deren Hilfe die Verzerrungen des falschen Bewusstseins bloßgelegt
werden können. In der Habermas’schen Theorie artikuliert die rationa-
le Rekonstruktion die Voraussetzungen von kommunikativer Verstän-
digung, während die Gesellschaftskritik die Defizite tatsächlicher Ver-
ständigung in konkreten Situationen aufzeigt. 17 Dieses Vorgehen bietet
sich auch für die Demokratietheorie an. 18 Vor der Folie der Rekon-
struktion von Handlungs- und Kommunikationsblockaden lassen sich
zugleich mögliche Demokratisierungspotentiale bestimmen.
Zweitens ist Theorie ohne den Bezug zur Praxis nicht denkbar. Es
war maßgeblich das Verdienst von Marx und Horkheimer, dass die
transzendentale Philosophie überwunden wurde. Während für Hegel
die theoretische Reflexion im absoluten Wissen der Philosophie ihren
Abschluss findet, wandte sich Marx den wirklichen »materiellen« Pro-
zessen zu. Theorie selbst muss sich, wie dann Horkheimer hervorhob,
als einen Teil des Lebenszusammenhangs, den sie zu erfassen versucht,
beschreiben. 19 Damit reflektiert Theorie von vorneherein ihre eigenen
Bedingungen und versteht sich als Teil der Praxis, die sie beschreibt.
Konsequenterweise können Phänomene wie Ausbeutung, Entfrem-
dung, Ausgrenzung nicht in der Theorie, sondern nur in der Praxis
überwunden werden. 20 In anderen Worten: Theorie wird zur Praxis-
wissenschaft. Das ist zugleich nochmals der Hinweis auf die Schwäche
der ›idealistischen‹ Theorie.
Drittens bringt die Gesellschaftstheorie die Subjekt-Perspektive
wieder ins Spiel. Es ist Habermas, der Marx dafür kritisierte, nicht hin-
reichend zwischen empirischen und kritisch-reflexiven Formen der Er-
kenntnis unterschieden zu haben und der den selbst-reflexiven Cha-
rakter der Gesellschaftskritik hervorhebt. Im Akt der Selbstreflexion 21
17
Jürgen Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt
a. M. 1999, S. 187; Mattias Iser: »Rationale Rekonstruktion«. In: Hauke Brunkhorst/
Regina Kreide/Cristina Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart 2009, S. 364–
366, hier: S. 364.
18 Daniel Gaus: »Rational Reconstruction as a Method of Political Theory between So-

cial Critique and Empirical Political Science«. In: Constellations 20, 4 (2013), S. 553–
567.
19
Max Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie«. In: Zeitschrift für Sozial-
forschung 2 (1937), S. 245.
20
EI 14 ff., 84.
21 EI 14 ff.; Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung (s. Anm. 17), S. 215.

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Die verdrängte Demokratie

sieht sich das Subjekt als ein in den Zwängen von durchorganisierten
Arbeitsprozessen gefangenes, den Anforderungen einer hochtechni-
sierten, hoch mobilen Welt ausgeliefertes und politischer Machtlosig-
keit preisgegebenes Subjekt vor sich – und erkennt die katastrophale
Lage. Mit dieser Selbsterkenntnis beginnt die eigentliche theoretische
Arbeit. Denn es ist das Interesse, über die Alltagszwänge und die Be-
dingungen der Selbsterhaltung Bescheid zu wissen, das zu der berühm-
ten Einsicht geführt hat, dass eine radikale Erkenntniskritik nur als
Gesellschaftstheorie möglich ist. Theorie muss von einer Subjektper-
spektive ausgehen – nicht von den Strukturen, wie es die Governance-
Theorie propagiert.
Und schließlich kann Gesellschaftstheorie die generalisierende
Kraft der Negation nutzen. 22 Dann geht sie von einem Gefühl der Un-
gerechtigkeit aus 23, das sich in den ausgebeuteten Klassen, den unter-
drückten Völkern und den exkludierten Bevölkerungsteilen zeigt. In
der Theoriegeschichte wurde die reflexive Dynamik der Negation
meist ignoriert, obwohl es immer wieder Ausnahmen gab. Kant etwa
macht für die Begründung des Rechts die Rechtsverletzung stark, die
von jedem an jedem Ort der Welt empfunden werden kann. Negative
Gefühle haben, wie Adorno und Habermas wissen, einen kognitiven
Gehalt, der in ihrer Intersubjektivität begründet liegt. Wer in Wut ge-
rät, so Lutz Wingert, weil er ausgebeutet wird, hat einen guten Grund,
den er oder sie mit anderen teilen kann. Darum ist das moralische Ge-
fühl der Demütigung von Sklaven kein Ressentiment, sondern Aus-
druck von Ungerechtigkeit. 24 Gesellschaftstheorie geht dieser Kraft
der Negation nach, um mögliche Emanzipations- oder eben auch De-
mokratisierungspotentiale aufspüren zu können.
Mit der Gefahr der »Ohnmacht des Sollens«, dem notwendigen
Praxisbezug, der Erkenntniskraft des Subjektes sowie dem generalisie-
renden Potential der Negation sind nur einige methodologische wie
theoretische Gewinne einer Verbindung zwischen empirisch informier-
ter Gesellschaftstheorie und normativer politischer Theorie genannt.
Die sich anschließende Frage ist nun, welche Theorie für eine Zusam-

22 Hauke Brunkhorst: »Neustart – Kritische Theorie Internationaler Beziehungen«. In:


Zeitschrift für Internationale Beziehungen 17 (2010), S. 293–315.
23
Barrington Moore Jr.: Injustice: The Social Bases of Obedience and Revolt. London
1978; Judith Shklar: The Faces of Injustice (Storrs Lecture on Jurisprudence 1988). New
Hampshire 1992.
24 Lutz Wingert: Gemeinsinn und Moral. Frankfurt a. M. 1993, S. 79.

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Regina Kreide

menführung beider Perspektiven in Frage kommt. Anbieten würde sich


zum einen die Systemtheorie, zum anderen die Kritische Theorie. 25 Es
ist allein die Kritische Theorie, und besonders ›Die Theorie des kom-
munikativen Handelns‹ von Jürgen Habermas, die, ausgehend von ge-
sellschaftlichen Problemen, eine Verbindung von Gesellschaftsanalyse
und reflexiver Praxis aus normativer Sicht offeriert.

III. Die ›Kolonialisierungsthese‹ revisited

Die Theorie des kommunikativen Handelns, die Jürgen Habermas 1981


vorlegte, gilt heute als Klassiker der Sozialphilosophie und Soziologie.
Dennoch könnte man meinen, das ›Klassiker-Dasein‹ tue dem Werk
nicht sonderlich gut, denn die Rezeption wichtiger Thesen des Werkes
findet gegenwärtig in durchaus überschaubarem Rahmen statt. 26 Zu
Unrecht, wie mir scheint. Gerade mit der »Kolonialisierungsthese«
kann man erneut einen kritischen Blick auf die gegenwärtigen gesell-
schaftlichen Bedingungen eines gelingenden Lebens werfen. Diese Be-
hauptung bedarf der genaueren Erläuterung. Ich möchte zunächst in
gebotener Kürze die ›Kolonialisierungsthese‹ wieder in Erinnerung
rufen (1) und dann vier, zugegebenermaßen eher kursorisch dargestell-
te Formen gegenwärtiger Kolonialisierungen und ihre Folgen analysie-
ren (2).
1) Modernisierungsprozesse führen zwangsläufig zu Freiheitsver-
lusten. Habermas knüpft damit unmittelbar an Max Webers pessimis-
tische Diagnose an. Es sind vor allem Rationalisierungsprozesse, wie
etwa die Differenzierung der Lebenswelt, die Dezentrierung des Welt-

25 Brunkhorst: Neustart (s. Anm. 22).


26 Ausnahmen sind unter anderem Harald Müller: »Internationale Beziehungen als
kommunikatives Handeln. Zur Kritik der utilitaristischen Handlungstheorien«. In:
Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1, 1 (1994), S. 15–44; Rainer Schmalz-
Bruns: »Die Theorie des kommunikativen Handelns – eine Flaschenpost? Anmerkun-
gen zur jüngsten Theoriedebatte in den Internationalen Beziehungen«. In: Zeitschrift
für Internationale Beziehungen 2, 2 (1995), S. 347–370. Zum 25jährigen Geburtstag
der Theorie des kommunikativen siehe Robin Celikates/Arnd Pollmann: »Baustelle
der Vernunft, 25 Jahre Theorie des kommunikativen Handelns – Zur Gegenwart eines
Paradigmenwechsels«. In: WestEnd 3, 2 (2006), S. 97–113 und jüngst Brian Milstein:
Commercium. Critical Theory from a Cosmopolitan Point of View. Unver. Manuskript.
2013 sowie David Strecker: Spätkapitalismus 2.0: Überlegungen zum Strukturwandel
der Kolonialisierung der Lebenswelt. Unver. Manuskript 2013.

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Die verdrängte Demokratie

verständnisses und die Formalisierung von Weltbildern, die zur He-


rausbildung verschiedener »formaler Weltkonzepte« (objektive, sozia-
le, subjektive Welt) und analog zu entsprechenden Rationalitätsstan-
dards (Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit) geführt haben (TkH II
191). Bei Habermas sind die Rationalisierungsprozesse jedoch stärker
als noch bei Weber paradoxer Natur (TkH II 277 ff.). Sie ermöglichen
einerseits, dass moderne Gesellschaften ein höheres Maß an Komple-
xität entwickeln können. Andererseits jedoch führen sie dazu, dass die
soziale Ordnung in Lebenswelt und System auseinandertritt. 27
Die systemischen, organisationsförmigen und mediengesteuerten
Bereiche drängen lebensweltliche normenkonforme Einstellungen und
identitätsbildende soziale Zugehörigkeiten in den Hintergrund. Für die
Handelnden werden die rein zweckrational organisierten Sphären
Markt und Staat »wie zu einem Stück naturwüchsiger Realität – in
den Subsystemen zweckrationalen Handelns gerinnt die Gesellschaft
zur zweiten Natur« (TkH II 231). Zwangsläufig besitzen daher die öko-
nomischen und staatlichen Sphären erheblichen Einfluss auf lebens-
weltliche Zusammenhänge. Dieser Prozess der ›Kolonialisierung der
Lebenswelt‹ (TkH II 471) zeigt sich vor allem dann, wenn die Hand-

27 Die Lebenswelt beschreibt Habermas als Sinnstruktur, als »Vorrat an Deutungsmus-


tern« (TkH II 189), mit denen die Subjekte ihre Handlungen koordinieren (TkH II 187).
Die Lebenswelt lässt sich nicht, wie systemisch integrierte Teile der Gesellschaft, ein-
seitig auf rein zweckrationales Handeln reduzieren. Die Dimensionen »Kultur«, »Ge-
sellschaft« und »Personen« beschreiben gesellschaftliche Bereiche, die für die kulturelle
Reproduktion, die soziale Integration und die personale Sozialisation zuständig sind. Es
sind Bereiche symbolischer Reproduktion, die durch kommunikatives Handeln be-
stimmt werden. Der systemische Bereich der Gesellschaft hingegen hat sich, wie auch
schon Durkheim, Weber und Parsons beschrieben, mit der zunehmenden Komplexitäts-
steigerung moderner Gesellschaften aus dem lebensweltlichen Bereich herausgebildet.
Wirtschaft und Staat, die beiden zentralen ›Subsysteme‹ werden nicht mehr mithilfe
eines kommunikativ zu erzielenden Einverständnisses koordiniert, sondern durch die
beiden entsprachlichten Medien Geld und administrative Macht. In den Subsystemen
haben sich die systemischen Zusammenhänge zu »normfreien Strukturen« verdichtet.
Zur Kritik an der Unterscheidung Lebenswelt und System aus Sicht der Handlungs-
theorie siehe Hans Joas: »Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalis-
mus«. In: Axel Honneth/Hans Joas (Hrsg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu
Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«. Frankfurt a. M. 1986,
S. 144–176. Eine Überbetonung systemischer Aspekte, die Habermas’ eigene Vorstel-
lungen von Demokratie unterminieren, sieht Thomas McCarthy: »Komplexität und
Demokratie – die Versuchungen der Systemtheorie«. In: Honneth/Joas (Hrsg.): a. a. O.,
S. 177–215.

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Regina Kreide

lungskoordinierung nicht mehr auf Verständigung basiert, sondern


durch Geld und administrative Macht ersetzt wird und damit auch die
Möglichkeit normativer und expressiver Ausdrucksformen marginali-
siert wird. Kultureller Sinn, gesellschaftliche Solidarität und persön-
liche Ich-Stärke können nur auf Grundlage eines Einverständnisses
ausgebildet werden. Doch wenn die Monetarisierung durch Markt-
imperative und die Bürokratisierung durch staatliche Steuerungsver-
suche nicht nur lebensweltliche Zusammenhänge bestimmen, was
nicht ausbleibt, sondern auch kommunikatives Handeln ersetzen,
kommt es zu pathologischen Veränderungen lebensweltlicher Hand-
lungszusammenhänge. Die Privatsphäre, weite gesellschaftliche Berei-
che und auch die Öffentlichkeit werden den strukturfremden Medien
des Geldes und der administrativen Macht unterworfen: Privatper-
sonen werden zu Konsumenten des Marktangebots, Staatsbürger zu
Leistungsempfängern des Wohlfahrtsstaates, und die Gesellschaftsmit-
glieder sind der Gefahr ausgesetzt, dass ihre politische und soziale
Autonomie massiv durch sozialpathologische Erscheinungen wie Iden-
titätskrisen und Entfremdungsphänomene beeinträchtigt wird. Die
»Verödung der kommunikativen Kapazitäten der Lebenswelt« 28 hat
viele Facetten:
»Die Instrumentalisierung der Berufsarbeit, der Verlängerung von Konkur-
renz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule, der Monetarisierung von
Diensten, Beziehungen und Lebenszeiten, der konsumistischen Umdefinition
des persönlichen Lebensbereichs […], die Bürokratisierung und Verrecht-
lichung von privaten, informellen Handlungsbereichen, vor allem die poli-
tisch-administrative Erfassung von Schule, Familie, Erziehung, kultureller
Reproduktion überhaupt – diese Entwicklungen bringen eine neue Problem-
zone zu Bewußtsein, die an den Grenzen zwischen ›System‹ und ›Lebenswelt‹
entstanden ist.« 29
Die Bürger leiden an Verunsicherung, sozialer Entfremdung und Ich-
Störungen (TkH II 216). Doch die deformierenden Eingriffe in die Le-
benswelt durch Geld und Macht sind nur ein Aspekt der Kolonialisie-
rungsthese. Ein zweites, aber mindestens ebenso wichtiges Element der
These wird häufig vernachlässigt. 30 Die Bürger, so Habermas, können

28
Jürgen Habermas: Kleine Politische Schriften I–IV. Frankfurt a. M., S. 432.
29 Habermas: Kleine Politische Schriften (s. Anm. 28), S. 432.
30
Nicht so Celikates/Pollmann: Baustelle der Vernunft (s. Anm. 26); David Strecker/
Mattias Iser: Jürgen Habermas zur Einführung. Hamburg 2010.

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Die verdrängte Demokratie

die Ursachen ihres Leidens nur schwer erkennen. Und die Frage ist,
woran dies liegt. Die Erklärung ist, dass die Kolonialisierung die Assi-
milation an bestehende Strukturen erzwingt, aber dieses Spiel von
Markt und Bürokratie angesichts zerstreuter kultureller Perspektiven
von den Bürgern nicht mehr durchschaut werden kann. Zu sehr sind
wir in den Fängen systemischer Logik verstrickt, zu sehr hat bereits das
zweckrationale Denken die letzten Poren gesellschaftlichen Lebens
durchdrungen. Die Aufklärung über das eigene Leiden wird durch »den
Mechanismus der Verdinglichung« verhindert (TkH II 522). Für Ha-
bermas bietet es sich an, da man nicht mehr vom ›falschen‹ Bewusstsein
sprechen kann, vom fragmentierten Bewusstsein auszugehen. Er nennt
dies die »kulturelle Verarmung« (TkH II 522). Anstelle des verloren-
gegangenen revolutionären Bewusstseins tritt die Suche nach dem ver-
lorenen vitalen Alltagsbewusstsein in einer rationalisierten Welt.
Nun liegt es nahe einzuwenden, diese Diagnose der Kolonialisie-
rung und der kulturellen Verarmung sei den damaligen Entwicklungen
geschuldet. Es könne nicht überraschen, dass unter dem Eindruck key-
nesianischer Theorie Anfang der 1970er Jahre die Annahme vorherr-
schend war, ökonomische Krisen könnten durch politische Eingriffe
und Korrekturen aufgefangen und überwunden werden – mit den ent-
sprechenden kolonialisierenden Nebenfolgen. In der Tat sieht die Si-
tuation mit Blick auf die bereits eingangs erwähnten weltgesellschaft-
lichen Probleme in mancher Hinsicht anders aus: das globale Kapital ist
eine Verbindung mit dem ebenso globalisierten Privatrecht eingegan-
gen und diktiert den ökonomischen ›Fortschritt‹ ; der Finanzmarkt hat
sich weitestgehend unkontrolliert verselbstständigt; die nationalstaat-
liche Politik ist auf vielen Gebieten entmachtet, der Sozialstaat ausge-
höhlt und einem neuen, marktgängigen Paradigma des ›aktivierenden
Staates‹ unterworfen. Was kann nun die These von der ›Kolonialisie-
rung der Lebenswelt‹ durch bürokratische und rechtliche Übergriffe
eines steuernden Staates für die gegenwärtige Untersuchung leisten?
Der heuristische Wert der Kolonialisierungsthese wird besonders
dann deutlich, wenn man sie perspektivisch vom Nationalstaat löst und
für eine Analyse globaler systemischer Prozesse und deren Auswir-
kungen auf lebensweltliche Zusammenhänge mobilisiert. Ich möchte
zunächst vier Aspekte neuer Kolonialisierungsformen skizzieren, die
ein neues Licht auf globale Ökonomisierung, Verrechtlichung und Bü-
rokratisierung werfen können.

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Regina Kreide

a) Ökonomische und emotionale Ausbeutung

Gegenüber den 1970er-Jahren hat der Kapitalismus (einmal mehr) ein


neues Gesicht angenommen. Hatte der Keynesianismus einen sozial-
staatlich eingebetteten Kapitalismus kreiert, der unter den Anforde-
rungen der Globalisierung versagen musste, so passt die neoliberale
Ideologie scheinbar mühelos zu einem globalen Kapitalismus, dem die
politischen Verfassungen ohnehin im Wege waren und der Investitio-
nen versprach, die die ›öffentliche Hand‹ nicht mehr aufzubringen ver-
mochte. Der Staat ist inzwischen zum ›market embedded state‹ ge-
worden. 31 Ausbeutungsverhältnisse, auch wenn sie nie verschwunden
waren, erhalten durch ›sweatshops‹, unterbezahlte Minijobs, Zeitver-
träge und unbezahlte Praktika eine neue Dimension. Marx zufolge ver-
steht man unter Ausbeutung, dass sich die Eigentümer der Produkti-
onsmittel durch Verkauf des hergestellten Produktes auf Kosten der
Arbeiter bereichern, da diese nur für die entrichtete Arbeit entlohnt
und nicht am Gewinn beteiligt werden. Kapitalistische Gesellschaften
lassen sich demnach als inhärent ungerecht verstehen, da manche
Menschen keine Alternative besitzen, als ihre Fähigkeiten allein für
die Ziele und Vorteile anderer zu entwickeln und einzusetzen. 32
Inzwischen dringt die Ausbeutung allerdings auch in gesellschaft-
liche Bereiche vor, die zuvor nicht durch den Markt in dieser Weise
unterworfen waren. In der häuslichen Alten- und Kinderpflege mani-
festiert sich eine globale Art der Monetarisierung von Interaktion, die
auf die emotionale Seite der Arbeiterinnen abzielt. Dabei verläuft die
Grenze zwischen denen, die ausbeuten, und denen, die ausgebeutet
werden, nicht nur zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen,
sondern zwischen einer globalen Elite und globalen Arbeitern. Ein Bei-
spiel ist die ›globale Service-Industrie‹. 33 Haushaltsarbeit in wohl-
habenden Industriestaaten – es sind allein 6,5 Millionen Philippinnen,

31 Hauke Brunkhorst: Legitimationskrisen. Verfassungsprobleme der Weltgesellschaft.


Baden-Baden 2012, S. 244.
32 Iris Marion Young: »Fünf Formen der Unterdrückung«. In: Herta Nagl-Docekal/Her-

linde Pauer-Studer (Hrsg.): Politische Theorie, Differenz, Lebensqualität. Frankfurt


a. M. 1996, S. 99–139, hier: S. 113.
33
Brigitte Young: »Financial Crises and Social Reproduction: Asia, Argentinia and Bra-
zil«. In: Isabella Baker/Stephen Gill (Hrsg.): Power, Production and Social Reproduc-
tion: Human In/Security in the Global Political Economy. Basingstoke 2003, S. 103–
124, hier: S. 116.

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Die verdrängte Demokratie

die als Haushaltshilfen und Kinderfrauen in privaten Haushalten in


den USA, Europa, Hongkong oder Saudi-Arabien arbeiten – ist für die
Immigrantinnen oft die einzige Möglichkeit, wenigstens so viel Geld
zu verdienen, dass die Familie zu Hause überleben kann und ein oder
vielleicht mehrere Kinder eine Ausbildung erhalten können. 34 Und für
das Herkunftsland ist die nötige Devisenbeschaffung darüber hinaus
besonders attraktiv. Auf der aufnehmenden Seite sind Immigrantinnen
zu einem entscheidenden Faktor in der Kosten- und Zeitkalkulation
von Familien geworden, in denen beide Partner arbeiten möchten oder
müssen. Wie schwierig die Gratwanderung zwischen ökonomischem
Freiheitsgewinn und Ausbeutung ist, zeigt sich mit Blick auf das emo-
tionale Engagement der Fürsorgekräfte. Der Umgang mit den Kindern
des Arbeitgebers erinnert die Kinderfrauen täglich an ihre eigenen
Kinder, die sie nicht mitnehmen können und die zu Hause entweder
von den Großeltern, nahen Verwandten oder wiederum Kinderfrauen
betreut werden. Die Frauen ›übertragen‹ die Fürsorge auf die fremden
Kinder – was für die aufnehmende Familie ein Glücksfall, für die Ar-
beiterinnen, wie Studien von Rhacel Parreñas zeigen, ein Alptraum
ist. 35 Im Kontext eines gravierenden Armut-Reichtumsgefälles werden
Pflege und affektive Zuwendung zur Ware. Das eigene Familienleben
muss den globalen ökonomischen Zwängen untergeordnet werden.
Gegenwärtige Ausbeutung im Zuge eines globalen Service-Kapitalis-
mus hat nicht nur eine rein monetäre Seite. Ausgebeutet werden auch
emotionale Ressourcen, die zum ›Mehrwert‹ der angebotenen Arbeit
werden. 36 Daher unterliegen auch affektive Bindungen vermehrt der
Sprache von Effizienz und Kosten-Nutzen-Kalkulation. Und utilitaris-
tische Überlegungen, die eine bessere Zukunft der eigenen Kinder im

34 65 % aller Immigranten aus Indonesien sind Frauen, ähnlich hoch liegt der Anteil der
Frauen bei philippinischen Immigranten im Unterhaltungsbereich und in der Haus-
arbeit, ebd.
35 Rhacel Salazar Parreñas: Servants of Globalization. Women, Migration, and Domes-

tic Work. Stanford, California 2001; Arlie R. Hochschild: »Global Care Chains and
Emotional Surplus Value«. In: Anthony Giddens/Will Hutton (Hrsg.): On the Edge:
Globalization and the New Millennium. London 2000, S. 130–146; Susanne Schwal-
gin/Helma Lutz: Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im
Zeitalter der Globalisierung. Opladen 2006.
36
Annette Treibel: »Migration als Form der Emanzipation? Motive und Muster der
Wanderung von Frauen«. In: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hrsg.): Zuwan-
derung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheiten-
politik. Opladen 2003, S. 93–110, hier: S. 103.

245

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Regina Kreide

Blick haben, müssen den Verlust eben jener Kinder im Aufnahmeland


überdecken helfen.
Eine ähnliche Verdrängung sprachlicher Verständigung in Nahbe-
ziehungen zeigt sich in den globalen Anforderungen an den flexiblen,
allzeit einsetzbaren und hochmobilen Arbeitnehmer. Schon längst ge-
hört es zu einem globalen Anforderungsprofil, dass Arbeitnehmer der
Arbeit und dem gewünschten Gehalt hinterherziehen und sie auf die
Arbeitsbelastungen und Arbeitsanforderungen flexibel reagieren. 37 Die
schier grenzenlose Mobilitätsunterstellung setzt Familie, Freundschaf-
ten, Liebesbeziehungen und Zukunftsplanungen einem enormen
Druck aus. Der ›flexible Mensch‹ (Sennett) bezahlt einen hohen Preis:
eine Spirale aus Erschöpfung und Selbstoptimierung, den Verlust be-
lastbarer und emotional stabiler Beziehungen bei gleichzeitigem, un-
einholbaren Freiheitsversprechen. 38 Unter solchen Arbeitsbedingun-
gen werden Zeit und Kontextwissen zur knappen Ressource und
damit zum entscheidenden Faktor des meist ausbleibenden öffentlichen
Engagements. Globale Arbeitsverhältnisse mit hoher geographischer
Flexibilität – was das obere und mittlere Management ebenso betrifft
wie die Pflegekraft und die Kinderfrau – hindern Menschen daran, sich
mit lokalen Begebenheiten auseinanderzusetzen. 39

b) Kulturelle Ökonomisierung

Eine andere Form der Ökonomisierung zeigt sich mit Blick darauf, wie
kulturell eingelebte Handlungsmuster, die die Verteilung öffentlicher
Güter betreffen, durch Marktimperative ersetzt werden. Die Moneta-

37 Martin Hartmann/Axel Honneth: »Paradoxien des Kapitalismus«. In: Berliner De-


batte Initial 15, 1 (2004), S. 4–17.
38
Sighard Neckel/Greta Wagner: »Erschöpfung als »schöpferische Zerstörung«. Bur-
nout und gesellschaftlicher Wandel.« In: dies. (Hrsg.): Leistung und Erschöpfung. Ber-
lin 2013, S. 203–218.
39 Franz Walter/Felix Butzlaff/Stine Marg/Lars Geiges (Hrsg.): Die neue Macht der

Bürger. Was motiviert die Protestbewegungen? (BP-Gesellschaftsstudie), Hamburg


2013. Eine kleinere Untersuchung von Claudia Landwehr zeigt wiederum, dass Bürger
aller Alters- und Bildungsschichten sich auf lokaler Ebene sehr wohl politisch engagie-
ren möchten, selbst dann, wenn es ›nur‹ um Verfahrensfragen geht. Claudia Landwehr:
»Die Diagnose ohne den Patienten gestellt. Anmerkungen zu Postdemokratie und Bür-
gerbeteiligung«. In: Politische Vierteljahresschrift (PVS) 55, 1 (2014), S. 18–32, im Er-
scheinen.

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Die verdrängte Demokratie

risierung hat sich mittlerweile auch auf gesellschaftliche Ressourcen


ausgebreitet, die zuvor entweder als nicht vermarktbar galten – wie
das menschliche Genom – oder die als gemeinschaftliches Gut angese-
hen wurden, wie etwa Boden oder Trinkwasser. Am Beispiel des Trink-
wassers lässt sich die (Teil-)Privatisierung, die unter neoliberalen Vor-
zeichen in den 1980er und vor allem 1990er-Jahren stattfand, gut
nachzeichnen. In vielen Entwicklungsländern wurde von internationa-
len Finanzorganisationen die Vergabe von Krediten und Finanzhilfen
an eine wirtschaftliche Liberalisierung und die Verkleinerung des als
aufgebläht empfundenen Staatsapparats geknüpft. Davon betroffen
war auch die bis dato überwiegend öffentlich betriebene Wasserversor-
gung, die vielfach unter Missmanagement, Korruption und chronisch
leeren Kassen litt. 40 Wassermultis wie Suez Environment, Véolia,
RWE, erhofften sich große Gewinnchancen und wurden aktiv: Gab es
Anfang der 1990er Jahre kaum eine private Beteiligung bei der Wasser-
und Abwasserversorgung in Entwicklungsländern (und auch nicht in
Industrieländern), so waren nur zehn Jahre später in der Hälfte aller
Länder weltweit private Unternehmen involviert. 41 Auch die Stadt Ber-
lin hat schlechte Erfahrung mit der Privatisierung des Trinkwassers
gemacht. 42
Die neuen Formen der Wasserversorgung führten zu einer Ver-
änderung und Zerstörung bisheriger, eingespielter Praktiken der Was-
serversorgung, besonders deutlich etwa in Bolivien. Wo es zuvor ein
Gemeinschaftsrecht auf Wasser gab und Dorf- und Kleinstadtgemein-
schaften ihre eigenen, funktionierenden Regeln der Verteilung be-
saßen, die auf die Befriedigung des Allgemeininteresses abzielten,
herrschten in kurzer Zeit Gewinnmaximierung und Marktanpassungs-
überlegungen vor. Schon nach wenigen Jahren allerdings erlitt die
»marktbasierte« Wasserreform erste Rückschläge – genährt durch Bei-
40
Zugleich versuchte die Weltbank, private Anbieter zu notwendigen weltweiten In-
vestitionen von 60 bis 79 Milliarden US-Dollar zu bewegen, indem sie langfristige Kon-
zessionsverträge und Kostendeckung in Aussicht stellte. Nicht zuletzt auf der Dublin-
Konferenz 1992 wurde Wasser zum Wirtschaftsgut deklariert, und es wurden die Be-
dingungen für seine Vermarktung geschaffen, Regina Kreide/Michael Krennerich: »Das
Menschenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung: Vereinbar mit Privatisierungen im
Wassersektor?«. In: dies./Tessa Debus et al (Hrsg.): Zeitschrift für Menschenrechte 2
(2010), S. 166–175.
41 Petra Dobner: Zur politischen Theorie, Praxis und Kritik globaler Governance.

Frankfurt a. M. 2010.
42 Ebd. S. 149.

247

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Regina Kreide

spiele misslungener privater Beteiligungen, bei denen es zu Bestechun-


gen kam, keine transparente Rechenschaftslegung des Staates und der
Unternehmen gegenüber der Bevölkerung erfolgte, die Investitionen
und die Versorgungsreichweite hinter den Versprechungen zurückblie-
ben und die Preise für arme Konsumenten mitunter ins Unerschwing-
liche stiegen. Und auch die von der EU zunächst vorgesehene europa-
weite Ausschreibungspflicht für Konzessionen wurde auf Eis gelegt. 43
Dennoch sind dies nur Zwischenerfolge. Die Umdeutung des Wassers
von einem Gemeinschafts- zu einem Wirtschaftsgut hat bereits eine
kulturelle Ökonomisierung verursacht, bei der öffentliche und gut
funktionierende kulturelle Praktiken zerstört wurden. 44

c) Verrechtlichung

In der Theorie des kommunikativen Handelns, wie auch in Habermas’


späterem Werk Faktizität und Geltung, spielt das Recht im Rahmen
von Kolonialisierungsprozessen eine ambivalente Rolle. Als moralnahe
Rechtsnorm, etwa in Form von Verfassungsrechten, Prinzipien des
Straf- und des Strafverfahrensrechts, bietet es Ermöglichungsbedin-
gungen für staatsbürgerliche Partizipation und schafft die notwendigen
Freiräume für die Uminterpretation tradierter kultureller Überliefe-
rungen. Auf der anderen Seite dient das Recht als Organisationsmittel
für mediengesteuerte Subsysteme und erstreckt sich auf formal orga-
nisierte Handlungsbereiche, die sich gegenüber den normativen Kon-
texten des verständigungsorientierten Handelns verselbstständigt ha-
ben (TkH II 536).
Die Ermöglichungsbedingungen politischer Partizipation können
unter globalisierten Bedingungen nicht mehr in gleicher Weise ausge-
macht werden. Ausgehend von einer innergesellschaftlichen, funktio-
nalen Differenzierung, haben sich transnationale Rechtssysteme
bereichsspezifisch pluralisiert. 45 Dies führt zur Herausbildung hege-

43 EU lenkt ein bei Wasserprivatisierung, Süddeutsche Zeitung vom 21. Juni 2013, ab-
rufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/reaktion-auf-buergerinitiative-
eu-lenkt-bei-debatte-um-wasserprivatisierung-ein-1.1702673 (zuletzt abgerufen am
2. Februar 2014).
44 Hans Achterhuis: De Utopie van de vrije markt. Amsterdam 2010, S. 257.

45
Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner: Regime-Kollisionen. Zur Fragmentie-
rung des globalen Rechts. Frankfurt a. M. 2006.

248

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Die verdrängte Demokratie

monialer und pluralisierter Rechtsstrukturen. Diese funktionale Plura-


lisierung des Rechts hat nicht etwa die Partizipationsmöglichkeiten
kleinerer politischer Akteure wie NGOs gestärkt. Vielmehr haben sich
die bisherigen Machtkonstellationen zugunsten der ›global players‹
verschoben und damit zu einer Entpolitisierung geführt. Besonders
deutlich wird dies an einer zunehmenden Inkongruenz von Rechts-
autoren und Rechtsadressaten auf transnationaler Ebene. 46 Es gilt als
historische Errungenschaft, dass es im demokratischen Verfassungs-
staat bei der Erzeugung primärer und sekundärer, das Verfahren be-
treffender Normen keinen ausgesparten Bereich gibt, der den Norm-
setzungsaktivitäten der Bürger entzogen wäre. Genau das aber ist auf
transnationaler Ebene gegenwärtig der Fall. Während im demokrati-
schen Verfassungsstaat die politische Autonomie neben der Sicherung
der privaten Autonomie die gesellschaftliche Inklusion sicherte, löst
sich durch die Pluralität der Rechtssysteme die Kongruenz von Rechts-
autoren und Rechtsadressaten auf. Internationale Organisationen wie
die Welthandelsorganisation (WTO), die Weltbank, der Internationale
Währungsfonds (IWF) und auch die EU vertreten durch die Interessen
ihrer Mitgliedsstaaten wenigstens indirekt den Willen ihrer Bürger.
Dies trifft auf nichtstaatliche Akteure wie transnationale Unternehmen
und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nicht mehr zu. Interna-
tionales Recht – etwa die Lex mercatoria – wird zum hegemonialen
Recht, das heißt zum Recht, das ohne hinlängliche und direkte Reprä-
sentation aller betroffenen Interessen auf nationalstaatliche Anliegen
zugreift. 47
Die Verrechtlichung besitzt allerdings noch weitere negative ›Be-
gleiterscheinungen‹. Durch eine stärkere Privatisierung der internatio-
nalen Beziehungen kommt es nicht zu verbindlicheren Rechtsregeln,
sondern, im Gegenteil, zu einer schleichenden Entrechtlichung. Ein
Aspekt ist die sogenannte Entformalisierung des Rechts. Gerade die
Ausweitung des Rechts auf inhaltlich unbestimmtes und damit entfor-
malisiertes Privatrecht treibt dessen willkürliche Auslegung und poli-

46 Jürgen Habermas: Im Sog der Technokratie. Berlin 2013, S. 77.


47
Anders als Bill Scheuerman in seinem erhellenden Aufsatz in Constellations 2013
bin ich der Ansicht, dass Habermas auch in Faktizität und Geltung ›Verrechtlichung‹
nicht mit ›Kapitalismuskritik‹ gleichsetzt; William Scheuerman: »Capitalism, Law, and
Social Criticism«. In: Constellations 20, 4 (2013), S. 571–586.

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Regina Kreide

tische Instrumentalisierung voran. 48 Ihr Antrieb sind Privatisierungs-


prozesse im Gesundheits-, Bildungs-, Medien-, Energie-, Sicherheits-
und Militärbereich. Sie führen zu einer »grenzenlosen Selbstermächti-
gung« der ohnehin ökonomisch mächtigen Akteure 49, da Rechtsset-
zungen nicht an Verfahrensregeln gebunden sind und globale, nicht-
staatliche Akteure selbst Recht setzen und neue Tatbestände auf dem
Gebiet des Arbeit-, Sozial- und Gesundheitsrecht schaffen.
Die Entrechtlichung verläuft dabei nicht ausschließlich rechts-
immanent, was ein weiteres Problem mit sich bringt. Politische Macht
und Markt gehen eine Verbindung ein, die, ohne auf legalem Macht-
erwerb zu basieren, die funktionale Differenzierung zwischen Recht
und Unrecht, Regierung und Opposition, Haben und Nichthaben über-
lagert. 50 Der Ausschluss großer Teile der Weltbevölkerung vom Zu-
gang zu Geld, Wissen, Macht und gerichtlichen Klagemöglichkeiten
zeugt davon, dass die Differenzen von Exklusion und Inklusion zu
einem entscheidenden Maßstab für die Beschreibung der Ent- und Ver-
rechtlichungsprozesse geworden sind. Kolonialisierung bedeutet hier,
dass entformalisiertes, unbestimmtes Recht diejenigen, die nicht ein-
mal mehr über die Bereitstellung ihrer Arbeitskraft verfügen und auf
die wechselseitige Abhängigkeit von Arbeit und Kapital bauen können,
aus dem Rechtssystem völlig ausgeschlossen werden. Die Verrecht-
lichung transnationaler, politischer Prozesse reduziert nicht nur die
sprachlichen Möglichkeiten politischer Beteiligung auf einseitige
Rechtsformeln, sie führt auch zum Ausschluss von Bürgern, die nicht
in der Sprache des Rechts zu Hause sind.

d) Bürokratisierung und staatliche Kontrolle

Die Kolonialisierung lebensweltlicher Zusammenhänge hat sich nicht


allein global ausgeweitet, sondern auch innerstaatlich verändert. Das
lässt sich anhand der Bürokratisierung sozialstaatlicher Leistungen zei-

48 Martti Koskenniemi: »Global Governance and Public International Law«. In: Kriti-
sche Justiz 37, 3 (2004), S. 241–254.
49 Ingeborg Maus: »Vom Nationalstaat zum Globalstaat oder: der Niedergang der De-

mokratie«. In: Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hrsg.): Weltstaat oder Staa-


tenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik. Frankfurt a. M. 2002, S. 226–259,
hier: S. 255.
50 Hauke Brunkhorst: Solidarität. Frankfurt a. M. 2002, S. 166.

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Die verdrängte Demokratie

gen. Man könnte meinen, dass in Zeiten von Hartz IV, gravierender
Sparparolen und der Rede vom schlanken, nicht mehr intervenieren-
den, sondern nur noch moderierenden Staat die Bürokratisierung zu-
rückgegangen oder gar keine besondere Aktualität mehr besäße. Aber
das ist nicht Fall. Inzwischen befinden wir uns, mit Berthold Vogel
gesprochen, im »Nachmittag des Wohlfahrtsstaates«. 51 Ende der
1970er Jahre, als durch die Ölkrise dem Wohlfahrtsstaat die Geldquelle
wegbrach, fand ein Paradigmenwechsel statt. Statt im Wohlfahrtstaat
leben wir nun in der ›Aktivierungsgesellschaft‹. 52 Das Paradigma ist
nicht mehr, eine materielle Kompensation dafür zu erhalten, dass man
vorübergehend nicht oder gar nicht mehr in den Markt integriert ist.
Vielmehr sind nun die Verantwortung des Einzelnen und dessen Enga-
gement, sich selbst zu integrieren, zentral.
Die staatliche ›Aktivierungsverordnung‹ greift dabei direkt auf die
Subjektebene durch: Dem Einzelnen wird nicht nur zugemutet, seine
Lebensplanung unabhängig von den sozialen Umständen zu verant-
worten, sondern seine Aktivitäten so auszurichten, dass sie sowohl im
Einklang mit ökonomischen Anforderungen stehen als auch Vorstel-
lungen der Gemeinschaft bedienen. Jeder ist aufgefordert, sich zu en-
gagieren und präventiv gegenüber möglichen zukünftigen misslichen
Situationen zu versichern und dem anderen nicht ›auf der Tasche zu
liegen‹. 53 Diente sozialstaatliche Unterstützung ursprünglich der ›De-
kommodifizierung‹, die eine teilweise Unabhängigkeit der gesellschaft-
lichen Stellung vom Marktgeschehen sichern sollte, so ist nun der
Sozialstaat selbst immer mehr kommodifiziert. Die sozialstaatlichen
›Aktivierungsprogramme‹ haben dabei nicht dazu geführt, dass die Re-
gelungsdichte und die staatliche Verwaltungstätigkeit abgenommen
hätten. Vielmehr ist der Staat durch ein dichtes Netz an Kontrollen
von Arbeitslosen und Beziehern von ALG 2 etwa durch Mittelkür-
zungsandrohungen, Hausbesuche, Meldungspflichten präsenter denn
je. 54 Das greift Hand in Hand mit staatlichen, regionalen und übersee-

51 Berthold Vogel: »Der Nachmittag des Wohlfahrstaates. Zur politischen Ordnung ge-
sellschaftlicher Ungleichheit«. In: Mittelweg 36, 13, 4 (2004), S. 36–55.
52 Stephan Lessenich: »Mobilität und Kontrolle«. In: Klaus Dörre/Stephan Lessenich/

Hartmut Rosa (Hrsg.): Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Frankfurt a. M. 2009. S. 126–


180.
53 Ebd. S. 126 ff.

54
Vogel: Nachmittag des Wohlfahrtsstaats (s. Anm. 51); Lessenich: Mobilität und
Kontrolle (s. Anm. 52), S. 150.

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Regina Kreide

ischen Überwachungsaktivitäten und elektronischer Datenspeiche-


rung. 55
Die Kontrolle der ›Leistungsempfänger‹ (und nicht nur der) lässt
die staatliche Überwachung fast unbemerkt weiter ins Alltagsleben
vordringen. Sicher könnte man an dieser Stelle einwenden, dass der
Zuwachs an Selbstverantwortung die Kehrseite eines Autonomiege-
winns ist, der sich in der Aktivierungsgesellschaft einstellen soll. Doch
dieser »Autonomiegewinn« ist teuer bezahlt: Der verrechtlichte Sozi-
alstaat der 1970er Jahre würdigte den Bürger zum Klienten herab, des-
sen Verhältnis zum Recht jedoch noch äußerlich blieb. Nun haben Bü-
rokratisierung und Kontrolle eine Form gefunden, die ins Subjekt
selbst hineingelegt worden ist und zur Verinnerlichung einer Sprache
der Selbstoptimierung zwingt. In den 1980er-Jahren propagierte Mi-
chel Foucault, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen. Heute sind
wir, die jeder Zeit verfügbaren, hoch anpassungsfähigen Menschen,
aufgefordert, unser Leben als Projekt zu planen.
Die hier vorgeschlagenen Formen der Kolonialisierung beanspru-
chen keineswegs vollständig zu sein. Vielmehr bedürfte es der Er-
weiterung und der tiefer gehenden empirischen Sättigung der einzel-
nen Aspekte, was aber an dieser Stelle nicht geleistet werden kann.
Nichtsdestotrotz sollten ›systemische‹ Übergriffe aufgezeigt werden,
die als Folge verschiedener Facetten neoliberaler Globalisierung auftre-
ten. Emotionale Ausbeutung, kulturelle Ökonomisierung, eine ent-
politisierende, transnationale Verrechtlichung sowie die Bürokratisie-
rung und Überwachung des Subjekts der ›Aktivierungsgesellschaft‹
sind Anzeichen einer weitreichenden Überformung gesellschaftlicher
Ordnungen, kultureller Wissensbestände und persönlicher Verhaltens-
muster durch zweckrationales, effizienzorientiertes Handeln. Die ge-
störte Verständigung zwischen Subjekten in der Öffentlichkeit und im
Privatleben wirft nicht nur ein Schlaglicht auf gesellschaftliche Patho-
logien in einer globalisierten Welt, sie steht auch einer politischen Teil-
nahme im Weg. Ausbeutungsbeziehungen sind nicht nur zutiefst un-
gerecht, sie verhindern demokratische Partizipation. Zeit wird zum
entscheidenden, knappen Gut, was dem politischen Engagement Gren-
zen setzt. Die emotionale Ausbeutung bindet überdies weitere zeitliche
und soziale Ressourcen. Eine Vermarktung lebensnotwendiger Güter

55
Zygmunt Bauman/David Lyon: Liquid Surveillance. A Conversation. Cambridge
2013.

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löst deren bislang in kulturellen Praktiken eingespielte, öffentliche Ver-


teilung durch Marktgesetzlichkeiten und Gewinnstreben ab. Die trans-
nationale Verrechtlichung depolitisiert das Politische, indem Privat-
rechtsinstitutionen an die Stelle politischer Institutionen treten. Und
die Überwachung sozialstaatlicher Maßnahmen und anderer Aktivitä-
ten der Bürger legt Verhaltenserwartungen nahe, die auf ›Marktgän-
gigkeit‹ und Flexibilität, nicht aber auf politische Partizipation zielen.

IV. Kommunikative Macht

Eine Analyse der Partizipationshindernisse ist für die Beantwortung


der Ausgangsfrage nach den Bedingungen einer demokratischen
Transformation der Demokratie ein erster wichtiger Schritt auf dem
Weg zu einer Theorie der Demokratie in der Weltgesellschaft. Dem
müssten sich weitere Analysen der Partizipationspotentiale anschlie-
ßen, die Entwicklungsspielräume für das Politische identifizieren.
Denn noch ist offen, was die skizzierten Kommunikations- und Hand-
lungsblockaden für die Demokratietheorie bedeuten. Welcher norma-
tive Maßstab sollte für die Beschreibung der Partizipationsblockaden
gelten? Noch ist die Frage unbeantwortet, warum eine Kritik der be-
stehenden gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt gerechtfertigt ist.
Dafür benötigt man einen normativen Bezugsrahmen. Dies kann eine
Theorie der Gerechtigkeit, des guten Lebens oder eben der Demokratie
sein. Ein normativer Begriff – ich muss es hier bei dieser Andeutung
belassen –, der tragfähig genug ist, um eine solche Potentialanalyse zu
erlauben, scheint mir der der kommunikativen Macht zu sein. Dem
möchte ich mich abschließend zuwenden.
Man würde die Demokratie missverstehen, wenn man übersähe,
dass Demokratie immer auch mit Macht zu tun hat. Demokratie übt
Macht aus, sie kann die Bürger zur Einhaltung von Gesetzen zwingen
und die Exekutive an Gesetze binden. Aber aus Sicht der Volkssouve-
ränität schafft Demokratie auch Macht: Macht, die von den Bürgern
ausgeht. Für einige Positionen – die neorepublikanische etwa – besteht
die Macht der Bürger darin, nicht dominiert zu werden. 56 Dies verfehlt
aber den Punkt aktiver Partizipation und reduziert die Bürger auf die
Ausübung passiven Widerstandes. In einer anderen, rechtspositivisti-

56 Philip Pettit: Republicanism: A Theory of Freedom and Government. London 1997.

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schen Lesart wird die Macht der Volkssouveränität direkt an die Legi-
timität erzwingbaren Rechts gebunden. 57 Dies betont die institutionelle
Seite der Demokratie, unterschätzt aber die Macht des Volkes jenseits
des politischen Systems. Und schließlich lässt sich politische Macht
deuten als Macht, die niemand besitzt, sondern die zwischen Menschen
entsteht, wenn sie politisch handeln – jenseits von einer Verengung auf
die Durchsetzung eigener Interessen, die Verwirklichung kollektiver
Ziele oder gar administrativ bindender Entscheidungen. 58 Nach Han-
nah Arendt drückt sich in der Ausübung politischer Macht Freiheit aus,
nämlich zum einen die negative Freiheit, nicht beherrscht zu werden
und nicht zu herrschen, und die positive Freiheit, einen Raum zu kre-
ieren, »in dem jeder sich unter Seinesgleichen bewegt«. 59
Jürgen Habermas hat diese Idee aufgegriffen und als kommunika-
tive Macht umgedeutet. 60 Kommunikative Macht ist eine Form politi-
scher Macht. Allgemein gesagt, ist damit die ungehinderte Ausübung
öffentlicher Freiheit der Bürger gemeint. Spezifischer ausgedrückt lässt
sich die kommunikative Freiheit durch drei Aspekte charakterisieren.
Die kognitive Seite kommunikativer Freiheit fordert erstens freies, de-
liberatives Prozessieren, den freien öffentlichen Austausch von Infor-
mationen und Argumenten zu wichtigen Themen. Sie basiert auf der
Annahme, dass Ergebnisse durch ein gerechtes Verfahren zustande
kommen und deshalb für sich in Anspruch nehmen können, rational
zu sein (FG 183 ff.). Zweitens kann kommunikative Macht nur kollek-
tiv ausgeführt werden, sie kreiert geteilte Überzeugungen, die immer
wieder aufs Neue debattiert werden können, die aber durchaus inter-
subjektive Anerkennung finden können. Diese geteilten Überzeugun-
gen entfalten zugleich eine motivationale Kraft. Kommunikative
Macht ist treibende Kraft, weiter zu deliberieren, neue Machtpotentiale
zu generieren und für die Akzeptanz handlungsrelevanter Pflichten zu
57
Thomas Nagel: »The Problem of Global Justice«. In: Philosophy & Public Affairs, 33,
2 (2005), S. 113–147.
58 Hannah Arendt: Macht und Gewalt. (Originalausgabe: On Violence. New York

1970). München/Zürich 1970, S. 45.


59 Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hrsg. von Ursula

Ludz. München/Zürich 1993/2003, S. 9–136, hier: S. 9.


60 Ich danke Hauke Brunkhorst für hilfreiche Diskussionen zu diesem Punkt. Zum Be-

griff kommunikativer Macht bei Habermas siehe auch den erhellenden Beitrag von
Gunnar Hindrichs: »Kommunikative Macht«. In: Philosophische Rundschau, 56, 4
(2009), S. 273–295. Hindrichs jedoch interpretiert kommunikative Macht platonistisch
als übergreifendes Prinzip des guten Lebens.

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Die verdrängte Demokratie

werben. Und drittens ist kommunikative Macht, um noch einmal


Arendt zu bemühen, Macht, durch die eine gemeinsame Willensbil-
dung unter Bedingungen nicht erzwungener Kommunikation ge-
schaffen werden kann. Macht korrespondiert mit der menschlichen
Fähigkeit, nicht nur einfach zu handeln, sondern orchestriert, im Ein-
vernehmen zu handeln. 61 Macht ist weder ein Mittel, seine Interessen
durchzusetzen, noch ist Macht gleichbedeutend mit administrativer
Macht, kollektiv bindende Entscheidungen implementieren zu können.
Vielmehr ist es eine autorisierende Kraft, die sich in der Rechtsgenese
ausdrückt, in der Schaffung legitimen Rechts und der Begründung von
Institutionen.
Es ist dieser Aspekt kommunikativer Macht, den Habermas auf-
greift. Und doch legt er ein stärkeres Gewicht auf das freie Prozessieren
von Themen und Beiträgen, diskursiv herbeigeführten und intersub-
jektiv geteilten Überzeugungen (FG 184 ff.). Auch wenn kommunika-
tive Macht auf die Bildung legitimen Rechts gerichtet ist, so wäre es
eine Verkennung, sie nur darauf festzulegen. 62 Denn vor der eigentli-
chen Rechtssetzung kann viel passieren. Die Durchsetzungskraft von
Rede, Meinungsbildung und Argumenten erstreckt sich auf alle Ange-
legenheiten der Bürger. Von städtebaulichen und architektonischen
Plänen, Privatisierungen, Renten- und Gesundheitsreformen über Par-
teiprogramme, Kriegs- und Friedensverhandlungen bis hin zu Gewalt
in der Privatsphäre: alles kann politisch und öffentlich werden und dies
zunächst einmal ohne, dass es darum gehen würde, die Ergebnisse die-
ser Kommunikation »in die Beschlüsse legislativer Körperschaften«
münden zu lassen (FG 211). Kommunikative Macht kann sich nur, so
Habermas noch einmal in Anlehnung an Arendt, in einer nicht-defor-
mierten Öffentlichkeit bilden, aus Strukturen unversehrter Kommuni-
kation (FG 184), aus der Produktivkraft dessen, was Arendt die »erwei-
terte Denkungsart« nannte. 63 Kommunikative Macht hat die Kraft des
Infragestellens – von bestehenden Institutionen, Praktiken, Verhält-
nissen. Und diese zeigt sich besonders unverblümt in Akten des Auf-
begehrens gegen Repression, im Widerstand, im Augenblick, wenn die

61 Arendt: Macht und Gewalt (s. Anm. 58), S. 45; FG 184.


62
Habermas spricht von der »Verschwisterung der kommunikativen Macht mit der
Erzeugung legitimen Rechts« (FG 185).
63
Hannah Arendt: Das Urteilen: Texte zu Kants Politischer Philosophie. München
1982, S. 17–103.

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Regina Kreide

Chance zur Revolution genutzt wird, in Momenten, in denen »Revo-


lutionäre die Macht ergreifen, die auf der Straße liegt; wenn eine zum
passiven Widerstand entschlossene Bevölkerung fremden Panzern mit
bloßen Händen entgegentritt« (FG 184), wenn Bürger der früheren
DDR mit Schweigemärschen dem autokratischen Regime den Todes-
stoß versetzten, wenn Proteste in Madrid damit begannen, dass sich
jemand auf der Plaza del Sol niederlässt und sagt, er sei zu erschöpft
von den Mühen zu überleben, dass er so nicht weitermachen wolle.
Kommunikative Macht findet nicht, wie gelegentlich fälschlicher-
weise unterstellt, allein im Seminarraum eines philosophischen Insti-
tuts statt. Kommunikative Macht ist Widerstand – wortgewaltig oder
auch schweigend. Sie hat ihren Grund in gesellschaftlichen Krisen, in
Ungerechtigkeiten und Kolonialisierungen. Sie kann sich daher genau
dort entfalten, wo demokratische Strukturen nicht hinreichen und wo
politische Partizipation ausweglos scheint: am Arbeitsplatz, im Haus-
halt, in Organisationen, unter repressiven, einschüchternden, demüti-
genden Bedingungen. Kommunikative Macht kann sich darauf richten,
bestehende Institutionen zu verändern, abzuschaffen oder überhaupt
erst zu schaffen. Protest auf nationaler und globaler Ebene, Twitter-
Revolutionen und ziviler Ungehorsam gehören demnach zur Demo-
kratie wie der Bodensatz zum Mokka. Demokratien sind verwirrende
Unternehmungen, mit einer gewissen Informalität, ebenso wie Pro-
bedurchläufe, Experimente oder die Verschiebung von Grenzen und
Begrenzungen dazugehören; sie sind facettenreich, laut und manchmal
auch irrational.
Eine demokratische Transformation kann jedoch nicht auf Dis-
sens, Agitation und Revolution beschränkt sein. Kommunikative
Macht wurde in reflexive Deliberation 64, Rechtssetzung 65 und argu-
mentative Rechtfertigung 66 übersetzt. Allerdings ist dies nur eine Seite
der kommunikativen Macht.
Die andere Seite ist die der Institutionen. Denn wie kann es De-
mokratie ohne Institutionen geben? Eine Antwort darauf ist, dass ein
erweiterter Begriff ›radikaler Demokratie‹ gerade die nicht-institutio-
nelle mit der institutionellen Seite der Demokratie verbindet. Kom-

64
Schmalz-Bruns: Reflexive Demokratie. Baden-Baden 1995.
65 Seyla Benhabib: Another Cosmopolitanism (Berkely Tanner Lectures). Oxford 2008.
66
Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen
Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 2007.

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munikative Macht ist Widerstand und Konstruktion zugleich. Sie ist


kritische Praxis in argumentativer Absicht. Wichtiges Ziel der Demo-
kratie sollte es sein, Institutionen zu kritisieren, sich mit ihnen nicht
allzu sehr einzulassen und doch zugleich Verfahren anbieten zu kön-
nen, die Volkssouveränität gewährleistet. Ohne die Kraft der öffent-
lichen Proteste bliebe die kommunikative Macht allzu affirmativ, aber
ohne die Organisationsmacht allzu machtlos. 67 Ich möchte daher ab-
schließend kurz auf die institutionelle Seite der Demokratie eingehen.
Von Locke über Kant bis Sieyès teilen die Theorien der Volkssou-
veränität eine wesentliche Einsicht: Das Volk ist ein unteilbares Gan-
zes. 68 Jeder und jede gehört zum Volk. Das Volk selbst kann nicht in die
Herrschenden und die Beherrschten aufgespalten werden. Demokrati-
sche Repräsentation basiert, so John Dewey, auf der strikten »Identi-
tät« der »Interessen der Regierenden mit den Regierten«. 69 Dieses
Kongruenzprinzip, das in rechtlich-normativer Begrifflichkeit die Spal-
tung in Herrschende und Beherrschte, Regierende und die Regierte
überwindet, trennt den modernen Begriff der Volkssouveränität von
dem antiken Begriff der Volksherrschaft. Während »Volksherrschaft«
bedeutet, dass manche frei sind, während die anderen wenigstens zeit-
weise in ihrer Freiheit eingeschränkt sind, steht das Wort »Volks-
souveränität« für die permanente gleiche Freiheit aller Rechtssubjek-
te. 70 Doch was heißt dies, angesichts der oben genannten globalen
Herausforderungen und der identifizierten Partizipationshindernisse?
Demokratie ohne Demos ist unmöglich. Eine maßgebliche etatis-
tische Position betont, dass wir staatliche oder doch wenigstens staats-
ähnliche Institutionen benötigen, die mit administrativer Macht und
effizienten Zwangsinstrumenten und einem Gewaltmonopol aus-
gestattet sind, um so die Gleichheit politischer Partizipation angesichts
potentieller Verletzungen sichern zu können. 71 Es ist jedoch fraglich,
67
Hauke Brunkhorst: Das doppelte Gesicht Europas – Zwischen Demokratie und Ka-
pitalismus. Berlin 2014, im Erscheinen, S. 125.
68 Brunkhorst: Solidarität (s. Anm. 50), S. 97 ff.

69 John Dewey: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Frankfurt a. M. 1996, S. 87.

70 Ingeborg Maus: Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin

2011, S. 22–43.
71 Mathias Albert/Rainer Schmalz-Bruns: »Antinomien der globalen Governance:

Mehr Weltstaatlichkeit, weniger Demokratie?«. In: Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Demo-


kratie in der Weltgesellschaft (Soziale Welt, Sonderband 18). Baden-Baden 2009, S. 57–
74; Nagel: Global Justice (s. Anm. 57); William Scheuerman: »Postnational Democra-
cies Without Postnational States?«. In: Ethics & Global Politics 2, 1 (2009), S. 41–63.

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Regina Kreide

ob Volkssouveränität tatsächlich auf einen Staat angewiesen ist. Volks-


souveränität bedeutet, dass diejenigen, die von den bindenden Regeln
betroffen sind, als freie und gleiche Mitglieder im Regelsetzungspro-
zess als Autoren beteiligt sein sollten. So formuliert, ist der erste An-
spruch der Bürger der auf Autorenschaft, nicht auf staatliche Institu-
tionen, insbesondere, da Staatsgrenzen nicht länger Umfang und
Reichweite von Entscheidungsprozessen, von denen Bürger betroffen
sind, bestimmen. 72 Anstelle einer empirisch nicht mehr standfesten
Verbindung von Staat und Volkssouveränität sollte eine normative
Konzeption der Demokratie auf prozedurale Garantien und deren so-
zialen und politischen Bedingungen wertlegen, damit Demokratie ge-
genüber den beschriebenen Formen der Kolonialisierung, der Ausgren-
zung und Ausschließung sensibel wird. Überzeugender scheint mir zu
sein, Selbstregierung in der Weltgesellschaft anders zu verstehen: nicht
basierend auf einen einzelnen demos, sondern als die Regierung der
vielen demoi. 73 Dies erlaubt es den Bürgern, ihre politische Macht in
einem Bereich sich überlappender demoi (national, regional, interna-
tional) und in verstreuten politischen Einheiten auszuüben. Das bietet
die Chance, dort, wo Bürger ausgegrenzt, unterdrückt, marginalisiert
werden, Widerstand zu leisten – lokal und unabhängig davon, ob dies

Eine nationalstaatliche Konzeption der Demokratie betont die Idee, dass es in einer
pluralen Weltgesellschaft keine andere Möglichkeit gebe, als die verschiedenen natio-
nalen demoi (Völker) unter dem Dach eines einzigen demos zusammenzufassen. Ähn-
lich, wie wir das schon von Europa kennen, gäbe es innerstaatliche Demokratien, über
die auf supranationaler Ebene eine Weltdemokratie herrschen würde (Albert/Schmalz-
Bruns), oder, wie Kant es ausdrückte, eine Weltrepublik, bei der alle Bürger als Welt-
bürger über internationale Anliegen entscheiden. Kant hat in »Zum ewigen Frieden«
die Vorstellung der Weltrepublik bekanntermaßen für philosophisch geboten, aber für
politisch nicht durchsetzbar abgelehnt. Ich denke, dass eine Weltrepublik nicht nur ein
neues, militärisch-zwangsbewährtes Empire bedeuten, sondern auch auf eine Verringe-
rung der demokratischen Kontrolle von »unten nach oben« hinauslaufen würde. Denn
wer würde sich in einem Weltrepublik-Moloch noch auskennen?
72 Hauke Brunkhorst: »A Polity Without a State? European Constitutionalism between

Evolution and Revolution«. In: E. O. Eriksen/J. E. Fossum/A. J. Menedez (Hrsg.): De-


veloping a Constitution for Europe. London 2004, S. 90–108, hier: S. 99.
73 James Bohman: Democracy Across Borders: From Dêmos to Dêmoi. Cambridge

2007. Allerdings beschränkt sich die Möglichkeit der demokratischen Partizipation der
Bürger bei Bohman auf das Anstoßen deliberativer Prozesse. Zur Kritik siehe auch
Cristina Lafont: »Alternative Visions of a New Global Order. What should Cosmopoli-
tans hope for?«. In: Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Demokratie in der Weltgesellschaft
(Soziale Welt, Sonderband 18). Baden-Baden 2009, S. 231–250.

258

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Die verdrängte Demokratie

auf einem bestimmten nationalen Territorium oder innerhalb einer


speziellen nationalen politischen Agenda geschieht.
Man kann sich an dieser Stelle fragen, ob das nicht der Vorstellung
zuwiderläuft, dass Volkssouveränität unteilbar ist. Widerspricht dies
nicht der grundlegenden Identität von Regelunterworfenen und Re-
gelautoren? Es bedarf, so habe ich an anderer Stelle argumentiert, de-
mokratischer Elemente, die nicht zwangsläufig an den Staat gebunden
sein müssen, die aber dennoch gewährleisten, dass es zu einer Identität
von Unterworfenen und Autoren kommen kann. 74 Wichtig sind hier
zwei Aspekte: Deliberative Prozesse allein können die Legitimations-
lücke, die sich auftut, wenn internationale Verhandlungen und Ent-
scheidungen nur indirekt durch einen demokratischen Prozess legiti-
miert sind, nicht schließen. Dafür bedarf es formeller Partizipations-
strukturen, die über das Wahlprozedere hinausgehen und eine
niedrigschwellige Beteiligung vor Ort anbieten. Das ist die demokrati-
sche Voraussetzung dafür, dass die beschriebenen Handlungs- und
Kommunikationsblockaden von den Betroffenen selbst in der Öffent-
lichkeit thematisiert werden können. Und zweitens kann Deliberation
nur unvollständig die Positionen von Minderheiten und anderen Aus-
geschlossenen repräsentieren. Im Prozess der Deliberation können
nicht gleichermaßen diejenigen berücksichtigt werden, die – aus wel-
chen Gründen auch immer – nicht das Wort ergreifen, die sich weniger
eloquent ausdrücken können oder über geringe Informationen ver-
fügen. 75 Genau deshalb bedarf es einer soziologisch informierten Rück-
bindung der Demokratie an die Gesellschaftstheorie. Nur so können
Partizipationsblockaden offengelegt und mögliche Instrumente aus-
gelotet werden, die Auskunft darüber geben, wie deliberative Freiheit
in effektive Partizipation umgemünzt werden könnte.

74 Regina Kreide: »Ambivalenz der Verrechtlichung. Probleme legitimen Regierens im


internationalen Kontext«. In: dies./Andreas Niederberger (Hrsg.): Transnationale Ver-
rechtlichung. Demokratien im Kontext globaler Politik. Frankfurt a. M. 2008, S. 260–
282.
75
Iris Marion Young: »Activist Challenges to Deliberative Democracy«. In: Political
Theory 29, 5 (2008), S. 670–690.

259

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Regina Kreide

Schlussbemerkung

Die Verdrängung der Demokratie, die sich auch in der politischen


Theorie widerspiegelt, ist ein düsteres Symptom für den Zustand der
Demokratie. Demokratie braucht Raum für eine breit angelegte öffent-
liche Kritik von unterdrückerischen Praktiken, von Werten, Institutio-
nen, Regeln und Maximen unserer Gesellschaft – etwa für eine Kritik
an der neoliberalen Politik oder der Aushöhlung der Begriffe von Frei-
heit und Gleichheit. Ohne demokratische Verfahren und Institutionen
jedoch, die auch international die Identität von Beherrschten und Au-
toren der verschiedenen Demoi sichern, bleibt die Legitimation von
Politik nur nackte Herrschaft. Doch ohne nicht-institutionalisierte For-
men der Demokratie, ohne kommunikative Macht, erstarrt sie zu
einem Verwaltungsapparat, dessen »stählernes Gehäuse« (Weber) die
Freiheit der Bürger verkümmern lässt. Demokratie muss eine andau-
ernde Neu-Interpretation des Regelsystems und eine Neuerfindung
der bestehenden Institutionen ermöglichen. In diesem Sinne hat De-
mokratie immer noch sehr viel mit Hannah Arendts Begriff der Nata-
lität zu tun: Demokratie ist ein niemals endender Prozess der Erneue-
rung. Um Erneuerung und vor allem deren Verhinderung erkennen zu
können, ist die Demokratietheorie auf die Gesellschaftstheorie ange-
wiesen. Auf diese Weise können Handlungs- und Kommunikations-
blockaden entlarvt und Demokratisierungspotentiale freigelegt wer-
den. Der heuristische Wert einer global gewendeten Habermas’schen
›Kolonialisierungsthese‹ liegt darin, ökonomische und rechtlich-ad-
ministrative Eingriffe in lebensweltliche Zusammenhänge aufzeigen
zu können, die die Verständigung darüber, wie wir leben wollen, er-
schweren. Den globalen Marktzwängen ausgeliefert, der staatlichen
Kontrolle, den internationalen Organisationen und deren Finanzpolitik
unterworfen, steht uns kaum noch eine Sprache zur Verfügung, die
uns aus dem Zustand gesellschaftlicher Erschöpfung und Depression
herausholen könnte. Die Demokratie ist da nur ein schwaches Gegen-
mittel. Aber das einzige, das uns als Gesellschaft zur Verfügung steht.

