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Habermas
und der
Historische
Materialis-
mus
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B
Smail Rapic (Hg.)
Habermas und der
Historische Materialismus
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Seit dem Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 ist die Kapitalismus-Kri-
tik von Karl Marx und Friedrich Engels von neuem ins öffentliche Be-
wusstsein gerückt. Auf einer Tagung an der Universität Wuppertal ha-
ben Vertreter verschiedener Disziplinen mit Jürgen Habermas über
seine Rekonstruktion des Historischen Materialismus diskutiert.
Durch die Mitwirkung von Karl-Otto Apel und Agnes Heller wurden
Grundfragen der Habermas’schen Kommunikationstheorie und ihre
Rolle in der Geschichte des westlichen Marxismus in die Diskussion
einbezogen. Was den Band von sonstigen Tagungsbänden abhebt, sind
die Entgegnungen von Jürgen Habermas sowie repräsentative Aus-
schnitte aus der öffentlichen Diskussion.
Der Herausgeber:
Smail Rapic, geb. 1958, ist Professor für Philosophie an der Universität
Wuppertal. Buchveröffentlichungen u. a.: »Subjektive Freiheit und
Soziales System. Positionen der kritischen Gesellschaftstheorie von
Rousseau bis zur Habermas/Luhmann-Kontroverse« (2008).
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Smail Rapic (Hg.)
Habermas
und der
Historische
Materialismus
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans Böckler-Stiftung
2. Auflage 2015
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Inhalt
Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Smail Rapic
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Lambert T. Koch
Grußwort zur Tagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
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Inhalt
Karl-Otto Apel
Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der
Ersten Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
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Inhalt
Michael Quante
Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens:
Jürgen Habermas über die Zukunft der menschlichen Natur . . . 296
Entgegnung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
Kurzbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
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Siglenverzeichnis
Jürgen Habermas:
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Einleitung
1 Habermas: »Am Euro entscheidet sich das Schicksal der Europäischen Union«. In:
ders.: Zur Verfassung Europas. Berlin 2011, S. 112–119, hier: S. 117.
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Ebd.
3 Habermas: »Heraus aus dem Teufelskreis«. In: Süddeutsche Zeitung, 22./23. Septem-
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Einleitung
Völkerrechts – Ein Essay zur Verfassung Europas«. In: ders: Zur Verfassung Europas
(s. Anm. 1), S. 39–96, hier: S. 81.
5 Wie Habermas betont auch Colin Crouch, dass der Neoliberalismus »nach dem Zu-
sammenbruch der Finanzmärkte politisch einflussreicher dasteht denn je.« (Das be-
fremdliche Überleben des Neoliberalismus. Berlin 2011, S. 12).
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Einleitung
Schriften. Bd. 4: Schriften 1936–1941. Hrsg. von A. Schmidt und G. Schmid Noerr.
Frankfurt a. M. 1988, S. 162–216.
8 Vgl. insbes. Habermas: Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt
a. M. 1998, S. 78–90, 137–169; ders.: Zeit der Übergänge (Kleine Politische Schriften
IX). Frankfurt a. M. 2001, S. 85–104; Zur Verfassung Europas (s. Anm. 1), S. 99–119.
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Einleitung
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Einleitung
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Einleitung
9 Engels: Die Kommunisten und Karl Heinzen (1847), MEW 4, 321 f.; Marx an Ruge,
September 1843. In: Ein Briefwechsel von 1843 [zwischen Marx, Ruge, Bakunin und
Feuerbach], MEW 1, 346.
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Einleitung
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Einleitung
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Einleitung
Karl-Otto Apel weist auf die sachlichen Bezüge zwischen den mit-
einander verwandten Konzeptionen seiner eigenen Transzendental-
pragmatik und der von Habermas in den 1970er-Jahren entwickelten
Universalpragmatik auf der einen Seite und dem Historischen Mate-
rialismus auf der anderen hin, wobei aus seiner Kritik an der »ortho-
doxen Endfassung« des Historischen Materialismus bei Marx und En-
gels hervorgeht, dass er vor allem deren Frühschriften im Blick hat. Die
dort entworfene Wissenschaft der Geschichte, die das Potential für ge-
sellschaftliche Veränderungen in der gegenwärtigen historischen Si-
tuation freilegen soll, versteht sich als kritische Selbstreflexion der
menschlichen Praxis. Während Marx und Engels der Philosophie kein
selbständiges Existenzrecht zubilligen, insistiert Apel darauf, dass der
Historische Materialismus, sofern er sich als Selbstreflexion der
menschlichen Praxis begreift, eine genuin philosophische Dimension
in sich birgt: Er muss sich selbst in die Entwicklungsgeschichte der
kollektiven Praxis, die er rekonstruieren will, einordnen und hierbei
die normativen Maßstäbe, mittels derer er die herrschenden Verhält-
nisse kritisiert, rechtfertigen.
Apel und Habermas sind sich mit dem Historischen Materialis-
mus darin einig, dass die metaphysische Ursprungsgestalt der Ersten
Philosophie überholt ist. Das von Descartes inaugurierte zweite Para-
digma der Ersten Philosophie – die Bewusstseinsphilosophie – ist nach
Apel und Habermas methodisch unzureichend; es spielt auch für den
Historischen Materialismus keine Rolle. Der Ursprung des dritten Pa-
radigmas liegt im amerikanischen Pragmatismus, der die sprachana-
lytische Philosophie maßgeblich beeinflusst hat. Apel verknüpft ihn
in seiner Transzendentalpragmatik, Habermas in seiner Universalprag-
matik mit der transzendentalen Fragestellung Kants. Der amerika-
nische Pragmatismus berührt sich insofern mit dem Historischen
Materialismus, als er die Vernunft in eine zukunftsorientierte ge-
schichtliche Praxis einbettet. Dies geschieht im Pragmatismus in drei-
facher Hinsicht: (1) Sein Begründer, Charles S. Peirce, stellt die »prag-
matische Maxime« zur Klärung und eventuellen Neudefinition tra-
dierter Begriffe auf, dass deren Sinn anhand von zukunftsorientierten
Gedankenexperimenten auf den Prüfstand zu stellen sei. (2) Auch
Peirce’s Verständnis der Wahrheit ist zukunftsorientiert: Er betrachtet
die Herbeiführung eines Konsenses unter den jeweiligen Experten in
the long run – diesen nennt er die ultimate opinion – als das maßgeb-
liche Wahrheitskriterium. (3) Als ethisches Pendant zu dieser regulati-
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Einleitung
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Einleitung
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Einleitung
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Einleitung
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Einleitung
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Einleitung
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Einleitung
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Einleitung
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Einleitung
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Einleitung
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Grußwort zur Tagung
Lambert T. Koch, Rektor der
Bergischen Universität Wuppertal
Liebe Tagungsteilnehmer,
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Grußwort zur Tagung
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Lambert T. Koch
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Grußwort zur Tagung
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I. Habermas’ kommunikationstheoretische
Wende und das Erbe des Historischen
Materialismus
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William Outhwaite
Kontinuitäten und Diskontinuitäten in
Habermas’ Auseinandersetzung mit dem
Historischen Materialismus 1
Es geschieht oft, dass sich Leute in der Jugend zum Marxismus beken-
nen und später langsam von ihm entfernen. Dies ist, wie mir scheint,
bei Habermas allerdings nicht der Fall. War er schon in Theorie und
Praxis (1963) ein kritischer Freund des Historischen Materialismus, so
ist er es danach geblieben, mal freundlicher, mal kritischer. Ein ortho-
doxerer Marxist hätte sich nicht schon 1960 so ernsthaft mit »vier Fak-
ten gegen Marx« auseinandergesetzt. Diese gegenwärtigen Fakten in
den entwickelten kapitalistischen Ländern (Verschränkung von Staat
und Gesellschaft, steigender Lebensstandard, Auflösung des Proleta-
riats, sowjetische Diktatur) »bilden gegen eine theoretische Rezeption
des Marxismus […] eine unüberwindliche Barriere« (TP1 166), wie
auch gegen die »verschwiegene Orthodoxie« (gemeint ist vermutlich
Adorno): »deren Kategorien verraten sich in der kulturkritischen An-
wendung, ohne als solche ausgewiesen zu werden« (TP1 170). Trotz-
dem sei der Marxismus als »Geschichtsphilosophie in politischer Ab-
sicht« noch ernst zu nehmen und nicht in den Einzelwissenschaften
aufzulösen (wie bei Schumpeter und vielleicht auch bei Habermas’
Freund und ehemaligem Kollegen Ralf Dahrendorf). Noch früher,
1955, hat Habermas in einer Rezension eine umfassende Kenntnis der
gegenwärtigen Literatur zu Marx demonstriert. Hier nimmt man die
Präsenz von Motiven wahr, die in seinen späteren Äußerungen zu
1
Ich danke Simon Susen (City University, London) sehr herzlich für seine Ermutigung
und stilistischen Korrekturen.
2
Jürgen Habermas: »Concluding Remarks«. In: Craig Calhoun (Hrsg.): Habermas and
the Public Sphere. Cambridge, Mass. 1992, S. 462–479, hier: S. 469.
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William Outhwaite
Marx eine wichtige Rolle spielen. Erstens die Kritik an Ansätzen, die
»Marx sehr dicht, zu dicht, an Hegel heranrücken«. 3 Dann die Vertei-
digung von Marx gegen verleumderische und unseriöse Kritik (hier ein
Buch von Leopold Schwarzschild), bei gleichzeitiger Betonung der
»ernsthafte[n] Frage, […] wie eine humanistische Ideologiekritik [auch ein
wichtiges Motiv der Habermas’schen Marx-Aneignung] zu einer institutio-
nalisierten Ideologie der Inhumanität entarten könnte. Unsere Vermutung
geht dahin, dass Marx’ Mißverständnis der Technologie, obschon er zu ihrem
Verständnis wie kein zweiter beigetragen hat, in diesem Zusammenhang eine
wichtige Rolle spielt.« 4
Etwas später, 1958, betont Habermas in einem Handbuch-Artikel zur
Anthropologie den innovativen Charakter des Marxismus im Gegen-
satz zu einem
»Idealismus, der die eigentlich anthropologische Problematik nur in Funktion
zur Fundamentallogik eines transzendentalen Bewußtseins oder eines abso-
luten Geistes abhandeln konnte. Erst von den Neuhegelianern, Feuerbach
und Marx voran, wird ein neuer Problemboden gewonnen: zusammen mit
Kierkegaard arbeiten sie die Situationsbezogenheit des Menschen heraus: sie
erkennen, daß der Mensch die ›Welt‹ des Menschen ist.« 5
Habermas schließt den Artikel mit einem Hinweis auf die »Verbindung
von Anthropologie und Theorie der Gesellschaft«, die Marcuse und
andere in den USA über die Psychoanalyse versuchen. 6 Im selben Jahr,
1958, so hat er 1981 in einem Interview berichtet, habe er Marx zum
ersten Mal als ökonomischen Denker ernst genommen und, unter
Adornos Einfluss, es sich abgewöhnt, Marx anthropologisch zu lesen. 7
Aufsätze 1954–1970. Amsterdam 1970, S. 75–80, hier: S. 78. Siehe dazu: Tom Rock-
more: Habermas on Historical Materialism. Bloomington/Indianapolis 1989, S. 185
Anm. 42.
4 Habermas: »Marx in Perspektiven« (s. Anm. 2), S. 80. Das Thema der Technokratie
6 A. a. O., S. 180.
Honneth, Eberhard Knödler-Bunte und Arno Widmann«. In: Ästhetik und Kommuni-
kation 45–46 (1981), S. 126–157. Dies ist ein möglicher Diskussionspunkt, weil Hon-
neth und Joas ihre kritische Theorie teilweise in Verbindung mit Anthropologie ent-
wickelt haben.
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Matthew Specter: Habermas (s. Anm. 4), S. 90.
11 A. a. O., S. 122.
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Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit dem Historischen Materialismus
15 A. a. O., S. 127.
lichen Form des Konferenzbandes Max Weber und die Soziologie heute (s. Anm. 12).
Siehe auch Marcuse: »Some Social Implications of Modern Technology«. In: Andrew
Arato/Eike Gebhardt (Hrsg.): The Essential Frankfurt School Reader. New York 1982,
S. 138–162 sowie Marcuse und Franz Neumann: »A History of the Doctrine of Social
Change« (1941). Mit einer Einleitung von Bill Scheuerman. In: Constellations 1.1
(1994), S. 113–143.
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William Outhwaite
17 Habermas: »Einleitung«. In: ders. (Hrsg.): Antworten auf Herbert Marcuse. Frank-
furt a. M. 1968, S. 14 f.
18 A. a. O., S. 13.
19
Claus Offe: »Technik und Eindimensionalität – Eine Version der Technokratie-The-
se?« In: Habermas (Hrsg.): Antworten auf Herbert Marcuse (s. Anm. 17), S. 73–85,
hier: S. 81.
20 A. a. O., S. 87 f.
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Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit dem Historischen Materialismus
men, was das heißt: daß sich die rationale Form von Wissenschaft und Tech-
nik, also die in Systemen zweckrationalen Handelns verkörperte Rationalität,
zur Lebensform, zur ›geschichtlichen Totalität‹ einer Lebenswelt erweitert.
Ich meine, daß das weder Max Weber noch Herbert Marcuse befriedigend
gelungen ist. Darum möchte ich versuchen, Max Webers Begriff der Ratio-
nalisierung in einem anderen Bezugssystem neu zu formulieren.« (TWI 60)
The rest is history, genauer die Geschichte der Rekonstruktion des His-
torischen Materialismus und weitgehend auch des zweiten Halbbandes
der Theorie des kommunikativen Handelns, die Habermas in den da-
rauffolgenden Seiten vorwegnimmt. In der Moderne
»werden die traditionalen Zusammenhänge zunehmend Bedingungen der in-
strumentalen oder der strategischen Rationalität unterworfen: die Organisa-
tion der Arbeit und des wirtschaftlichen Verkehrs, das Netzwerk des Trans-
ports, der Nachrichten und der Kommunikation, die Institute des privaten
Rechtsverkehrs und […] die staatliche Bürokratie. So entsteht die Infrastruk-
tur einer Gesellschaft unter Modernisierungszwang.« (TWI 71)
Bis er dorthin kommt, bleibt für Habermas nicht nur der lange Marsch
durch die Universalpragmatik, sondern auch noch die Etappe der Legi-
timationsprobleme im Spätkapitalismus. Habermas’ Krisenbegriff
wird in einem Kapitel der Dissertation des chilenischen Soziologen Ro-
drigo Cordero Vega sehr einleuchtend analysiert. Cordero beschreibt
eine mögliche Folgerung:
»that the concept of crisis is itself an act of communication with critical in-
tentions. In essence, diagnoses and explanations of crisis phenomena are par-
ticular forms of communicative codification of the objective problems of so-
cial reproduction that seek to make visible at which level and in what form
they damage social and individual life. In that capacity, the sociological con-
cept of crisis, and the empirical analyses derived from it, are intended to make
sense of the diremptions of social life, that is to say ›in den seltenen Augen-
blicken, da sie [Kultur und Sprache] als Ressourcen versagen […] dann bedarf
es der Reparaturleistungen von Dolmetschern, Interpreten oder Therapeu-
ten.‹ [TkH II 204].« 21
So werden Kritik und Krise aufeinander bezogen, wie Vega auch in
Bezug auf Arendt und Foucault argumentiert. 22
21 Rodrigo Cordero Vega: Diremptions of the Social. The Ideas of Crisis and Critique in
Contemporary Social Theory. University of Warwick, Sociology Dept. 2011, S. 180.
22 Zum Kritikbegriff siehe auch Gerard Delanty: »Varieties of critique in sociological
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William Outhwaite
theory and their methodological implications for social research«. In: Irish Journal of
Sociology 19.1 (2011), S. 68–92.
23 Wie in dem späteren Versuch von Steven Lukes: Marxism and Morality. Oxford
1982.
24
Habermas: Autonomy and Solidarity. Interviews. Ed. by Peter Dews. London 21992,
S. 149.
25
Vgl. Lukes: Marxism and Morality (s. Anm. 24), S. 14–19.
26 Habermas: Autonomy and Solidarity (s. Anm. 24), S. 149.
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Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit dem Historischen Materialismus
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Entgegnung auf William Outhwaite
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Habermas hat natürlich immer die politische Szene sehr nah betrachtet, aber er un-
terscheidet seine politischen Schriften von seinen theoretischen Arbeiten. So trug auch
Die postnationale Konstellation (1998), die nicht in der Reihe der politischen Schriften
erschienen ist, den Untertitel Politische Essays.