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Diskussion 1
Moderation: Rita Casale

Herbert Fuge (Wuppertal): Ich möchte das Stichwort der »kommuni-


kativen Macht« aufgreifen. In der Mediengesellschaft stellt sich die
Frage, wer die Herrschaft über diese Kommunikation ausübt. Nach
meinem Empfinden geraten wir da an ein Tabu. Es wird vorgegeben,
die veröffentlichte Meinung sei gleich der öffentlichen Meinung. Das
heißt: es findet eine Verwechselung statt zwischen den Meinungs-
machern, den Inhabern der Meinungsmacht, und der öffentlichen Mei-
nung der demokratischen Gesellschaft. Das Tabu führt dazu, dass die
Macher im Anonymen bleiben. Wenn ein Redakteur der Bild-Zeitung
den Bundespräsidenten in die Situation eines Bittstellers bringen kann,
dann macht das doch deutlich, wer auf dem Meinungsmarkt die Ma-
cher, die Inhaber sind. Niemand greift diese Herren an, die die Mei-
nung dominieren, die zum Beispiel einen Schummler für ministrabel
erklären und dies auch noch als Volkes Meinung hinstellen. Ist unter
diesen Bedingungen der Diskurs der herrschaftsfreien Macht nicht un-
ter die Räder gekommen?

Regina Kreide: Vielen Dank. Das ist ein wichtiger Punkt, der auf das
Problem verweist, wie Handlungs- und Kommunikationsblockaden
freigelegt werden können, wenn die Öffentlichkeit selbst in einer Wei-
se vermachtet ist, die das Vertrauen in die kritische Rolle kommunika-
tiver Macht schwer erschüttert. Nun, ich sehe die Rolle kritischer
Theorie gerade darin, sozialwissenschaftliche und normative Werkzeu-
ge bereitzustellen, mit deren Hilfe Hindernisse einer politischen Betei-
ligung der Bürger aufgezeigt werden können, etwa wenn Bürger über
politische Entscheidungen gar nicht oder zu spät informiert werden,
wie im Fall von ›Stuttgart 21‹ oder beim ›Euro-Rettungsschirm‹, oder

1
Die Entgegnung von Jürgen Habermas auf Regina Kreides Beitrag nimmt auch auf die
nachfolgende Diskussion Bezug und ist ihr daher nachgestellt.

261

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.
Diskussion

wenn ökonomische und politische Rahmenbedingungen Bürger in ein


›Hamsterrad‹ von Einkommenserwerb, Schuldentilgung und privater
Daseins- und Altersvorsorge zwingen, oder aber wenn es zu wenig Par-
tizipationsmöglichkeiten jenseits von regulären Wahlen gibt, und eine
nationale und europäische Elite Entscheidungen hinter verschlossenen
Türen trifft. Dazu gehört auch – Hauke Brunkhorst wies bereits darauf
hin – zu analysieren, wie die Machstrukturen im Mediengeschäft aus-
sehen, wer ein Interesse daran hat zu verhindern, dass mögliche Hin-
tergrundinformationen in die Öffentlichkeit gelangen, aber auch, wer
eigentlich Zugang zu medialen Auftritten besitzt, und wer ausge-
schlossen bleibt.
Kommunikative Macht, die sich in der öffentlichen Thematisie-
rung gesellschaftlicher Anliegen zeigt, spielt beim Aufdecken eben je-
ner Handlungs- und Kommunikationsblockaden eine entscheidende
Rolle, gerade weil sie Teil der bestehenden Praxis ist. In Anlehnung an
Adorno ist kommunikative Macht als Bestand der Gesellschaft zugleich
die Negation davon. Sie generiert Kritik an bestehenden Verhältnissen,
indem sie verschiedene Geltungsansprüche gegenüber den dominie-
renden zweckrationalen, auf Effizienz und Verwertbarkeit ausgerichte-
ten Ansprüchen formuliert. Ihr emanzipatives Potential liegt gerade
darin, gesellschaftliche Widersprüche aufzuzeigen, beispielsweise zwi-
schen Freiheitsgewinn durch eine schier grenzenlose Mobilität und
Freiheitsverlust, den diese Mobilitätserwartung für viele Arbeiterneh-
mer bringt. Genau diese dialektischen Entwicklungen gilt es aufzu-
zeigen. Ein solches – vielleicht würden Sie sagen – eher schwaches
Instrument der Analyse ist, was uns angesichts der Übermacht kapita-
listischer Kolonialisierungen bleibt.

Georg Lohmann: Regina, ich wollte Dich gerne etwas fragen, aber ich
bin nicht sicher, ob ich das klar genug herausbringe. In der Theorie des
kommunikativen Handelns hat Habermas eine eher skeptische Ein-
schätzung von Recht, währenddessen in Faktizität und Geltung das
Recht viel positiver gesehen wird. Die Kolonialisierung der Lebenswelt
hat ja laut der Theorie des kommunikativen Handelns einmal Frei-
heitsverlust und Sinnverlust zur Folge und bedient sich bei den Medien
Macht und Geld der Verrechtlichung, greift also in die Lebenswelt ein
und strukturiert sie um. Das wird auch negativ gesehen, nicht bloß
positiv. In Faktizität und Geltung ist das dagegen eher positiv, und Du
hast ja sogar gesagt, dass die kommunikative Macht darauf abzielt,

262

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Die verdrängte Demokratie

rechtsetzende Prozesse in Gang zu setzen. Könnte man nicht sagen,


dass das, was Du als Blockaden diagnostiziert hast, nach diesen Ände-
rungen in der Einschätzung von Recht noch einmal unterschieden wer-
den müsste? Die Lebenswelt in einem emphatischen Sinn basiert ja auf
Verständigungsprozessen, die zunächst einmal nicht rechtlich sind. Mit
Kant gesprochen, wären das tugendhafte Einstellungen oder mora-
lische Pflichten, während den systemischen Verrechtlichungen von
Geld und Macht Rechtspflichten (im kantischen Sinne) entsprechen.
Ich habe den Eindruck, dass in der Theorie des kommunikativen Han-
delns eher die Spannung zwischen diesen Aspekten im Vordergrund
steht, während in Faktizität und Geltung gewissermaßen das Rechts-
förmige das vernünftige Ziel ist. Und zu fragen ist, ob hinsichtlich sub-
jektiver Verletzungserfahrungen (Freiheitsverlust) und den Phänome-
nen kultureller Aushöhlung (Sinnverlust), von denen Du gesprochen
hast, jene Unterschiede zur Sprache gebracht werden können, oder ob
man das vielleicht dann anders differenzieren müsste, wenn man an
diese unterschiedlichen Wertungen denkt.

Regina Kreide: Ich teile Deine Diagnose, dass in der Theorie des kom-
munikativen Handelns das Recht eine andere Rolle spielt als in Fak-
tizität und Geltung – eine andere, nicht unbedingt aber eine weniger
kritische. Die Sicht auf das Recht ist in beiden Werken ganz unter-
schiedlich. Während es in der Theorie des kommunikativen Handelns
darum geht, die Bedingungen der Kolonialisierung aufzuzeigen und
darzulegen, wie das Recht zur Kolonialisierung der Lebenswelt beiträgt
– Habermas nennt als Beispiel die Maßnahmen des Sozialstaates, die
weit in die Lebenswelt vordringen –, ist die Herangehensweise in Fak-
tizität und Geltung eine andere. Hier wird die Begründung des Rechts
untersucht und der Frage nachgegangen, was einen legitimen Rechts-
staat ausmacht. Rechtsstaatlichkeit wird als Voraussetzung und zu-
gleich als Ergebnis demokratischer Prozesse identifiziert. Das Recht
wird als ›Transmissionsriemen‹ beschrieben, der das politische System
mit der Öffentlichkeit verbindet und so eine demokratische Meinungs-
und Wissensbildung ermöglicht. Diese begründungtheoretische Sicht
auf Recht bedeutet aber nicht, dass Recht als etwas bloß ›Positives‹
angesehen wird. Eine nicht-legitime Verrechtlichung, die letztlich zu
einer vermehrten Technokratisierung politischer Verhältnisse führt,
wird auch in Faktizität und Geltung als drängendes Problem dar-
gestellt.

263

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Diskussion

Heute habe ich zu zeigen versucht, wie mithilfe einer aktuali-


sierten Kolonialisierungsthese neue Deformationen lebensweltlicher
Praktiken durch Übergriffe transnationalen Rechts sichtbar gemacht
werden können: Verrechtlichungen ausgelöst durch internationale Or-
ganisationen, transnationale Unternehmen und andere private Ak-
teure, die ohne demokratische Beteiligung Rechtsregeln schaffen, wie
bei der bereits erwähnten globalen Wasserprivatisierung, sind nur ein
Beispiel. Aber nicht nur ist die demokratische Mitbestimmung inner-
halb von Organisationen und Unternehmen eingeschränkt bzw. un-
möglich, auch die Gesetzesbindung transnational operierender Unter-
nehmen und anderer internationaler Akteure durch Parlamente ist
noch im embryonalen Zustand und in Ansätzen überhaupt nur auf
europäischer Ebene vorhanden.
Auf der anderen Seite, und hier zeigt sich die ganze Ambivalenz
des Rechts, muss man sehen, wie schwach in den internationalen Be-
ziehungen globale Akteure, Unternehmen, aber auch NGOs aufgestellt
sind, wenn sie sich nicht auf bestehendes transnationales Recht be-
rufen können, d. h. auf menschenrechtliche Konventionen, internatio-
nales Arbeitsrecht oder Rechtsinstrumente, die eine extraterritoriale
Klage erlauben. Ohne Recht gibt es kaum Möglichkeiten, Auswüchse
kapitalistischer Prozesse einhegen zu können. NGOs in den USA sind
darauf spezialisiert, internationale Unternehmen über Klagen zum
Einhalten von Arbeitsstandards auch in anderen Ländern gerichtlich
zu zwingen. Dabei sind sie jedoch auf eine gut informierte und lebhafte
Öffentlichkeit angewiesen, durch die Menschenrechtsverletzungen
und andere Vergehen ans Tageslicht gebracht werden.
Ich denke, man muss weiter an diesen Ambivalenzen arbeiten, um
zeigen zu können, welche Formen der Verrechtlichung hochproblema-
tisch sind, welche Deformationskräfte im Recht angelegt sind, aber
auch, welche Potentiale ausgemacht werden können, um gegen negati-
ve Folgen von Ökonomisierungen, Ausbeutung und Verrechtlichung
öffentlich vorgehen zu können.

Christian Thies (Universität Passau): Prinzipiell stimme ich Ihrem


Ansatz völlig zu. Aber ich möchte fragen, ob man nicht im nächsten
Schritt differenzieren müsste. Wenn man nämlich über globalisierten
Kapitalismus spricht und auch über Probleme, die mit der Reform des
Sozial- oder Wohlfahrtsstaats verbunden sind, wären dann nicht Vari-

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Die verdrängte Demokratie

anten des Kapitalismus und Varianten des Sozialstaates stärker zu be-


rücksichtigen?

Regina Kreide: In der Tat haben sich die Bedingungen des Sozialstaa-
tes und auch die des Kapitalismus verändert. Ich habe versucht zu zei-
gen, dass das neue Paradigma der Sozialstaatsdiskussion – die so-
genannte ›Aktivierung‹ der Bürger – dazu geführt hat, dass staatliche
Ermächtigungen noch weitreichender sind, als sie es ohnehin schon
waren. Diese neuen Aktivierungsmaßnahmen, gepaart mit einer Über-
wachung der Bürger, die tief in das Privatleben reicht, unterscheidet
sich von einem Sozialstaat der 1970er Jahre, der noch auf Zuweisung
von Leistungen, weniger aber auf gezielte Aktivierung von Bürgern
ausgerichtet war. Insofern ist meine Herangehensweise immer schon
kontextbezogen.
Sicherlich haben Sie Recht, wenn Sie meinen, dass man auch noch
weitergehend differenzieren sollte und beispielsweise verschiedene Ty-
pen des Sozialstaates unterscheiden müsste. Die Unterstellung ist wo-
möglich, dass ein globaler Kapitalismus weniger einschneidende Effek-
te in einem ohnehin »liberalen« Wohlfahrtsstaatsmodell haben könnte,
dessen Leistungen sich nur auf die Kompensation ausfallender Be-
rufstätigkeiten beziehen: Weniger Leistungen, weniger staatliche
Kontrolle? Ich denke aber, dass sich die grundlegenden Probleme der
Kolonialisierung auch bei unterschiedlichen Ausformungen heutiger
Wohlfahrtsstaaten nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Die
zunehmende Bürokratisierung und Überwachung der Bürger, aber
auch die Privatisierung vormaliger gesellschaftlicher Güter ähneln sich
angesichts globaler kapitalistischer Imperative in den europäischen
Ländern, den USA, Australien und einigen Ländern Lateinamerikas.

Matthias Kettner (Universität Witten-Herdecke): Vielen Dank,


Regina, für diese inspirierende Aktualisierung der Kolonialisierungs-
these aus der Theorie des kommunikativen Handelns gewissermaßen
unter Bedingungen einer ökonomisch dominierten Globalisierung.
Durch Deine Aktualisierung ist deutlich geworden, dass die Koloniali-
sierungsphänomene unterschiedliche Dimensionen haben, ganz unter-
schiedliche Beschreibungen erfordern und wahrscheinlich nicht alle
gleich gut über einen einzigen Leisten, etwa Ökonomisierung, zu zie-
hen sind. Wenn also die Diagnose insgesamt stimmt, gleichsam die
großgeschriebene Kolonialisierungsthese, dann müsste man jetzt wie-

265

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Diskussion

der neu überlegen, wie das emanzipatorische Projekt einer Dekolonia-


lisierung der Lebenswelt aussehen könnte, und soweit es ein politisches
Projekt ist, was für eine Art von Politik die Dekolonialisierung der
Lebenswelt sein müsste. Ansetzend bei Deinen schon vier – und wahr-
scheinlich könnte man noch mehr Phänomenbereiche und damit noch
mehr Heterogenität aufweisen –, also ansetzend bei dieser Differenzie-
rung der Kolonialisierungsthese, wäre meine Vermutung, dass eine
Politik der Dekolonialisierung der Lebenswelt so etwas wie eine Politik
der Rationalitäten sein müsste. Ich meine das, weil eigentlich jeder der
Bereiche, die Du aufgezählt und skizziert hast, in gewissem Sinne die
Steigerung einer bestimmten Rationalität ist, sei es jetzt die adminis-
trative Rationalität in kontrollgesellschaftlichen Überwachungen und
Registrierungen, sei es ökonomische Rationalität, sei es die Rationalität
des Rechts usw. Man kann ja die Entformalisierung des Rechts nicht als
Rückschritt in der Ausbreitung juristischer Rationalität, sondern muss
sie als einen Fortschritt in der Ausbreitung, ja als eine Steigerung ju-
ristischer Rationalität sehen. Und das finde ich sehr interessant und es
deckt sich genau mit Deiner Bemerkung von großer Tragweite, dass
nämlich Lernprozesse durchaus negativ sein können, und dasselbe gilt
für Steigerungen von Rationalisierungsprozessen. Die Dekolonialisie-
rung hätte mithin genau zu blicken auf die verschiedenen Durch-
formungen mit Teilrationalitäten in unterschiedlichen Lebensberei-
chen und müsste eigentlich eine rationalitätskritische Einstellung
kultivieren, die erlauben würde zu sagen – da kommt man dann in
hegelianisches Fahrwasser –, welche Art von Rationalitätssteigerungen
in bestimmten Praxisbereichen für diese Praxisbereiche überhaupt för-
derlich und welche deformierend sind oder sein würden. Ich muss es
bei dieser Andeutung belassen. Es gibt allerdings ein Problem, wenn
man sagen möchte, dass die kommunikative Macht auf dem Weg durch
Habermas’ Verwendung dieses Begriffs am Ende nur noch heißt: kom-
munikative Macht ist kritische argumentative Praxis, dann entsteht
daraus das Problem, wie man das noch Macht nennen will, wenn man
zugleich mit Habermas sagen muss: Argumentation ist per se die Anti-
these zu Macht?

Regina Kreide: Zunächst einmal ist es wichtig festzuhalten, dass sich


sicherlich neben den von mir beschriebenen Kolonialisierungsprozes-
sen zweifellos weitere typische Deformationen lebensweltlicher Zu-
sammenhänge ausmachen lassen. Die staatliche Überwachung und die

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Die verdrängte Demokratie

Vereinnahmung der Medien durch »human interest«-Berichterstat-


tung und Reality-Shows bei gleichzeitigem Quoten- und Privatisie-
rungsdruck sind nur einige Beispiele, denen gezielt nachgegangen wer-
den müsste. Ich möchte aber noch auf zwei Deiner Punkte eingehen.
Erstens: Worin bestünde der emanzipatorische Aspekt der Unter-
suchung? Ein emanzipatorisches Projekt der ›Dekolonialisierung‹
müsste sich an der Entfaltung kommunikativer Macht messen lassen,
also daran, inwieweit eine kritische Praxis des Infragestellens von
Strukturen und Machtverhältnissen neue Facetten der Unterdrückung,
Ausschließung und Ausbeutungen aufdecken und verändern könnte.
Es ist also in der Tat eine rationalitätskritische Haltung geboten, die
sich zugleich gegen bestimmte rationalisierende Praktiken richtet,
Praktiken, die unsere Handlungsfreiheit einschränken und die die
Sprache, mit der wir Kritik üben, infiltrieren. Das ist etwa dann der
Fall, wenn das Lehren an der Universität nur noch unter dem Gesichts-
punkt späterer Lehrevaluationen betrieben oder die Forschung vor
allem in termini von Drittmittel-Geldstrom bewertet wird. Nicht alle
Formen der Rationalisierung sind problematisch. Ob sie es sind, zeigt
sich in der Beschreibung ihrer Folgen für die Betroffenen.
Zum zweiten Punkt: Ich sehe nicht ganz, warum kommunikative
Macht selbstwidersprüchlich sein sollte. Nicht jede Form der Macht ist
›bedenklich‹. Kommunikative Macht setzt auf die Kraft der Argumen-
tation und darauf, der administrativen und ökonomischen Macht etwas
entgegenhalten zu können, nämlich eine andere Sicht auf die Dinge,
die sich durch nicht-instrumentelle Geltungsansprüche ihren Weg
bahnt. Sie entfalten ihre Wirksamkeit in öffentlicher Kritik gesell-
schaftlicher Verhältnisse und widerständigen Praktiken, die bestehende
Strukturen in Frage stellen.

Michael Quante: Ich habe eine Verständnisfrage: Sie hatten bei der
Beschreibung der Prozesse immer einen impliziten normativen Ober-
oder Unterton. Eine Kategorie – und das passt zu den Fragen von Loh-
mann und Kettner –, die viel Arbeit leistet, war die der Entfremdung.
Mir ist nicht ganz klar, wie diese Kategorie bei Ihnen funktioniert. Je
nach Tradition kann Rationalität schon Entfremdung sein oder Ver-
rechtlichung oder Ökonomisierung. Ist Entfremdung immer negativ
oder gibt es zulässige Maße von Entfremdung als Gewinn von Ver-
rechtlichung und Rationalisierung? Vielleicht können Sie etwas zu
Ihrer Verwendung dieser Kategorie sagen.

267

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Diskussion

Regina Kreide: Entfremdung spielt keine tragende Rolle in dieser Un-


tersuchung. Ein nicht-essentialistischer Begriff der Entfremdung, wie
ihn beispielsweise Rahel Jaeggi vorschlägt, besagt, dass wir dann ent-
fremdet sind, wenn wir in einer Beziehung der Beziehungslosigkeit
leben. Eine entfremdete Beziehung zeichnet sich dadurch aus, dass wir
unser Leben nicht selbst gestalten und verändern können. Die Bezie-
hung zwischen Menschen bzw. deren Misslingen ist jedoch nur ein
Aspekt jener gesellschaftlichen Deformationen, die durch Verrecht-
lichung, ökonomische oder emotionale Ausbeutung und kulturelle
Ökonomisierung auftreten. Die Beschreibung von Entfremdungspro-
zessen allein gibt keine hinreichende Auskunft über Handlungs- und
Kommunikationsblockaden, da sie auf einen rein expressiven Welt-
bezug beschränkt ist. Ungerechtigkeiten oder strukturelle Pathologien
können damit nur schwer thematisiert werden. Dafür bedarf es einer
Konzeption gelingender kommunikativer Rechtsfertigungsverhältnis-
se, die verschiedene Weltbezüge zulässt.
Zu Ihrem anderen Punkt, der sich auf die Dialektik von Entfrem-
dung und anderen Deformationen bezieht und der ja auch schon bei
Matthias Kettner anklang: Sicherlich lassen sich gesellschaftliche Frei-
heitsgewinne durch Rationalisierungsprozesse ausmachen: Bessere
Berufschancen im Ausland, die Freiheit beruflicher und privater Mobi-
lität, Investitionsmöglichkeiten durch Finanzspritzen privater Investo-
ren, internationale Gerichte, die Flüchtlingen an Europas Außengren-
zen zu ihrem Recht verhelfen sind Beispiele dafür. Aber es gibt keine
andere, freiheitsverbürgende Seite von Ökonomisierung, Ausbeutung
und Unterdrückung. Es mag Freiheitsgewinne in unserer Gesellschaft
geben, aber es gibt keine positive Seite der Kolonialisierung.

Hauke Brunkhorst: Ich sehe das Recht nicht so optimistisch, ich glau-
be, auch Regina Kreide hat das nicht so optimistisch gemeint, und ich
sehe übrigens auch keinen großen Rechtsoptimismus in Faktizität und
Geltung. Das Recht als Schrittmacher der Evolution: das heißt ja noch
nicht, dass das etwas Gutes ist. Ich hatte einmal eine Diskussion in
Kopenhagen mit Phillip Allott und David Held. David Held und ich
hatten die großen Errungenschaften des internationalen Rechts nach-
einander vorgeführt, und da platzte Philip Allott – das ist ein alter
Völkerrechtler aus England – der Kragen, und er sagte: »Wisst Ihr
Jungs nicht, dass das Recht immer im Dienst der herrschenden Klasse
ist?« Nun, mir jedenfalls war das immer schon klar. Aber auch wenn

268

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Entgegnung auf Regina Kreide

das in dem Vortrag nicht so herüberkam: die Schrittmacherfunktion,


die kann natürlich in die eine Richtung wie in die andere führen. Das
Recht stabilisiert immer die Gesellschaft, aber es stabilisiert auch Er-
rungenschaften der Freiheit, wie es genauso Herrschaftsverhältnisse
stabilisiert. Nichts stabilisiert Herrschaftsverhältnisse besser, deswegen
ja auch die Kolonialisierungsthese. Die Kolonialherren kommen mit
Recht in die kolonialisierte Gesellschaft und etablieren dort ihr Recht,
auch wenn es eine bestimmte Form des Rechts ist, meistens Maßnah-
menrecht oder Autoritätsrecht. Aber eben Recht. Und die Pointe des
Referats habe ich darin gesehen, dass genau mit dieser internationalen
Verrechtlichung und Entrechtlichung der Rechtsstaat oder das rule of
law in dem Moment zu einem nahezu reinen Herrschaftsinstrument
und in dem Maße zu einem reinen Herrschaftsinstrument wird, in dem
die demokratische Legitimation schwächer wird und wegbricht. Genau
das ist doch die Diagnose der gegenwärtigen Weltsituation, um es
etwas klotzig zu sagen.

Entgegnung von Jürgen Habermas

Am Ende dieser Diskussion, die Regina Kreide noch einmal die Gele-
genheit zur Klärung einiger Aspekte Ihres wichtigen Vortrages gege-
ben hat, bleibt mir nur noch der Dank für die überzeugende Behand-
lung der Kolonialisierungsthese, die ja auf das Engste mit dem auf
Lukács zurückgehenden Paradigmenkern der Kritischen Theorie zu-
sammenhängt. Diese Tradition entstand mit dem Versuch zu erklären,
warum »Rationalisierungsfortschritte« nicht nur in der Dimension der
kapitalistischen Organisation der gesellschaftlichen Arbeit, sondern
auch in der von Max Weber hervorgehobenen Dimension der bürokra-
tischen Ausübung politischer Herrschaft sozialpathologische Folgen er-
zeugen. Der Vortrag hat aus meiner Sicht ein doppeltes Verdienst.
Wie ihre Beispiele zeigen, kann Regina Kreide zunächst die Kolo-
nialisierungsthese angesichts einer erdrückenden Evidenz der Unter-
werfung privater und öffentlicher Lebensbereiche unter widerstandslos
hingenommene Imperative der Vermarktung in Erinnerung rufen. Mit
dem Wechsel vom Muster der Keynesianischen zur neoliberalen Wirt-
schaftspolitik hat sich allerdings die Aufmerksamkeit für sozialpatho-
logische Ambivalenzen von der einen auf die andere Dimension ver-

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Entgegnung auf Regina Kreide

lagert: Der diagnostische Blick ist von den Verrechtlichungsfolgen des


wohlfahrtsstaatlichen Paternalismus der 1970er Jahre auf viel breiter
gestreute, auch sublimer gewordenen Symptome gelenkt worden. Die-
se erklären sich aus der Monetarisierung von bisher verschonten le-
bensweltlichen Bereichen; denn damit gehen Aktivierungs- und An-
passungszwänge Hand in Hand, die tief in Berufsarbeit, Sozialisation
und Erziehung, in kulturelle Reproduktion und schulische Bildung, in
Gesundheit, persönliche Beziehungen und den sozialen Zusammenhalt
im Ganzen eingreifen.
Mit dem Blick auf ihr Thema – Entdemokratisierung – bringt Re-
gina Kreide zum anderen das Rechtsmedium in Spiel, das in dem enge-
ren Kreis der älteren Kritischen Theorie keine große Rolle gespielt hat-
te. Das entformalisierte bürgerliche Recht kam damals allenfalls als
Organisationsmittel der totalitären Herrschaft in den Blick; es gab da-
mals keinen Anlass, von der anderen Funktion, die das Medium im
Zuge der egalitären Verrechtlichung und Demokratisierung der öffent-
lichen Gewalt auch gespielt hat, zu sprechen. In dieser anderen Funk-
tion verbürgt vor allem das öffentliche Recht Freiheit und Gerechtig-
keit – oder verspricht es wenigstens in Form eines erkennbaren
normativen Überschusses über die Rechtswirklichkeit. Regina Kreide
macht solche Defizite am Beispiel der unerfüllten Rechtsansprüche de-
mokratischer Bürger zum Thema. Sie setzt bei den bekannten post-
demokratischen Tendenzen an, die der Ausübung demokratischer
Beteiligungsverfahren immer mehr den Charakter einer bloßen Simu-
lation verleihen. Da die Demokratie einstweilen nur im nationalstaat-
lichen Rahmen institutionalisiert ist, verlieren demokratische Bürger
mit dem schrumpfenden politischen Handlungsspielraum ihrer Staa-
ten in einer politisch unbeherrschten Weltgesellschaft automatisch ihre
Bühne. Denn im gleichen Maße schrumpft der Radius ihrer möglichen
Einflussnahme.
Die politisch gewollte Selbstentmächtigung der kapitalistischen
Demokratien des Westens hat zunächst nichts mit einer Kolonialisie-
rung der Lebenswelt zu tun. In dem Maße, wie sich die Gewichte von
der Politik zum Markt verschoben, wie sich die systemischen Zwänge
eines globalisierten Marktgeschehens gegen die Kontroll- und Steue-
rungsfähigkeit von Staaten und der (ohnehin unzureichend legitimier-
ten) internationalen Organisationen durchgesetzt haben, ist der Kolo-
nialisierungsthese sogar die wesentliche Prämisse entzogen worden.
Diese ist ja in der Annahme entwickelt worden, dass sich die auf den

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Entgegnung auf Regina Kreide

ersten Blick politisch beherrschbar gewordenen ökonomischen Krisen


gewissermaßen in andere gesellschaftliche Bereiche verschieben. Daher
manifestieren sich heute die Folgen des kapitalistischen Wachstums
und der Wirtschaftskrise in den handfesten materiellen Erscheinungs-
formen einer drastisch zunehmenden sozialen Ungleichheit – sowohl
innerhalb der OECD-Gesellschaften wie quer über den Globus. Die
schreienden sozialen Ungerechtigkeiten bedürfen keiner feinsinnigen
Interpretation: die Suppenküchen sind allenfalls zu »Tafeln« seman-
tisch verharmlost worden.
Aber die Phänomene, auf die sich Regina Kreide bezieht, sind ein
Beleg dafür, dass die Kolonialisierungsthese auch unter diesen ver-
änderten Umständen ihre Erklärungskraft nicht verloren hat. Denn
der finanzialisierte Kapitalismus frisst sich immer weiter in jene Hin-
tergrundkontexte ein, von denen der Kapitalismus bisher stillschwei-
gend und gewissermaßen kostenlos gezehrt hat. 1 In dem Maße, wie die
Polster der Lebenswelt (und des Naturhaushaltes, Regina Kreide er-
wähnt das Beispiel der Privatisierung der kommunalen Wasserver-
sorgung) auf dem Wege der Kommerzialisierung durchgescheuert wer-
den, bildet sich im Rücken der öffentlich wahrgenommenen, statistisch
registrierten und klassenspezifischen Erscheinungen von Unterprivile-
gierung, Verelendung und Exklusion eine Schicht von unauffälligeren
und sozial sehr viel breiter gestreuten Sozialpathologien, die sich einer
simplen, verteilungstheoretisch ansetzenden Erklärung entziehen.

1 Diese »background conditions« behandelt auf interessante Weise Nancy Fraser: »Be-
hind Marx’s Hidden Abode. For an Expanded Conception of Capitalism«. In: New Left
Review 86, March/April 2014.

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IV. Moralbewusstsein und Recht

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Hans-Christoph Schmidt am Busch
Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
Zu Jürgen Habermas’ Rekonstruktion des Historischen
Materialismus

Die Kritik des Kapitalismus ist das Lebensthema der Frankfurter Schu-
le. Bekanntlich verfolgte Max Horkheimer, als er diese Schule am
Frankfurter Institut für Sozialforschung etablierte, die Absicht, ein in-
terdisziplinäres Forschungsprojekt zu institutionalisieren, in dem die
sozialen Pathologien kapitalistischer Gesellschaften analysiert und die
Möglichkeiten alternativer institutioneller Arrangements geprüft wer-
den. 1 Wenngleich die Art und Weise, auf welche Horkheimer dieses
Projekt glaubte bearbeiten zu können, zu Recht kritisiert worden ist, 2
sind die Ziele, die er auf diesem Wege erreichen wollte, für die Frank-
furter Schule im Wesentlichen noch immer aktuell. Auch den heutigen
Vertreterinnen und Vertretern dieser Theorietradition ist es ein zen-
trales Anliegen, Klarheit über die problematischen Auswirkungen des
zeitgenössischen Kapitalismus sowie den normativen Status alternati-
ver Gesellschaftsformationen zu gewinnen. 3 Die Erforschung der
Grundlagen und Perspektiven einer Kritik des Kapitalismus bildet also
nach wie vor einen Schwerpunkt der Arbeit der Frankfurter Schule.
Möchte man sich über die Möglichkeiten der Grundlegung einer
Kapitalismuskritik verständigen, wird man den normativen Status des
Privatrechts zu untersuchen haben. Privatrechtliche Regelungen (wel-
che etwa den Erwerb, die Nutzung und die Veräußerung von Eigentum

1 Vgl. z. B. Max Horkheimer: »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die
Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung«. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3.
Hrsg. v. Alfred Schmidt. Frankfurt a. M. 1988, S. 20–35.
2 Vgl. z. B. Axel Honneth: »Eine soziale Pathologie der Vernunft. Zur intellektuellen

Erbschaft der Kritischen Theorie«. In: Christoph Halbig, Michael Quante (Hrsg.): Axel
Honneth: Sozialphilosophie zwischen Kritik und Anerkennung. Münster 2004, S. 9–31.
3
Das zeigt beispielsweise die Debatte zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth über
Anerkennung und Umverteilung. Vgl. hierzu Nancy Fraser, Axel Honneth: Umvertei-
lung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a. M.
2003.

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Hans-Christoph Schmidt am Busch

oder die Freiheit, als Privatperson Verträge abzuschließen, betreffen)


bilden den institutionellen Rahmen marktwirtschaftlicher und kapital-
orientierter Austauschrelationen. Deshalb macht es hinsichtlich der
Fundierung einer Kapitalismuskritik einen erheblichen Unterschied,
ob das Privatrecht ein normativ gehaltvoller Institutionenkomplex ist
oder nicht. Diese Bedingung könnte etwa dadurch erfüllt sein, dass das
Privatrecht spezifische Arten der menschlichen Freiheit schützt, und es
ist sogar denkbar, dass es Arten der Freiheit gibt, die nur durch das
Privatrecht geschützt werden können. 4 Befunde wie diese wären im
vorliegenden Zusammenhang relevant, denn sie geben Aufschluss
über ›die normativen Kosten‹, welche eine Ersetzung des kapitalistische
Märkte strukturierenden Privatrechts durch andere Institutionen ha-
ben würde. Sollte sich hingegen herausstellen, dass privatrechtliche
Regelungen keinen normativen Gehalt haben, könnten derartige Kos-
ten nicht anfallen. Vom Standpunkt der Kritik des Kapitalismus würde
damit ein möglicher Einwand gegen dieses Vorhaben nicht geltend ge-
macht werden können.
Einer der bedeutendsten Vertreter der Frankfurter Schule, Jürgen
Habermas, hat sich zeit seines akademischen Lebens mit Themen wie
diesen beschäftigt. In den 1970er-Jahren hat er die Grundzüge eines
Forschungsprojekts entwickelt, durch das er klären wollte, ob sich die
Kapitalismuskritik des Historischen Materialismus in modifizierter
Form verteidigen lässt, und in diesem Zusammenhang hat er sich ein-
gehend mit dem normativen Status und »evolutionären Stellenwert«
des modernen Rechts befasst. 5 Soweit ich sehe, hat Habermas dieses
Projekt aber nicht im Einzelnen ausgearbeitet und in seinen späteren
Schriften eine andere Systematik entwickelt. 6 Aus diesem Grunde sind

4 Der zuletzt genannte Standpunkt wird sowohl von Rechtslibertaristen (wie Robert
Nozick) als auch von Linkslibertaristen (wie Hillel Steiner) vertreten. Ob auch Hegel,
dessen Anerkennungstheorie für die zeitgenössische Frankfurter Schule eine entschei-
dende Inspirationsquelle ist, der Ansicht war, dass bestimmte Arten von Freiheit nur
durch privatrechtliche Institutionen geschützt werden können, ist umstritten. Vgl. hier-
zu auch meine Überlegungen in »Anerkennung« als Prinzip der Kritischen Theorie.
Berlin/New York 2011.
5 Vgl. Jürgen Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Einer

der Aufsätze dieser Textsammlung trägt den Titel »Überlegungen zum evolutionären
Stellenwert des modernen Rechts«.
6 Ich beziehe mich hier vor allem auf Habermas’ Hauptwerke, Theorie des kommuni-

kativen Handelns und Faktizität und Geltung. Vgl. zu den Grundlagen von Habermas’
Überlegungen in diesen Schriften auch die erhellenden Analysen in Hugh Baxter: »Sys-

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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?

die Aufsätze, die in der Schrift Zur Rekonstruktion des Historischen


Materialismus gesammelt sind, als Habermas’ letzter Beitrag zu die-
sem Forschungsprojekt anzusehen.
Welche sachliche Relevanz hat Habermas’ Rekonstruktion des
Historischen Materialismus? Haben seine Überlegungen lediglich ein
theoriegeschichtliches Interesse oder können sie zeitgenössische Kriti-
ken des Kapitalismus systematisch bereichern? Angesichts des Um-
stands, dass Habermas selbst das Projekt der Rekonstruktion des His-
torischen Materialismus preisgegeben hat, würde man Letzteres nicht
vermuten. Andererseits lässt sich seit einiger Zeit ein disziplinenüber-
greifendes Wiedererstarken evolutionstheoretischer Forschung be-
obachten. 7 Darüber hinaus erlebt die Marx’sche Theorie eine Renais-
sance, und es gibt heutzutage nicht wenige Denker, die der Meinung
sind, dass diese Theorie hinsichtlich der Entwicklung des zeitgenössi-
schen Kapitalismus eine explanatorische Funktion erfüllen könne. 8 Es
ist deshalb nicht ausgemacht, ob Habermas’ Rekonstruktion des His-
torischen Materialismus tatsächlich nur in theoriegeschichtlicher Hin-
sicht von Interesse sein kann.
In dem vorliegenden Beitrag werde ich die Frage untersuchen, ob
Habermas’ Überlegungen eine geeignete Grundlage für eine Bestim-
mung des normativen Status des Privatrechts zur Verfügung stellen.
Ich werde mich hierbei allein auf Habermas’ Schrift Zur Rekonstruk-
tion des Historischen Materialismus beziehen; dies scheint mir ange-
sichts des oben genannten Umstandes, dass Habermas in seinen späte-

tem and Lifeworld in Habermas’s Theory of Law«. In: Cardozo Law Review, 23, 2
(2002), S. 473–616.
7 Einen Überblick über diese Entwicklung bietet Hauke Brunkhorst: »Die große Ge-

schichte der Exkarnation«. In: Michael Kühnlein, Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.):


Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor. Frankfurt
a. M. 2011, S. 44–77.
8
Zu diesen Denkern zählt auch Oskar Negt, der die folgende Auffassung vertritt: »Ge-
rade in dem Augenblick, da der Kapitalismus nicht enden wollende Triumphgesänge
über alles anstimmt, was auch nur den symbolischen Geruch von Sozialismus und
Marxismus vermittelt, funktioniert das Kapital zum ersten Mal in seiner ganzen Ent-
wicklungschronik genau so, wie Karl Marx es in seinem Kapital beschrieben hat.« (In:
Arbeit und menschliche Würde. Göttingen 2003, S. 80). Vgl. zur Aktualität der phi-
losophischen Grundlagen der Marx’schen Theorie auch die Beiträge von Daniel Brud-
ney, Andrew Chitty, Jean-Philippe Deranty, Michael Quante und Emmanuel Renault in
Hans-Christoph Schmidt am Busch (Hrsg.): Karl Marx and the Philosophy of Recogni-
tion. Sonderband der Zeitschrift Ethical Theory and Moral Practice, 16, 4 (2013),
S. 679–758.

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Hans-Christoph Schmidt am Busch

ren Abhandlungen eine andere Systematik entwickelt hat, sinnvoll zu


sein. Um beurteilen zu können, ob das Privatrecht im Rahmen des von
Habermas rekonstruierten Historischen Materialismus angemessen
erörtert werden kann, ist es erforderlich, diese Theorie zunächst in
ihren Grundzügen darzustellen und zu analysieren. Ich tue dies, indem
ich eine auf Marx zurückgehende Fassung des Historischen Materialis-
mus, mit der Habermas sich auseinandersetzt, rekonstruiere (I.), dar-
lege, warum Habermas diese Theorie als unbefriedigend ansieht (II.),
und im Lichte dieser Überlegungen die Grundannahmen und Kernele-
mente des von Habermas vertretenen Historischen Materialismus dis-
kutiere (III.). Mit meinen weiteren Ausführungen (IV.) möchte ich ver-
ständlich machen, warum der Historische Materialismus in der von
Habermas rekonstruierten Version keine einheitliche Grundlage für
eine Bestimmung des normativen Status des Privatrechts zur Ver-
fügung stellt und deshalb zeitgenössische Kapitalismuskritiken in die-
ser Hinsicht – zumindest ohne Weiteres – kaum wird sachlich berei-
chern können. Möchte man heute an die Habermas’sche Fassung des
Historischen Materialismus anschließen, wird man diese Theorie also
zumindest präzisieren müssen. Welche Erfordernisse eine solche ›Re-
konstruktion‹ des Historischen Materialismus hinsichtlich der Bestim-
mung des normativen Status des Privatrechts zu erfüllen hat, versuche
ich abschließend kurz darzulegen.

I.

Im »Vorwort« seiner 1859 erschienen Schrift Zur Kritik der politischen


Ökonomie skizziert Marx in programmatischen Worten eine Theorie
der sozialen Entwicklung, die für den Historischen Materialismus
grundlegend ist. Da sich Habermas im Rahmen seiner Rekonstruktion
des Historischen Materialismus eingehend mit dieser Theorieskizze
auseinandersetzt, ist es sinnvoll, Marx’ Ausführungen zunächst in Er-
innerung zu rufen. Marx schreibt:
»In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen be-
stimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Pro-
duktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer mate-
riellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsver-
hältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis,
worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher be-

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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?

stimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produkti-


onsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geisti-
gen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das
ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein
bestimmt.
Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen
Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Pro-
duktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit
den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten.
Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in
Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit
der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze un-
geheure Überbau langsamer oder rascher um.
Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte
entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsver-
hältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen
derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.
Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann,
denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur
entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden
oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. In großen Umris-
sen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktions-
weisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation
bezeichnet werden.
Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonisti-
sche Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht
im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesell-
schaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antago-
nismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden
Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung
dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die
Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.« (MEW 13, S. 8 f.) 9
Mit diesen Worten skizziert Marx die Grundzüge einer Theorie der
sozialen Entwicklung, die zugleich eine Theorie der Weltgeschichte zu
sein beansprucht – wie aus seinen Überlegungen zum »Ende der Vor-
geschichte der menschlichen Gesellschaft« hervorgeht. Ich werde im
Folgenden einige Grundannahmen und Kernelemente der Marx’schen
Theorie analysieren, und zwar im Hinblick auf die angestrebte Erörte-
rung von Habermas’ Rekonstruktion des Historischen Materialismus.

9
Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich den Marx’schen Text in vier Abschnitte
gegliedert.

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Mit meinen weiteren Ausführungen beanspruche ich also nicht, Marx’


oben wiedergegebene Überlegungen in allen Einzelheiten zu behan-
deln. 10
Im Zentrum der Marx’schen Theorie der sozialen Entwicklung
steht die Beziehung zwischen dem, was Marx »Produktionsverhältnis-
se« und »materielle Produktivkräfte« nennt. 11 In den Bereich der
materiellen Produktivkräfte fallen Dinge wie die Arbeitskraft der Men-
schen, die in der Gesellschaft vorhandenen Werkzeuge und Maschinen
sowie das gesellschaftlich verfügbare produktionsrelevante Wissen und
Know-how. Produktionsverhältnisse sind für Marx wesentlich »Eigen-
tumsverhältnisse«, welche die Möglichkeiten der rechtmäßigen Nut-
zung der materiellen Produktivkräfte regeln. Spezifische Konstellatio-
nen von Produktionsverhältnissen und materiellen Produktivkräften
bilden in Marx’ Verständnis spezifische gesellschaftliche »Produktions-
weisen des materiellen Lebens«.
Folgt man Marx’ oben zitierten Ausführungen, dann ist es die
Produktionsweise des materiellen Lebens, die »den sozialen, politi-
schen und geistigen Lebensprozess überhaupt bedingt«. Wenngleich
er nicht erläutert, was er im vorliegenden Zusammenhang unter »be-
dingen« versteht, scheint Marx zumindest der Meinung zu sein, dass
einer spezifischen »ökonomischen« Produktionsweise spezifische
rechtliche (»juristische«) und staatliche (»politische«) Institutionen so-
wie spezifische »gesellschaftliche Bewusstseinsformen« entsprechen.
Darüber hinaus behauptet Marx, dass diese Bewusstseinsformen durch
die gesellschaftliche Produktionsweise bzw. das »gesellschaftliche
Sein« der Menschen »bestimmt« werden – eine Aussage, die nahelegt,
dass die Produktionsweise einer Gesellschaft in Marx’ Verständnis die
Ursache der Existenz spezifischer gesellschaftlicher Bewusstseinsfor-
men ist. Ob Marx’ Rede von der »realen Basis« und dem »Überbau«
einer Gesellschaft besagt, dass die Produktionsweise des materiellen
Lebens die institutionellen Gegebenheiten in den anderen gesellschaft-

10 Im vorliegenden Zusammenhang muss ich auch die Frage unbehandelt lassen, ob


Marx’ Werk als Ausarbeitung der im »Vorwort« der Schrift Zur Kritik der politischen
Ökonomie skizzierten Theorie der sozialen Entwicklung verstanden werden kann oder
nicht.
11
Vgl. hierzu nun auch Quante: »Geschichtsbegriff und Geschichtsphilosophie. Ein
analytischer Kommentar (S. 28–36)«: In: Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche
Ideologie (Reihe: Klassiker Auslegen). Hrsg. v. Harald Bluhm. Berlin 2010, S. 83–99
und Marco Iorio: Einführung in die Theorien von Karl Marx. Berlin 2012.

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lichen Bereichen in einem kausalen Sinne determiniert, ist unter


Marx-Interpreten umstritten. 12
Soziale Entwicklung (»eine Epoche sozialer Revolution«) erklärt
Marx mit Veränderungen im Bereich der gesellschaftlichen Produkti-
onsweise, genauer: aus dem Zusammenspiel der Produktionsverhält-
nisse und materiellen Produktivkräfte einer Gesellschaft. In diesem
Kontext unterscheidet Marx zwischen zwei Arten von Relationen: der
Relation der Entsprechung und der des Widerspruchs. Die gesellschaft-
lichen Produktionsverhältnisse entsprechen den materiellen Produk-
tivkräften, wenn sie »Entwicklungsformen« derselben, und sie wider-
sprechen den materiellen Produktivkräften, wenn sie »Fesseln«
derselben sind. In jenem Fall ermöglichen die gesellschaftlichen Pro-
duktionsverhältnisse eine weitere Entwicklung der materiellen Produk-
tivkräfte, in diesem Fall machen sie eine solche Entwicklung unmöglich.
Offenbar ist Marx der Meinung, dass bestehende Produktionsverhält-
nisse bezüglich derjenigen Produktivkräfte, deren Nutzungsmöglich-
keiten sie regeln, entweder »Entwicklungsformen« oder »Fesseln« sind.
Folgt man Marx, dann ist die Entwicklung der materiellen Pro-
duktivkräfte der Motor jeder sozialen Evolution. Durch die fortschrei-
tende Entwicklung der materiellen Produktivkräfte tritt nämlich früher
oder später eine Situation ein, in der die gesellschaftlichen Produkti-
onsverhältnisse ihnen nicht mehr entsprechen, sondern im Gegenteil
widersprechen. Ist eine solche Situation erreicht, findet nach Marx eine
»soziale Revolution« statt, in deren Verlauf »neue höhere Produktions-
verhältnisse«, die den entwickelten Produktivkräften entsprechen, an
die Stelle der bisherigen Produktionsverhältnisse treten und der gesell-
schaftliche »Überbau« eine der neuen Produktionsweise entsprechende
Gestalt annimmt. Wie sich Marx’ Theorieskizze entnehmen lässt, ist
die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte, durch welche diese in
einen Widerspruch mit den bestehenden Produktionsverhältnissen ge-
raten, für das Eintreten einer »sozialen Revolution« sowohl notwendig
als auch hinreichend – das geht hervor aus den oben zitierten Aussagen
»Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte
entwickelt sind, für die sie weit genug ist« und »Auf einer gewissen
Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der
Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsver-
hältnissen […] Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein«. Folg-

12 Vgl. hierzu auch RHM 157–163.

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lich bildet die Kategorie der materiellen Produktivkräfte den Schlüssel


zum Marx’schen Verständnis von sozialer Entwicklung.

II.

In Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus setzt sich Jür-


gen Habermas eingehend mit der soeben skizzierten Fassung des His-
torischen Materialismus auseinander, und er macht deutlich, warum er
sie als unbefriedigend ansieht. Habermas’ Kritik betrifft vor allem die
folgenden Punkte:
1. Bejaht man den Historischen Materialismus in der soeben be-
trachteten, auf Marx zurückgehenden Fassung, dann versteht
man die »Gattungsgeschichte« als »die einlinige, notwendige, un-
unterbrochene und aufsteigende Entwicklung eines Makrosub-
jekts« (RHM 154). Ein solches Geschichtsverständnis ist aber nach
Habermas’ Auffassung mit philosophischen Mitteln nicht zu
rechtfertigen, 13 und es ist erheblichen empirischen Einwänden
ausgesetzt. 14 Grundsätzlich weist Habermas deshalb die in Rede
stehende Fassung des Historischen Materialismus als »dogma-
tisch« (ebd.) zurück.
2. Näher kritisiert Habermas eine Fassung des Marx’schen »Über-
bautheorems«, die er als »ökonomistisch« (RHM 157) charakteri-
siert:
»Dieser Interpretation zufolge gliedert sich jede Gesellschaft (je nach
dem Grad ihrer Komplexität) in Teilsysteme, die sich hierarchisch in
der Reihenfolge des ökonomischen, des administrativ-politischen, des
sozialen und des kulturellen Bereichs einordnen lassen. Das Theorem
besagt dann, dass Prozesse der höheren Teilsysteme von Prozessen der
jeweils niedrigeren Teilsysteme im Sinne kausaler Abhängigkeit deter-
miniert sind.« (ebd.)

13 Im vorliegenden Zusammenhang begnügt sich Habermas damit, auf die »bekannten


Einwände gegen den Objektivismus des geschichtsphilosophischen Denkens« (RHM
154) hinzuweisen.
14 Diese Einwände betreffen etwa die auf Marx zurückgehende Annahme, dass sich die

»Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« in eine bestimmte Anzahl spezifischer


»ökonomischer Gesellschaftsformationen« gliedern lasse (vgl. RHM 153–154).

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Habermas gibt zunächst zu bedenken, das diese »Interpretation«


des Überbautheorems sich gar nicht auf Marx’ Ausführungen
stützen könne – da diese nicht die »ontologische Verfassung der
Gesellschaft« im Allgemeinen betreffen, sondern lediglich »die
Abhängigkeit des Überbaus von der Basis […] für die kritische
Phase« behaupten, »in der eine Gesellschaft zu einem neuen Ent-
wicklungsniveau übergeht« (RHM 158). 15 Sachlich macht Haber-
mas geltend, dass die von Marx nahegelegte Gleichsetzung von
»realer Basis« und »ökonomischer Struktur« nur auf kapitalisti-
sche Gesellschaften zutrifft, nicht aber eine allgemeine geschicht-
liche Gültigkeit beanspruchen kann. Deshalb könne die oben
skizzierte »ökonomistische« Interpretation des Marx’schen Über-
bautheorems nicht richtig sein.
3. Auch die Marx’sche Analyse des Zusammenspiels (»Dialektik«)
von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen – eine wei-
tere »Grundannahme« (RHM 157) des Historischen Materialis-
mus – wird von Habermas zurückgewiesen. Unter Bezugnahme
auf empirische Befunde kritisiert Habermas die von Marx vertre-
tene These, dass die Entwicklung der Produktivkräfte, durch wel-
che diese in Widerspruch zu den bestehenden Produktionsverhält-
nissen geraten, eine notwendige Bedingung sozialer Evolution sei:
»Wohl sind einige Beispiele dafür bekannt, daß infolge einer Steigerung
der Produktivkräfte Systemprobleme entstanden sind, welche die
Steuerungskapazität verwandtschaftlich organisierter Gesellschaften
überfordert und die Urgemeinschaftsordnung erschüttert haben – so
offenbar in Polynesien und Südafrika. Aber die großen endogenen Ent-
wicklungsschübe, die zur Entstehung der ersten Hochkulturen oder zur
Entstehung des europäischen Kapitalismus geführt haben, hatten eine
nennenswerte Entfaltung der Produktivkräfte nicht zur Bedingung,
sondern zur Folge. In diesen Fällen kann nicht die Produktivkraftentfal-
tung zur evolutionären Herausforderung geführt haben.« (RHM 161)

Darüber hinaus kritisiert Habermas die Marx’sche These, die Ent-


wicklung von Produktivkräften sei eine hinreichende Bedingung
der Etablierung »höherer Produktionsverhältnisse«. In Habermas’
Urteil kann diese These nicht richtig sein. Denn die Entwicklung

15 Ob diese Einschätzung, die Habermas von Karl Kautsky übernimmt (vgl. RHM 158),
in Marx-interpretatorischer Hinsicht überzeugend ist, kann im vorliegenden Zusam-
menhang offen bleiben.

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der gesellschaftlichen Produktivkräfte mag zwar in einzelnen Fäl-


len »die Entstehung von Systemproblemen erklären, die, wenn die
strukturellen Unähnlichkeiten zwischen Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen zu groß werden, den Bestand der Pro-
duktionsweise bedrohen«; was die Produktivkraftentwicklung je-
doch nicht erklären kann, ist die Art und Weise, »wie die entstan-
denen Probleme gelöst werden« (RHM 160). Aus diesem Grund
hält Habermas die Marx’sche Analyse der Dialektik von Produk-
tivkräften und Produktionsverhältnissen für lückenhaft: Um die
Etablierung höherer Produktionsverhältnisse erklären zu können,
bedarf es seines Erachtens einer Theorie, die verständlich macht,
warum in einer bestimmten historischen Situation gesellschaftli-
che Probleme so und nicht anders gelöst worden sind.

III.

Es ist überraschend, dass Habermas den Historischen Materialismus


nicht als eine im Ansatz verfehlte Theorie verwirft. Angesichts seiner
soeben betrachteten Kritik an Grundannahmen und Kernelementen
des Historischen Materialismus würde man genau dies erwarten. Doch
Habermas glaubt, dass der Historische Materialismus so rekonstruiert
werden kann, dass er eine »aussichtsreiche« (RHM 144) theoretische
Position bildet – aus diesem Grunde ist es seine »erklärte Absicht, an
den Historischen Materialismus anzuknüpfen« (RHM 38). Um zu ver-
stehen, warum Habermas diese Überzeugung teilt, sind zwei Dinge
herauszuarbeiten: erstens die Ziele, die Habermas mit seiner Rekon-
struktion des Historischen Materialismus verbindet, und zweitens die
Grundzüge dieser Rekonstruktion selbst. Diese beiden Gegenstände
werde ich nun der Reihe nach behandeln.
Mit seiner Rekonstruktion des Historischen Materialismus ver-
folgt Habermas im Wesentlichen zwei Ziele: Er möchte erstens sozial-
theoretische Klarheit bezüglich der Grundlagen moderner Gesell-
schaften gewinnen und zweitens in der Lage sein, unterschiedliche
Gesellschaftsformationen unter evolutionären Gesichtspunkten zu
klassifizieren. 16 Habermas konstatiert, dass es bezüglich der zu jener

16
Auch von heutigen Gesellschaftstheoretikern wird die Verfolgung dieser Ziele als
wichtig angesehen. Das zeigt etwa die Diskussion der Frage, ob der zeitgenössische

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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?

Zeit existierenden kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaften


eine Vielzahl an »rivalisierenden« (RHM 42) Sozialtheorien gebe, die
das evolutionäre Niveau ihres Untersuchungsgegenstandes zum Teil
unterschiedlich beurteilten. Als Beispiel verweist er auf die »Einord-
nung der bürokratisch-sozialistischen Gesellschaften«:
»[N]ach der einen Version haben die Gesellschaften des bürokratisch-sozialis-
tischen Typs gegenüber den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften eine
höhere evolutionäre Stufe erreicht; der anderen Version zufolge handelt es
sich in beiden Fällen um Varianten derselben Entwicklungsstufe.« (RHM 43)
Um in Fällen wie diesem beurteilen zu können, welche Theorien ihren
Gegenstand in sozialtheoretischer Hinsicht angemessen analysieren
und klassifizieren, ist es nach Habermas’ Auffassung erforderlich, das
»Organisationsprinzip« moderner Gesellschaften »aus der Perspektive
der Entstehung dieser Gesellschaftsformation« (RHM 42) zu bestim-
men. Verfügt man nämlich über dieses Wissen, so Habermas, dann
lässt sich prüfen, ob spezifische institutionelle Neuerungen Bestand-
teile des Organisationsprinzips moderner Gesellschaften sind oder
nicht, und mithin angeben, welchen institutionellen Variationsspiel-
raum diese Gesellschaften besitzen. Damit aber gewinnt man beispiels-
weise die Möglichkeit zu beurteilen, ob kapitalistische und sozialisti-
sche Gesellschaften »Varianten derselben Entwicklungsstufe« sind
oder unterschiedlichen »evolutionären Stufe« entsprechen.
Wie gesehen, glaubt Habermas, seine soeben genannten Ziele mit-
hilfe einer Rekonstruktion des Historischen Materialismus erreichen
zu können. Dabei ist er sich darüber im Klaren, dass diese Rekonstruk-
tion »in mancher Hinsicht« eine »Revision« (RHM 9) des dogmati-
schen Historischen Materialismus erforderlich mache (vgl. RHM 144).
Wenngleich sie vielschichtig ist und sich auf Forschungsergebnisse aus
zahlreichen Disziplinen stützt, lässt sich die von Habermas vertretene
Fassung des Historischen Materialismus in ihren Grundzügen thesen-
artig darstellen: 17

Kapitalismus, der durch Prozesse der Globalisierung charakterisiert ist, Tendenzen der
Refeudalisierung aufweise oder nicht. Entgegengesetzte Positionen vertreten in dieser
Frage Sighard Neckel: Refeudalisierung der Ökonomie. Zum Strukturwandel kapitalis-
tischer Wirtschaft. Köln 2010 und Wolfgang Streek: Re-Forming Capitalism. Institu-
tional Change in the German Political Economy. Oxford 2010.
17 Bei der Ausarbeitung der folgenden Darstellung war mir Thomas McCarthys Erör-

terung der Habermas’schen Position (in: Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur


Theorie von Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 1989, S. 265–308) eine große Hilfe.

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Hans-Christoph Schmidt am Busch

1. Die für den Historischen Materialismus basale Sphäre der gesell-


schaftlichen Arbeit – also der arbeitsteiligen Produktion und Dis-
tribution von Gütern – wird nicht nur durch Regeln des instru-
mentellen und strategischen Handelns (welche die Herstellung
von Gütern und die Koordinierung von Arbeitsleistungen betref-
fen), sondern auch durch Regeln des kommunikativen Handelns
und mithin durch ein spezifisches Niveau des »moralisch-prakti-
schen Bewusstseins« (RHM 163) strukturiert: »Die Verteilung der
erzeugten Produkte verlangt […] Interaktionsregeln, die auf dem
Niveau sprachlicher Verständigung intersubjektiv als anerkannte
Normen oder Regeln kommunikativen Handelns von einzelnen
Situationen abgelöst und auf Dauer gestellt werden können.«
(RHM 146)
2. Bezüglich des moralisch-praktischen Bewusstseins gilt: Es durch-
läuft auf der Ebene der menschlichen »Gattung« (RHM 162) eine
Entwicklung, deren »Logik« (RHM 163) von der Entwicklung des
»technisch verwertbaren Wissens« (RHM 162) unabhängig ist.
Die verschiedenen Stufen dieser Entwicklung lassen sich im Rück-
griff auf die Ergebnisse der kognitivistischen Entwicklungspsy-
chologie als »präkonventionelle, konventionelle und postkonven-
tionelle Muster der Problemlösung« (RHM 13) beschreiben und
analysieren.
3. Eine Gesellschaft hat ein spezifisches Organisationsprinzip.
4. »Unter Organisationsprinzipien«, stellt Habermas fest, »verstehe
ich diejenigen Innovationen, die durch entwicklungslogisch nach-
konstruierbare Lernschritte möglich werden und die ein jeweils
neues Lernniveau der Gesellschaft institutionalisieren.« (RHM
168) 18 Darüber hinaus vertritt er die These, dass »neue gesell-
schaftliche Organisationsprinzipien neue Formen der sozialen In-

18 Nach dieser Definition ist jede Innovation, die eine Entwicklung (»Lernschritt«) des

moralisch-praktischen Bewusstseins ermöglicht und institutionalisiert, ein Bestandteil


des Organisationsprinzips der fraglichen (neuen) Gesellschaft. An anderen Stellen von
RHM scheint Habermas aber der Ansicht zu sein, dass nur bestimmte Innovationen
dieser Art zum gesellschaftlichen Organisationsprinzip zu zählen sind (vgl. z. B. RHM
237). Je nach dem, welche dieser beiden Auffassung man teilt, wird man den institutio-
nellen Variationsspielraum von Gesellschaften unterschiedlich beurteilen. Eine Präzi-
sierung des in Rede stehenden Zusammenhangs ist deshalb nach Maßgabe der von
Habermas selbst ausgearbeiteten Version des Historischen Materialismus wichtig.
Siehe unten, Teil IV.

286

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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?

tegration bedeuten« (RHM 35), und »mit Durkheim« versteht er


»unter sozialer Integration die Sicherung der Einheit der Lebens-
welt über Werte und Normen« (RHM 159). Aus diesen Gründen
ist die oben genannte Entwicklung des moralisch-praktischen Be-
wusstseins für Habermas hinsichtlich der Möglichkeit der Etablie-
rung »neuer gesellschaftlicher Organisationsprinzipien« entschei-
dend. 19
5. Die Entwicklungslogik des moralisch-praktischen Bewusstseins ist
begrifflich von dessen »Entwicklungsdynamik« (RHM 12) zu un-
terscheiden: Jene betrifft die für die verschiedenen Stufen des mo-
ralisch-praktischen Bewusstseins charakteristischen Arten der
Problemlösung, diese die kausal relevanten Faktoren (»Mechanis-
men«; ebd.), aufgrund welcher ein Wandel normativer Strukturen
– und mithin die Etablierung neuer gesellschaftlicher Organisati-
onsprinzipien – zustande kommt.
6. Eine Untersuchung der Entwicklungsdynamik des moralisch-
praktischen Bewusstseins hat systemtheoretisch anzusetzen: »In
seiner Entwicklungsdynamik bleibt dieser Wandel normativer
Strukturen abhängig von den evolutionären Herausforderungen
ungelöster, ökonomisch bedingter Systemprobleme, und von
Lernprozessen, die darauf antworten.« (ebd.)
Der so rekonstruierte Historische Materialismus ist nach Habermas’
Ansicht den oben genannten Einwänden nicht ausgesetzt. 20 Unter Be-
zugnahme auf die Entwicklung des moralisch-praktischen Bewusst-
seins kann er erklären, warum in einer bestimmten historischen Situa-
tion systemische Probleme so und nicht anders gelöst worden sind;
darüber hinaus analysiert er die Struktur von Gesellschaften nicht
»ökonomistisch« (in dem oben explizierten Sinne); und schließlich be-
hauptet er »weder Unilinearität, noch Notwendigkeit, noch Kontinui-
tät, noch Nichtumkehrbarkeit der Geschichte« (RHM 154), sondern
weist »kontingenten Randbedingungen« und »empirisch erforschbaren
Lernprozessen« (RHM 155) eine Schlüsselfunktion im Rahmen der
Erklärung von Prozessen sozialer Evolution zu.
Auf der Grundlage des von ihm ausgearbeiteten Historischen Ma-
terialismus gelangt Habermas zu der Einschätzung, dass das Organisa-

19 »Ich möchte sogar die These vertreten, daß die Entwicklung dieser normativen
Strukturen der Schrittmacher der sozialen Evolution ist.« (RHM 35)
20 Siehe oben, Teil II.

287

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Hans-Christoph Schmidt am Busch

tionsprinzip moderner Gesellschaften durch das moralisch-praktische


Bewusstsein auf der postkonventionellen Stufe geprägt sei. Dieses Be-
wusstsein ist in dem Sinne »universalistisch« verfasst, dass es von der
»grundsätzlichen Kritisierbarkeit und Rechtfertigungsbedürftigkeit«
(RHM 266) der die menschlichen Interaktionen regelnden Normen
überzeugt ist und den Standpunkt vertritt, dass Normenkonflikte allein
durch eine »prinzipiengeleitete Moral«, nicht aber durch Bezugnahme
auf sittliche Traditionen oder religiöse Autoritäten gelöst werden kön-
nen. Wie Habermas zu zeigen versucht, sind universalistische Struktu-
ren, die in »Weltbildern« (RHM 243) bereits ausgebildet und verfügbar
waren, zu Beginn der europäischen Moderne zur Lösung von systemi-
schen Problemen genutzt worden, welche die mittelalterliche Feu-
dalordnung belasteten und überforderten. Demnach erklärt sich die
Etablierung des für moderne Gesellschaften charakteristischen Organi-
sationsprinzips aus einem Zusammenspiel von kollektiven »Lernpro-
zessen« (des moralisch-praktischen Bewusstseins) und systemischen
Problemen, welche durch die gesellschaftliche Fruchtbarmachung des
kollektiv Erlernten gelöst werden konnten.

IV.

Welche sozialtheoretische Tragweite hat Habermas’ Rekonstruktion


des Organisationsprinzips moderner Gesellschaften? Und welche Per-
spektiven eröffnet sie einer zeitgenössischen Kapitalismuskritik? Er-
innern wir uns: Habermas möchte eine Theorie entwickeln, die es ihm
ermöglicht, zeitgenössische Gesellschaften in sozialtheoretischer Hin-
sicht angemessen zu analysieren und unter evolutionären Gesichts-
punkten zu klassifizieren, und in diesem Zusammenhang fragt er
beispielsweise, ob kapitalistische und sozialistische Gesellschaften
dasselbe Entwicklungsniveau verkörpern oder unterschiedlichen Ent-
wicklungsstufen entsprechen. Welches Potential also hat der von ihm
rekonstruierte Historische Materialismus hinsichtlich der Beantwor-
tung von Fragen wie dieser?
Um sich über das Entwicklungsniveau von kapitalistischen im
Vergleich zu sozialistischen Gesellschaften zu verständigen, wird man
zu klären haben, welchen normativen Status das Privatrecht hat. Dieses
Recht bildet nämlich – als »die institutionelle Garantie des Eigentums
mit den Konnexgarantien der Vertragsfreiheit, des Gewerbe- und des

288

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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?

Erbrechts« (RHM 262) – den strukturellen Rahmen marktwirtschaftli-


cher und kapitalorientierter Austauschrelationen. Sofern man die
Grundannahmen dieses Theorietyps teilt, 21 wird man die Erwartung
haben, dass der Historische Materialismus in der von Habermas rekon-
struierten Fassung eine methodisch kontrollierte Bestimmung des nor-
mativen Status des Privatrechts ermöglicht. Zu diesem Zweck, so ist in
Anbetracht unserer bisherigen Überlegungen zu vermuten, wird zu
untersuchen sein, ob das Privatrecht eine »Verkörperung« von post-
konventionellen Strukturen des moralisch-praktischen Bewusstseins
ist und mithin zu denjenigen »Innovationen« gehört, durch die das
für die moderne Gesellschaft charakteristische Organisationsprinzip
institutionalisiert wird. 22 Falls das Privatrecht diese Bedingung adäquat
erfüllt, ist nicht zu erkennen, wie sozialistische Gesellschaften, die den
fraglichen sozialen Bereich durch andere Institutionen regeln, auf-
grund dieses Reglements ein höheres Entwicklungsniveau als kapita-
listische Gesellschaften erreichen können; 23 falls das Privatrecht jene
Bedingung nicht adäquat erfüllt, ist es hingegen denkbar, dass sozia-
listische Gesellschaften aufgrund von alternativen institutionellen
Arrangements ein höheres Entwicklungsniveau als kapitalistische Ge-
sellschaften erreichen – aus Sicht des Historischen Materialismus Ha-
bermas’scher Prägung wäre dies dann der Fall, wenn diese alternativen
Institutionen als »Verkörperungen« von postkonventionellen Be-
wusstseinsstrukturen ausgewiesen werden könnten.

21 Ob diese Annahmen plausibel sind oder nicht, müsste im Einzelnen untersucht wer-
den. Denn es ist natürlich denkbar, dass sich die Entwicklung des moralisch-praktischen
Bewusstseins der menschlichen Gattung im Rückgriff auf die kognitivistische Entwick-
lungspsychologie nicht angemessen analysieren lässt; dass Gesellschaften nicht genau
ein Organisationsprinzip haben; oder dass soziale Entwicklungsprozesse nicht durch
systemische Probleme ausgelöst werden. Allerdings muss eine Erörterung dieser The-
men nach Maßgabe unserer hier entwickelten Überlegungen nicht unmittelbar erfol-
gen; sie kann vielmehr sinnvoll im Zuge einer Klärung der am Ende unseres Beitrags
genannten Fragen durchgeführt werden. Siehe unten.
22 Siehe oben, Teil III.