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Entgegnung auf William Outhwaite
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Entgegnung auf William Outhwaite
gestellt hatte und den man gegen den Strich des Sowjetmarxismus le-
sen musste. Dass man diesen nicht ernst nehmen konnte, war nicht
etwa das Verdienst einer politischen Einsicht oder gar Ausdruck jenes
Antikommunismus, der sich ja erst in den frühen 50er-Jahren so richtig
entfaltete. Vielmehr reichte der Anschauungsunterricht, den die Kon-
trollen am Übergang Bahnhof Friedrichstraße nach Ost-Berlin bot, um
sich über den realen Sozialismus keine Illusionen zu machen.
Was mich während meines Studiums zwischen 1949 und 1954
wieder zu meiner frühen Marx-Lektüre zurückgeführt hat, waren die
täglichen Erfahrungen der Adenauer-Republik: einerseits die ver-
schwiemelte Mentalität der alten Eliten, die nicht ausgewechselt wor-
den waren, sondern wieder fest im Sattel saßen und mit eiskaltem
Schweigen jede Reflexion auf die moralische Katastrophe verpönten;
andererseits der furiose Antikommunismus der CDU und der anderen
konservativen bis reaktionären, sogar faschistischen Parteien (wenn ich
an Otto Ernst Remer denke, dessen Versammlung ich während meines
ersten Semesters in Göttingen noch besucht habe). Die CDU-Propagan-
da – »Alle Wege führen nach Moskau« – gab seit dem Beginn des Kalten
Krieges den alten Nazis das Gefühl, immer schon gegen den richtigen
Feind gekämpft zu haben. Daher war unser Anti-Anti-Kommunismus
gewissermaßen der zeitgeschichtlich motivierte Hintergrund für die er-
neute Beschäftigung mit einem Marx, den man gegen die stalinistische
Verballhornung – wie es Iring Fetscher in volkspädagogischer Absicht
mit vielen einflussreichen Publikationen getan hat – in Schutz nehmen
musste. Nach Abschluss des Studiums besorgte mir Rothacker kopf-
schüttelnd ein DFG-Stipendium zu dem von mir gewünschten Thema
»Der Begriff der Ideologie«, sodass ich schon in Bonn, bevor ich 1956
nach Frankfurt ging, mit dem ganzen historischen Spektrum der Zwei-
ten und Dritten Internationale ganz ordentlich vertraut war, also mit
der sowjetischen Theorieentwicklung und Kautsky und den Austro-
marxisten, auch mit Lukács und Karl Korsch, mit den Nelsonianern,
überhaupt mit den hegelianisierenden und den kantianischen Marxis-
ten der 20er-Jahre. Seit damals besitze ich auch die Dialektik der Auf-
klärung in der ersten Amsterdamer Auflage des Querido-Verlages.
Im Hinblick auf die Theorieentwicklung, die William Outhwaite
skizziert, kann ich kaum mein eigener Historiker sein. Daher nur kurz
zu den beiden Einwänden. Die Aufsätze, die in der Rekonstruktion des
Historischen Materialismus gesammelt sind, greifen auf Marx unter
dem Gesichtspunkt zurück, wie wir daraus eine konkurrenzfähige
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Entgegnung auf William Outhwaite
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Manfred Baum
Durch die beiden Titelbegriffe ist ein Thema bezeichnet, das nur einen
Ausschnitt aus dem sehr umfangreichen Werk von Jürgen Habermas
vorstellig macht und das auch nur einige Phasen seiner Tätigkeit als
Forscher, Lehrer und Autor beherrscht. Die kritische Gesellschafts-
theorie, an der er seit vielen Jahrzehnten arbeitet und deren Grund-
legung sein Hauptinteresse in Anspruch nimmt, ist neben seiner poli-
tischen Publizistik dasjenige, was seit den Sechzigerjahren des vorigen
Jahrhunderts, insbesondere für diejenigen seiner Leser, denen Philoso-
phie am Herzen lag und für die seine Version der Frankfurter Sozial-
philosophie eine wichtige Orientierung lieferte, von großer Anzie-
hungskraft war und ist. In diesen Kontext gehört auch das Thema
meines Vortrags, in dem ich einige Hauptpunkte von Habermas’ Re-
zeption des Marx’schen Historischen Materialismus und seiner Ergän-
zung und Überformung durch die Theorie des kommunikativen Han-
delns rekapitulieren und durch wenige Bemerkungen kommentieren
werde. Dabei setze ich voraus, dass das vor mehr als dreißig Jahren
erschienene Hauptwerk, wenn es heute neu erschiene, auf die seitdem
eingetretenen Veränderungen in der Ausbreitung, Struktur und Funk-
tionsweise des Kapitalismus Bezug nähme.
Unter Berufung auf den frühen Horkheimer hat Habermas in
seinem Buch Theorie des kommunikativen Handelns von 1981 eine
Bestimmung des Zusammenhangs von Gesellschaftstheorie und ge-
sellschaftlicher Praxis wiederholt, die er 1971 der Neuauflage seiner
wirkungsmächtigen sozialphilosophischen Studien unter dem Titel
Theorie und Praxis von 1963 hinzugefügt hatte:
»Der Historische Materialismus will eine Erklärung der sozialen Evolution
leisten, die so umfassend ist, dass sie sich auch noch sowohl auf den Entste-
hungs- wie auf den Verwendungszusammenhang der Theorie selber erstreckt.
Die Theorie gibt die Bedingungen an, unter denen eine Selbstreflexion der
Gattungsgeschichte objektiv möglich geworden ist; und sie nennt zugleich
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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas
den Adressaten, der sich mit Hilfe der Theorie über sich und seine potenziell
emanzipative Rolle im Geschichtsprozess aufklären kann. Mit der Reflexion
ihres Entstehungs- und der Antizipation ihres Verwendungszusammenhangs
begreift sich die Theorie selbst als ein notwendiges katalysatorisches Moment
desselben gesellschaftlichen Zusammenhangs, den sie analysiert, und zwar
analysiert sie ihn als einen integralen Zwangszusammenhang unter dem Ge-
sichtspunkt seiner möglichen Aufhebung.« (TkH II 591)
Hier liegt erkennbar eine, wenn auch akademisch verhaltene, Anknüp-
fung an Marx’ Begriffszwilling »Waffe der Kritik« und »Kritik der
Waffen«, an Georg Lukács’ Konzept des Klassenbewusstseins und an
Horkheimers Definition einer »kritischen Theorie« vor, in deren Nach-
folge sich Habermas offenbar stellen will. Was aber kann dann »Rekon-
struktion des Historischen Materialismus« heißen? In der »Einleitung«
zur gleichnamigen Aufsatzsammlung von 1976 heißt es dazu betont
schlicht:
»Rekonstruktion bedeutet in unserem Zusammenhang, dass man eine Theo-
rie auseinander nimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das
Ziel, dass sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen: das ist der normale […]
Umgang mit einer Theorie, die in mancher Hinsicht der Revision bedarf,
deren Anregungspotenzial aber noch (immer) nicht ausgeschöpft ist.«
(RHM 9)
Das ist eine deutliche Akzentverschiebung gegenüber dem Bekenntnis
von 1971, das aber, wie wir gesehen haben, 1981 wiederholt wurde.
Glücklicherweise beschränkt sich der Gebrauch, den Habermas vom
Historischen Materialismus macht, nicht darauf, diese Theorie aus-
einanderzunehmen und wieder neu zusammenzusetzen. Aber diese
»Rekonstruktion« löst auch nicht das Versprechen ein, den Entste-
hungs- und Verwendungszusammenhang dieser Theorie aus der »so-
zialen Evolution« selbst zu erklären, die ihr Gegenstand ist. Die an den
Historischen Materialismus anknüpfende Kommunikationstheorie von
Habermas scheint mir weder die Bedingungen anzugeben, unter denen
eine solche »Selbstreflexion der Gattungsgeschichte« möglich wurde,
noch zielt diese Theorie erkennbar auf die Wirkung eines Katalysators
im Prozess der künftigen Aufhebung des »integralen Zwangszusam-
menhangs« der kapitalistischen Gesellschaft. Das scheint mir zunächst
kein Einwand gegen eine Theorie zu sein, die häufig gegen »Bewusst-
seinsphilosophie« polemisiert und deshalb auch darauf verzichten
kann, sich in den Begriffen der spezifisch Hegel’schen Bewusstseins-
philosophie zu beschreiben.
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Manfred Baum
Als ein nicht ganz zufällig gewähltes Beispiel für eine handlungs-
theoretische Ergänzung und Überformung der materialistischen Ge-
schichtsauffassung durch Habermas gehe ich kurz auf seine Ȇber-
legungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«
(RHM 260–267) ein, wobei wir unter »modernem Recht« die »ver-
nünftige Grundlage der Organisation von Staat und Gesellschaft« in
Europa seit dem 16. Jahrhundert verstehen sollen, deren Legitimierung
durch das »rationale Naturrecht von Hobbes bis Hegel« geleistet wor-
den sei (RHM 263).
In einer Anmerkung grenzt Habermas seine Betrachtungsweise
des evolutionären Stellenwerts des modernen Rechts von anderen Ver-
suchen, die Gesellschaft in der Tradition von Marx zu denken, ab:
»Ich halte die heute [d. h. 1976] allseits beliebten Versuche, die juristischen
und politischen ›Formen‹ des kapitalistischen Staates aus der Form des öko-
nomischen Verkehrs, letztlich aus der Warenform ›abzuleiten‹, für verfehlt.
Ich gehe stattdessen von den formalen Bestimmungen des strategischen
Handlungstyps aus, der mit der Ausdifferenzierung eines kapitalistischen
Wirtschaftssystems im Innern der Gesellschaft freigesetzt und in mehr oder
weniger reiner Form institutionalisiert wird; zeige, dass das moderne Recht
strukturell auf diesen Handlungstyp zugeschnitten ist; und untersuche, wel-
che moralischen Bewusstseinsstrukturen diese Form des modernen Rechts
möglich machen, d. h. in ihm institutionell verkörpert sind.« (RHM 266,
Fn. 1)
Der Historische Materialismus ist also nur teilweise im Recht, er kann
nämlich infolge der Eingeschränktheit seiner Perspektive einen we-
sentlichen Zug des modernen Rechts nicht erklären:
»Für die Entwicklungsdynamik, die die Inhalte und Funktionen des bürgerli-
chen Rechts erklärt, ist die kapitalistische Produktionsweise allerdings ent-
scheidend, aber nicht für die Entwicklungslogik, welche allein die Form und
die Rationalitätsstrukturen des bürgerlichen Rechts erklärt.« (RHM 267)
Durch die hier verwendeten Begriffe wird auch philosophisch geneig-
ten Lesern, die nicht in der Soziologie zu Hause sind, klar, dass wir uns
in einer Gesellschaftstheorie bewegen, deren Grundbegriffe, wie z. B.
»Rationalisierung von Handlungssystemen« (RHM 260) durch Max
Weber bestimmt sind, und deren Abgrenzung vom Parsons-Luh-
mann’schen Funktionalismus eines ihrer Hauptanliegen ist. Gehen
wir davon aus, dass die Evolution der europäischen Gesellschaften spä-
testens seit dem 16. Jahrhundert einem Rationalisierungsprozess un-
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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas
RHM 267). Diese Erklärung besteht also darin, dass die »Form des mo-
dernen Rechts […] entwicklungslogisch betrachtet« wird (ebd.).
Geschieht dies, so »kann die Form des modernen Rechts als eine Ver-
körperung postkonventioneller Bewusstseinsstrukturen begriffen wer-
den« (RHM 266). Diese Strukturen des postkonventionellen Moralbe-
wusstseins liegen also der Form des modernen Rechts und seinen
Strukturen »evolutionär« zugrunde.
»Die Konventionalisierung, Legalisierung und Formalisierung des Rechts be-
deutet, dass es nicht länger von der selbstverständlichen Autorität sittlicher
Traditionen zehren kann, sondern einer autonomen Begründung bedarf.
Einer solchen Forderung kann aber das moralische Bewusstsein erst auf post-
konventioneller Stufe genügen: hier erst entsteht die Idee der grundsätz-
lichen Kritisierbarkeit und Rechtfertigungsbedürftigkeit von Rechtsnormen
[…], der Begriff einer prinzipiengeleiteten Erzeugung von Normen, die Vor-
stellung […] eines Kontraktes […], die Einsicht in den Zusammenhang der
Allgemeinheit und der Begründungsfähigkeit von Rechtsnormen […]
u. s. w.« (RHM 266)
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(ebd.). Kurz, die Verknüpfung von Weber und Marx bestätigt das von
Habermas angenommene Gesellschaftsmodell und die in seinen Be-
griffen mögliche Beschreibung der Entstehung moderner Gesellschaf-
ten. Habermas will also die Schwächen in der theoretischen Verknüp-
fung von Weber und Marx bei Lukács, Horkheimer und Adorno durch
seinen eigenen Ansatz überwinden, aber zugleich auch die Marx’sche
Werttheorie und die Marx’sche Ideologienlehre selbst im Lichte jener
Verknüpfung und damit im Lichte seiner eigenen Kommunikations-
theorie neu bewerten.
Am Beispiel des sich aus der Analyse der Warenform ergebenden
»Doppelcharakters der Ware Arbeitskraft« (TkH II 493) lässt sich illus-
trieren, wie Habermas der Marx’schen Werttheorie zu Leibe rückt.
»[Es] bildet die vom Produzenten veräußerte Arbeitskraft eine Kategorie, in
der die Imperative der Systemintegration mit denen der Sozialintegration zu-
sammentreffen: als Handlung gehört sie zur Lebenswelt des Produzenten, als
Leistung dem Funktionszusammenhang des kapitalistischen Betriebes und
des Wirtschaftssystems im ganzen an. […] Das Lohnarbeitsverhältnis neu-
tralisiert die Leistungen des Produzenten gegenüber dem lebensweltlichen
Kontext seiner Handlungen. […] Diese monetarisierte, als Ware angeeignete,
dem Lebenszusammenhang des Produzenten entfremdete Arbeitskraft nennt
Marx ›abstrakte Arbeit‹. […] Diesen Vorgang der Realabstraktion erklärt
Marx mit der Versachlichung sozial integrierter Handlungszusammenhänge,
die eintritt, wenn Interaktionen nicht länger über Normen und Werte, oder
über die Prozesse der Verständigung, sondern über das Medium Tauschwert
koordiniert werden. […] Insofern bedeutet die Verwandlung konkreter in
abstrakte Arbeitskraft ein[en] Prozess der Verdinglichung des gemeinschaft-
lichen wie des jeweils eigenen Lebens.« (TkH II 494)
Es geht mir hier nicht darum, die Detailgenauigkeit dieser Kurz-
beschreibung der Marx’schen »Realabstraktion« in Begriffen der Ha-
bermas’schen Kommunikationstheorie zu diskutieren, aber ich mache
darauf aufmerksam, dass Habermas, wenn er sich auf »diesen theoreti-
schen Ansatz« (ebd.) bezieht, an dem sich »Stärken« und »Schwächen«
aufweisen ließen, ohne weiteres vorauszusetzen scheint, dass Marx
eine kommunikationstheoretisch fundierte Gesellschaftstheorie be-
absichtigt habe, die ihm mehr oder weniger gut gelungen sei. An spä-
terer Stelle (TkH II 498) sagt Habermas selbst, dass er bei seiner »Re-
konstruktion« der Marx’schen Werttheorie »stillschweigend von dem
erst bei Parsons explizit hervortretenden Problem der Verknüpfung der
Paradigmen Handlung/Lebenswelt und System ausgegangen« sei, und
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Manfred Baum
er findet: »Das ist eine starke Stilisierung.« (ebd.) Aber die Bedenken,
die der Autor hier selbst artikuliert, betreffen gar nicht die problemati-
schen Begriffe »System« und »Lebenswelt« selbst, sondern das von
Parsons thematisierte Problem der »Verknüpfung« der dadurch be-
zeichneten »Paradigmen«, das seinerseits deren »Trennung« »voraus-
setzt«. Die Marx’schen »politikökonomischen Grundbegriffe« hin-
gegen, und das sei eine erste Schwäche seiner Werttheorie, setzen die
Trennung von »System« und »Lebenswelt« »nicht eigentlich voraus«
(ebd.). Das ist sogar die entscheidende Schwäche dieser Theorie für
Habermas.
Diese Schwäche erklärt Habermas damit, dass Marx »den Ver-
suchungen des Hegelschen Totalitätsdenkens« (TkH II 501) nicht habe
widerstehen können. Aber obwohl es viele Belege für die Richtigkeit
dieser Diagnose gibt und allgemein Marx’ Abhängigkeit von Hegel die
Erklärung für viele Schwächen seiner Theorie liefert, so ist doch der
Grund dafür, dass für Marx (in den Formulierungen von Habermas)
»das kapitalistische System […] nichts weiter als die gespenstische Ge-
stalt der ins Anonyme verkehrten und fetischisierten Klassenverhält-
nisse« ist, und dafür, dass bei ihm »der von Gebrauchswertsorientie-
rungen losgerissene Akkumulationsvorgang buchstäblich als Schein«
anzusehen ist (TkH II 499), nicht darin zu verorten, dass dies nur die
von Marx gezogenen Konsequenzen aus einer von Hegel übernomme-
nen »Prämisse« sind. Diese Prämisse soll darin bestehen, dass Marx
wie Hegel die »Einheit von System- und Lebenswelt« voraussetzte
und in dieser Einheit ein Ganzes sah, dessen Wahrheit das »kapitalisti-
sche System« in »Schein« und zum »Gespenst« verkehrte: »Tatsächlich
begreift Marx die Einheit von System- und Lebenswelt wie der junge
Hegel nach dem Modell der Einheit einer zerrissenen sittlichen Totali-
tät, deren abstrakt auseinandergetretene Momente zum Untergang
verurteilt sind.« (TkH II 498 f.)
Aber obwohl Marx in seinen schwächeren Momenten so gedacht
haben mag, so nötigt uns nichts zu der Annahme, dass diese Art von
Totalitätsdenken seinen Behauptungen zugrunde liegt, dass das Ver-
hältnis zu den Produktionsmitteln der Ursprung der Klassendifferen-
zierung einer Gesellschaft ist, dass die Produktionsverhältnisse einer
Gesellschaft durch die Differenz von Eigentum und Nichteigentum an
Produktionsmitteln bestimmt sind, dass das Privateigentum an Pro-
duktionsmitteln zur Konsequenz hat, dass »die Arbeitskraft eine Ware
wie jede andere« (TkH II 493) wird, dass der »Prozess der Bestander-
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Entgegnung auf Manfred Baum
Ich möchte mich zunächst bei Herrn Kollegen Baum dafür bedanken,
dass er die Struktur meines gesellschaftstheoretischen Grundgedan-
kens transparent macht. Dann versieht er eine bestimmte Schluss-
folgerung aus der Theorie des Kommunikativen Handelns mit einem
Fragezeichen. Die »deutliche Akzentverschiebung«, die nach 1971, also
mit der in den Gauss-Lectures vollzogenen linguistischen Wende ein-
getreten ist, ist mir bei der Abfassung meiner Einleitungen zum ersten
und zum fünften Band der Philosophischen Texte, also 2009, zu Be-
wusstsein gekommen. Manfred Baum bezieht sich auf ein 1982 in einer
Fußnote wiederholtes Zitat aus der frühen Zeit. Es geht dabei um eine
Denkfigur, die das Ganze reflexiv aus dem eigenen Entstehungskontext
einholt. Soweit dieser Gedankengang dem Hegel’schen Idealismus ver-
haftet geblieben ist, war diese Volte am Ende der Theorie des kom-
munikativen Handelns tatsächlich inkonsequent. Jedenfalls hatte ich
das Programm einer »Selbstreflexion der Gattungsgeschichte«, die
einen »integralen Zwangszusammenhang« auflösen hilft, 1982 schon
aufgegeben. Andererseits begreift auch ein rekonstruktiv vertiefter
hermeneutischer Ansatz seinen Gegenstand nicht objektivistisch, son-
dern als »zweite«, d. h. symbolisch konstituierte Natur. Daher müsste
die grundbegriffliche Umstellung von »Institution« auf »Kommunika-
tion« (die Hauke Brunkhorst bei Luhmann und bei mir feststellt) auch
ein gewisses fundamentum in re haben. Über die Rekonstruktion von
Lernprozessen behält die Theorie des kommunikativen Handelns,
wenn auch auf ganz andere Weise als die Systemtheorie, einen, wenn
man das so nennen will, »essentialistischen« Rest.
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Entgegnung auf Manfred Baum
stören und das politische System durch Ratlosigkeit, Chaos und Still-
stand lähmen.
Im Umgang mit Krisentheorien der verschiedensten Art habe ich
eines gelernt: Zwar kann die Philosophie in der Gestalt nachmetaphy-
sischen Denkens keinen Trost mehr spenden. Aber sie kann auf den
tröstlichen Umstand hinweisen, dass der Mensch das Wesen ist, das
nicht nicht lernen kann. Manchmal freilich lernt er, das ist die scho-
ckierende historische Erfahrung meiner Generation, erst in der Folge
von, also erst nach Katastrophen – zu spät für die Opfer!
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Diskussion
Moderation: Heinz Sünker
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Historischer Materialismus und Kommunikationstheorie bei Habermas
Manfred Baum: Der Frage von Herrn Siegmann liegt offenbar ein ge-
wisses Interesse an der Philosophie zugrunde: dass sie womöglich auch
in Zukunft noch existieren möge. Marx hat sich tatsächlich, und auch
Engels natürlich, nach der Deutschen Ideologie nicht mehr als Philo-
soph verstanden. Das hat mehrere Gründe, aber der wichtigste Grund
scheint mir der zu sein, dass Marx tatsächlich glaubte – und er war
nicht allein, alle diese linken Berliner Hegelianer waren dieser Mei-
nung –, dass Hegel nicht nur der letzte Philosoph gewesen sei, sondern
auch der letztmögliche. Die Hegel-Kritik von Feuerbach oder Stirner
oder auch Kierkegaard und natürlich von Marx ist zwar im Detail oft
sehr treffend – in Marx’ Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie
haben wir einen Text, der auf der Höhe der Hegel’schen Theorie ist –,
aber in Bezug z. B. auf die Hegel’sche Logik und Naturphilosophie sind
diese Leute inkompetent. Es ist ja auch wirklich so, dass ein solches
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Diskussion
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II. Habermas’ Kommunikationstheorie im
zeitgenössischen Kontext
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Ágnes Heller
Über Habermas – Von alten Zeiten
Ich begegnete einem Werk von Habermas, bevor ich seinen Namen
kannte.
In den frühen kommunistischen Zeiten wussten wir, junge Phi-
losophen aus Ungarn, über unsere Zeitgenossen überhaupt nichts. Ihre
Bücher bekamen wir nicht zu lesen, auch nicht in den geheimen Sek-
tionen der Universitätsbibliothek (was in Moskau möglich war).
In den Sechzigerjahren begann der Luchterhand-Verlag damit,
Lukács’ Werke zu veröffentlichen. Als Geschenk schickten sie Lukács
einige ihrer neuen Publikationen. Lukács hat die Bücher nicht gelesen,
aber er fragte mich, ob ich an dem einen oder anderen Interesse hätte.
Weil ich keine »Namen« kannte, ging ich nach den Titeln. Ich habe
zwei Titel ausgewählt: Die höfische Gesellschaft und Strukturwandel
der Öffentlichkeit. Die Titel haben mich nicht betrogen. Ich habe beide
Bücher mit Enthusiasmus gelesen.
So habe ich den Namen Habermas kennengelernt. Ich habe mich
gleich entschlossen, alles von ihm zu lesen, was ich nur bekommen
konnte. Und als ich zum ersten Mal »Westdeutschland« besuchte und
Iring und Elisabeth Fetscher mich fragten, wen sie zum Tee einladen
sollten, habe ich ohne Zögern Habermas genannt. Später, schon 1981,
als ich Gastprofessorin in Konstanz war, hat unser gemeinsamer
Freund Albrecht Wellmer, der Die Theorie des kommunikativen Han-
delns eben bekam und las, mir einige Gedanken des Buches erzählt und
darüber mit mir diskutiert.
Wenn ich mich recht erinnere, habe ich nur zweimal nicht nur
über Habermas’ Konzeptionen, Gedanken oder Thesen, sondern im
Allgemeinen über ihn geschrieben. Zum ersten Mal in meinem Bericht
über den Positivismus-Streit, der bei Suhrkamp in einem Buch ver-
öffentlicht wurde. Darin habe ich Habermas’ Fähigkeit zur Rezeption
entschieden gelobt. Ich wunderte mich darüber, dass der von mir als
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Ágnes Heller
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Über Habermas – Von alten Zeiten
heit durch den Zufall der Geburt. Wir sind zufällig in eine konkrete
Welt hineingeworfen, wo wir uns zumindest unsere engere Welt an-
eignen müssen, um heranzuwachsen. Was wir uns aneignen müssen,
ist, wie ich mich damals ausdrückte, die Sphäre der »Objektivation an
sich«, die, wie auch Habermas hervorhebt, aus drei Konstituentien be-
steht: der Alltagsprache, den Gewohnheiten und Normen der gesell-
schaftlichen Umgebung sowie der Art und Weise, die Dinge derselben
Umgebung zu benutzen. Die Produktion hat in dieser Konzeption nicht
nur keine Priorität, sie ist auf dieser ersten Objektivationsebene noch
gar nicht erwähnt.
Ich möchte diese Erklärung meiner selbst nicht weiter ausführen.
Kurz und gut, mein Buch Alltagsleben ist eine Art Daseinsanalyse.
Zumindest der Entwurf zu einer Daseinsanalyse. Ich habe kein Ge-
heimnis daraus gemacht, dass ich von Sein und Zeit beeinflusst war
und genau gegen dieses Buch polemisierte. Die Polemik verlief eben
über das Alltagsleben. Ich wollte zumindest theoretisch begründen,
dass unser Alltagsdenken und -leben authentisch sein kann. Ob mir
dies gelungen war, ist eine andere Frage.
Es gibt in diesem Buch zu viel überspanntes Pathos, zu viele Kurz-
schlüsse, Naivitäten, auch Dummheiten, doch das Paradigma der Pro-
duktion gehört nicht zu ihnen.
Seitdem bin ich auch mit der Anwendung des Paradigma-Kon-
zepts in philosophischen Werken unzufrieden geworden. Falls es phi-
losophische Paradigmen überhaupt gibt – was natürlich von der jewei-
ligen Konzeption derjenigen Philosophen, wie z. B. Habermas, die es
voraussetzen, abhängt –, sind sie meiner Meinung nach philosophisch
ohne besondere Bedeutung. Der so genannte »linguistic turn« war
meines Erachtens eine philosophische Modeerscheinung. Was meiner
Meinung nach wesentliche philosophische Bedeutung in der Gegen-
wart hat, ist die Daseinsanalyse. In dieser Hinsicht ist Heideggers Sein
und Zeit das programmatische Werk der postmetaphysischen Philoso-
phie. Alle bedeutenden und auch weniger bedeutenden philosophi-
schen Werke, die sich noch immer darum bemühen, »zur Sache selbst«
zu kommen, sind Daseinsanalysen. Ich weiß, dass Heidegger selbst alle
anderen Daseinsanalytiker als falsche Interpreten betrachtete, aber dies
ist in philosophischen Kreisen üblich. Cosi fan tutti.
Ich unterscheide in der Entwicklung der Philosophie drei wesent-
liche Phasen. Zuerst ging es in den Schulen von Plato, Aristoteles, den
Stoikern, Epikureern um die Hierarchie des Kosmos, der Seele, der Er-
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Über Habermas – Von alten Zeiten
erheben und wollen, dass meinem Urteil (»Diese Rose ist schön.«) alle
zustimmen sollen. Doch falls ich mit Freunden am Mittagstisch sitze
und mit ihnen diskutiere, werde ich mich mit der Verschiedenheit der
Geschmacksurteile auseinandersetzen. Falls alle mit mir überein-
stimmten, wäre nämlich überhaupt keine Diskussion möglich. (In
Strukturwandel der Öffentlichkeit war auch von einer derartigen Dis-
kussion die Rede. Später, in meinem Essay »Immanuel Kant lädt uns
zum Mittagessen ein«, bin ich auf diese Frage zurückgekommen.)
Obwohl ich Habermas oft mit Zustimmung zitiere, wenn er be-
züglich der herrschaftsfreien Kommunikation die Zeit und den Hand-
lungsdruck ausschließt, füge ich hinzu, dass er hier wieder einmal auf
der transzendentalen (kontrafaktischen) Ebene verweilt, ohne Rück-
sicht auf die empirischen Bedingungen zu nehmen. Tatsächlich stehen
wir jedoch immer unter Zeit- und Handlungsdruck, schon aus dem
einfachen Grund, dass wir sterblich sind, und ebenso sind es auch alle
unsere Kulturen. Es gibt meiner Meinung nach jedoch eine einzige
Ausnahme – die philosophische Diskussion: Vielleicht war Habermas’
Gedanke eben deshalb für mein Buch über Philosophie so wichtig ge-
wesen. Was Habermas darstellt, schreibe ich, ist wesentlich die philo-
sophische Diskussion. In einer philosophischen Diskussion ist die Idee
der herrschaftsfreien Kommunikation nicht nur regulativ, sondern
auch konstitutiv. Sie kann zumindest als konstitutive Idee fungieren.
Die philosophische Kommunikation ist herrschaftsfrei, die Diskussi-
onsteilnehmer können die gleichen Sprechakte benützen. Es gibt kei-
nen Handlungsdruck, da Kommunikation selbst die eigentliche Hand-
lung ist. Es gibt keinen Zeitdruck, da wir auch mit Denkern, die seit
zweitausend Jahren tot sind, sowie mit den Ungeborenen kommunizie-
ren können. So verstanden ist »Kausalität durch Freiheit« in die Theo-
rie der herrschaftsfreien Kommunikation integriert. Mein einziges
Problem blieb hier, wieder einmal, mein Unbehagen mit dem Konsens.
Die philosophischen Debatten (agon) setzen immer Dissens voraus.
Außerdem dachte ich, dass Habermas in seiner Konsenstheorie der
Wahrheit das Hegel’sche »Das Wahre ist das Ganze« in einer sehr pro-
blematischen Version rehabilitierte. Hegel sprach von der Vergangen-
heit, von Erinnerung, doch Habermas von der Gegenwart, die Zukunft
miteinbegriffen.
Was ich an Habermas’ damaliger Idee der Kommunikations-
gemeinschaft eindeutig akzeptierte, war seine Idee der Demokratie (in
meiner Lesart: radikalen Demokratie). Besonders ansprechend war der
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Entgegnung auf Ágnes Heller
Seitdem wir uns Mitte der 60er Jahre bei Iring Fetscher kennengelernt
haben, nehme ich Ágnes Heller nicht nur als Philosophin ernst, was bei
dem Format ihrer Werkes und ihrer philosophischen Anstrengung
selbstverständlich ist. Vielmehr hat sich von Anfang an eine Art der
persönlichen Beziehung hergestellt. Freundschaft trifft diese Bezie-
hung nicht genau. Es war von meiner Seite neben dem Respekt und
der freundschaftlichen Verbundenheit immer auch ein Stück Solidari-
tät desjenigen, der vom geschichtlich-politischen Schicksal verschont
und begünstigt worden ist, mit einer ähnlich gesinnten Altersgenossin,
die unter so unvergleichlich schwierigeren Lebensbedingungen so viel
mehr an Mut und Kampfgeist aufbringen, und die bis zum heutigen
Tage so viel größere Risiken und Entbehrungen auf sich nehmen muss-
te, wenn sie für die gleichen Ideen ihren Kopf hinhielt. Ágnes Heller
hat ihre Philosophie in einem buchstäblich existentiellen Sinne »leben«
müssen, während wir in Westdeutschland von ernstlich herausfordern-
den Situationen verschont geblieben sind.
Kurz zu dem Exkurs in Der philosophische Diskurs der Moderne,
auf den sich Ágnes bezieht. Dort habe ich mich anhand des Aufsatzes
eines gemeinsamen Kollegen und Freundes, György Márkus, mit einer
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Entgegnung auf Ágnes Heller
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Entgegnung auf Ágnes Heller
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Karl-Otto Apel
Mein Thema vereinigt im Titel vier Begriffe, die zwar heute bekannt
sind, aber kaum je so gebraucht werden, wie sie hier von mir gemeint
und zu einer Titel-These zusammengestellt sind.
Es geht mir um »Erste Philosophie«, wie der letzte Begriff im Titel
anzeigt. Das klingt heute sehr ungewöhnlich und fremdartig, aber, so-
weit der Terminus noch bekannt ist, erinnert er an Aristoteles’ Be-
zeichnung der Wissenschaft vom »Seienden« als dem »Seienden« oder
auch vom »höchsten Seienden«, das heißt von Gott als dem »unbeweg-
ten Beweger« von Allem. Dieser Terminus wurde später von den Aris-
toteles-Kommentatoren auch »Metaphysik« genannt und im 17. Jahr-
hundert noch genauer »Ontologie«. In meiner Titel-These wird aber
der Begriff der »Ersten Philosophie« nicht so gebraucht; denn das von
mir gemeinte Paradigma der »Ersten Philosophie« ist nicht die Meta-
physik oder Ontologie, in der die Welt als begrenztes Ganzes von au-
ßen gedacht wird, z. B. von einem göttlichen Standpunkt aus, sondern
ein postmetaphysisches Paradigma der Fundamentalphilosophie. Doch
was ist ein Paradigma?