23 Allerdings ist es denkbar, dass die von sozialistischen Gesellschaften in diesem Be-

reich etablierten Institutionen nach Maßgabe des moralisch-praktischen Bewusstseins


auf der postkonventionellen Stufe genauso gut ›abschneiden‹ wie privatrechtliche Re-
gelungen in kapitalistischen Gesellschaften. Ist das der Fall, dann verkörpern diese bei-
den Gesellschaftstypen in dem fraglichen Bereich aus Habermas’ Sicht dasselbe Ent-
wicklungsniveau.

289

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Hans-Christoph Schmidt am Busch

Habermas erörtert das Privatrecht im Rahmen von »Überlegun-


gen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«. 24 Im Lichte
unserer bisherigen Betrachtungen ist es keine Überraschung, dass er
das moderne Recht als eine Verkörperung von postkonventionellen
Bewusstseinsstrukturen ansieht und deshalb in normativer Hinsicht
als einen Fortschritt (»Rationalitätszuwachs«) beurteilt: »Entwick-
lungslogisch betrachtet, kann die Form des modernen Rechts als eine
Verkörperung postkonventioneller Bewusstseinsstrukturen begriffen
werden; insofern bemisst sich der Rationalitätszuwachs des modernen
Rechts an seiner Normrationalität.« (RHM 266)
Diesen Standpunkt begründet Habermas mit Überlegungen zur
Struktur des modernen Rechts. Nach seiner Auffassung wird diese
Struktur durch die »Konventionalität«, den »Legalismus«, die »Forma-
lität« sowie die »Allgemeinheit« 25 des modernen Rechts geprägt. Wo-
rin bestehen diese Merkmale? Konventionell ist das moderne Recht für
Habermas, weil es nicht von der »Interpretation anerkannter und ge-
heiligter Traditionen« zehrt, sondern vielmehr »den Willen eines
souveränen Gesetzgebers aus[drückt], der mit rechtlichen Organisati-
onsmitteln soziale Tatbestände konventionell regelt« (RHM 264); lega-
listisch ist das moderne Recht, weil es nicht »böse Gesinnung«, sondern
allein »normabweichende Handlungen« (ebd.) sanktioniert; formal,
weil es »Bereiche der legitimen Willkür von Privatpersonen […] nega-
tiv auf dem Wege der Einschränkung von prinzipiell anerkannten Be-
rechtigungen (anstelle einer positiven Regelung über konkrete Pflich-
ten und materiale Gebote)« (ebd.) etabliert; schließlich ist das moderne
Recht in dem Sinne allgemein, dass es »[s]einem Anspruch nach […]
aus allgemeinen Normen bestehen [soll], die grundsätzlich keine Aus-
nahmen und keine Privilegierungen zulassen.« (RHM 265) Ein so be-
schaffenes Recht zehrt in Habermas’ Urteil von den Leistungen des
moralisch-praktischen Bewusstseins auf der postkonventionellen Stufe
und sei ohne dieselben nicht möglich. Deshalb sei die oben genannte
Einschätzung gerechtfertigt, nach der das moderne Recht eine Verkör-
perung von postkonventionellen Bewusstseinsstrukturen ist. Haber-
mas erläutert diesen Zusammenhang wie folgt:

24
Allerdings finden sich diese Überlegungen in Zur Rekonstruktion des Historischen
Materialismus nicht nur in dem so betitelten Aufsatz.
25
Zur Bezeichnung dieses vierten Strukturmerkmals des modernen Rechts verwendet
Habermas auch die Ausdrücke »Generalität« und »Universalität« (vgl. u. a. RHM 266).

290

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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?

»Das moderne Recht setzt die sittliche Neutralisierung der einer rechtlichen
Regelung vorbehaltenen Handlungsbereiche voraus. Die Konventionalisie-
rung, Legalisierung und Formalisierung des Rechts bedeutet, dass es nicht
länger von der selbstverständlichen Autorität sittlicher Traditionen zehren
kann, sondern einer autonomen Begründung bedarf. Einer solchen Forderung
kann aber das moralische Bewusstsein erst auf postkonventioneller Stufe ge-
nügen, hier erst entsteht die Idee der grundsätzlichen Kritisierbarkeit und
Rechtfertigungsbedürftigkeit von Rechtsnormen, die Unterscheidung zwi-
schen Handlungsnormen und Handlungsprinzipien, der Begriff einer prinzi-
piengeleiteten Erzeugung von Normen, die Vorstellung der vernünftigen
Vereinbarung über Normen, auch die eines Kontraktes, der Vertragsbezie-
hungen erst möglich macht, die Einsicht in den Zusammenhang der All-
gemeinheit und der Begründungsfähigkeit von Rechtsnormen, die Konzepte
der allgemeinen Rechtsfähigkeit, der abstrakten Rechtsperson, der rechtsset-
zenden Kraft der Subjektivität usw. Diese postkonventionellen Grundbegrif-
fe, die in Philosophie und Rechtstheorie auch schon vorher entwickelt worden
waren, konnten mit dem Übergang zur Moderne das geltende Recht durch-
dringen und umstrukturieren.« (RHM 266)
Welchen normativen Status und »evolutionären Stellenwert« (RHM
260) hat das Privatrecht, also derjenige Teilbereich des modernen
Rechts, welcher der »institutionellen Garantie des Eigentums mit den
Konnexgarantien der Vertragsfreiheit, des Gewerbe- und des Erb-
rechts« dient? Möchte man diese Frage beantworten, wird man zu
untersuchen haben, ob das Privatrecht in dem oben genannten Sinne
konventionell, legalistisch, formal und allgemein ist. Denn von der
Realisierung der entsprechenden Strukturmerkmale hängt ja nach Ha-
bermas’ Einschätzung ab, ob rechtliche Institutionen und Regelungen
als Verkörperungen von postkonventionellen Bewusstseinsstrukturen
anzusehen sind oder nicht. Kommen dem Privatrecht also die Merk-
male der Konventionalität, des Legalismus, der Formalität und der All-
gemeinheit zu?
Erstaunlicherweise wird diese Frage in der Schrift Zur Rekon-
struktion des Historischen Materialismus nicht einheitlich beantwor-
tet. An einigen Stellen dieser Aufsatzsammlung wird die Einschätzung
geäußert, das Privatrecht sei konventionell, legalistisch, formal und all-
gemein, an anderen Stellen wird diese Auffassung kritisiert. Durch-
gängig vertritt Habermas die These, dass das Privatrecht konventionell,
legalistisch und formal sei – das zeige eine Analyse der Interaktionen
und Konfliktlösungen in privatrechtlich strukturierten Bereichen mo-
derner Gesellschaften –; schwankend ist demgegenüber seine Haltung

291

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Hans-Christoph Schmidt am Busch

in der Frage, ob dem Privatrecht auch das Merkmal der »Allgemein-


heit« oder »Universalität« zukomme. Einerseits finden sich in Zur Re-
konstruktion des Historischen Materialismus Textstellen wie die fol-
gende, an denen Habermas auf diese Frage eine positive Antwort gibt:
»Die Institution des Lohnarbeitsvertrages, mit dem eine soziale Klasse der
freien, von Traditionsbindungen der berufsständischen und feudalen Arbeits-
organisation freigesetzten Produzenten möglich wird, wird zum Kern eines
freilich erst im 18. Jahrhundert voll entwickelten Privatrechtssystems. Dieses
verkörpert universalistische Prinzipien und regelt den Verkehr der privaten
Rechtssubjekte nach allgemeinen Normen, die Bereiche strategischen Han-
delns ausgrenzen – Bereiche für eine von konkreter Sittlichkeit entbundene
Interessenverfolgung vereinzelter Privatleute.« (RHM 237 f.) 26
Andererseits enthält Zur Rekonstruktion des Historischen Materialis-
mus Aussagen, mit denen ausdrücklich bestritten wird, dass das Pri-
vatrecht das Merkmal der »Allgemeinheit« tatsächlich aufweist. So
stellt Habermas beispielsweise fest: »Gewiss hat die marxistische Kritik
des bürgerlichen Rechts nachweisen können, dass Allgemeinheit der
Gesetzesnorm in vielen Fällen nur dem Wortlaut und der Form nach,
nicht aber in Ansehung der tatsächlichen Konsequenzen gesichert ist.
Auch diese Kritik setzt aber noch den Anspruch voraus, der mit dem
abstrakten Recht verbunden worden ist.« (RHM 265) Deshalb bediene
»die Ideologiekritik […] sich der funktionalistischen Analyse von
Rechtssystemen nur, um die uneingelösten normativen Geltungs-
ansprüche einzuklagen, nicht um diese zu suspendieren« (RHM 267).
Hält man sich an den Wortlaut der soeben zitierten Textstellen,
dann wird man feststellen, dass Habermas’ Rekonstruktion des His-
torischen Materialismus keine einheitliche Grundlage für die Beant-
wortung der Frage zur Verfügung stellt, ob das Privatrecht eine Ver-
körperung von postkonventionellen Strukturen des moralisch-
praktischen Bewusstseins ist oder nicht. Wie gesehen, wird diesem
Recht das Merkmal der Allgemeinheit bzw. der Universalität nämlich
sowohl zu- als auch abgesprochen. Wenn aber unklar ist, ob das Pri-
vatrecht postkonventionelle Bewusstseinsstrukturen verkörpert, ist
ebenfalls unklar, welchen normativen Status dieses Recht hat und ob
es gemäß dem Organisationsprinzip moderner Gesellschaften ein ge-
nuiner Bestandteil derselben sein kann. Denn für jenen Status und

26
Auch an anderen Stellen seines Buches betont Habermas den »universalistischen«
Charakter des Privatrechts. Vgl. z. B. RHM 37 und 173.

292

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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?

dieses Prinzip sind ja, wie erläutert, aus Habermas’ Sicht spezifische
Strukturen des moralisch-praktischen Bewusstseins maßgebend. 27
Treffen diese Überlegungen zu, dann ist kaum zu erkennen, wie
der von Habermas rekonstruierte Historische Materialismus die ihm
eigenen Ziele erreichen kann. Wie gesehen, geht es dieser Theorie ja
darum, zeitgenössische Gesellschaftsformationen im Rückgriff auf das
Organisationsprinzip moderner Gesellschaften zu analysieren und zu
klassifizieren. Sollte es ihr tatsächlich nicht gelingen, auf diesem Wege
Klarheit über die für kapitalistische Austauschrelationen konstitutive
Institution des Privatrechts zu erzielen, ist diese Variante des Histori-
schen Materialismus aber in Gefahr, ihre Ziele zu verfehlen.
Hier liegt der Einwand nahe, dass die von uns herausgestellte
Unklarheit (bezüglich der Frage, ob das Privatrecht allgemein bzw. uni-
versalistisch ist) einen sachlichen Grund hat: Dort nämlich, wo dem
Privatrecht dieses Merkmal zugesprochen wird, ist allein von der for-
malen Beschaffenheit der privatrechtlichen Bestimmungen, nicht aber
von den Auswirkungen der Befolgung derselben in puncto Einkom-
mens- und Vermögensverteilung (den »tatsächlichen Konsequenzen«)
die Rede; dort hingegen, wo dem Privatrecht dieses Merkmal abgespro-
chen wird, bezieht sich »Allgemeinheit« bzw. »Universalität« nicht nur
auf die formale Beschaffenheit der privatrechtlichen Bestimmungen,
sondern auch auf die Auswirkungen der Befolgung derselben in puncto
Einkommens- und Vermögensverteilung (die »tatsächlichen Kon-
sequenzen«). Folglich hat die Kategorie der Allgemeinheit oder Uni-
versalität in unterschiedlichen Kontexten eine unterschiedliche Be-
deutung.
Diese Unterscheidung ist angemessen und sicherlich erhellend;
allerdings beseitigt sie nicht die von uns herausgestellte Schwierigkeit
bezüglich der Bestimmung des normativen Status des Privatrechts,
sondern wirft im Gegenteil eine Reihe von Anschlussfragen auf, von
denen unklar ist, ob sie im Rahmen des von Habermas vertretenen
Historischen Materialismus zufriedenstellend erörtert werden können.
Unterscheidet man zwischen einer formalen privatrechtlichen All-
gemeinheit, deren »normative Geltungsansprüche« nicht »eingelöst«
sind (nennen wir sie A-1), und einer Allgemeinheit, die sich sowohl
auf die privatrechtlichen als auch auf die tatsächlichen »Gegebenhei-
ten« bezieht und deren »normative Geltungsansprüche« »eingelöst«

27 Siehe oben, Teil III.

293

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Entgegnung auf Hans-Christoph Schmidt am Busch

sind (nennen wir diese Allgemeinheit A-2), dann wird man anzugeben
haben, unter welchen sozialen Umständen A-2 gegeben ist. Bedarf es
hierzu unter den Bürgerinnen und Bürgern materieller Gleichheit, fai-
rer Chancengleichheit oder spezifischer anderer Verhältnisse? Und wa-
rum verhält es sich so und nicht anders? Darüber hinaus wird man
darzulegen haben, warum A-2 in normativer Hinsicht A-1 überlegen
ist. In Übereinstimmung mit dem methodischen Profil des Haber-
mas’schen Historischen Materialismus wird man zu diesem Zweck
den Nachweis erbringen müssen, dass A-2 in einem umfassenderen
Sinne postkonventionelle Bewusstseinsstrukturen verkörpert als A-1
und deshalb gegenüber A-1 einen »Rationalitätszuwachs« realisiert.
Nur wenn er eine zufriedenstellende Erörterung dieser Fragen ermög-
licht, wird der Historische Materialismus in der von Habermas be-
fürworteten Fassung in der Lage sein, zeitgenössische kapitalistische
Gesellschaften angemessen zu analysieren und im Vergleich zu sozia-
listischen Gesellschaften auf methodisch kontrollierte Weise evolutio-
när zu klassifizieren. Und nur dann wird er auf dem Feld der zeitgenös-
sischen Kapitalismuskritik ein ernst zu nehmender Kandidat sein
können. Ob der Historische Materialismus diese Bedingungen erfüllen
kann, ist eine Frage, die durch eine nähere Ausarbeitung dieses Theo-
rietyps zu beantworten wäre. Eine solche Fortführung des Haber-
mas’schen Forschungsprojekts würde auch zu erkennen geben, welche
Tragweite und Plausibilität die Grundannahmen 28 des von ihm rekon-
struierten Historischen Materialismus besitzen. 29

Entgegnung von Jürgen Habermas

Es ist eine kluge Strategie, die komplexe Anlage einer Theoriekon-


struktion dadurch zum Einsturz zu bringen, dass man ein Element he-
rauszieht, das für die Statik des Ganzen entscheidend ist. Hans-Chris-
toph Schmidt am Busch möchte der Evolutionstheorie, in der die
Rechtsentwicklung einen prominenten Stellenwert genießt, nachwei-

28
Siehe oben, Teil III.
29 Ich danke Smail Rapic für seine freundliche Einladung, ein Kapitel zu dem vorliegen-
den Buch beizusteuern. Michael Quante danke ich für einige wertvolle Hinweise zu
einer früheren Fassung meines Beitrags.

294

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Entgegnung auf Hans-Christoph Schmidt am Busch

sen, dass sie von den Grundlagen des Privatrechts keine widerspruchs-
freie Beschreibung geben kann. Dabei sitzt er allerdings einem schlich-
ten Missverständnis auf. Er verkennt nämlich die Absicht meiner
kurzen, als Seminarvorlage gekennzeichneten Ȇberlegungen zum
evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«. Das Argument, das
später den Grundgedanken von Faktizität und Geltung bilden wird,
richtet sich auch hier schon gegen ein funktionalistisches Verständnis
des modernen Rechts. Demnach dient das bürgerliche Privatrecht auf-
grund der subjektivrechtlichen Form der Wirtschaftsfreiheiten zwar
auch den Funktionen, die die Wirtschaftsbürger in einer kapitalisti-
schen Gesellschaft erfüllen. Aber das moderne Recht, das ja nicht nur
aus Privatrecht besteht, geht in der Erfüllung dieser Funktionen nicht
auf. Auf der postkonventionellen Stufe der Rechtsentwicklung unter-
liegen vielmehr alle Rechtsnormen einem grundsätzlichen Rechtfer-
tigungsbedarf. Und diese »strukturell notwendig gewordene Rechtfer-
tigung« (RHM 267), so heißt es in dem herangezogenen Papier
ausdrücklich, kann allein durch eine Interessen verallgemeinernde de-
mokratische Gesetzgebung befriedigt werden. Das Argument, das
Christoph Schmidt am Busch gegen mich wenden möchte, ist die Poin-
te der ganzen Überlegung: An den Verhältnissen jeder Klassengesell-
schaft ist abzulesen, dass die Form subjektiver Rechte allein die Rechts-
inhaltsgleichheit nicht gewährleisten kann.
Marx, der Jurist, hat übrigens seine Mehrwerttheorie auf dem
Gedanken der systematischen Verwechslung von formaler und inhalt-
licher Rechtsgleichheit aufgebaut: Beim Tausch des Gebrauchswerts
Arbeitskraft gegen den als Lohn entrichteten Tauschwert, den die Ar-
beitskraft für den Unternehmer hat, verdeckt die formale Rechtsgleich-
heit der Vertragspartner die durch die Transformation der »lebendi-
gen« Arbeit in eine Ware besiegelte Differenz des Mehrwertes. Was
der Aristoteliker Marx nicht gesehen hat, ist der Umstand, dass der
von ihm für die Verteilungsgerechtigkeit umstandslos unterstellte
Maßstab des »Äquivalententauschs« noch nicht die Frage nach dem
Gesichtspunkt der Rechtsinhaltsgleichheit beantwortet, unter dem je-
weils Gleiches als gleich und Ungleiches als ungleich behandelt werden
sollen. Das ist eine moralisch-praktische Frage der Interessenverall-
gemeinerung, die nach Maßgabe des modernen Rechts selbst nur auf
dem Wege einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung legi-
tim beantwortet werden kann.

295

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Michael Quante

Die Rückkehr des gegenständlichen


Gattungswesens:
Jürgen Habermas über die Zukunft der
menschlichen Natur

»Dieser Communismus ist als vollendeter Naturalis-


mus = Humanismus, als vollendeter Humanismus =
Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Wider-
streits des Menschen mit der Natur und mit d[em] Men-
schen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Exis-
tenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und
Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Nothwendig-
keit, zwischen Individuum und Gattung.«
Karl Marx

Über das Verhältnis zwischen dem Werk von Jürgen Habermas und
dem Historischen Materialismus, den man primär mit den Namen Karl
Marx und Friedrich Engels verbindet, nachzudenken, oder gar sich öf-
fentlich zu äußern, ist kein leichtes und ein in mancher Hinsicht ris-
kantes Unterfangen. Denn die Theorie von Jürgen Habermas ist kom-
plex und hat sich ständig weiterentwickelt. Sie wird von ihrem
Betreiber seit mehr als fünfzig Jahren mit politischer und philosophi-
scher Intelligenz durch die diversen Krisenzeiten gesteuert und bietet
deshalb kein sicheres Ziel. Auch das »Historischer Materialismus« be-
nannte Theoriegebäude stellt keinen eindeutigen Bezugspunkt dar,
denn es ist weder klar, welche Annahmen von seinen Erbauern hin-
zugezählt worden sind, noch trivial zu bestimmen, was diese Aussagen
genau besagen (von der Frage ihrer angemessenen Begründung ganz
zu schweigen). 1

1 Hinzu kommt, dass Theoriengebäude und Fragestellungen dieses Kalibers für mein
persönliches philosophisches Gemüt eine Nummer zu groß sind und ich lieber in den
Kapillaren der philosophischen Argumente und Begriffe arbeite als auf solchen Abs-
traktionshöhen; die immer noch ausführlichste Darstellung des durch die Tagung be-
nannten Zusammenhangs ist Tom Rockmore: Habermas on Historical Materialism.
Bloomington 1989.

296

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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens

Aus diesem Grund möchte ich sowohl das Gebirgsmassiv »His-


torischer Materialismus« umgehen als auch der Flugbahn des Werks
von Jürgen Habermas ausweichen, um von der Seite herkommend an
einer Flanke bzw. auf dem Nebenschauplatz der biomedizinischen
Ethik anzusetzen. Ich hoffe dabei, mit meinen Nachfragen fast bis ins
Zentrum der Habermas’schen Philosophie vorzudringen und gleichzei-
tig ein Minimalverständnis davon anklingen zu lassen, was wir heute
systematisch fruchtbar als Historischen Materialismus verstehen kön-
nen. Der Titel dieses Beitrags verweist auf einen zentralen Bestandteil
der philosophischen Konzeption von Karl Marx, von dem ich hoffe,
dass er – wie das Gespenst des Kommunismus im Manifest – in die
gegenwärtigen Debatten der Praktischen Philosophie zurückkehren
kann. 2
In den letzten Jahren hat Jürgen Habermas zumindest mich zwei
Mal überrascht. Die eine Überraschung war seine Hinwendung zur
philosophischen Beschäftigung mit Religion und seine Debatte mit
(vor allem der katholischen) Theologie. Stellt dies, zumindest in einer
bestimmten Hinsicht, eine Rückkehr zu früheren Themen und Moti-
ven seines Denkens dar, so scheint dies bei der zweiten Überraschung
anders zu sein: Vor gut einem Jahrzehnt hat Habermas mit seinem
Buch Die Zukunft der menschlichen Natur in die deutsche Bioethikde-
batte eingegriffen und, so der Untertitel dieses Bandes, die Frage ge-
stellt, ob wir auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik sind oder diesen
Weg beschreiten dürfen. 3

2 Meine Rückbesinnung auf Marx nimmt zwei Prämissen in Anspruch, die in diesem
Beitrag nicht begründet werden können: Erstens verstehe ich die Marx’sche Theorie in
ihrem Kern als eine kritische philosophische Anthropologie; und zweitens unterstelle
ich, dass es auf der basalen begrifflichen Ebene der philosophischen Theoriebildung bei
Marx eine Kontinuität der zentralen Prämissen, Konzeptionen und Beweisziele gibt.
Vgl. hierzu Michael Quante »Kommentar«. In: Karl Marx: Ökonomisch-philosophische
Manuskripte, herausgegeben und kommentiert von Michael Quante. Frankfurt a. M.
2009, S. 209–410 und ders.: »Karl Marx«. In: Michael Forster & Kristin Gjesdal (Hrsg.):
Oxford Handbook to German 19th Century Philosophy. Oxford (im Erscheinen), sowie
zur systematischen Relevanz der Marx’schen Konzeption des gegenständlichen Gat-
tungswesens Quante: Die Wirklichkeit des Geistes. Berlin 2011 und ders.: »Das gegen-
ständliche Gattungswesen. Bemerkungen zum intrinsischen Wert menschlicher Depen-
denz«. In: Rahel Jaeggi & Daniel Loick (Hrsg.): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis.
Berlin 2013, S. 69–88.
3 Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer libe-

ralen Eugenik? Frankfurt a. M. 2001. Ich verweise auf diesen Band mit Die Zukunft und
zitiere unter Verwendung der Sigle Z unter Angabe der Seitenzahl direkt im Haupttext.

297

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Michael Quante

Es geht in meinem Beitrag darum, eine Klärung über die Konzep-


tion der menschlichen Natur, die Habermas in Die Zukunft vorgelegt
hat, herbeizuführen. Dabei habe ich dem übergeordneten Thema »Ha-
bermas und der Historische Materialismus« Rechnung getragen, in-
dem ich der Frage nachgegangen bin, ob sich in Die Zukunft Spuren
der Auseinandersetzung von Jürgen Habermas mit der Philosophie von
Karl Marx entdecken lassen. Wie ich glaube, bin ich dabei nicht nur
fündig geworden, sondern durch diese Perspektive auf den Text auch
in der Lage, eine philosophisch hoffentlich attraktive Einladung zu for-
mulieren. Es geht also nicht um das Aufstellen von Gegenthesen, son-
dern um Aufklärung bei Verständnisproblemen, die sich einstellen
können, wenn man Die Zukunft unter der Fragestellung liest, welchen
Status Habermas der menschlichen Natur darin zuschreibt und welche
Rolle der Gattungsethik und dem Gattungswesen, das in Die Zukunft
an einigen Stellen sein Wesen treibt, zukommen. Bedauerlicherweise
verfügt dieser Band über kein Register, aber meine Spurensuche zeigt,
dass sich dort Kategorien wie Instrumentalisierung, Naturwüchsigkeit,
Verdinglichung und der prominente Hinweis auf ökonomische Interes-
sen finden, also Denkfiguren, die man genauso gut in einer Abhand-
lung über die Pariser Manuskripte von Marx vermuten könnte. 4 Liest
man Die Zukunft unter dem Aspekt eines möglichen Bezugs zur phi-
losophischen Anthropologie von Marx, wird eine affine Begrifflichkeit
in der Argumentation sichtbar. Hierbei handelt es sich, dies ist zumin-
dest die Vermutung, der ich im Folgenden nachgehen möchte, nicht
nur um eine oberflächliche Reminiszenz. Um mögliche Missverständ-
nisse zu vermeiden und die Diskussion nicht auf ein anderes Feld zu
verlagern, sei vorab explizit gesagt, dass meine Überlegungen in die-
sem Beitrag nicht dazu gedacht sind, mit Jürgen Habermas über bio-
medizinische Fragen zu streiten. Ich gehe so vor, dass ich einige für
mein Anliegen wichtige Aspekte der Konzeption der menschlichen Na-
tur aus Die Zukunft darstelle und anschließend einen Rückblick ein-
schalte, der aber nicht einer philosophiehistorischen Einordnung und
Stilllegung des Werkes und des Denkens von Jürgen Habermas dienen
soll. Die Absicht ist vielmehr, einige kleine Splitter aus der Haber-
mas’schen Beschäftigung mit dem Historischen Materialismus zu prä-

4 Hier eine kleine, keine Vollständigkeit beanspruchende Aufstellung: »Verding-


lichung« (Z 41, 89, 90, 92 und 123), »Instrumentalisierung« (Z 58, 70, 117 und 122),
»Gattungswesen« (Z 45, 50, 54, 71–77 und 115) und »Naturwüchsigkeit« (Z 49).

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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens

sentieren, die ich gerne in Die Zukunft einpflanzen möchte, um zu


sehen, ob sich auf dieser Grundlage eine produktive Perspektive ent-
wickeln lässt. Dabei werde ich meinen Klärungs- und Diskussions-
bedarf artikulieren, bevor ich am Ende dieses Beitrags einen kleinen,
allerdings sehr fragilen und vorläufigen Ausblick gebe.

I.

1. Ein fundamentales, die Gesamtkonzeption der Praktischen Philoso-


phie betreffendes Thema, das in Die Zukunft eine zentrale Rolle spielt,
ist das Verhältnis von Moral und Gattungsethik (vgl. Z 124). Jürgen
Habermas kommt angesichts bestimmter humangenetischer Optionen
zu dem Ergebnis, dass man diese neuen Möglichkeiten in normativer
Hinsicht allein mit den Mitteln einer rein deontologischen Moral, die
den Standards nachmetaphysischer Universalisierbarkeit und Neutra-
lität genügt, nicht in den Griff bekommt (vgl. Z 70 f. und 121). Hier
müsse man andere normative Ressourcen aktivieren, die er dann unter
der Überschrift von Gattungsethik und Gattungswesen, aber auch von
Anthropologie ist die Rede, ins Spiel bringt. Dabei ist für ihn die Frage
leitend, wie die im strengen deontologischen Sinne verstandene Un-
antastbarkeit der Person in dem, was Habermas die Unverfügbarkeit
ihres natürlich-leiblichen In-der-Welt-Seins nennt, verankert und ver-
wurzelt ist (vgl. Z 62 f.). Die Leitfrage des Buches ist nicht nur deshalb
interessant, weil man, von Hegel herkommend, das Verhältnis von
universalistischer deontologischer Moral zur Hintergrundsittlichkeit
ohnehin immer schon genau andersherum verstanden hat, als es die
Konzeption von Habermas vorsieht. 5 Diese Gedankenbewegung ist
auch bedeutsam, weil sich die Geschichte von Kant über Hegel und
Feuerbach zu Marx als eine Bewegung der Verleiblichung und Soziali-
sierung der menschlichen praktischen Vernunft sowie der Betonung
ihrer sozialen Situiertheit verstehen lässt.
Die von Jürgen Habermas in Die Zukunft aufgeworfene Problem-
stellung bringt sein Projekt in die Nähe von Fragestellungen, die man
zwanglos mit dem Historischen Materialismus verbinden kann. Er
kommt damit auch der mich selbst systematisch beschäftigenden Frage
sehr nahe, wie man das Verhältnis von anthropologischem Fundament

5 Vgl. dazu Kapitel 13 in Quante: Die Wirklichkeit des Geistes (s. Anm. 2).

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Michael Quante

sowie gattungsethisch unverzichtbaren Elementen der Vorstellung


eines guten und gelingenden Lebens zur deontologischen Moral, die
viele als Zentrum des Normativen und philosophisch einzig gut be-
gründbaren Kern einer modernen Moral ansehen, bestimmen sollte.
2. Der zweite große Themenbereich in Die Zukunft wird durch das
Wort »Unverfügbarkeit« markiert, das die eine Seite der Dichotomie
(oder des Verhältnisses) von Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit
ausmacht. Wenn ich richtig sehe, wird »Unverfügbarkeit« in Die Zu-
kunft auf zwei unterschiedliche Weisen verwendet: deskriptiv steht es
für dasjenige, worüber wir faktisch, d. h. unter gegebenen technischen
Bedingungen, nicht verfügen können. Trotz seiner durchaus deutlichen
Abgrenzung von und Zurückweisung des Projekts der Transhumanis-
ten stellt Habermas in diesem Kontext selbst Hochrechnungen (in
Form von Gedankenexperimenten) an und fragt, was uns aus dem tech-
nischen Fortschritt und der Steigerung der Beherrschung der (mensch-
lichen) Natur erwachsen könnte. Doch auch diese prognostische Di-
mension verbleibt auf der Ebene der deskriptiven Unverfügbarkeit.
Neben diese deskriptive tritt, als eine zweite Verwendungsweise, was
man die normative Unverfügbarkeit nennen könnte. Gemeint ist hier-
mit, dass etwas als aus normativen Gründen unverfügbar ausgewiesen
werden kann, wobei dies nicht als direkte »Moralisierung der mensch-
lichen Natur […] im Sinne einer fragwürdigen Resakralisierung«
durchgeführt werden soll, sondern im Sinne einer Reflexions- und Be-
gründungsfigur, die der »Selbstbehauptung eines gattungsethischen
Selbstverständnisses« (Z 49) dient.
3. Als dritter, für meine Überlegungen wichtiger Aspekt ist die
Opposition ›naturwüchsig‹ versus ›geplant‹ zu nennen, die in Die Zu-
kunft eine tragende Rolle spielt, weil Habermas aus ihr einen Großteil
seiner Besorgnis oder auch des normativen Gegengewichts gegen be-
stimmte Möglichkeiten der Humangenetik gewinnt (vgl. Z 81 ff.).
Im Kern geht es mir darum zu verstehen, was ›menschliche Natur‹
in Die Zukunft heißt, wie ihr normativer Status bestimmt und wie
diese Konzeption normativ angelegt ist. Die sich dahinter verbergende
Frage scheint zu sein: Sollten wir diese humangenetischen und andere
Biotechnologien als Humanisierung der (menschlichen) Natur, so viel-
leicht die Perspektive von Marx Mitte der 1840er Jahre, ansehen oder
müssen wir sie als eine bloße Instrumentalisierung des Individuums, so
die gegenwärtige Einschätzung von einigen strikten Deontologen, aber
auch von (katholischen) Naturrechtslehrern, begreifen? Die Argumen-

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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens

tation in Die Zukunft hat bei mir, als ich sein Essay mit Blick auf den
Historischen Materialismus wieder gelesen habe, ein uneinheitliches
Bild ergeben: Verfolgt Habermas klar die eine oder die andere Linie,
steht er irgendwo dazwischen oder gelingt es ihm, diese Opposition zu
unterlaufen? Mit anderen Worten: Was ist aus moralphilosophischer
und gattungsethischer Perspektive zu diesem Spannungsverhältnis
zwischen einem humanistischen Naturalismus und einem reduktionis-
tischen Humanismus zu sagen? Diese Frage, die auch Jürgen Habermas
meinem Eindruck nach in Die Zukunft umtreibt, benennt eine der
grundlegendsten Herausforderungen unserer biotechnologischen Wei-
terentwicklung, die sich in vielen Bereichen der Medizin – aber nicht
nur dort – vollzieht.

II.

Im ersten Schritt möchte ich kurz auf zwei ältere Arbeiten von Jürgen
Habermas eingehen, die für unsere Fragestellung aufschlussreich sind.
In dem Aufsatz über die Rekonstruktion des Historischen Materialis-
mus findet sich folgende Aussage: »Ich habe ein Problemspektrum der
Selbstkonstituierung der Gesellschaft vorgeschlagen, das von der Ab-
grenzung gegen die Umwelt, über die Selbststeuerung und den selbst-
gesteuerten Austausch mit der äußeren Natur bis zum selbstgesteuer-
ten Austausch mit der inneren Natur reicht.« (RHM 183)
Das ist ein Programm der zunehmenden Humanisierung der Na-
turvorgegebenheiten. So lässt es sich zumindest lesen – als eine Ent-
wicklungslinie, die es geben kann. Mein zweiter Rückblick bezieht sich
auf Die Rolle der Philosophie im Marxismus. Dort wird ausgesagt, dass
der Diamat sehr unvorsichtig gewesen sei, weil er bestimmte Inhalte
wie z. B. Grundauffassungen vom Wesen der Natur, der Geschichte und
des Denkens dogmatisiert und als invariant dargestellt habe (vgl. RHM
56). Vermutlich ist nicht nur der Diamat, sondern auch die (katho-
lische) Naturrechtslehre dieser Versuchung erlegen; und wir werden
gleich noch fragen müssen, ob sie auch in Die Zukunft Spuren hinter-
lassen hat. Mit Blick auf die gesellschaftliche und politische Dimension,
die Aussagen im Kontext der biomedizinischen Ethik unweigerlich ha-
ben, ist für uns auch noch folgende Überlegung von Habermas interes-
sant: Die Rolle der Moralphilosophie, heißt es mit Bezug auf die Stu-
dentenrevolte sinngemäß in diesem frühen Aufsatz, könnte sein, eine

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»geschärfte Sensibilität für die Verletzung universalistischer Grund-


sätze und das Fehlen solidarischer Lebensformen« zu erzeugen, die
»eine Herausforderung für jedes System« ist, eine integrierende Wir-
kung jedoch »allenfalls für Gegenkulturen, aber gewiss nicht für eine
Gesellschaft, die ihre Legitimationsbeschaffung den Einrichtungen
einer Konkurrenzdemokratie unterwirft und zugleich Klassenstruktu-
ren aufrecht erhält«, haben kann (RHM 52). Eine bestimmte Form des
praktischen Denkens taugt also nur für die betroffenen Gruppen oder
für die an den Rand Gedrängten, und ist gerade nicht für die allgemein
normative Selbstverständigung in kapitalistisch verfassten Gesell-
schaften geeignet.
Vor diesem Hintergrund habe ich mich gefragt, ob die normative
Intervention von Die Zukunft diesem Projekt zuzuordnen ist. Viel-
leicht ist das Leitmotiv die Einschätzung, dass wir gegenwärtig ange-
sichts der geballten Kraft des neoliberalen, naturalistischen und öko-
nomistischen Denkens als kritische Intellektuelle wieder nur noch eine
Position formulieren können, die fast nur noch den Betroffenen und
den an den Rand Gedrängten, die den ökonomischen Interessen aus-
geliefert sind, verständlich zu machen ist, weil nur sie über die ent-
sprechenden Leiderfahrungen mit den Schattenseiten dieser Technisie-
rung verfügen. Diese Lesart, die bei mir persönlich auf große
Sympathie stieße, passt allerdings nicht besonders gut zu dem starken
normativen Anspruch, den Habermas der Moralphilosophie insgesamt
zuerkennt und zu der eingeräumten Chance einer normativen Steue-
rung der gesellschaftlichen Prozesse trotz all unserer gegenwärtigen
Probleme. 6

III.

In Die Zukunft stellt Habermas einen konstitutiven Zusammenhang


zwischen der Möglichkeit, ein selbstbestimmtes und gelingendes Leben
in Freiheit zu führen, und der Voraussetzung eines darin enthaltenen
natürlich Unverfügbaren als Vorgabe dieser individuellen Selbst-
bestimmung her; er spricht von »Erhaltungsbedingungen« (Z 49) und

6 Zu denken ist hier beispielsweise an seine Interventionen in die gegenwärtige Krise


der Europäischen Union, in der er normativ fundierten Kontrollmöglichkeiten rein öko-
nomischer Interessen durchaus Chancen einräumt.

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einem Passungsverhältnis (vgl. Z 74). Zu fragen ist aber, was der Hin-
weis auf die Natürlichkeit dieses Unverfügbaren argumentativ aus-
trägt? Macht es für das jeweilige Individuum mit Blick auf seine eigene
Lebensführung wirklich einen so bedeutenden Unterschied, ob diese
Vorgaben aus der unbeherrschten Natur stammen anstatt soziale oder
technisch induzierte Ursprünge zu haben? Mit der Möglichkeit, be-
stimmte Merkmale eines Menschen durch humangenetische Eingriffe
zu verändern oder auch nur auf der Grundlage genetischer Informatio-
nen zu selektieren, ergeben sich neue und ethisch nicht triviale Pro-
bleme der Zuschreibung von Verantwortung. Doch die Frage ist, ob
dieser Unterschied so gravierend ist, dass man mit ihm kategorische
Verbote begründen und hier eine prinzipielle moralische Kluft ver-
orten kann. Habermas ist an dieser Stelle vorsichtig und bekundet, dass
er zwar das Motiv, hier eine kategoriale Grenze anzusetzen, teilt, aber
nicht glaubt, dass wir gut beraten sind, sie mit dem starken Begriff der
Menschenwürde zu begründen, weil sich dies nicht in einer Weise
durchführen lässt, die den auch von ihm postulierten Anforderungen
an universalistisch starke Moralbegründungen genügt (vgl. Z 70 f.).
1. Versagt man sich diesen Weg, dann bleibt erstens zu fragen, ob
wir uns hier in einem Abwägungsprozess befinden? Jenseits der natur-
rechtlichen, auf eine kategoriale moralische Differenz drängenden
Obertöne erzählt Die Zukunft eine zweite Geschichte. Dieser zufolge
fällt uns, wenn wir keine kategorialen Grenzen ziehen können, die
Aufgabe zu, mit schwächeren Begründungsinstrumentarien zu arbei-
ten, wenn wir vermeiden wollen, aufgrund der Grenzen der univer-
salistischen Moral alle Wunschvorstellungen, die eventuell auf der
Grundlage von pervertierten oder marktkonformen individuellen Prä-
ferenzen, die weder moralisch noch ethisch gefiltert sind, als Ausdruck
individueller Selbstbestimmung schlicht zu legalisieren: »Wo uns
zwingende moralische Gründe fehlen, müssen wir uns an den gat-
tungsethischen Wegweiser halten.« (Z 121)
Diese zweite Option wird durch die starken moralischen Deklara-
tionen in Die Zukunft gelegentlich überlagert, sodass es schwer fällt,
sie überhaupt klar zu erkennen. Deshalb wäre es gut zu wissen, wie in
den Augen von Jürgen Habermas ein verantwortungsvoller Umgang
mit der menschlichen Natur im Zeitalter ihrer humangenetischen Ver-
änderbarkeit aussehen könnte, mit welchen philosophischen Mitteln
wir, und an welchen Stellen, ethische Grenzen ziehen und auch gegen
identifizierbare Verwertungsinteressen mit den Mitteln der Gattungs-

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ethik verteidigen sollen. So klar wie die (bloße) Fiktion einer vollstän-
digen Vorherbestimmung der Individualität eines Menschen durch
Planungsentscheidungen der Erzeuger auf die verbotene Seite fällt, so
klar fällt die vielleicht in nicht mehr allzu ferner Zukunft mögliche
Chance, schweres Leiden durch Beseitigung eines monokausal wirk-
samen Gendefekts zu vermeiden, auf die des ethisch (mindestens) Er-
laubten.
2. Ein zweiter Fragenkomplex zielt auf einige in Die Zukunft ak-
tivierte Unterscheidungen, die in unserem alltäglichen Weltverständ-
nis tief verankert sind und auf eine letztlich aristotelisch-lebenswelt-
liche Ontologie zurückgehen: die Unterscheidung von Natürlichem
und Artifiziellem, von Natürlichem und Gemachtem sowie von Sub-
jektivem und Objektivem. 7 Werden diese tief verwurzelten Unter-
scheidungen als diagnostisches Instrument eingesetzt, um die Quelle
für bestimmte ethische Besorgnisse, die sich im gesellschaftlichen, po-
litischen und bioethischen Diskurs artikulieren, zu identifizieren? Dies
legt seine Formulierung nahe, er wolle »etwas zur diskursiven Klärung
unserer aufgescheuchten moralischen Gefühle« (Z 44) beitragen. Oder
werden sie in der Argumentation, die Habermas in Die Zukunft ent-
wickelt, letztlich doch zu einer ontologisch invarianten Struktur um-
gedeutet, um auf diesem Wege aus ihnen kategorische normative
Differenzen gewinnen zu können (so etwa Z 101 und 115)? Die Über-
legungen von Jürgen Habermas über die Zukunft der menschlichen
Natur sind, wenn ich richtig sehe, in diesem Punkt nicht eindeutig.
Seine Sympathie (und vielleicht auch sein politisches Bedürfnis) gilt
der stärkeren Variante einer Verankerung kategorischer moralischer
Differenzen entlang dieser Unterscheidungen; die Argumentation ver-
fährt aber zumeist eher entlang einer hermeneutisch-kritischen Selbst-
verständigung, die mit wesentlich schwächeren Ansprüchen auskom-
men muss, dafür aber auch mit wesentlich weniger anspruchsvollen
Beweislasten auskommen kann. Der gesamte Duktus von Die Zukunft
passt jedenfalls sehr gut zu diesem Projekt einer hermeneutisch-kriti-
schen Orientierung, geht es doch primär darum, die »aufgescheuch-

7
Hinsichtlich der philosophischen Verortung dieser Unterscheidungen besteht, soweit
ich sehe, zwischen Habermas und mir Einigkeit, vgl. Quante: »Ein stereoskopischer
Blick?« In: Dieter Sturma (Hrsg.): Philosophie und Neurowissenschaften. Frankfurt
a. M. 2006, S. 124–145.

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ten« ethischen Intuitionen des beunruhigten Bürgers mittels dieser


Denkfiguren und Kategorien besser zu verstehen.
3. An zumindest einer Stelle wird in Die Zukunft nahe gelegt
(oder zumindest die Hoffnung ausgesprochen), dass sich aus all den
im bioethischen Diskurs vorfindlichen anthropologischen, religiösen
oder philosophischen Selbstreflektionen doch eine minimale invariante
Essenz herausdestillieren lässt, die auf der anthropologischen Seite als
Korrespondent der universalistischen Vernunftmoral fungieren könn-
te: »Es geht nicht um die Kultur, die überall anders ist, sondern um das
Bild, das sich verschiedene Kulturen von ›dem‹ Menschen machen, der
überall – in anthropologischer Allgemeinheit – derselbe ist« (Z 72).
Da dieser Kern als Fundament der universalistischen Vernunft-
moral, die, wenn die Differenz zur Ethik wasserfest bleiben soll, a prio-
ri, invariant und strikt universal ist, dienen soll, steht zu vermuten,
dass auch dieser anthropologische Kern invariant und universal zu sein
hätte. Daran änderte auch die Tatsache oder das Zugeständnis nichts,
dass wir diese Essenz a posteriori empirisch gewonnen haben. Der Ver-
dacht liegt nahe, dass es sich bei dem fraglichen anthropologischen
Kern der menschlichen Natur, der diese Last tragen soll, letztlich doch
um eine Art Naturrechtssurrogat des Wesens des Menschen handeln
muss. 8
Im Rahmen einer auf Orientierung zielenden kritischen Herme-
neutik würde man bei der schwächeren Annahme bleiben, dass es einen
historisch und sozial variablen, jedem Individuum und jeder Gesell-
schaft zu einem gegebenen Zeitpunkt aber vorgegebenen strukturellen
Rahmen gibt, innerhalb dessen jedes Individuum und jede Gesellschaft
das menschliche In-der-Welt-Sein auszubuchstabieren hat. Dieser
Rahmen ist inhaltlich bezüglich nahezu all unserer materialen Fragen
unterbestimmt, sobald man sich diesseits des Prinzipiellen bewegt.
Wenn es um komplexe Abwägungen geht, müssen wir bei allen Ein-
griffen und technischen Optionen mit in unsere Überlegungen ein-
beziehen, welche Effekte sie für den gegebenen anthropologischen
Rahmen und das an ihn gebundene Selbstverständnis des Menschen
haben (oder hätten). In dieser Konstellation fungiert dieser Rahmen
als Indikator für Störphänomene oder zu ihrer philosophischen Auf-

8
Die von Habermas verwendete Redewendung »geradezu transzendental« (Z 76) trägt
leider auch nicht wirklich zur Aufklärung dieses Sachverhalts bei.

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hellung; er dient nicht als normativ-ontologische Tiefengrammatik für


die moralische Tabuisierung von Optionen.
Wie die Argumentation in Die Zukunft letztendlich gedacht ist,
wird meinem Leseeindruck nach nicht ganz klar; und man muss fairer
Weise sagen, dass Jürgen Habermas nur einmal so weit aus der De-
ckung geht zu sagen, dass wir durch die Auswertung all dieser kultu-
rellen Selbstdeutungen vielleicht eine universale Kernessenz des Men-
schen als Gattungswesen identifizieren können. Festzuhalten bleibt
jedoch, dass damit ein Bild entworfen wird, welches mit einer histori-
schen, eher situierten und offenen Form der Selbstverständigung an-
thropologischer Art nicht zusammen passt. Letztlich geht es um die
intendierte Begründungsstärke der vorgetragenen Argumente (oder
darum, welche Beweislasten man sich selbst bzw. der praktischen Ver-
nunft zutraut): Will man mit diesen Überlegungen prinzipielle mora-
lische Einwände formulieren oder Indikatoren für Gesellschaftskritik
identifizieren? Ist Naturwüchsigkeit im Sinne der nicht durch Hand-
lungsintentionen geplanten leiblich-genetischen Ausstattung von Indi-
viduen ein Dogma, das unangreifbar über dem Recht der individuellen
und kollektiven Selbstbestimmung steht? Oder besteht unsere Auf-
gabe darin, immer wieder zu definieren, was wir an unseren zwischen-
menschlichen Beziehungen verändern, wenn wir die Naturwüchsigkeit
neu und anders gestalten? Selbst bei den verrücktesten transhumanis-
tischen Visionen bleibt am Ende ja immer noch irgendetwas an Natur-
wüchsigkeit – zumindest aus der Sicht des jeweiligen Individuums –
erhalten.
Folgt man der Argumentation von Habermas in Die Zukunft,
dann ist die für die normative Bewertung allein entscheidende Frage,
ob das dem Individuum naturwüchsig Vorgegebene technisch induziert
oder Resultat individueller (oder auch sozialer) Entscheidungen ist
oder aber Resultat unverfügbarer Natur. Aus dieser Differenz soll sich,
so zumindest die eine Linie der Argumentation, die moralische Un-
zulässigkeit jeder Form von ›eugenischen‹ Eingriffen begründen lassen,
und zwar in Form einer kategorischen Ablehnung, die sich nicht auf
das komplexe und zu differenzierenden Antworten führende Feld der
Abwägung begibt. Es ist unbestreitbar, dass die Grenzziehung zwischen
Therapie und Enhancement in den Grenzgebieten nicht klar zu ziehen
ist; und der Übergang zwischen Krankheit und optimierter Gesundheit
weist sicher eine Grauzone auf. Es gibt jedoch auch klare Fälle und
somit stellt sich die Frage, was gegen therapeutische oder auch milde

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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens

optimierende Eingriffe spricht, wenn diese als Ermöglichungsbedin-


gungen dafür, dass das jeweils betroffene Individuum ein selbst-
bestimmtes Leben überhaupt oder in höherem Maße führen kann, in-
tendiert sind und auch so wirken. Mit anderen Worten: Es gibt nicht
nur die klaren Fälle einer manipulativen Eugenik, die jede plausible
Ethik verbieten wird und von denen die Argumentation in Die Zukunft
unterschwellig lebt; es gibt auch die vielen realistischen Konstellatio-
nen, in denen eine prinzipielle moralische Tabuisierung wenig plausi-
bel erscheint.
Wenn man auf der Suche nach den Spuren ist, die der Historische
Materialismus im Denken von Jürgen Habermas in seiner bioethischen
Intervention hinterlassen hat, ergibt sich folgender Befund: Der Begriff
der Naturwüchsigkeit wird in Die Zukunft anders eingesetzt als in den
Kontexten, die sich mit dem philosophischen Marx beschäftigen (vgl. Z
49). In letzteren benennt Naturwüchsigkeit primär die Aufgabe ihrer
Überwindung, im Sinne der Aufhebung der Undurchschautheit von
Abhängigkeitsverhältnissen sozialer und natürlicher Art, die uns in
verdinglichter Weise als invariante Natur erscheinen. An die Stelle
dieser Undurchschaubarkeit soll, hier liegt sicher ein aufklärerisches
Erbe im Denken von Karl Marx, eine transparente und gerechte, die
Individuen in ihrer individuellen Bedürftigkeit anerkennende Selbst-
bestimmung treten, die wir im Rahmen einer Gattungsethik aus-
zubuchstabieren und in geeigneten sozialen Institutionen zu realisie-
ren haben. Die mich umtreibende Frage lautet: Ist dies terminologisch
ein bloßer Zufall, oder wird hier bewusst die Seite gewechselt? Mit
Marx würde man sagen, Naturwüchsigkeit soll durch rationale Selbst-
bestimmung – im Lichte nicht von ökonomischen, sondern allgemei-
nen humanen Werten – soweit aufgehoben werden, wie dies für eine
selbstbestimmte Lebensführung des leiblich und sozial verfassten Gat-
tungswesens Mensch erforderlich ist. So gelesen wäre aber eine kate-
gorische Ablehnung sämtlicher humangenetischer Eingriffe nicht zu
begründen. Darüber hinaus könnte man auch an die These der Deut-
schen Ideologie erinnern, dass eine Interpretation der Natur als in-
variantes und normative Geltung verbürgendes Fundament selbst noch
Ausdruck der Erfahrung von Ohnmacht gegenüber einer übermächti-
gen Natur ist, die sich dieser Abhängigkeit in mystischer oder natur-
religiöser Form bewusst wird (vgl. MEW 3, S. 31).
Es gibt also Klärungs- und Diskussionsbedarf: Gelten die zu jedem
Zeitpunkt vorgegebenen Rahmen unserer Natürlichkeit und Leiblich-

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keit, die sich melden, wenn wir neue Optionen der Technisierung
unserer menschlichen Natur entwickelt haben oder hypothetisch er-
wägen, als invariante, sozusagen existential-ontologische oder natur-
rechtlich-ontologische side-constraints, die wir generell zu respektie-
ren haben? Oder sind sie, dies wäre die Alternative, als kontingent-
konstitutive Voraussetzungen gedacht? 9 Damit ist gemeint, dass diese
Vorbedingungen unser Selbstverständnis zu einem gegebenen Zeit-
punkt faktisch konstituieren, aber weder im Sinne einer begrifflichen
noch einer naturgesetzlichen Notwendigkeit invariant oder unverfüg-
bar sind. So konzipiert funktionieren sie nicht als deontologische, für
Abwägungen nicht zur Verfügung stehende side-constraints: Sie prä-
gen unser evaluatives Selbstverständnis als menschliche Personen und
wenn wir sie modifizieren wollen, müssen wir in unsere Abwägung
mit einbeziehen, wie wir uns zu den sich aus den Änderungen des Rah-
mens ergebenden Veränderungen unseres individuellen und gattungs-
mäßigen Selbstverständnisses verhalten wollen. Die Tatsache, dass es
diesen kontingent-konstitutiven anthropologischen Rahmen gibt,
reicht als moralische Begründung, an ihnen nicht rühren zu dürfen,
nicht aus. Es macht, sowohl philosophisch als auch gesellschaftlich
und politisch, einen großen Unterschied, ob man Natürlichkeit als Tabu
aufstellt, oder als eine in der Ethik zu berücksichtigende Größe ein-
führt. Es wäre hilfreich zu wissen, ob die Suche nach dem Schutzwall
gegen eine instrumentalisierte humangenetische Indienstnahme des
Individuums in Die Zukunft von der Überzeugung geleitet wird, wir
könnten ihn nur halten, wenn wir über ein invariantes Fundament ver-
fügen. Das würde die Suche nach einer unverfügbaren Essenz der
menschlichen Natur und den Schutz der Naturwüchsigkeit als solcher
erklären. Und das Motiv für diesen Zug in der Argumentation von
Habermas wäre dann nicht die mystische Verarbeitung eines Ohn-
machtgefühls gegenüber einer übermächtigen Natur, sondern Aus-
druck seines tiefen Skeptizismus, dass selbst eine demokratisch verfass-
te Gesellschaft prinzipiell nicht in der Lage ist, die institutionellen
Rahmenbedingungen bereitzustellen, die dafür notwendig sind, mit
den neuen Handlungsoptionen, die uns die Fortschritte in den Lebens-
wissenschaften an die Hand geben, in moralisch verantwortbarer Weise
umzugehen. Als Alternative, die meines Erachtens zum Grundtenor

9
Vgl. dazu Vieth, Andreas & Quante, Michael: »Chimäre Mensch?« In: Kurt Bayertz
(Hrsg.): Die menschliche Natur. Paderborn 2005, S. 192–218.

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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens

der Praktischen Philosophie von Jürgen Habermas wesentlich besser


passt, bliebe die Möglichkeit, auf geltungstheoretisch schwächeren
Fundamenten genauso kämpferisch für eine humane Gesellschaft ein-
zutreten und die Strukturen unserer Gesellschaft zu identifizieren, die
einen humanen Einsatz der neuen Möglichkeiten menschlicher Selbst-
bestimmung erschweren oder gar verhindern können.

IV.

In Die Zukunft findet sich an einer Stelle ein kurzer Hinweis darauf,
dass es im Vorfeld der Veröffentlichung dieses Textes eine Diskussion
um die geltungstheoretische Strategie, die Habermas hier verfolgt, ge-
geben hat. Da sie dazu dienen kann, die argumentative Linie, die ich in
diesem Beitrag verfolge, klarer zu machen, zitiere ich die Passage in
ganzer Länge – Jürgen Habermas schreibt: »Rainer Forst hat mich mit
scharfsinnigen Argumenten davon zu überzeugen versucht, dass ich
mit diesem Zug vom Pfade der deontologischen Tugend ohne Not ab-
weiche.« (Z 121, Fn. 70)
Es wäre leicht, diese Bemerkung in dem Sinne zu verstehen, dass
es um die Möglichkeit einer letztbegründeten im Gegensatz zu einer
auf schwächeren Fundamenten stehenden modernen Moral geht. Ruft
man sich das Gedankenexperiment, welches Habermas in Die Zukunft
dazu bringt, den Pfad der deontologisch reinen Lehre zu verlassen,
noch einmal vor Augen, erkennt man, dass der systematische Punkt
an anderer Stelle zu verorten ist. Die Frage, die Habermas aufwirft,
lässt sich so formulieren: Was wäre, wenn wir aufgrund humangeneti-
scher Interventionen die Vorbedingungen dafür, dass wir uns wechsel-
seitig und auch selbst als freie und moralische Subjekte auffassen kön-
nen, abschaffen könnten? Habermas ist der Auffassung, dass man diese
Vorbedingungen der Moral als solcher, eben weil sie Voraussetzung für
sie sind, nicht mehr innerhalb der Moral selbst begründen kann, son-
dern dazu auf die allgemeinere Ethik, die er mit dem Stichwort der
Gattungsethik andeutet, zurückgreifen muss. Dem gegenüber scheint
Rainer Forst in der erwähnten Diskussion die Position vertreten zu
haben, dass sich die durch das Gedankenexperiment aufgeworfene Fra-
ge mit den Mitteln der modernen Moral beantworten lässt. Der Unter-
schied ist aufschlussreich und lässt sich von der Frage nach Letzt-
begründung abkoppeln, wenn wir die Unterscheidung zwischen

309

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Michael Quante

interner und externer Begründung einführen. Forst geht davon aus,


dass die Moral auch ihre Vorbedingungen intern moralisch einholen
kann. Das würde bedeuten, dass sich aus dem im Gedankenexperiment
unterstellten Zusammenhang heraus begründen lässt, dass solche Ein-
griffe, welche die Bedingung von Moral abschaffen, aus moralischer
Sicht unzulässig sind. Habermas geht im Gegensatz dazu davon aus,
dass diese Vorbedingungen, weil sie die Vorbedingungen der Moral als
Ganzer sind, eine außerhalb der Moral liegende Geltungsgrundlage
benötigen: »Eine Bewertung der Moral im Ganzen ist nicht selbst ein
moralisches, sondern ein ethisches, ein gattungsethisches Urteil«
(Z 124). Diese sucht und findet er dann in einer anthropologisch ange-
reicherten Gattungsethik, in der die menschliche Natur eine zentrale
Rolle spielt. Diese Begründungsfigur bleibt, dies ist in Abgrenzung zu
Programmen eines szientistischen Naturalismus zu sagen, im Rahmen
der praktischen Vernunft (und ist in diesem Sinne intern). Unter Vo-
raussetzung des Unterschieds von moderner Moral mit ihren strikten
Bedingungen und Gattungsethik handelt es sich dagegen um eine ex-
terne Begründung der Moral mit den Mitteln der Gattungsethik.
Dieser kollegiale Streit zwischen Forst und Habermas dreht sich
nur um den extremen Fall, der in dem Gedankenexperiment angedeu-
tet wird und von den gegenwärtigen Möglichkeiten weit entfernt ist.
Deshalb folgt aus der Position von Rainer Forst auch nicht, dass man
mit den Mitteln der Moral für alle Formen humangenetischer Eingriffe
eindeutige moralische Antworten formulieren kann (oder können
müsste). Letztlich geht es ihm darum, die Geltungsgrundlage der Mo-
ral nicht durch die Anerkennung einer nur durch Ethik zu begründen-
den externen Voraussetzung zu schwächen.
Da ich selbst das Verhältnis von (moderner) Moral und Ethik ge-
nau anders herum bestimme und Moral als Kriseninstrument der Ethik
für fundamentale Konfliktfälle, nicht aber als normative Grundlage der
Ethik ansehe, ist mir die Tatsache, dass Habermas in Die Zukunft den
Pfad der reinen Deontologie verlässt, natürlich sympathisch. Und
selbst wenn Forst damit Recht hätte, dass dies mit Blick auf die radikale
Situation des Gedankenexperiments ohne Not geschieht, würde ich er-
gänzen, dass diese Umorientierung spätestens dann unumgänglich
wird, wenn man sich auf die realistischen und nur durch komplexe
Abwägungen normativ plausibel zu bewertenden Optionen humange-
netischer Diagnostik und Therapie philosophisch einlassen will. Es ist
daher zu begrüßen, dass Habermas in Die Zukunft diese Erweiterungs-

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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens

und Anreicherungsstrategie verfolgt, weil schwächere gute Argumente


immer noch besser sind als nicht funktionierende strikte Argumente
oder gar keine Argumente. Ich glaube, dass es Sinn macht, in der ange-
wandten biomedizinischen Ethik die ganze Palette dessen, was wir zur
Verfügung haben, um unsere Sorgen zu artikulieren, einzusetzen und
uns nicht, verschreckt vom Dekret der strikten Universalisierung, Re-
deverbote aufzuerlegen. In die dadurch diskursiv entstehenden Leer-
räume stoßen sonst schnell andere, die keine solchen Bedenken haben,
mit normativen oder religiösen Vorstellungen, deren Verallgemeiner-
barkeit und gesellschaftliche Zumutbarkeit sicher wesentlich geringer
ist als die derjenigen Argumente, die wir aus einer Gattungsethik zie-
hen können, die das selbstbestimmte Individuum ins Zentrum stellt.
So gesehen lautet die Frage: Muss man in Kontexten, in denen
man mit einer rein universalistischen Moral nicht weiterkommt,
schweigen oder darf man sich auf schwächere Argumente stützen?
Die Strategie, die starken moralischen Begründungsansprüche aufrecht
zu erhalten, indem man anthropologische Aspekte naturrechtlich über-
höht und eine als invariant angesetzte Natur ins Feld führt, scheint mir
jedenfalls nicht sinnvoll zu sein. Wenn ich richtig sehe, sind die Über-
legungen von Jürgen Habermas zur Zukunft der menschlichen Natur
von einigen, die das sehr gerne dankend angenommen haben, genau so
gelesen worden. Mir scheint, dass es hier eine Parallele zu der Rezepti-
on der religionsphilosophischen Überlegungen von Habermas gibt,
dessen Versuch, gewisse religiöse Inhalte in einem politischen Diskurs
zu aktivieren, gerne zum Anlass genommen wird, um einen Schritt
weiterzugehen, als es einem lieb sein kann. Es wäre daher gut zu wis-
sen, ob die Zweideutigkeit, die sich bei meiner Lektüre von Die Zu-
kunft ergeben hat, ausgeräumt werden kann. Dies wäre möglich, ohne
die Streitfrage zwischen Forst und Habermas in die eine oder andere
Richtung zu entscheiden. 10
Ich halte es für evident, dass die begeisterte Rezeption einiger von
Jürgen Habermas zur Rolle der Religion vorgebrachten Überlegungen
nur sehr begrenzt seinen Intentionen entspricht, bin mir hinsichtlich
ähnlicher Phänomene mit Bezug auf seine bioethische Intervention je-
doch nicht ganz so sicher. Eine für die Interpretation von Die Zukunft

10 Ich danke Rainer Forst, der durch seinen in diesem Band dokumentierten Diskus-
sionsbeitrag wesentlich zur Klärung meines Gedankengangs in diesem Abschnitt bei-
getragen hat.

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Michael Quante

entscheidende Frage ist, ob eine Auslegung im Sinne einer naturrecht-


lich auf normative Invarianz abzielenden Lehre der menschlichen Na-
tur in seinem Sinne ist, oder ob die Alternative, eine als philosophische
Anthropologie entfaltete Besinnung auf die menschliche Natur auf
dem von Habermas intendierte Wege wäre. Wir können uns jedenfalls
seine Reflexionen zur Zukunft der menschlichen Natur auch als eine
Form der Gesellschaftskritik verständlich machen, in der Naturwüch-
sigkeit nicht als Dogma formuliert, sondern als Warnschild für mög-
liche Irritationen aufgestellt wird, das uns vor die Aufgabe stellt,
immer wieder danach zu fragen, ob wir in einer dieser veränderten
Gesellschaften leben wollen. Es gibt natürlich viele, die an dieser Stelle:
Wehret den Anfängen! ausrufen und der Meinung sind, wir bräuchten
hier einen normativ maximal robusten Halt. Ich frage mich dagegen,
ob wir nicht realistischer Weise und auch, wenn wir die Menschen mit
ihren lebensweltlichen Artikulationen dieser Probleme mitnehmen
wollen, diese Sorgen etwas weniger anspruchsvoll, weniger univer-
salistisch und deutlich fallibler, dafür aber auch signifikant kontextspe-
zifischer philosophisch artikulieren sollten; auch um den Preis, dass wir
unsere Resultate nur als ein Orientierungsangebot und nicht als starke
moralische Forderung in den politischen Raum stellen können. Wo die
Moral mehr leisten kann, ist es gut, aber dort, wo wir auf diese Weise
nicht weiterkommen, sollten wir nicht einer Hypostasierung ethischer
Vorstellungen der menschlichen Natur als ontologisch invariante
Seinsverfasstheit des Menschen Vorschub leisten.

V.

Mein unbequemes Fazit lautet: Wir müssen uns in diesen Fragen im


Unbehaglichen einrichten. Es wird nicht gelingen, unser Unbehagen
gegenüber den neuen Optionen und der uns damit zukommenden Ver-
antwortung in einer Naturrechtstheorie oder in einer irgendwie ge-
arteten Form einer Deontologie mit normativen Mitteln völlig zu
beseitigen. Es ist ethischer Natur und in unserem leiblich-anthropo-
logischen Selbstverständnis verankert; solange es um Medizinethik
geht, können wir auf Vorstellungen des guten und gelingenden Lebens
nicht verzichten. Es geht um Krankheit, um Therapie, um die Erfah-
rung von Sinn und Sinnverlust. Die dort benötigte reichhaltigere
Ethiksprache ist geltungstheoretisch schwächer, weshalb wir unser

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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens

Vorgehen als reflexiv-kritisch begreifen sollten, um mit diesen fragilen


philosophischen Mitteln Diagnosen zu entwickeln und Orientierungs-
angebote zu machen.
Auch dieses normativ abgespeckte Projekt hat noch genügend
Gegner: ein (latenter) Szientismus in den Lebenswissenschaften, diver-
se Formen des reduktiven Naturalismus, der durchaus eine Hinter-
grundideologie in manchen Teilen der Gesellschaft darstellt, sowie be-
stimmte Formen von Ökonomismus, die gut zu diesen anderen beiden
Tendenzen passen. Gegen dieses Syndrom gilt es mit normativen und
ethischen Argumenten anzugehen, um historisch errungene individu-
elle und soziale Freiheiten zu verteidigen. Hierfür, so meine Einschät-
zung, brauchen wir eine breite Allianz und sollten deshalb auch nicht
die leistungsstarken, beispielsweise aus der Feuerbach-Marx-Linie
stammenden ethischen Ansätze mit Kampfbegriffen wie »neoaristote-
lisch« verbannen. Dass es mir nicht um die Rehabilitierung jeder Me-
taphysik und die geltungstheoretische Nivellierung von Unterschieden
geht, die sich mit guten und nachvollziehbaren Argumenten begrün-
den lassen, sollte aus den obigen Bemerkungen klar geworden sein.
Wenn es um die humane Zukunft der menschlichen Natur geht, sollten
wir den innerphilosophischen Zwist zwischen Moral und Ethik nicht
allzu hoch hängen und das selbst durchaus explikationsbedürftige Qua-
litätssigel »nachmetaphysisch« nicht länger exkludierend einsetzen.
Ein philosophisch in meinen Augen wichtiger Punkt ist, bei den
Unterscheidungen von Gemachtem und Gewordenem, bei der Rede-
weise von »das Subjektive und das Objektive« nicht, wie gerne im
Szientismus gemacht, an invariante ontologische Schichten zu denken.
Es handelt sich bei diesen Gegensatzpaaren vielmehr um reflektions-
logisch zu explizierende Ausdifferenzierungen im Selbstwerdungs-
und Selbstverständigungsprozess des Menschen. 11 Mit Marx, und in
der Tradition des Historischen Materialismus, sollten wir diesen Pro-
zess als eine Entwicklung mit offenem Ausgang verstehen, der sich
unter jeweils klar zu benennenden leiblich-materialen Rahmenbedin-
gungen in jeweils spezifischen Gesellschaftsformationen vollzieht.
Dieses Projekt passt meines Erachtens viel besser zur Kompetenz der
Philosophie als reflexiv-kritisches Bewusstsein, die in dieser Selbst-
beschreibung die Bewegung, in der wir uns als Gattungs- und Indivi-
dualwesen befinden, adäquat erfassen kann. Mit Hegel gesprochen:

11 Vgl. hierzu die Kapitel 5 und 6 in Quante: Die Wirklichkeit des Geistes (s. Anm. 2).

313

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Michael Quante

nicht ›naturwüchsig‹ und ›gemacht‹, sondern ›setzen‹ und ›vorausset-


zen‹ als formale Begriffe, die inhaltlich immer wieder unterschiedlich
gefüllt werden und bei denen wir immer wieder austarieren müssen, ob
und wie wir sie füllen wollen. Ich plädiere also dafür, das Buch Die
Zukunft als eine Art negative Dialektik zu lesen. Die dissonanten Ober-
töne dieses Textes mögen daher rühren, dass Jürgen Habermas selbst-
verständlich weiß, dass ein Essay von ihm zur Medizinethik nicht nur
(vermutlich nicht einmal primär) fachphilosophisch wahrgenommen
wird. So lassen sich manche naturrechtliche Bausteine verstehen, die
im politischen Raum den Schutzwall errichten sollen, in Die Zukunft
jedoch philosophisch immer wieder in ein »So könnte es sein.« zurück-
genommen werden.
Was in jedem Fall bleibt, ist der aufklärerisch-liberale Auftrag,
gegen Fremdsteuerungsmechanismen der Humantechnologie, die wir
in der staatlichen wie privaten Forschung im Medizinsektor sehen, ge-
gen übermächtige ökonomische Interessen, aber auch gegen zu kurz
gegriffene individuelle Präferenzen anzugehen. In unserer Gesellschaft
gilt es, gegen die von manchem Transhumanisten und Enhancement-
Enthusiasten marktwirksam platzierte Verlockung eines technisch in-
duzierten Glücks philosophisch aufgeklärte und in liberalen Grundhal-
tungen verankerte Alternativangebote vom gelingenden und guten Le-
ben zu stellen. Wir haben keine andere Chance, als auf die Kraft der
normativen Argumente der Philosophie, aber eben in ihrer Breite, zu
setzen. Vielleicht können wir uns derzeit bei manchen Themen nicht
mehr primär an die Gesetzgeber richten, sondern müssen uns direkt an
die betroffenen Gruppen richten. Das knüpfte dann an Einsichten des
frühen Habermas, die ich eingangs in meiner Rückblende zitiert habe,
nahtlos an.
Für Habermas eigentlich untypisch, hat manche Passage in Die
Zukunft einen resignativen Ton: Gelegentlich heißt es dort, dass etwas
zwar im Prinzip normativ vertretbar, unter deformierenden neolibera-
len Abhängigkeitsverhältnissen aber sehr unwahrscheinlich sei, dass
wir die ethische Kultur aufbringen, innerhalb derer wir die humanen
Potentiale der neuen Möglichkeiten ausschöpfen können, ohne unver-
antwortbare Risiken einzugehen. Da es nicht um ort- und kraftloses
Moralisieren in Form nicht haltbarer Tabuisierungen gehen kann, wir
aber auch nicht fatalistisch diesen gesellschaftlichen Tendenzen den
Gestaltungsraum einfach überlassen wollen, führt kein Weg an einer
kritischen Analyse derjenigen durchaus veränderbaren Rahmenbedin-

314

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Entgegnung auf Michael Quante

gungen vorbei, die es verhindern, die humanen Potentiale zu realisie-


ren, die im Bereich der Humangenetik und der Lebenswissenschaften
erreichbar sind.
Vielleicht ist Jürgen Habermas nicht aus Not heraus vom Pfad der
deontologischen Tugend abgewichen, wohl aber mit dem ihn seit vielen
Jahrzehnten auszeichnenden politisch sicheren Instinkt, dass wir für
eine humane Gestaltung der Zukunft der menschlichen Natur streiten
müssen. Dabei wäre es, aus den in diesem Beitrag dargelegten Grün-
den, gut gewesen, wenn er dem anthropologischen Erbe des Histori-
schen Materialismus mehr zugetraut hätte als den kategorischen Ar-
gumenten, die unter Berufung auf Die Zukunft in den letzten Jahren
im politischen Diskurs fast ausschließlich wirksam geworden sind. 12

Entgegnung von Jürgen Habermas

Michael Quantes glänzender Vortrag enthält sehr subtile Überlegun-


gen, die mich zu neuem Nachdenken über diese bioethische Grundsatz-
frage anregen werden. Aber an Ort und Stelle muss ich etwas weiter
ausholen. Denn bevor ich auf die gestellten Fragen eingehen kann, muss
ich an den Einwand gegen eugenische Optimierungen erinnern, den ich
im »Postskriptum« noch einmal präzisiert habe. Diesen grundsätz-
lichen Einwand hat inzwischen Anja Karnein in ihrem Buch A Theory
of Unborn Life aufgenommen und mit großer analytischer Brillanz
weiterentwickelt. 13
Gehen wir einmal von dem Gedankenexperiment aus, wir würden
eines Tages über fortgeschrittene Biotechnologien verfügen, die uns
erlauben, wichtige monogenetisch bedingte phänotypische Ausprä-
gungen von Eigenschaften, Dispositionen und Fähigkeiten zu manipu-
lieren. Das würde die gezielte Modifikation von Anlagen gestatten, aus
denen die künftige Person bei der Verfolgung ihres jeweils eigenen
Lebensentwurfs Vorteile ziehen soll. Das Argument gegen solche ver-
bessernden eugenischen Eingriffe stützt sich

12
Ich danke Manon Westphal für ihre wertvolle Unterstützung beim Verfassen dieses
Beitrags.
13
Anja Karnein: A Theory of Unborn Life: From Abortion to Genetic Manipulation.
Oxford 2012.

315

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Entgegnung auf Michael Quante

(1) auf die Tatsache, dass die Intervention ohne die informierte
Zustimmung der künftigen Person erfolgen muss, und (2) auf die An-
nahme, dass das Ergebnis irreversibel ist; und ferner
auf die Überlegung, dass (1) der Designer nicht wissen kann, ob
die vermeintliche Verbesserung des Genpools im besten Interesse der
künftigen Person ist, und dass (2) die Art der Abhängigkeit von diesen
fixen Ressourcen nicht zu vergleichen ist mit der Abhängigkeit von
Sozialisationseffekten, die insofern revidierbar sind, als sie der Refle-
xion zugänglich sind und auf Distanz gebracht werden können.

Unter deontologischen Gesichtspunkten ist eine solche genetische


Modifikation nicht erlaubt, weil diese sowohl die (1) ethische wie die
(2) moralische Autonomie der künftigen Person einschränkt:
(1) Sie verletzt eine notwendige Bedingung für die ethische Frei-
heit im Sinne eines ungehinderten »Selbstseinkönnens« der künftigen
Person. Diese kann nämlich retrospektiv in der fremdbestimmten Zu-
sammensetzung ihrer genetischen Ressourcen die Absicht eines Desig-
ners erkennen, der den Spielraum für mögliche Lebensentwürfe im
Voraus festgelegt und insofern nachhaltig in ihre ethische Freiheit als
die Sphäre ausschließlicher Selbstbestimmung eingegriffen hat. Eine
derart behandelte Person kann die für den Eingriff verantwortliche Per-
son für die Folgen des pränatalen Eingriffs zur Rechenschaft ziehen,
wenn sich aus dem fremdbestimmten Design unerwünschte Kon-
sequenzen für die eigene Lebensplanung ergeben. Die Möglichkeit
eines solchen Vorwurfs verrät, dass sich der Betroffene gegebenenfalls
nicht mehr als »Herr im eigenen Hause« fühlt.
(2) Darüber hinaus beeinträchtigt die genetische Modifikation
eine notwendige Bedingung für die reziprok gleiche Achtung aller Per-
sonen. Die fortbestehende Abhängigkeit der genetisch manipulierten
Person von der Entscheidung eines Designers verhindert nämlich jene
Autonomie, die Voraussetzung dafür ist, von Anderen als separate und
selbständige Person anerkannt zu werden. Ein Anzeichen für den sym-
biotischen Status, die merkwürdige Asymmetrie, die sich in der sozia-
len Beziehung dieser beiden fortsetzt: Der eine kann die Rolle des an-
deren nicht übernehmen, weil er dieser askriptiven Beziehung
verhaftet bleibt, sich nicht als eigene Person von ihr zurückziehen
kann. Die Unterstellung eines prinzipiell möglichen Rollentauschs ist
die Voraussetzung dafür, dass sich die Beteiligten gegenseitig als Per-

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Entgegnung auf Michael Quante

son überhaupt, also in ihrer rollenungebundenen Eigenschaft, eine ei-


gene Person zu sein, anerkennen können.

Dieses kurz zusammengefasste Argument bedarf natürlich weiterer


Erklärungen. In unserem Zusammenhang ist der Umstand wichtig,
dass es als moralisches Argument auf eigenen Beinen steht, also von
anthropologischen Hintergrundüberlegungen ganz unabhängig ist. Al-
lerdings begründet es eine moralisch relevante Beziehung zwischen
einerseits der technischen Unantastbarkeit des Genoms eines Ungebo-
renen (sofern das Embryo in der Rolle einer künftigen Person begeg-
net), und andererseits der Integrität der heranwachsenden Person, auf
deren soziale Verletzbarkeit sich die Moral der gleichen Achtung un-
mittelbar bezieht. In beiden Fällen ist von »Unantastbarkeit« in einem
normativen Sinne die Rede, denn die Schutzbedürftigkeit besteht ja
nur unter der Voraussetzung der faktischen Verletzbarkeit von Per-
sonen und der möglichen Manipulierbarkeit ihrer Erbanlagen. Auf die-
se Weise kommt die »Naturwüchsigkeit« in der von Michael Quante zu
Recht unterschiedenen doppelten Bedeutung ins Spiel. Ich beziehe
mich auf Naturwüchsigkeit im biokonservativen Sinne, soweit es unter
moralischen Gesichtspunkten darum geht, in die natürliche Lotterie
der Kombination der elterlichen Gene nicht einzugreifen; und ich ver-
wende denselben Ausdruck kritisch im Marx’schen Sinne der sekundä-
ren Natürlichkeit sozial eingewöhnter, aber normativ fragwürdiger
Verhältnisse, wenn es darum geht, vor der weitgehend unbeachteten
Dynamik einer schnell voranschreitenden biomedizinischen Industrie-
forschung zu warnen, deren Verwertung uns unbesehen, also an Ge-
setzgebung und politischer Öffentlichkeit vorbei, die Segnungen einer
liberalen Eugenik bescheren könnte. In dieser Hinsicht ziehen Michael
Quante und ich an einem Strang. Auch er wendet sich gegen die von
»Enhancement-Enthusiasten marktwirksam platzierte Verlockung
eines technisch induzierten Glücks.«
Andererseits verteidigt er das Ziel, »die humanen Potentiale, die
im Bereich der Humangenetik zu erreichen sind«, auszuschöpfen. An
dieser Aussage mag sich ein Dissens entzünden, je nachdem, wie man
sie interpretiert. Aber Michael Quante vermutet den Dissens an der
falschen Stelle, wenn er mir ein »Naturrechtssurrogat« im Sinne der
verschleierten Ontologisierung eines Kernbereichs der menschlichen
Natur zuschreibt. Wir können uns schnell über die von Haus aus kul-
turelle und wandelbare »Natur« des Menschen verständigen. Wenn

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Entgegnung auf Michael Quante

man so will, besteht die »menschliche Natur« aus der organischen Er-
möglichung eines Ensembles einzigartiger Fähigkeiten zur technischen
Beherrschung einer riskanten Umwelt im Dienste der Reproduktion
und Entwicklung des kulturellen Lebens. Woraus besteht dieses En-
semble einzigartiger Fähigkeiten? Ich halte das instrumentelle Handeln
und die soziale Kooperation, die sich (a) auf ein intentionales Verhält-
nis zur objektivierend auf Abstand gebrachten Welt, (b) auf die gegen-
seitige Perspektivenübernahme und (c) auf die Verwendung einer pro-
positional ausdifferenzierten Sprache stützen, für die »menschlichen
Monopole«, die so etwas wie die Natur des Menschen definieren. Diese
formal bestimmten Kompetenzen sind allgemein, d. h. für menschliche
Lebensformen überhaupt charakteristisch.
Ich gehe also nicht von einem metaphysischen Menschenbild aus,
das erklärt, warum die Zufallskombination der elterlichen Gene unter
»Naturschutz« gestellt werden soll. Vielmehr lasse ich mich von
Grundsätzen eines deontologischen Verständnisses von Moral leiten,
um Zweifel an der Zulässigkeit der pränatalen Eingriffe einer verbes-
sernden Eugenik zu begründen. Der erwähnte Einwand bezieht sich
ausdrücklich nicht auf gentechnologische Eingriffe, die in unzweideu-
tig therapeutischer Absicht vorgenommen werden. Um »unzweideuti-
ge« Fälle einer negativen Eugenik handelt es sich freilich nur bei der
Diagnose von Erbkrankheiten, die so schwer sind, dass ein demokrati-
scher Gesetzgeber nach gewissenhaften Diskussionen in der breiten
Öffentlichkeit gute Gründe gewonnen zu haben meint, von der kon-
trafaktisch antizipierten Zustimmung der davon betroffenen »künfti-
gen Personen« ausgehen zu dürfen. Wir haben mit unseren politischen
Verfassungen, also mit der Anerkennung von Menschenrechten und
Demokratie Maßstäbe, die eine solide Grundlage für die Beurteilung
moralisch empfindlicher technischer Neuerungen bieten. Aber warum
können wir uns nicht, wie Rainer Forst meint, mit einem moralischen
Einwand, der gegebenenfalls in Gesetzgebungsprozesse Eingang findet,
begnügen?
Der Rekurs auf eine gattungsethische Abwägung wird nötig, weil
mit dem Auftreten »posthumanistischer« Menschenbilder eine neue
Situation entstanden ist. Eugenische Utopien gibt es schon lange; aber
erst die Erforschung verschiedener konvergenter Entwicklungen in
Biogenetik, Neurologie, Nanophysik und Kybernetik (d. h. künstlicher
Intelligenz) hat den Anstoß zu einer libertären Literatur über verbes-
sernde Eingriffe in das organische Substrat des Menschen gegeben, die

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Entgegnung auf Michael Quante

einstweilen Fiktion sind, aber zwischen science und science fiction


merkwürdig oszilliert. Der Posthumanismus hat insofern einen aufklä-
renden Effekt, als er uns Deontologen die Zufälligkeit moralischer Ver-
gesellschaftungsformen bewusst macht. Er entwirft Szenarien, die den
Modus der uns bekannten kommunikativen Vergesellschaftung
sprach- und handlungsfähiger Subjekte hinter sich lassen. Diese Art
von Spekulationen richtet sich nämlich auf die technologische Leis-
tungsoptimierung des einzelnen Organismus, und zwar auf die Ver-
besserung der sinnlichen Wahrnehmung, des körperlichen und psychi-
schen Wohlbefindens, der Gesundheit, der Intelligenz, insbesondere
der Gedächtnisleistung und allem voran der Lebensdauer. Abgesehen
wird von jenen Dimensionen der Vergesellschaftung und der Koope-
ration, worin solidarisches Verhalten und die Lösung moralischer
Handlungskonflikte erst möglich werden. In den abstrusen Menschen-
bildern mancher Technofreaks sind nicht einmal mehr die Vorausset-
zungen für ein Zusammenleben erfüllt, das einer moralischen Beurtei-
lung unterzogen werden könnte. Die humane Lebensform, die die
Grundlage der Moral bildet, erscheint dann, wenn nicht als Sackgasse
des rückständigen Teils der Menschheit, bestenfalls als eine Option
unter mehreren. Im Lichte dieser Alternativen drängt sich die gat-
tungsethische Frage auf, ob wir an Lebensformen mit moralischer Ver-
haltensregulierung überhaupt festhalten wollen. Die Frage »Warum
moralisch sein?« stellt sich der Gattung im Ganzen. Die naturalen Vo-
raussetzungen der Moral in Gestalt der uns bekannten Infrastruktur
verständigungsorientierten Handelns und gesellschaftlicher Integra-
tion sind ja tatsächlich ein kontingentes Ergebnis der natürlichen Evo-
lution und fallen nicht mehr in den Gegenstandsbereich der Moral
selber.

319

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Diskussion
Moderation: Heinz Sünker

Arnim Regenbogen (Universität Osnabrück): Die Welt hat mich zur


Diskussion bioethischer Art gefragt, die ich vereinfache auf die uralte
Frage: Darf man Menschen züchten? Und Philosophen, Moralphiloso-
phen sollten darüber entscheiden. Wie wäre es, wenn es sich durch-
gesetzt hätte, was in einer Kommission beraten worden ist, welche die
Charta der Grundrechte der europäischen Union (beschlossen im Jahre
2000) diskutiert hat? Dort wurde allen Ernstes der Vorschlag gemacht,
festzulegen: Es ist ein Menschenrecht, dass wir genetisch nach Zufalls-
gesichtspunkten zusammengesetzt werden. Dieses Prinzip als ein
Menschenrecht zu deklarieren, hat sich nicht durchgesetzt. Aber hätte
man es in die europäische Deklaration der Grundrechte aufgenommen,
dann wäre die heutige Diskussion anders verlaufen. Meine Frage an die
Beteiligten, sofern sie Stellung nehmen wollen, lautet: Sollte man die-
ses Prinzip als Menschenrecht positivieren? Wenn ja, bin ich darauf
gespannt, mit welchen philosophischen Argumenten dafür und da-
gegen gestritten wird.

Rainer Forst (Universität Frankfurt a. M.): Meine Frage bezieht sich


auch auf diese Diskussion, und ich will den Ball, den Michael Quante
mir freundlicherweise zugeworfen hat, auffangen und vielleicht ein
wenig retournieren – und eine Frage stellen. Jürgen Habermas hat ja
in seiner Antwort auf Dich, Michael, dargestellt, dass er zunächst ein-
mal versucht, innerhalb des deontologischen Denkrahmens die Frage
zu beantworten: Warum ist das »Programmieren« zukünftiger Per-
sonen ein moralisches Problem? Die Antwort ist, dass die künftige, so
programmierte Person ein gestörtes Selbstverhältnis haben könnte:
dass sie sich, so die Annahme, nicht als autonome Person ethisch und
moralisch wird wahrnehmen können. Das Wort »moralisch« ist dabei
zu unterstreichen. Das bedeutet in meinen Augen: Wenn es so wäre,
dass solche Eingriffe dazu führten, dass der moralische Selbstrespekt

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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens

und damit auch das moralische Verantwortlich-Sein-Können gefährdet


würden, folgte daraus ein rein deontologisches Argument gegen solche
Praktiken, und ich sehe nicht, wieso man hier mit dem ethisch guten
oder gelingenden Leben operieren muss. Ob dieses moralische, sich
selbst und andere respektierende Leben das gute Leben ist, wissen wir
nicht, aber wir wissen, dass es moralisch geboten ist.
Der mögliche Dissens zu Jürgen Habermas, und den lokalisierst
Du ganz richtig, besteht dort, wo es bei ihm – das war der zweite Teil
seiner Antwort, wenn ich recht verstehe – so scheint, als ob die »gat-
tungsethische« Frage – angesichts der Möglichkeit, dass sich unsere
Lebensform gravierend verändern könnte durch bestimmte Eingriffe,
die noch in der Zukunft liegen – eine genuin ethische Frage wäre, also
die Frage, ob wir solche Lebensformveränderungen im Sinne des guten
Lebens wollen können. Mir hingegen scheint es so, dass in dem Fall, in
dem daraus eine Lebensform entstünde, in der moralisches Verant-
wortlich-Sein seine Grundlagen verlöre, wir nicht moralisch befugt
sind, diese Veränderungen vorzunehmen. Wenn man es als eine gat-
tungsethische Frage beschreibt, dann ist es die Frage: »Wollen wir so
eine Lebensform?« Mein Kantianismus aber sagt, dass das keine Frage
des ethischen Wollens ist, sondern eine Frage des moralischen Ver-
pflichtet-Seins, so eine Welt nicht herzustellen. Die ethische Freiheit,
das zu entscheiden, haben wir moralisch gesehen nicht. Das ist der
Punkt an dieser wichtigen Stelle gewesen.
Nun meine Frage an Dich, Michael: Du hast so wunderbar mit der
Betonung der Selbstbestimmung geendet. Aber: Wenn Deine Vor-
schläge dazu führen, dass man Eltern künftiger Personen verbietet, be-
stimmte Dinge zu tun, dann greift man natürlich in deren Selbst-
bestimmung ein, und dann hätte man besser ein deontologisches
Argument als Trumpf an der Hand und keines, das auf einer Vorstel-
lung des guten Lebens beruhte, denn die haben vielleicht eine ganz
andere Vorstellung davon.

Georg Lohmann: Ich würde gerne die Frage noch einmal aufnehmen
und sowohl Dich, Michael, als auch Herrn Habermas nach den Verhält-
nissen zwischen Gattungsethik, universalistischer Moral und Unver-
fügbarkeit fragen. Wenn ich das richtig sehe, hängen die ja zusammen.
Und ich glaube, die Hintergrundfrage ist: welcher von diesen Aspekten
gibt den Ton an; dominiert die anderen? Und ich habe den Eindruck,
Herr Habermas, dass Sie eher dualistisch argumentieren. Ich werde in

321

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Diskussion

meinem Vortrag darauf eingehen, was vielleicht die Hintergrundmoti-


vation dafür ist, dass Sie sagen, die universalistische Moral kann nicht
alle Probleme mit ihren eigenen Mitteln lösen, sie ist von Vorausset-
zungen abhängig, die Sie sonst immer »entgegenkommende Lebens-
formen« nennen. Die Bestimmungen und der Schutz dieser entgegen-
kommenden Lebensformen sind von kulturellen Wertungen abhängig,
wie wir uns als Menschen in Bezug auf unsere Natur, unser In-der-
Welt-Sein usw. und in Bezug auf das, was gattungsethisch uns sowohl
deskriptiv als auch normativ unverfügbar ist, verhalten. Hier haben wir
historisch eingespielte Wertungen, die sich heute auf rationalisierte
Lebensformen beziehen und beziehen müssen. Insofern Habermas
den Universalismus der Moral nicht aufgibt, steht er auf Deiner Seite,
Michael. Aber die universalistische Moral bleibt von etwas abhängig,
was wir mit wechselseitigem Respekt und moralischer Fürsorge nur
pflegen und hegen können, nicht aber schaffen. Und das ist, glaube ich,
der Punkt, an dem jetzt Gattungsethik hereinspielt. Die Gattungsethik
wird entworfen aus den Notwendigkeiten der Stützung, gewisserma-
ßen der sozialen und kulturellen Akzeptanz einer universalistischen
Ethik, aber sie bezieht sich auf die wertende Anerkennung dessen, was
für uns Menschen unverfügbar ist oder sein sollte. Damit überschreitet
sie die Leistungen einer universalistischen Ethik. Die Frage, die sich
mir aus dieser Konstellation ergibt, ist: Würdest Du, Michael, deshalb
einen Aristotelischen oder einen Hegel’schen Ansatz nehmen, um aus
einer »ethischen« Perspektive des sittlich guten Lebens diese Spannung
zu überwinden, oder sollte es (wie m. E. Habermas es versucht) bei
einem Dualismus bleiben, indem akzeptiert wird, dass keine von den
beiden Seiten zurecht beanspruchen kann, die andere Seite mit den
eigenen Mitteln zu relativieren.

Michael Quante: Zur letzten Frage von Georg Lohmann: Die Diagno-
se ist richtig, das hat mich umgetrieben, weil ich die Sorge habe, dass an
manchen Stellen in Die Zukunft der menschlichen Natur aus einem
starken Unverfügbarkeitsbedürfnis der Naturbegriff oder die Natur-
wüchsigkeit von einer kontingenten, aber für unsere Lebensform kon-
stitutiven Vorgabe zu einer Art naturrechtlich objektiven Verpflich-
tung geworden ist. Das war meine Sorge, und dass dieser Übergang
politische Konsequenzen hätte, und dass der vielleicht sogar als politi-
scher Eingriff in Kauf genommen worden ist, das ist das eine. Ich habe
nichts gegen Dualität, die Frage ist nur, wie man sie beschreibt. Es gibt

322

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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens

Leute, die beschreiben die universalistische Moral als die Grundlage,


auf die man dann etwas anderes noch aufsetzen kann. Ich habe ja ge-
sagt, ich betrachte sie als den Grenzbereich der Ethik, als Krisen-
management. Aber Moralphilosophie schon als Krisenmanagement
aufzufassen – ein Zeichen der Moderne –, zerstört möglicherweise Ge-
biete, wo wir gar nicht mit so starken Elementen herangehen müssten,
und auch besser nicht sollten, weil wir dann die Obertöne, die sich
anders artikulieren, nicht mehr in den Griff bekommen. Also wie viele
Dinge in bioethischen Debatten als unaufgeklärtes Zeug einfach zu-
rückgewiesen werden, obwohl sich ernsthafte Sorgen artikulieren, das
gefällt mir nicht, das ist eine Ausgrenzungsfunktion. Und mit Bezug
auf die reine Deontologie teile ich auch die Sorge einer großen Nähe
zur Verrechtlichung. Das ist auch ein Phänomen, das wir beobachten.
Gegen all das kann man ansteuern. Ich glaube nicht, dass wir die mo-
derne Moral wieder auflösen können. Die Frage ist, wie sich Moralität
und Sittlichkeit zueinander verhalten, und ich halte die Moral mit He-
gel für eine ganz wichtige Errungenschaft für Krisenphänomene, aber
nicht für das normative Fundament aller Diskurse im Sinne einer not-
wendigen Vorbedingung. Da haben wir einen Unterschied, glaube ich.
Zu Rainer Forst ganz kurz: Ich glaube, es ist besser, mit guten
Gründen paternalistisch anmutende Angebote zu machen, als den Pa-
ternalismus damit zu verschleiern, dass man den Leuten sagt: »Das ist
im Grunde die reine rationale Vernunft in dir selbst, du musst nur
lange genug Kant oder anderes lesen, um das einzusehen«. Ich bekenne
mich dazu, dass wir Vorschläge machen müssen in diesem Bereich und
dass wir das riskieren müssen, aber die Suggestion, alles andere sei
entweder nicht rational oder transzendentalphilosophisch nicht auf
der Höhe – ich polemisiere jetzt natürlich ein bisschen – ist nicht bes-
ser. Ich glaube, eine objektivistisch gedeutete praktische Vernunft ist
genauso paternalistisch wie eine zu partikulare Folie für ein gelingen-
des Leben, und welchen Preis man lieber zahlt, ist vielleicht sogar ein
Folgeschaden der eigenen philosophischen Sozialisation. An dieser
Stelle sollten wir weiter nachdenken.
Zum ersten Redner [Arnim Regenbogen, Anm. d. Hrsg.]: Ein
Menschenrecht auf genetische Zufälligkeit würde ich nicht in dieser
unbeschränkten Form gelten lassen, denn ich glaube, wenn wir zum
Beispiel monokausale schwerste Krankheiten reparieren könnten, dann
sollten wir diese Zufälligkeit rechtzeitig ausschalten, anstatt wie bisher
80–90 % von Menschen mit Down-Syndrom einfach abzutreiben. Das

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Diskussion

ist faktisch ja unsere Antwort auf die Naturwüchsigkeit in dieser Ge-


sellschaft. Also deswegen wäre mir das zu stark. Es ist ein Extrem-
beispiel, die vollständige Geplantheit als ein Gedankenexperiment zu
nehmen. Da sind wir uns einig, da gibt es viele gute Gründe, das ab-
zulehnen. Da ist sogar die Deontologie, glaube ich, stark genug, dies
abzulehnen. Aber wir haben andere Probleme, die real sind, wo wir
heute Regelungen treffen müssen; und sich dort so herauszuziehen
mit einer formalen, abstrakten, generellen Überlegung, das überzeugt
mich einfach nicht, wenn man einmal mit den betroffenen Menschen
redet. Trotzdem muss man ihnen auch sagen, wo sie naive Vorstellun-
gen haben, wo sie sich noch einmal selber aufklären lassen müssen.
Und es gibt Fälle, wo man sagen muss: »Das geht nicht, weil wir es
nicht wollen«. Ich glaube, in letzter Instanz bin ich auch jemand, der
sagt: »Wir wollen diese moralische, ethische Lebensform und ich will
die szientistische Perspektive nicht«. Und dafür brauche ich keine
Letztbegründung, dafür setze ich mich einfach ein. Das ist der letztlich
entscheidende Punkt.

Jürgen Habermas: Nur im Hinblick auf die Intervention Menschen-


recht. Ich wusste das nicht, dass das mal diskutiert worden ist. Das wäre
ja eine Normativierung der natürlichen Lotterie, also der genetischen
Zufälle im Augenblick der Befruchtung. Ich habe das nicht durchdacht,
obwohl eine Implikation meines Essays damals schon ähnlich lautete,
also die Unverfügbarkeit der Natur in einem normativen Sinne zu si-
chern. Dennoch zögere ich nicht nur im Hinblick auf alle die Argumen-
te, die Herr Quante mit Recht bringt. Ich meine, natürlich muss man
unter therapeutischen Gesichtspunkten da flexibel sein, und man weiß,
dass das keine Kleinigkeit ist. Nach meinen Vorstellungen wird in de-
mokratisch organisierten Gesellschaften letztlich vom Gesetzgeber
entschieden, was noch als eine therapeutische Verbesserung anzusehen
ist oder was nicht. Wie gesagt, ich habe nicht darüber nachgedacht, und
kann also jetzt nicht definitiv sagen, ich wäre dafür oder dagegen. Ich
belasse es mal dabei.

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V. Die Selbstverständigung der Moderne

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Georg Lohmann
Ernüchterte Geschichtsphilosophie
Zur Rolle der Geschichtsphilosophie in Habermas’
kritischer Gesellschaftstheorie

1. Vorbemerkungen

Auch eine »ernüchterte« Geschichtsphilosophie ist Geschichtsphiloso-


phie in dem Sinne, dass sie eine Deutung von Geschichte ist. 1 Unter
Geschichte verstehen wir einmal die zeitlich aufeinander folgenden Er-
eignisse, die unumkehrbar und unwiederholbar vergangen sind oder
vergehen (res gestae), und Geschichte nennen wir ihre erzählende
und um Verstehen bemühte Darstellung (historia rerum gestarum). 2
Gesellschaften als umfassende soziale Handlungszusammenhänge un-
terliegen Veränderungen in der Zeit, die im Bewusstsein ihrer Akteure
als geschichtliche Verläufe konstruiert werden. Geschichtsphilosophien
unternehmen die Deutungen dieser Geschichten aufgrund bestimmter
Annahmen, von denen ich einige beispielhaft andeute: es sind Annah-
men über die Erkennbarkeit der Geschichte, z. B. weil sie vom Men-
schen gemacht sei oder in narrativen Sätzen dargestellt werde; über
die Verlaufsrichtung, z. B. linearer Fortschritt oder Verfall oder zykli-
sche Wiederkehr; über das Ziel der Geschichte, z. B. Weltgericht und
Erlösung oder weltbürgerliche Gesellschaft; über den Sinn der Ge-
schichte, z. B. Bewährung, Gnadenfrist oder praktische Ermutigung;
über das Subjekt der Geschichte, z. B. die Menschheit, die Freiheit oder
die Gesellschaft; und schließlich darüber, ob es eine Universalgeschich-

1 Ich übernehme im Folgenden überarbeitete Teile von Georg Lohmann: »Kritische


Gesellschaftstheorie ohne Geschichtsphilosophie? Zu Jürgen Habermas’ verabschiede-
ter und uneingestandener Geschichtsphilosophie«. In: Frank Welz, Uwe Weisenbacher
(Hrsg.): Soziologie und Geschichte. Zur Bedeutung der Geschichte für die soziologische
Theorie. Opladen 1998, S. 197–217.
2
Siehe hierzu Emil Angehrn: Geschichte und Identität. Berlin 1985; Angehrn: Ge-
schichtsphilosophie. Stuttgart/Berlin/Köln 1991, mit Hinweisen auf weitere Literatur.

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Georg Lohmann

te oder nur eine Pluralität von Geschichten gibt. 3 Die Geschichte der
Geschichtsphilosophien macht diese Vielfalt unterschiedlicher Kenn-
zeichnungen als zunehmenden Reflexionsprozess auf Wandlungen im
Geschichtsbewusstsein plausibel 4, gleichwohl wird oft unter der Ge-
schichtsphilosophie eine klassisch neuzeitliche Variante verstanden,
nach der die eine Universalgeschichte einen idealen Zustand der
Menschheit zum Ziel hat, und dies in der Weise eines objektiv notwen-
digen, linearen Fortschrittsprozesses anstrebt. Mir kommt es darauf an,
dass dies keineswegs die einzige Auffassung von Geschichtsphilosophie
ist, sondern dass es unterschiedliche Arten gibt, und es vielmehr darum
geht, eine dem jeweiligen Geschichtsbewusstsein angemessene phi-
losophische Deutung der Geschichte zu erlangen.
Geschichtsphilosophische (aber auch evolutionäre) Konzeptionen
von Gesellschaftstheorie sind Verzeitlichungen von Selbstthematisie-
rungen 5, die Gesellschaft als das beschreiben, was sie geworden ist oder
noch nicht ist oder noch wird. Sie eröffnen damit die Möglichkeit, die
gegenwärtige Gesellschaft daran zu messen, was sie einmal war oder
noch nicht ist. Eine geschichtsphilosophisch begründete kritische Ge-
sellschaftstheorie liegt dann vor, wenn der Maßstab der Kritik vor-
nehmlich durch Annahmen über den Verlauf der Geschichte begründet
wird. In dem Maße, wie solche Theorien auf ihre zeitliche Struktur und
deren Bedingungen reflektieren, nehmen sie eine Differenz in ihr
Selbstverständnis mit auf. Sie reflektieren sowohl auf ihren gegenwär-
tigen »Entstehungskontext« wie auf ihren zukünftigen Verwendungs-
oder »Anwendungszusammenhang« 6 und verstehen sich selbst in
praktischer Absicht: als geschichtsphilosophische Aufklärung der Ge-
sellschaft über sich selbst.
Die ihrem Selbstverständnis nach aufklärerischen und/oder kriti-
schen Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts (Hegel, Marx, Com-
te) waren mit expliziten oder impliziten geschichtsphilosophischen
Konstruktionen verknüpft, in denen Fortschrittsannahmen im Selbst-

3 Siehe dazu jetzt Jürgen Osterhammel: »Von einem hohen Turme aus«. In: FAZ v.
31. 10. 2012, S. 6.
4 Siehe Angehrn: Geschichtsphilosophie (s. Anm. 2).

5 Vgl. Niklas Luhmann: »Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der

modernen Gesellschaft«. In: Zeitschrift für Soziologie 16. Jg., Heft 3 (1987), S. 161–
174, hier: S. 166.
6
Vgl. Jürgen Habermas: »Über das Subjekt der Geschichte«. In: ders. Kultur und Kritik,
Frankfurt a. M. 1973, S. 389–398, hier: S. 392.

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Ernüchterte Geschichtsphilosophie

verständnis der Gesellschaft ihren theoretischen Ausdruck fanden.


Diese waren angeregt durch Erfahrungen des Fortschrittes von Wis-
senschaft und Technik, durch Produktivitätssteigerungen von Industrie
und Handel, und konnten dabei auf Geschichtsphilosophien des
18. Jahrhunderts zurückgreifen, die Annahmen über den Fortschritt
der Wissenschaften mit Annahmen über die moralische Verbesserung
der Menschheit zu Vorstellungen eines zivilisatorischen Fortschritts
verbanden. Sie sind dabei nicht nur zukunftsorientiert, auch ihr Maß-
stab und dessen mögliche Rechtfertigung erscheinen als etwas Zukünf-
tiges. Kant bedachte die geschichtsphilosophische Annahme eines »be-
ständigen Fortschreiten(s)« des menschlichen Geschlechtes »zum
Besseren« 7 mit Skepsis, und er sah ihren Sinn allein in der praktischen
Beförderung eines solchen besseren Zustandes.
Jene Kantianische Skepsis hat freilich in der Folge den Ton nicht
angeben können. Mit Fichte und Hegel setzte sich die vernunftphiloso-
phische, letztlich optimistische Gewissheit durch, dass trotz aller ge-
genstehenden Übel die Geschichte der Menschheit zum Besseren fort-
schreite. 8 Die Geschichte von Gesellschaften wird eingespannt in den
notwendig fortschreitenden Prozess der Geschichte, dessen teleologi-
sche Gerichtetheit dann die praktischen Probleme der Umsetzung der
geschichtsphilosophischen Annahmen in historisch-konkretes Han-
deln und deren Rechtfertigung als Probleme letztlich auflöst. 9 Gesell-
schaftstheorien, die in der Tradition der Hegel’schen Geschichtsphi-
losophie stehen – und das gilt für Marx wie für die frühe Kritische
Theorie und, mit umgekehrten Vorzeichen als Verfallsgeschichte, auch
noch für die Dialektik der Aufklärung – haben das Verhältnis von prak-
tischer Philosophie und Geschichtsphilosophie zuungunsten der ers-
teren aufgelöst.
Diese Ersetzung von praktischer Philosophie durch Geschichts-
philosophie ist einer zunehmenden Kritik unterzogen worden, die
theoretisch initiiert wurde durch den Historismus und Nietzsche und
die praktisch durch die grauenhaften Erfahrungen von Faschismus und
Stalinismus sich bestätigt fand. Mit einigen Verzögerungen hat das

7 Immanuel Kant: Streit der Fakultäten. AA VII, S. 79 ff.


8 Immer noch informativ Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart
1953.
9 Vgl. zu Hegel: Angehrn: »Vernunft in der Geschichte? Zum Problem der Hegelschen

Geschichtsphilosophie«. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung Bd. 35, Heft 3/4
(1981), S. 341–364, hier: S. 362.

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Georg Lohmann

ganz allgemein zu einem »Abschied« von der Geschichtsphilosophie


geführt 10.

2. Die Abtrennung der Geschichtsphilosophie von der


kritischen Gesellschaftstheorie bei Habermas

Seit Anfang der siebziger Jahre stößt man in den Schriften von Jürgen
Habermas auf Überlegungen, die zeigen, dass er seine kritische Gesell-
schaftstheorie von geschichtsphilosophischen Annahmen befreit wis-
sen will. Mitbedingt durch die zur gleichen Zeit begonnene Rezeption
der Systemtheorie und des Funktionalismus wird die Verzeitlichung
der Gesellschaftstheorie ab da im Rahmen einer Theorie der sozialen
Evolution konzipiert. Damit legt Habermas einen Schnitt in seinen ei-
genen theoretischen Werdegang, der mit einer Dissertation zu Schel-
ling über Das Absolute und die Geschichte (1954) geschichtsphiloso-
phisch begann, in den Sechzigerjahren eine »empirisch gesicherte
Geschichtsphilosophie« »in praktischer Absicht« (TP1 179 ff., 206 ff.,
301 ff.) ins Auge fasste und noch mit Erkenntnis und Interesse die Kon-
zeption einer Gattungsgeschichte entwarf.
Dieser Schnitt hat zunächst die erwünschte Folge, dass seine Ge-
sellschaftstheorie von, wie er sagt, »geschichtsphilosophischem Bal-
last« (VE 526) befreit wird. Darunter versteht Habermas die »pseudo-
normativen Aussagen über eine objektive Teleologie der Geschichte«
(ebd.), die im Historischen Materialismus und noch für die Kritische
Theorie der dreißiger Jahre Geltung hatte. Näher hin versteht er da-
runter Annahmen, die die Unilinearität, Notwendigkeit, Kontinuität
und Nichtumkehrbarkeit der Geschichte implizieren (vgl. RHM
154 ff.). 11 Obsolet geworden sind auch die Konstruktion eines Subjektes
10
Exemplarisch: Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt
a. M. 1974; Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt
a. M. 1973; Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und
Metakritik der historischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1972; Reinhart Koselleck/Wolf-
Dieter Stempel (Hrsg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973; Herbert
Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. Frei-
burg/München 1974.
11
In gleicher Weise weist Luhmann für die Evolutionstheorie auf die Aufgabe von
»Einzelattributen« hin, die wie Unilinearität, Kontinuierlichkeit, Endogenität, Irrever-
sibilität und Notwendigkeit in den älteren Evolutionstheorien impliziert waren; auch er
wirft, mit der »Herauslösung der Prozeß-Prämisse aus den Voraussetzungen der Evo-

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Ernüchterte Geschichtsphilosophie

der Geschichte 12 und die damit verbundene Annahme der Machbarkeit


von Geschichte. Man muss sagen, von dieser Art der Geschichtsphi-
losophie will Habermas Abstand nehmen, ohne, und das ist wichtig,
die »theoretisch leitenden Intentionen« preisgeben zu wollen (VE 526),
die mit dem geschichtsphilosophischen Denken verknüpft waren. Die
Gesellschaftstheorie soll »der geschichtsphilosophischen Selbstgewiss-
heit« entsagen, »ohne den kritischen Anspruch aufzugeben« 13.
Die dann aber umstandslos generalisierte Abkehr vom geschichts-
philosophischen Denken führt zu grundlegenden Wandlungen im
Theorieaufbau (VE 526; vgl. TkH II 561 f.). Die Wandlungen, die sich
aus diesem »Abschied« von der Geschichtsphilosophie für die kritische
Gesellschaftstheorie ergeben, will ich stichpunktartig nennen. Er führt:
a) methodisch zu einer Ersetzung des Verfahrens einer hermeneu-
tisch aufgeklärten, interpretativen Ideologiekritik durch ein Verfahren
der Rekonstruktion;
b) mit der Trennung von Entwicklungslogik und Entwicklungs-
dynamik zu einer Abspaltung von Geschichte aus dem theoretisch er-
fassten Gegenstandsbereich der Theorie: diese rekonstruiert in einem
ersten, »unhistorischen«, gleichsam horizontalen Schritt die Rationa-
litätsstandards, aus denen dann in gleichsam vertikaler Richtung die
Logik der gesellschaftlichen Evolution hinsichtlich unterscheidbarer
Lernniveaus rekonstruiert wird, ohne dabei etwas aussagen zu wollen
über geschichtliche Ereignisse und Prozesse zur Erreichung solcher Ni-
veaus. Die Verzeitlichung der Gesellschaftstheorie geschieht so im be-
schränkten Rahmen der Evolutionstheorie, wobei offenbar in Zur Re-
konstruktion des Historischen Materialismus ein noch stärkerer
Erklärungsanspruch erhoben wird als in der Theorie des kommunika-
tiven Handelns, in der die Evolutionstheorie oft (aber nicht immer)
einen nur illustrativen Charakter zu haben scheint.
c) hinsichtlich des Selbstverständnisses der Kritik zu der Unter-
scheidung einer Kritik durch Selbstreflexion (Freud-Modell) von einer
Kritik durch Nachkonstruktion (Piaget-Modell) und einer zunehmen-
den Beschränkung auf letztere (s. u.);

lutionstheorie, ja aus dem Evolutionsbegriff selbst, […] einigen Ballast ab«, der seine
Parallele im Leichterwerden der Gesellschaftstheorie bei Habermas hat; siehe Luhmann:
Soziologische Aufklärung 3. Opladen 1981, S. 183 u. 187.
12 Siehe Habermas: »Über das Subjekt der Geschichte« (s. Anm. 6).

13
So Habermas: »Entgegnung«. In: Axel Honneth/Hans Joas (Hrsg.), Kommunikatives
Handeln. Frankfurt a. M. 1986, S. 327–405, hier: S. 391.

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Georg Lohmann

d) hinsichtlich des normativen Maßstabes der Kritik zu einem Ver-


zicht auf die Bewertung ganzer Epochen und Lebensformen, was sich
in der kommunikativen Ethik als Abspaltung von Fragen der Gerech-
tigkeit von solchen des Guten Lebens äußert.
Insgesamt ist damit der Vorrang der praktischen Philosophie, jetzt
auf Moral- und (seit Faktizität und Geltung) Rechtsphilosophie einge-
schränkt, gegenüber geschichtsphilosophischen Ausführungen bezüg-
lich des normativen Maßstabes der Theorie gesichert. Dabei fällt auf,
dass Habermas mit dem »Abschied« von jener objektivistischen Ge-
schichtsphilosophie sich keineswegs von jeder Art von Geschichtsphi-
losophie trennt, insbesondere nicht von der empirisch falsifizierbaren
Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, die er selber vorher zu
exponieren versucht hat. Diese orientierte sich an Kant und Merleau-
Ponty, um sich so gegen den überzogenen Objektivismus von Hegel
und Marx der Möglichkeit einer nicht-objektivistischen Geschichtsphi-
losophie zu versichern (TP1 211 ff., 302 ff.). 14

3. Kommunikative Vernunft als »rächende Gewalt«

Es gibt einige Stellen, in denen Habermas auf den (geschichtlichen)


Status der kommunikativen Vernunft zu sprechen kommt und die wie
eine uneingestandene geschichtsphilosophische Spekulation über die
kommunikative Rationalität erscheinen. Habermas spricht davon, dass
die kommunikative Vernunft »in der Geschichte als rächende Gewalt«
operiert (VE 489). 15 Damit interpretiert er geschichtsphilosophisch den
historischen Status der kommunikativen Rationalität, die, »gerade als
unterdrückte, in den existierenden Formen der Interaktion bereits ver-
körpert ist und nicht als ein Gesolltes erst postuliert werden muß« (VE
488 f.). Wirksam soll die kommunikative Vernunft sein, nicht weil sie
mit der Macht eines Ideals die Geschichte beherrscht, sondern weil sie

14 Siehe dazu auch Harald Pilot: »Jürgen Habermas’ empirisch falsifizierbare Ge-
schichtsphilosophie«. In: Theodor W. Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der deut-
schen Soziologie. Neuwied/Berlin 1969. Die internen Folgen einer geschichtsphiloso-
phisch erleichterten Gesellschaftstheorie habe ich in Lohmann 1998 (s. Anm. 1) genauer
untersucht.
15
Siehe auch Hauke Brunkhorst: »Kommunikative Vernunft und rächende Gewalt«.
In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau Jg. 6 (1983), H. 8–9.

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Ernüchterte Geschichtsphilosophie

als unterlegene Partei in den historischen Spuren von Unterdrückung


und Revolte aufzufinden ist. Darin liegt zum einen, dass der Status der
Wirksamkeit »ein Mittleres ist zwischen faktischem Dasein und blo-
ßem Ideal«. 16 Zum anderen aber enthalten die Zeugnisse historischer
Wirksamkeit den normativen Gehalt der kommunikativen Vernunft
nur unvollständig. Habermas begrenzt, wie wir oben aufgezeigt haben,
den Bereich dieser kommunikativen Vernunft auf Fragen der im enge-
ren Sinne moralischen »Sittlichkeit legitimer Ordnungen« und will so
einer schicksalhaften Mystifizierung dieser »rächenden Gewalt« vor-
beugen. Dabei zeigt der Kontext ganz deutlich, dass die »Kausalität
des Schicksals«, mit der hier die kommunikative Vernunft in der Ge-
schichte operiert, an Hegels Theorie der Rache in der Rechtsphiloso-
phie 17 abgelesen ist. Rache aber ist für Hegel (wie schon für Aristoteles)
eine defiziente Form von Sittlichkeit im weiten Sinne; die wieder-
vergeltende Rache muss durch moralische Gerechtigkeit gezügelt
(»aufgehoben«) werden, weil sie sonst nur immer wieder neue Verlet-
zungen perpetuiert. Hinsichtlich ihrer geschichtlichen Wirksamkeit
operiert die kommunikative Vernunft danach unterhalb ihres eigenen
Standards und deshalb braucht Habermas einen nicht-historischen,
»quasi-transzendentalen« Ansatz, der die formalen und prozeduralen
normativen Standards rekonstruiert. Man kann freilich den Zusam-
menhang auch umgekehrt beleuchten. Weil Habermas in der Rekon-
struktion des normativen Gehalts der kommunikativen Vernunft sich
nur ihrer formalen Gerechtigkeitsprozeduren glaubt versichern zu
können, bleibt für die Deutung ihrer Geschichtlichkeit nur die Speku-
lation ihrer moralisch-defizienten Geschichtswirksamkeit als rächende
Gewalt. Aus diesen Gründen aber kann diese geschichtsphilosophische
Spekulation nicht die angemessene Geschichtsphilosophie für eine kri-
tische Gesellschaftstheorie sein.

16
Michael Theunissen: »Zwangszusammenhang und Kommunikation«. In: ders.: Kri-
tische Theorie der Gesellschaft. Zwei Studien. Berlin/New York 1981, S. 41–57, hier:
S. 52; siehe auch die dort angegebenen weiteren Stellen bei Habermas.
17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, besonders die §§ 101 ff.

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Georg Lohmann

4. Der Sinn einer nicht-objektivistischen, »ernüchterten«


Geschichtsphilosophie für eine kritische Gesellschafts-
theorie

Mit der Abkehr von der Geschichtsphilosophie verabschiedet Haber-


mas sich auch vom emphatischen Verständnis der emanzipatorischen
und aufklärerischen Wirkungen einer Kritischen Theorie. Seit Faktizi-
tät und Geltung wird die Einlösung des emanzipatorischen und aufklä-
rerischen Versprechens der Theorie dem Bereich der praktischen Poli-
tik überantwortet, für den die Theorie aber nur eine Option unter
anderen möglichen anbietet. Zwar hat Habermas vollkommen Recht,
dass es in einem Aufklärungsprozess nur Beteiligte gibt, aber gerade
der Aufklärung der Handlungspräferenzen und der Situationseinschät-
zungen von Beteiligten sollte ja eine kritische Gesellschaftheorie als
Selbstthematisierung der Gesellschaft dienen. Aus dieser Perspektive
ist es aber immer eine historisch bestimmte Gesellschaft, die in einer
spezifischen Situation sich über ihre Lage und Handlungschancen ver-
ständigt. In dieser Situation einer praktischen Selbstverständigung ist
die kritische Gesellschaftstheorie auch auf eine nicht-objektivistische
Geschichtsphilosophie angewiesen.
Ansätze und Spuren dazu lassen sich bei Habermas trotz des Vor-
gesagten noch aufdecken. Schlagwortartig deutet sie den Zukunfts-
bezug mit Kant, den Vergangenheitsbezug mit Benjamin. Es geht ihr
um die Bewertung vergangenen Unrechts und Leidens, um das Offen-
halten der Gegenwart für zukünftige Verbesserungen, um das Ge-
schichtsbewusstsein einer angemessenen Vergegenwärtigung der kon-
tingenten und doch bedeutungsvollen Vergangenheiten und, auf die
Zukunft bezogen, um die pragmatische Verwirklichung normativer
Ideale.

4.1 Der spekulative Hintergrund einer ernüchterten


Geschichtsphilosophie

Einer Ernüchterung geht normalerweise ein Rausch voraus – und so


auch hier. Denn die ernüchterte Geschichtsphilosophie, sprich philoso-
phische Deutung der Geschichte, die Habermas meines Erachtens nun
praktiziert, ist nicht einfach nur ein Rückbezug auf Kant, und es ist
auch nicht der nicht-spekulative Rest, ein »nachmetaphysisches« Resi-

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Ernüchterte Geschichtsphilosophie

duum der verabschiedeten Geschichtsphilosophie Hegel’scher – und


Marx’scher Provenienz. Die ernüchterte Geschichtsphilosophie ist viel-
mehr in ihren kantianischen Momenten in eine zu Hegel alternative
Geschichtsphilosophie eingeschrieben: Sie folgt jener rauschhaft spe-
kulativen Geschichtsphilosophie Schellings, die der junge (25 jährige!)
Habermas in seiner Dissertation »Das Absolute und die Geschichte.
Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken« 18 1954 so beeindru-
ckend dargelegt hat. Habermas hat in seinem späteren Aufsatz »Dia-
lektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus« (TP1 108–161)
die, so der Untertitel des Aufsatzes, »geschichtsphilosophische(n) Fol-
gerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes« nochmals aus-
gezeichnet. Manfred Frank hat beiden Arbeiten eine stupende Rezen-
sion gewidmet 19 und ich kann, für die Zwecke dieses Vortrages, seiner
Interpretation folgen. In Anknüpfung an die kabbalistische Tradition
des Isaak Luria und der Mystik Jakobs Böhmes entwickelt Schelling,
so zeigt Habermas, eine spekulative Deutung der Geschichte. 20 Ich
kann mich hier nur grob vereinfachend darauf beziehen. Der »wirk-
liche Anfang«, die Schöpfung, wird als Contraction Gottes in sich
verstanden, sie wird dem von Gott abgefallenen Menschen (Adam Kad-
mon) überantwortet, der wiederum eine Natur als unverfügbare vor-
findet. Geschichte ist nun der komplexe Prozess, in dem der Mensch,
von Gott freigesetzt, handeln und arbeiten muss, in seinem Kampf ums
Überleben aber an die Notwendigkeiten und Unverfügbarkeiten einer
ihm entfremdeten Natur gebunden bleibt. 21
Für die Deutung der menschlichen Geschichte sind nun folgende
Punkte entscheidend:
1. Das Ziel der Geschichte menschlichen Handelns ist durch Gott
(und durch Vernunft) vorgegeben: Ein »Reich der Freiheit«, das einmal
als durch Liebe bestimmt Kants Idee eines zwangsfreien, »ethisch-bür-

18 Die (leider) nicht veröffentlichte Dissertation ist mir als Kopie aus dem UB Bestand
der Universität Bonn verfügbar.
19 Manfred Frank: »Schelling, Marx und Geschichtsphilosophie«. In: Hauke Brunk-

horst/Regina Kreide/Cristina Lafont (Hrsg.), Habermas Handbuch. Stuttgart Weimar


2009, S. 133–147.
20
Habermas: Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings
Denken (unv. Diss.) Bonn 1954.
21
Nur als Anmerkung: In der Dissertation und im Aufsatz zeigt Habermas, wie sehr
hier Thesen von Marx vorgedacht sind und diesen beeinflusst haben.

335

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Georg Lohmann

gerliche(n)« 22 Zustandes nach Tugendgesetzen entspricht und damit


gegen einen auch vernünftigen Staat gerichtet ist, zum anderen aber
(auch kritisch gegen Schelling und mit Kant) als ein rechtlich-bürger-
licher Zustand unter öffentlichen Zwangsgesetzen zu verstehen ist.
2. Es gibt aber in der Geschichte keine (objektivistische) Notwen-
digkeit, dass die Menschen dieses Ziel auch erreichen. Die Korruption
des Menschen und die Unverfügbarkeit der Natur lassen es offen, ob
diese geschichtlichen Anstrengungen gelingen oder misslingen.
3. Deshalb kann auch eine gelungene Geschichte, eine Verwirk-
lichung des »Reiches der Freiheit«, nicht total sein, sondern sie »könn-
te«, wie Habermas über Schelling hinausgehend rauschhaft formuliert,
»das Missverhältnis […] beseitigen, das in der Geschichte der Mensch-
heit bisher zwischen der Ohnmacht in der Verfügung über das Ver-
fügbare einerseits und der Gewalt in der Verfügung über das Unver-
fügbare andererseits besteht.« (TP1 137). Die praktische, geschichtsphi-
losophisch geläuterte Intention zielt daher auf »Verkümmerung« der
»Herrschaft inmitten einer Menschheit« (ebd.), nicht auf totale Herr-
schaftsfreiheit.
Meine These ist, dass Habermas, nach seiner Verabschiedung der
Geschichtsphilosophie, seine ernüchterte Version einer philosophi-
schen Deutung der Geschichte im Rahmen einer kritischen Gesell-
schaftstheorie in diese nachhallenden und erinnerten Strukturen einer
spekulativen Geschichtsphilosophie a là Schelling eingeschrieben hat
und in diesem Rahmen sich auf die pragmatische Geschichtsphiloso-
phie Kants zurückzieht. Habermas hat dazu unterschiedliche Ansätze
formuliert und durchgespielt. Die Begrifflichkeiten wandeln sich, aber
die Grundmotive und Grundansichten werden weitgehend beibehalten.
Ich kann hier nur einige Punkte davon aufnehmen.

4.2 Die Geschichtlichkeit der Selbstverständigung

Zunächst hat Habermas die Art der emanzipativen Leistung der kriti-
schen Gesellschaftstheorie in ihrer Anwendungssituation mit der Un-
terscheidung von Kritik als Nachkonstruktion und Kritik als Selbst-
reflexion differenziert. Albrecht Wellmer hat diese Unterscheidung

Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Kants
22

Werke, AA VI, S. 95 ff.

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Ernüchterte Geschichtsphilosophie

kritisch beleuchtet 23 und herausgearbeitet, welche Optionen nach dem


jeweiligen Kritik-Modell (Freud-Modell oder Piaget-Modell) die kriti-
sche Gesellschaftstheorie für den Übergang zu post-kapitalistischen
oder stärker emanzipatorischen Gesellschaften anbietet.
Nach dem Piaget-Modell zeigt eine rekonstruktiv verfahrende
Evolutionstheorie der Gesellschaft Stufen von Rationalisierungsmög-
lichkeiten auf. Die durch Kritik angeregten Lernprozesse bestehen
dann darin, auf deren ungenutzten oder unausgeschöpften Potentialen
zu insistieren. Im Falle des Freud-Modells wird hingegen voraus-
gesetzt, dass solche genetischen Lernprozesse schon stattgefunden ha-
ben. Die kommunikative Vernunft wird bemüht, um unbewusste
Zwänge durch Einsicht aufzulösen. Hier gibt es keine formalen Krite-
rien im Sinne von Entwicklungsstufen, die zu erreichen wären, son-
dern es handelt sich um Fragen des Gelingens eines angemessenen
Umganges mit sich und anderen, für die etwa Gesichtspunkte des
Glücks und der Gesundheit leitend wären. Besteht aber Grund zu der
Annahme, dass die Gesellschaft sich in relevantem Maße auf den
höchsten oder letzten Stufen der gesellschaftlichen Rationalisierung
und der Rationalisierung der Lebenswelt befindet, so wird eine Kritik
nach dem Piaget-Modell in merkwürdiger Weise defensiv. Sie vertei-
digt die letzte erreichte Rationalitätsstufe auch da, wo sie sich kritisch
gegen Ungerechtigkeit und Kommunikationsverzerrungen wendet. In
dieser Situation hofft sie auf die lösende Kraft eines kritischen Selbst-
verständigungsprozesses, ohne doch für diesen Kriterien bereitstellen
zu können.
Wellmer zieht daraus zwei Konsequenzen: In der ersten folgt ihm
Habermas, wenn er zugesteht, dass der normative Gehalt der kom-
munikativen Vernunft kein Ideal einer Lebensform auszeichnet, son-
dern dass bestenfalls aus den formalen Kriterien einer kommunikati-
ven Ethik notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für
vernünftige Lebensformen abgeleitet werden können. Aber schon das
impliziert ja eine Diskriminierung von Lebensformen überhaupt: zu-
mindest die werden moralisch abgewertet, die solchen notwendigen
Bedingungen nicht genügen.
Die moralphilosophische Engführung der kommunikativen Ethik
auf Gerechtigkeitsfragen führt aber darüber hinaus zu einer Indienst-

23
Vgl. Albrecht Wellmer: Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant
und in der Diskursethik. Frankfurt a. M. 1986, S. 180 ff.

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Georg Lohmann

nahme von historisch-sittlichen Lebensformen, die als »entgegenkom-


mende« Lebensformen 24 die sittliche Kraft rationalisierter Lebenswel-
ten sichern sollen. Jene werden danach beurteilt, wie weit sie »einen
Kontext bilde(n), der den Angehörigen die Ausbildung prinzipiengelei-
teter moralischer Einsichten ermöglicht und deren Umsetzung in die
Praxis fördert.« 25 Darin liegt, dass jetzt das Verhältnis von Gerechtig-
keit und Gutem Leben in einer bedenklichen Weise umgewertet wird:
damit Gerechtigkeit möglich wird, muss eine nur als Zusammenspiel
differenter Rationalitätssphären begriffene »gute« Lebensform his-
torisch vorausgesetzt werden. Weil die kritischen und die emanzipato-
rischen Intentionen der Theorie nicht im schlechten Sinne idealistisch
bleiben sollen, muss die Theorie annehmen, dass, obwohl in der Ge-
schichte »alles hätte anders kommen können«, der »Geschichte der
Menschenrechte […] Indizien dafür« zu entnehmen sind, »dass die
Urteilskraft zur praktischen Vernunft nicht akzidentell hinzutritt.« 26
Damit wird ein historisch sittlicher Fortschrittsprozess aus pragmati-
schen Gründen unterstellt, der die frühere Formel vom »nicht nicht
lernen können« in schwächerer Form wieder aufnimmt. Motiviert ist
diese kontrafaktische Unterstellung durch die, für ein praktisch-politi-
sches Handeln notwendige, Unterstellung eines möglichen Gelingens.
Würde der kritische Theoretiker allein der Erfahrung der immer schei-
ternden Geschichte der Menschen folgen, so würde ihn, in den Worten
Kants, »Trostlosigkeit« und Verzweiflung ergreifen. Praktisches Han-
deln bedarf aber einer »tröstende(n) Aussicht in die Zukunft«, die

24 Habermas: »Über Moralität und Sittlichkeit – Was macht eine Lebensform ›ratio-
nal‹ ?« In: Schnädelbach (Hrsg.): Rationalität. Frankfurt a. M. 1984, S. 218–235, hier:
S. 228; siehe auch FG 140. Von »entgegenkommenden« Lebensformen spricht Haber-
mas zum ersten Mal 1961 im Kontext seiner Auseinandersetzung mit den geschichts-
philosophischen Fortschrittsannahmen der schottischen Moralphilosophie: »Die Sozio-
logie der Schotten konnte sich im Zusammenspiel mit einer ihr ohnehin ›entgegenkom-
menden‹ politische Öffentlichkeit auf Orientierung individuellen Handelns, auf eine im
engeren Sinne praktische Beförderung des geschichtlichen Prozesses beschränken«.
Siehe Habermas: »Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozial-
philosophie«. In: TP2, S. 48 ff. Wie bei den »Schotten« verteilen sich seitdem bei Haber-
mas die geschichtsphilosophischen Fortschrittsannahmen auf die gesellschaftlichen
Evolutionen einerseits und »entgegenkommenden« moralisch-politischen Öffentlich-
keiten anderseits.
25 Habermas: »Über Moralität und Sittlichkeit – Was macht eine Lebensform ›ratio-

nal‹ ?«. A. a. O., S. 228.


26 A. a. O., S. 235.

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Ernüchterte Geschichtsphilosophie

»hoffen« 27 lässt. Die geschichtsphilosophische Hoffnung entsteht aus


der Abwehr einer uns sonst ergreifenden Verzweiflung. Wie in Kants
skeptischer Geschichtsphilosophie wird damit ein empirischer Fort-
schritt zum Besseren 28 unterstellt, für den historische Ereignisse als
Indizien fungieren 29, um die praktisch-kritische Intention der Theorie
vor einer Verzweiflung zu bewahren, die sie ergreifen müsste, wenn
jede Aussicht auf Einlösung ihrer kritischen Intentionen illusorisch
wäre. 30
In der zweiten Konsequenz folgt Habermas Wellmer nicht: Dieser
verabschiedet nämlich einen rationalistischen Vernunft- und Freiheits-
begriff vor allem deshalb, weil dieser »diejenigen natürlichen und ge-
schichtlichen Bedingungen, die gleichsam jeder menschlichen Situa-
tion einen Partikularindex verleihen, nur als mögliche Begrenzungen
rationaler Selbstbestimmung und rationaler Kommunikation, […]
nicht aber als die im Begriff der Vernunft mitzudenkenden Momente
der Situiertheit und der begrenzenden Perspektive als einer Ermög-
lichung von Wahrheit« 31 denken kann. Moniert wird mithin die sich
ungeschichtlich verstehende Rationalität selber, die den normativen
Maßstab der kritischen Gesellschaftstheorie begründet. Darin steckt
die Aufforderung an Habermas, den Anspruch der rekonstruktiven
Methode durch Reflexion auf die Geschichtlichkeit ihres Maßstabes
einzuschränken.
In diese Richtung kann Habermas Wellmer nicht folgen, weil er in
der dann akzeptierten historischen Situierung der kommunikativen
Vernunft nur eine Aufgabe ihres universalen Anspruches sehen kann.
Die historische Relativierung führt aber nicht notwendig zu einem mo-
ralischen Partikularismus, sowenig, wie ein moralischer Universalis-
mus nur absolut begründet werden kann. 32 Nur wenn jenes Missver-
ständnis aufgehoben wäre, fände auch eine empirische (nicht-

27 Vgl. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. AA


VIII, S. 30.
28 A. a. O., S. 27 ff.

29 Siehe Habermas: »Über Moralität und Sittlichkeit« (s. Anm. 24), S. 229.

30 Z. B. FG 535: es ist »eine – eher aus Verzweiflung geborene – Hoffnung«, dass der

»Anfang einer neuen universalistischen Weltordnung« signalisiert ist.


31
Wellmer: Ethik und Dialog (s. Anm. 23), S. 198 f.
32 Diese These habe ich ausgeführt in Lohmann: »Kulturelle Besonderung und Univer-

salisierung der Menschenrechte«. In: Gerhard Ernst/Stephan Sellmaier (Hrsg.): Uni-


verselle Menschenrechte und partikulare Moral. Stuttgart 2010, S. 33–47, hier: S. 34 ff.

339

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Georg Lohmann

objektivistische) Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht wieder


ihren Ort in Habermas’ (freilich dann verändertem) Theorieprojekt.
Folgt man der Kritik am »quasi-transzendentalen« Ansatz der Diskurs-
ethik und hält man den kantianischen Weg einer durch Vernunft allein
begründeten Moral für einen Irrweg, 33 dann erhält die Verständigung
über die Geschichte der abendländischen Kultur, in der eine univer-
salistische Moral entstanden ist, eine anders gelagerte, philosophische
Bedeutung. Sie wird, als geschichtsphilosophische Deutung, nicht den
Begründungspart der Moralphilosophie übernehmen können, aber sie
wird die Geschichtlichkeit, und das heißt auch Begrenztheit und Kon-
tingenz, der Begründungskonzepte des moralischen Universalismus
mit einem Verständnis »unserer« geschichtlichen Kultur im Ganzen
zu verbinden haben. In dieser Perspektive diskutiert Habermas selbst
die Funktion von »entgegenkommenden Lebensformen« oder die
Funktion einer Gattungsethik 34, in der es ja bezeichnender Weise um
die Anerkennung der Unverfügbarkeit der menschlichen Natur geht.

4.3 Die Ambivalenz der ernüchterten Geschichtsphilosophie

Von seiner Position aus und unter einer bestimmten Fragestellung


kommt Habermas auf den letzten Seiten der Theorie des kommunika-
tiven Handelns mit einer historischen Reflexion auf den Entstehungs-
kontext seiner Gesellschaftstheorie zu sprechen. Durch ihren rekon-
struktiven Ansatz sei die Theorie vor fundamentalistischen Abwegen
gefeit. Weil sie unlösbar an das lebensweltliche Wissen von Beteiligten
gebunden sei, erschließe sich ihr der rationale Gehalt der Lebenswelt in
dem Maße, wie auch den Teilnehmern der Lebenswelt diese erschlossen
sei. Dabei sei sie von »objektiven Herausforderungen« abhängig, »an-
gesichts deren die Lebenswelt im ganzen problematisch würde« (TkH II
590). Diesen ja geschichtlichen Vorgang interpretiert Habermas in Pa-
rallele zu Marx. Für Marx lasse sich erst, wenn die impliziten Abstrak-

33 Die These ist, dass wir nicht irrational handeln, wenn wir unmoralisch handeln; siehe
Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. 1993, S. 65 ff. u. 161 ff.
34 Siehe Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Frankfurt a. M. 2002,

S. 70 ff.; dazu auch Lohmann: »Unantastbare Menschenwürde und unverfügbare


menschliche Natur«. In: Menschenwürde. La Dignité de l’etre humain. Studia Philoso-
phica Vol. 63/2004. Jahrbuch der schweizerischen philosophischen Gesellschaft. Redak-
tion Emil Angehrn/Bernard Baertschi. Basel 2004, S. 55–75.