Der Begriff »Paradigma« geht zwar auf Platon zurück, doch er
wird heutzutage meist so gebraucht, wie ihn der Wissenschaftshistori-
ker Thomas S. Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revo-
lutions neu eingeführt hat. 1 Bei Kuhn aber geht es nicht um einen
metaphysischen Begriff der philosophischen Tradition, sondern eher
um einen historisch-soziologischen Leitbegriff der empirischen Rekon-
struktion der Wissenschaftsentwicklung. Der Inhalt von Kuhn’schen
Paradigmen ist zwar epochal maßgebend und insofern auch normativ
zu verstehen, aber keineswegs im Sinne eines einheitlichen, rational
rekonstruierbaren Fortschritts. Genau dies aber möchte ich mit mei-
nem, durchaus von Kuhn inspirierten Begriff des »Paradigmas« nahe-
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Karl-Otto Apel
legen; und zwar so, dass der Begriff des Paradigmas als historisch-her-
meneutischer Leitbegriff auf einen postmetaphysischen Begriff der
Ersten Philosophie anwendbar sein soll. Das heute maßgebende Para-
digma der Ersten Philosophie sollte m. E. zwar postmetaphysisch, aber
zugleich für unsere Begründungsreflexion nicht hintergehbar, daher
argumentativ unbestreitbar und insofern Instanz einer nicht dedukti-
ven, sondern reflexiven Letztbegründung philosophischen Denkens
sein.
Damit komme ich zum Eingangsterminus meiner Titel-These:
»Transzendentalpragmatik«. Dieser Terminus bezieht zwei heute gän-
gige Schlüsselbegriffe der Ersten Philosophie aufeinander, aber so, dass
ihre paradigmatische Funktion für die Konzeption der Ersten Philoso-
phie erst verständlich und deutlich wird, wenn die Teilbegriffe »trans-
zendental« und »Pragmatik« radikal rekonstruiert werden.
Beginnen wir mit dem Begriff »transzendental«. Er wird heute oft
als Teil des Begriffs »metaphysisch« verstanden, und zwar so, dass die
postmetaphysisch orientierten Denker dann zugleich die Forderung der
»Detranszendentalisierung« damit verbinden. (So z. B. Richard Rorty
und in letzter Zeit auch Jürgen Habermas.) Der Begriff »transzenden-
tal« ist in der Tat sehr vieldeutig, so schon bei Kant. Er hängt einerseits
– schon in der vorkantischen Tradition – mit dem Begriff »transzen-
dent« zusammen, wird aber gerade bei Kant als Gegenbegriff zu
»transzendent« eingeführt, nämlich als Zielthema der reflexiven Frage
nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültiger
Erfahrungserkenntnis: Kant hat aber diese reflexive Frage auch mit
der quasi-ontologischen Untersuchung des Verhältnisses zwischen
dem Bewusstsein und dem unerkennbaren »Ding an sich« gleichge-
setzt. So wird in der transzendentalen Erkenntnistheorie das transzen-
dente »Ding an sich« als letztaffizierende Ursache der Erfahrung vo-
rausgesetzt, aber zugleich von der Erkenntnis und von allen
Gegenständen möglicher Erkenntnis ausgeschlossen. (Jacobi hat diese
Grundschwierigkeit des kantischen Systemansatzes als bleibendes
Grundproblem der Kant-Interpretation markiert.)
Wie soll aber nun das Verhältnis des Transzendentalen zur er-
kenntnisvorgängigen und insofern »an sich« bestehenden Realität ge-
dacht werden, wenn man – mit Kant – an der reflexiven Frage nach den
subjektiven Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültiger Erfahrung
festhalten will? – was ich in der Tat für notwendig halte.
Hegel hat festgestellt, dass die neuzeitliche Philosophie seit Des-
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Karl-Otto Apel
3 Vgl. Karl-Otto Apel: Der Denkweg von Charles S. Peirce. Eine Einführung in den
amerikanischen Pragmatismus. Frankfurt a. M. 1975 sowie ders.: Paradigmen der Ers-
ten Philosophie. Frankfurt a. M. 2011, Teil I.
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Karl-Otto Apel
vermag nun hier der Wissenschaft nicht weiter zu helfen; denn in den
Alltags-Sprachspielen werden Raum und Zeit beim Messen als völlig
getrennte Maßbegriffe behandelt. Unter dieser Voraussetzung kann
jedoch die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse im physikalischen Raum
gerade nicht gemessen werden, wie Einstein gezeigt hat. Er hat in der
Speziellen Relativitätstheorie tatsächlich eine Reihe von Gedanken-
experimenten im Sinne der Peirce’schen »mellonization« durchgeführt
und auf diese Weise die pragmatische Dimension des Begriffs der
»Gleichzeitigkeit« im Sinne des postklassischen Paradigmas der Physik
neu bestimmt.
Nun hat Peirce die »pragmatische Maxime« im Wesentlichen auf
naturwissenschaftliche Begriffe angewandt. (Erst Josiah Royce, der
Lehrer von George Herbert Mead, hat die Peirce’sche Semiotik im Sin-
ne einer Begriffs-Hermeneutik auf die historisch verstehenden Geis-
teswissenschaften angewandt.) Andererseits hat aber Peirce selber er-
klärt, dass ohne den »pragmatischen« und im Sinne Kants praktischen
Vernunftbezug auf die Zukunft, d. h. ohne ein normativ verbindliches
letztes Ziel unserer Handlungen, eine philosophische Moral nicht mög-
lich sei. Es ist interessant, wie John Dewey, der den »Pragmatismus« als
»Instrumentalismus« interpretierte, auf das Peirce’sche Postulat eines
»letzten Zieles« unserer Handlungen reagierte. Dewey insistierte da-
rauf, dass in unseren aktuellen Handlungssituationen niemals eine
Orientierung an letzten Handlungszwecken gefragt sei, sondern viel-
mehr eine Orientierung durch »intelligent mediation of means and
ends«. Es fällt nicht schwer, sich die Plausibilität dieser – im üblichen
Sinne »pragmatischen« – Suggestion an den Entscheidungsorientie-
rungen etwa eines Bürgermeisters verständlich zu machen. Dennoch
ist es m. E. kaum möglich, eine als moralisch maßgeblich einzuschät-
zende Antwort eines Politikers auf eine historisch relevante Situation –
etwa bei der Entscheidung zwischen Krieg und Frieden oder auch zwi-
schen langfristig relevanten Strategien der Parteiergreifung – vor-
zustellen, ohne sich auch eine Orientierung an letzten Zwecken vor-
zustellen.
Eine ähnliche Alternative bei der teleologischen Interpretation der
»pragmatischen Maxime« lässt sich in der Frage nach dem zukunfts-
bezogenen Sinn des Begriffs der »Wahrheit« bei Peirce und den ande-
ren Pragmatisten feststellen. Bekannt ist hier der Unterschied zwischen
der Orientierung an der »Nützlichkeit« bei James und Dewey (bei
James sogar an der individuellen Bewährung eines religiösen Glau-
92
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Karl-Otto Apel
4 Albrecht Wellmer: »Der Streit um die Wahrheit. Pragmatismus ohne regulative Ide-
en«. In: Dietrich Böhler/Matthias Kettner/Gunnar Skirbekk (Hrsg.): Reflexion und Ver-
antwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M. 2003.
94
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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
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.
Karl-Otto Apel
5
Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit. Werkausgabe Bd. 8. Frankfurt a. M. 1984,
S. 113–257, Nr. 383.
96
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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
6 Dazu Jens-Peter Brune: Moral und Rechte. Zur Diskurstheorie des Rechts und der
Demokratie von Jürgen Habermas. Freiburg/München 2010.
7 Dazu Apel: »Auflösung der Diskursethik? Zur Architektonik der Diskursdifferenzie-
97
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Karl-Otto Apel
9 Vgl. Apel: »Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer trans-
zendentalen Sprachpragmatik. Versuch einer Metakritik des ›kritischen Rationalis-
mus‹«. In: ders.: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmati-
schen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998, S. 33–79.
10 Vgl. Wolfgang Kuhlmann: Reflexive Letztbegründung. Freiburg i. Br. 1985; vgl. auch
98
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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
11 Vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hrsg. von
Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft«. In: ders./Holger Burckhart (Hrsg.): Prin-
zip Mitverantwortung. Grundlage der Ethik und Pädagogik. Würzburg 2001, S. 69–95.
99
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Karl-Otto Apel
ethik, die natürlich bei der Letztbegründung schon vorgesehen ist, ist
dagegen eine konkrete geschichtlich bedingte Reziprozitäts-Situation
zu berücksichtigen: Eine Situation, in der alle möglichen Arten der
moralischen Kooperation und der Nichtkooperation möglich sind, so –
in grober Unterscheidung –: traditionell moralische oder diskursive
Verständigung über Normen, partiell moralische oder strategische
Verständigung durch Verträge, und schließlich auch Verweigerung der
Verständigung und möglicherweise Ersatz durch gewaltsame Aus-
einandersetzungen.
Angesichts dieser insoweit voraussehbaren Anwendungssituatio-
nen der Diskursethik muss nun die transzendentalpragmatische Letzt-
begründung eine grundlegende Unterscheidung zwischen zwei Teilen
der Ethik einführen, die ich Teil A und Teil B genannt habe.
Geht man, wie das zumeist in der metaethischen Kant-Nachfolge
geschieht, von der Voraussetzung aus, dass die Diskursethik eine rein
deontologische Normenbegründungsethik ohne teleologische Dimen-
sion sein soll, dann ergibt sich zunächst die Konsequenz, dass ihr
Grundprinzip gewissermaßen auf einer kommunikationsbezogenen
und dialogischen Entsprechung zum »kategorischen Imperativ« von
Kant beruhen muss. Etwa so: Diejenigen moralischen Normen sind
universal gültig, die von allen Mitgliedern einer unbegrenzten Kom-
munikationsgemeinschaft aufgrund einer idealen argumentativen
Verständigung akzeptiert werden können. Dies wäre das formale
Grundprinzip von Teil A der Diskursethik. Geht man aber von der an-
gedeuteten Anwendungssituation der Diskursethik aus, so ist der Teil
A durch einen Teil B zu ergänzen, dessen Grundprinzip nicht rein de-
ontologisch, sondern das einer geschichtsbezogenen Verantwortungs-
ethik sein muss. Das bedeutet nicht, dass das Prinzip von Teil A
schlechthin ungültig wird. (Dies ist allerdings eine – selten offen aus-
gesprochene – Meinung von Vertretern der Politik und der Wirtschaft.
Sie besagt etwa: Moral ist Privatsache, ähnlich wie Religion; sie gehört
jedenfalls nicht in den Anwendungsbereich solchen Handelns, dessen
Effektivität auf der Anwendung reziprok-instrumenteller, also strate-
gischer Rationalität beruht. Machiavelli hat das klar ausgesprochen. Es
ist allerdings nicht zu bestreiten, dass strategisches Handeln in den hier
gemeinten Lebensbereichen eine unentbehrliche Rolle spielt, das heißt:
nicht nur im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, sondern auch in der
Selbstverteidigung, und darüber hinaus auch beim Schutz Anderer,
100
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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
13 Vgl. Immanuel Kant: Ȇber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein,
taugt aber nicht für die Praxis«, Teil III: »Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im
Völkerrecht«. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Akademie der Wissen-
schaften. Berlin 1900 ff., Bd. VIII, S. 309 f.; ferner: ders.: Kritik der reinen Vernunft.
Kant’s Gesammelte Schriften Bd. III, S. 15–31 und S. 341–385.
101
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Karl-Otto Apel
doch sowohl mit Bezug auf die theoretische als auch die praktische Phi-
losophie in Frage gestellt, weil sie in ihrer möglichen Anwendung von
dem von mir eingangs eingeführten Konzept der »regulativen Ideen«
abhängig ist. Schon Kant hat diese schwer verständliche Konzeption
dadurch charakterisiert, dass sie weder platonisch hypostasiert noch
empirisch verifizierbar gedacht werden kann, doch ich habe gerade die-
se Konzeption auf die m. E. allein mögliche rezeptive Interpretation des
normativen Pragmatismus (»Pragmatizismus«) des späten Peirce ange-
wandt. Dagegen ist jedoch in der jüngsten Phase der durch den Prag-
matismus geprägten Analytischen Philosophie von maßgeblichen Den-
kern – wie z. B. Putnam, Davidson und Rorty und auch, wie ich
verstehe, von Wellmer und Habermas – ein scheinbar definitives Ar-
gument vorgebracht worden. (Ich beziehe mich im Folgenden auf die
Pointe des Arguments bei Davidson.) Gibt man zu, dass jeder Gewiss-
heitsanspruch, der mit einem faktischen Wahrheitskonsens der For-
schergemeinschaft verbunden wird, durch den Fallibilismusvorbehalt
in Frage gestellt wird, so scheint dieser Vorbehalt auch die Peirce’sche
Gleichsetzung der Wahrheit mit der »ultimate opinion« (d. h. mit der
nicht mehr kritisierbaren Meinung einer unbegrenzten Forscher-
gemeinschaft) aufzuheben, da die »ultimate opinion« nicht mehr von
einer realen Kommunikationsgemeinschaft menschlicher Forscher in
einem Diskurs erreicht werden könnte. Das Ziel der regulativen Idee
der Wahrheit wäre einerseits zu weit weg für eine Diskursidee der
Wahrheit, andererseits aber wäre jeder faktische Wahrheitskonsens
einer Forschungsgemeinschaft in der Zeit zu nahe an der Möglichkeit
einer nachfolgenden Infragestellung.
Dieses Argument scheint tatsächlich dem postmetaphysischen,
d. h. undogmatisch begründbaren Wahrheitsanspruch der Philosophie
jeden Sinn zu nehmen. (Es hat in der Tat bei Rorty zur Negation aller
theoretischen und praktischen Geltungsansprüche der Philosophie und
zu ihrer pragmatischen Ersetzung durch das literarisch-rhetorische
Konzept einer »edifying conversation« geführt.) Doch diese – heute in
der öffentlichen Einschätzung der Philosophie überhaupt durchaus na-
heliegende – Suggestion ist nur dann verständlich, wenn die – von
Hegel so genannte – »absolute Reflexion«, die mit jeder prinzipiellen
Selbstkritik am philosophischen Erkenntnisanspruch automatisch ver-
bunden ist, vergessen wird. Denn der in dieser Reflexion performativ
implizierte Wahrheitsanspruch ist ja zugleich unfehlbar (da Bedingung
der Möglichkeit jeder widerspruchsfreien philosophischen Argumenta-
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Transzendentalpragmatik – Drittes Paradigma der Ersten Philosophie
tion) und zum realen Diskurs in der Zeit gehörig. Hier ist also der
Dualismus von einerseits empirisch erfahrbaren, andererseits prinzi-
piell bezweifelbaren Wahrheitskonsensen der Erkenntnis immer schon
überwunden. Zugleich wird deutlich, dass in diesem nicht hintergeh-
baren Ausgangspunkt philosophischer Reflexion der normative Maß-
stab als Zielpunkt der regulativen Idee der diskursiven Wahrheitssuche
schon festgelegt ist. So lässt sich m. E. das Zentralproblem der He-
gel’schen Philosophie: die dialektische Vermittlung zwischen der Re-
konstruktion (und aufgegebenen Fortsetzung) der kontingenten Ge-
schichte des »objektiven Geistes« und der reflexiven Selbstgewissheit
des »absoluten Geistes« (zumindest als transzendentalpragmatische
Rahmenkonzeption einer zugleich theoretisch wie praktisch verbind-
lichen Grundlegung der Ersten Philosophie und damit indirekt auch
der Wissenschaften) begreifen. (Der Unterschied und Zusammenhang
zwischen der rein theoretischen und der praktischen Dimension würde
dann darin liegen, dass im letzteren Fall – z. B. im Fall der Erforschung
der Realität der menschlichen Kultur, die von ihrer Erforschung mit-
konstituiert wird – die praktische, z. B. ethische Bewertung der Tat-
sachen mitberücksichtigt werden müssen.)