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Ernüchterte Geschichtsphilosophie

tionen seines kritischen Grundbegriffes »abstrakte Arbeit« »praktisch


wahr« geworden sind, dieser als zutreffende »Kategorie der modernen
Gesellschaft« begreifen. 35 Wenn diese Parallele ernst gemeint ist, dann
stellt Habermas hier seine ganze Theorie in einen historischen Entste-
hungskontext, dessen Problematischwerden ja nicht einfach nur zu
dem glücklichen Umstand führen kann, dass der Theoretiker jetzt seine
Begriffe finden kann, sondern dessen Problematischwerden in der Er-
fahrung der Gefährdung der historischen Lebenswelt, aber auch des
Gesamtsystems im Ganzen, liegen muss. Es geht also nicht nur um
die kulturelle Reproduktion der Lebenswelt, sondern auch um die
Erhaltung der Subsysteme, die die materielle Reproduktion der Le-
benswelt sichern sollen, mithin um die ökologischen, militärischen,
politischen und wissenschaftsbewirkten (z. B. durch Gentechnologie)
Selbstgefährdungen der modernen Gesellschaft.
Auf solche, die Gegenwart und das Gegenwärtige als Ganzes ge-
fährdende und thematisierende Prozesse, reagieren wir mit Stimmun-
gen, die auch den Entstehungskontext einer kritischen Gesellschafts-
theorie als zugleich geschichtliche Selbstverständigung der Gesell-
schaft bestimmen. 36 Hier kann eine ernüchterte Geschichtsphilosophie
in praktischer Absicht anknüpfen. Sie hat den rationalen Gehalt solcher
Stimmungen herauszuarbeiten und zu interpretieren. Sie bleibt hypo-
thetisch, aber hält gerade dadurch Zukunft offen.
Dabei müssen jene Erfahrungen des Problematischwerdens kei-
neswegs zu einer einseitig entweder optimistischen oder pessimisti-
schen Sicht der Dinge treiben. Man hat den Eindruck, dass die Ambi-
valenz, mit der Habermas eingestandenermaßen auch sonst auf seine
Welt reagiert, auch hier seine theoretische Reaktion in der Annahme
einer Paradoxie der Rationalisierung bestimmt: die Lebenswelt ist ge-
fährdet und entbirgt zugleich die Potentiale ihrer Rettung. Vielleicht
sind es solche, auch affektiven Grunderfahrungen des Theoretikers, die
ihn eine Selbstthematisierung der Gesellschaft entwerfen lassen, die
von Fortschrittshoffnungen und Regressionsängsten zugleich be-
stimmt erscheint. Eine mit den kritischen Intentionen verbündete Ge-
schichtsphilosophie könnte diese Ambivalenz festhalten, und ohne dass

35
Vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 25.
36 Siehe dazu Lohmann: »Zur Rolle von Stimmungen in Zeitdiagnosen«. In: Hinrich
Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hrsg.): Zur Philosophie der Gefühle. Frankfurt a. M. 1993,
S. 266–292.

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Georg Lohmann

er den Ausdruck »Geschichtsphilosophie« hier benutzt, bestimmt Ha-


bermas ihre Aufgabe entsprechend: »Heute sind alle Gesellschaftstheo-
rien hochabstrakt. Sie können uns bestenfalls für die Ambivalenz von
Entwicklungen empfindlich machen; sie können dazu beitragen, daß
wir die Ambivalenzen, die auf uns zu kommen, als ebenso viele Appelle
an wachsende Verantwortlichkeiten in schrumpfenden Handlungs-
spielräumen verstehen lernen. Sie können uns die Augen öffnen über
Dilemmata, denen wir nicht entgehen können und mit denen wir doch
fertig werden müssen.« 37
Dass wir aber mit den ambivalenten Entwicklungen fertig werden
müssen, kennzeichnet den praktischen Sinn, den Habermas’ ernüchter-
te Geschichtsphilosophie mit Kant und Schelling teilt. Das geschichts-
philosophisch konstitutive Vertrauen, dass wir mit ihnen »trotzalle-
dem« fertig werden können, sichert er ebenfalls wie Kant (aber gegen
Schelling) ab mit der (problematischen) Annahme einer Vernünftigkeit
der Natur (jener »vernünftige Gehalt anthropologisch tiefsitzender
Strukturen«) und einer empirisch indizierten Vernünftigkeit der bishe-
rigen Geschichte. Dabei orientiert er sich, wie Kant, nicht an der Mög-
lichkeit einer Verbesserung der Moralität des Menschengeschlechts,
vorrangig ist eine »Vermehrung der Producte ihrer Legalität« 38. Es ist
die historische Entwicklung der politischen Rechtsverfassungen, auf
die Habermas (mit Kant) sich dabei stützt. Wie bei Kant ist es die Vor-
stellung einer weltbürgerlichen Gesellschaft, auf die sich die Deutung
der europäisch-westlichen Geschichte bezieht, wenn sie in praktischer
Absicht den erhofften und hypothetisch angenommenen Fortschritt
geschichtsphilosophisch konstruiert. Auf den Einwand freilich, dass
hier eine einseitig selektive und zu optimistische Deutung der west-
lichen Rechtsgeschichte vorgenommen werde, antwortet Habermas
(wiederum in den Strukturen von Schellings Geschichtsspekulation)
mit einer durch Benjamins Fortschrittsskepsis inspirierten Deutung
des Vergangenen. Das geschichtsphilosophische Eingedenken unabge-
goltener Vergangenheiten und irreversiblen Unrechts kann den Makel
aller Fortschrittskonstruktionen deutlich machen.
Wie bei Schelling lässt sich dieser Konflikt nicht ausräumen, und
deshalb auch bleibt jene Ambivalenz 39 unaufhebbar, die die Entste-

37 Habermas, Vergangenheit als Zukunft (s. Anm. 19), S. 153 f., Hrvh. v. Vf.
38
Kant: Der Streit der Fakultäten. AA VII, S. 91.
39 Siehe zur entsprechenden Diskussion zwischen Benjamin und Horkheimer Hans

342

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Ernüchterte Geschichtsphilosophie

hungskontexte der kritischen Gesellschaftstheorie und, nach »Faktizi-


tät und Geltung«, der rechtspolitischen Konzepte kennzeichnen. Auch
hier bleibt die ernüchterte Geschichtsphilosophie ambivalent. Darauf
will ich zum Schluss noch kurz eingehen.
In seinen Schriften zu einer Konstitutionalisierung des Völker-
rechts und in seinem Engagement für eine Verfassung Europas streitet
Habermas für eine »realistische Utopie« 40. Diesen Begriff übernimmt
er von John Rawls, und wie bei diesem handelt es sich um eine ernüch-
terte (bei Rawls wohl um eine schlicht nüchterne) Geschichtsdeutung
eines zukünftigen gesellschaftlichen und internationalen Zusammen-
lebens der Menschen im Lichte von Kants Idee eines »Reichs der Zwe-
cke«. Obwohl in Rawls trocken nüchternem Stil keine Spuren eines
vormaligen Rausches der Vernunft zu finden sind, weist seine Konzep-
tion einer realistischen Utopie erstaunlich ähnliche geschichtsphiloso-
phische Konnotationen auf. 41
Rawls nennt seinen idealen Entwurf eines »Rechts der Völker« »in
einem realistischen Sinne utopisch« (13). Der Entwurf verbindet Rawls
bekanntes Modell einer fairen gerechten Gesellschaft mit einem Ent-
wurf »eine annehmbar gerechten Gesellschaft von Völkern« (13). Rea-
listisch ist dieser Entwurf, weil in ihm, wie Rawls in Anknüpfung an
Rousseau sagt, »die Menschen genommen (werden), wie sie sind« (15)
und utopisch, über das Gegebene hinausgehend, weil er die politischen
und rechtlichen Institutionen und »die Gesetze« entwirft, »wie sie sein
könnten« (15) und nach Maßgabe der »öffentlichen Vernunft« (62 ff.,
165 ff.) sein müssten.
Interessant ist, dass auch Rawls ambivalente Gefühle mit diesem
Zukunftsprojekt verbindet und sich dabei auf Kant beruft. Die ge-
schichtsphilosophische Hoffnung auf die Realisierbarkeit seiner realis-
tischen Utopie antwortet auf den Einwand, dass es keine Sicherheit
gibt, dass nicht Auschwitz oder ein ähnliches »schreckliches Übel« das
Projekt zum Scheitern bringt: »Wir dürfen es […] nicht zulassen, dass
diese großen Übel der Vergangenheit oder Gegenwart unsere Hoffnun-

Peukert: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentale Theologie. Düssel-


dorf 1976, S. 273 ff., und VE 515 ff.
40 Siehe Habermas: »Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der

Menschenrechte«. In: ders., Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Frankfurt a. M. 2011,
S. 13–38.
41
Ich beziehe mich im Folgenden, mit den Seitenzahlen in Klammern im Text, auf John
Rawls: Das Recht der Völker. Berlin New York 2002, S. 13 ff.

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Entgegnung auf Georg Lohmann

gen untergraben […]. Andernfalls würde auch uns das falsche, böse
und dämonische Handeln anderer zerstören.« (24). Wie bei Kant (und
ihm folgend bei Habermas) ist auch bei Rawls die geschichtsphiloso-
phische Hoffnung eine pragmatische Notwendigkeit, die auf eine ange-
sichts der Fehlschläge und Gräueltaten der menschlichen Geschichte
sonst uns ergreifende Verzweiflung (siehe auch 163) antwortet und
sie überwindet oder zumindest mindert, und wie bei Kant und Haber-
mas ist der, geschichtsphilosophisch motivierte, theoretische Vorschlag
selbst ein Mittel, um die »vernünftige Hoffnung« zu »stärken und (zu)
bekräftigen« (25).
Wenn Habermas daher seine politische »Parallelaktion« zu Rawls
»Recht der Völker«: die »Konstitutionalisierung des Völkerrechts«, im-
mer bescheidener werdend, als realistische Utopie vorstellt und be-
treibt, so steht er auch weiterhin in den Bahnen dieser ernüchterten
Geschichtsphilosophie.
Dass bei einem ja nun in die Jahre gekommenen Denker der
Rausch einer in jungen Jahren beherzt ergriffenen Geschichtsspekula-
tion so lange nachhallt, erstaunt, und die intellektuelle Kraft, mit der
im jungen wie im hohen Alter diese philosophischen Gedanken vertre-
ten werden, verdient Bewunderung.

Entgegnung von Jürgen Habermas

Ich habe das Glück, dass Georg Lohmann meine Versuche seit langem
kommentiert und kenntnisreich kritisiert; dabei klopft er die Texte mit
einem vielleicht auch von seinem Lehrer Michael Theunissen inspirier-
ten Blick auf verborgene spekulative Motive ab. Ich erinnere mich an
eine ähnliche Spurensuche in seiner tiefschürfenden Rezension der
Theorie des kommunikativen Handelns in der »Philosophischen Rund-
schau«. Solche Versuche, mir auf die spekulativen Schliche zu kom-
men, lese und höre ich natürlich nicht ohne Ambivalenzen. Ich möchte
mich einerseits gerne in diesen gewissermaßen entschlüsselnden Tex-
ten wiedererkennen, weil sie mir das Gefühl geben, mich besser ver-
stehen zu lernen. Aber andererseits wäre es mir nicht ganz geheuer,
wenn mein explizit als nachmetaphysisch angezeigtes Selbstverständ-
nis von unausgewiesenen spekulativen Antrieben lebte. Lassen Sie
mich damit beginnen, dass Lohmann eine Disposition richtig be-

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Entgegnung auf Georg Lohmann

schreibt, die meine zeitdiagnostischen Wahrnehmungen aus der Per-


spektive eines Zeitgenossen gewiss mitbestimmt – die Ambivalenz
eines gleichzeitig auf Risiken und rettende Potentiale gerichteten
Blicks: »Vielleicht sind es solche, auch affektiven Grunderfahrungen
des Theoretikers, die ihn eine Selbstthematisierung der Gesellschaft
entwerfen lassen, die von Fortschrittshoffnungen und Regressions-
ängsten zugleich bestimmt erscheint.« Diese Diagnose erklärt mir
selbst, warum ich auf Zuschreibungen, sei es einer optimistischen oder
einer pessimistischen Grundeinstellung, oder auf die Aufforderung,
zwischen dieser Alternative zu wählen, ratlos, ja eigentlich verständ-
nislos reagiere.
Richtig ist auch, dass mir die Lektüre von Scholems Die jüdische
Mystik in ihren Hauptströmungen nicht nur die Augen über die Ver-
wandtschaft der protestantischen Mystik eines Jakob Böhme mit der
jüdischen Mystik des Luria von Safed die Augen geöffnet hat. Aus
diesem Rückblick habe ich auch gesehen, welche Bedeutung das Motiv
der »Natur in Gott« oder einer »Kontraktion Gottes« für das spekula-
tive Motiv meiner Schelling-Dissertation gehabt hatte: Adam reißt mit
seinem Fall eine im Intelligiblen bereits vollständig ausgebildete Welt
mit in den Abgrund, woraufhin Gott sich in sich selbst zurückzieht,
gewissermaßen ein Exil in sich selbst antritt und so den Wiederaufbau,
die Rekonstruktion der zertrümmerten Schöpfung ganz dem Men-
schen überlässt. Die alleingelassene und auf sich selbst gestellte
Menschheit wird von Gott zur Selbstermächtigung genötigt – zu einer
Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Nun verstand ich
auch, warum mich die Dissertation unbefriedigt gelassen hatte. Denn
aus den Ruinen der ersten Schöpfung konnte die alleingelassene
Menschheit wenigsten das ursprüngliche Programm entziffern – der
Vorschein einer zu restituierenden Welt. Das Motiv der Resurrektion
der Natur! Aber woher sollte heute – nachdem die Quellen von Religi-
on und Metaphysik versiegt waren – eine solche normative Anleitung
gewonnen werden? Das war die Ratlosigkeit nach Abschluss der Dis-
sertation, die mich – unter anderem auch – von der Philosophie zu
Soziologie und Gesellschaftstheorie, d. h. zum Frankfurter Hegelmar-
xismus geführt hat. In diese zweite Hälfte der 50er Jahre gehören die
vom frühen Marx inspirierten Überlegungen zu einer empirisch falsi-
fizierbaren Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht.
Während meiner Assistentenzeit am Frankfurter Institut lag es
nahe, an Hegels Motiv der »rächenden Gewalt« anzuknüpfen (in He-

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Entgegnung auf Georg Lohmann

gels Frühschriften gibt es ein Fragment über »Verbrechen und Strafe«).


Der Verbrecher zerstört durch seine Tat die vorausgesetzte sittliche
Totalität der Gemeinschaft und setzt dadurch eine Dynamik der Exklu-
sion in Gang, die in der dialektischen Gesetzmäßigkeit systematisch
verzerrter Kommunikation angelegt ist und auf den Verbrecher zu-
rückschlägt. Damit war der Weg zur kommunikationstheoretischen
Deutung der Psychoanalyse in Erkenntnis und Interesse vorgezeich-
net. Diese Spur habe ich zwar heute, in den Arbeiten zur rituellen
Kommunikation und zur Versprachlichung des Sakralen, wieder auf-
genommen. Aber die Rationalitätspotentiale der sprachlichen, aus pro-
fanen Handlungszusammenhängen hervorgehenden Kommunikation
haben mich damals zunächst zu jener Entwicklungslogik hingeführt,
die Piaget in seiner kognitivistischen Entwicklungspsychologie unter-
sucht hatte. Albrecht Wellmer hat die beiden, einerseits an Freud, an-
dererseits an Piaget anknüpfenden Modelle der Entwicklung richtig
unterschieden, und Georg Lohmann beschreibt jetzt die Umrisse der
kantianisch ernüchterten Geschichtsphilosophie (die ich nicht mehr so
nennen würde). Heute neige ich dazu, eine anspruchsvolle Theorie der
sozialen Evolution, an der z. B. Hauke Brunkhorst arbeitet, mit dem
falliblen, aber nicht-defätistischen Bewusstsein eines kantischen Ethos
zu verbinden – wenn Sie wollen das lutherische Ethos, das uns ver-
pflichtet, auch dann noch etwas zur Verbesserung der Welt beizutra-
gen, wenn uns die Theorie vom wahrscheinlichen Untergang der Welt
überzeugt. Gegen die Verzweiflung anzudenken, das ist letztlich nicht
nur ein Motiv, sondern eine Verpflichtung, weil wir sonst in vielen
Situationen nicht mehr handeln, sondern nur noch erstarren könnten.

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Ernest Wolf-Gazo

Habermas and Young Hegelian Dialectics

Introduction

This essay focuses on a specific aspect of Habermas’ Dissertation sub-


mitted to the Philosophical Faculty of Bonn University, in the newly
founded Federal Republic of Germany, at the beginning of Winter Se-
mester 1953/54. The topic of the Dissertation dealt with the later phi-
losophy of Schelling, entitled Das Absolute und die Geschichte: Von der
Zwiespältigkeit in Schellings Denken, promoted by his Doktorvater
Erich Rothacker and Oskar Becker (Koreferent) and evaluated with the
highest grade possible, ›egregia‹. In fact, we will not deal directly with
the treatment of Schelling, but with the »Einleitung« (pp. 1–13) and
»Kapitel I« (pp. 16–86) entitled »Die zeitgenössische Kritik an Hegel
(1829–50)«, part of »Erster Teil« of the Dissertation with the title »Frei-
heit und Wirklichkeit«. There is a good reason for drawing attention to
this specific aspect of the thesis, since it turns out to be a stepping stone
for the continuous development of Habermas’ thinking in his Aus-
einandersetzung with Marx and the heritage of classical German ideal-
ism. After his completion of the Bonn dissertation young Habermas
pursues the theme that he started, projected in the early parts of the
thesis, the significance of Wirklichkeit and Praxis in the real world, in
contrast to the apparent imagined one in classical German ideal philo-
sophy. He does not turn Marxist, but receives his cues from the young
Marx of the Paris Manuscripts 1844 and the Grundrisse, which had
been republished in 1953, a year before completing his Schelling topic. 1
Historically and philosophically this is important for the subsequent
course of intellectual and emotional confrontation of the young genera-

1 Karl Marx: Die Frühschriften. Hrsg. von Siegfried Landshut. Stuttgart 1971. (Haber-

mas cites the Kröner Verlag Edition 1953 and the Berlin (Ost) Dietz Verlag Edition 1953
for Grundrisse).

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Ernest Wolf-Gazo

tion of 1968 with a new Germany, getting their cues from a mature
Habermas, by now situated in Frankfurt. From the Bonn thesis 1954
to his Habilitationsschrift, Strukturwandel der Öffentlichkeit, pub-
lished in 1962, to the first major work that attained public notoriety
Erkenntnis und Interesse, published with Suhrkamp in 1968, Habermas
became a spokesman for a new Zeitgeist steeped in Kritik and Praxis.
The syndromes of 1968 can be rediscovered in the pre-revolutionary
ferments of the 1840s, a decade in which Young Hegelian Dialectics, as
we may call it, commanded the stage as major opposition against the
Prussian State, spearheaded by the Young Hegelians that included the
young Marx and Friedrich Engels. 2 However, within this context atten-
tion must be drawn to the significance of Habermas’ Rezeption and
Auseinandersetzung, in terms of the 1840s Kritik, dealing with the ex-
isting political, social, economic, and religious order in the old Europe.
In addition, we must draw specific attention to the fact that we are deal-
ing with Habermas’ generation that survived a disastrous war and tried
to find, somehow, a solid foundation to build their future life. In a way,
we can say, with half-century hindsight, that Habermas’ generation
was involved in a project of Re-education finding intellectual tools in
order to come to terms with the evils that had befallen Germany.
The aspect of Habermas’ thesis that we focus on gives us a quick
glimpse of the initial stepping stone of that post-war Re-education in
terms of adjusting to a new reality. Bonn becomes the capital of a newly
established state, known as Federal Republic, and a Cold War is in pro-
gress, between East and West, while an ideological confrontation takes
place among the more intellectual minded younger generation at the
universities in the United States and Western Europe. 3 We found a few
voices witnessing the direct intellectual confrontation in which Haber-
mas’ generation found themselves:
Hans Tietgens, a former student at Bonn during the post-war
years tells us, »Versuche einer unbefangenen Auseinandersetzung mit
Marx unterlagen dem Verdikt des Subversiven.« 4 Considering the at-

2 See William Hagen: German History in Modern Times. Cambridge, UK. 2012.
3 See Max Braubach: Kleine Geschichte der Universität Bonn, 1818–1968. Bonn 1968;
Georg Satzinger (Hrsg.): Das Kurfürstliche Schloss – Residenz der Kölner Erzbischöfe –
Friedrich-Wilhelms-Universität. München 2007.
4 Cf. Hans Tietgens: »Studieren in Bonn nach 1945 (Versuch einer Skizze des Zeit-

geistes)«. In: Wolfgang Kuhlmann und Dietrich Böhler (Hrsg.): Kommunikation in


Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik: Antworten auf Karl-Otto

348

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Habermas and Young Hegelian Dialectics

mosphere during the Adenauer years young Habermas finds himself in


a bind: on the one hand he needs to meet the academic requirements of
the traditional university curriculum with, if possible, traditional topics
and themes; yet, on the other hand, he finds himself in a process of self-
awareness and Kritik of the existing arrangements he finds in the con-
servative Adenauer Republic. In short, to deal with Marx, or close to
socialist thinking, in western Germany, during the 1950s was no small
feat. It took some intelligence, if not to say cunning, to circumvent
traditional institutions and their guardians, the German professoriate
who survived the war, physically and politically. Needless to say, the
psychological tension between the old guard professoriate and the post-
war academic youth had its special psycho-sociological dimension. The
Bonn student Habermas must have noticed this tension existing in the
post-war German academy. In a recent work on German history in
modern times, the eminent American historian William W. Hagen has
this to say on the situation of the German universities of the pre-war
decade:
»A 1931 opinion poll at the republic’s eighteen universities showed that, at
the fourteen of these, 40 per cent and more of the students favored the Na-
tional Socialists. At eight universities, more than 50 per cent were pro-Hitler.
These were proportions much higher than in the country at large.« 5
Needless to say, it is no surprise that young Habermas should have
chosen a passage from Schelling’s Weltalter heading the main text of
the thesis, »[…] wie alles so unendlich persönlich zugeht, daß es un-
möglich ist, irgendetwas eigentlich zu wissen.« 6 Translated into the
Zeitgeist of 1950s Germany that meant one had to start all over again,
be skeptical, be critical, and don’t simply believe what is being told by
any authority, and always ask (hinterfragen) as to what the real interest
is that motivates any sort of information or knowledge. Critique, in the
Kantian sense, Kritik in the Young Hegelian sense, Praxis in the Aris-

Apel. Frankfurt a. M. 1982, pp. 720–744; relevant Christian George: Studieren in Rui-
nen: Die Studenten der Universität Bonn in der Nachkriegszeit, 1945–1955. Göttingen
2010.
5 See Hagen: German History in Modern Times (cf. Fn. 2), p. 253.

6 Cf. Jürgen Habermas: Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in

Schellings Denken. Bonn Diss. 1954; new discussions on the theme, see Wolfram Ho-
grebe: Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang
von Schellings ›Die Weltalter‹. Freiburg 1989; and Markus Gabriel: Das Absolute und
die Welt in Schellings Freiheitschrift. Bonn 2006.

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Ernest Wolf-Gazo

totelian-Marxian sense, and the confrontation with Wirklichkeit (Rea-


lity) must be part of Re-education of a new society to be built. The
aspect of his thesis is an inkling of this Aufbruch in the psychology of
Habermas’ generation, then exploding onto the public sphere in the
1960s.
On the anniversary of his 50th birthday in 1979 Habermas de-
scribes his Bonn student days as follows:
»Der Lukács stand in der Seminarbibliothek, die war relativ klein, da war man
zuhaus, da lebte man drin. Da kannte man jedes Buch. Durch Löwith bin ich
zunächst mal auf den jungen Marx gestoßen. Das war der Anlaß, daß ich
nachträglich zu meiner Dissertation eine Einleitung geschrieben habe – was
man ihr vielleicht ansieht: über die Junghegelianer.« 7
Although living in modest material conditions, Habermas and his stu-
dent friends lived in an intense exchange of political-philosophic dialo-
gues, promoting a level of self-consciousness aiming at a different kind
of society they had experienced as children and teenagers. 8 His student
life moves between Bonn’s Weberstraße (Studentenbude), Nassestraße
(Mensa), and the library of Philosophisches Seminar A, venues of the
intense discussions. It was a provincial existence, but enmeshed with
high hopes and a strong will to acquire the intellectual tools to make a
difference in a future Germany. Considering the immediate philosophy
professoriate who had a »checkered« background, such as Erich Roth-
acker, Oskar Becker, but also showed steadfastness such as Johannes
Thyssen and Theodor Litt; the Hegel scholar Johannes Hoffmeister,
the linguist Leo Weisgerber, not to forget the art historian Heinrich
Lützeler. 9 In fact, it was not easy to find the right kind of tone and style
within the Re-education project. Bonn had a proud tradition, the Old
Cemetery in downtown Bonn testifies to that, where anyone can pay

7
Interviewed by Detlef Horster/Willem van Reijen in Starnberg March 23, 1979. In:
Horster: Habermas. Hannover 1980, pp. 70–94.
8 Interview of Otto Pöggeler: »Erinnerungen. Hegel, Heidegger und Gadamer«. In: In-

formation Philosophie 5 (2006), pp. 30–35.


9 See the enlightened work by Ralph Stöwer: Erich Rothacker. Sein Leben und seine

Wissenschaft vom Menschen. Göttingen 2012; and by Rothacker’s assistant Wilhelm


Perpeet: Erich Rothacker. Philosophie des Geistes aus dem Geist der Deutschen Histo-
rischen Schule. Bonn 1968; highly informative and entertaining on Rothacker and Max
Scheler: Heinrich Lützeler: Persönlichkeiten. Freiburg 1978; Lützeler who knew Roth-
acker personally well had this to say about him: »Der Griff ins Leben war ihm wichtiger
als der Begriff von Leben. […] Rothacker war nie langweilig.« (pp. 47/48)

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Habermas and Young Hegelian Dialectics

their respects to August Wilhelm Schlegel, or Clara and Robert Schu-


mann, the 18th Century Enlightenment, the Catholic Rhineland
adopted the Napoleonic Code, then Prussian Educational Reforms, and
students including Karl Marx, Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche, or
Aby Warburg. 10 Most visitors to Bonn know that it is the birthplace of
Beethoven, but few know that it is also the birthplace of Moses Hess,
compatriot of Marx and Engels, founder of the oppositional Rheinische
Zeitung in Cologne, and author of the visionary ideal communist so-
ciety. 11

Aspects of the Bonn Dissertation 1954

The year before young Habermas passed his rigorosum on February


24, 1954, was important in the German-speaking world, namely,
Marx’s Frühschriften edited and introduced by Siegfried Landshut,
were published with Kröner Verlag in West Germany, as well as Marx’s
Grundrisse with the complete German text with Dietz Verlag in East
Berlin. 12 Habermas used the Kröner edition of 1953 to work out his
preliminaries in his Schelling thesis as well as the Grundrisse, but less
so. And, as pointed out in the introduction, it was a risky undertaking
in the Adenauer Era, considering the Cold War, to publish and show
intellectual interest in Marx, specifically at the university. His Doktor-
vater Erich Rothacker may have been liberal in dealing with Marx on
an academic and intellectual level, but on a formal level, such as a for-
mal doctoral procedure and publication was another matter. This over-
seas student remembers the year 1968, when his student friend Ger-
hard Pfafferott, an assistant to Professor Wilhelm Perpeet at the time,
published his Bonn dissertation on Marx mentored by Professor Klaus
Hartmann, winning the university prize of the most outstanding dis-
sertation of the year; times, indeed, had been changing. 13 No doubt, the
last-minute addition to the main body of this thesis was only a hint as

10 Cf. Edith Ennen et al.: Der alte Friedhof in Bonn. Bonn 1958 (expanded 2nd edition).
11 See Jonathan Sperber: Karl Marx: A Nineteenth-Century Life. New York 2013.
12 See Rainer Nicolaysen: Siegfried Landshut, Die Wiederentdeckung der Politik.

Frankfurt a. M. 1997.
13 In the Wintersemester 1970/71 and Sommersemester 1971 Klaus Hartmann, Profes-

sor at Bonn University, delivered excellent lectures on the philosophic aspects of Marx,
based on his masterful treatment published as, Die Marxsche Theorie. Berlin 1970.

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Ernest Wolf-Gazo

to which direction the Re-education of young Habermas would take; it


was not only American publications in the social sciences, but also a
thorough Marx Rezeption that we can see in his 1950s articles, pub-
lished in the magazines Merkur and Frankfurter Hefte, including a
sociological piece in honor of Erich Rothacker in 1958. Reading some
of these articles on the rationalization of work, the function of leisure
time, even the illusions produced by prospective partner searches in
West German newspapers of the 1950s, we see clearly the influence of
Marx’s Frühschriften. The sharp and clever analyses, the sense of hu-
mor, but also cynical remarks as to the public relations announced in
the name of the Wirtschaftwunder, in which Germany found itself in
the mid-1950s. Habermas focuses his attention on Marx’s »entfrem-
dete Arbeit« (alienated labor); especially in the first manuscript of the
so-called Paris Manuscripts 1844, where Marx deals with estranged
and alienated labor. 14
Reviewing the Habermas articles of the 1950s we find the direct
influence of the Marx critique of Hegel adopted, scrutinizing the newly
emerging society in West Germany. Habermas is keenly interested in
the processes, structures and conditions under which the western part
of Germany emerges into a full fledge western-oriented modern so-
ciety. Bonn was not Weimar – as a headline had it in a well-known
German mass circulation newspaper. And work, or labor (Arbeit) was
at the center of West Germany society. Thus, Marx’s Hegel critique
was a useful anchor for Habermas in order to start his Re-education
project: a critique of his society. We want to recall the following pages
in the Landshut/Kröner Edition that served Habermas as a starting
point for his societal critique, specifically in reference to the basic cate-
gory of Arbeit and, anthropologically speaking, der Mensch in the pro-
cess of modernization (for Marx in the mid-19th century, for Habermas
in the mid-20th century):
»Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie. Er faßt
die Arbeit als das Wesen, als das sich bewahrende Wesen des Menschen; er
sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. Die Arbeit ist das
Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäußerung oder als entäußer-
ter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abs-
trakte geistige. Was also überhaupt das Wesen der Philosophie bildet, die Ent-

14
Cf. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Hrsg. v. Barbara Zehnpfennig.
Hamburg 2005, p. 61 f.

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Habermas and Young Hegelian Dialectics

äußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entäußerte
Wissenschaft, dies erfaßt Hegel als ihr Wesen […].« 15
In the previous paragraph Marx uses a philosophic tone in order to
construct his systematic Hegel critique:
»Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate –
der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinizp
– ist also, einmal daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Pro-
zess faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäuße-
rung, und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der
Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen
Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift.« 16
These two passages make clear that the dialectic method as a negation,
in form of a moving and producing principle, turns out to be the heart
of Habermas’ early work. At this point it is clear that Hegel recognized
the potential of negation in Aristotle’s de Anima, which he immedi-
ately applied to build into his Wissenschaft der Logik. Thus, in a sort of
quixotic way, Aristotle more subtle combination of logic and psychol-
ogy reemerges in Hegel, transformed in Marx, and adopted by Haber-
mas. The basic motor of the dialectic, Negation der Negation, is the
producing element of Geist in the form of, as it turned out, historical
materialism. Although Marx wants to emancipate himself from philo-
sophy (as a product of Bildungsbürgertum), but not to deny it as an
educational experience, likewise, Habermas the Bonn student, escapes
into the direction of sociology. Part of his Re-education is putting cau-
tious distance between himself and the classical forms of German ide-
alism, in order to pick up the hints from the Marx of 1844, and move on
to sociological analysis of modernity, of the newly emerging West Ger-
man society (also known as Bonn Republic). Yet, this overseas student
has the suspicion that neither Marx nor Habermas were able to break
with the heritage of their respective classical education in philosophy.
No doubt, Marx or Habermas never would have been able to handle a
comprehensive analysis of structures and multifarious elements that
make up a modern society, without the assistance of dialectic metho-
dology, spiced with Kritik of contemporary conditions in which a so-
ciety find itself. This is the reason why American or Anglo-Saxon edu-

15
Marx: Die Frühschriften. A. a. O. (cf. Fn. 1), pp. 269–270.
16 Ibid., p. 269.

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Ernest Wolf-Gazo

cated students find the »Continental Way« so difficult to follow and


comprehend. A specialist expert in sociology, or any empirically or-
iented sub-social science field, in the 21st Century, without a philo-
sophic background, has serious difficulties comprehending and appre-
ciating systematic thinkers, dealing with societal processes in specific
historical epochs, such as Aristotle, Ibn Khaldun, Hegel, Marx, Weber,
Simmel, Foucault, Derrida, Elias, Hobsbawm, or Habermas.
Aside the critique of Hegel’s Geist and issues of economic history,
we find that another watchword was important for the 1840s, as well as
the 1960s: it was the notion of Kritik. In that sense Habermas showed a
critical sensitivity towards the coming Zeitgeist of the Bonn Republic;
after its tremendous economic success, the newly forming society had
to face itself, as well as its unresolved psychological problems (Vergan-
genheitsbewältigung), that turned up as consequences of Germany’s
moral bankruptcy after total defeat and procrastinating attempts, of a
society, playing at being normal in the post-war era. It was the time
everyone talked about Fresswelle, an unkind word that simply
describes pure culinary needs and desires. Again, in terms of Hegel’s
Rechtsphilosophie the critique we find by the Young Hegelians, espe-
cially Max Stirner and Ludwig Feuerbach, were not sufficiently radical
for Marx, since he demanded a total critique of Hegel. This total cri-
tique was to be expanded to a whole civilization producing the modern
capitalistic system; in the following passage we find this anticipation of
the total critique going beyond the Young Hegelian position, emerging
in the mature Marx by 1867, the year the first volume of Das Kapital
was published. The complete German text of the Grundrisse was not
yet known to the public until 1953, for ideological reasons, the text was
not published in full, but »edited« in Moscow. The Grundrisse turn out
to be a transitional stage, a workshop in dialectic thinking in terms of
philosophy and economics, ushering into Das Kapital. Prior to that we
find in Marx the tenor and rationale for Kritik in all areas of human
activity:
»Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit
verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst
die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem
die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die
Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik
des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der

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Habermas and Young Hegelian Dialectics

Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der
Politik.« 17
In fact, that too was part of Habermas’ Re-education, to scrutinize his
newly emerging society in terms of Kritik, while keeping an eye on the
historical dimension by which a society is conditioned. Marx puts it
nicely:
»Wie die alten Völker ihre Vorgeschichte in der Imagination erlebten, in der
Mythologie, so haben wir Deutschen unsere Nachgeschichte im Gedanken
erlebt, in der Philosophie. Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegen-
wart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein.« 18
Habermas immediately understood that he did not want simply to do
philosophy, to merely understand »what happened«, but wanted to en-
gage in Wirklichkeit, in Praxis, in action of his society, be part of the
formation of that society, and not simply an observer (Zuschauer). He
wanted to be part as Zeitgenosse and not simply a bystander, applaud-
ing authority, or prevailing public opinion; he wanted to be a part of
that public opinion, participating in its formation. By 1960 Habermas
challenged himself, he wanted not only to understand Marx and his
critical implications, he wanted to go beyond Marx, or, as he puts it in
the formulation of the so-called Hermeneutic Circle, »Marx besser ver-
stehen, als er sich selbst verstanden hat.« 19 At that time he had com-
pleted studying interpretations by standard works on Marx, reported
and made public in his Literaturbericht of 1957. These sketches are
important to understand why Habermas decided in a last-minute at-
tempt »to add« about eighty pages to the main body of the text of the
thesis, before he took his rigorosum (oral examination as part of the
doctorate requirement in the German university system), with ap-
proval for printing and distributing the 250 copies of the dissertation
by Bonn University. The bifurcation in Schelling’s thinking, according
to Habermas, was to be understood as a materialist critique of Schel-
ling, especially his later philosophical development, which was wit-
nessed, first hand, in Schelling’s Berlin Humboldt University lectures
attended by Engels, Kierkegaard, and Bakunin. 20

17
Ibid., pp. 208–209.
18 Ibid., p. 214.
19
Cf. Habermas: Theorie und Praxis. Frankfurt a. M. 1971 (4th edition), p. 244.
20 See the documents and reports on Schelling’s Berlin Humboldt University Lectures

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The »Einleitung« to the Dissertation

Let us take a closer look at Habermas’ Einleitung added to the main text
of his Bonn Dissertation. The subject matter was the later Schelling
that had been dealt with in conventional and traditional academic lit-
erature. However, the young Doktor notes the works of prominent
Schelling scholar Horst Fuhrmans, as well as the Tübingen philosopher
Walter Schulz, and the former Frankfurt protestant theologian and
philosopher-in-exile Paul Tillich, in a positive tone. 21 Yet, in order to
make his case, the strategic attempt is made to develop a subtle rela-
tionship between the later Schelling and the young Marx, emerging in
the early pages of the thesis; that is to say, Jakob Böhme and Jewish
mysticism in the form of the Kabbalah is introduced. 22 In many ways
there are basic hints that we find in Habermas’ later writings, but trea-
ted in a more certain explication. The jest of the matter is that there is a
red thread leading from the Kabbalah to Jakob Böhme and Swabian
Pietism (Oetinger) via Hegel to Schelling, then Marx. This »stream of
unconsciousness« can be followed deep into the philosophic mode of
Ernst Bloch, Walter Benjamin, and Herbert Marcuse. Of course, that
line of thinking had not yet been worked out in the thesis, but was
continued in subsequent years, reinforced by the modern scholarship
methodology of Gershom Scholem having its roots in Jewish mysti-
cism. In the essay of 1978 honoring Gershom Scholem, Habermas re-
members:
»Mir war, zu alldem, ein merkwürdiges Buch über die Hauptströmungen der
jüdischen Mystik in die Hände gefallen, das mich mit Verwandtschaftsbezie-
hungen zwischen der Theosophie Jakob Böhmes und der Lehre eines Mannes
namens Isaak Luria überraschte. Hinter Schellings Weltaltern und Hegels
Logik, hinter Baader standen also nicht nur, wie wir es gelernt hatten, die
schwäbischen Geistesahnen, nicht nur Pietismus und protestantische Mystik,

in 1841, Manfred Frank (Hrsg.): Schellings Philosophie der Offenbarung 1841/1842.


Frankfurt a. M. 1977, pp. 393–501.
21 The academic literature in Habermas’ Dissertation is based on the publications of the

pre-war and post-war years; especially the works by Karl Löwith, Kuno Fischer, Nicolai
Hartmann, Erich Rothacker, Oskar Becker are cited and in particular the voluminous
work by Richard Kroner on classic German idealism is noted, as well as the work by
Georg Lukács, Der junge Hegel (Zürich 1948) and Carl Schmitt’s political romanticism
book of 1919 laudet.
22 Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (ef. Fn. 6), p. 2 ff.

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Habermas and Young Hegelian Dialectics

sondern, vermittelt durch Knorr von Rosenroth, jene Version der Kabbala, in
deren antinomistischen Konsequenzen deutlicher als irgendwo sonst die
Denkfigur und Antriebe der großen dialektischen Philosophie vorausgedacht
worden waren.« 23
Systematically we find the following passage in a more mature form
that was hinted at in the Thesis-»Einleitung«:
»An das Konzept, daß Gott in seine eigenen Urgründe hinabsteigt, um sich
selber aus ihnen zu schaffen, kann Isaak Luria (wie auch Jakob Böhme) an-
knüpfen, um die Schöpfung aus dem Nichts nach dem dialektischen Bild eines
Gottes zu denken, der sich zusammenzieht oder kontrahiert, womit er in sich
selbst einen Abgrund erzeugt, in den er herabsteigt, in den er sich zurück-
zieht und so den Raum erst freigibt, den die Kreaturen einnehmen werden.
Der erste Akt der Schöpfung ist eine Selbstnegation, durch die Gott sozusa-
gen das Nichts hervorruft – eine Lehre, die sich in strikten Gegensatz zu den
aus dem Neuplatonimus stammenden Emanationsvorstellungen setzt. […]
Die Selbstverschränkung Gottes ist die archetypische Form des Exils, der
Selbstverbannung, […] Von dieser Konzeption des Abgrundes oder der Ma-
terie oder des Zorns […] führen verschiedene Linien über Schelling und He-
gel zu Marx.« 24
Habermas points out that the first station of the dialectic allegory of
creation ex nihilo ushers into a materialist natural dialectic. Translated
into modern terms of social and political revolution he concludes,
»Vom frühen Marx bis zu Bloch und dem späten Benjamin heißt es
dann: keine Resurrektion der Natur ohne Revolutionierung der Ge-
sellschaft.« 25
Needless to say, if the promotion committee in Bonn of 1954
would have read these passages in detail they would find them highly
speculative, very risky, and subversive. The »Einleitung« makes hints
only, in order to suggest, that the direction of his Schelling interpreta-
tion was not following the signs of conventional Schelling scholarship.
In the thesis’ »Einleitung« we find Schelling moving away from the
historical school turning to a more philosophic anthropological mode
of explication and towards a Kantian-Fichtian Neuansatz. This is the
reason why Schelling’s Freiheitsschrift became the focus of later scho-
larship in order to deal with the tension of negation of freedom and

23
Cf. Habermas: Philosophisch-politische Profile. Frankfurt a. M. 1998 (Erw. Ausg.
3. Aufl.) 1998, p. 378.
24
Ibid., p. 386.
25 Ibid., p. 388.

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evil. 26 History is introduced and with it the alienation of the human


species from nature, thereby introducing a modern tension that still
persists between the modern Mensch and Natur.
Irony has it that Martin Heidegger is introduced in the »Einlei-
tung«, more as a go-between of the historical school and the Destruk-
tion of the notion of the Absolute. Habermas exercises the tactics in his
first public eye-brow-raising article in the Frankfurter Allgemeine Zei-
tung of July 1953, in which he proposes to think along with Heidegger,
against him. This was half a year before the Dissertation was handed in
to the Bonn Philosophical Faculty. On the very first page of the »Ein-
leitung« we read: »Uns interessiert hier lediglich dies: daß Heidegger,
wenn auch nicht ausdrücklich, die Frage des Historismus entlarvt hat
als Frage nach dem geschichtlichen Absoluten.« 27
Clearly young Habermas had learned something from the Frei-
burg master, despite feeling a sort of antagonism toward him. His Bonn
mentor and friend Karl-Otto Apel, who had the real experience of five
years soldering in the Wehrmacht, developed a sensitive ear and eye-
sight in terms of language used in post-war Germany. The horrible
experience of total destruction and moral bankruptcy turned into a
Trieb of heightened awareness against anything dealing with Volk, Ge-
meinschaft, or Bewegung. As Habermas pointed out, in another remi-
niscence of the Bonn years, that is to say, it was Apel who discovered
the curious passage in Heidegger’s introduction to metaphysics, reis-
sued in 1953, without notes, or historical explanation:
»Apel verzehrt sich im philosophischen Gespräch; er verkörperte bis in die
Sprache seiner lebhaften Gesten hinein das, was man damals ›engagiertes
Denken‹ nannte. […] Er war es, der mir ein druckfrisches Exemplar der Ein-
führung in die Metaphysik gab und mich auf jenen unkommentierten Satz
von der ›inneren Wahrheit und Größe der Bewegung‹ hinwies, den wir – weit
weg von den Freiburger Querelen – nicht erwartet hatten.« 28
That is to say the 1953 newspaper article reads, »Die Vorlesung von
1935 demaskiert schonunglos die faschistische Färbung jener Zeit.

26 Cf. Schelling: Über das Wesen der Menschlichen Freiheit. (With Einleitung by Horst

Fuhrmans). Stuttgart 1968 (based on original publication of 1809), pp. 3–38.


27
Cf. Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. Fn. 6), Einleitung, p. 1.
28 See Habermas: »Ein Baumeister mit hermeneutischem Gespür: Der Weg des Phi-

losophen Karl-Otto Apel«. In: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck:
Philosophische Essays. Frankfurt a. M. 1997, p. 86.

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Habermas and Young Hegelian Dialectics

[…] Es scheint an der Zeit zu sein, mit Heidegger gegen Heidegger zu


denken.« 29
Here, again, we see a skeptical development towards the conven-
tional understanding of history and the kind of historical consciousness
that the Historische Schule had promoted. At first sight his Schelling
Dissertation seems, somehow, a typical academic event that needed to
be absolved in a standard fashion. Yet, it seems, again, that there is no
accident that he added the »Einleitung« to the final text of the disserta-
tion, signifying that the later Schelling was an important transitional
stage towards a timely, more modern, materialist conception of history
and human Wirklichkeit. On that road young Habermas develops
doubts about philosophy, in the traditional sense of the word, and in-
tends to move into sociology with consideration of empirical methodol-
ogy, as he finds in Peter F. Drucker, Helmut Schelsky, or Friedrich Pol-
lock. 30 His subsequent works on the sociology of the Frankfurt
students, their family background, and psychological disposition bear
this out. Yet, in the meantime he discovers Freud and Herbert Marcuse.
Habermas sensitized himself to the form of historical criticism we
find in the Kritik of the Young Hegelians, of Hegel’s system and the
European order in the 1830s and 1840s. By working on Schelling Ha-
bermas discovers many dimensions that traditional scholarship, at least
the way he encountered the academic Rezeptionsliteratur in Göttingen,
Zürich, and Bonn, did not satisfy his curiosity. We read in the »Einlei-
tung«, »Es geht uns lediglich darum, die Physiognomie der Fragesitua-
tion herauszubringen, die aus dieser Kritik selbst geschichtlich gewor-
den ist.« 31 Thus, the Fragesituation deals with historicity and historical
existence (Wirklichkeit), the Absolute and Freedom, as well as the ma-
terial condition of the human species in history. They are not platonic
forms, but practical confrontations with issues and items at hand dur-
ing the course of world history. And it is the tool called Kritik, Haber-
mas uses in order to come to terms in the form confrontations (Aus-

29 Habermas: Philosophisch-politische Profile. A. a. O. (cf. Fn. 23), pp. 70 and 72.


30 Cf. Habermas: »Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit«. In:
Gerhard Funke (Hrsg): Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker. Bonn 1958,
pp. 219–231; contributors to the Festschrift were Johannes Thyssen, Theodor Litt, Os-
kar Becker, Vinzenz Rüfner, Karl-Otto Apel, Michael Landmann, Arnold Gehlen, Hein-
rich Lützeler, Hermann Schmitz, Ernst Benz, Heinz Heimsoeth, Bruno Liebrucks, Josef
Derbolav, and Helmuth Plessner.
31 Cf. Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. Fn. 6), p. 6.

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Ernest Wolf-Gazo

einandersetzungen), showing the contradictions and paradoxes of the


situation, operating on the assumption that critique (in the Kantian
sense) as well as Kritik in the Young Hegelian sense (including the
young Marx) provides the key to a dynamic world, perpetually devel-
oping itself. He did not forget and remembered well Marx’s 1844 posi-
tive comments of Hegel’s logic and the definition of Kritik thereof,
»Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prin-
zip.« 32 This dialectic is already operating in his Bonn thesis, in which he
sees cross-currents of ideas and paradoxical situations that influence
and negate each other. Neither Hegel, nor the young Marx, had forgot-
ten the power of negation that influenced them via Aristotle’s de Ani-
ma. Thinking as a dialectic movement, generated in terms of negation,
promotes progression in treating the problems and issues at hand. Re-
solutions are possible, but only in terms of the apparent contradictions
and paradoxes that plague the human species. Yet, the Achilles heel of
that species has always been the maxim that human affairs ought to be
rational. Perhaps, this is exactly why Schelling provides such a fascina-
tion, even in the 21st Century, that he senses,
»[…] das Ich in uns kein Ding, keine Sache sein kann, die einer objektiven
Bestimmung fähig ist. […] daß das handelnde Ich, obgleich in jedem einzel-
nen Fall bestimmt, doch zugleich nicht bestimmt ist, weil es nämlich jeder
objektiven Bestimmung entflieht, und nur noch durch sich selbst bestimmt
sein kann, also zugleich das bestimmte und das bestimmende ist.« 33
These words were quoted by Oskar Becker from a Schelling text, an-
other one of Habermas’ philosophy teachers, and published in May
1954. No doubt, Becker, a former assistant of Heidegger and friend of
Löwith, had discussed Schelling with his student in a dialectic manner.
As a learned mathematician he grasps the heights of abstractions, but
also understood the spiritual dimensions involved in abstraction, aside
formalisms, being part of the dialect situation of the human species. At
this point Schelling was a good starting point for the young Habermas,
aside the fact that in 1954 philosophers, on both sides of the Iron Cur-

32 Ibid., Marx (Kröner Edition), p. 133.


33
Oskar Becker quotes this paragraph from Schelling’s Briefe über Dogmatismus und
Kritizismus (1795), under the heading »Schelling über transfinite Reflexionen«, in his:
Grundlagen der Mathematik. Freiburg/München 21964 (original publication 1954),
p. 387.

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Habermas and Young Hegelian Dialectics

tain, with their own respective agenda, remembered Schelling in the


centennial year of his death.
In 1956, in honor of the one-hundred birthday of Sigmund Freud,
the Universities of Frankfurt and Heidelberg jointly celebrated the oc-
casion. The importance of this celebration had many reasons among
them, first, that Germany was to be integrated into the realm of civi-
lized nations, second, Freud was to be celebrated, considering that
among the established medical profession in Germany, he was not ex-
actly welcomed and considered not-scientific, and third, it were psy-
chiatrist Alexander Mitscherlich and the director of the re-established
Institute for Social Research, Max Horkheimer, who promoted the
event. Amongst the visitors was Adorno’s assistant: Habermas. Frank-
furt is not too far from Bonn, but worlds separated them, even more so
in the 1950s, during the time of this overseas student in the late 1960s,
early 1970s. 34
Habermas shares his memory of that important event, for his own
development and the intellectual integration of German society into
the western fold, as part of the Re-education project on a national level:
»Ich erinnere an die große Freud-Veranstaltung aus Anlaß des 100. Geburt-
stags, als Mitscherlich, zusammen mit Horkheimer, die internationale Promi-
nenz des Faches, Franz Alexander, Michael Balint, Gustav Bally, Ludwig Bins-
wanger, E. H. Erikson, René Spitz (übrigens auch Herbert Marcuse) zu einer
glanzvollen Vorlesungsreihe in Heidelberg und Frankfurt versammelt. Ich
hatte Psychologie studiert, etwas von ›Tiefenpsychologie‹ gehört; daß aber
Freud als seriöser Wissenschaftler zählte, gar eine systematisch fruchtbare
und lebendige Forschungstradition geschaffen hatte, das ging mir erst damals,
1956, auf. Ein ganzer Kontinent der Wissenschaft war auf deutschen Univer-
sitäten nicht zur Kenntnis genommen, uns Studenten jedenfalls nicht zur
Kenntnis gebracht worden.« 35

34
Cf. Frankfurter Universitätsreden Heft 18. Frankfurt a. M. 1956: the main speaker
(Festvortrag) on May 16, 1956 was Erik H. Erikson entitled, »Freuds psychoanalytische
Krise«, pp. 16–37; relevant to Habermas’ concerns the work by Erich Fromm: Marx’s
Concept of Man. New York 1961; also see Habermas’ essay: »Soziologie in der Wei-
marer Republik«. In: Wissenschaftsgeschichte seit 1900: 75 Jahre Universität Frank-
furt. Frankfurt a. M. 1992, pp. 29–53. At this point I would like to thank Dr. Karl-Heinz
Gerschmann (1924–2010), formally of Münster University and a native from Frank-
furt, for suggesting to read the beautiful little book on Frankfurt’s intellectual life in the
1920s, Wolfgang Schivelbusch: Intellektuellendämmerung: Zur Lage der Frankfurter
Intelligenz in den zwanziger Jahren. Frankfurt a. M. 1985.
35 Habermas, Philosophisch-politische Profile. A. a. O. (cf. Fn. 23), pp. 187–188.

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Ernest Wolf-Gazo

No doubt the fascination of this event had great impact on the psyche of
young Habermas; especially his meeting with Herbert Marcuse. Since
his thesis he grappled not only with his own Re-education project, but
also how to deal with Heidegger. At what point should we go along with
him, use his Ansatz to develop issues in a more detailed and timely
fashion, on the other hand ask, at what point was Kritik necessary?
Suddenly, a third dimension opened: Herbert Marcuse. It was he who
made Marx’s Frühschriften known in 1935, republished in 1953 by
Siegfried Landshut, whose edited version Habermas used for quotations
in his thesis. Now, with the event in Frankfurt and the new dimension of
a Freudian Tiefenpsychologie, plus Marcuse’s publication in 1955 of
Eros and Civilization, Habermas saw a new possibility added to the
Schelling constellation. Due to Erich Fromm’s social psychological An-
satz there seemed to have been serious differences between Horkheimer
and Fromm that, however, were not known to Habermas. The fascinat-
ing addition to the complex paradigm from Jakob Böhme via Schelling to
Marx, was suddenly: Freud and Heidegger. Marcuse studied with Hei-
degger and worked on the notion of Bildungsroman, being steeped into
the romanticism of Novalis and the Schlegels. What fascinated young
Habermas was, however, how could someone integrate Heidegger with
Freud and Tiefenpsychologie, considering Freud’s predilection for
mythology? At the end of the 1950s, it is clear, young Habermas made
an enormous leap in his Re-education project: from an environment of
disintegrating bildungsbürgerliche Kultur (bourgeois culture), to the
integration of a newly emerging Young Hegelian dialectics applied to
the Bonn Republic Society, ushering into a constellation that stretched
from Schelling to Freud via Marx, and finally the pragmaticism of C. S.
Peirce. It is a sort of Bildungsroman in which the Weimar Republic Out-
siders, as the German-born American Yale historian Peter Gay put it,
become Insiders of the newly formatting Bonn Republic, with Haber-
mas leading the post-war generation out of Plato’s Cave into the sun-
light of 1968. We note the passage on the Versöhnung between the Wei-
mar exiles, and the Bonn Republic, which included the exiled members
of the Frankfurt School, especially Marcuse: »[…] ja, ältere Schüler ha-
ben, merkwürdig nur auf den ersten Blick, von ›Sein und Zeit‹ den Zu-
gang zu Marx gefunden, um dann freilich die Begriffe der Daseinsana-
lytik in die einer Geschichtsphilosophie der Triebe zu übersetzen.« 36

36 Ibid., p. 74.

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Habermas and Young Hegelian Dialectics

It was Marcuse’s Heidegger-Marxism that fascinated Habermas.


However, it becomes clear in hindsight that, if we see the formative
structures of his Schelling thesis and the convergence between Heideg-
ger, the Young Marx, and the later Schelling, not to mention the thread
from Jakob Böhme to Freud, it is not surprising that we would find a
general and inclusive attempt, in the later Habermas, at a more com-
prehensive framework, updated by modern terminology and modern
tools of analytical philosophy, to provide a modern framework in which
to make sense of the 20th century, and beyond. Thus, his formal inten-
tion, as explicated in the »Einleitung« to his thesis, gives us a hint as to
how the subsequent program, starting with the Young Hegelian dialec-
tic, would shape a new sense of history in the spirit of Kritik and Com-
municative Rationality. We read at the end of the »Einleitung« the goal
of the thesis formulated:
»Uns kommt es darauf an zu zeigen, daß Schelling neben dem in so vielen
Farben schillernden Lebensverständnis der Identitätsphilosophie, und gegen
es, seit 1806 ein anderes zur Geltung bringt, das – in der Tradition Böhmes –
einen anderen Sinn von Geschichtlichkeit herausarbeitet als die Historische
Schule, wesentlich anthropologisch orientiert und die Kantisch-Fichteschen
Freiheitsmotive wieder aufnehmend, die in der Identitätsphilosophie ganz
verloren gegangen waren.« 37
A variation of interpretation is introduced by connecting Schelling’s
Ansatz at reassessing the notion of history and reality in terms of the
epistemic consciousness of the human species. Clearly, the thesis wants
to demonstrate that a different sort of understanding is possible, unlike
the traditional notion that was promoted by Ranke and followers, in
that they felt God’s hand involved in the making of historical events,
despite the famous dictum, »wie es eigentlich gewesen«.

Kritik and the Anthropological Turn

At this point we want to focus more narrow on the first chapter of part
one of Habermas’ thesis, interpreting the contemporary Hegel critique
in the years 1830s and 1840s, including aspects of Schelling’s later phi-
losophy as well as the consequences. Entitled, »Die zeitgenössische Kri-
tik an Hegel (1829–1850)«, this part of the thesis actually functions as
37 Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. Fn. 6), p. 9.

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Ernest Wolf-Gazo

the real introduction to Habermas’ major theme, the ambivalence


(Zwiespältigkeit) in the thinking of the later Schelling as regards Welt-
alter and the dialectic relationship between the Absolute and History.
We find summaries of discussions on the Young Hegelian (the
Left side) such as Bruno Bauer, Max Stirner, especially Ludwig Feuer-
bach as well as Søren Kierkegaard, and not the least the young Marx of
the Frühschriften and, to some extent, Grundrisse are anticipated. We
should, again, recall that the Paris Manuscripts 1844 was reissued in
1953 as well as the Grundrisse. This did not leave much time for young
Habermas to see, immediately, the systematic possibilities of connect-
ing the early Marx to the later Schelling via Jakob Böhme. There is
reason to believe that the publication of the Marx’s Frühschriften left
not much time to integrate the insights of young Marx into the Schel-
ling studies. The reason why he mentions that, if possible, he would
have added another fifty, or so, pages to the already voluminous thesis.
In that sense we can read the well-known essay, »Dialektischer Idealis-
mus im Übergang zum Materialismus – Geschichtsphilosophische Fol-
gerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes«, published
along with other essays related to the Marx’s Frühschriften and Grund-
risse, in the volume of 1963. 38 This essay can be read as a continuation
of Habermas’ »Einleitung« as well as the first chapter of part one of the
Bonn Dissertation. No doubt, he used this material, added with avail-
able up-dated scholarly literature on hand, introducing himself to Hei-
delberg University in 1961, supported by Hans-Georg Gadamer, on the
first step of the academic ladder of the German university system, after
he earned his Habilitation with Strukturwandel der Öffentlichkeit at
Marburg University, under his mentor Wolfgang Abendroth.
In the Dissertation, or thesis, Habermas takes what we may call an
»anthropological turn«; already in Bonn philosophical anthropology
and social psychology were promoted in the seminars of Rothacker, in
addition to a conscious Rezeption of the works by Max Scheler, Hel-
muth Plessner, and Arnold Gehlen. 39 It is in Scheler’s work that the

38 Habermas: TP2 172–227.


39 Cf. Erich Rothacker: Philosophische Anthropologie. Bonn 1966; and his Probleme der
Kulturanthropologie. Bonn 1965 (original publication 1948), or Schichten der Persön-
lichkeit. Bonn 1965 (original publication 1938), and the posthumous publication Zur
Genealogie des menschlichen Bewusstseins. Bonn 1966; some results of these Rothack-
er works was summarized by Habermas in his philosophical anthropology Fischer Lex-
ikon article, published in: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt a. M. 1973;

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Habermas and Young Hegelian Dialectics

Bonn circle of students got to know the newly developed discipline


called Philosophische Anthropologie which remains, to this day, a spe-
cific product of the German academic tradition. 40 The sociology of
knowledge, also developed by Scheler in such monographs as Wissen
und Erkenntnis, comes closer to home, since Karl Mannheim did not
advertising in this direction in his London exile. Nevertheless, in the
1950s philosophical anthropology, especially in the works of Rothacker
in Bonn, was an important philosophic enterprise in which many, in-
cluding Habermas and Apel, benefitted. In Habermas’ case, however,
this anthropological turn had a deeper impulse, namely to redirect and
explore, along with Marx’s Frühschriften, the strategy and tactics of
Young Hegelian dialectics. Hegel’s Geist had to take an examination
through the thorny filter of historical materialism, including questions
on Mensch as a species (Gattungswesen), Nature as Leib (old fashioned
German term for human body), another form of human nature, and
Arbeit as menschliche Tätigkeit (human activity). That is to say, Geist
now had to confront itself with the reality of the social, economic, and
political conditions in which, during a specific historical epoch, the hu-
man species found itself. It was not simply the story of the owl of
Minerva spreading its wings with the falling of dusk, but it was a mod-
ern show in which the forces of production (Produktionskräfte) and
instruments of production resulted in an alienated Geist, as in conse-
quence alienated labor (entfremdete Arbeit).
»Für Marx ist Wirklichkeit immer schon gesellschaftlich bestimmte Wirk-
lichkeit, eine Existenz also, die mit ihrer Essenz, dem Wesen der mensch-
lichen Gesellschaft materiell, das heißt durch Veränderung der ökonomischen
Bedingungen, vermittelt werden muß. Hegels große Entdeckung ist nach

a useful overview of the development of the academic discipline »philosophical anthro-


pology« by Wilhelm Perpeet: Kulturphilosophie. Aufgabe und Probleme. Bonn 1997.
The very first book this Bonn overseas student read arriving in Bonn 1969 was Erich
Rothacker: Heitere Erinnerungen. Bonn 1963.
40 Philosophical Anthropology as an academic discipline was never part of the American

college philosophy curriculum; somewhat later, in the 1960s the Sociology of Knowl-
edge was introduced to sociology departments. At this point, however, I would like to
thank my undergraduate philosophy teacher at George Washington University, prior to
my Bonn studies, the late Professor emerita Thelma Z. Lavine (1915–2011) who intro-
duced me to both subject matters, having known many German exiled scholars at New
York City and Harvard University, and thereby preparing me for my German academic
adventure. She was authentically engaged in Vermittlung between the New World and
Old Europe.

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Ernest Wolf-Gazo

Marx, daß er die Selbsterzeugung des Menschen als Akt der Arbeit, als dia-
lektischen Prozeß der Vergegenständlichung und Entgegenständlichung, der
Entäußerung und Aufhebung dieser Entäußerung begreift. Sein Fehler ist
nach Marx, daß dieses Begreifen noch innerhalb der Entfremdung bleibt, da
sich die Philosophie als abstrakte Gestalt des ökonomisch gesellschaftlich ent-
fremdeten Menschen zum Maßstab der von ihm entwickelten Entfremdung
nimmt.« 41
With the help of the published Paris Manuscripts of 1844 (first in 1935
by Herbert Marcuse, then in 1953 by Siegfried Landshut) the philoso-
phical anthropology of the Young Hegelians, especially Ludwig Feuer-
bach, is transformed into a materialist conceived history in which the
»metaphysical status« of Materie had to be determined in Schelling’s
later philosophy in terms of a Rezeptionsgeschichte of Böhme via the
Kabbalah then Schelling, and finally debated by the Young Hegelians
and ›settled‹ by Marx. The Antrieb of this new conception of history
had its tool in Dialektik which provided the energy towards successive
stages of material formations depending not on Geist, but Produktions-
verhältnisse. Suddenly there was light at the end of the Cave, thanks to
Jakob Böhme, thereby Schelling was saved from darkness, as Hegel so
nicely put it, in which all cows are black; yet, young Habermas, this
time mit Heidegger finds the ironic words, »Die Nacht, in der all Kühe
Schwarz sind, beginnt sich zu lichten.« 42 Thus, the anthropological
turn of young Habermas is summarized in his Dissertation in the fol-
lowing passage, »Für Feuerbach, Marx und Kierkegaard hat Realität
den Index des Aufgehens und Sichzeigens in einer leiblich-mitmensch-
lich, ökonomisch-gesellschaftlich oder religios-geschichtlich bestimm-
ten Situation.« 43 It was that Situation which the thesis wanted to clear,
in order to determine new rules for a new game, in terms of a new
anthropology called historical materialism which, apparently had its
seeds sowed in the Böhme-Kabbalah-Axis, but could not be resolved
by the later Schelling. Those who made the pilgrimage to Berlin Uni-
versity in 1841, amongst them the young Engels, Bakunin, or Kierke-
gaard, were, unfortunately, disappointed since they sensed that the el-
derly gentleman who spoke from the Katheder in Berlin had no clear

41 Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. Fn. 6), p. 58.
42
Ibid., p. 217.
43 Ibid., p. 65.

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Habermas and Young Hegelian Dialectics

solution to their problems. 44 The revolutionary signs were everywhere


to be seen in central Europe, but the older Schelling, representing clas-
sical German idealism, had no alternative plans to pronounce in the
filled lecture hall, while a former Bonn student, Carl Marx (the Bonn
University archives has the name spelled with ›C‹, under student ID
No. 270), discovered the tool of Kritik to be used dissecting Hegel’s
concept of Staat in the same year. 45
Young Habermas discovered Marxist literature in a workers’ social
welfare bookshop, run by the social-democratic party (SPD) in the pro-
vincial town of Gummersbach, where he grew up. Aside that he dis-
covers the Young Hegelians in books by Karl Löwith dealing with a
comparison between Marx and Max Weber, as well as the period of
German classic culture, from Goethe to Nietzsche. On this road young
Habermas discovers the Young Hegelians and Marx. By the time he
reaches his junior professorship in Heidelberg, Kritik became his
watchword to be followed, in order to tackle the contradictions and
paradoxes of the real world (Wirklichkeit), with Dialektik. He had this
to say about his intellectual mentor and senior colleague in Heidelberg
in 1963,
»Ja, Löwiths Kritik an dem junghegelianisch entfalteten Bewusstsein der his-
torischen Dialektik enthüllt sich zugleich selber als seine Radikalisierung der
junghegelianischen Religionskritik; und seine Apologie der natürlichen
Weltansicht wäre Feuerbachs kosmologisch noch einmal reflektierte Anthro-
pologie – wenn nur Feuerbach philosophisch gedacht hätte.« 46
In fact, it was Habermas who continued to think philosophically, de-
spite wanting to »escape« sociology in the interm period between Bonn
and Frankfurt. The Strukturwandel work shows that the interdisciplin-
ary work style of the Bonn Rothacker Kreis had an impact on Haber-
mas. There is no doubt that his Schelling Dissertation had been struc-
tured and demonstrated in such a way, that it was only possible with an
interdisciplinary mind at work, which could be learned with Rothacker
in Bonn.

44
See Frank (Hrsg.): Schellings Philosophie der Offenbarung 1841/1842. A. a. O. (cf. Fn
20), Anhang II.
45
Ibid., Marx (Kröner Edition), pp. 208–209.
46 Habermas: Philosophisch-politische Profile. A. a. O. (cf. Fn. 23), p. 213.

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Ernest Wolf-Gazo

Conclusion

In hindsight all things and events become clear. No doubt, a careful


reading and studying of Habermas’ Dissertation tells the reader a great
deal about the academic atmosphere in post-war Germany universities,
in this case Bonn. The circle around Rothacker consists of talented
young individuals who were treated as individuals and not a potential
constellation of forming a philosophic school, as was the case at Mün-
ster University, Westphalia, were we can observe the development of a
»Ritter School«, headed by Joachim Ritter. Another center was in Hei-
delberg and Gadamer, not to mention the Freiburg center that lived
from the Heidegger myth. At »Zero Hour« (Stunde Null), with Ger-
many finding itself in total moral bankruptcy, Habermas and his gen-
eration had to start from scratch in order to reinvent their identity. The
project was named Re-education and especially in the realm of the uni-
versity and Kultur that was a difficult undertaking. Many conservative
forces still held on to the basics of a Bildungsbürgertum ideology that
may have foster knowledgeable students in the classics, but in view of
the barbaric onslaught of National Socialism, that ideology failed com-
pletely. The young Habermas never forgot and wanted to make sure
that Bildung without a political engagement is blind. For Germany’s
non-academic youth, the majority of the population, it was the newly
arriving popular American culture known as Rock’n Roll, by Bill Haley
and personified by Elvis Presley soldiering for the US Army in Frank-
furt. This onslaught from overseas must have seemed to the bearers of
Bildung like savagery undeserved for the country of Denker und Dich-
ter. It was the first signal for the storm to come by the baby boom
generation reconciling Elvis, the Beatles, and Beethoven. Yet, for Ha-
bermas and his generation the order of the day was a moral protest and
rejuvenation of political viability against their parents and grandpar-
ents generation. Habermas and Apel were at the forefront of that
struggle and thereby engaged in the actual moral and political forma-
tion of the newly developed Bonn Republic, which succeed beyond ex-
pectations.
The added Einleitung to his Dissertation was not an accident, but a
last minute decision, to give a signal that Re-education must take on a
different course from the traditional Rezeptionsgeschichte, in this case,
Schelling. Habermas’ Re-education project leads him to reconsider the
roots of classic German idealism and discovers, in the meantime, that

368

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Habermas and Young Hegelian Dialectics

there were other perspectives and tracks that could be followed. Philo-
sophically speaking, Hegel, or Schelling, or Heidegger, revealed genius,
no doubt, however, even genius may, at one point or another, fall into a
trap of deluding themselves into some sort of illusions about Wirklich-
keit. This is true in case of Rothacker and certainly of Heidegger, who
had, each in his own way, private visions of the future in which they
would play an important role. However, both young Habermas and his
friend Apel, or their fellow student Otto Pöggeler noticed, that the old-
er generation of teachers had much to offer, but failed in the realm of
the political. This experience made an impression on the post-war gen-
eration of students, including the Bonn peer group in which Habermas
moved. The record needed to be set straight, for Habermas in Frankfurt
with Adorno, for Pöggeler in Paris with Celan, others became active
during the student revolt of 1968. The cultural and intellectual ramifi-
cation of Habermas’ Bonn in the 1950s, during the Adenauer Era, was
very different from the Bonn when this overseas student arrived in
1969, at the time when Willy Brandt was elected Chancellor of the
Federal Republic. Brandt, a former exiled journalist, returned home in
order to set the record straight, without malice. It was not an easy road
for him and his compatriots. In Frankfurt Habermas meets the other
returned exiles, Horkheimer and Adorno and Marcuse. And there was
plenty to contemplate about the moral disaster in the modern world
between Pöggeler and Celan. Habermas’ development from a provincial
town called Gummersbach onto a global stage is quite remarkable, con-
sidering that many of his issues and themes are related to European, or
better, German affairs. But these issues and themes arise out of the
philosophic concerns that stretch back to German idealism, in amalga-
mation with the Kabbalah, Spinoza, a Martin Buber, or a Gershom
Scholem. To move from Kant to Hegel and Schelling, via Jakob Böhme,
then to the Young Hegelians and Marx, then to the Pragmaticism of
C. S. Peirce (along with his friend Karl-Otto Apel), to Max Weber and
Talcott Parsons, then the Speech Act perspective of J. L. Austin and
John Searle, is quite a feat. From philosophical anthropology of a Max
Scheler and Arnold Gehlen to the social psychology of Erich Fromm,
Erik Erikson, and the developmental moral stage perspective of Lawr-
ence Kohlberg is another dimension. What these tracks and avenues do
for us is that they show how everything is actually connected in Wirk-
lichkeit and can’t be subsumed under one specialist department of any
modern university curriculum.

369

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Ernest Wolf-Gazo

All of this reminds us somewhat of the exiled philologist Erich


Auerbach in Istanbul, during the Second World War, where he pro-
duced the magnificent work called Mimesis: The Representation of
Reality in Western Literature, without the aid of his personal notes or
bibliography. 47 That too was a moral project in which Auerbach wanted
to show, that in face of book burning, it is of utmost importance to
write books, even though they might too be put to the flames. Haber-
mas, spending a semester in Zürich must have known the book, since it
was published in Berne, Switzerland, in 1946. Mimesis was part of a
constellation that formatted the western communication of dialogue, in
toto, and reminded us of Habermas’ later attempts at a universal com-
municative paradigm in which human beings recognize themselves im
Gespräch, as Gadamer used to say, and recognize menschliches Antlitz,
as Habermas tends to say.
The fear amongst some that Bonn might turn out to be another

47
Cf. Erich Auerbach: Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Lit-
eratur. Bern 1946 (this masterpiece was written in his Istanbul exile between May 1942
and April 1945); the 50th Anniversary Edition was introduced by Edward W. Said, based
on the 2nd Edition published by Princeton University Press in 1953; much neglected, the
refugee situation of German exile scholars during the 1930 and 1940s in Turkey. See the
pioneering work by Horst Widmann: Exil und Bildungshilfe: Die deutschsprachige aka-
demische Emigration in der Türkei nach 1933. Bern 1973; the only serious treatment on
the subject matter in English, Arnold Reisman: Turkey’s Modernization, Refugees from
Nazism and Atatürk’s Vision. Washington, D.C. 2006; relevant Ernest Wolf-Gazo:
»John Dewey in Turkey«. In: Journal of American Studies of Turkey 3 (1996), pp. 15–
42; a memoir on the leading scholar of American philosophy, the late Yale philosopher
John E. Smith, who was a student of Richard Kroner exiled in the United States, see
Wolf-Gazo: »Remembering John E. Smith: Philosopher and Mensch«. In: Vincent M.
Colapietro (ed.): Experience, Interpretation, and Community: Themes in John E.
Smith’s Reconstruction of Philosophy. Cambridge, U.K. 2011, pp. 171–194. It should
be added that Erich Rothacker delivered five lectures at the University of Istanbul in
1950 titled, »Geschichtliche Entwicklung und geschichtliche Krisen« (see Perpeet: Bib-
liography Erich Rothacker. Bonn 1968, p. 108); also Joachim Ritter spent some time,
during the 1950s in Turkey, as well as the sociologist Hans Freyer with whom the young
Habermas discussed his Turkey experience, as related in the latter’s Merkur, March
1956, Essay. A former Turkish colleague at METU in Ankara, Professor emeritus Teo
Grünberg, related stories to me about some German exile scholars in Istanbul, as well as
the philosophers Hans Reichenbach and Ernst von Aster. Prof. Grünberg’s uncle, on his
mother’s side, Dr. David F. Markus, wrote his Dissertation under Benno Erdmann with
the topic, Die Associationstheorien im XVIII. Jahrhundert und Ihre Geschichte«. Bonn
Diss. 1901. As we can see this Turkish connection has been much neglected and should
be addressed in terms of cultural dialogue and multiculturalism.

370

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Entgegung auf Ernest Wolf-Gazo

Weimar did not materialize. In fact the Bonn Republic was a great suc-
cess story of Germany and Europe. Habermas and his generation
should accept some credit for this success story and the fact that he
was honored, globally, tells us that it was the recognition of a job well
done – rejoining and integrating into civilization. In his Dissertation,
dealing with the importance of the introduction of »Du« in the com-
municative act by Ludwig Feuerbach, young Habermas writes, »Alle
Ideen entspringen aus der Kommunikation der Menschen untereinan-
der.« 48 Indeed, in March 1998, during his visit to Cairo, near Tahrir
Square, an Egyptian student asked the professor emeritus Habermas,
after delivering a lecture as to what we can learn from disasters, about
personal identity, considering the fragile national identities of coun-
tries in the Middle East, he replied in German, »Ich bin Rheinländer«.
This former overseas student, now an expat professor in philosophy,
sitting next to him at the podium, as his host, could not help breaking
into a big smile, thinking about Bonn.

Entgegnung von Jürgen Habermas

Zu diesem Vortrag kann ich nur in der Art eines autobiographischen


Kommentars Stellung nehmen.
Ein amerikanischer Student, der 1969 nach Bonn kam und dort
das Philosophische Seminar und dessen Umgebung kennenlernte,
muss eine politisch ziemlich gewievte Nase gehabt haben, um noch
das politische Klima zu wittern, das in dieser Universität während mei-
nes Studiums und der beiden Jahre danach (1951 bis 1956) dort ge-
herrscht hatte. Jedenfalls beschreibt Ernest Wolf-Gazo ganz richtig
meine Reaktion auf das Unausgesprochene einer in den Personen un-
serer Lehrer verkörperten Mentalität, die aus der beschwiegenen Nazi-
zeit in die Gegenwart hineinragte. Man begegnete damals der unter-
drückten Dissonanz zwischen der oft nur geahnten politischen und
intellektuellen Vergangenheit dieser Professoren und ihrer stillschwei-
genden Anpassung an die brüchigen Normen der Gegenwart, die ja von
Adenauer auf die Integration der alten Eliten getrimmt wurde. Ebenso
treffend ist die Beobachtung meiner eigenen intellektuellen Verfas-

48 Cf. Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. cf. Fn. 22), p. 66.

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Entgegung auf Ernest Wolf-Gazo

sung, für die die Rückkehr zum Marx meiner Schulzeit eine doppelte
Bedeutung hatte. Zum einen hat mich der ansteckende, vom Aktuali-
tätsbewusstsein geprägte Denkstil der Junghegelianer 1953 dazu er-
muntert, zwischen meinen bis dahin parallel nebeneinander herlaufen-
den philosophischen und politischen Überzeugungen eine Verbindung
herzustellen. Zum anderen hat die Lektüre der Marx’schen Frühschrif-
ten – die übrigens auch für viele meiner Generationsgenossen unter
den späteren Kollegen, beispielsweise für Dahrendorf oder Popitz ty-
pisch war – den Weg von der Philosophie zur Soziologie geebnet. Die
zufällig zustande kommende Begegnung mit Adorno war nur noch der
Auslöser für die Abwendung von der Philosophie und hin zu Sozio-
logie und Gesellschaftstheorie, eine Umorientierung, die ich damals
für definitiv gehalten habe.
Als ich dann aber von Gadamer 1959 nach Heidelberg eingeladen
wurde, ohne zu wissen, dass ich für die Besetzung eines Extraordinari-
ats »vorsingen« sollte, habe ich auf Schelling zurückgreifen müssen,
denn ich hatte den Kontakt zur Philosophie verloren und musste aus
der Not eine Tugend machen. Inzwischen hatte ich Blochs Das Prinzip
Hoffnung kennengelernt und auch bei Adorno und Marcuse die tiefen,
wenn auch verdeckteren Spuren entdeckt, die die Vorstellung der Re-
surrektion der gefallenen Natur bei ihnen allen hinterlassen hatte. Vor
diesem Hintergrund hat mir die Notwendigkeit einer retrospektiven
Anknüpfung an das Thema meiner Dissertation erst jene untergründi-
ge Traditionslinie eines auf Emanzipation gerichteten materialistisch-
naturphilosophischen Denkens zu Bewusstsein gebracht, die von Jakob
Böhme über Baader und Schelling bis zu Marx und vielleicht sogar bis
zu Freud reicht. Auch das hat Ernest Wolf-Gazo ausgegraben. Am Ende
weist er auch noch auf mein durchgängiges Interesse an philosophi-
scher Anthropologie und auf einen von Rothacker beeinflussten inter-
disziplinären Denkstil hin. Mit diesem Fokus auf die weiterwirkenden
Motive aus der Bonner Studienzeit stellt er allerdings mein Selbstver-
ständnis, wonach der Wechsel von Bonn nach Frankfurt eine tiefere
Zäsur darstellt, auf die Probe.

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Klaus Erich Kaehler

Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne

Die Erste Philosophie der Neuzeit von Descartes bis Hegel steht in
einer engen, nämlich kritischen Kontinuität mit der Moderne, die als
»nachmetaphysisches Denken« die Moderne in singulärer Bedeutung
ist. Lässt sich für die Philosophie der Neuzeit ein Zusammenhang stif-
tendes Prinzip ausmachen und ausweisen, nämlich das Prinzip Subjekt,
so muss dieses auch den kritischen Leitfaden durch den philosophi-
schen Diskurs der Moderne bilden können. Dass dies so sei, ist meine
grundlegende These. Deren inhaltliche Füllung und Rechtfertigung hat
zu viele Aspekte, als dass ich sie hier kohärent vortragen kann. Worauf
es aber zuerst ankommt, ist, den Bruch der Moderne (im engeren Sin-
ne) mit der Metaphysik der Neuzeit philosophisch zu rechtfertigen,
und zwar gerade aus deren eigener Vollendungsgestalt bei Hegel; mit
anderen Worten: eine philosophische Begründung und Genese von
Moderne wenigstens zu umreißen, um dadurch einen philosophischen
Begriff derselben – im Sinne nach-metaphysischen Denkens – zu ge-
winnen.
In dieser genetischen Begründung der Moderne aus einer imma-
nenten Krisis von Vorgängerpositionen – und zwar hier mittelbar einer
ganzen Kette solcher Positionen unter dem Namen ›Metaphysik‹ –
liegt eine reflektierte Rückbindung an das, was in der Philosophie
schon getan ist und dem von einem späteren Rezipienten, unabhängig
von dessen historischem Standort, die »Authentizität einer vergange-
nen Aktualität« 1 zuerkannt werden kann. Vergangen ist die Aktualität
allerdings nur im historischen Sinne, philosophisch bedeutet das Ver-
gangensein nur, dass es kein letztes Wort war, was eine solche Philoso-
phie zu sagen hatte. Darin aber bleibt sie authentisch als philosophi-
scher Wahrheitsanspruch mit und in ihrem bestimmten Sinnentwurf
und -zusammenhang.

1 Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Leipzig 31994, S. 34.

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Klaus Erich Kaehler

Inwiefern ich meine, Subjekt als Prinzip der neuzeitlichen Phi-


losophie erweisen zu können, ist hier nicht zu rechtfertigen. 2 Vielmehr
werde ich aus Zeitgründen sogleich mit Hegels Metaphysik der abso-
luten Subjektivität beginnen, um gerade an dieser extremen Position
des Subjekt-Prinzips dessen endogene Krisis deutlich zu machen. Da-
raus wird sich ein von Grund auf veränderter Begriff von Subjekt er-
geben, von dem ich zeigen möchte, dass er einen selber kritischen Maß-
stab abgibt für das, was Jürgen Habermas als philosophischen Diskurs
der Moderne thematisiert und problematisiert, um dann seinen »Aus-
weg aus der Subjektphilosophie« (DM 344 ff.) als Lösung und umfas-
sende Konzeption der Moderne zu explizieren. Es soll gezeigt werden,
dass darin durchaus noch Subjektivität, jedoch in prinzipiell gewandel-
ter Bestimmung, in Anspruch genommen werden muss und kann, ob-
gleich sie eigentlich diskreditiert sein sollte durch die von Habermas im
Laufe dieses Diskurses seit Hegel herausgestellten Aporien und Defizi-
te der sog. Subjektphilosophie und der zugehörigen »subjektzentrier-
ten Vernunft« (DM 344, 354, 361, 444 u. pass.).
Meine These ist jedoch, dass diese Probleme nicht unbedingt dem
Konzept des Subjekts zuzuschreiben sind, nämlich dann nicht, wenn
dieses von vornherein aus der Entscheidung der endogenen Krisis des
absoluten Subjekts gegen Hegels spekulativen Wahrheits- und Ver-
nunftbegriff bestimmt wird. 3 Nur auf dem kritischen Umweg über
den begreifenden Durchgang durch diesen äußersten Anspruch der
suisuffizienten Vernunft und ihres Subjekts kann dieses sich als end-
liches und das heißt: immer zugleich als soziales, individuelles und na-
turales Subjekt so etablieren, dass es von jenem metaphysischen Über-
Subjekt nicht mehr aufgehoben und zu dessen bloßem Moment herab-
gesetzt werden kann. Dann ist allerdings der Anfang der Moderne als
nachmetaphysisches Denken nicht bei Kant zu haben und erst recht bei
Hegel gerade nur ex negativo. 4 Damit ist vorab schon die Differenz
zum Ansatz der Moderne von Jürgen Habermas bezeichnet. Zwar wird
die inhaltliche Ausführung der Philosophie der Moderne nach dem

2 Hierzu sei der Hinweis erlaubt auf mein Buch Das Prinzip Subjekt und seine Krisen.
Selbstvollendung und Dezentrierung. Freiburg/München 2010.
3 S. dazu ausführlich ebd., Abschnitt D.I.

4
– jedenfalls gemäß einer Rekonstruktion, die sich streng an das in der Philosophie
schon Getane hält und eine (Re-)Aktualisierung älterer Positionen nicht dadurch er-
kauft, dass sie deren innersystematische Zusammenhänge und Begründungen soweit
wie möglich außer Betracht und Geltung hält.

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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne

Maßstab des nachmetaphysischen Subjekts – es kann von innen be-


trachtet als das dezentrierte Subjekt bezeichnet werden 5 – mit der kri-
tischen Darstellung der Moderne und ihres normativen Gehalts bei
Habermas im Wesentlichen konvergieren, doch wird diesem eine ande-
re philosophische Begründung, nämlich im Sinne einer kritischen, ne-
gativen Vermittlung unterlegt. Kurz gesagt: Ein »Ausweg aus der Sub-
jektphilosophie« wird nur dann nötig erscheinen, wenn der Subjekt-
Begriff der Moderne nicht von Anfang an in prinzipieller Schärfe ge-
schieden wird von demjenigen Subjekt, das intradisziplinär als das
Prinzip der Philosophie von Descartes bis Hegel in Geltung war.

I. Hegels Vollendung des Prinzips der neueren Philosophie –


der Unterschied von Neuzeit und Moderne

Habermas betont zunächst mit Max Weber den Zusammenhang zwi-


schen Modernität und Rationalisierung, näher dem »okzidentalen Ra-
tionalismus«. Wird dieser Zusammenhang ignoriert, wie in neokonser-
vativen einerseits und sog. postmodernen Kritiken der Moderne
andererseits, so führt das leicht dazu, Modernisierung zu »stilisieren«
»zu einem raumzeitlich neutralen Muster für soziale Entwicklungspro-
zesse überhaupt« (DM 10). Mit einer derartigen, primär sozialwissen-
schaftlichen Betrachtungsweise wird aber das Vernunftpotential ver-
deckt, das die Moderne seit ihren historischen Anfängen in sich trägt
und das ihr im Laufe ihrer krisenreichen Entfaltung auch immer wie-
der das Korrektiv liefert gegen Vereinseitigungen, Verkürzungen und
Verdeckungen. Aber auch die Diagnose Max Webers bleibt zweideutig,
insofern sie als modern zwar einerseits die Ausdifferenzierung eigen-
sinniger Wertsphären auszeichnet, andererseits jedoch einer auf
Zweckrationalität verengten Auffassung der Rationalität der Moderni-
sierungsprozesse Vorschub leistet. Um jedoch die Entstehung der Mo-
derne aus dem »begrifflichen Horizont des westlichen Rationalismus«
(DM 11) zu bedenken und daraus einen tragfähigen Begriff der Moder-

5 Dieser Begriff stützt sich nicht auf alltägliche oder sozialwissenschaftliche Befunde,
die abstrahiert sind von zeitgenössischen Phänomenen der Alltagswelt, wenngleich er
auf diese zutrifft. Vielmehr soll der Begriff ›dezentriertes Subjekt‹ eingeführt werden
als grundbegriffliche Fassung des Resultats einer innerphilosophischen Krisis, die das
Subjekt als Prinzip der neuzeitlichen Metaphysik insgesamt betrifft.

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Klaus Erich Kaehler

ne zu gewinnen, ist es erforderlich, die gesellschaftliche und die kultu-


relle Moderne zumal in ihren philosophischen Konzeptionen zu rekon-
struieren. Nach Habermas ist Hegel »der erste Philosoph, der einen
klaren Begriff der Moderne entwickelt hat« (DM 13), und zwar, um
gleich zum Zentrum dieses Begriffs zu kommen, entdeckt Hegel, so
Habermas,
»als das Prinzip der neuen Zeit – die Subjektivität. Aus diesem Prinzip er-
klärt er gleichzeitig die Überlegenheit der modernen Welt und deren Kri-
senhaftigkeit: diese erfährt sich als die Welt des Fortschritts und des ent-
fremdeten Geistes in einem. Deshalb ist der erste Versuch, die Moderne
auf den Begriff zu bringen, gleichursprünglich mit einer Kritik an der Mo-
derne.« (DM 27)
Ehe wir diese Feststellungen im Zusammenhang der Philosophie He-
gels genauer betrachten, ist zunächst klären, von welcher »neuen Zeit«
bzw. von welcher Moderne hier – bei Hegel – die Rede ist. Es kann nun
wohl kein Zweifel sein, dass Hegel das meint, was wir heute als »Neu-
zeit« von der eigentlichen Moderne unterscheiden – Hegel konnte
schon aufgrund seines historischen Standortes gar nichts anderes mei-
nen mit der »neuen Zeit«, weil die Moderne im engeren Sinne noch gar
nicht zu erkennen war als eigenständige Epoche eines Denkens, das die
Metaphysik prinzipiell verabschiedet hat. So ist in Hegels Vorlesungen
über die Philosophie der Weltgeschichte der »Dritte Abschnitt« des
»Vierten (und letzten) Teils« (»Die germanische Welt«) überschrieben
mit »Die neue Zeit« (12.491). 6 Diese beginnt mit der Reformation und
reicht bis in Hegels Gegenwart. Diese Zeit »in Gedanken zu fassen« 7 ist
die Aufgabe der Hegel’schen Philosophie der absoluten Subjektivität.
Habermas aber unterstellt in seinen Ausführungen zu Hegel stattdes-
sen von vornherein das, was er als Moderne versteht und intendiert.
Das führt konsequenterweise dazu, dass Hegels Äußerungen zu den
Verhältnissen der endlichen Bereiche, insbesondere des Geistes, als
Zeichen für »Modernität« gedeutet werden, während die bei Hegel al-
lein affirmative Ebene, die des absoluten Geistes, als Verfehlung der
Moderne beurteilt werden muss. Nun sind aber die berühmten »Ent-

6 In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe.
Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva
Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969 ff. Im Folgenden zitiert
mit Angabe der Bandzahl. Seitenzahl.
7 Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 7.26.

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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne

zweiungen«, in deren Auflösung Hegel seit der Differenzschrift das


»Bedürfnis der Philosophie« 8 setzt, gerade nur die negative, weil end-
liche Seite des Prinzips, worin dieses sich zwar notwendig auseinander-
legt, aber nur als die eigene Bestimmung der Vernunft und ihres Sub-
jekts. Versöhnung durch Vernunft kann nicht im Endlichen
entspringen, wenngleich sie dort, im Bewusstsein und Selbstbewusst-
sein endlicher Subjekte und damit in der »absoluten Form« der Selbst-
gewissheit 9, als selbstbezügliche Negativität auszutragen ist. Derjenige
Begriff aber, den Hegel entwickelt für den philosophischen Gehalt der
»modernen Zeit«, ist der Begriff der »absoluten Wissenschaft«, und
zwar näher als die »Wirklichkeit, die der Geist sich in seinem eigenen
Elemente erbaut« (PhG, »Vorrede«, Abs. 25/ 3.29). Nur weil diese ist,
gibt es überhaupt einen »intersubjektiven Lebenszusammenhang«, –
dieser wird nicht erst »intersubjektiv konstituiert« (DM 41), nämlich
nicht von unten, sondern wo er besteht, handelt es sich um eine Ob-
jektivation des Geistes, d. h. einer Erscheinung, deren Realität zwar im
Bewusstsein der Individuen von ihrer gemeinsamen Welt und ihrer je
besonderen Stellung in dieser Welt besteht, worin der Geist aber ins-
gesamt sich selbst weiß und betätigt.
Wenn Habermas ferner als Grundzüge der von ihm gemeinten
Moderne angibt, dass sie sich ablöst »von den außerhalb ihrer liegen-
den Normsuggestionen der Vergangenheit« (DM 26) sowie dass sie
»ihre Normativität aus sich selber schöpfen« (DM 16) muss, dann las-
sen sich diese Grundzüge in der Philosophie Hegels wohl erkennen,
aber in einer Bedeutung, die mit einer nachmetaphysischen Moderne
prinzipiell unverträglich ist: Wohl gibt es zumindest für das voll ent-
wickelte System Hegels keine Vorgabe, der ein unabhängiger Wahr-
heitswert zugesprochen wird, die also nicht erst dann, wenn sie als ein
»Moment« im Ganzen des Systems gerechtfertigt wird, auch als wahr-
heitsfähig anerkannt wird. Doch zugleich ist gerade damit das System
auch auf intern kontrollierte Weise geöffnet für die Inhalte und Wert-
vorstellungen der Philosophien der Vergangenheit und deren religiöse,
kulturelle, politische und soziale Hintergründe, so wie sie von der Phi-
losophie ihrer Zeit jeweils »in Gedanken gefasst« worden sind. 10 In

8
Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 2.20 ff.
9 Siehe Phänomenologie des Geistes, »Vorrede«, Abs. 26 (im Folgenden zitiert als
PhG), in: Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 3.30.
10 So sagt Hegel in Bezug auf die Philosophiegeschichte: Ȁlteres ist zu ehren, seine

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Klaus Erich Kaehler

dieser Weise emanzipiert sich die Philosophie als absoluter Selbstvoll-


zug von jeder fremden, bloß gegebenen Voraussetzung – dem, was der
junge Hegel als »Positivität« der Religion 11 (und auch der »Sittlich-
keit«) kritisiert hat. 12
So lässt sich mit Habermas wohl sagen, dass (wie zitiert) Hegel
sowohl die »Überlegenheit der modernen Welt« als auch »deren Kri-
senhaftigkeit« aus dem Prinzip der Subjektivität erklärt, – das erste aus
demjenigen, dessen Erscheinung diese Welt von Grund auf und bis in
alle Einzelheiten ist, nämlich der Geist; und die Krisenhaftigkeit dieser
Welt daraus, dass sie als Welt überhaupt nur das Negative, Begründete,
selber Wandelbare und Übergängliche ist, das allerdings nicht gänzlich
außerhalb der Wahrheit bleibt, insofern es, als Erscheinung, doch Pro-
dukt der Selbstbestimmung des Subjekts als Geist ist. Der »Fort-
schritt«, dessen Erfahrung Habermas dem Hegel’schen Prinzip der
Subjektivität zuschreibt, besteht gerade in dieser Qualifikation des
Endlichen, Erscheinung des Absoluten zu sein, während die ebenfalls
auf Subjektivität zurückgeführte Erfahrung der Entfremdung (Haber-
mas: »Welt des entfremdeten Geistes«) daraus entspringt, dass das
Endliche noch als Positives, Unvermitteltes genommen wird, außer sei-
ner wahrhaften Einheit. Schließlich erhellt die völlige Divergenz des
Moderne-Begriffs bei Habermas und bei Hegel in dem auf das soeben
betrachtete Zitat folgenden Satz: »Deshalb« – wegen der Doppelseitig-
keit des Subjekt-Prinzips: Überlegenheit und Krisenhaftigkeit, Fort-
schritt und Entfremdung – »ist der erste Versuch, die Moderne auf
den Begriff zu bringen, gleichursprünglich mit einer Kritik an der Mo-
derne.« (DM 27). Aber da die Moderne Hegels die der historischen
Neuzeit und ihrer Philosophie ist und nicht die nachmetaphysische
Moderne i. e. S., hat Hegels »Kritik« seiner Vorgänger in der neueren
Philosophie von vornherein die Bedeutung der Weiterentwicklung,
d. h. was er »kritisiert«, wird in systematischer Reflexion und in sei-
nem Sinne »aufgehoben«; und so ist diese »Kritik« der Weg zur Voll-

Notwendigkeit, dass es ein Glied in der heiligen Kette ist, aber auch nur ein Glied. Die
Gegenwart ist das Höchste.« (Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 20.456).
11 Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 1.104 ff., bes. 108, 219 ff.

12 Die zeitgeschichtlichen Diagnosen und Kritiken sind als Motive für die Entwicklung

des Hegel’schen Denkens nicht zu leugnen, aber ihre philosophische Berechtigung und
Bedeutung erhalten sie doch – gemäß Hegels eigener Intention und Einschätzung – nur
in der systematisch zu entwickelnden Begrifflichkeit, auf die er in der Jenaer Zeit un-
verkennbar hingearbeitet hat.

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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne

endung, nicht aber der »erste Versuch«, den Geist der Neuzeit auf den
Begriff zu bringen, vielmehr die Vollendung derselben Sache und Auf-
gabe, für die auch die Kritisierten gearbeitet haben. Einen Anfang darin
zu sehen, heißt, was vor Ort eine Vollendung war, bereits aus einer
ganz anderen Perspektive zu sehen, und zwar im Blick auf etwas erst
zu Entwickelndes, dessen adäquater Begriff noch nicht gefunden ist.
Darauf werde ich im zweiten Teil zurückkommen.
Die Epoche aber, deren Vollendungssinn Hegel seine philosophi-
sche Aufgabe entnimmt, schließt sich für ihn in der Idee der Philo-
sophie als absoluter Wissenschaft. Dieses Selbstverständnis wird aller-
dings erst mit der Phänomenologie des Geistes manifest und darstel-
lungsfähig. Wenn Habermas zu Recht feststellt: »Hegel operiert in
seinen frühen Schriften mit der versöhnenden Kraft einer Vernunft,
die sich nicht bruchlos aus Subjektivität herleiten lässt« (DM 39), so
wird doch diese Differenz von endlicher Subjektivität und Vernunft
schon in den Jenaer Schriften seit 1801 zunehmend systematisch auf-
gehoben, indem er sie als Ausdruck einer untergeordneten, unselbstän-
digen Stufe begreift. Allerdings hat Hegel erst am Ende seiner Jenaer
Entwicklung, also in der PhG, die Subjektivität selbst als das Wesen der
Vernunft begriffen. Darauf beruht, dass er in Aussicht stellt, die Phi-
losophie »dem Ziele« näher zu bringen, »ihren Namen der Liebe zum
Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein« (»Vorrede«,
Abs. 5/ 3.14). Der systematische Grundbegriff für die Darstellung die-
ser »Wirklichkeit« des Wissens aber wird erst jetzt der Begriff des Sub-
jekts.
Es ist doch höchst bemerkenswert, dass Hegel im Abs. 25 der
»Vorrede« zum ersten Mal (in diesem Text) den Begriff des Geistes
einführt – immerhin den Begriff, von dessen »Erscheinung« das ganze
Werk handeln soll –, und dass er diesen Grundbegriff des Geistes noch-
mals vorbereitet durch eine umfangreiche Explikation der Momente
und Konsequenzen des Subjekts bzw. der These, das Wahre sei »nicht
als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und aus-
zudrücken« (Abs. 17/ 3.23). Worum es wesentlich geht, ist, alles Wer-
den, somit Veränderung und Entwicklung durchgängig als die Negati-
vität »eines und desselben« zu denken und darzustellen, denn dieses
Selbe »muss sich verschieden gestalten« (Abs. 15/ 3.21), so dass es als
»sich vollendende[s] Wesen« erst »das Ganze« und als solches »Resul-
tat«, also erst »am Ende das ist, was es in Wahrheit ist« (Abs. 20/ 3.24).
Diese absolute, weil selbstbezügliche, Negativität aber ist die Wirklich-

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keit des Subjekts und dessen begrifflich bestimmte Entwicklung ist die
innerphilosophische Aufgabe, die Hegel 1807 vor sich sieht und kon-
zipiert. Aus dieser Subjektivität entwickelt Hegel die Grundbestim-
mungen seiner spekulativen Philosophie; bzw. der »Natur« des »Erken-
nen[s] der absoluten Wirklichkeit« (Abs. 16/ 3.22), nämlich dass dieser
die Vermittlung und Reflexion immanent sei, weil sich allein dadurch
das Wesen als selbstbewusste Vernunft und als Selbstbewegung der
Form realisiere; dass diese Entwicklung aber die Selbstentfaltung sei,
die in ihrer Unmittelbarkeit bereits die Negativität des Werdens habe,
die »Unruhe«, welche das Selbst ist (Abs. 22/ 3.26); so dass, auf das
immanente Telos der vollkommenen Selbstverwirklichung bezogen,
die Vernunft »das zweckmäßige Tun« (ebd.) ist, sowie schließlich dieses
Verwirklichen als Sich-Wissen ein in sich geordnetes Ganzes oder Sys-
tem des Wissens sein muss – und dies alles: »Dass das Wahre nur als
System wirklich, oder dass die Substanz wesentlich Subjekt ist«, fährt
Hegel fort, »ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als
Geist ausspricht, – der erhabenste Begriff, der der neuern Zeit und
ihrer Religion angehört.« (Abs. 25/ 28) 13
Welche Philosophie daraus wurde, ist (zumindest nominal) be-
kannt: Zunächst die Darstellung des »erscheinenden Wissens«, die zu-
gleich – von unten – die Bildung des Bewusstseins, der »absoluten
Form« (Abs. 26/ 3.30 ob.), zu seinem an und für sich wahren Inhalt ist;
dann, vom Resultat dieser Darstellung aus, dem »in Geistsgestalt sich
wissenden Geist« (3.582), die Entwicklung der »reinen Wesenheiten«
(5.17), des Logos in ihm selbst, dessen Realität seine Bestimmtheit ist;
dann darüber hinaus die absolute Entäußerung dieses in sich vollende-

13 So aber ist das Subjekt nicht nur der endliche Pol zu einer selbständig entgegenste-
henden anderen Realität (wie im Bewusstseinverhältnis, als das der Geist erscheint),
sondern dem zuvor in der Tat »der vermittelnde Prozess der sich bedingungsfrei pro-
duzierenden Selbstbeziehung« (DM 46). Da jedoch diese Selbstbeziehung in ihrer Tota-
lität die Form des Sich-Wissens hat, ist sie Geist: Subjekt in absoluter Bedeutung; und
so ist dies Hegels entwickelter Begriff des »Absoluten«. Statt wie Habermas (mit Dieter
Henrich) sagt, das Absolute sei »weder Substanz noch Subjekt« (ebd.) – wobei dann
›Subjekt‹ nur das endliche sein kann –, wäre zu sagen, es sei sowohl Substanz als auch
Subjekt, allerdings so, dass dieses »die entwickelte, wahrhafte Wirklichkeit« der Sub-
stanz ist (Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 8.368, im Folgenden zitiert als
Enzyklopädie § 213 Anm.), wie die schon herangezogenen Absätze 17–26 der PhG (von
1807) auch bereits unmissverständlich ausgeführt haben. Zu diesem übergreifenden
Begriff des Subjekts s. auch Enzyklopädie § 213, Ende der Anm., § 215 und Anm., Vor-
lesungen über die Ästhetik I: 13.129 (u. a.).

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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne

ten Logos, der »absoluten« logischen Idee – ihr Außersichsein als Na-
tur und die stufenweise Aufhebung dieses äußeren Unterschieds durch
seine Transformation in die Unterscheidungen in sich, welche die be-
stimmten Begriffe sind, in denen die Idee sich als das Wahre in allem
bewährt. 14 – Wie weit all dies von irgendeinem Selbstverständnis der
Moderne entfernt ist, ist wohl unübersehbar, und doch sind wir nun an
dem Punkt, von dem aus die eingangs erwähnte kritische Kontinuität
zwischen Moderne und Philosophie der Neuzeit zu zeigen wäre. Der
Ort dieses negativen Zusammenhangs aber liegt in der endogenen Kri-
sis des absoluten Subjekts, deren Grundzüge nun kurz darzulegen sind.

II. Die endogene Krisis des absoluten Subjekts und das Prinzip
des nach-metaphysischen Denkens

Gehen wir sogleich von der Feststellung über das Ganze aus, dass die in
Hegels »System der philosophischen Wissenschaften« beanspruchte
Wahrheit als Wirklichkeit des Sich-Wissens des absoluten Geistes in
Allem sich verschließt gegen ihren Unterschied im Ganzen. Dieser Un-
terschied tritt hervor, wenn wir die interne Negativität der logischen
Idee in sich unterscheiden von der externen auf dem Felde ihrer Ent-
äußerung, d. h. der Realphilosophie. In der internen Negativität (des
reinen Begriffs, d. h. in der Wissenschaft der Logik) wird jede Differenz
gesetzt als Grenze des je bestimmten Begriffs und aufgehoben in einen
neuen, höheren Begriff; in der externen Negativität hingegen tritt die
Differenz grundsätzlich hervor als Äußerlichkeit der in sich vollende-
ten logischen Idee insgesamt. Die »realphilosophischen« Aufhebungen
dieser Äußerlichkeit, dieser Indifferenz gegen die Bestimmtheit des
Begriffs, lassen auf jeder Stufe (von der Natur bis zum absoluten Geist)
qualitative Reste zurück, die unter dem spekulativen Wahrheits-
anspruch für »nichtig« zu halten sind – sie machen für die Wahrheit
aus dem Begriff keinen Unterschied, sind somit wahrheitsindifferent;
und dennoch sind sie nicht »nichts«, sondern werden sogar als ein dem

14 So kann Hegel für den Geist, als die in Allem sich setzende und bewährende Idee,
sagen: »[…] die Kraft des Geistes ist […], in seiner Entäußerung sich selbst gleich zu
bleiben […]« (3.588). Das »Alles«, worin die Idee sich zu setzen und zu bewähren hat,
ist hierbei keine fremde Vorgabe, sondern es ist nur da unmittelbar als die äußere, des-
halb negative Kehrseite der in sich vollendeten logischen Idee.

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Klaus Erich Kaehler

Begriff äußerliches Dasein permanent mitproduziert mit der univer-


salen Realisierung der Idee, denn die Vollendung der logischen Idee in
sich ist unmittelbar und eo ipso ihre Entäußerung. Damit erhält das
vom Begriff auch freigelassene Dasein des Endlichen ontologisch einen
gleichursprünglichen Status, so dass die Differenz zum Begriff auf dem
Felde der Realphilosophie unaufhebbar wird – ungeachtet aller Auf-
hebungen, durch welche die Idee sich erinnernd wiederherstellt und
»bewährt«. Dass die hiermit vollzogene spekulative Erhebung des End-
lichen immer auch die Kehrseite einer Reduktion und qualitativen Eli-
mination hat, lässt sich an den Inhalten jeder realphilosophischen
Sphäre von der Natur bis in die Geschichtlichkeit des absoluten Geistes
zeigen. 15
Diese qualitativen Reste, die Nachtseite des spekulativen Begriffs,
sind also der Sache nach alles Endliche in der Natur und im Geiste, also
im psychischen, bewussten, theoretischen und praktischen Leben des
Menschen, darüber hinaus in der sozio-ökonomischen, politischen und
kulturellen Welt mit ihrer Geschichtlichkeit – alles Endliche darin, in-
sofern und insoweit es Qualitäten, Bestimmtheiten, Daseinsweisen
hat, die gleichgültig sind gegen die begrifflichen Bestimmungen, unter
die alles, was es gibt, irgendwie fällt. Denn in allen Bereichen der Natur
und des endlichen, also subjektiven und objektiven Geistes und seinen
Realitäten, besteht eine Differenz zwischen Begriff und Realität, z. B.
des Menschen, des Rechts, des Guten und des Staates, – so sehr die
Einheit von Begriff und Realität als Idee die Wahrheit alles Seienden
ist, so sehr bleibt in jeder realen Existenz auch eine Verschiedenheit zu
ihrem Begriff. Die Realisierungen der Idee in ihrem äußerlichen Da-
sein, welche bestimmten realphilosophischen Begriffen gemäß voll-
zogen werden, bringen die Äußerlichkeit eben nicht mit einem Schlage
zum Verschwinden, sondern sie enthalten außer den bestimmten In-
halten, die das Begreifbare als solches ausmachen, auch noch eine un-
bestimmbare Mannigfalt von Bestimmtheiten, die unter diese Begriffe
nur fallen, ohne einen Unterschied für deren philosophische Bedeu-
tung und ihren systematischen Stellenwert zu machen. Sofern diese
Bestimmtheiten identifizierbar sind, ist dies nur empirisch möglich,
und ihre Erklärung muss auf kontingente, dem Begriff äußerliche Fak-
ten zurückgreifen (spekulativ: »Richtigkeit« versus »Wahrheit«). Sol-
che dem spekulativen Begriff unangemessene Bestimmtheiten und

15 Dazu sei verwiesen auf Verf. 2010 (s. Anm. 2), S. 697–738.

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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne

Entitäten sind »äußerer Bestimmbarkeit ausgesetzt«, 16 d. h. zufällig.


Aber auch die positiven Begriffe selbst, welche die Realphilosophie aus-
machen, enthalten Bestimmtheiten, Realitäten, die über die logischen
Bestimmungen hinausgehen. In ihnen erweitern sich die logischen Be-
stimmungen um Sachgehalte, die aus ihnen in keiner Weise gewonnen
werden können. Sie müssen faktisch immer zuerst durch die Bewusst-
seins- und Wissensweisen des Subjekts in seiner Endlichkeit selbst vor-
gegeben sein. 17
In dieser Differenz von spekulativ begreifbarer Realität und fak-
tischer, in ihrer Bestimmtheit vom Begriff frei gelassener, durch ihn
nicht vollständig bestimmbarer Realität liegt – geschieht – die peren-
nierende Krisis des Subjekts als Prinzip der absoluten Metaphysik. Die-
se systematisch endogene Krisis ist durch die wesentlichen Positionen
der Philosophie seit Feuerbach entschieden worden gegen den spekula-
tiven Wahrheitsanspruch, und zwar durch die Anerkennung des von
dieser Wahrheit Ausgeschlossenen als eigene vor- und außerbegrifflich
bestimmte und gegebene Realität und Qualität – als Positivierung des
vormals Nichtigen. 18
Indem das nachmetaphysische Denken insistiert auf dem irredu-
ziblen Eigenwert des Endlichen in seiner qualitativen Mannigfalt und
Diversität, wozu grundlegend die nun unhintergehbare Zeitlichkeit ge-
hört, vollzieht es also eine Umwertung der metaphysischen Wertung:
Das Endliche mit der Seite seiner Indifferenz gegen den Begriff ist
nicht mehr als abhängiges Produkt des metaphysischen Subjekts zu

16 Enzyklopädie § 250: »Es ist die Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur
abstrakt zu erhalten und die Ausführung des Besonderen äußerer Bestimmbarkeit aus-
zusetzen.« (9.234).
17 Davon zeugt nicht nur die gesamte Phänomenologie des Geistes, die auf jeder Stufe

eine zunächst als positiv genommene Realität in einer »Gestalt des Bewusstseins« vo-
raussetzt, sondern auch die Realphilosophie der Enzyklopädie, in der bereits zu Beginn
(§ 1) darauf hingewiesen wird, dass »der denkende Geist sogar nur durchs Vorstellen
hindurch und auf dasselbe sich wendend zum denkenden Erkennen und Begreifen fort-
geht«.
18 Vgl. dazu Verf.: »Die Positivierung des Nichtigen. Hegel, Feuerbach und das dezen-

trierte Subjekt der Moderne«. In: Dirk Westerkamp/Astrid v. d. Lühe (Hrsg.): Meta-
physik und Moderne. Ortsbestimmungen philosophischer Gegenwart (Festschrift für
Claus-Artur Scheier). Würzburg 2007, S. 177–193; sowie ders.: »Das Unendliche im
Endlichen. Feuerbachs anthropologische Verkehrung des spekulativen Wahrheits-
anspruchs«. In: Claudia Bickmann et al. (Hrsg.): Religion und Philosophie im Wider-
streit? Amsterdam/New York 2008, S. 93–102.

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Klaus Erich Kaehler

begreifen – seine bloße »Entäußerung« –, sondern in jener Anerken-


nung der vor- und außerbegrifflichen Realitäten formiert sich zugleich
und unmittelbar das Subjekt von Grund auf neu. Es findet und versteht
sich in dem nun unhintergehbaren Bezogensein auf Anderes als unauf-
hebbar endlich: Es existiert genau nur in dieser nun ursprünglichen
Beschränkung durch ein unverfügbares und unerschöpfliches Anders-
sein – Leiblichkeit und Sinnlichkeit, faktische Existenz, Geschichte und
Ökonomie, Macht, Welt, Sprache, Nicht-Identität, Sein, der Andere,
das Heterogene, die différance …
Dieses ganze, unmittelbar differentielle Grundverhältnis von
Selbst und Anderssein ist, noch diesseits dieser neuen Bestimmungen
des Anderen, welche die diversen Positionen der Moderne hervorbrin-
gen, das dezentrierte Subjekt: Es ist weder selbst das in sich ruhende
und geschlossene Zentrum für anderes, wie das absolute Subjekt der
spekulativen Metaphysik; noch ist es, wie das Hegel’sche endliche Sub-
jekt, in ein solches zentriertes Ganzes immer schon eingeordnet, zu
dem es sich als zu seinem an und für sich wahren Bildungsziel denkend
und handelnd – als »Geist vom Geiste Gottes« – erheben könnte. Sei-
ner kritischen Genesis entsprechend ist es zwar als das vorherige Sub-
jekt zu fassen, aber – hierin liegt die kritische Kontinuität – von Grund
auf verwandelt, nämlich gebunden an und beschränkt auf seine end-
lichen Sphären: die Natur, den subjektiven und den objektiven Geist.
In diesen irreduziblen Sphären der Endlichkeit hat es sich nun ohne
jede Vorgabe, die darüber hinausginge, existenziell zu situieren, zu er-
halten und zu bilden. Diese Sphären sind nicht mehr aufhebbar in eine
höhere. Das Subjekt muss deshalb so gefasst werden, dass es zumal als
natürliches, individuelles und soziales Subjekt existiert; und auch hie-
rin waltet keine Hierarchie mehr, vielmehr ist das Subjekt gemäß die-
sen drei Parametern der Endlichkeit eingesetzt in drei verschiedene
Qualitäten des Andersseins, mit welchem das nach-metaphysische
Subjekt unhintergehbar behaftet ist: So nur existiert es, 19 und so nur

19 »Die Junghegelianer« »klagen das Gewicht der Existenz ein« (DM 68). Indem sie
damit – dies ist ein Ausdruck für die »Positivierung des Nichtigen« – grundsätzlich
den Bannkreis des Subjekt-Prinzips als Prinzip der Ersten Philosophie verlassen, ist
der verbleibende »Hegelianismus« auch nur eine Täuschung – für ein »radikal [!] ge-
schichtliches Denken«, das meint, »den nun disponibel gewordenen Reichtum an Struk-
turen« und »Hegels Differenzierungsgewinne« für sich »fruchtbar machen« zu können,
fällt die letzte und höchste Begründung dieses »Geistes der Welt«, dessen Entwicklung
in der Zeit die menschliche Geschichte ist, weg – die Begründung in seiner eigenen

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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne

kann es ein bewusstes, erkennendes und selbstbestimmtes Verhältnis


zur Andersheit erlangen. So sind Naturalität, Individualität und Sozia-
lität des Subjekts für die theoretische Beschreibung als seine drei Para-
meter zu verstehen, während sie existenziell, am wirklichen Subjekt
selber, eher als seine drei Dimensionen zu bezeichnen sind, in denen
es je seine Existenz auszulegen und auszutragen hat. Darin ist jede
Dimension für jede andere ein Ursprung, unausweichlich als eine Rea-
lität, die unaufhörlich mitwirkt an dem, was die anderen Dimensionen
in der Existenz des Subjekts sein können. Aufgrund der qualitativ irre-
duziblen Verschiedenheit der drei Existenz-Dimensionen des dezen-
trierten Subjekts ist seine Existenz nichts als ihr Zusammenspiel in
mehr oder weniger starker, aber permanenter Veränderung und Ver-
schiebung ihrer Relationen. Das dezentrierte Subjekt ist dieser Ge-
samtprozess, und in jeder Dimension realisiert es sich als ein Verhältnis
zu einem Anderssein seiner selbst, der Signatur seiner Endlichkeit. –
Sehen wir nun auf einige Konsequenzen des in dieser Grundstruktur
konzipierten Subjekts der Moderne hinaus.

III. Die Moderne als Durchführung der Dezentrierung des


Subjekts in den drei ursprünglichen Dimensionen der
Endlichkeit

In der Nachfolge Hegels und in mehr oder weniger genauer Kritik an


ihm haben sich sogleich drei wirkungsmächtige Positionen heraus-
gebildet, die jeweils eine der Dimensionen des dezentrierten Subjekts
als ursprünglich angesetzt haben, so dass die jeweils übrigen nur in der
Beziehung auf die erste zur Wirkung und Geltung gelangen können:
Während Ludwig Feuerbach die Naturalität des Subjekts als ursprüng-
lich ansieht, 20 darum die Sinnlichkeit und Leiblichkeit als die Basis sei-
ner Individualität zugleich mit seiner Sozialität und allen ihren Inhal-
ten und Werten festhält, kurz, während also Feuerbach das Subjekt von

Absolutheit, dem begreifenden Denken, welches die Zeit tilgt (PhG, 3.584, auch 590 f.).
Damit bleibt solche Philosophie unhintergehbar »auf dem Boden der Endlichkeit« (Enz.
§ 483). Dies aber ist in der Tat der »Boden« der Moderne.
20
Es liegt bereits in der Konsequenz der naturalistischen Anthropologie Feuerbachs, die
eigentliche Qualität des existenziellen Subjekt-Seins als Besonderheit des Lebewesens
Mensch evolutionstheoretisch einzuordnen, wie es der Einseitigkeit entspricht, die sich
aus dem Primat der ursprünglichen Naturalität des Subjekts ergibt.

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vornherein als natürlichen Menschen versteht bzw. verständlich ma-


chen will, 21 reflektiert Kierkegaard das Subjekt ganz in seine Indivi-
dualität als irreduzible, wenngleich in permanentem Selbstverständi-
gungsprozess sich bildende Qualität; was nicht ausschließt, sondern als
notwendige Folge davon untrennbar ist, dass dieser existenzielle Pro-
zess sich den Voraussetzungen der Naturalität und den Einwirkungen
und Forderungen der Sozialität nicht entziehen kann, so dass die indi-
viduelle Selbstverständigung wesentlich ethischen Charakter hat; und
schließlich hebt Marx die Naturalität und die Individualität auf in die
dritte Dimension: Hier hat die Sozialität des Subjekts den Vorrang.
Natur und Individuum sind nur in ihr, durch sie immer schon über-
formt und in Dienst genommen; d. h. ihre Bestimmtheiten sind nur
als gesellschaftlich vermittelte zugänglich und relevant.
So stellt jede der drei Positionen eine Synthesis der drei Dimen-
sionen des nachmetaphysischen Subjekts unter dem Primat je einer
dieser Grundbestimmungen dar. Die Synthesis unter dem Primat der
Sozialität bei Marx ist jedoch von besonderer Bedeutung für die Ent-
wicklung der Moderne. Sie zeigt, wie der gesamte Bereich der Inter-
subjektivität im nachmetaphysischen Denken – und zwar erst in ihm
– zum Fundamentalproblem der Philosophie werden konnte und auch
werden musste. Unter der Prämisse der dreidimensionalen Endlichkeit
des Subjekts, welche letztlich keinen qualitativen, positiven Primat,
sondern nur die perennierende Differenz zu jeder Bestimmtheit zu-
lässt, bleibt jede Einheitsbildung partikular und problematisch, und
dennoch eine notwendige Aufgabe, weil Bedingung jeder Orientierung
im Ganzen. Die Einheit des Bewusstseins ist gebunden an existenziel-
len Vollzug, also Individualität; die Einheit der Gesellschaft hingegen
ist gebunden an geschichtlich gewordene und werdende, sich ver-
ändernde Formen und Grade der Sozialintegration. 22 Sie besteht des-
halb nur als deren Funktion, bleibt stets Voraussetzung und Aufgabe
von Praxis, kann aber weder gesellschaftlich noch individuell jemals
eigentlich vollzogen werden; und so bleibt sie überhaupt als Gedanke
stets formal und abstrakt vorausgreifend, inhaltlich aber fallibel und
stets wieder revisionsbedürftig. Das letztere gilt zwar auch für das an-
dere Extrem zum Individuum, die Natur, da, was ihre Einheit sein

21 Dazu s. ob. Anm. 14.


22
Habermas: »Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?«
In: ders./Henrich: Zwei Reden. Frankfurt a. M. 1974, S. 25–84.

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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne

könnte, nur im Netzwerk objektivierender Wissenschaft projiziert wer-


den kann. Diese aber ist immer schon Produkt der intersubjektiven
Sphäre, und in diese gehen wiederum die Ergebnisse der Wissenschaft
auf vielerlei Weisen ein, sowohl hinsichtlich ihrer technischen Ver-
wertbarkeit zur Steigerung der Produktivkräfte, 23 als auch hinsichtlich
ihrer Bedeutung für die kulturelle Orientierung und das Selbstver-
ständnis der Gesellschaft.
In der Tat erweist sich auch die in der intersubjektiven Sphäre
vollzogene höchste und umfassendste Synthesis bei näherer Betrach-
tung als relative und ergänzungsbedürftige Zentrierung. Sollen Natur
und Individualität erst als gesellschaftliche Produkte »wahrhaft« exis-
tieren, so kommt zunächst alles an auf die Art und Weise, wie dieses
gesellschaftliche Produzieren selbst organisiert und gesteuert werden
kann. Zwar gibt es keine übergeordnete Instanz, von der eine normati-
ve Orientierung zu akzeptieren wäre. Doch auch die gesellschaftliche
Synthesis selbst erzeugt ihre Vorgaben nicht völlig aus sich selbst. Die-
se behalten eine Seite der Unverfügbarkeit und Unberechenbarkeit ge-
genüber ihrer gesellschaftlichen Verarbeitung und Reproduktion. Da
die eigentlich subjektiven Momente in diesem Prozess, nämlich Selbst-
bewusstsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, nach dem
Verschwinden (oder auch: »Entzug«) des absoluten Geistes nur noch
in zerstreuter Pluralität und inhaltlicher Diversität existieren, da ihnen
also die reale, sachhaltige und zugleich universale Einheit des Geistes
überhaupt mangelt, so reichen sie nicht aus, um die Organisation und
Steuerung der gesellschaftlichen Reproduktion des Lebens zu leisten.
Aber dieser Mangel ist kein Defizit der sog. »Subjektphilosophie«,
nichts, was »das Subjekt« als Prinzip zu leisten vorgibt und deshalb
eigentlich leisten sollte, sondern notwendige Folge der beschränkenden
Transformation des Subjekts als Prinzip der neuzeitlichen Philosophie
bis Hegel in das dezentrierte Subjekt der Moderne. Wohl aber bleiben
diese intrinsisch subjektiven Faktoren im Gesamtprozess des dezen-
trierten Subjekts relevant, nämlich von der Ebene der Individualität
aus, auf der alles, was geschieht, auf irgend eine, und zwar jeweils un-
vertretbare Weise erlitten werden muss.
In dieser Perspektive wird aber auch erkennbar, dass die Indivi-
duen nicht, und zwar prinzipiell nicht mit der Gattung koinzidieren
und dass die materiellen Bedingungen des Lebens, die primär gesell-

23 Dazu: TWI.

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schaftlich zu erfüllen sind, selber auch unter subjektiven Kriterien ste-


hen und daraufhin zu reflektieren und zu bewerten sind, obgleich die
Erfüllung jener materiellen Bedingungen zuerst immer eigenen, funk-
tionalen Zwängen und Gesetzen genügen muss. Hat hier das instru-
mentelle (und in Teilbereichen auch das strategische) Handeln seine
unverzichtbare Bedeutung, so werden in diesem Handeln doch zu-
gleich immer auch Interaktionsbeziehungen zwischen Individuen aus-
geübt. Die Bindung dieser Beziehungen an die Rahmenbedingungen
der historisch jeweils etablierten Produktionsweisen und der entspre-
chenden Produktionsverhältnisse bedeutet nicht nur eine Determinati-
on des Überbaus durch die Basis, weil die Dimension der Sozialität
(unter dem Prinzip des dezentrierten Subjekts) von vornherein zu be-
greifen ist als mehrschichtiges Beziehungsgeflecht einer Pluralität von
existierenden Subjekten, die bereits natural differenziert sind. Darin
sind sowohl die gesellschaftliche Organisation der materiellen Repro-
duktion als auch – und in eins damit – die intersubjektiven Beziehun-
gen, also die faktischen und normativen Beziehungen von Individuen
aufeinander institutionalisiert. Dies geschieht nachmetaphysisch ge-
dacht nicht durch ein übergeordnetes Allgemeines, sondern nur durch
die Vergesellschaftung von Subjekten, die als Individuen in ihrer not-
wendigen Vergesellschaftung – sie existieren prinzipiell nur als Plura-
lität – sich zugleich in ihrer sozialen Verortung und ihrer Einbindung
in geltende Interaktionsstrukturen reflektieren können. Damit aber
setzen sie sich eo ipso in ihrer Besonderheit und als Mitglieder der
Gesellschaft auch in eine Differenz zu dieser, wie auch zugleich in Dif-
ferenz zu anderen ihresgleichen, d. h. den anderen Individuen; und da-
durch wiederum eröffnet sich ihnen als Teilnehmern zugleich die Mög-
lichkeit einer kritischen Perspektive auf das Gegebene. Zwar bleibt
alles, was sich daraus objektiv entwickeln mag, abhängig vom Stand
der Produktivkräfte bzw. deren Entfaltung sowie der gesellschaftlichen
Verteilung der Verfügungsgewalt über sie. Aber diese Möglichkeit
einer innersubjektiven kritischen Perspektive auf die Sozialität, an die
sie existenziell gebunden ist, ist zugleich die innerste Bedingung für
jene andere Qualität sozialer Beziehungen, nämlich das kommunika-
tive Handeln, – derjenigen Beziehungen, die das praktische Feld des
Vernunftpotentials und des normativen Gehalts der Moderne aus-
machen. 24

24 Deshalb stellt Habermas allgemein fest: »Die Regeln kommunikativen Handelns ent-

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Im Blick auf Marx wird also deutlich, dass die – von Marx voll-
zogene – völlige Integration der Dimensionen des dezentrierten Sub-
jekts in die eine, wenngleich konkreteste, nämlich die Sozialität, wie-
derum der Gefahr unterliegt, zu einer Verkürzung bzw. Verzerrung der
Naturalität einerseits und der Individualität andererseits zu führen.
Abgeblendet wird zum einen die elementare Unverfügbarkeit der Na-
tur, die immer nur partiell und temporär »gestellt« und angeeignet, auf
Zwecke hin rationalisiert werden kann; und zum anderen, für die in
einer kosmischen Gegenwart je gerade lebenden Menschen noch fol-
genreicher: die unableitbare Qualität des konkreten, existenziellen
Subjektseins kann und muss mit dem Gefüge der Intersubjektivität
nur noch vorausgesetzt werden. Ihre Erklärung aus der Dimension
der Sozialität bleibt von Grund auf defizitär, weil sie nur ontogenetisch
das faktische Erwachen des Selbstbewusstseins und die »Indivi-
duierung durch Vergesellschaftung« (ND 187 ff.), nicht aber die ur-
sprüngliche Vollzugsweise individueller Existenz selbst – mit Husserl
gesprochen: das »Eigenwesentliche des Psychischen« 25 – erreicht. Diese
phänomenologisch aufweisbare Differenz ist in der Tat mitkonstitutiv
für das Prinzip dezentrierter Subjektivität, demzufolge ja alle drei Di-
mensionen gleichberechtigt und in ihrer qualitativen Verschiedenheit
gleichursprünglich zu realisieren und zu erfüllen sind. Wegen der pe-
rennierenden Differenz kann keine Dimension die anderen ohne Rest
integrieren, wenngleich die Sozialität von sich aus, in allen ihren
Strukturen, die beiden anderen in höherem Maße als umgekehrt ideell
wie reell zu bestimmen vermag. Doch aufgrund der ursprünglichen
Irreduzibilität jeder Dimension muss auch der Sozialität aus den beiden
anderen Dimensionen, der Naturalität und der Individualität, bestän-
dig qualitativ irreduzible Realität zuwachsen, da sie nicht wie der he-
gel’sche Geist sich dirimiert in seine besonderen Sphären, sich nicht in
sich besondert wie das spekulativ Allgemeine, kurz: da die Sozialität als

wickeln sich wohl in Reaktion auf Veränderungen im Bereich des instrumentellen und
strategischen Handelns, aber sie folgen dabei einer eigenen Logik.« (RHM 163) Daraus
folgt, in Bezug auf Marx (und die an ihn anschließende »Praxisphilosophie«) die Kritik,
dass die gesellschaftliche Praxis nicht »primär als Arbeitsprozess« zu denken sei (DM
396), weil nicht zu erklären sei, wie »die emanzipatorische Praxis aus der Arbeit selbst
[…] hervorgehen« kann (DM 82).
25 S. Edmund Husserl: Phänomenologische Psychologie. Husserliana Bd. IX, Den Haag

1968, § 24 (S. 140); Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die trans-
zendentale Phänomenologie. Husserliana Bd. VI, Den Haag 21962, § 78 (S. 261); u. ö.

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»Welt des Menschen« 26 keine metaphysische Entität ist, sein kann, sein
darf. Es gibt keinen Ersatz für die substantielle sittliche Totalität, wenn
deren absolutes Zentrum auf dem Felde seiner Entäußerung, im End-
lichen, Zufälligen und Besonderen, als einer eigensinnigen Wirklich-
keit, die ihm immer auch unangemessen ist, seine Macht verloren
hat. 27
Aus dieser sowohl prinzipiell einsehbaren als auch phänomenolo-
gisch sich zeigenden Differenz entspringt insbesondere die Problematik
des von Habermas kritisierten Marx’schen Konzepts der Gattung, das
bereits Feuerbach eingeführt hat. Denn hier zeigt sich, trotz schein-
barer Nähe, die Differenz zum Hegel’schen Geist als absolutem Zen-
trum, das der absolute produktive Grund von allem, zumindest dem
Sein nach, wenngleich nicht aller Bestimmtheit des Seienden, ist.
Wenn Habermas es kritisiert, dass Marx die Gattungsgeschichte letzt-
lich als Selbsterzeugungsprozess auffasst und darstellt, so kritisiert er
damit zurecht den Versuch, ein materielles Makrosubjekt äquivalent an
die Stelle des hegel’schen Geistes zu setzen. Doch die Stoßrichtung
seiner Kritik geht nur dahin, dass Marx sich damit »dem hegelschen
Totalitätsdenken nicht entzogen« habe (DM 396) und dass er, wie
Hegel, den »grundbegrifflichen Zwängen der Subjektphilosophie« er-
liege (DM 79).
Nun kann jedoch die Marx’sche Position schwerlich als Subjekt-
philosophie bezeichnet werden, wenn darunter eine »Fortsetzung des
hegelschen Projekts« (DM 75) verstanden werden soll. Was bei Hegel
als »Projekt« zu finden sein sollte, ist sicherlich bereits durch ihn selbst
systematisch erledigt worden. Für die Marx’sche Position aber kommt
Subjektivität schon prinzipiell nur noch in ihrer nach-metaphysischen
Neubestimmung in Betracht, also vor allem als unüberwindlich end-
liche. Doch gerade bei Marx wird vom eigentlich subjektiven Element
in allen gesellschaftlichen Verhältnissen, ihren Konflikten und Krisen
abgesehen. Die sich selbst wissende und bestimmende Subjektivität

26 Karl Marx: Frühschriften (ed. S. Landshut). Stuttgart 1971, S. 208.


27 Dann muss Hegels Grundgedanke, dass das Endliche »ideell« ist (Wissenschaft der
Logik I: 5.172), dass es das Gesetztsein und die Besonderung des Unendlichen, der ab-
soluten Negativität, des Allgemeinen ist, – muss dieser Gedanke, geltend gemacht im
Verhältnis des Staates zu den übrigen Sphären der Sittlichkeit, als »logischer, pantheis-
tischer Mystizismus« und »Mystifikation« des Endlichen, Empirischen überhaupt er-
scheinen, wie Marx in seiner Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie behauptet (Marx:
Frühschriften (s. Anm. 26). S. 23).

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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne

geht ganz über in das selbstlose Element ihrer Entäußerung. Wird in


den Frühschriften, vor allem mit dem Entfremdungsgedanken, noch
eine reflexive Struktur endlicher Subjektivität in Anspruch genom-
men, so verliert doch Subjektivität in den späteren Schriften seit den
Grundrissen jede sachliche Relevanz. Wohl aber werden hier Realitäten
analysiert, die selber nur deshalb Relevanz haben, weil sie subjekt-
unabhängige Bedingungen der Wirklichkeit von Subjekten sind. Nicht
das Subjekt-Sein und Bewusst-Sein überhaupt werden aus diesen Be-
dingungen erklärt, wohl aber ihre Inhalte und Denkweisen. Die
Marx’sche Position bringt in die philosophische Entwicklung der Mo-
derne und die Bewährung des Prinzips dezentrierter Subjektivität die
irreduzible Eigenbedeutung der Dimension der Pluralität, und damit
der Intersubjektivität und Sozialität ein: In allen Aspekten der indivi-
duellen Existenz, grundlegend in ihren naturalen, psychischen und
geistigen Qualitäten, ist ihre intersubjektive Bedingtheit zu berück-
sichtigen, wenn sie im Sinne nachmetaphysischen Denkens begriffen
werden sollen. Die konkrete, geschichtlich gewordene und werdende
Intersubjektivität ist der Ort der Entscheidungen, der Praxis und ihrer
Aufgabe, die Pluralität zur Sozialität zu gestalten.
Jene »grundbegrifflichen Zwänge der Subjektphilosophie« 28, die
Habermas konstatiert, können sich also nur auf die systematischen
commitments der Dialektik des absoluten Subjekts beziehen. Sie hin-
dern zwar in der Tat den Aufbau eines modernegemäßen Pendants
dessen, was vormals »sittliche Gemeinschaft« hieß, nämlich ihren Auf-
bau von unten (ohne eine vorgängige Sicherung für das Gelingen von
oben), insbesondere durch die von Habermas aufgebotenen komple-
mentären Bereiche des kommunikativen Handelns und der Lebens-
welt; und sie können auch, genau genommen, die »moderne« Form
der Selbstverwirklichung eines jeden Einzelnen durch Vergesellschaf-
tung in solidarischer Selbstbestimmung aller, 29 nämlich im Medium
offener und damit riskanter kommunikativer Vernunft gar nicht erst
zulassen – aber das gilt eben nur für die Philosophie, deren Subjekt
noch Prinzip einer Metaphysik gewesen ist und damit auch Subjekt
einer Vernunft, die der Menschenwelt und deren Subjekten, von denen

28 Vgl. DM 306 f., 323, 341, 344 f., 369, 376 (u. a.).
29
Vgl. DM 391 (unten): Dies sollten die »Konnotationen« sein, »die die Subjektivität
einst als uneingelöstes Versprechen mit sich geführt hatte«.