So kann man m. E. dem provokativen und berüchtigten Satz He-
gels: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist
vernünftig« einen – freilich immer auch von der zukünftigen Praxis
abhängigen – Sinn abgewinnen. Die nachhegelschen Philosophien des
19. und 20. Jahrhunderts haben das skizzierte Zentralproblem nicht
gelöst. Heute ist aber seine reflexionsbezogene Struktur (insbesondere
der Unterschied zwischen dem weltweiten Diskurs über die Ergebnisse
der empirischen Sozialwissenschaften und den – nach wie vor a priori
gültigen – Einsichten philosophischer Reflexion, die im Gegensatz zur
Psychologie m. E. ein zentraler Bestandteil einer erweiterten Transzen-
dentalphilosophie sein muss) nicht nur vergessen, sondern geradezu
aus dem Bewusstsein verdrängt. Daran scheint auch das sprach- und
kommunikationsbezogene Paradigma der Philosophie Mitschuld zu
tragen, das verständlicherweise von vielen sogar mit dem neuen Para-
digma der Ersten Philosophie gleichgesetzt wird. Doch m. E. ist diese
Gleichsetzung nur dann – und dann allerdings – berechtigt, wenn sie
nicht »detranszendentalisiert« wird, sondern in der hier angedeuteten
Form reflexionsbezogener Transzendentalpragmatik thematisiert
wird.
103
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.
Diskussion
Diskussion
Moderation: Smail Rapic
Smail Rapic: Frau Heller, Sie haben in Ihrem Vortrag betont, dass Sie
sich seit langem nicht mehr als marxistische Philosophin verstehen.
Hat der Historische Materialismus für Sie noch eine philosophische
Bedeutung? Hat er eine gesellschaftspolitische Bedeutung?
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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
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Diskussion
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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
Ágnes Heller: Ich glaube, Hegel hatte recht. Das mag etwas merkwür-
dig klingen, man kann aber sagen, dass ich einverstanden bin. Philoso-
phie ist immer auch ihre Zeit, ihr Zeitalter in Gedanken erfasst. Die
Philosophen fassen ihr Zeitalter aber in ganz verschiedene Philo-
sophien, d. h. zwei Philosophien sind nie einander gleich. Wenn sie
wesentlich sind, wenn sie wirkliche Philosophie sind, so drückt jede
denselben Zeitgeist in ihrer eigenen Weise aus. Die eigenen Lebens-
erfahrungen sind von großer Bedeutung für die Art und Weise, in der
man eine Zeit, einen Zeitgeist in der Philosophie ausdrückt. Die unga-
rische Revolution von 1956 hat mein Denken selbstverständlich beein-
flusst. Aber ich glaube nicht, dass solche konkreten geschichtlichen Er-
eignisse stets in einer direkten Weise auf die Philosophen Einfluss
haben. Sie können dies auch auf indirekte Weise tun. Es gibt in der
Tat so etwas wie den Zeitgeist – zumindest in einem allegorischen Sin-
ne. Der Geist verändert sich. Ich war erstaunt, als sich herausstellte,
dass die Entwicklung, die meine Gedanken in Ungarn von den 50er-
bis zu den 70er-Jahren nahmen, derselbe Weg war, den die französi-
schen Philosophen, die ich überhaupt nicht kannte, durchgemacht ha-
ben. Das war eben der Zeitgeist. Man geht durch dieselbe Transforma-
tion, aber in verschiedener Weise. Philosophie ist eine persönliche
Sache. 1956 war für mich ein großes Ereignis. Zuvor sprach ich über
den Dialektischen Materialismus, danach nie mehr. Das steht in keinem
direkten Verhältnis zu der Revolution, indirekt hat es aber etwas damit
107
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Diskussion
zu tun. Ich sagte mir: »Etwas stimmt mit diesem ganzen Gedanken
nicht«, deshalb habe ich diese Terminologie weggelassen; aber das ist
kein direkter, sondern ein indirekter Einfluss der Revolution.
Smail Rapic: Das war ja eine Frage auch an Sie, Herr Apel: Gilt der Satz
Hegels, die Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken erfasst, auch für Ihre
Philosophie?
Karl-Otto Apel: Dieser Satz gilt für mich nur mit einigen Änderun-
gen. Hegel hat die absolute Reflexion, das Zu-sich-Kommen dieser Re-
flexion im Laufe des Ganzen thematisiert. Das Ganze der Wirklichkeit
sollte vernünftig sein und die Vernunft sollte wirklich sein – und das
kann sich ja nur auf das Ganze beziehen. Er hat dann versucht, das in
kleine Münze zu übersetzen: Zwischen der absoluten Reflexion und
den kontingenten Details der Geschichte eine Brücke zu schlagen; das
ist das riesige Projekt seines Lebens gewesen, an dem er – das muss
man schon sagen – gescheitert ist. Die erste groß durchgeführte Ge-
schichtsphilosophie – das konnte natürlich nicht befriedigend ausfal-
len. Er soll jeden Morgen die englischen Zeitung gelesen haben, um
sich darüber zu informieren, was in Großbritannien an Neuem passier-
te und wie sich das zu seiner Rechts- und Staatsphilosophie verhielt,
obwohl er doch eigentlich nicht erwarten konnte, dass die List des
Weltgeistes seinen Satz, das Vernünftige sei wirklich und das Wirk-
liche vernünftig, jetzt Schritt für Schritt realisieren würde. Aber das
ist jetzt nicht entscheidend. Was Sie, Frau Heller, gerade gesagt haben,
ist allerdings für mich sehr wichtig. Um mit dem Wort »Intersubjekti-
vität« anzufangen: das ist ein ganz zentraler Begriff. Er zeigt nämlich,
wenn man ihn ernst nimmt und ihm seinen Platz in der Philosophie
unserer Gegenwart gibt, dass die gesamte Philosophie der Neuzeit eine
Subjektphilosophie war, die die Intersubjektivität, die bereits mit dem
»ich denke«, dem »ego cogito« gegeben ist, nicht verstanden, nicht be-
rücksichtigt hat. Sie war eine Philosophie des methodischen Solipsis-
mus. Am schärfsten hat das Husserl zum Ausdruck gebracht. Er sagte,
ein redlicher Denker habe mit dem methodischen Solipsismus zu be-
ginnen und erst dann zu zeigen, wie es zur Intersubjektivität kommt.
Husserl hat dieses Programm jedoch nicht einlösen können. Im Grunde
ist er der letzte Klassiker des zweiten Paradigmas der Ersten Philoso-
phie geblieben. Dies kommt auch in seiner Evidenztheorie der Wahr-
heit zum Ausdruck. Dass »Wahrheit« die Erfüllung unserer Intentio-
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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
Smail Rapic: Herr Apel, der zweite Teil der Frage von Herrn Brumlik
hat uns neugierig gemacht: Gab es auch zu Ihrem Philosophieren kon-
krete gesellschaftspolitische Anstöße, gab es politische Ereignisse, die
Sie philosophisch beeinflusst, bewegt, vielleicht auch motiviert haben?
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Diskussion
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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
1 Martin Heidegger: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (SS 1934). Auf
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Diskussion
Georg Lohmann: Ich habe eine Frage an Frau Heller, an Herrn Apel
und an den Historischen Materialismus, der ja in effigie auch da vorne
sitzt. Und zwar nach dem Verhältnis von Kontextualität oder Partiku-
larismus auf der einen Seite und Universalismus auf der anderen Seite.
In einer Diskussion mit Rorty – der meinte, wir müssten den Univer-
salismus von Normen nicht eigens begründen, wenn wir das Glück ha-
ben, in einer universellen, also liberalen Kultur zu leben – haben Sie,
Herr Apel, gesagt: Was wäre, wenn Sie das Pech gehabt hätten, im Na-
tionalsozialismus zu leben? 3 Ich habe den Eindruck, dass das ein wich-
tiger Einwand war und dass man sich bei der Frage, wie man von einer
kontextualistischen Position aus zu einem universalistisch begründ-
baren Anspruch von Normen kommt, nicht so bescheiden geben kann
wie Frau Heller. Also: wenn die Umstände günstig sind – dann ja; aber
3 Vgl. Karl-Otto Apel: »Zurück zur Normalität?« In: ders.: Diskurs und Verantwor-
112
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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
da wir nicht immer in günstigen Umständen leben, muss man für den
Universalismus argumentieren können. Ich glaube, dass Herr Apel zu
Recht sagt, was wir argumentativ einholen können, ist die Ebene von
Normen, also von verbindlichen Vorschriften, und wir lassen die Ebene
von Wertungen, denen immer etwas Partikulares anhaftet, außen vor,
weil wir sie jeweils kontextspezifisch etwas anderem vorziehen.
Wenn man nun fragt: »Wie kommt der Historische Materialismus
zu universalistischen Normen?«, so ist eine Antwort, dass Marx
glaubt, sagen zu müssen, dass die Interessen der revolutionären Arbei-
terklasse universalistisch sind, weil sie am radikalsten unterdrückt wer-
den. Das finde ich aber eine viel zu einfache Konstruktion. Erstens, weil
das Proletariat hier als ein Gesamtsubjekt gesehen wird; die Normen
einer universalistischen Moral beziehen sich aber nicht auf ein Groß-
subjekt, sondern auf den intersubjektiv akzeptablen Zusammenhang
von vielen Einzelnen oder allen Einzelnen. Und zweitens, selbst wenn
das gegeben ist, ist es nicht automatisch so, dass, wenn die Interessen
aller Arbeiter berücksichtigt sind, auch alle Menschen (oder alle mög-
lichen moralischen Objekte, inkl. Tiere) berücksichtigt sind. Wir kön-
nen uns eine Allgemeinheit vorstellen, die einfach nur faktisch ist, aber
sie muss nicht dem universellen Anspruch entsprechen, den wir mit
universellen Normen der Moral verbinden. Also ich würde sagen, weil
der Historische Materialismus dieses Problem nur unzureichend lösen
kann – womit ich nicht sagen will, dass er dazu gar nichts sagen kann –,
deswegen ist er kein Garant für einen automatischen Universalismus,
der sich, wenn man nur die Interessen der Menschen, die am meisten
unterdrückt werden, angemessen berücksichtigt, ergeben würde.
Bei Herrn Apel würde ich das umgekehrte Problem sehen. Sie
schaffen es wunderbar, letztbegründet universelle Normen zu formu-
lieren, aber ich habe den Eindruck, dass Sie bei der Frage: »Welche von
den Wertungen sind wichtig?« eigentlich passen müssen. Da sind Sie
dann vielleicht zu willkürlich oder Sie müssen letztendlich einräumen:
»Dazu kann ich nichts sagen, das ist kontextabhängig.« An dieser Stelle
sind Sie vielleicht auf Literatur und Rorty angewiesen, weil Sie dann
sagen müssten: »Komm, ich lebe Dir vor – unter den universellen Be-
dingungen, die wir nicht aufgeben können –, welche von den partiku-
laren Werten akzeptabel oder nicht akzeptabel sind.« Die Kriterien aber
für die »Vermittlung« von universalistischen Normen und partikula-
ristischen Werten sind ein besonderes Problem, und wahrscheinlich
nicht (nur) ein Problem im Anwendungsteil B Ihrer Ethik.
113
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Diskussion
Ágnes Heller: Nur kurz: Wir verstehen alles im Kontext. Alle Aus-
sagen sind Aussagen im konkreten Kontext. Auch die Interpretationen
sind Interpretationen im Kontext. Ebenso die Gefühle, die wir haben:
Wir verstehen ein Gefühl in unterschiedlicher Weise, abhängig vom
jeweiligen Kontext. In einer philosophischen Theorie muss man einen
Gedankengang im Kontext des Ganzen verstehen. Es gibt jedoch
Grundwörter der Philosophie, die kontextfrei sind. Wenn man zum
Beispiel fragt: »Was ist Wahrheit?«, dann ist die Antwort kontextfrei.
Man kann auf diese Frage nicht entgegnen: »Das ist die Wahrheit im
Kontext – im Kontext ist das jeweils verschieden.« Es gibt Sein, das
versteht man nicht im Kontext. Was ist der Kontext von Sein? Es gibt
keinen Kontext. Wenn man über ein konkretes Sein spricht, dann
spricht man über dieses und dieses Sein im Kontext. In der Philosophie
gibt es also kontextfreie Grundwörter.
Karl-Otto Apel: Ich muss in der Tat etwas Ergänzendes zum Verhält-
nis von Normen und Werten sagen. Zuvor möchte ich jedoch auf den
Begriff des Universalismus zurückkommen. Dieser Begriff war eines
der Stichworte, wo bei mir nach 1945 das philosophische Motiv und
der Anstoß durch die deutsche Katastrophe zusammengekommen sind.
Es war immer ein Anliegen von mir, eine universalistische Begründung
der Ethik zustande zu bringen. Das ist natürlich ein weites Feld, das ich
jetzt nicht im Einzelnen behandeln kann.
Zum Universalismus: Heidegger hat bekanntlich den Begriff der
Wahrheit zuerst so verstehen wollen, dass er das bedeutet, was die
Griechen eigentlich mit »aletheia« gedacht hätten, nämlich »Entber-
gung«. Daran hat Tugendhat eine berechtigte Kritik geübt: Dies sei
noch nicht Wahrheit – obwohl er von diesem Begriff der »Entber-
gung«, der zugleich »Verbergung« ist, beeindruckt war. Hierauf hat
Heidegger 1964 geantwortet: Tugendhats Kritik sei richtig – das ist
interessant –; die seinsgeschichtliche Entbergung, die zugleich Verber-
gung ist, sei jedoch die Bedingung der Möglichkeit für Wahrheit im
Sinne von richtig und falsch; und diese Entbergung sei wiederum kul-
turrelativ, sie sei zum Beispiel durch die Seinsgeschichte bedingt, die
bei den Griechen beginnt. Dies war Heideggers Umgang mit dem Uni-
versalismus in Bezug auf Wahrheit.
Zu den Themen »Wahrheit« und »Werte« möchte ich Folgendes
ergänzen: Ich halte die Option für Werte nicht für willkürlich. Meine
Ethik würde ich niemals im Sinne einer bloßen Pflichtethik, einer rein
114
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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
Smail Rapic: Ich würde gerne die Frage von Herrn Lohmann, die ich
ganz zentral finde, aufgreifen und dabei auf das Thema »Historischer
Materialismus« zurückkommen. Herr Lohmann wendet sich, wenn ich
ihn richtig verstanden habe, gegen eine Trennung von Universalismus
und Partikularismus, d. h. gegen eine Ethik-Konzeption, die zunächst
eine universalistische Dimension entwickelt, woran sich die Dimension
des Partikularismus anschließt, so dass beides zuletzt miteinander ver-
115
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Diskussion
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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
ahistorische Teleologie sein. Ich weiß nicht, wie die Vermittlung von
Universalismus und Partikularismus funktionieren soll, wenn man den
Gedanken einer Entwicklungslogik aufgibt.
Karl-Otto Apel: Sie wissen vielleicht, dass ich ein Buch über Diskurs
und Verantwortung geschrieben habe, wo ich versucht habe, die ent-
wicklungsgeschichtliche Dimension im Sinne Kohlbergs in die Trans-
zendentalpragmatik zu integrieren, in eine geschichtsbezogene Verant-
wortungsethik. Das geht noch ein bisschen über Kohlberg hinaus.
Smail Rapic: Das Problem, Herr Apel, das Herr Lohmann angespro-
chen hat, besteht darin, dass Sie zwischen A und B trennen. Kann man
das wirklich so machen: erst A, dann B?
Smail Rapic: Das will ja niemand von uns. Die Frage von Herrn Loh-
mann zielt auf die Theoriestruktur. Wie muss die Theoriestruktur aus-
sehen? Das ist wirklich ein heikler Punkt … Aber es gab noch eine
weitere Frage.
Horst Müller (Nürnberg): Frau Heller, Sie haben ein paar Mal vom
In-der-Welt-Sein als einer Art ontologisch-anthropologischer Grund-
these, die von Heidegger herkommt, gesprochen. Nun ist ja marxis-
tisch versucht worden, die Weise des In-der-Welt-Seins zu bestimmen.
Die Feuerbach-Thesen sagen, dass die Weise des menschlichen In-der-
Welt-Seins durch den Begriff »Praxis« ausgedrückt wird. Herbert Mar-
cuse hat dies, von Heidegger herkommend, mit Marx’schen Theo-
remen herausgearbeitet. Ich erinnere auch an Gajo Petrović, der von
der Praxis als der Existenzweise des Menschen in der Welt gesprochen
hat. Ich würde das verteidigen wollen und würde Sie, Frau Heller, fra-
gen, ob in Ihrem Wörterbuch der Philosophie der Begriff »Praxis« noch
eine Rolle spielt, und wenn ja, welche. Wenn man die Auffassung ver-
teidigt, dass die Weise des In-der-Welt-Seins Praxis ist, dann ergibt sich
eine kritische Sicht der Intersubjektivitätstheorie. Denn die Praxis als
ein multidimensionales Vollzugsgeschehen impliziert eine Schicht ob-
117
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.