391

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allein eine Philosophie der Moderne handeln kann, immer schon vo-
raus ist. 30

IV. Kommunikative Vernunft und dezentrierte Subjektivität

Begreifen und rekonstruieren wir Habermas’ »Projekt« und den zu-


grundeliegenden Begriff der Moderne aus dem skizzierten Prinzip des
dezentrierten Subjekts, so zeigt sich – entsprechend der eingangs be-
haupteten kritischen Kontinuität zwischen dem philosophischen Prin-
zip der Neuzeit und dem der Moderne – in der Tat eine Schnittmenge
zwischen dem neuzeitlich metaphysischen Prinzip der Subjektivität
und dem Habermas’schen Begriff der Moderne, zumindest dessen Im-
plikationen. Diese Schnittmenge liegt in der Subjektivität als solcher,
der unvertretbaren Qualität des Subjekt-Seins. 31 Um aber von diesem
gemeinsamen Kern von Subjektivität aus nicht aufgrund von Kon-
sequenzen, die nur dem metaphysischen Subjekt zuzuschreiben, mit
dem dezentrierten Subjekt der Moderne hingegen unverträglich sind,
zu einer prinzipiellen Zurückweisung von »Subjektphilosophie« über-
haupt gedrängt zu werden, muss eben die Stellung und Bedeutung von
›Subjekt‹ als metaphysisches, transzendentales und spekulativ-absolu-
tes 32 scharf geschieden werden von derjenigen Stellung und Bedeu-
tung, die es als Subjekt der Moderne in der Bindung an unverfügbare

30
Das gilt nicht nur für die ältere Tradition der Ersten Philosophie, sondern auch (noch)
für die kantische Vernunft, deren »Gesetzgebungen« für Natur und Freiheit »auf dem
Boden der Erfahrung« (s. Kritik der Urteilskraft, Einl., II. Abschnitt) nicht durch
menschliche Kommunikation und Praxis erst konstituiert werden können, sondern
dem Menschen schon »vor aller Erfahrung« zeigen sollen, »was« er in der Erfahrung
ist bzw. sein soll.
31 Dies ist es, was Theodor W. Adorno dem idealistischen Subjekt- bzw. Geistbegriff als

»Erfahrungsgehalt« zugesteht, aber zugleich auch gegen seinen systematischen univer-


salen Begründungsanspruch einklagt, s. Drei Studien zu Hegel. Frankfurt a. M. 1963,
S. 28 f.; Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1966, S. 51 ff., 143, 176 ff. (u. a.).
32 Diese drei Bestimmungen beziehen sich auf die drei Phasen der neuzeitlichen Meta-

physik bis Hegel, wobei die erste noch in der objektiven Metaphysik verbleibt, deren
Subjekt insofern noch zweideutig ist, als es sowohl der selbstreflexive Ort der Erkennt-
nis als auch ein besonderes Seiendes und als solches bloßes Objekt der Erkenntnis ist,
das nicht methodisch immanent gewonnen werden kann, sondern nur als gegeben vo-
rauszusetzen ist. Das spekulativ-absolute Subjekt hingegen bringt im absoluten Selbst-
erkennen als Setzen des Endlichen seine eigene Objektivität immanent hervor. Es ist
deshalb metaphysisch im methodischen und realen Sinne.

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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne

und unausschöpfliche Andersheit allein noch haben kann, und zwar in


jeder der drei gleichursprünglichen Dimensionen der Endlichkeit.
Die näheren Bestimmungen des nach Habermas neuen Paradig-
mas der Intersubjektivität bzw. der »Verständigung« (DM 346), ins-
besondere die sprachlichen Bedingungen kommunikativer Kompetenz
und das darauf beruhende Gefüge der drei fundamentalen Sprachfunk-
tionen bzw. Geltungsansprüche sind allesamt nur möglich als soziale
Ausübung von existierender Subjektivität, als sozialintegrative Praxis
von Subjekten, die im Zuge dieser Art ihrer Vergesellschaftung ihre
biologisch, also natural vorgegebene Differenz ausbilden zur persona-
len und – sit venia verbo – geistigen Individuation. 33 Nur durch solche
Praxis und in ihr gibt es kommunikative Vernunft. Indem Habermas
gegenüber der quasi naturalistischen (»naturwüchsigen«) Geschichts-
auffassung bei Marx, gegenüber den systemischen Rationalitäten der
Ökonomie und der Bürokratie sowie auch gegenüber den »Aporien der
Machttheorie« (DM X., 313 ff.) und der »systemtheoretischen Aneig-
nung« – die in Wahrheit Elimination ist – »der subjektphilosophischen
Erbmasse« (DM 416 ff.) bei Luhmann die verständigungsorientierte
Interaktion vor allem im Medium der kreativen multifunktionalen
Sprachverwendung geltend macht, bindet er eo ipso das Gesamtver-
ständnis der Moderne an eine nachmetaphysisch konzipierte Subjekti-
vität, die von Grund auf einer unverfügbaren, stets nur transitorisch
bestimmbaren und reduzierbaren Alterität ausgesetzt ist – der Alterität
nicht nur der äußeren und der inneren Natur der einzelnen Subjekte,
sondern auch ihrer Pluralität, als seinesgleichen in der Differenz. Von
dieser Differenz real existierender Subjekte geht auch Habermas schon
aus, wenn er kommunikative Kompetenz für Sprecher und Hörer ver-
langt und analysiert, wenn er voraussetzt, dass im Sprachgebrauch
Geltungsansprüche der verschiedenen Art erhoben, verstanden und
gerechtfertigt werden können, und auch, wenn er überhaupt sym-
bolisch vermittelte Interaktionen für möglich hält. So wie Geltungs-
ansprüche überhaupt personale Qualitäten voraussetzen, vergesell-

33 Um die in allen Formen und Funktionen kommunikativen Handelns eo ipso ausge-


übte bzw. vorauszusetzende Subjektivität auch als solche zu erkennen und in ihrem
»Eigenwesentlichen« (s. Anm. 25) zu analysieren trägt die seit Husserl in vielen Vari-
anten entwickelte Phänomenologie der Intersubjektivität auf eine unersetzliche Weise
bei. Darin wird Subjektivität bereits prinzipiell als Pluralität in transzendentaler Inter-
subjektivität angesetzt und verstanden, wie es das Prinzip des dezentrierten Subjekts
verlangt.

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schaftete Individuen, deren jedes ein »inneres Zentrum der Selbst-


steuerung individuell zurechenbaren Verhaltens« 34 bildet, so auch die
diskursethische Begründung moralischer Normen; denn diese bilden
zwar eine Autorität gegenüber den Meinungen und Dezisionen der
Einzelnen, doch sie sind grundsätzlich auch zu rechtfertigen hinsicht-
lich ihres »unpersönlichen« 35 (überindividuellen) Geltungsanspruchs.
Das aber bedeutet, jeder Einzelne muss das Allgemeine, das die Norm
enthält, selbst einsehen, er muss zu einem »rational motivierten Ein-
verständnis« 36 gelangen. Mit dem Prinzip des dezentrierten Subjekts
gedacht: Die je individuell zu vollziehende Subjektivität ist immer auch
schon bezogen auf eine Pluralität von seinesgleichen in der existen-
ziellen Differenz, aber nie nur Teil dieser Pluralität und ihrer inter-
subjektiven Ordnungen. So ist dem Prinzip des dezentrierten Subjekts
zufolge diese Differenz in der Tat mitkonstitutiv für die Gesamtwirk-
lichkeit des Subjekts der Moderne und so auch insbesondere konstitu-
tiv für die Individuen als den koexistierenden Elementarbedingungen
jeder Orientierung an Verständigung und Mitteilung im Sprechen und
Handeln – es muss ihnen dies alles, im Gelingen wie im Scheitern,
etwas bedeuten, es muss sie angehen, ihr Interesse berühren, bestim-
men und zu weiterer Praxis entfalten. 37

34 Habermas: »Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu George Herbert Meads


Theorie der Subjektivität«. In: ND, S. 187–241, hier: S. 190.
35 Vgl. Habermas: »Diskursethik«. In: ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives

Handeln, Frankfurt a. M. 1983, S. 59, 60 (u. a.).


36 Vgl. a. a. O. S. 68, 72; TkH I, 55.

37 Es mag hier offen bleiben, ob diese Hervorhebung der irreduziblen individuell-sub-

jektiven Dimension an den Grundzügen und Strukturen der Intersubjektivität bei Ha-
bermas tatsächlich als eine Kritik verstanden werden muss, oder ob damit nicht eigent-
lich nur geltend gemacht wird, was ohnehin in der Theorie des kommunikativen
Handelns impliziert ist, aber in den meisten Texten von Habermas kaum thematisiert
wird, da diese das Verhältnis von Individualität und Sozialität überwiegend (gemäß dem
»Paradigma der Verständigung«) von der Seite der Intersubjektivität angehen und dar-
stellen – von der aus zwar überhaupt erst irgendetwas thematisiert werden kann, das
dennoch nicht in diesem intersubjektiv geregelten Verfahren der sprachlichen Thema-
tisierung erst erzeugt werden muss. Deshalb darf auch der Intersubjektivität kein Pri-
mat eingeräumt werden. Insofern scheint hier nach dem Kriterium des Prinzips des
dezentrierten Subjekts doch eine letzte Einseitigkeit vorzuliegen, denn dieses verlangt
mit der konstitutiven Gleichursprünglichkeit von Naturalität, Individualität und Sozia-
lität (des Subjekts) auch deren strenge Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung. Dem
entspricht die Grundthese von Henrich in dieser Frage (in: »Was ist Metaphysik – was
Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas«. In: Konzepte. Frankfurt a. M. 1987,

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Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler

Subjektivität wäre also nur dann im Diskurs der Moderne etwas


zu Überwindendes, wenn damit eine Subjektivität gemeint wäre, die
sich als unabhängiges Erstes und Zentrum zu allem etabliert, nicht aber
die von Grund auf dezentrierte Subjektivität, die als Medium des Ver-
stehens in allen symbolisch vermittelten Interaktionen und ihrer kom-
munikativen Vernunft unentbehrlich ist. Oder, wie Habermas selbst zu
Beginn des Schlusskapitels (des Philosophischen Diskurses) sagt: Die
Zurückweisung von Subjektivität darf nicht undialektisch erfolgen
(DM 391), wenn der normative Gehalt der Moderne überhaupt erkannt
und in Geltung gesetzt werden soll. Verstehen und rekonstruieren wir
die hiermit geforderte Dialektik als bestimmte Negation des neuzeit-
lich metaphysischen Subjekt-Prinzips, so ergibt sich daraus zugleich
der innerphilosophisch legitimierbare Ursprung der Moderne.

Entgegnung von Jürgen Habermas

Ich bin Klaus Erich Kaehler sehr dankbar für eine produktive Gegen-
lektüre zu der Stellung, die ich Hegel im historischen Zusammenhang
des Philosophischen Diskurses der Moderne eingeräumt habe. Im sach-
lichen Ergebnis stimmen wir überein, freilich nicht in der Herleitung
und der begrifflichen Fassung dieses Resultats. Kaehler gelangt auf
dem Wege einer immanenten Kritik Hegels zu jenem Argument, das
zum Bruch der Junghegelianer von ihrem Lehrer und damit zum
»Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts« (Löwith) geführt hat. Was
die Junghegelianer zu unseren Zeitgenossen macht, ist der Respekt
des endlichen Geistes vor dem kontingenten und nur erfahrungswis-
senschaftlich zugänglichen »Rest«, den die »Differenz von spekulativ

S. 11–43): »[…] dass sich die Sprachfähigkeit nur in einem mit dem spontanen Hervor-
gang von Selbstverhältnis entfalten kann« (a. a. O., S. 35). Mir scheint allerdings, dass
dies nichts ist, was Habermas unbedingt bestreiten müsste, wenngleich er es selten so
deutlich ausdrückt wie im folgenden Satz: »Die Identität vergesellschafteter Individuen
bildet sich zugleich im Medium der sprachlichen Verständigung mit anderen und im
Medium der lebensgeschichtlich-intrasubjektiven Verständigung mit sich selbst.« (In:
»Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu George Herbert Meads Theorie der Sub-
jektivität« (s. Anm. 34), S. 191). Das ist strenge Reziprozität und zugleich verschiede-
ner, qualitativ irreduzibler Vollzug beider Seiten! Formell gesagt: Sie bilden füreinander
wechselseitig notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen.

395

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Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler

begreifbarer Realität und faktischer, in ihrer Bestimmtheit vom Begriff


frei gelassener, durch ihn nicht vollständig bestimmbarer Realität« üb-
rig lässt. Das nachmetaphysische Denken insistiert »auf dem irreduzi-
blen Eigenwert des Endlichen in seiner qualitativen Mannigfaltigkeit,
Diversität und unhintergehbaren Zeitlichkeit.« Dieses Argument zielt
über die triviale erkenntnisrealistische Verteidigung einer objektiven,
von unseren Beschreibungen unabhängigen Welt hinaus. Es bewahrt
nämlich den Bezug zur Spontaneität der welterzeugenden Subjektivi-
tät. Feuerbach geht es um die materialistische bzw. existentialistische
Betonung der Faktizität der Natur, die als kontingente Herausforde-
rung begegnet und zugleich subjektiv, als eigene organische Natur ge-
lebt wird; Marx geht es um die Faktizität gesellschaftlicher Praktiken,
in welche die beteiligten Subjekte ebenso verstrickt sind, wie sie diese
ihrerseits im Vollzug interpretieren und verändern; Kierkegaard geht
es um die Faktizität von Geschichte und Lebensgeschichte, die das er-
lebende Subjekt durchdringen und prägen, aber zugleich auf seine je
eigene und unvertretbare Individualität verweisen. Sie alle rekurrieren
jeweils auf die Naturalität, die Vergesellschaftung und die radikale In-
nerlichkeit des Subjekts als den Grund der Heterogenität von Begriff
und Wirklichkeit.
Diese junghegelianischen Denkrichtungen, die aus dem »Ver-
wesungsprozess des absoluten Geistes« (Marx) hervorgegangen sind,
haben mich schon in der Einleitung zu meiner Dissertation beschäftigt.
Allerdings habe ich damals noch nicht die Lücke gesehen, die erst die
radikaldemokratischen amerikanischen Pragmatisten – gewissermaßen
in Ergänzung zu Marx – ausgefüllt haben. Sie bilden eine vierte jung-
hegelianische Partei. Die Pragmatisten haben nämlich, wie schon Ha-
mann, Herder und Humboldt, die zentrale Bedeutung von Sprache und
sprachlicher Kommunikation entdeckt. Vor allem Peirce, Royce und
Mead, aber auch William James haben die beim frühen Hegel angelegte
Denkfigur der Individuierung durch Vergesellschaftung kommunikati-
onstheoretisch aufgenommen. Ihr Egalitarismus war gegen jede Art
von Kollektivismus geimpft. Die Differenz zu der – insoweit geteilten
– Interpretation von Klaus Erich Kaehler ergibt sich im Hinblick auf
den Stellenwert, den die sprachliche Kommunikation für die junghege-
lianische Wende der Subjektphilosophie einnimmt.
Aus meiner Sicht genügt es nicht, die Dezentrierung des absolu-
ten Subjekts in den drei Dimensionen von Leiblichkeit, Sozialität und
Geschichtlichkeit zu beschreiben. Wir müssen die Detranszendentali-

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Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler

sierung von Kants ursprungslos transzendentalem Bewusstsein jen-


seits von Raum und Zeit oder die Dezentrierung des Geistes, den Hegel
als eine alle raumzeitlichen Prozesse in sich begreifende Totalität
denkt, erklären. Dafür bietet sich die Sprache als das Medium an, das
den Gedanken der Detranszendentalisierung der schöpferischen Sub-
jektivität und der Dezentrierung des sich selbst bewegenden Geistes
auf doppelte Weise erklären kann, sowohl philosophisch wie empirisch.
Philosophisch fallen wir nicht (wie der Empirismus, dessen geis-
tesgeschichtliche Linie zum heutigen, szientistisch verengten Natura-
lismus führt) auf das vor-Kantische Niveau zurück, wenn wir, gut ma-
terialistisch, von einer naturgeschichtlichen Zäsur ausgehen, nämlich
von der kommunikativen Vergesellschaftung von individuellen Exem-
plaren einer hochentwickelten Spezies von Schimpansen. Denn aus
philosophiehistorischer Sicht geht damit die welterzeugende Sponta-
neität vom erkennenden transzendentalen Subjekt auf eine in der Welt
existierende Sprachgemeinschaft über. Deren kommunikativ vergesell-
schafteten individuellen Mitglieder finden sich dann zwar jeweils im
sprachlich erschlossenen Raum ihrer intersubjektiv geteilten Lebens-
welt vor, aber im kommunikativen Umgang miteinander können sie
nicht nur Nein sagen, sie müssen zu Geltungsansprüchen Stellung
nehmen. Auf diesem Boden eines andauernden Dissensrisikos ver-
arbeiten sie, im intelligenten Umgang mit einer überraschenden Um-
gebung, innovative Erfahrungen und schöpfen aus diesen Lernprozes-
sen die revisionäre Kraft, die vorgeschossenen Interpretationen durch
bessere zu ersetzen sowie tradierte Lebens- und Abhängigkeitsverhält-
nisse zu revolutionieren. Auch unter empirischen Gesichtspunkten der
sozialen Evolution führt der Ansatz beim Medium der Sprache auf die
richtige Spur – es ist offenbar die einschneidende Umstellung auf den
Modus der sprachlichen Vergesellschaftung, die zur Rekonstruktion
der Bewusstseinsleistungen unsrer in der natürlichen Evolution nächs-
ten Vorfahren geführt hat. Der neuerdings von Tomasellos Unter-
suchungen beleuchtete evolutionäre Pfad vom selbstbezogenen subjek-
tiven Geist der Schimpansen zum objektiven Geist des homo sapiens,
also zum symbolisch erschlossenen Raum intersubjektiv geteilter Be-
deutungen, hat nicht nur das kognitive Potential eines an Umfang und
Gewicht gewachsenen Gehirns stimuliert und entbunden, sondern das
entdifferenzierte Antriebspotential in einem ganz neuen Netz rituell
eingeübter Normen eingefangen.
Mit dem Stichwort »objektiver Geist« kommt philosophie-

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Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler

geschichtlich die spezifische Leistung ins Spiel, mit der sich Hegel ge-
genüber Kant profiliert. Er gehört nach Hamann und Herder und mit
Humboldt und Schleiermacher zu den ersten, die das neue historische
Denken philosophisch ernstnehmen. Hegel ist der erste Philosoph, der
systematisch die von den entstehenden Geistes- und Sozialwissen-
schaften erforschten Objektbereiche von Kultur und Gesellschaft, also
die Welt der Symbole und sprachlich vermittelten Interaktionen in die
Entwicklung des »sich selbst bewegenden« Geistes einbezieht. Das be-
deutet eine Transformation der Erkenntnistheorie in eine ganz neue
Philosophie des Geistes und die Erweiterung der klassischen Themen
der Philosophie um die Aufgabe einer Selbstverständigung der Moder-
ne. Dem entspricht Hegels Unterscheidung der »neuen« von der »neu-
esten Zeit«. In diesen Hinsichten geht Hegel über Kant wesentlich
hinaus. Aber in anderer Hinsicht will Hegel hinter diesen ersten nach-
metaphysischen Denker zurückgehen, weil er das – aus nachmetaphy-
sischer Sicht verstiegene – Ziel hatte, die Subjektphilosophie der Neu-
en mit der Ontologie der Alten zusammenzuführen. Deshalb scheint
mir die lineare Konstruktion der neueren Philosophiegeschichte, die
Klaus Erich Kaehler anbietet – vom metaphysischen über das transzen-
dentale zum spekulativen Subjekt – die wirklichen Schübe in der Ge-
schichte des modernen Denkens eher einzuebnen. Kant markiert die
Wende zum nachmetaphysischen Denken; und diese wird, nachdem
Hegel für die Einholung des historischen Denkens einen überschwäng-
lichen Preis bezahlt hatte, von den Junghegelianern (einschließlich der
amerikanischen Pragmatisten) – allerdings auf einem von Herder, Ha-
mann und Humboldt vorbereiteten Boden – vollzogen. Als ein Paradig-
menwechsel erscheint diese Revolution der Denkungsart allerdings
erst aus der Retrospektive des 20. Jahrhunderts.

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Hauke Brunkhorst

Marxismus und Evolution

Wie die meisten sozialwissenschaftlichen Theorien ist die Theorie von


Marx Evolutionstheorie. Obwohl er die historische Untersuchung der
Klassenkämpfe von der Entwicklungslogik des kapitalistischen Sys-
tems trennt, unterscheidet Marx nicht deutlich genug, so ein alter Ein-
wand von Habermas, zwischen Arbeit und Interaktion und muss des-
halb den Klassenkampf der Logik des Kapitals assimilieren (1). 1
Obwohl Marx die großen Revolutionen in seinen historischen Arbei-
ten immer als Rechtsrevolutionen verstanden hat, hindert die begriff-
liche Vorentscheidung für den – von Habermas, Apel und vielen an-
dern zu Recht kritisierten – Primat der Ökonomie ihn daran, den
normativen Eigensinn der Revolution und die Rolle des Rechts als –
wie Habermas sagt – Schrittmacher der Evolution richtig zu verstehen
(2). 2 Obwohl Marx den inneren Zusammenhang von funktionaler Dif-
ferenzierung und funktionsabhängiger Klassenbildung richtig erkannt
hat, reduziert er ihn, statt ihn zu generalisieren, auf das ökonomische
Subsystem (3). 3 Schließlich bleibt Marx im Europa der weißen Arbei-
terklasse. Obwohl er – am Beginn des global age 4 – erkannt hat, dass
wir längst im Zeitalter der Weltmärkte, Weltliteraturen und Weltrevo-
lutionen leben, hat er doch keinen adäquaten Begriff der Weltgesell-
schaft und der Globalisierung (4).

1 Jürgen Habermas: »Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ›Phi-


losophie des Geistes‹«. TWI, S. 9–47; ders.: Erkenntnis und Interesse.
2 Ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus.

3
Ders.: Theorie des kommunikativen Handelns II.
4 Charles Bright/Michael Geyer: »Benchmarks of Globalization: the Global Condition,

1850–2010«. In: Douglas Northrop (Hrsg.): A Companion to World History. Malden


(Mass.) u. a. 2012, S. 285–300.

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Hauke Brunkhorst

1. Take-off der sozialen Evolution: Arbeit und Interaktion

Weil alles Evolution ist, kennen die Erfinder des Historischen Materia-
lismus nur eine »einzige Wissenschaft«, »die Wissenschaft der Ge-
schichte«. 5 Aber die verschiedenen Disziplinen beziehen sich auf sehr
verschiedene Antriebsmechanismen und Emergenzniveaus der Evolu-
tion. Schon für Marx gilt Parson’s Diktum, in der sozialen Evolution
habe die Variation symbolischer Formen die genetische Variation er-
setzt und die organische Evolution in die Umwelt des Gesellschaftssys-
tems abgedrängt. 6
Der Antriebsmechanismus der sozialen Evolution ist bei Marx das
Wachstum der Produktivkräfte. Er kennt aber noch einen zweiten An-
triebsmechanismus, den Klassenkampf, den er in einem so weiten Sinn
versteht, dass »alle Geschichte« als »die Geschichte von Klassenkämp-
fen« begriffen werden kann. 7 Dieser weite Sinn von Klassenkämpfen ist
auch bei Marx, das zeigen seine historischen Arbeiten, der eines inte-
ressegeleiteten Konflikts um Normen und Werte. 8 Aber Marx neigt
dazu, den grundlegenden Unterschied zu verwischen und dem Klassen-
kampf die rein instrumentelle Rolle eines revolutionären Geburtshel-
fers kräftig wachsender Produktivkräfte zu reservieren. Das Wachstum
der Produktivkräfte ist dann die Quelle von Variation, der Klassen-
kampf der Selektionsmechanismus. Deshalb erklärt Marx den take-off
der sozialen Evolution durch Arbeit, also dadurch, dass instrumentelles
und strategisches Handeln durch soziale Interaktion gelernt werden.
Aber genau das können, wie Tomasellos Untersuchungen zeigen, auch
große Affen – »(They) learn instrumental actions from others socially« 9

5 Karl Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. MEW 3, S. 18.


6
Talcott Parsons: »Evolutionary Universals in Society«. In: American Sociological Re-
view 29 (1964), S. 339–357, hier S. 341.
7 Marx/Engels: Das Manifest der der kommunistische Partei. Stuttgart 1997, S. 19. Zur

Unterscheidung zweier Antriebsmechanismen der Evolution bei Marx: Klaus Eder:


»Collective Learning Processes and Social Evolution: Towards a Theory of Class Conflict
in Modern Society«. In: Tidskrift för Rätssociologi 1 (1983), S. 23–36.
8 Zuletzt: Hauke Brunkhorst: »Kommentar« In: Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bo-

naparte. Frankfurt a. M. 2007; Volkan Cidam: Geschichtserzählung im Kapital. Baden-


Baden 2012.
9
Vgl. Michael Tomasello: Origins of Human Communication. Cambridge 2008, S. 213,
s. a. S. 181 ff.

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Marxismus und Evolution

– ohne dass deren symbolische Kommunikation je eine soziale Evoluti-


on in Gang hätte setzen können. 10
Das liegt daran, dass die großen Affen (wie der homo oeconomicus
oder der Spieler der rational-choice theories) zwar instrumentell oder
strategisch kommunizieren und lernen können. Aber sie können nicht
verständigungsorientiert kommunizieren und lernen. 11 Sie können
deshalb den normativen Symbolgebrauch nicht verstehen, keiner
Norm folgen und ihr privates Wissen auch nicht an die nächste Gene-
ration weitergeben. Der Variationspool der Evolution bleibt leer, weil
weder eine Aussage noch eine Norm noch eine Evaluation je bestritten
werden könnten. Erst durch die Einführung von reziprok bindenden
Normen wächst das Streitpotential kommunikativ handelnder Tiere
ins Unermessliche und »der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit
des Negativen« kann beginnen. 12 Noch die aggressivsten Affen, die
Schimpansen, haben, wie Wingert feststellt, deshalb einen besseren
Menschenrechtsrecord als ihre gerechtigkeitsbesessenen Verwand-
ten. 13 Insofern hatte Nietzsche Recht, wenn er der moralischen Einstel-
lung die Schuld am menschlichen Elend gab. Darin aber hat er zu Un-
recht eine aufhebbare Degeneration der Evolution gesehen, ist der
Streit um Normen doch – mit Apel – konstitutiv für die menschliche
Evolution. 14
Nur weil wir nicht umhin können, uns wechselseitig an Normen
zu binden, füllt sich der Variationspool der Evolution mit kommunika-
tiven Negationsleistungen und es kommt zum take-off einer spezifisch
sozialen Evolution. Variation kommt in menschlichen Gesellschaften
nur durch das, was Habermas und Tugendhat nein-Stellungnahmen

10 A. a. O., S. 213; vgl. a. Tomasello: Why We Cooperate. Cambridge 2009, S. 23, 25 f.,

33 f. Weitere Forschungsergebnisse: Ian C. Gilby: »Meat sharing among the Gombe


chimpanzees«. In: Animal Behavior 71, (2009), S. 953–963 (http://www.duke.edu/~
ig25/gilby_2006.pdf); Gilby et al., »Ecological and social influences on the hunting be-
haviour of wild chimpanzees«. In: Animal Behavior 72 (2009), S. 169–180 (http://www.
duke.edu/~ig25/gilby_etal_2006.pdf).
11 Zur verständigungsorientierten Kommunikation: Habermas: Theorie des kommuni-

kativen Handelns I und II.


12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hamburg 1955, S. 24.

13 Lutz Wingert: »Die elementaren Strukturen menschlicher Sozialität«. In: Deutsche

Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), S. 158–163, hier: S. 162.


14 Friedrich Nietzsche: Genealogie der Moral. Sämtliche Werke Bd. 8. München 1980;

zur Kritik: Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs
zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a. M. 1988, 388–390.

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Hauke Brunkhorst

nennen, zustande. 15 Soweit befindet sich Habermas ganz in Überein-


stimmung mit Luhmann, für den der take-off der sozialen Evolution
sich auch nur »durch eine Kommunikationsinhalte ablehnende Kom-
munikation« erklären lässt: »Die Ablehnung widerspricht der Annah-
meerwartung oder auch einfach einer unterstellten Kontinuität des ›so
wie immer‹. Alle Variation tritt mithin als Widerspruch auf – nicht im
logischen, aber im ursprünglicheren dialogischen Sinn.« 16 Wenn es
aber der versprachlichte Konflikt um Normen ist, der Evolution zu-
stande bringt, dann ist das genau das, was Marx in seinen historischen
Arbeiten unter Klassenkampf versteht, steht in ihm doch »Recht wider
Recht.« 17 Kurz: das Zustandekommen sozialer Evolution kann nicht
durch Arbeit, auch nicht – wie bei Tomasello – durch helping intention
und das kooperative Wesen des Menschen erklärt werden, sondern nur
durch Streit erzeugende Interaktion.
Durch kommunikative Negationen werden jedoch, und hier tren-
nen sich Apel und Habermas von Luhmann und Marx, nicht nur Er-
wartungen enttäuscht, sondern immer auch Geltungsansprüche be-
stritten (Apels »drittes Paradigma«). 18 Das aber bedeutet, dass gerade
der revolutionäre Streit, in dem Recht gegen Recht steht, nicht nur mit
»Gewalt« »entschieden«, sondern immer auch diskursiv fortgesetzt
werden kann und muss. 19 Würde der Streit nur durch Gewalt entschie-
den und der Diskurs unterdrückt, käme die Evolution mangels Negati-
onszufuhr rasch zum Erliegen. Nicht zuletzt daran ist der bürokrati-
sche Sozialismus gescheitert. 20
Alle großen Revolutionen sind denn auch ein einziges »großes
Rauschen des Diskurses« (Foucault). Das freilich hat vor der kommuni-
kativ-linguistischen Transformation der Philosophie (Apel) und der
Sozial- und Geschichtswissenschaften (Luhmann/ Habermas), die sich
erst im späteren Verlauf des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat, kaum

15 Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie.

Frankfurt a. M. 1976; Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns.


16 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. (mit durchgehender Sei-

tenzählung). Frankfurt a. M., S. 461.


17 Marx: Das Kapital. Bd. I. MEW 23, S. 249; eine interessante Alternative zu dieser

Marx-Interpretation entwickelt die brillante Arbeit von Cidam: Geschichtserzählung


im Kapital. A. a. O. (s. Anm. 8).
18 Apel: Paradigmen der Ersten Philosophie. Frankfurt 2011.

19
Marx: Das Kapital. Bd. I. MEW 23.
20 Eder: »Collective Learning Processes and Social Evolution«. A. a. O. (s. Anm. 7).

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Marxismus und Evolution

jemand systematisch in Rechnung gestellt. 21 Im großen Rauschen des


revolutionären Diskurses sind Argumentation, Macht und Gewalt
zwar immer ineinander verschlungen, was aber nicht heißt, dass nicht
jeweils zwischen Argumenten und Gewalt unterschieden werden
könnte und von den Akteuren auch tatsächlich unterschieden wird.

2. Normative constraints: Klassenkampf und Revolution

Anders als Marx muss man den Klassenkampf mit Klaus Eder deshalb
als eigenständige, vom Wachstum der Produktivkräfte unabhängige
Quelle evolutionären Wandels verstehen. 22 Ein und dieselbe Evolution
wird von zwei sehr verschiedenen Mechanismen evolutionären Wan-
dels fortgetrieben. Diese Unterscheidung lässt sich an jüngere, wenn
auch noch sehr umstrittene Entwicklungen des Neo- und Postdarwi-
nismus anschließen. 23 Einmal gibt es wie in der klassischen Theorie
natürlicher Selektion auch in der Gesellschaft adaptiven, inkrementel-

21 Vgl. Brunkhorst: »Contemporary German Social Theory«. In: Gerard Delanty (Hg.):
Handbook of Contemporary European Social Theory. London/New York, S. 51–68.
22 Eder: »Collective Learning Processes and Social Evolution«. A. a. O. (s. Anm. 7),

S. 23.
23 S. nur Ernst Mayr: »Speciational Evolution or Punctuated Equilibria«. In: Albert

Somit/Steven A. Peterson (Hg.): The Dynamics of Evolution. Ithaca (New York) 1982,
S. 21–48 (http://www.stephenjaygould.org/library/mayr_punctuated.html); Niles El-
dredge/Stephen Jay Gould: »Punctuated equilibria: an alternative to phyletic gradual-
ism«. In: T. J. M. Schopf (Hg.), Models in Paleobiology. San Francisco 1972, S. 82–115
(http://www.blackwellpublishing.com/ridley/classictexts/eldredge.pdf); Stephen Jay
Gould/Richard C. Lewontin: »The Spandrels of San Marco and the Panglossian Para-
digm: A Critique of the Adaptationist Programme«. In: Proceedings of the Royal Socie-
ty of London. Series B, Biological Sciences, Vol. 205, No. 1161, The Evolution of Adap-
tation by Natural Selection. (Sep. 21, 1979), S. 581–598 (http://www.life.illinois.edu/ib/
443/Gould%20&%20Lewontin.pdf); Gould: »Episodic change versus gradualist dog-
ma«. In: Science and Nature 2 (1978), S. 5–12; Gould: The Structure of Evolutionary
Theory. Cambridge 2002; Connie J. G. Gersick: »Revolutionary Change Theories: A
Multilevel Exploration of the Punctuated Equilibrium Paradigm«. In: The Academic
Management Review 16 (1991), S. 10–36; Gisela Kubon-Gilke/ Ekkart Schlicht: »Ge-
richtete Variationen in der biologischen und sozialen Evolution«. In: Gestalt Theory 20
(1998), S. 48–77, hier S. 68 (www.semverteilung.vwl.uni-muenchen.de); Quentin D.
Atkinson/Andrew Meade/Chris Venditti/Simon J. Greenhill/Mark Pagel: »Languages
evolve in punctual bursts«. In: Science 319 (2008), S. 588; Thomas S. Kuhn: Die Struk-
tur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 1967; Imre Lakatos: The Metho-
dology of Scientific Research Programmes. Philosophical Papers V.I. London 1974.

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Hauke Brunkhorst

len oder graduellen Wandel durch soziale Selektion. Er kann durch das
Wachstum der Produktivkräfte bzw. allgemeiner durch das Wachstum
der Systemkomplexität erklärt werden. Aber schon für Darwin war
natural selection zwar der wichtigste, aber nicht der einzige Mechanis-
mus evolutionären Wandels. 24 Daneben gibt es auch (relativ) plötzli-
chen, katalytischen oder revolutionären Wandel. Revolutionärer Wan-
del kann nun aber nicht durch verbesserte Anpassung und natural oder
social selection erklärt werden, denn für evolutionäre Anpassungsleis-
tungen fehlt ganz einfach die Zeit. In der Biologie entspricht diese
Form nicht-adaptiven Wandels den punctuated equilibria, die Gould,
Lewontin und Mayr entdeckt haben und (u. a.) durch speciation, die
Isolation von Teilpopulationen, erklären. In der Wissenschaftsevolu-
tion wird ähnlich zwischen normal und revolutionary science (Kuhn)
unterschieden und der revolutionäre Wandel durch plötzliche Krisen
degenerierender Forschungsprogramme erklärt (Lakatos). Dabei geht
es, wie in den großen sozialen Revolutionen, aber nicht nur um Ver-
drängungswettbewerb (Kuhn), sondern immer auch um das bessere
Argument (Lakatos, Apel). In der sozialen Evolution verhält es sich
ähnlich. Revolutionärer Wandel wird nicht durch das Wachstum der
Produktivkräfte oder der Systemkomplexität hervorgerufen, sondern
durch die Eigenlogik diskursiv eingebetteter sozialer Kämpfe.
Das Wachstum der Systemkomplexität verbessert, wenn es gut
geht, zwar die Anpassung der sozialen Systeme an ihre Umwelt. Da-
durch werden »sozial integrierte Gruppen«, wie Habermas schreibt,
»systemisch stabilisiert«. 25 Die systemgesteuerte Verbesserung der
Anpassungsleistung ist aber blind für die Opfer und Verlierer der Ge-
schichte. Recht und Unrecht spielen nur eine Rolle, sofern sie der ver-
besserten Anpassung dienen. In Revolutionen geht es aber um etwas
anderes, das Kant trotz des offensichtlichen Terrors und der normati-
ven Unmöglichkeit, ein solches Experiment ein zweites Mal empfehlen
zu können, in moralischen Enthusiasmus versetzt hat. Die Revolution
hat ihn deshalb moralisch erregt, weil er in ihr ein »Geschichtszeichen«
des Fortschritts zum Besseren zu erkennen glaubte. 26 Revolutionen
sind nämlich Ausdruck von Klassenkämpfen, in denen sich die immer

24
Gould: The Structure of Evolutionary Theory. A. a. O. (s. Anm. 23).
25 Habermas: TkH II, S. 228; vgl. Amin Nassehi: Der soziologische Diskurs der Moder-
ne. Frankfurt a. M. 2006, S. 126 f.
26 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. Werke XI, Frankfurt a. M. 1977, S. 361.

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Marxismus und Evolution

wieder zum Schweigen gebrachten Opfer und Verlierer der Geschichte


für einen historischen Augenblick zu Wort melden. In Revolutionen
wird der verletzte »sense of injustice« (Barrington Moore) unterdrück-
ter und ausgebeuteter Klassen und Gruppen der Gesellschaft zur rä-
chenden Gewalt. Der »symbiotische Mechanismus« (Luhmann) rä-
chender Gewalt ist die Deckungsreserve kommunikativer Vernunft. 27
Es ist fast wie bei den Propheten: Nicht die Gerechtigkeit soll sich der
Anpassung, die Anpassung soll sich der Gerechtigkeit unterwerfen.
»Der Mensch revoltiert nicht fürs Brot allein« schreibt der Chicagoer
Revolutionshistoriker Robert I. Moore. 28
Zumindest in den großen Revolutionen geht es niemals nur um
materielle Klasseninteressen, sondern immer auch um Ideen egalitärer
Freiheit. Sie »stellen«, in leichter Abwandlung Max Webers, der Evo-
lution die »Weichen«. 29 Ganz so wie der katalytisch erzeugte neue
»Bauplan« (Gould) eines Organismus der sich fortsetzenden adaptiven
Evolution physiologische constraints (Gould) auferlegt, 30 so setzen
auch die großen und erfolgreichen Revolutionen der erblindeten
Selbsterhaltung normative Schranken. In diesem Sinne sind Klassen-
kämpfe und Revolutionen normative, gleichermaßen individuelle wie
kollektive Lernprozesse – oft genug mit tödlichem Ausgang (Kluge) 31.
Die normativen Anpassungsbeschränkungen der Revolution müs-
sen sich, um im Guten wie im Bösen wirksam zu werden, in einer
neuen Verfassungsordnung und einem neuen Recht verkörpern. Alle
großen Revolutionen sind deshalb, wie schon Marx wusste und wie
mittlerweile eine lange Reihe historischer Studien zeigt, Rechtsrevolu-
tionen. 32 In ihnen ergreift eine neue Idee egalitärer Freiheit die Massen

27 Barrington Moore: Injustice. The Social Bases of Obedience and Revolt. New York

1978. Zum Vorrang des Negativen im Prozess normativer Universalisierung: Jean Pia-
get: Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt 1973, S. 311. Vgl. a.: Hannah Arendt:
Vom Leben des Geistes 2: Das Wollen. München 1979, S. 91 (mit Bezug auf Augusti-
nus). Zur rächenden Gewalt: Brunkhorst: »Kommunikative Vernunft und rächende Ge-
walt«. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 6 (1983), S. 7–34; mit weiteren
Differenzierungen: Brunkhorst: »The Man Who Shot Liberty Valence – Von der rä-
chenden zur revolutionären Gewalt«. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für His-
torische Anthropologie 15 (Heft 1) (2006): Performanz des Rechts, S. 159–167.
28 Robert I. Moore: Die Erste Europäische Revolution. München 2001, S. 169.

29
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen 1978.
30 Gould: The Structure of Evolutionary Theory. A. a. O. (s. Anm. 23).

31
Alexander Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang. Frankfurt a. M. 1999.
32 S. nur Eugen Rosenstock-Huessy: Die europäischen Revolutionen und der Charakter

405

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.
Hauke Brunkhorst

und prägt sich in einer neuen Rechtsform aus. In diesem Sinne ist das
Recht der Schrittmacher der Evolution. Das heißt: das in revolutionä-
ren Legitimationskrisen geschaffene Recht gibt der nachfolgenden,
graduell und inkrementalistisch fortlaufenden Evolution eine neue
Richtung vor, erschließt ihr einen neuen Entwicklungspfad, auf dem
der breite und unübersichtliche Strom alltäglicher Kommunikation sie
dann ziel- und planlos forttreibt, und der Revolution, so Marx, in der
die »Extase […] der Geist jedes Tages« ist, folgt oft genug »ein langer
Katzenjammer«. 33
Die revolutionären Ideen, Verfassungs- und Rechtsprinzipien
können (und werden) in der Folge verraten, verbogen, ad acta gelegt
oder in ihr Gegenteil verkehrt, neuen Herrschaftsinteressen dienstbar
gemacht und die verfassungsrechtlich verwirklichten Menschenrechte
schließen die Schwarzen vom Menschen aus. Aber die revolutionären
Ideen »vergessen sich nicht mehr« (Kant). Die Sklaven Haitis werden
die ersten sein, die die Menschenrechte ernst nehmen, und, in Kennt-
nis der Französischen Menschenrechtserklärung und mit der Marseil-
laise auf den Lippen, gegen das französische Menschenrechtsregime in
die Schlacht ziehen: »Norm- und besonders Verfassungstexte setzt
man, mit unaufrichtigem Vorverständnis konzipiert, letztlich nicht un-
gestraft. Sie können zurückschlagen.« 34 Das ist der ganze Unterschied
zwischen objektivem Geist und der Realabstraktion funktionaler Sys-
temimperative. Das Recht ermöglicht es jedenfalls den Akteuren, selbst
zwischen seiner verdinglichenden Indienstnahme für die Stabilisierung
von Herrschaft und Ausbeutung und der Stabilisierung ihrer egalitä-
ren Freiheit zu unterscheiden. Die revolutionären Bauern, Bürger und
Handwerker von 1525 haben sich auf den Schwaben- und Sachsenspie-
gel und das kanonische Recht berufen, um es gegen seine herrschafts-
konforme Auslegung durch eine submissive Juristenklasse stark zu
machen.

der Nationen. Stuttgart 1958 (1931); Harold Berman: Law and Revolution. The Forma-
tion of the Western Legal Tradition. Cambridge (Mass.) 1983; Berman: Law and Revo-
lution II: The Impact of the Protestant Reformation on the Western Legal Tradition.
Cambridge (Mass.) 2006; James A. Brundage: Medieval Canon Law. London 1995; Bri-
an Tierney: Religion, Law, and the Growth of Constitutional Thought 1150–1650.
Cambridge 1982; John Witte: Law and Protestantism: The Legal Teachings of the Lu-
theran Reformation. Cambridge 2002.
33 Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. A. a. O. (s. Anm. 8), S. 13.

34
Friedrich Müller: Wer ist das Volk? Eine Grundfrage der Demokratie. Elemente einer
Verfassungstheorie VI. Berlin 1997, S. 56.

406

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Marxismus und Evolution

3. Funktionale Differenzierung und Klassenkampf

Karl Marx erklärt die Verschränkung von Evolution und Revolution


mit dem krisenhaften Verlauf funktionaler Differenzierung. Die funk-
tionale Differenzierung des Wirtschaftssystems beruht auf den, aus der
Philosophie des Selbstbewusstseins bekannten Paradoxien selbstrefe-
rentieller Schließung – im Kapital stehen dafür die Kreislaufformeln
des »Profits um des Profits willen« (G-W-G’) und des »sich selbst he-
ckenden Werts« (G-G’). 35 Die Paradoxien selbstreferentieller Schlie-
ßung schaffen – wie jeder Computerbenutzer weiß – eine hoch riskante
Lage jederzeit möglicher Systemabstürze. Der Zusammenbruch von
Lehman Brothers war ein solcher Systemabsturz. Das Risiko von Sys-
temabstürzen ist unvermeidlich, lässt sich aber durch zeitliche Unter-
brechung in Quellen einer nie zuvor ereichten, marktwirtschaftlichen
Produktivität verwandeln und durch den richtigen Gebrauch von
Macht zumindest minimieren. 36 Dengs (Maos Nachfolger) Formel war,
der Sozialismus braucht die Marktwirtschaft, um die Produktivkräfte
zu entfesseln. Nun wird auch China die Geister, die es rief, nicht mehr
los. Denn das System des Kapitals verdankt seine ungeheure Produkti-
vität seiner inhärent katastrophischen Tendenz. 37
Da dieses System jedoch auf die beständige Umwandlung lebendi-
ger in tote Arbeit angewiesen ist, erzeugt die realwirtschaftliche Ab-
hängigkeit des Kapitals vom Arbeitsmarkt zwangsläufig soziale Klas-
sengegensätze und andere, »kapitalorientierte Konflikte«. 38 Sofern
Klassengegensätze politische Unterdrückung, ökonomische Ausbeu-
tung und soziale Ungerechtigkeit hervorbringen, gesellt sich zu den
hohen Systemrisiken des modernen Kapitalismus ein latent mitlaufen-
des Legitimationsproblem. Es kann dazu führen, dass sich Wirtschafts-
krisen zu Legitimationskrisen ausweiten und dann katalytische Pro-
35
Marx: Theorien über den Mehrwert; Marx: Das Kapital I, Kapitel 4.
36 Zur Logik der Paradoxie vgl. Thomas Kesselring: Die Produktivität der Antinomie.
Hegels Dialektik im Lichte der genetischen Erkenntnistheorie und der formalen Logik.
Frankfurt 1984.
37 Wolfang Streeck: »Sectoral Specialization: Politics and the Nation State in a Global

Economy«. Vortrag auf dem 37. World Congress of the International Institute of Socio-
logy, Stockholm 2005 (abstract unter: http://www.scasss.uu.se/IIS2005/total_webb/
tot_html/abstracts/sectoral_specialization.pdf); s. a. Streeck: »Noch so ein Sieg, und
wir sind verloren. Der Nationalstaat nach der Finanzkrise«. In: Leviathan 38 (2010),
S. 159–173.
38 Charles Tilly: European Revolutions 1492–1992. Oxford 1995.

407

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Hauke Brunkhorst

zesse der Devolution und Regression, aber auch der Reform und Revo-
lution auslösen.
Im Übergang von der ökonomischen zur Legitimationskrise wech-
selt jedoch die Systemreferenz vom ökonomischen zum politischen
System, wie Marx selbst erkannt hat, insistiert er doch auf der katego-
rialen Unterscheidung rein ökonomischer Klassenkämpfe, in denen es
um Verbesserungen in einer einzelnen Fabrik geht, von politischen
Kämpfen um Parlamentsgesetze (und Marx wusste noch, was das ist,
ein Parlamentsgesetz). 39 Da er jedoch im ökonomisch erzeugten Klas-
sengegensatz von Kapital und Arbeit den evolutionären Führungs-
primat gesehen hatte, hat er die gleichurprüngliche Verschiedenheit
politischer und ökonomischer Konflikte nicht erkannt. Statt den exem-
plarisch erkannten Zusammenhang von funktionaler Differenzierung
und Klassenkampf, von Funktionsstörung und Legitimationskrise auf
die Ökonomie zu reduzieren, hätte er ihn generalisieren müssen – aber
wer konnte das im Geburtszeitalter der großen Industrie auch nur
ahnen? 40
Nicht nur
• die Ausdifferenzierung des ökonomischen Systems erzeugt eine
strukturelle Konfliktkonstellation im Kampf ums Kapital, auch
• die historisch mit dem Zeitalter der protestantischen Revolutio-
nen ohne Willen und Bewusstsein von »Baxters Heiligen« (We-
ber) vollzogene Ausdifferenzierung des politischen Systems er-
zeugt eine andersartige Konfliktkonstellation im Kampf um den
Staat. 41
Und die Konflikte zwischen dem power-bloc (Laclau) und dem von der
Macht ausgeschlossenen Volk – »We are the People« skandieren die
Leute von Occupy Wall Street – überlagern sich mit den Konflikten
zwischen Kapital und Arbeit zu einer neuen, komplexen Konfliktkon-
stellation. Auch
• das ausdifferenzierte Recht erzeugt eine Art Klassenkonflikt zwi-
schen denen, die es einschließt, und denen, die es ausschließt (oder

39 Marx: Brief an Friedrich Bolte v. 23. Nov. 1871. MEW 33, S. 332. Vgl. a. Stuart Hall:
»The ›Political‹ and the ›Economic‹ in Marx’s Theory«. In: Alan Hunt (Hg.): Class and
Class Structure. London 1977, S. 15–60, hier: S. 36 f.
40
Dazu ausführlich: Brunkhorst: »Return of Crisis«. In: Poul F. Kjaer/Gunther Teub-
ner/Alberto Febbrajo (Hg.): The Financial Crisis in Constitutional Perspective. The dark
Side of Functional Differentiation. Oxford 2011, S. 133–172.
41 S. a. Charles Tilly: European Revolutions 1492–1992. A. a. O. (s. Anm. 37).

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Marxismus und Evolution

durch Einschluss ausschließt): den Häretikern, Sklavenarbeitern,


Farbigen, Juden, Trotzkisten, Schurkenstaaten, unzivilisierten
Völkern, »merciless Indian Savages« (Declaration of Indepen-
dence), usw.
Nur wo sie ein entsprechend entwickeltes System modernen Rechts
schon im Rücken haben, können die vom Recht ausgeschlossenen Ak-
teure sich überhaupt als zu Unrecht ausgeschlossene artikulieren. Die
emanzipatorische Dimension des alten römischen Rechts war viel zu
schwach entwickelt und das System bei weitem nicht ausdifferenziert
genug, um sich im Recht gegen das Recht stellen zu können. 42
Funktional differenzierte Systeme erzeugen also in der Regel sehr
verschiedene, sich nur teilweise überlappende Klassen von Gewinnern
und Verlieren. Dadurch wird die Konstellation der Klassenkämpfe, die
das Medium normativer Lernprozesse sind, sehr viel komplexer als bei
Marx, zumal auch noch die von Marx ausgeblendeten Konflikte zwi-
schen Zentrum und Peripherie, zwischen Staaten, zwischen Weltregio-
nen usw. hinzukommen. 43 Die strukturellen Konflikte der funktional
differenzierten Gesellschaft sind gleichursprünglich und lassen sich
nicht hierarchisieren.
Mittlerweile scheint es so, und hier ließen sich viele Beobachtun-
gen vom späten Parsons bis Bourdieu einfügen, als würde auch
• das vollständig globalisierte Erziehungssystem, das mit derselben
Geschwindigkeit wie der Markt Lebenschancen zwischen oben
und unten zuteilt (Schelsky) – und das insofern der Kolonialisie-
rung durch das Kapital (Bologna) auch von innen entgegenkommt
(immer stehen eine Menge Leute am Ufer, die den Kolonialherren
freudig begrüßen) –, ein riesiges Prekariat der 99 % erzeugen, die
weltweit, von Peking bis Kairo, von Teheran bis Berlin, von Athen
bis San Francisco, besser ausgebildet sind als je zuvor und sich
gleichzeitig der Lebenschancen beraubt sehen, die ihnen die Ak-

42 Das alte römische Recht war das »Recht der vornehmen Leute. Klassisch heißt zwar
vorbildlich. Und so wird das römische Recht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ge-
nannt. Aber klassisches Recht war auch Klassenrecht, das Recht der Besitzenden unter-
einander, also Zivilrecht. Mit den anderen machte man kurzen Prozess, außerhalb des
Rechts.« Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. München 1997, S. 156.
43
Vgl. Tobias ten Brink: Kapitalistische Entwicklung in China. Entstehungsformen,
Verlaufsformen und Paradoxien eines eigentümlichen Modernisierungsprozesses. Ha-
bilitation im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt
2012.

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Hauke Brunkhorst

kumulation akademischer Zertifikate versprochen hat und die sie


nur durch solche Zertifikate erreichen könnten.
Das erzeugt eine gewaltige Motivationskrise (LS 106 ff.). Die nicht en-
dende Kette neuer sozialer Bewegungen, die von Berkeley über Madrid
und Kairo bis Occupy Wall Street reicht, sind erste Indikatoren dafür,
dass eine Art Klassengegensatz zwischen dem täglich besser qualifizier-
ten und gebildeten Prekariat und der immer winziger werdenden
Schicht derer, die in den Hochsicherheitsghettos der großen Städte
und ihrer Umgebung leben und kaum noch öffentliche Schulen und
Verkehrswege benutzen, zu entstehen scheint.
Alle diese systemisch erzeugten Konflikte sind heute globale Kon-
flikte, die sich in einer komplexen Weltgesellschaft überlappen und
überlagern, sich gegenseitig verstärken, abschwächen oder aufheben.

4. Globalisierung und Weltgesellschaft

Der klassische Marxismus war immer davon ausgegangen, dass der na-
tionale Staat prinzipiell in der Lage sei, die kapitalistische Wirtschaft
zu kontrollieren und zumindest die desaströsen Beschädigungen der
sozialen und natürlichen Umwelt des Systems zu kompensieren, wenn
nicht gar den Kapitalismus durch eine staatliche Planwirtschaft zu er-
setzen – eine Idee der russischen Kommunisten, die diese aber nicht
von Marx, sondern von den Zaren kopiert haben. 44
Nun haben die Weltrevolutionen und Weltkriege der ersten Hälf-
te des 20. Jahrhunderts verschiedene Modelle hervorgebracht, die zu
einer mehr oder minder erfolgreichen, im Westen sozial- und wohl-
fahrtsstaatlich, im Osten sozialistisch eingebetteten Marktwirtschaft
geführt haben – mal mit mehr, mal mit weniger Markt, mal produkti-
ver, mal unproduktiver. Die Globalisierung hat Marxisten wie Keyne-
sianer gleichermaßen unvorbereitet getroffen. Seit den späten 1970er-
Jahren hat sich der kapitalistische Markt infolge konterrevolutionärer
politischer Grundsatzentscheidungen aus seiner Einbettung in den na-
tionalen und sozialistischen Staat befreit und eine Weltlage geschaffen,
die man mit Wolfgang Streeck als great transformation der state-em-
bedded markets des Spätkapitalismus in die market-embedded states

44 Harold Berman: Justice in the USSR. Cambridge 1963.

410

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Entgegnung auf Hauke Brunkhorst

des globalen Turbokapitalismus beschreiben muss. Eine Verkehrung


der Weltproduktionsverhältnisse, die dramatischer nicht sein könnte.
Die einzige Theorie der »ideologischen Antike«, wie Alexander
Kluge die intellektuelle Konstellation zwischen Adam Smith, Marx
und Eisenstein treffend genannt hat, die auf diese Entwicklung bestens
vorbereitet war, wohl präpariert auf sie gewartet, sie aktiv unterstützt
und Politiker und Parteiführer wie Reagan und Thatcher gefunden hat,
um sie politisch durchzusetzen, war der Neoliberalismus. Er hat sich zu
einer globalen Diskursmacht verselbständigt, die heute überall – und
nicht nur in der Wirtschaft (Bologna, Exzellenzcluster usw.) – das Ver-
halten und den Habitus der Akteure auch dann noch formt, wenn sie
das Gegenteil sagen und glauben. Dafür ist die neoliberale Austeritäts-
politik des sozialdemokratisch geprägten europäischen Kontinents das
beste Beispiel.
Die kulturelle Hegemonie der neoliberalen Episteme hat schließ-
lich zur Marginalisierung sozialwissenschaftlicher Ideologiekritik und
zur Unterwerfung der Öffentlichkeit unter die neoliberale Diskurs-
macht geführt. 45 Die Waffen der Ideologiekritik wieder zu schärfen
und, wie Colin Crouch es in seinem jüngsten Buch versucht hat, zu
erklären, warum der Neoliberalismus die anhaltende Wirtschaftskrise
von 2008 überlebt hat, obwohl er komplett widerlegt worden ist, ist
heute die wichtigste Aufgabe einer Gesellschaftstheorie, die Erklä-
rungsleistungen mit der Kritik und Selbstkritik ihres Gegenstands zu
verbinden versucht. 46

Entgegnung von Jürgen Habermas

Hauke Brunkhorst berichtet über seine Fortsetzung einer Theorie der


sozialen Evolution, die den Klassenkampf als einen Kampf um Gerech-
tigkeit in seinem normativen Eigensinn ernst nimmt und die diesen
von der Entwicklung der Produktivkräfte als eine eigene Quelle des

45 Streeck: »Sectoral Specialization«. A. a. O. (s. Anm. 36).


46
Colin Crouch: The Strange Non-Death of Neo-Liberalism. Cambridge 2011. Inzwi-
schen habe ich das hier vorgestellte Programm in einem Buch weiter ausgeführt: Hauke
Brunkhorst: Critical Theory of Legal Revolutions. Evolutionary Perspectives. New
York/London 2014.

411

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Entgegnung auf Hauke Brunkhorst

evolutionären Wandels unterscheidet. Damit berührt er den Kern des


Streits um das sog. Produktionsparadigma. Bei der Differenzierung
zwischen zweckrationalem und kommunikativem Handeln – »Arbeit
und Interaktion« ist ja eine Kontrastformel, die sich nur aus dem Be-
zugstext eines meiner frühen Aufsätze, also aus Hegels Jenenser Real-
philosophie, erklärt – handelt es sich vordergründig um die Klärung
handlungstheoretischer Grundbegriffe. Aber die Handlungstheorie
hat in der Soziologie immer die Weichen für die Theoriekonstruktion
im Ganzen stellt. So auch in unserem Fall. Die Einführung eines Inter-
aktionsbegriffs, der sich nicht auf die rationale Wahl von Strategien,
letztlich auf zweckrationales Handeln zurückführen lässt, bringt
nämlich die sozialkognitive Dimension der gegenseitigen Perspekti-
venübernahme ins Spiel. Während für die zweckrationale Mittelwahl
technisch-praktisches Wissen relevant ist, ist die Übernahme der Per-
spektive des Anderen und die Ausbildung sowie Erweiterung einer ge-
meinsamen Perspektive die Grundlage für moralisch-praktisches Wis-
sen. Für die Anlage einer Theorie der sozialen Evolution ist nun die
Annahme wichtig, dass Lernprozesse in beiden Dimensionen stattfin-
den können.
Im einen Fall fördern Fortschritte in Technik und Wissenschaft die
Entfaltung der Produktivkräfte, im anderen Fall affizieren Fortschritte
in der gegenseitigen moralisch-praktischen Einbeziehung von Fremden
die dominanten Gerechtigkeitsvorstellungen einer Gesellschaft, welche
sich dann sowohl in den Legitimationsstandards wie in den Rechts-
praktiken niederschlagen. Die sozialkognitiven Fortschritte im mora-
lisch-praktischen Bewusstsein bedeuten unter funktionalen Gesichts-
punkten allerdings nur die Ausdehnung von Verfahren konsensueller
Streitbeilegung im sozialen Raum, nicht etwa Annäherungen an Ideale
des guten oder glücklichen Lebens. Die soziale Evolution kann keine
Fortschritte im vollmundigen Sinne klassischer Geschichtsphiloso-
phien versprechen. Die politischen Eliten und die Bürger der Eurolän-
der würden keine besseren Menschen, wenn sie, wie wir einstweilen
nur kontrafaktisch hoffen können, bei der Bearbeitung der gegenwär-
tigen Krise lernten, die nationalen Perspektiven der jeweils anderen
Mitgliedstaaten zu übernehmen und die anstehenden Probleme aus
einer gemeinsamen Perspektive zu lösen.
Für die Evolutionstheorie genügt es nicht, die Dimensionen der
beiden Lernprozesse, die sich nach einer jeweils anderen Logik vollzie-
hen, bloß zu unterscheiden. Im Hinblick auf ihr Zusammenwirken

412

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Entgegnung auf Hauke Brunkhorst

folgt Brunkhorst einer zuerst von Klaus Eder an der Entstehung der
Staatsbildung in frühen Hochkulturen belegten Hypothese, wonach
die Entwicklung der Produktivkräfte insofern eine Schrittmacherfunk-
tion erfüllt, als sie funktionale Probleme für eine bestehende Gesell-
schaftsorganisation erzeugt, während nur ein verändertes moralisch-
praktisches Bewusstsein eine Lösung dieser Probleme ermöglicht. Da-
her konzentriert sich Brunkhorst auf Legitimationskrisen, auf Kämpfe
um die Verschiebung der Parameter der Gerechtigkeit, schließlich auf
die Revolutionierung der Rechtsinstitutionen. Er stellt dann anhand
eines ausgedehnten historischen Materials eine Grundannahme der
Systemtheorie auf den Kopf: Nicht die Gerechtigkeitsvorstellungen
folgen Imperativen der Anpassung, sondern Anpassungsprozesse sind
ihrerseits den normativen Beschränkungen der Gerechtigkeitsstan-
dards unterworfen.

413

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Diskussion
Moderation: László Tengelyi

Smail Rapic: Wenn wir dem Neoliberalismus nicht das Feld überlassen
wollen, müssen wir nach meiner Überzeugung das Thema eines »Drit-
ten Weges« zwischen dem westlichen Kapitalismus und dem Staats-
kapitalismus im »real existierenden Sozialismus« erneut auf die Agen-
da setzen. Wir können ja zu dem Schluss gelangen, dass der Dritte Weg
nicht funktioniert, aber diskutieren sollten wir m. E. darüber. Colin
Crouch betont in seinem Buch Das befremdliche Überleben des Neo-
liberalismus, das Herr Brunkhorst gerade angesprochen hat, dass die
reine Lehre des Neoliberalismus, Markt und Staat voneinander zu
trennen, überhaupt nicht umgesetzt wurde. Stattdessen haben infolge
der Privatisierungs- und Deregulierungspolitik seit Beginn der 1980er-
Jahre Großkonzerne in einem bisher ungeahnten Ausmaß Einfluss auf
den Staat gewonnen. Hiermit hat sich Habermas’ Diagnose in der
Theorie des kommunikativen Handelns bewahrheitet, dass »das Spiel
der Metropolen und des Weltmarktes« und nicht das Volk als demokra-
tischer Souverän die Politik bestimmt (TkH II 522). Crouch beruft sich
u. a. auf den ehemaligen Chefökonomen des Internationalen Wäh-
rungsfonds, Simon Johnson, der 2009 konstatierte, die Finanzbranche
kontrolliere »die US-Regierung inzwischen auf eine Weise, die man
sonst nur von Entwicklungsländern kennt«. 1 Ich möchte meine Frage
ein bisschen provokativ stellen: Können wir die Demokratie wirksam
stärken, ohne die Idee einer Vergesellschaftung von Produktionsmit-
teln von Neuem ins Auge zu fassen – und zwar im Sinne von Marx’
Pariser Manuskripten, wo er hervorhebt, dass im Sozialismus der Pri-
vatkapitalismus nicht durch einen Staatskapitalismus ersetzt werden
solle? Sind nicht genossenschaftliche Produktionsformen wieder aktu-
ell? Im Grundgesetz ist auch die Möglichkeit der Enteignung vorge-
sehen. Im Ahlener Programm der CDU von 1947 wurde die Verstaat-

1 Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Berlin 2011. S. 103.

414

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Die Selbstverständigung der Moderne

lichung der Schwerindustrie gefordert. Hat die Perspektive des Dritten


Weges nicht doch eine Zukunft?

Hauke Brunkhorst: Ich weiß es nicht. Man kann Evolutionen nicht


vorhersagen. Das einzige Land, wo sich in der Tat möglicherweise Be-
dingungen finden, die sich sehr unterscheiden von den anderen Län-
dern; das einzige Land, das den Dritten Weg gewählt hat und erfolg-
reich war, ist China. China ist eine – bestenfalls meritokratische –
Parteidiktatur. Auf der anderen Seite kombiniert es irgendeine Form
von Sozialismus, der im Maoistischen China bestanden haben mag,
mit der Marktwirtschaft. Das war Dengs ursprüngliche Idee und ganz
orthodox marxistisch gedacht. Wir haben den Sozialismus in unsern
Produktionsverhältnissen, war sein Argument, aber wir haben völlig
unterentwickelte Produktivkräfte, und um die zu entfesseln, kennen
Marx und Engels nur ein Mittel: die von allen systemischen Schranken
des Geld-, Waren-, Güter-, Arbeitskraft- und Grundeigentums entfes-
selte, auf der Trennung von Betrieb und Haushalt basierte Marktwirt-
schaft, die es nirgends in der vormodernen Welt je gegeben hat. Deng
glaubte jedoch (wie viele westliche Intellektuelle auch), eine so voraus-
setzungsvolle Marktwirtschaft wäre ohne Kapitalismus zu haben. Aber
das war ein Irrtum, und so steht China heute vor einem ähnlichen Pro-
blem wie der Westen, der zwei sich ausschließende Prinzipien, das des
Kapitalismus und das der Demokratie, unter einen Hut bringen muss,
und es kann entweder der Hut der auch sozial egalitären Demokratie
sein oder der Hut des Kapitalismus, der dann von der Demokratie nicht
viel übrig lässt, und das ist heute die Lage im Westen. Und so scheint es
auch dem (moderat) autoritären Sozialismus Chinas heute zu ergehen,
zumal es in China zwar freie Krankenversorgung und viele sozialisti-
sche Errungenschaften auf dem Papier gibt, aber ihr Institutionalisie-
rungsgrad scheint immer sehr viel schwächer gewesen zu sein als in der
Sowjetunion, die ja im Unterschied zu China auch ein durchprofessio-
nalisiertes Rechtssystem hatte. Trotzdem ist China offenbar das einzige
Land, wo sich vielleicht etwas Neues, Drittes entwickeln könnte. Aber
auch in demokratischen Großgesellschaften wie Indien oder Brasilien
könnte das geschehen. Aber das sind so Prognosen, die man im Fern-
sehen, im Kommentar machen könnte, aber nicht in der Wissenschaft.
In ein paar Jahren sind die vielleicht völlig überholt. Die Frage, ob sich
irgendein dritter Weg entwickelt, ist eine völlig offene Frage. Dritter
Weg ist eine Kategorie der Vergangenheit. Slavoj Žižek hat das, fand

415

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Diskussion

ich, sehr richtig benannt, dass die Menschen im Osten eigentlich den
Dritten Weg wollten, aber der Westen sie einfach überrannt hat. Im
größten ex-sowjetischen Land, in Russland, hat sich ein Raubtierkapi-
talismus etabliert. Das unterscheidet sich ja auch nicht mehr – wenn
man das Zitat des Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds
nimmt – so sehr von dem, was wir im Westen heute insgesamt haben,
und ist sogar noch schlimmer. Eine andere Formel für den Dritten Weg
war Gerhard Schröder. Gerhard Schröders »Dritter Weg« war der zwi-
schen Neoliberalismus und Sozialdemokratie, also mehr Neoliberalis-
mus. Das ist leider immer noch die Gegenwart und wird durch eine
selbstmörderische Austeritätspolitik in Europa noch verstärkt. Heute
haben wir eine Situation, in der wir in der Tat – China eingerechnet –
nur noch eine Welt des kapitalistischen Systems haben. Das, was Colin
Crouch sagt, habe ich ja genau beschrieben mit der Formel von Streeck:
Vorher hatten die Staaten halbwegs das (immer noch nationale) Kapital
unter Kontrolle, jetzt hat das (erstmals wirklich internationale) Kapital
die Staaten unter Kontrolle. In dieser Situation werden die Karten neu
gemischt, da wird die Praxis entscheiden, was daraus wird, alles kann
daraus werden. Sozialismus ist im Moment nicht aktuell, aber Formen
radikaler Demokratie sind in jeder Form denkbar. Sie haben das Grund-
gesetz erwähnt. Das Grundgesetz enthält technisch alle Möglichkeiten,
ob das dann viel bringt, ist eine andere Frage, aber der Artikel 20 (2)
Grundgesetz schreibt z. B. zwingend vor, dass das Volk durch Wahlen
und Abstimmungen seine Macht ausüben soll. Das heißt, Abstimmun-
gen, nämlich Volksabstimmungen, sind gleichursprünglich zu Par-
lamentswahlen vorgeschrieben. Dreier hat diesen Gedanken gerade
ausbuchstabiert. 2 Ob das dann viel bringt, ist eine zweite Frage. Die
Verstaatlichung der Schwerindustrie – da kommt auch nicht mehr he-
raus als Spätkapitalismus, aber der war immerhin in ein sozialdemo-
kratisches, egalitäres Wohlfahrtssystem eingebettet, eben demokrati-
scher Kapitalismus und nicht, was wir jetzt haben, kapitalistische
Demokratie – ein ganz anderes System, bei dem sich in der Tat die
längst vergessen geglaubte »Systemfrage« wieder stellt.

2 Horst Dreier: »Das Volk als Gesetzgeber.« In: Süddeutsche Zeitung, 25. Februar 2012,
S. 16. Online abrufbar unter: http://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160100/
Elektronische_Texte/Volk_als_Gesetzgeber_SZ.pdf (zuletzt abgerufen am 30. Juli 2014).

416

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Die Selbstverständigung der Moderne

Georg Lohmann: Zum Dritten Weg: Ich glaube, normativ gesehen


gibt es keinen dritten Weg. Die Rede vom »Dritten Weg« scheint mir
historisch geworden zu sein und bezog sich auf eine Möglichkeit, die
weitgehend gescheitert ist. Geblieben sind freilich die Fragen nach den
möglichen Organisationsformen, in denen das Verhältnis zwischen de-
mokratischen Strukturen und kapitalistischer Markwirtschaft gefasst
werden kann, also die Fragen nach dem Vorrang demokratischer Ver-
fassungen gegenüber nationalen und globalen Marktwirtschaften.
Normativ scheint mir das entschieden, aber offen ist, wie man es
durchsetzen und organisieren kann. Man kann natürlich fragen, ob es
in organisatorischer Hinsicht einen dritten Weg gibt, z. B. ob die Ent-
wicklung in China so etwas darstellt. Man muss die Chinesen auf der
einen Seite sehr loben, sie haben die Menschenrechte seit 2004 in der
Verfassung, aber sie haben natürlich – was die normative Ebene angeht
– in der sozialen und politischen Wirklichkeit sehr viel nachzuholen.
Und deshalb ist es eher die Frage, ob wir uns einen autoritären Kapita-
lismus denken können, in dem ein großer Bereich von Freiheitsrechten
systematisch eingeschränkt wird, und das kompensiert wird durch Ent-
wicklungen im ökonomischen Bereich; also gewissermaßen eine
marktwirtschaftliche Entwicklungsdiktatur. Ich vermute nur, dass –
wenn sie Krisen haben – sich dann im Sinne von Klassenkämpfen ent-
scheiden wird, wie die Gewichtung zu legen ist, und die politischen
Grenzen einer Marktwirtschaft neu ausgehandelt werden. Organisato-
risch ist das offen, aber normativ, wie es ein sollte, scheint es mir klar.

Peter Trawny (Universität Wuppertal): Eine Frage an Herrn Brunk-


horst und sein Verständnis der Revolution oder des Revolutions-
begriffs: Sie haben gesagt, es habe immer eine Koppelung der Gewalt
mit dem großen Rauschen des Diskurses gegeben. In Bezug auf die
Amerikanische Revolution – und die Französische ohnehin und viel-
leicht sogar noch auf die Russische – scheint das sehr plausibel zu sein,
weil, wenn man die Äußerungen der Founding Fathers liest, dann ist es
ja in der Tat ein großes Rauschen eines Diskurses. Sie haben dann den
Bogen geschlagen zu unserer heutigen Zeit und der Occupy-Bewe-
gung, dem großen Prekariat, das sich da formiert. Wenn wir jetzt diese
Doppelung von Gewalt und dem großen Rauschen des Diskurses auf
heute übertragen würden, sehen Sie da nicht eine Krise des Diskurses,
wodurch sich dann auch die Frage nach der Gewalt verändern könnte?
Denn so viel Neues wie die Founding Fathers haben sich wahrschein-

417

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Diskussion

lich heutzutage die Leute, politisch und philosophisch betrachtet, nicht


zu sagen.

Stefan Müller-Doohm: Meine Frage richtet sich ebenfalls an Hauke


Brunkhorst. Ich würde gerne diese These noch einmal aufnehmen, dass
das Recht ein Janusgesicht hat. Ich frage mich: ist diese Janusgesichtig-
keit des Rechts historisch bedingt? Oder ist diese Janusgesichtigkeit ein
systematischer Sachverhalt? Ist sie überwindbar oder müssen wir mit
dieser Janusgesichtigkeit des Rechts leben wie mit einem Kapitalismus
– Du hast das ausgeführt –, der inhärent katastrophisch ist, aber zu-
gleich produktiv? Ich erweitere meine Frage: Gibt es da nicht doch noch
– ich meine keinen »Dritten Weg« im überlieferten Wortsinne – aber
eine ganz andere Lösung für die Zähmung des Kapitalismus? Und wel-
che Rolle könnte dabei das Recht spielen?

Hauke Brunkhorst: Heute haben wir ja keine revolutionäre Situation


– in keiner Weise. Wir hatten sie im Westen seit ewigen Zeiten nicht
mehr. Andererseits ist es natürlich klar: Revolutionen kommen meis-
tens plötzlich – und keiner hat mit ihnen gerechnet. Darüber kann man
wenig sagen. Aber in Bezug auf eine Krise des Diskurses habe ich keine
Bedenken, denn auf die Krise des Diskurses antwortet der Diskurs
immer nur mit noch mehr Rauschen. Die Diskursenergien sind völlig
unerschöpflich. Genauso wie Sinn, das ist das Unzerstörbarste im
Menschenleben überhaupt, hätte ich fast gesagt. Natürlich ihre Institu-
tionalisierung – das ist das Riesenproblem. Aber das Gequassel geht
immer weiter. Zum Dritten Weg: Es gibt ja keine Frage des Dritten
Weges mehr. Wir haben eine Weltgesellschaft, inklusive China, eine
kapitalistische Weltgesellschaft. Eine einzige. Überall gleichermaßen
modern, das kann man gar nicht oft genug wiederholen. Dass sie über-
all gleichermaßen dieselbe moderne Gesellschaft ist; da ergeben sich
möglicherweise viele Wege, viele Alternativen, und jetzt haben wir
vielleicht so ein Zeitfenster, wo sich Alternativen ergeben, und da kann
man vielleicht vom Neoliberalismus, wenn nicht gleich triumphalis-
tisch siegen lernen, aber man kann vielleicht vom Neoliberalismus ler-
nen. Zeitfenster kann man nutzen oder verpassen, und das Zeitfenster
kommt mit der Krise. Auch der Neoliberalismus kam mit einer viel
kleineren Krise des damaligen Spätkapitalismus. Zum Janusgesicht des
Rechts: das ist doch schon der größte Fortschritt, den wir haben.

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Die Selbstverständigung der Moderne

Ulrich Richter (Münster): Ich möchte ein anderes Thema anspre-


chen. Mir scheint, der Begriff der »Moderne« bleibt etwas im Unkla-
ren. Was heißt eigentlich Moderne oder was soll Moderne hier in
diesem Kontext heißen? Wenn man vom Terminus »Moderne« aus-
geht, dann heißt das »modernus – neu«, und wenn man das auf die
Zeit bezieht, dann gibt es immer ein Moment in der Gegenwart, der
als »neu« erfahren wird, und immer Momente, die als vergangen, als
»alt« erlebt werden. Ich meine, man sollte eine strikte Unterscheidung
treffen zwischen Geschichte, Geschichtsphilosophie und Historia. Ich
verwende den Ausdruck »Historia« für das, was die Historiker ma-
chen, wenn sie ihre Dokumente sichten, wenn sie versuchen, fest-
zustellen, was überhaupt Tatsache ist, und dann an die Dokumente
herangehen und den Sinn dieser Dokumente interpretieren. Worauf
bezieht sich jetzt die Diskussion: auf die Geschichte, das heißt auf die
Interpretation, oder auf die Dokumente der Historia, nämlich das,
worüber diskutiert wird? Und hier fallen ja ständig zwei Namen –
heute jedenfalls – Hegel und Habermas. Das sind im Grunde genom-
men Dokumente der Historia, über die wir hier diskutieren und ver-
suchen, einen Sinn zu entwickeln, und dieser Sinn ist eigentlich das,
was in der Geschichtsphilosophie betrachtet wird. Und jetzt die Frage:
Können wir in dieser Form über die Dokumente der Historia diskutie-
ren – Hegel, Habermas usw. – oder unsere Realität hier zum Gegen-
stand machen?

Klaus E. Kaehler: Zur Frage von Herrn Richter nach dem Begriff
der Moderne und der Geschichte: Das ist natürlich ein großes Thema,
für alle Philosophie wesentlich. »Unsere« Moderne, die sich in den
philosophischen Positionen des nachmetaphysischen Denkens artiku-
liert, versteht sich nicht nur als »neu«, sondern auch inhaltlich als
Moderne in epochaler und singulärer Bedeutung. Diese aber ist zu
rechtfertigen auf selber philosophische Weise nur, indem sie sich
von Grund auf ins Verhältnis setzt zu dem, was schon getan ist –
nicht durch Zurechtbiegen des Älteren für angeblich zeitgemäße Be-
dürfnisse. Vielmehr kommt es darauf an, nach einer philosophischen
Entwicklung zu suchen, aus deren Resultat sich inhaltlich argumen-
tierend einsehen lässt, was »an der Zeit« ist. So findet das Geschehen
der »Geschichte« der Philosophie im Medium der Dokumente selber
statt; es ist nichts anderes als die möglichst kohärente Rezeption,
Kritik und Transformation der philosophischen Probleme und Inhalte

419

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.
Diskussion

– im permanent selbstreflexiv zu haltenden Bewusstsein der prinzi-


piellen Differenzen.

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Jürgen Habermas

Schlusswort

Mein Dank gilt natürlich in erster Linie Herrn Rapic, aber auch den
Veranstaltern insgesamt, den Damen und Herren, die das Gelingen
dieser Konferenz erst möglich gemacht haben. Die Stadt Wuppertal-
Elberfeld, aus der Friedrich Engels stammt, stiftet für eine Diskussion
über den Historischen Materialismus einen beziehungsreichen Kon-
text. Für mich verbindet sich die Hauptstadt des bergischen Landes
außerdem mit Jugenderinnerungen, aber auch mit der Person von Jo-
hannes Rau, der mich als den Landsmann aus Gummersbach zu begrü-
ßen pflegte. Andererseits will ich nicht die Skepsis verhehlen, mit der
ich zunächst der Einladung zum Thema Historischer Materialismus
begegnet bin. Trotz des Bezuges zur gegenwärtigen Krise schien mir
dieser Titel nicht den einleuchtendsten Zugang zu meinen Arbeiten
zu signalisieren. Aber die gemischten Gefühle haben sich schnell ge-
legt. Ich schulde im Gegenteil meinen Kollegen aufrichtigen Dank für
ihre hervorragenden Beiträge. Ich bin der eigentliche Nutznießer ihrer
keineswegs selbstverständlichen Bereitschaft, sich auf eine produktive,
einfallsreiche, luzide und scharfsinnig an die Wurzeln gehende Aus-
einandersetzung mit meinen Dingen und den Themen, die uns ge-
meinsam interessieren, einzulassen.
Die letzte Diskussion, die durch Herrn Rapics Frage nach der mög-
lichen Vergesellschaftung der Produktionsmittel ausgelöst worden ist,
hat noch einmal den Geist, der über den Wassern dieser Konferenz
schwebte, zum Ausdruck gebracht. Die wenigsten von uns werden je
ihre Hoffnungen direkt auf das gescheiterte Experiment des Sowjet-
marxismus gesetzt haben. Aber auch die vagen Hoffnungen auf einen
»dritten Weg« waren insofern indirekt mit diesem verbunden: Nur
unter dem Druck dieser existierenden Alternative mussten der kapita-
listischen Dynamik immerhin sozialstaatliche Zügel angelegt werden.
Aber kann die krisenhafte Zuspitzung der nach dem Untergang der
Sowjetunion entfesselten Dynamik eine Wiedererweckung der unbe-

421

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Jürgen Habermas

stimmten Vision eines »dritten« Weges rechtfertigen? Etwas anderes


ist es, aus der Idee der Vergesellschaftung der »Produktionsmittel«, die
heute nicht mehr nur in der Realwirtschaft konzentriert sind, im Hin-
blick auf das Finanzsystem etwas zu lernen. Ich glaube nicht, dass heu-
te Vorstellungen, die sich einmal mit der »Aufhebung des Kapitalis-
mus« verbunden haben, weiterführen. Aber nicht erledigt hat sich die
Frage, ob sich der Kapitalismus ohne Rücksicht auf seine empörenden
»externen Kosten« zu einem versiegelten Universum abschließt, oder
ob er noch mit Mitteln des demokratisch gesetzten Rechts in zivilisierte
Bahnen gelenkt werden kann. Gute normative Gründe sprechen für
eine Fortsetzung des in diesem Sinne verstandenen sozialistischen Pro-
jekts. Nicht einmal die Idee einer Vergesellschaftung der Produktions-
mittel ist obsolet, wenn man sie sinngemäß auf den außer Kontrolle
geratenen Finanzsektor anwendet. Die »systemrelevanten« Banken,
deren Bilanzsummen die Wirtschaftsleistung ihrer Staaten zum Teil
weit überschreiten, treiben die europäischen Regierungen nun schon
im fünften Krisenjahr vor sich her und pressen ihnen das Geld ihrer
Steuerzahler ab. Wann endlich wehren sich die europäischen Bürger
gegen die Politik ihrer markthörigen Regierungen? Wann überwinden
sie ihre nationale Engstirnigkeit und bündeln die Kräfte ihrer Regie-
rungen, um die wildgewordenen Finanzmärkte zu regulieren?

422

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Kurzbiographien

Karl-Otto Apel ist Professor emeritus der Universität Frankfurt am


Main. Seit 1970 zahlreiche Gastprofessuren u. a. in Belgien, Korea, Ita-
lien, Spanien und Brasilien. Er trägt den Ehrendoktortitel der Univer-
sität Jaume I, Castellón, Spanien, der Universitäten Santiago del Estero,
Buenos Aires und Rosario, Argentinien, der Freien Universität Berlin,
sowie den Professor Principal h. c. der Universidad Nacional de San
Agustin, Arequipa, Peru. Seine Arbeitsgebiete liegen in der Ethik,
Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaf-
ten. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Transformation der Phi-
losophie (2 Bd.). Frankfurt a. M. 1973; Diskurs und Verantwortung.
Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt
a. M. 1988; Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendental-
pragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998; Paradigmen der Ersten
Philosophie. Zur reflexiven – transzendentalpragmatischen – Rekon-
struktion der Philosophiegeschichte. Berlin 2011.

Manfred Baum ist Professor emeritus für Philosophie an der Bergi-


schen Universität Wuppertal, Mitherausgeber der Kant-Studien und
2. Vorsitzender der Kant-Gesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte
liegen in der Erkenntnistheorie, Metaphysik und der praktischen Phi-
losophie. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Die Entstehung der
Hegelschen Dialektik. Bonn 1986; »Freiheit bei Marx«. In: Z – Zeit-
schrift für marxistische Erneuerung 14 (2003), S. 67–79.

Hauke Brunkhorst ist Professor für Allgemeine Soziologie am Insti-


tut für Soziologie der Universität Flensburg und Forschungsdirektor
am Internationalen Institut für Management der Universität Flens-
burg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Allgemeine Soziologie, Gesell-
schafts- und Evolutionstheorie, Politische Soziologie sowie Recht und
Demokratie in der Weltgesellschaft. Einschlägige Veröffentlichungen

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Kurzbiographien

u. a.: »Jürgen Habermas. Die rächende Gewalt der kommunikativen


Vernunft«. In: Jochem Henningfeld, Heinz Jansohn (Hrsg.): Philoso-
phen der Gegenwart. Darmstadt 2005, S. 198–215; Habermas. Stutt-
gart 2006; Karl Marx. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte.
Kommentar von Hauke Brunkhorst. Frankfurt a. M. 2007; mit Regina
Kreide und Cristina Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart
2009; Critical Theory of Legal Revolutions – Evolutionary Perspec-
tives. New York/London 2014.

Ingo Elbe ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Praktische Philoso-


phie an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg und Vor-
standsmitglied des Instituts für Sozialtheorie e. V. Bochum. Seine For-
schungsschwerpunkte sind Politische Philosophie, Rechts- und Sozial-
philosophie und Kritische Theorie. Einschlägige Veröffentlichungen
u. a.: Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik
seit 1965. 2., korr. Aufl., Berlin 2010; »Staat der Kapitalisten oder Staat
des Kapitals? Rezeptionslinien von Engels’ Staatsbegriff im 20. Jahr-
hundert«. In: S. Salzborn (Hrsg.): ›… ins Museum der Altertümer‹.
Staatstheorie und Staatskritik bei Friedrich Engels. Baden-Baden 2012;
»Entfremdete und abstrakte Arbeit. Marx’ Ökonomisch-philosophi-
sche Manuskripte im Vergleich zu seiner späteren Kritik der politi-
schen Ökonomie«. In: Oldenburger Jahrbuch für Philosophie 2012.
Oldenburg 2014; »Neue Marxlektüre«. In: Michael Quante/David
Schweikard (Hrsg.): Marx-Handbuch. Stuttgart (erscheint 2015).

Jürgen Habermas ist Professor emeritus für Philosophie und Sozio-


logie der Universität Frankfurt am Main. Er trägt den Ehrendoktortitel
u. a. der New School for Social Research, New York und der Univer-
sitäten von Jerusalem, Buenos Aires, Utrecht, Athen und Tel Aviv.
Zahlreiche Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in den USA
und Europa. Für die Tagung relevant waren v. a. die folgenden Texte:
Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. 1968; Technik und Wissen-
schaft als Ideologie. Frankfurt a. M. 1968; Theorie und Praxis: sozial-
philosophische Studien. Frankfurt a. M. 1971 (erw. u. neu eingeleitete
Aufl.); Kultur und Kritik. Frankfurt a. M. 1973; Legitimationsprobleme
im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973; Zur Rekonstruktion des
Historischen Materialismus. Frankfurt a. M. 1976; Theorie des kom-
munikativen Handelns (2 Bd.). Frankfurt a. M. 1981; Faktizität und
Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokrati-

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Kurzbiographien

schen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 1992; Die Postnationale Konstella-


tion. Politische Essays. Frankfurt a. M. 1998; Zur Verfassung Europas.
Berlin 2011. Nachmetaphysisches Denken II., Berlin 2012.

Ágnes Heller ist Professorin emerita der New School for Social Re-
search in New York. Sie trägt den Ehrendoktortitel der Universität La
Trobe, Melbourne, und der Universität Buenos Aires. Ihre Arbeits-
schwerpunkte sind Ethik, politische Philosophie, Hegel, Marx, Lukács
und der Existentialismus. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Alltag
und Geschichte: Zur sozialistischen Gesellschaftslehre. Neuwied 1970;
Theorie der Bedürfnisse bei Marx. Berlin 1976; Das Alltagsleben: Ver-
such einer Erklärung der individuellen Reproduktion. Frankfurt a. M.
1978; Philosophie des linken Radikalismus: ein Bekenntnis zur Phi-
losophie. Hamburg 1978; Ist die Moderne lebensfähig? Frankfurt a. M.
1995.

Klaus Erich Kaehler ist Professor emeritus für Philosophie an der


Albertus-Magnus-Universität Köln, Direktor des Husserl-Archivs
und Mitglied im Vorstand der Leibniz-Gesellschaft und des Conseil
scientifique der Phaenomenologica. Seine Forschungsschwerpunkte
sind Metaphysik und Erkenntnistheorie der Neuzeit, Subjekt-Theorie,
Phänomenologie und Ästhetik. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.:
»Die Positivierung des Nichtigen. Hegel, Feuerbach und das dezentrier-
te Subjekt der Moderne«. In: D. Westerkamp/A. von der Lühe (Hrsg.):
Metaphysik und Moderne. Ortsbestimmungen philosophischer Ge-
genwart. Festschrift für Claus-Artur Scheier. Würzburg 2007, S. 177–
193; Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und De-
zentrierung. Freiburg/München 2009.

Regina Kreide ist Professorin für Politische Theorie und Ideen-


geschichte am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Uni-
versität Gießen. Ihre Arbeitsgebiete sind Internationale Politische
Theorie, Ideengeschichte, Soziologische Theorie und Rechtstheorie,
Theorie und Politik der Menschenrechte, Gerechtigkeitstheorie – glo-
bale Gerechtigkeit, Governance- und Demokratietheorie, Legitimität
transnationalen Regierens, Feministische Theorie und Policy-For-
schung. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: mit Hauke Brunkhorst
und Cristina Lafont (Hrsg): Habermas-Handbuch. Stuttgart 2009; mit
Andreas Niederberger (Hrsg.): Staatliche Souveränität und trans-

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Kurzbiographien

nationales Recht. München 2010; mit Claudia Landwehr und Katrin


Toens (Hrsg.): Gerechtigkeit und Demokratie in Verteilungskonflikten.
Baden-Baden 2011.

Georg Lohmann ist Professor emeritus für Praktische Philosophie an


der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und leitet mit Prof. Dr.
K. Peter Fritzsche die Arbeitsstelle Menschenrechte. Einschlägige Ver-
öffentlichungen u. a.: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab.
Überlegungen zu Marx«. In: Axel Honneth/Urs Jaeggi (Hrsg.): Arbeit,
Handlung, Normativität. Frankfurt a. M. 1980, S. 234–299; mit Emil
Angehrn (Hrsg.): Ethik und Marx: Moralkritik und normative Grund-
lagen der Marxschen Theorie. Königstein/Ts. 1986; »Zwei Konzeptio-
nen von Gerechtigkeit in Marx’ Kapitalismuskritik«. In: Ethik und
Marx. Hrsg. v. Emil Angehrn, Georg Lohmann. Königstein/Ts. 1986,
S. 174–194; Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Auseinander-
setzung mit Marx. Frankfurt a. M. 1991; »Marxens Kapitalismuskritik
als Kritik an menschenunwürdigen Verhältnissen«. In: Rahel Jaeggi/
Daniel Loick (Hrsg.): Karl Marx – Perspektiven der Gesellschaftskritik.
Berlin 2013, S. 67–77.

Stefan Müller-Doohm ist Professor emeritus des Instituts für Sozi-


alwissenschaften der Universität Oldenburg, Leiter der Forschungs-
stelle Intellektuellensoziologie und Gründer der Adorno-Forschungs-
stelle. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen
Soziologische Theorien/Gesellschaftstheorie, Kommunikationsfor-
schung/Medientheorie/Kultursoziologie und Intellektuellensoziologie.
Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: mit Wolfgang Schopf, Franziska
Thiele (Hrsg.) »… die Lava des Gedankens im Fluss.« Jürgen Haber-
mas. Eine Werkschau. Oldenburg 2009; »Parteilichkeit für Vernunft.
Jürgen Habermas als Philosoph und öffentlicher Intellektueller«. In:
Forschung Frankfurt 2/2009; »Nationalstaat, Kapitalismus, Demokra-
tie. Philosophisch-politische Motive im Denken von Jürgen Haber-
mas«. In: Leviathan 37 (2010), S. 501–517; »Wie kritisieren? Gemein-
same und getrennte Wege in der Frankfurter Tradition der
Gesellschaftskritik«. In: Felicitas Herrschaft/Klaus Lichtblau (Hrsg.):
Soziologie in Frankfurt. Eine Zwischenbilanz. Wiesbaden 2010,
S. 141–161. »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?« In: Georg
Kneer/Stephan Moebius (Hrsg.): Soziologische Kontroversen. Frank-

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Kurzbiographien

furt a. M. 2010; Jürgen Habermas. Eine Biographie. Frankfurt a. M.


2014.

William Outhwaite ist Professor für Soziologie an der Universität


Newcastle und Mitglied der British Sociological Association, der Euro-
pean Sociological Association und der International Sociological Asso-
ciation. Seine Forschungsschwerpunkte sind Social theory (esp. critical
theory); philosophy of social science; history of social thought and con-
temporary Europe. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: als Hrsg.:
The Habermas Reader. Cambridge 1996; mit Larry Ray: Social Theory
and Post-Communism. Oxford 2005; Habermas. A Critical Introduc-
tion. Cambridge 2009; »How Much Capitalism can Democracy Stand
(and Vice Versa)?« In: Radical Politics Today 2009.

Michael Quante ist Professor für Philosophie an der Westfälischen


Wilhelms-Universität Münster, Präsident der Deutschen Gesellschaft
für Philosophie, sowie Leiter des Projekts Konstellationen der Reli-
gions- und Staatskritik im Linkshegelianismus im Exzellenzcluster
»Religion und Politik« an der Universität Münster. Einschlägige Ver-
öffentlichungen u. a.: »Zeit für Marx? Neuere Literatur zur Philoso-
phie von Karl Marx«. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 56
(2002), S. 449–467; »Die fragile Einheit des Marxschen Denkens.
Neuere Literatur zur Philosophie von Karl Marx«. In: Zeitschrift für
philosophische Forschung 60 (2006), S. 590–608; »Reflexionen der
›entgleisenden Modernisierung‹ : Jürgen Habermas über Naturalismus
und Religion«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007); Karl
Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. Studienausgabe mit
Kommentar. Frankfurt a. M. 2009; Karl Marx: Das Kapital. Kritik der
politischen Ökonomie. Erster Band. Studienausgabe mit Einleitung
und Kommentar. Hamburg (erscheint 2015).

Smail Rapic ist Professor für Philosophie an der Bergischen Univer-


sität Wuppertal. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Aufklärung, klas-
sische deutsche Philosophie und die nachhegelsche Philosophie des
19. Jahrhunderts, Phänomenologie und kritische Gesellschaftstheorie.
Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Subjektive Freiheit und Soziales
System. Positionen der kritischen Gesellschaftstheorie von Rousseau
bis zur Habermas/Luhmann-Kontroverse. Freiburg/München 2008.

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Kurzbiographien

Hans-Christoph Schmidt am Busch ist Professor für Philosophie an


der Technischen Universität Braunschweig. Seine Forschung liegt auf
den Gebieten der Politischen Philosophie, der Sozialphilosophie, der
Rechtsphilosophie und der Geschichte der Philosophie. Darüber hinaus
arbeitet er über die Geschichte und die Grundlagen der Ökonomik.
Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Hegels Begriff der Arbeit. Berlin
2002; »Personal Respect, Private Property, and Market Economy: What
Critical Theory Can Learn From Hegel.« In: Ethical Theory and Moral
Practice 11 (2008), S. 573–586; mit C. F. Zurn (Hrsg.): Anerkennung.
Berlin 2009; »Lassen sich die Ziele der Frankfurter Schule anerken-
nungstheoretisch erreichen?« In: H.-C. Schmidt am Busch, C. F. Zurn
(Hrsg.): Anerkennung. Berlin 2009, S. 243–268; »Anerkennung« als
Prinzip der Kritischen Theorie, Berlin/New York 2011; Hegel et le
saint-simonisme. Étude de philosophie sociale. Toulouse 2012; sowie
als Hrsg.: Charles Fourier: Über das weltweite soziale Chaos. Aus-
gewählte Schriften zur Philosophie und Gesellschaftstheorie. Berlin
2012; »›The Egg of Columbus‹? How Fourier’s Social Theory Exerted
a Significant (and Problematic) Influence on the Formation of Marx’s
Anthropology and Social Critique«. In: British Journal for the History
of Philosophy 21, 6 (2013), S. 1154–1174.

Ernest Wolf-Gazo ist Professor für Philosophie an der Amerika-


nischen Universität in Kairo. Er war Gastprofessor u. a. an den Uni-
versitäten: Bonn, Dortmund, Düsseldorf, Seoul, Istanbul, Ankara, Afy-
on Kocatepe, Kuala Lumpur. Einschlägige Veröffentlichung u. a.:
»Theodor W. Adorno: From Exile to Reconciliation«. In: Kutadgu Bilig
(Istanbul University Philosophy Journal), Vol. 4 (2003). S. 21–68.

428

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Personenregister

Abendroth, Wolfgang 364 Binswanger, Hans Christoph 163


Achterhuis, Hans 248 Blanqui, Auguste 231
Adorno, Theodor W. 13, 15, 22, 37– Bloch, Ernst 27, 44, 118, 356–357,
39, 44, 58–59, 71, 76, 129, 156, 158, 372
167–172, 204, 217, 220, 222, 226, Bohman, James 258
239, 262, 332, 361, 369, 372, 392 Böhme, Jakob 27, 335, 345, 356–357,
Albert, Hans 98 362–364, 366, 369, 372
Albert, Mathias 257–258 Bottomore, Tom 70
Althusser, Louis 47, 69 Bourdieu, Pierre 409
Améry, Jean 225 Brudney, Daniel 277
Anderson, Perry 44 Brumlik, Micha 107, 109, 236
Angehrn, Emil 327–329 Brunkhorst, Hauke 15, 23, 28–29, 65,
Apel, Karl-Otto 14, 19–20, 78, 81, 87, 217, 222, 228–229, 239–240, 244,
90, 94, 97–99, 105, 107–114, 116– 250, 254, 257–258, 262, 268, 277,
117, 349, 358–359, 365, 368–369, 332, 346, 399–400, 403, 405, 408,
399, 401–402, 404 411, 413–415, 417–418
Arendt, Hannah 43, 235, 254–255,
260, 405 Caney, Simon 231
Aristoteles 77, 81, 87, 99, 333, 353– Carnap, Rudolf 91
354, 360 Celikates, Robin 240, 242
Atkinson, Quentin D. 403 Cerroni, Umberto 131
Auerbach, Erich 370 Cerutti, Furio 206
Austin, John L. 95, 369 Chitty, Andrew 277
Cidam, Volkan 400, 402
Baader, Franz-Xaver 356, 372 Cieszkowski, August von 89
Backhaus, Hans-Georg 158, 183, 189, Comte, Auguste 72, 328
207 Cordero Vega, Rodrigo 43
Bakunin, Michail A. 16, 179, 355, 366 Creydt, Meinhard 130, 137
Baum, Manfred 14–15, 17, 50, 65, Crouch, Colin 12, 161–163, 214, 229,
69–70, 107, 221, 225 411, 414, 416
Becker, Oskar 347, 350, 356, 359–360
Beckert, Jens 213 Dahrendorf, Ralf 37, 372
Bell, Daniel 199 Darwin, Charles 404
Benjamin, Walter 334, 342, 356–357 Delanty, Gerard 43
Berman, Harold 406, 410 Deranty, Jean-Philippe 277

429

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Personenregister

Derrida, Jaques 215, 354 Geuss, Raymond 232


Descartes, René 19, 28, 78, 89, 95–96, Giddens, Anthony 45, 134
99, 109, 373, 375 Gilby, Ian C. 401
Dewey, John 91–93, 257, 370 Goldmann, Lucien 85, 118
Dobb, Maurice 142 Gouges, Olympe de 231
Doyé, Sabine 219, 223–224, 228 Gould, Stephen J. 403–405
Dreier, Horst 416 Greven, Michael Th. 207
Durkheim, Émile 72, 241, 287
Hagen, William H. 348–349
Eder, Klaus 49, 400, 402–403, 413 Hamann, Johann G. 396, 398
Einstein, Albert 91–92 Hartmann, Klaus 351
Eisenstein, Sergej 411 Hartmann, Martin 16, 39, 44–45,
Elbe, Ingo 15, 20–21, 123, 147, 151– 246
152, 158, 219–221, 223, 226 Hayek, Friedrich A. von 201
Ellmers, Sven 146 Hegel, Georg W. F. 28, 38–39, 44, 52,
Engels, Friedrich 12, 14–16, 19, 22, 60, 62, 65–66, 70–72, 76, 78, 83, 88–
31, 47, 49, 70, 89, 116, 130, 143, 152, 90, 94–95, 98, 102–103, 107–108,
154, 158, 164–166, 175–181, 189– 116, 142, 151, 157, 159, 168, 183,
190, 199–200, 280, 296, 348, 351, 188–190, 204, 219, 222, 225, 238,
355, 366, 400, 415, 421 266, 276, 299, 313, 322–323, 328–
Erikson, Erik H. 369 330, 332–333, 335, 345–347, 350,
Eucken, Rudolf 47 352–354, 356–357, 359–360, 363,
365–367, 369, 373–381, 383–385,
Fetscher, Iring 48, 75, 84 387, 390, 392, 395–399, 401, 407,
Feuerbach, Ludwig 16, 38, 70, 124, 412, 419
179, 299, 313, 354, 364, 366–367, Heidegger, Martin 77, 85, 106, 110–
371, 383, 385, 390, 396 112, 114–115, 117, 350, 358–360,
Fichte, Johann G. 329 362–363, 366, 368–369
Forst, Rainer 256, 309–311, 318, 320, Heinrich, Michael 22, 124, 127, 132,
323 138, 144, 147, 158, 182–183, 191–
Foucault, Michel 43, 46, 78, 111–112, 194, 196
252, 354, 402 Heinrichs, Michael 191
Frank, Manfred 335, 356, 367 Heller, Ágnes 14, 18, 75, 84–85, 104–
Fraser, Nancy 271, 275 108, 110–112, 114, 117–118
Freud, Sigmund 112, 171, 331, 337, Henrich, Dieter 380, 394
346, 359, 361–363, 372 Herder, Johann G. 47, 116, 396, 398
Freyer, Hans 42, 370 Hindrichs, Gunnar 254
Friedman, Milton 201 Hobbes, Thomas 52, 134
Fromm, Erich 361–362, 369 Hobsbawm, Eric 22, 66, 199, 354
Fuge, Herbert 261 Höffe, Otfried 231
Fuhrmans, Horst 356, 358 Honneth, Axel 38, 42, 46, 217, 246,
275
Gadamer, Hans-Georg 135, 203, 350, Horkheimer, Max 13, 15, 17, 22, 44,
364, 368, 370, 372 50–51, 58–59, 69, 71, 156, 158, 167–
Ganßmann, Heiner 137–140 172, 174, 204, 217, 220, 226, 238,
Gehlen, Arnold 42, 359, 364, 369 275, 342, 361–362, 369

430

https://doi.org/10.5771/9783495861127

.
Personenregister

Humboldt, Wilhelm von 396, 398 117, 144, 158, 187–191, 193–194,
Husserl, Edmund 99, 108, 156, 389, 198–199, 221, 223, 225, 262, 267,
393 321–322, 327, 332, 339–341, 344,
346, 417
Iser, Mattias 238, 242 Löwith, Karl 204, 329, 350, 356, 360,
367, 395
Jacobi, Friedrich H. 88 Luhmann, Niklas 13, 17, 49, 52, 65,
James, William 91–92, 396 78, 84, 137, 154, 165, 171–172, 174,
Joas, Hans 38, 131, 139, 241 176, 218, 221, 328, 330–331, 393,
Johnson, Simon 414 402, 405
Lukács, Georg 17, 44, 48, 51, 58–59,
Kaehler, Klaus E. 15, 28, 373, 395– 71, 75–76, 85, 222, 269, 350, 356
396, 398, 419 Lukes, Steven 44
Kant, Immanuel 19, 27–28, 39, 44, Luria, Isaak 335, 345, 356–357
47–48, 70, 76, 79–83, 85, 88–89, 91– Lyotard, Jean-François 235
94, 98, 100–102, 115, 119, 165, 239,
255, 257–258, 263, 299, 321, 323, Machiavelli, Niccolò 100
329, 332, 334–340, 342–344, 346, Marcuse, Herbert 27, 38, 40–44, 72,
349, 357, 360, 363, 369, 374, 392, 81, 117, 152, 356, 359, 361–363, 366,
397–398, 404, 406 369, 372
Karnein, Anja 315 Márkus, György 18, 84, 123, 131, 134
Kautsky, Karl 44, 48, 283 Marx, Karl 12–17, 19–23, 25–29, 31,
Kettner, Matthias 265, 267–268 37–39, 44, 47–48, 50–52, 58–64, 66,
Kierkegaard, Søren 38, 70, 89, 355, 69–72, 76, 89, 104–105, 112–113,
364, 366, 386, 396 116–118, 123–134, 136–137, 140–
Kluge, Alexander 405, 411 152, 154, 157–159, 164–168, 175–
Kohlberg, Lawrence 56, 117, 199, 203–207, 219, 221–226, 238,
369 244, 271, 277–284, 295–300, 307,
Korsch, Karl 44, 48 313, 317, 328–329, 332, 335, 340–
Krause, Ulrich 150 341, 345, 347–357, 360–367, 369,
Kreide, Regina 13, 23–24, 105, 229, 372–373, 386, 389–391, 393, 396,
231, 247, 259, 261, 263, 265–266, 399–400, 402–403, 405–411, 414–
268–271 415
Kuhlmann, Wolfgang 98 Maus, Ingeborg 250, 257
Kuhn, Thomas S. 70, 87, 403–404 Mayntz, Renate 232
Mayr, Ernst 403–404
Laclau, Ernesto 235, 408 McCarthy, Thomas 241, 285
Lafont, Cristina 20, 258 Mead, George Herbert 72, 92, 95,
Lakatos, Imre 403–404 394–396
Landshut, Siegfried 347, 351–352, Merleau-Ponty, Maurice 44, 332
362, 366, 390 Meyer, Lars 131, 139
Landwehr, Claudia 246 Moellendorf, Darrell 231
Lessenich, Stephan 251 Moore Jr., Barrington 239, 405
Lewontin, Richard C. 403–404 Moore, Robert I. 405
Locke, John 186–188, 257 Morris, Charles W. 90–91
Lohmann, Georg 15, 26–27, 112, 115, Mouffe, Chantal 235

431

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.
Personenregister

Müller, Horst 117 Quante, Michael 15, 25–26, 267, 277,


Müller, Wolfgang 143 280, 294, 296–297, 299, 304, 308,
Müller-Doohm, Stefan 13, 22–23, 69, 313, 315, 317, 320, 322, 324
203, 205, 216, 224, 226, 418
Rapic, Smail 13, 15, 21–22, 29–30,
Nagel, Thomas 254, 257 104, 108–109, 111, 115, 117, 154,
Nancy, Jean-Luc 235 199–200, 203, 219–220, 227, 229,
Neckel, Sighard 246, 285 294, 414, 421
Negt, Oskar 277 Rawls, John 27, 232, 343–344
Neuendorff, Hartmut 133 Regenbogen, Arnim 105, 320, 323
Nietzsche, Friedrich 39, 79, 112, 329, Reichelt, Helmut 207
351, 367, 401 Renault, Emmanuel 277
Nozick, Robert 276 Ricardo, David 142, 149
Richter, Ulrich 419
Offe, Claus 22–23, 39, 42, 67, 145– Ritter, Joachim 368, 370
147, 199, 217 Robinson, Joan 142
Ottomeyer, Klaus 132, 134 Rockmore, Tom 16, 38–39, 191,
Ouchi, William G. 233 296
Outhwaite, William 14, 16–17, 37, Röpke, Wilhelm 47
46–48, 69, 107 Rorty, Richard 20, 88, 91, 102, 109,
112–113, 119
Parreñas, Rhacel Salazar 245 Rothacker, Erich 48, 347, 350–352,
Parsons, Talcott 13, 17, 49, 52, 59–60, 356, 359, 364–365, 367–370, 372
71, 137, 165, 168, 171, 174–175, 241, Royce, Josiah 92, 396
369, 400, 409 Rubin, Isaak I. 225
Paschukanis, Eugen 225 Ruge, Arnold 16, 167, 179
Patberg, Markus 235 Runciman, Garry 45
Peirce, Charles S. 19–20, 90–94, 96,
102, 362, 369, 396 Saint-Simon, Henri de 72
Perpeet, Wilhelm 350–351, 365, Scharpf, Fritz W. 234
370 Scheler, Max 350, 364–365, 369
Petrović, Gajo 117 Schelling, Friedrich W. J. 15, 27, 330,
Piaget, Jean 56, 331, 337, 346, 405 335–336, 342, 345, 347, 349, 351,
Platon 70–71, 77, 87, 102, 105, 254, 355–364, 366–369, 372
359, 362 Schelsky, Helmut 42, 359, 409
Plechanow, Georgi W. 47 Scheuerman, William E. 41, 249, 257
Plessner, Helmuth 359, 364 Schleiermacher, Friedrich D. E. 398
Polanyi, Karl P. 72 Schmalz-Bruns, Rainer 240, 256–258
Pollmann, Arnd 240, 242 Schmidt am Busch, Hans-Christoph
Pollock, Friedrich 217, 359 15, 25, 275, 294–295
Popitz, Heinrich 372 Schmidt, Alfred 127, 130
Popper, Karl R. 76, 93, 142 Schmitt, Carl 235, 356
Postone, Moishe 22, 140, 143–144, Schmitter, Philippe 232–233
148, 158, 182, 188, 191, 194–198 Scholem, Gershom 345, 356, 369
Powell, Walter W. 233 Schröder, Gerhard 416
Proudhon, Pierre-Joseph 187 Schumpeter, Joseph A. 37

432

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.
Personenregister

Schwarzschild, Leopold 38 Vogel, Berthold 251


Searle, John R. 95, 369
Seidl, Thomas 143 Weber, Max 16–17, 40–41, 43, 52–
Shils, Edward 171, 174–175 54, 57–59, 62, 70–72, 119, 144, 157,
Siegmann, Georg 70, 110 179, 240–241, 260, 269, 354, 367,
Simmel, Georg 354 369, 375, 405, 408
Slaughter, Ann-Marie 235 Wellmer, Albrecht 20, 75, 94, 102,
Smith, Adam 134, 151, 159, 182–183, 336–337, 339, 346
186, 411 Westphal, Manon 315
Specter, Matthew 38, 40–42 Williamson, Olivier 233
Stalin, Josef W. 47–48, 225 Winch, Peter 135
Stirner, Max 70, 354, 364 Wingert, Lutz 239, 401
Strecker, David 240, 242 Wittgenstein, Ludwig 45, 78, 91, 96,
Streeck, Wolfgang 23, 72, 165, 199, 112
212, 217–218, 223, 232–233, 407, Wolf, Dieter 27, 124, 133, 141, 145,
410–411, 416 147–149, 330
Sweezy, Paul M. 142 Wolf-Gazo, Ernest 15, 27–28, 347,
370–372
Theunissen, Michael 333, 344
Thies, Christian 264 Xiaoping, Deng 407, 415
Tietgens, Hans 348
Tilly, Charles 407–408 Young, Brigitte 244
Tomasello, Michael 397, 400–402 Young, Iris Marion 244, 259
Trawny, Peter 417
Tugendhat, Ernst 114, 340, 401–402 Žižek, Slavoj 415

433

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.
Sachregister

Akkumulation (Reichtums- / Beobachter(perspektive) 13, 15, 17,


Kapital-) 60, 64, 129, 159, 184, 188, 22, 155–158, 165, 167 f., 171 f., 174,
409 f. 178, 180 f., 189–191, 193 f., 200–202,
Alltagssprache 106 228
Anerkennung 21, 46, 81, 128, 132, Bewusstsein 104, 217, 220, 279 f.,
134, 149, 188, 254, 275–277, 310, 291., 313, 327 f., 377, 380, 386, 397
317 f., 322, 340, 383 f. –, falsches 170–172, 174, 220, 222,
Anthropologie, anthropologisch 15, 238, 243
21, 26, 38, 72, 95, 117, 126 f., 135, –, fragmentiertes 156, 201, 220, 243
152, 297–299, 305 f., 308, 310–312, –, moralisch-praktisches / normati-
315, 317, 342, 352, 357 f., 363–367, ves 15, 17, 45, 49, 166, 173, 177,
369, 372, 383, 385, 405 286 f., 289–291, 412 f.
Arbeit 21, 39, 41, 43, 59, 104, 123– Bioethik / biomedizinische Ethik
126, 152, 295, 341, 352 f., 365 f., 399, 297 f., 301, 304 f., 307, 311, 315
402, 407 f., 412 Bürokratie, bürokratisch 43, 58, 64,
Arbeiter, Arbeiterklasse 112, 140 f., 130 f., 161, 242 f., 250–253, 265, 269,
143, 179 f., 183, 186, 194 f., 244, 399 285, 393, 402
Arbeitsteilung 141, 146, 176 f., 180,
187 Demokratie, demokratisch 12, 14,
Arbeitswerttheorie 59, 104, 143, 206, 63 f., 66 f., 79 f., 83 f., 118, 216–218,
295 223, 226–229, 258–261, 263 f., 269 f.,
Aufklärung, (un)aufgeklärt 48, 51, 295, 302, 308, 318, 396, 406, 411,
80, 166, 172 f., 178, 199, 201 f., 243, 414–417, 422
298, 305, 307, 314, 319, 323 f., 328 f., Deontologie, deontologisch 26, 100 f.,
331, 334 116, 299 f., 308–310, 312, 315 f.,
Ausbeutung 61, 84, 133, 135 f., 142, 318 f., 323 f.
178, 185, 187, 193, 238 f., 244 f., 252, Deregulierung / Deregulierungspoli-
264, 267 f., 405–407 tik 162, 181, 209, 214, 414
Austeritätspolitik 411, 416 Determinismus, deterministisch 164,
Autonomie, autonom 44, 166, 211, 168, 181, 196
242, 249, 252, 291, 316 Detranszendentalisierung 94
Dialektik, dialektisch 38, 48, 89, 103,
Basis / Überbau 13 f., 39, 44, 130, 107, 126, 128, 131, 134, 139, 142,
166 f., 176 f., 179, 181, 186, 192, 220, 147, 156, 158, 167 f., 170, 172, 174,
278–283, 388 188, 200, 203, 207, 225, 232, 262,

434

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.
Sachregister

268, 283 f., 314, 329, 335, 346–348, 125, 236, 305, 307–310, 312 f., 321 f.,
353, 357, 360, 363–366, 391, 395, 332, 335, 337, 346, 386
407 Eugenik, eugenisch 297, 306 f., 315,
Dialektischer Materialismus 107, 301 317–319
Differenzierung 60–62, 97, 123, 313, Evolution, evolutionär 13, 15, 29, 44,
318, 375, 384 45, 49–52, 56, 61, 156, 164, 166 f.,
–, funktionale 233, 248, 250, 399, 177, 190, 231, 268, 276 f., 281, 283 f.,
407–409 287 f., 290 f., 294 f., 319, 330 f., 337 f.,
–, System- 44 f., 58, 61, 408 f. 346, 385, 397, 399–402, 404, 406–
Diskursapriori 97 408, 411 f., 415
Diskursethik 76, 78, 84 f., 97, 99–101, Existenz, existenziell 41 f., 106, 117 f.,
219, 221, 323, 337, 340, 394 126, 159, 172, 184, 279 f. , 296, 365,
Diskursverweigerung 99 382, 384–386, 388 f., 391, 394
Dogma, dogmatisch 16, 90, 98, 102,
198, 226, 282, 285, 301, 306, 312, Feudalismus, feudalistisch 61, 178,
360, 403 190, 285
Dritter Weg 21, 182, 414–418, 421 f. Finanzkrise s. Weltfinanzkrise
Fortschritt 15, 29, 38, 55, 62, 87, 94,
Eigentum / Eigentumsverhältnisse 101, 104, 195–197, 290, 308, 315,
54, 60–62, 132 f., 135, 138, 142, 225, 327 f., 338 f., 341 f., 345, 378, 404
275, 279 f., 288, 291, 415 –, gesellschaftlich-moralischer 49,
Emanzipation 27, 29, 51, 89, 129 f., 62, 329, 338, 412
138, 147, 176 f., 203, 236, 239, 245, –, ökonomischer 243
262, 266 f., 334, 336–338, 372, 378, –, wissenschaftlich-technischer 49,
389, 409 300, 329, 412
Empirie / Empirismus, empirisch 18, Frankfurter Schule 13 f., 16, 42, 118,
24, 43, 63, 70, 72, 76, 79–83, 86 f., 89, 217, 275 f., 345
91, 93–95, 102–104, 111 f., 127, 129, Freiheit 67, 80–83, 106, 188, 198,
131, 142, 145 f., 154, 170, 195, 199 f., 240, 245 f., 254, 257, 260, 262 f., 267–
202, 217, 220, 226, 228, 230 f., 234 f., 270, 276, 291, 296, 309, 313, 316,
237–239, 252, 258, 282 f., 287, 305, 321, 327, 336, 339, 392, 405 f., 417
330, 332, 339, 342, 345, 354, 359, Funktionalismus, funktionalistisch
382, 390, 397 46, 49, 52, 54, 105, 139, 241, 292,
Enhancement 306, 314, 317 294 f., 330
Entfremdung, entfremdet 62, 66,
125, 130, 238, 242, 267, 335, 378, Gattungsethik 26, 298–301, 303, 304,
391 307, 309–311, 318 f., 321 f.
Entwicklungsdynamik 52, 287, 331 Gattungsgeschichte 15, 50 f., 65, 173,
Entwicklungslogik 15, 17, 23, 52, 54, 282, 286, 330, 390
56 f., 116 f., 127 f., 166, 173, 177 f., Gattungswesen 26, 296–299, 306 f.,
205, 286 f., 290, 331, 346, 399 313
Entwicklungsniveau / -stufen 44, Gebrauchswert 60, 124, 126, 129,
283, 288 f., 337 138, 143–145, 149, 225, 295
Erste Philosophie 19, 87 f., 94, 97–99, Geist 178 f., 381 f., 387
101, 103, 373, 384, 392 –, objektiver 377, 382, 397, 406
Ethik, ethisch 85, 113–115, 117, 119, –, subjektiver 397

435

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.
Sachregister

Geld (als Steuerungsmedium) 14, 58, Humanismus (Post-, Trans-) 38, 296,
136–140, 142, 144, 150, 182 f., 241– 300 f., 306, 314, 318 f.
243, 250 f., 262 f.
Geldsystem 188, 198 Idealismus, idealistisch 15, 38, 65, 71,
Geltungsanspruch / Geltungsansprü- 230–232, 236, 238, 338, 347, 367–
che 18, 54, 80, 86, 89, 106, 109– 369, 392
111, 262, 267, 292 f., 393 f., 397, Ideologie, ideologisch 42, 48, 59,
402 116, 129, 152, 156, 167, 170–174,
Genese / Geltung 307, 373–375, 384, 181, 186, 227, 244, 307, 313, 400,
395 411
Geschichtsphilosophie 26 f., 37, 47, Ideologiekritik 15, 22, 38, 170, 172–
89, 108, 127, 164, 181, 200, 204 f., 174, 180, 185, 200 f., 220, 222 f.,
280, 282, 327–346, 362, 364, 412, 227 f., 292, 331, 411
419 Imperativ, kategorischer 100, 115 f.,
Gesellschaftsformation 150, 156, 119, 178 f.
164, 177 f., 183 f., 218 In-der-Welt-Sein 78, 80, 106, 109 f.,
Gleichheit 67, 147, 188, 197 f., 208, 117 f., 299, 305
257, 260, 271, 294 f., Institutionalisierung, institutionali-
Globalisierung 104, 229, 231, 233, siert 38, 52, 61, 84, 133, 206, 211,
237, 243 f., 248, 252, 264 f., 270, 285, 260, 270, 275, 286, 289, 388, 415,
399, 410 f., 416–418 418
Instrumentalisierung 242, 250, 298,
Handeln 300, 308
–, kommunikatives 45, 53, 78, 86, Interaktion 21, 39, 45, 123–125, 132–
286, 388, 391, 401, 412 134, 136, 139, 141, 144, 148, 180,
–, strategisches 45, 52–53, 286, 292, 244, 332, 399 f., 412
388 f., 400 Interesse(n) 151 f., 247, 292, 295,
–, zweckrationales / instrumentelles 298, 303, 405 f.
43, 53, 55 f., 124, 135, 252, 286, 318,
388 f., 400 f., 412 Junghegelianer, junghegelianisch 47,
Handlungstheorie 52, 66, 71, 144, 347–349, 354, 359 f., 362–367, 369,
150, 152, 206, 240 f., 343, 412 395 f., 398
Herrschaftsfreiheit, herrschaftsfrei
32, 78–80, 82 f., 128, 208, 261, 336 Kabbala, kabbalistisch 335, 356 f.,
Herrschaftsverhältnisse / Herrschafts- 366, 369
strukturen 13, 71, 133, 178, 180, Kapital(verhältnis) 12–15, 22 f., 61,
269 66, 104, 118, 125, 128, 130, 132 f.,
Historischer Materialismus 12–19, 136 f., 140–147, 150, 152, 157–159,
25 f., 30 f., 37–50, 52, 69 f., 89, 95, 168, 179, 182, 185, 187–191, 193,
104, 112, 115 f., 152, 156–158, 164 f., 195 f., 198, 204, 206 f., 224, 276, 289,
168, 175, 181 f., 185, 188, 191, 198, 354, 399 f., 402, 407–409, 416
200, 228, 275–279, 282–294, 296– Kapitalakkumulation s. Akkumulation
299, 301, 307, 313, 315, 330 f., 353, Kapitalismus 11–13, 15, 21–23, 25,
359, 366, 397, 399 f., 421 29, 31 f., 39, 41, 50–52, 55, 59 f., 61–
Humangenetik 15, 26, 299 f., 303, 64, 66 f., 104, 130 f., 134, 136 f.,
307–310, 315, 317 140 f., 143, 145–152, 154 f., 160–163,

436

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Sachregister

182, 185 f., 188–192, 194, 196 f., 199, Lernprozesse 44, 49, 65, 202, 205,
216–218, 224–228, 230, 237, 244, 266, 287 f., 337, 397, 405, 409,
246, 249, 264 f., 269–271, 276–278, 412
283, 285, 288, 294, 354, 399, 407– Letztbegründung 88, 97 f., 100, 324
411, 414–418, 421 f. Linguistische Wende 65, 78
Keynesianismus, keynesianisch 138, Lohnarbeit / Lohnabhängige 136,
243 f., 269, 410 159
Klassenbewusstsein 51, 65
Klassenkampf / Klassengegensatz 29, Macht 17, 58, 136, 178–180, 262,
64, 66, 132, 399 f., 402–405, 407– 384, 403, 407
411, 417 –, administrative 241 f., 257, 267
Klassenverhältnisse 21, 23, 58, 60– –, kommunikative 230, 253–262,
62, 66, 125, 136 f., 179, 200, 224, 268, 266 f.
295 Marktwirtschaft, marktwirtschaft-
Kolonialisierung der Lebenswelt 24, lich 11, 31, 139, 213 f., 276, 289,
58, 131, 139, 230, 240–253, 260, 407, 410, 415, 417
262–270, 409 Marxismus, marxistisch 12–14, 21,
Kommunikationstheorie, kommunika- 37–49, 58, 63, 76, 84, 104, 117 f.,
tionstheoretisch 14, 16–18, 51, 59, 123, 152, 157, 164, 219 f., 222, 277,
63, 129, 225, 346, 396 399, 410
Kommunismus, kommunistisch 39, Mehrwert 133, 185 f., 192, 194, 196 f.,
47 f., 62, 75, 78 f., 130, 160, 169, 179– 245, 295
181, 225, 296 f., 410 Menschenrechte 178 f., 186, 190, 192,
Konsens, konsensuell 20, 80–83, 197, 230, 264, 318, 323, 338 f., 401,
93 f., 102, 105, 118, 230, 412 406, 417
Krise 11–13, 15, 22, 29, 43, 49, 67 f., Metaphysik, metaphysisch 70, 78,
106, 138, 150–152, 154 f., 160, 164, 87, 90, 93, 95, 97, 166, 313, 318, 345,
173, 180, 199 f., 217, 224, 228 f., 373 f., 376, 383 f., 390 f., 395
236 f., 243, 251, 256, 271, 296, 310, Möglichkeit (objektive) 22, 50, 80,
375 f., 390, 404, 407 f., 410–413, 417, 114, 164 f., 168–170, 172 f., 181, 200,
421 f. 224
Kritische Theorie 13, 16, 22, 38, 42, Monetarisierung 24, 59, 63, 145, 207,
46, 50 f., 69, 123, 130, 156, 171–173, 242, 244, 270
181, 217, 219–221, 226, 228, 237, Moral / Moralität, moralisch 26, 52,
240, 261, 270, 327–331, 333 f., 336, 57, 97, 100, 119, 231 f., 248, 263, 288,
338 f., 341, 343 299–301, 303–314, 316, 318 f., 322,
332 f., 337 f., 340, 342, 394, 401,
Lebensform 18, 43, 82, 85, 128, 302, 404 f.
318 f., 321 f., 324, 332, 337 f., 340 Mystik, mystisch 27, 307 f., 356 f.
Lebenswelt, lebensweltlich 17, 43, 57,
59 f., 62, 64 f., 137, 139, 145, 152, nachkapitalistisch s. postkapitalistisch
172, 194, 240–243, 260, 263, 266, nachmetaphysisch 27 f., 77 f., 87 f.,
270 f., 277, 287, 304, 312, 319 f., 217, 299, 313, 334, 344, 373, 375,
337 f., 340 f., 391, 397 378, 386, 393, 396, 398
Legitimationskrise/-probleme 29, Natur 26, 104, 123–127, 129, 296–
153, 218, 406–408 301, 303–308, 310–313, 315, 317–

437

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Sachregister

319, 322, 324, 336, 340, 342, 345, Politische Ökonomie 17 f., 29, 58, 60,
380–382, 387, 392 f., 396, 410 63, 71 f., 125, 151, 158, 187–191,
Naturalismus, naturalistisch 71, 142, 193, 195 f., 198 f., 224, 278, 280, 341
144, 149, 165, 296, 301, 310, 313, Positivismus / Positivismusstreit 75,
385, 393, 397 152, 220, 332
Naturrecht, naturrechtlich 52, 185– postkapitalistisch 218, 337
187, 300 f., 303, 305, 308, 311 f., 314, postkonventionell 212, 288–291, 295
317, 322 postmetaphysisch s. nachmetaphysisch
Neoliberalismus, neoliberal 11 f., Pragmatismus 14, 47, 90 f., 93, 102,
23–25, 66, 155, 162, 181, 201, 222, 338, 344, 369, 396
244, 247, 252, 260, 269, 314, 411, Praxis 19, 50, 71, 90, 117 f., 124,
416 128 f., 140, 145 f., 152, 201, 217, 226,
Normativität, normativ 82, 87, 105, 238, 257, 262, 266 f., 297, 338, 347–
115 f., 217, 220, 226, 230, 236–240, 349, 355, 386, 389, 391–394
242, 248 f., 253, 258, 261, 267, 270, Privateigentum s. Eigentum
275–278, 286–295, 299 f., 304, 306 f., Privatrecht s. Recht
310, 312 f., 317, 322–324, 330, 332– Produktionsmittel 60–62, 66, 131,
334, 337, 339, 345, 375, 377, 387, 244
395, 397, 399–405, 411, 413, 417 Produktionsparadigma 18, 104,
123 f., 145, 150, 152, 412
Objektivismus, objektivistisch 27, 65, Produktionsverhältnisse 21, 60, 104,
139, 164 f., 189 f., 198, 228, 282, 323, 125 f., 128 f., 148, 150, 278–281,
332, 334, 336, 340 283 f., 366, 388, 411, 415
Öffentlichkeit, öffentlich 11 f., 24, Produktivkräfte 40, 42, 45, 49, 66,
30, 38, 57, 62, 67, 75, 79, 83, 102, 104, 124, 126, 128, 135, 144, 202 f.,
119, 156, 161, 201, 204, 209–212, 220, 255, 278–281, 283 f., 365, 388,
215, 219, 221, 223, 228, 232, 234– 400, 403 f., 407, 411–413
236, 242, 244, 246–248, 252–255, Proletariat, proletarisch 104, 113,
257, 259–264, 267, 269–271, 296, 165, 189, 192–195, 197 f., 226
317 f., 336, 338, 343, 348, 364, Psychoanalyse 38, 129, 346, 361 f.
410 f.
Ökonomie, ökonomisch 14, 18, 29, Rationalität(en) 81, 220, 266 f.
57 f., 63, 66, 71 f., 119, 124–127, 130, –, Handlungs- 53
132–136, 138, 142, 146, 150, 157 f., –, instrumentelle / Zweck- 43, 53, 55,
160, 162 f., 166 f., 175, 180, 182–184, 124, 139, 142, 241, 262, 243
186 f., 189–191, 193, 195 f., 198 f., –, kommunikative 220, 332, 339
202, 208, 211, 213 f., 217, 219, 222 f., –, Norm- 53, 56, 290
225, 231, 235, 243 f., 246, 248, 252, –, strategische 43, 55 f., 100, 146
262, 264 f., 267 f., 278–280, 282 f., –, System- 53, 56
285, 297, 307, 313 f., 384, 393, 399, Rationalisierung 16, 43, 52, 58, 156,
408 268 f., 337 f., 341
Ontologie 87–89, 93, 97, 99, 112, Recht 15, 24, 43, 49, 133 f., 188, 190,
117, 194, 198, 220, 283, 304, 306, 216 f., 262–264, 268, 270, 301, 332 f.,
308, 312 f., 317, 382, 398 343 f., 399, 404–406, 408 f., 417
Organisationsprinzip 12, 21, 155, –, modernes 52–57, 291, 295, 409
285–289, 292 f., 417 –, bürgerliches 52, 54, 270

438

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Sachregister

–, öffentliches 56, 270 Sozialintegration / Systemintegra-


–, Privat- 25, 55 f., 131, 136, 243, 249, tion 45, 59, 220, 241, 287, 386, 393,
275–278, 288–293, 295 404
Reduktionismus, reduktionistisch 39, Sozialismus, sozialistisch 277, 285,
166 f., 177, 179, 188, 190, 193, 301, 288 f., 294, 407, 410, 414–416
313, 382 Sozialität 28, 384–386, 389, 391, 410
Religion, religiös 22, 71, 92, 100, 166, Spätkapitalismus 58, 63–65, 123,
173, 176–178, 201, 215 f., 220, 227, 159, 218, 228, 240, 410 f., 416, 418
229, 288, 297, 305, 307, 311, 336, Staat, staatlich 52, 57, 61, 66, 160,
345, 355, 367, 377 f., 380, 405–409 176 f., 181, 185, 199, 217, 234, 243,
Revolution 49, 66, 104, 107 f., 218, 251 f., 258 f., 263, 266, 270, 280, 390,
333, 397, 399 f., 402–408, 410, 417, 408, 410, 413 f., 416
418 Subjekt / Subjektivität 78, 95 f., 110,
–, gesellschaftliche 29, 62, 71 f., 104, 112, 125 f., 220, 229, 282, 291, 309,
107, 234, 256, 279, 281, 413 319, 327, 330
–, wissenschaftliche 70, 87, 404 –, dezentriertes 28, 375, 385, 387,
389, 391 f., 393 f., 396
Schuldenkrise s. Weltwirtschaftskrise –, endliches 374, 377, 379, 384
Selbstbeschreibung 173, 176–178, –, transzendentales 80, 392
180 f., 185, 190, 313, 328 Subjektphilosophie 28, 95, 108, 220,
Selbstbestimmung 127, 211, 215, 373–396, 398
237, 302 f., 306 f., 309, 311, 316, 321, Subsystem(e) 57 f., 61, 124, 136 f.,
339, 378, 387, 391 241, 341, 399
Selbstreflexion, selbstreflexiv 13, 15, System, systemisch 17, 57, 59 f., 62,
19, 22, 28, 50 f., 65, 90, 158, 164, 168, 65, 111, 194, 198, 218–220, 222, 225,
181, 198, 220, 238, 305, 313, 331, 233, 241 f., 263, 270, 276 f., 282, 341,
336, 392, 420 399, 404, 406–410
Selbstverständigung 16, 26, 72, 217, Systemintegration s. Sozialintegration
302, 304, 306, 313, 334, 336 f., 341, Systemkrise s. Krise
344, 386, 395, 398 Systemprobleme 15, 45, 54, 167,
Semantik, semantisch 91, 271 283 f., 287, 289
Sittlichkeit, sittlich 55, 57, 60, 62, Systemtheorie, systemtheoretisch
128, 131, 219, 225, 288, 291 f., 299, 13, 21, 65, 125, 134–136, 149 f., 165,
304, 322 f., 333, 338 f., 346, 378, 168, 171–174, 206, 233, 240 f., 287,
390 f. 330, 393, 413
Situation (Handlungs- / historische)
38, 66, 79, 115, 172, 181, 238, 243, Tabu / Tabuisierung 173, 261, 306–
269, 281, 284, 286 f., 299, 318, 334, 308, 314
339, 346 Tauschwert 143, 145, 182–186, 195–
Sklave, Sklaverei 183, 192, 239, 406, 198, 225, 295
409 Tauschwirtschaft 176 f., 180, 195
Solipsismus, solipsistisch 99, 101, Technokratie, technokratisch 38, 40,
108 f. 67, 218, 236, 263
Sozialethik Technologie, technologisch 38, 40–
–, bürgerliche 177, 190, 192 43, 143, 195, 286, 300 f., 314 f., 318 f.
–, religiöse 178 Teilnehmer(perspektive) 13, 15, 17,

439

https://doi.org/10.5771/9783495861127

.
Sachregister

22, 155–158, 165, 167 f., 171 f., 174, Vernunft 89, 108, 110 f., 116, 139,
178, 180, 182, 185, 190 f., 193–195, 220, 223, 305, 339, 342 f., 374, 377,
200–202, 228, 388 379, 391
Teleologie, teleologisch 17, 49, 92, –, kommunikative 332 f., 337, 339,
100 f., 115, 117, 329 f. 363, 391–393, 395, 405
Tiefenpsychologie s. Psychoanalyse –, praktische 237, 299, 306, 310, 338
Transzendentalphilosophie 89 f., 94 f., Vorurteil s. Ideologie
305, 333, 340
Transzendentalpragmatik, transzen- Warenform / Wertform 13 f., 22, 52,
dentalpragmatisch 19, 87 f., 90, 59, 129, 142, 153, 157, 161, 168, 182,
94 f., 101, 103, 110, 116 184–186, 190–195, 198, 200, 221
Weltfinanzkrise 11, 67, 222, 229, 271,
Überbau s. Basis 421 f.
Universalismus, universalistisch 56, Weltgeschichte 104, 164, 166, 178,
85, 112–117, 288, 290, 292 f., 299, 279, 376
303, 305, 311 f., 321 f., 339 f., 405 Wirtschaft 52, 54–57, 59, 61 f., 64,
Universalpragmatik 43, 94 f., 97 66 f., 129, 136 f., 139, 150, 160, 162,
165, 168, 206–208, 212–215, 217,
Verdinglichung / Vergegenständli- 226, 228, 229, 233, 241, 247 f., 269,
chung 58 f., 62, 65, 79, 243 271, 277, 285, 295, 407–411, 415–
Vergesellschaftung von Produktions- 417, 422
mitteln 414, 421 f.

440

https://doi.org/10.5771/9783495861127

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