Diskussion
jektiven Sinnes, auch wenn wir gar nichts davon wissen. Es gibt also
keine Garantie dafür, dass dieser Sinn im intersubjektiven Verständi-
gungsprozess erschlossen wird. Die Marx’sche Kapital-Analyse ist der
Versuch, einen vorher nicht bewussten objektiven, im Handeln impli-
zierten Sinn zu explizieren. Das ist ein Hinweis auf die Grenzen der
Intersubjektivitätstheorie
Ein weiterer Punkt: Wenn die Weise des In-der-Welt-Seins Praxis
und diese auf die Zukunft hin geöffnet ist, handelt es sich um ein
schöpferisches Geschehen, in dem es verschiedene Wege gibt; hier
kommt etwas Perspektivisches ins Spiel. Wenn verschiedene Menschen
bzw. Gruppen unterschiedliche Wege einschlagen und ihre jeweilige
Praxis ihr Bedeutungsraum ist, dann können sie sich nicht konsensuell
einigen. Das heißt: die Perspektivität der menschlichen Praxiswirklich-
keit ist eine Grenze des Konsensualismus.
Ein letzter Gedanke zu dem Problem, ob dann nicht alles relativ
wird – das könnte man ja vermuten. Im gesellschaftlichen Maßstab gibt
es aus dem Praxis-Denken heraus eine gewisse Lösung oder zumindest
eine Lösungsrichtung für die Problematik der verbindlichen Normen-
orientierung. Das wird nicht in der Weise ausgedrückt, dass man sagt,
wir müssen uns jetzt auf diese oder jene Norm einigen; Bloch spricht
stattdessen von einer »Invariante der Richtung«. Das heißt, es gibt eine
große Richtungsangabe aus geschichtlicher Erfahrung. Demokratie
z. B. ist ein vertragliches Eingebettetsein in die Naturbedingungen der
menschlichen Existenz. Das ist eine Richtungsangabe, keine Ausdefi-
nition von Normen, die nun unmittelbar handlungsleitend werden
könnten.
Ágnes Heller: Ich möchte über die arkadischen Zeiten sprechen – Ha-
bermas hat die arkadischen Zeiten erwähnt. Da saßen wir zusammen
und die Frage wurde gestellt, wer ein Marxist sei. Alle sagten, der ist
ein Marxist, das ist ein Kriterium von Marxismus, der ist kein Marxist,
wir sind Marxisten usw. Am Ende sprach Lucien Goldmann und sagte,
wir können die Sache sehr leicht erledigen. Marxist ist, wer sich Mar-
xist nennt. Das taten wir alle. Ich habe nicht bestritten, dass man be-
stimmen kann, was den Marxisten ausmacht, es gibt einige wesentliche
Gedankenstrukturen. Ich glaube aber, dass nicht nur der Marxismus,
sondern auch alle anderen Ismen heutzutage keine grundlegende Rolle
in der Entwicklung unserer Gedanken mehr spielen. Es gibt auch keine
Schulen mehr. Die Frankfurter und die Budapester Schule waren wahr-
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Habermas’ Kommunikationstheorie im zeitgenössischen Kontext
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III. Ökonomie und Politik
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Ingo Elbe
Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
1
Wie György Márkus, der 1980 eine Entgegnung zu Habermas’ Kritik verfasst hat
(»Die Welt menschlicher Objekte. Zum Problem der Konstitution im Marxismus«. In:
Axel Honneth/Urs Jaeggi (Hrsg.): Arbeit, Handlung, Normativität. Theorien des His-
torischen Materialismus 2. Frankfurt a. M. 1980, S. 12–136).
123
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Ingo Elbe
2 Das Nichtsoziale bezieht sich dabei nicht auf die Genese, die nur gesellschaftlich ver-
mittelt sein kann, sondern auf die Regelstruktur und deren Inhalte: In die technischen
Regeln instrumentalen Handelns geht Habermas zufolge »allein Kausalität der Natur
und nicht Kausalität des Schicksals ein« (TWI 33). Sie führen, mit anderen Worten, zu
effektiver Naturbeherrschung, sind aber nicht als soziales Band konzipierbar.
3 Vgl. zum methodischen Bruch, der 1857 einsetzt: Michael Heinrich: »Praxis und Fe-
tischismus. Eine Anmerkung zu den Marx’schen Thesen über Feuerbach und ihrer Ver-
wendung«. In: Christine Kirchhoff/Lars Meyer u. a. (Hrsg.): Gesellschaft als Verkeh-
rung. Perspektiven einer neuen Marx-Lektüre. Freiburg 2004, S. 249–270; sowie zur
Entwicklung des Arbeitsbegriffs seit den Grundrissen: Dieter Wolf: Marx’ Verständnis
des Werts und der abstrakt menschlichen Arbeit in den ›Grundrissen‹. http://www.
dieterwolf.net/pdf/Arbeit_Grundrisse.pdf (2008).
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
6 Vgl. Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. 4. überarb. u.
verb. Aufl. Hamburg 1993, S. 35, 201.
7
»Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie [die Produzenten] die Form
einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollie-
ren« (MEW 23, S. 89). Diese Bewegung, die Marx auch ein »regelndes Naturgesetz«
nennt, das sich »gewaltsam durchsetzt« (ebd.), geht aber nicht von den Sachen aus,
sondern vom Bezug der Sachen aufeinander durch Menschen unter historischen Bedin-
gungen. Daher handelt es sich hier um zweite Natur.
8 Vgl. Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Öko-
9
Marx wehrt sich auch dagegen, seine Geschichtstheorie in eine deterministische Ge-
schichtsphilosophie zu verwandeln (vgl. MEW 3, S. 27, 63; MEW 19, S. 112). Ein wich-
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
11
Theodor W. Adorno: »Soziologie und empirische Forschung«. In: ders.: Soziologische
Schriften I. Frankfurt a. M. 1979, S. 196–216, hier: S. 209.
129
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Ingo Elbe
Creydt versucht, gegen utopistische Leugnungen der Emergenz und Komplexität mo-
derner Gesellschaften und zugleich gegen deren gestaltungspessimistische Verding-
lichung zu argumentieren, wie sie bei Habermas spätestens seit 1981 anzutreffen ist
(Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Gestaltungspessimismus und Utopismus im ge-
sellschaftstheoretischen Denken. Frankfurt a. M./New York 2000).
14 Die Ausblendung klassenspezifischer Probleme des Sozialstaats, die bei Habermas
vor allem in den 1980er-Jahren erkennbar wird, ist ein Kapitel für sich. Dass hier die
Eigendynamik der Akkumulation und bürokratischen Machtausübung mit kommuni-
kativ rationalisierten Lebensweltstrukturen, sprich: dem, was Habermas noch unter
Emanzipation versteht, »versöhnt« (TkH II 530) sei, dass die »Beschäftigtenrolle ihre
krankmachenden proletarischen Züge« verliere (TkH II 514), dass »der Kapitalismus«
»solange gut [ging]«, wie er sich auf die »materielle […] Reproduktion« (Habermas: Die
Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V. Frankfurt a. M. 51991, S. 194,
130
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
189, 194) konzentrierte, darf füglich bezweifelt werden. Habermas’ Konsequenz war der
Satz: »Ich finde es eleganter [!] und plausibler, dem Kapitalismus zu geben, was des
Kapitalismus ist« (ebd.). Lars Meyer stellt fest, dass »wesentliche theoretische Grund-
entscheidungen« von Habermas sich »an der als Normalzustand antizipierten Dynamik
des Fordismus« orientieren. Dieser Fordismus wird dann auch nur noch bürokratiekri-
tisch angegriffen (Absoluter Wert und allgemeiner Wille. Zur Selbstbegründung dia-
lektischer Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2005, S. 225).
15 Hans Joas: »Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus«. In: ders.:
Umberto Cerroni bezeichnet es als »Form des Zusammenhangs des Willens der einzel-
nen Individuen, die durch die wirkliche Vermittlung der Sachen gesellschaftlich auf-
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Ingo Elbe
anderer Art, als sie auf der Ebene bewusster moralisch-juridischer An-
erkennungskonflikte zu identifizieren sind, und das macht das eigent-
lich Ökonomische an seinem Gegenstand aus. 18 Habermas hingegen
bildet die Assoziationskette: (Rechts-)Norm – institutioneller Rahmen
– Klassenkampf – Gewalt. »Die Klassenbeziehungen erscheinen bei
Habermas« damit, wie Klaus Ottomeyer anmerkt, »als personal-un-
mittelbare«, 19 eben weil er die spezifische Synthesis durch Arbeit, wie
Marx sie anhand der Warenform entfaltet, ausblendet. An ökonomi-
schen Verhältnissen nimmt Habermas nur das zwangsbewehrte wech-
selseitige Willensverhältnis privat-dissoziierter Rechtssubjekte wahr,
die ökonomische Form, die sachlich vermittelte Einheit der Arbeiten
und Produkte unter der Bedingung ihrer systematischen Dissoziation,
existiert für ihn gar nicht. Sie fällt zwischen Mensch-Mensch- (Inter-
aktion) und Mensch-Ding-Verhältnissen (›Arbeit‹) hindurch. Das Ei-
gentumsverhältnis – beim frühen Habermas der Kern des normativ
gesteuerten institutionellen Rahmens – ist hingegen ein weit über nor-
mativ regulierte Vergesellschaftung hinausgehender Reproduktions-
kreislauf, 20 der historisch mit der gewaltsamen Trennung der unmittel-
baren Produzenten von ihren Produktionsmitteln beginnt und sich
anschließend als strukturelle Reproduktion dieser Ausgangssituation
vermittelt durch Tausch von Äquivalenten und den darin implizierten
Anerkennungsverhältnissen der Tauschsubjekte darstellt. Rechtliche
Willensverhältnisse, soziale Kämpfe und staatliche Rechtsgarantien
bleiben zwar ein konstitutives Element der modernen Eigentumsver-
einander bezogen sind« (Marx und das moderne Recht. Frankfurt a. M. 1974, S. 91).
Wenn Marx davon spricht, dass der Rechtsinhalt die Rechtsform bestimmt oder diese
jenen ausdrückt bzw. widerspiegelt (MEW 23, S. 99), so nur dahingehend, als dieser
Inhalt, das ökonomische Verhältnis, selbst eine spezifische Form aufweist: den Wert als
Vergesellschaftungsform privat-dissoziierter Produkte, die sich im Willensverhältnis
der Akteure reproduzieren muss. Keineswegs ist damit gemeint, dass sich ein partiku-
lares Klasseninteresse unmittelbar zum Recht aufschwingt.
18 Vgl. Heinrich: Wie das Marxsche »Kapital« lesen? Hinweise zur Lektüre und Kom-
mentar zum Anfang von »Das Kapital«. Stuttgart 2008, S. 119: »Die Geltung, um die es
hier geht, ist also weder eine von den Tauschenden vereinbarte noch eine vom Staat
auferlegte Geltung. Es ist vielmehr ein mit der auf Tausch beruhenden Ökonomie
strukturell gegebenes Verhältnis.«
19 Klaus Ottomeyer: Soziales Verhalten und Ökonomie im Kapitalismus. Vorüber-
legungen zur systematischen Vermittlung von Interaktionstheorie und Kritik der poli-
tischen Ökonomie. 2. durchges. u. erw. Aufl. Gießen 1976, S. 31.
20
»Das bürgerliche Eigentum definieren heißt somit nichts anderes, als alle gesell-
schaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Produktion darstellen« (MEW 4, S. 165).
132
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
hältnisse, die aber eben nicht darauf reduzierbar sind. Die ökonomische
Vermittlung, die bei Habermas in der rechtlichen Dimension des »frei-
en Arbeitsvertrages« (EI 70) aufgeht, hängt vielmehr am Wert- qua
Tauschverhältnis und dessen Verselbständigungstendenzen. Diese blei-
ben in der Perspektive von Habermas ausgespart. Zwar gibt es auch
Marx zufolge keine Eigentums- und Austauschverhältnisse ohne Recht
(Synthesis der Willen unter der Bedingung und mit der Folge ihrer
systematischen Dissoziation in privat-isolierte), dieses ist aber zugleich
Implikation von normativ unkontrollierten, originär ökonomischen
Relationen (Synthesis der Arbeiten und Produkte unter der Bedingung
und mit der Folge ihrer systematischen Dissoziation in privat-iso-
lierte).
Dieter Wolf stellt daher zu Recht fest, die Konsequenz der Haber-
mas’schen Theoriestrategie sei, dass »die mit dem ›institutionalisierten
Gewaltverhältnis‹ angesprochene Gesellschaftlichkeit der Produktion
nichts mit dieser in ihrer historisch spezifisch gesellschaftlichen Form-
bestimmtheit zu tun« habe, weshalb dieses Gewaltverhältnis dann
»ohne jegliche Rücksicht auf die Produktion« als »im Rahmen ›sym-
bolischer Interaktion‹« veränderbar erscheine: »Losgelöst von der Pro-
duktion, ohne eine historisch spezifische […] Formbestimmtheit zu
besitzen, hat sich unter der Hand das Kapitalverhältnis in irgendein
›institutionalisiertes Gewaltverhältnis‹ verwandelt, das wie jedes ande-
re Herrschafts-Knechtschaftsverhältnis […] ein Verhältnis von Men-
schen zueinander ist, dessen Spezifik darin besteht, seit Menschen-
gedenken ein ›Zusammenhang symbolisch vermittelter Interaktion‹
zu sein.« 21 Habermas spricht denn auch meist von der Aneignung von
Mehrprodukt, der tatsächlich vorkapitalistischen Form der Ausbeu-
tung, nicht von Mehrwert, der tauschvermittelten kapitalistischen
Form, die eine Synthesis durch Arbeit voraussetzt. Habermas erscheint
der anonyme, wertvermittelte Herrschaftscharakter des gesellschaftli-
chen Verhältnisses der Produzenten als bloß sachlich verschleierte Ge-
stalt personaler Herrschaft, 22 was sich schließlich auch an seinem Sank-
wenn er bemerkt, die »entscheidende Differenz« zwischen Normen und Preisen liege
darin, »daß das gesellschaftliche Verhältnis der Individuen in ihren produktiven Tätig-
keiten im Marktverkehr als ein Verhältnis von Sachen erscheint, und zwar vermittelt
durch die in Preisen erscheinenden Wertrelationen der Waren. Eine derartige Verkeh-
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rung gesellschaftlicher Verhältnisse in ein Verhältnis von Sachen tritt […] nie im norm-
geregelten Verhalten zwischen Interaktionspartnern auf.« (Der Begriff des Interesses.
Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx. Frankfurt a. M.
1973, S. 107 cf. Fn.).
23 Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der
Daher sind Ottomeyer zufolge auch die Begriffe ›Charaktermaske‹ und ›Rolle‹ zu un-
terscheiden: »Die aus der Eigendynamik der ökonomischen Verhältnisse resultierende
Formbestimmtheit der Begegnung konkret-sinnlicher Personen tritt diesen als Charak-
termaske gegenüber.« Im Gegensatz zur Rolle seien die mit der Charaktermaske be-
zeichneten »Anforderungen nicht als Erwartungen von Personen«, sondern als struk-
turelle Zwänge zu kennzeichnen (ebd., S. 83). Márkus konstatiert, dass im Kapitalismus
die »grundlegenden Maximen ökonomischen Verhaltens […] als universelle und wert-
freie Vernunftprinzipien« erscheinen (Die Welt menschlicher Objekte (s. Anm. 1),
S. 46). Die Verletzung dieser Prinzipien lasse das Verhalten des Akteurs »dank kausaler
Zusammenhänge (und nicht aufgrund unmittelbarer sozialer Sanktionen) [als] genauso
›erfolglos‹ erscheinen […], als wenn es gegen die technischen Regeln des Gebrauchs
eines bestimmten Werkzeugs verstoßen hätte« (ebd.). Dieser Als-ob-Charakter geht
bei Habermas verloren.
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
25 Vgl. Peter Winch: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philoso-
phie. Frankfurt a. M. 1974, S. 34 f.
26
A. a. O., S. 154.
27 A. a. O., S. 157.
28
Vgl. a. a. O., S. 151.
29 Dies ist zugleich gegen Gadamers Hermeneutik gerichtet.
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
31 Vgl. zur Kritik der Verharmlosung des Geldes als Kommunikationsmedium: Heiner
Ganßmann: Geld und Arbeit. Wirtschaftssoziologische Grundlagen einer Theorie der
modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M./New York 1996, S. 130–146; Creydt: Theorie
gesellschaftlicher Müdigkeit. (s. Anm. 13), S. 149–151; Hanno Pahl: Zu Begriff und
Wirklichkeit des ökonomischen Systems bei Marx und Luhmann. http://www.rote-
ruhr-uni.com/cms/Zu-Begriff-und-Wirklichkeit-des.html (2003). In den Grundrissen
findet man folgende Aussage, die auf die unpassende Analogie zwischen in Sprache
ausgedrückten Ideen und im Geld ausgedrücktem Wert Bezug nimmt: »Das Geld mit
der Sprache zu vergleichen ist […] falsch. Die Ideen werden nicht in der Sprache ver-
wandelt, so daß ihre Eigentümlichkeit aufgelöst und ihr gesellschaftlicher Charakter
neben ihnen in der Sprache existierte, wie die Preise neben den Waren.« (MEW 42,
S. 96).
137
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Ingo Elbe
32 Auch diese ›entsprachlichten Medien‹, die die systemische Einheit stiften sollen, wer-
den von Habermas also nicht auf ihren Zusammenhang mit gesellschaftlicher Arbeit
hin durchsichtig gemacht.
33 Zur Kritik des neoklassischen und traditionskeynesianischen Geldbegriffs vgl. Hans-
jörg Herr: »Geld – Störfaktor oder Systemmerkmal?«. In: Prokla 63 (1986), S. 108–132;
Ganßmann: Geld und Arbeit. (s. Anm. 31), S. 128 ff.; Heinrich: Die Wissenschaft vom
Wert (s. Anm. 8), S. 69 ff., 250 f.
34 Vgl. auch Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 8), S. 251: »Der Bezug auf
Geld, über den sich überhaupt erst ein kohärenter gesellschaftlicher Zusammenhang
herstellt, impliziert so zugleich die Gefahr einer Zerstörung dieser Kohärenz […] Indem
Klassik und Neoklassik das Geld auf die Rolle eines bloß technischen Mittlers reduzie-
ren […], abstrahieren sie von der Möglichkeit der Krise.«
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
42
Wolf: Habermas’ Kritik des ›Marxschen Produktionsparadigmas‹ (s. Anm. 21), S. 25.
43 A. a. O., S. 36.
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
47 Vgl. kritisch zu Habermas’ Deutung: Wolfgang Müller: »Habermas und die An-
wendbarkeit der Arbeitswerttheorie«. In: Sozialistische Politik 1 (1969), S. 39–53, hier:
S. 44 ff.; Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 40), S. 353 ff.
48
Gegen die These, technische und arbeitsorganisatorische Strukturen seien als solche
wertproduktiv, zeigt Thomas Seidl (»Materialistische Geschichtstheorie – Ein Problem-
aufriß«. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge (1996), S. 13–34; hier:
S. 22 ff.), dass hier lediglich die stoffliche Produktivität des Kapitals mit der Wertpro-
duktivität der Arbeit konfundiert wird. Tatsächlich gelte der Satz von Marx: »Ihre [der
Arbeiter] Kooperation beginnt erst im Arbeitsprozeß, aber im Arbeitsprozeß haben sie
bereits aufgehört, sich selbst zu gehören […]. Als Kooperierende, als Glieder eines
werktätigen Organismus, sind sie selbst nur eine besondre Existenzweise des Kapitals.
Die Produktivkraft, die der Arbeiter als gesellschaftlicher Arbeiter entwickelt, ist daher
Produktivkraft des Kapitals« (MEW 23, S. 352 f.). Der Synergieeffekt kombinierter Pro-
duktion wird nicht durch Selbstvergesellschaftung der Arbeiter zu einem produktiven
›Organismus‹, sondern durch das Kapital in Gang gesetzt. Die stoffliche Produktivität,
die so erhöht wird – Hervorbringung von mehr Gebrauchswerten in derselben Arbeits-
zeit – affiziert aber »nicht den Tauschwerth unmittelbar. Ob 100 zusammen oder jeder
von den 100 einzeln arbeitet, der Werth ihres Products = 100 Arbeitstagen, ob sie sich in
viel oder wenig Producten darstellen, d. h. gleichgültig gegen die Productivität der Ar-
beit« (MEGA II/3.6, S. 2166 f.). Das nach wie vor von der durchschnittlichen Arbeitszeit
der Einzelnen bestimmte Wertprodukt verteilt sich bei Kooperation also nur auf mehr
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Produkte, wächst aber nicht an, solange die Arbeitszeit nicht verlängert oder die Ar-
beitsintensität nicht vergrößert wird. So erhöht die kapitalbestimmte Kooperation der
Arbeiter die stoffliche Produktivität, ohne mehr Wert hervorzubringen. Die Steigerung
der Produktivkräfte durch arbeitsorganisatorische oder technische Innovationen tastet
keineswegs die quantitativen Grenzen der Wertbildung – Arbeiteranzahl, Arbeitszeit
und -intensität – an, sie umgeht diese Grenzen durch den Prozess relativer Mehrwert-
produktion. Die Aufteilung der Arbeitszeit in notwendige und Mehrarbeit ermöglicht,
in Verbindung mit der sich auf die Konsumtionsmittel der Arbeitskräfte auswirkenden
Produktivkraftsteigerung, eine quantitative Ausdehnung der Verwertung ohne Vergrö-
ßerung des Wertprodukts. Es ist also der gebrauchswertproduktive Charakter des Kapi-
tals, der den Schein seiner Wertproduktivität hervorbringt.
49 Vgl. Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 8), Kap. 2.
50
Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 40), S. 354.
51 Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit (s. Anm. 14), S. 145.
144
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
52 Vgl. dazu Wolf: Marx’ Verständnis des Werts und der abstrakt menschlichen Arbeit
in den ›Grundrissen‹ (s. Anm. 3).
53 Claus Offe: »Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie?«. In: Joachim Matthes
145
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Ingo Elbe
56 A. a. O., S. 47.
57 A. a. O., S. 48.
58 A. a. O., S. 49.
das empirische Konzept der sozialen Klasse, auf »in der Arbeit gemachte Erfahrungen«
und Konflikte reduziert (a. a. O., S. 42). Ein Argument gegen die Klassentheorie sieht
Offe darin, »daß sozialökonomischer Status und die in diesen Indikator eingehenden
Einzelvariablen immer weniger geeignet sind, Wahlentscheidungen vorauszusagen.«
(ebd.). Sven Ellmers zufolge können solche Cluster von empirischen »Einzelvariablen«
den formanalytischen Klassenbegriff von Marx nicht treffen, denn dieser ist Element
einer Konstitutionsanalyse sozialformationsspezifischer Reichtumsgestalten (Die form-
analytische Klassentheorie von Karl Marx. Ein Beitrag zur ›neuen Marx-Lektüre‹.
Duisburg 2007, S. 47). Er dient zur Erklärung derjenigen sozialen Verhältnisse, die das
Wesen des Kapitalismus ausmachen. Dagegen erfasst die empirische Sozialstrukturana-
lyse nur asymmetrische Reichtumsverteilungen auf der vorausgesetzten Grundlage der
146
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
Schluss
Aufgrund der wenigen mir hier zur Verfügung stehenden Seiten ist es
unmöglich, in auch nur entfernt angemessener Weise zu zeigen, dass
Produktion und Arbeit bei Marx im Gegensatz zur Habermas’schen
Deutung zweidimensionale Kategorien darstellen, die sehr wohl neben
dem Inhalt normativer Regelungen selbst eine Form gesellschaftlicher
Einheit im Kapitalismus darstellen. 63 Es müssen daher wenige Bemer-
kungen genügen.
Arbeit hat Marx zufolge in allen arbeitsteiligen Produktions-
weisen die Funktion der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse,
aber nur unter privat-arbeitsteiligen Bedingungen, die systematische
Wert-, Geld- und Kapitalform. Zudem ist der Inhalt des empirischen Klassenkonzepts
elastisch, da weder die in die Klassenbildung einzubeziehenden Ungleichheitsdimensio-
nen, noch deren quantitativer Aspekt als Grenzwert der vertikalen Unterscheidung
zwischen Klassen eindeutig von den empirischen Verhältnissen festgelegt ist. Dagegen
ist der formanalytische Klassenbegriff durch die »Theorieanlage alternativlos vorgege-
ben, da eine weitergehende Ausfächerung sozialer Klassen zu einer Konfundierung von
kapitalistischer Kernstruktur und einer bestimmten kapitalistischen Entwicklungsphase
führen würde« (a. a. O., S. 54). Für diese Differenz fehlt dem soziologischen Empirismus
von Offe/Habermas jegliches Sensorium.
61 Offe: Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie? (s. Anm. 53), S. 47. Damit wird die
Gültigkeit werttheoretischer Aussagen auf die Beschreibung von mit der Stoppuhr und
in Stückzahlen messbaren konkreten, manuellen Arbeiten begrenzt und rein gesell-
schaftliche Relationen, wie die Wertproduktivität von Arbeiten, auf ihre stofflichen
Träger reduziert.
62 Vgl. u. a. TkH II 581 ff.; Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit (s. Anm. 14),
Wer dies nicht nachahmen will, sei zur Entwicklung eines adäquaten Begriffs abstrakter
Arbeit u. a. auf folgende Texte verwiesen: Wolf: Ware und Geld. Der dialektische
Widerspruch im Kapital. Hamburg 1985; Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert
(s. Anm. 8), S. 206–214; zusammenfassend: Ingo Elbe: »Soziale Form und Geschichte.
Der Gegenstand des Kapital aus der Perspektive neuerer Marx-Lektüren«. In: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), S. 221–240.
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Ingo Elbe
64 Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 40), S. 231.
65 A. a. O., S. 233.
66
Vgl. a. a. O., S. 233.
67 Vgl. a. a. O., S. 239.
68
Wolf: Ware und Geld (s. Anm. 63), S. 67.
69 Vgl. a. a. O., S. 47.
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Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas
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»Als Gebrauchswerthe oder Güter sind die Waaren körperlich verschiedne Dinge. Ihr
Werthsein bildet dagegen ihre Einheit. Diese Einheit entspringt nicht aus der Natur,
sondern aus der Gesellschaft« (MEGA II/5, S. 19).
74 MEGA II/6, S. 30. Vgl. auch MEGA II/7, S. 55.
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Entgegnung von Jürgen Habermas
Zunächst möchte ich Ingo Elbe dafür danken, dass er einen frischen
kritischen Ton in unsere Diskussion hereinbringt, denn die Philosophie
verträgt nichts weniger als eine adorierende Haltung. Andererseits be-
trachte ich seine Kritik als Erlaubnis für eine kurze Metakritik.
Was uns beide unterscheidet, ist in erster Linie ein Stil des Um-
gangs mit dem verzweigten Marx’schen Werk. Entweder man will
Probleme lösen und schaut nach, was aus Marx für die Problemlösun-
gen taugt, oder man verfällt einer – leider in Deutschland sehr verbrei-
teten – historisierenden Manier des Umgangs mit philosophischen
Klassikern. Die Absicht, Marx durch Interpretation – und nur durch
Interpretation – zu neuem Leben zu erwecken, ist wie ich glaube das
Letzte, was dem Marx’schen Selbstverständnis angemessen ist. Der
Vortrag erweckt den Eindruck, als wäre der Autor mit einem Suchpro-
gramm durch meine Arbeiten hindurchgebraust, um alle Marx-Zitate
bis zum Jahre 1982 herauszusuchen und nachzusehen, wie sich meine
Kritik zu einer bestimmten, für orthodox gehaltenen Interpretation der
Marx’schen Politischen Ökonomie verhält. Dieses schematische Ver-
fahren verschleiert die verschiedenen Kontexte, in denen ich mich je-
weils unter verschiedenen Fragestellungen auf verschiedene Teile der
Marx’schen Theorie bezogen habe. Es hätte eines Minimums an her-
meneutischer Anstrengung bedurft, um zu überlegen, ob im jeweiligen
Kontext – sei es beispielsweise im erkenntnistheoretischen Kontext
von Erkenntnis und Interesse oder im Zusammenhang einer Analyse
der Krisentendenzen eines durch korporatistischen Staatsinterventio-
nismus völlig veränderten Kapitalismus oder im abschließenden Kapi-
tel der Theorie des kommunikativen Handelns – meine Rekurse auf
ganz spezielle Begriffe und Theoreme von Marx passen oder daneben-
greifen. Wenn man ein systematisches Interesse verfolgt, würde doch
eine kontextblinde Marx-Apologetik nur unter der Prämisse der Un-
fehlbarkeit dieses Autors sinnvoll sein.
Marx nennen wir wie Adam Smith oder Hegel einen Klassiker,
weil wir trotz des Zeitenabstandes und unter anderen historischen Be-
dingungen noch etwas von ihnen lernen können. Aber dieses »Etwas«
sind Gedanken und Argumente, die man aus ihrem Entstehungskon-
text lösen muss, um sie auf einem anderen Forschungsstand für unse-
ren Kontext nutzen zu können. Denn für Philosophie und Gesell-
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Entgegnung auf Ingo Elbe
schaftstheorie gilt erst recht, dass die alltäglichen Evidenzen der Le-
benswelt eines Autors auch Einfluss haben auf dessen Theoriebildung.
Anhand der Lektüre von Engels über Die Lage der arbeitenden Klasse
in England kann man sich z. B. vergewissern, in welcher zeit-
genössischen Umgebung Marx seine Theorie entwickelt hat. Und wie
extrem verschieden die kapitalistischen Gesellschaften des Westens
nach dem 2. Weltkrieg auf ihrem Wege von einer Arbeits- zu einer
Dienstleistungs- und schließlich zu einer Kommunikationsgesellschaft
gewesen sind. Diese Überlegung berührt natürlich nicht die Korrekt-
heit oder Falschheit von Textinterpretationen. Es ist das gute Recht
eines Kritikers, mir Interpretationsfehler nachzuweisen. Aber zum her-
meneutischen Handwerk gehört es eben auch, die Interpretationsarbeit
eines Autors auf dessen Fragestellung zu beziehen.
Die normale Einstellung, die man gegenüber Marx als dem An-
fang einer kritischen Forschungstradition von mehr als anderthalb
Jahrhunderten einnimmt, wenn man aus dieser Anregungen für die
eigene Arbeit schöpfen möchte, scheint Ingo Elbe fremd zu sein. Sonst
hätte er meinen Exkurs zum Veralten des Produktionsparadigmas im
Philosophischen Diskurs der Moderne als das verstehen müssen, als
was ich ihn ausdrücklich – sofort im ersten Absatz – deklariert habe,
nämlich als die Auseinandersetzung nicht mit Marx, sondern mit einer
auf den frühen Marcuse zurückgehenden praxisphilosophischen Aus-
legung des Historischen Materialismus, die seinerzeit in Ungarn und
Jugoslawien in verschiedenen Varianten verbreitet war. In diesem Text
handelt es sich nicht um den im Kapital entwickelten Kern der
Marx’schen Werttheorie. Tatsächlich habe ich mich seit 1960, nämlich
seit dem in Theorie und Praxis enthaltenen Vortrag über »Marxismus
als Kritik«, mit diesem Thema nur noch kursorisch beschäftigt, weil
mich das Theorem – obwohl es ein Herzstück der ganzen Theorie ist –
nie überzeugt hat. Aber die Grundannahmen des Historischen Mate-
rialismus sind davon ganz unabhängig.
Ingo Elbes hermeneutische Anstrengung ist komisch und erzeugt
skurrile Effekte, weil er so tut, als ginge es mir – sei es bei meinem
Rekurs auf erkenntnisanthropologische Annahmen im Kontext einer
»Vorgeschichte des Positivismus« in Erkenntnis und Interesse, oder
bei der Bezugnahme auf handlungstheoretische Grundbegriffe in mei-
nen ersten Versuchen zu einer Theorie des kommunikativen Handelns
in Technik und Wissenschaft als Ideologie, oder bei der Entwicklung
eines kategorialen Rahmens für Krisentendenzen des Kapitalismus in
152
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Entgegnung auf Ingo Elbe
153
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Smail Rapic
Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus –
Zur Aktualität eines Habermas’schen Textes
aus dem Jahre 1973
»Krisen wird man immer sehen, wenn man mit der Doppelbrille von
Sollwerten und historischem Bewusstsein auf sie blickt. Das braucht
die Zeitgenossen weder zu ängstigen noch zu aktivieren.« Mit dieser
Bemerkung quittierte Niklas Luhmann Habermas’ Diagnose sozioöko-
nomischer und sozialpolitischer Krisentendenzen der westlichen Ge-
sellschaften in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. 1 Zu Be-
ginn der 1970er-Jahre geriet die Weltwirtschaft in eine Phase der
Stagnation; die wachsende Arbeitslosigkeit wurde zu einem gesell-
schaftlichen Unruheherd. Luhmann sah hierin lediglich eine vorüber-
gehende Abschwächung der kapitalistischen Prosperität. Für ihn sprach
aus Habermas’ These, in ökonomischen Krisenzeiten beschädige die
ungleiche Reichtumsverteilung kapitalistischer Gesellschaften deren
Legitimationsbasis (LS 44 ff.), die illusorische Hoffnung eines Sozial-
romantikers darauf, dass sich der Kapitalismus früher oder später – wie
Marx und Engels prophezeit hatten – selbst zerstören und dadurch
Platz für die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft schaffen werde.
Drei Jahrzehnte später waren es jedoch die westlichen Regierungen
und Wirtschaftsführer selber, die die Bürger mit der Vision eines Kol-
lapses des kapitalistischen Systems ängstigten. Die folgenden Sätze aus
Habermas’ Zur Verfassung Europas (2011) konstatieren einen empiri-
schen Befund:
»Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus konnte im Herbst 2008
das Rückgrat des finanzmarktgetriebenen Weltwirtschaftssystems nur noch
1
Niklas Luhmann: »Soziologie der Moral«. In: ders. Luhmann/Stephan H. Pfürtner
(Hrsg.): Soziologie der Moral. Frankfurt a. M. 1978, S. 8–116, hier: S. 38.
154
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
mit den Garantien der Steuerzahler vor dem Zusammenbruch gerettet wer-
den. Und diese Tatsache, dass sich der Kapitalismus nicht mehr aus eigener
Kraft reproduzieren kann, hat sich seitdem im Bewusstsein der Staatsbürger
festgesetzt, die als Steuerbürger für das ›Systemversagen‹ haften müssen.« 2
Habermas vertritt in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus die
These, dass kapitalistische Gesellschaften »Imperativen der Wachs-
tumsbegrenzung ohne Preisgabe ihres Organisationsprinzips nicht fol-
gen« können (LS 63). Er weist zugleich auf die ökologischen Schranken
des mit der Industriellen Revolution einsetzenden, auf den Verbrauch
fossiler Ressourcen gestützten Wirtschaftswachstums hin; hierbei
nennt er an erster Stelle die globale Erwärmung (LS 62 f.). Wenn es
zutrifft, dass das Wirtschaftswachstum das Lebenselement des Kapita-
lismus bildet, wird dieser in seinen Grundfesten erschüttert, sobald die
ökonomische Dynamik an unüberschreitbare ökologische Grenzen
stößt. Wann diese Grenzen erreicht sein werden, lässt Habermas in
Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus offen (vgl. LS 60). Seit
den 1990er-Jahren weisen die Fachwissenschaftler mit zunehmender
Dringlichkeit darauf hin, dass eine Klimakatastrophe nur durch erheb-
liche Einsparungen beim Energieverbrauch abgewendet werden kann.
Im selben Zeitraum vollzog sich infolge des Zusammenbruchs des »real
existierenden Sozialismus« in der Sowjetunion und ihren Satelliten-
staaten ein Globalisierungsschub des Kapitalismus in seiner – seit den
1980er-Jahren dominierenden – neoliberalen Variante, die Wachstums-
kräfte des Marktes durch den Abbau staatlicher Regulierung freisetzen
will. Dass der westliche Kapitalismus nur zwei Jahrzehnte nach seinem
vermeintlich säkularen Sieg über seinen osteuropäischen Konkurren-
ten selber in eine Systemkrise geraten ist, verleiht angesichts der in-
zwischen unübersehbaren Wachstumsgrenzen der Frage nach den
»Chancen« seiner »Selbsttransformation« und damit der Perspektive
einer »nachkapitalistische[n] Gesellschaftsformation«, in die Haber-
mas’ Zeitdiagnose 1973 einmündete (LS 60, 49), neue Aktualität (s. u.
Abschnitt 2).
Die Theoriestruktur der Gesellschaftsanalyse in Legitimations-
probleme im Spätkapitalismus nimmt in Habermas’ Werkgeschichte
einen exponierten Platz ein. In diesem Buch wird die methodische Dop-
pelung von systemischer Beobachter- und lebensweltlicher Teilneh-
2
Jürgen Habermas: »Am Euro entscheidet sich das Schicksal der Europäischen Union«.
In: ders.: Zur Verfassung Europas. Berlin 2011, S. 112–119, hier: S. 117.
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
4 Vgl. RHM 129: »Den theoretischen Anspruch des Historischen Materialismus möch-
te ich mir zu eigen machen.« Der Sammelband Zur Rekonstruktion des Historischen
Materialismus enthält eine thesenhafte Zusammenfassung von Legitimationsprobleme
im Spätkapitalismus (RHM 304–325).
5 Habermas’ Kritik an Marx’ Kapital in der Theorie des kommunikativen Handelns
157
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
10
Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Übers. von H. C. Recktenwald. München
1974, S. 62.
11
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Hrsg. von E. Moldenhauer
und K. M. Michel. Frankfurt a. M. 1969–78. Bd. 7, S. 385.
159
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12
S. o. Anm. 2.
13 Habermas: Zur Verfassung Europas (s. Anm. 2), S. 102.
14
Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Aufstieg und Nieder-
gang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 1011.
160
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
kurze 20. Jahrhundert«. In: ders.: Die postnationale Konstellation. Frankfurt a. M. 1998,
S. 65–90, hier: S. 80.
18 »Im Teufelskreis zwischen den Gewinninteressen der Banken und Anleger und dem
161
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24
Zitiert nach: Rolf Wiggershaus: Jürgen Habermas. Reinbek 2004, S. 96.
25 Ebd.
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
26 Bei Binswanger promovierte (1977) der spätere Deutsche Bank-Chef Josef Acker-
mann.
27 Hans C. Binswanger: Vorwärts zur Mäßigung. Perspektiven einer nachhaltigen
Wirtschaft. Hamburg 22010, S. 139, 144, 157 ff. Binswanger greift hierbei auf Ansätze
zurück, die von Irving Fisher nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 entwickelt und
von Joseph Huber und James Robertson weiter ausgestaltet wurden (a. a. O., S. 142 ff.).
28
Vgl. Elmar Altvater/Nicola Segler (Hrsg.): Solidarische Ökonomie. Reader des Wis-
senschaftlichen Beirats von Attac. Hamburg 2006, S. 85–131.
163
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29
Vgl. TP2 438: »Eine ihrem Gegenstand angemessene historische Theorie des Beste-
henden ist Theorie seiner Veränderung.«
164
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
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32 »Das moralische ist […] mit dem physischen Versagen, das Böse ist mit dem Schäd-
lichen konzeptuell ebenso verwoben wie das Gute mit dem Gesunden und dem Vor-
teilhaften.« (TkH I 80). Vgl. RHM 18.
166
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
33 Laut Marx’ »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (1844) gehört es zu den
»inneren Bedingungen« der intendierten Revolution, dass der »Blitz des Gedankens« in
den »naiven Volksboden« einschlägt (MEW 1, 391).
34 Habermas: »Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik«. In: Adorno u. a.
sammelte Schriften. Bd. 4: Schriften 1936–1941. Hrsg. von Alfred Schmidt und Gun-
zelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M. 1988, S. 162–216, hier: S. 185, 189 f. S. u. S. ###.
167
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
40 Vgl. Adorno: »Thesen übers Bedürfnis« (1942). In: ders.: Soziologische Schriften I
(= Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann u. a., Bd. 8). Frankfurt a. M. 1972,
S. 392–396.
41 Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie« (s. Anm. 35), S. 196, 205 f.
42
A. a. O., S. 193.
43 A. a. O., S. 194 f.
44
Adorno: Minima Moralia (Gesammelte Schriften, Bd. 4). Frankfurt a. M. 1980.
Nr. 96, S. 172.
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dustriegesellschaft?« (1968). In: ders.: Soziologische Schriften 1 (s. Anm. 40), S. 354–
370, hier: S. 368.
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
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tion« 52 gibt Anlass zu der Rückfrage, ob das faktische Ausmaß der ideo-
logischen (Selbst-)Täuschungen in den gegenwärtigen Gesellschaften
notwendig ist, um deren Absturz in die Anarchie zu verhindern, oder
ob sich in den herrschenden Ideologien auch Machtverhältnisse, die
überwunden werden könnten, niederschlagen. Aufschluss hierüber
lässt sich nur durch den Versuch gewinnen, auf die bestehenden Ver-
hältnisse durch Ideologiekritik einzuwirken; solche Versuche können
von der soziologischen Systemtheorie jedoch nicht unternommen
werden, da sie hiermit ihren deskriptiv-explanatorischen Beobachter-
standpunkt verließe. Adorno hält ihr zu Recht vor, das Verhältnis von
Gesellschaft und Individuum in einer verkürzten Perspektive zu the-
matisieren: Die Einzelnen erscheinen als Momente systemischer
Strukturzusammenhänge, wobei die Frage nach ihrer personalen Ver-
antwortung außer Betracht bleibt. 53 Die soziologische Systemtheorie
ebnet somit die kategoriale Differenz von natur- und gesellschaftswis-
senschaftlicher Erkenntnis im Horkheimer’schen Sinne dadurch ein,
dass sie den Begriff der »realen« bzw. »objektiven Möglichkeit« gesell-
schaftlicher Alternativen, der in der deskriptiv-explanatorischen Be-
obachterperspektive keinen Platz hat, als ›unwissenschaftlich‹ werten
muss. Der von Habermas geforderte Überschritt von der Beobachter-
perspektive zur Teilnehmerperspektive, in der aufgrund der Orientie-
rung an »Geltungsprobleme[n]« (LS 16) ideologischer Schein kritisiert
werden kann, ergibt sich demnach stringent aus einer immanenten
Kritik an der soziologischen Systemtheorie. Die Teilnehmerperspektive
der kritischen Gesellschaftstheorie ist aufgrund der Schlüsselrolle, die
der Begriff der Möglichkeit im Sinne der Handlungsalternative in ihr
spielt, an unsere »Lebenswelt« angebunden. Im Zentrum von Haber-
mas’ Lebenswelt-Begriff steht das »Situationsbewusstsein der han-
delnden Individuen«: 54 In der »Innenperspektive«, die für unsere per-
sonale Existenz konstitutiv ist, stellen sich die Situationen, in denen
wir uns jeweils befinden, als Horizonte spezifischer »Handlungsmög-
lichkeiten« dar (TkH II 10, 187 f.); zu diesen Möglichkeiten verhalten
wir uns stets in irgendeiner Weise – sei es auch in dem Sinne, dass wir
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55 A. a. O., S. 481.
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
den Frühschriften von Marx und Engels gewidmeten Kapitels meiner Monographie
Subjektive Freiheit und Soziales System. Positionen der kritischen Gesellschaftstheorie
175
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59 S. Anm. 6.
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62
Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen (s. Anm. 10), S. 28 f., 33 f.
63 A. a. O., S. 28, 42
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64 MEW 23, 116 f.; Smith: Der Wohlstand der Nationen (s. Anm. 10), S. 48 ff. – Sig-
nifikante Abweichungen ergeben sich z. B. bei begehrten seltenen Produkten.
65
Vgl. a. a. O., S. 42.
66 Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58; MEW 42, 140). Vgl.
Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 9), S. 215, 219.
67 Backhaus: Dialektik der Wertform (s. Anm. 8), S. 45 ff.
183
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68 A. a. O., S. 45.
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69 John Locke: Ȇber den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staat-
lichen Regierung« (1690), § 27. In: ders.: Zwei Abhandlungen über die Regierung.
Frankfurt a. M. 1977, S. 216.
186
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70
A. a. O., §§ 34, 36, 46–50, S. 220 ff., 228 ff. Lockes Schwanken ist insbes. in § 36 be-
merkbar.
71
Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 235, 248.
Vgl. TkH II 494, 497 f., 502, 504.
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72 Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9), S. 523.
73 In den Grundrissen bezeichnet Marx den »Austausch von Tauschwerten« als die
»reale Basis aller Gleichheit und Freiheit« in der bürgerlichen Gesellschaft (MEW 42,
170).
74
Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 255 f.,
281 ff.; TkH II 497.
188
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
75 Lohmann: a. a. O., S. 281; ders: Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Aus-
einandersetzung mit Marx. Frankfurt a. M. 1991, S. 278.
76 Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 236, 281. –
Dies berührt sich mit Engels’ ›historistischer‹ Lesart des Kapital (MEW 13, 473 ff.). Vgl.
Backhaus: Dialektik der Wertform (s. Anm. 8), S. 229 ff., 258 ff.
77
Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 261 ff.,
280 f.
189
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78
S. o. S. 179. Der späte Marx »rutscht« mit seinem Rekurs auf Hegels Logik demnach
»begrifflich in die Fiktion«, dass »den historisch-sozialen Lebenswelten kein begrifflich
angebbarer, und daher prinzipieller Widerstand« gegen das Kapitalsystem eigne (Loh-
mann: a. a. O., S. 278).
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
79 Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert (s. Anm. 9), S. 164–179; Postone: Zeit, Arbeit
schaft (s. Anm. 76) und Lohmanns Aufsatz »Zwei Konzeptionen von Gerechtigkeit in
Marx’ Kapitalismuskritik«. In: Emil Angehrn/Georg Lohmann (Hrsg.): Ethik und
Marx. Moralkritik und normative Grundlagen der Marxschen Theorie. Königstein/Ts.
1986, S. 174–194.
83 Ebd.
84
Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 248, 254 f.,
278.
191
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Handelns an (TkH II 497). Dass der späte Marx eine normative Kritik
am Kapitalismus im Ausgang von der bürgerlichen Sozialethik für aus-
geschlossen hält, ist für Heinrich unproblematisch: »Es geht Marx […]
gar nicht um eine eigene normative Argumentation, sondern darum,
die (strukturelle und nicht etwa historische) Genese der in der bürger-
lichen Gesellschaft als evident betrachteten Normen aufzuzeigen.« 85
Marx will mit seiner Analyse der Warenform eine solche »strukturel-
le« Genese rekonstruieren. Mit dem Aufweis der Genese einer norma-
tiven Überzeugung ist über ihren Geltungsanspruch noch nichts ent-
schieden. Die Geltungsfrage spricht Heinrich im folgenden Zitat an:
»Die für die bürgerliche Sozialphilosophie fundamentale Legitimation
des Eigentums durch eigene Arbeit ist keine klug ausgedachte Recht-
fertigungsideologie. Sie ist vielmehr einem objektiven, von den bür-
gerlichen Verhältnissen selbst hervorgebrachten Schein geschuldet.« 86
Die Rede vom »objektiven […] Schein« der bürgerlichen normativen
Überzeugungen wird von Heinrich folgendermaßen erläutert: »Die
Marxschen Argumente zielen darauf ab, dass die scheinbare Offen-
sichtlichkeit von moralischen Maßstäben und Gerechtigkeitsvorstel-
lungen gerade nichts ›natürliches‹ ist, sondern selbst noch ein histori-
sches und gesellschaftliches Produkt darstellt.« 87 Diese Aussage ist
jedoch wiederum auf der »quid facti?«-Ebene verortet: Sie bezieht sich
auf einen Kernaspekt des Basis/Überbau-Theorems. Die entscheidende
geltungstheoretische Frage, die durch Heinrichs Charakterisierung der
bürgerlichen Normierungen als ›scheinhaft‹ aufgeworfen sind, lautet,
ob allen oder einigen dieser Normierungen in dem Sinne der Status der
Unwahrheit zuzusprechen ist, dass sie in künftigen Gesellschaftsfor-
mationen zu revidieren sind. Hierbei muss insbes. geklärt werden, ob
die ›kapitalistische‹ Überzeugung, die Aneignung von Mehrwert durch
die ›Arbeitgeber‹ sei legitim, in geltungstheoretischer Hinsicht auf der-
selben Stufe steht wie die bürgerliche Menschenrechtsidee, der zufolge
jeder Mensch Eigentümer seines Körpers ist und daher nicht misshan-
delt oder versklavt werden darf. Heinrichs Charakterisierung der bür-
gerlichen Sozialethik als eines »objektiven […] Schein[s]« im obigen
Zitat bezieht sich auf deren Genese: Hiermit soll zum Ausdruck ge-
bracht werden, dass die bürgerlichen Normierungen – im Sinne der
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193
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95
Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9), S. 382.
96 A. a. O., S. 352.
194
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
97 A. a. O., S. 380 f.
98
A. a. O., S. 62, 349, 354, 561.
99 Die zitierten Sätze sind einer 1 1/2-Seiten langen Passage entnommen, aus der Ha-
bermas (EI 67 f.) und Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (s. Anm. 9),
S. 62 unterschiedliche Abschnitte wiedergeben.
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Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
107
A. a. O., S. 542 ff.
108 Vgl. a. a. O., S. 62: »Der Kapitalismus lässt die Möglichkeit seiner eigenen Negation
197
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110
A. a. O., S. 381.
111 A. a. O., S. 552 f.
112
A. a. O., S. 551.
113 Mit dem zentralen Argument, das in den voranstehenden Ausführungen gegen
Heinrichs und Postones Antworten auf Habermas’ Marx-Kritik in der Theorie des kom-
munikativen Handelns vorgebracht wurde: dass die Unterscheidung zwischen der »quid
facti?«- und einer »quid juris?«-Ebene in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie un-
hintergehbar ist, von ihm jedoch nicht angemessen thematisiert wird, lässt sich m. E.
auch die These Rockmores entkräften, Habermas’ Einwände gegen die Warenform-
Analyse beruhten auf der dogmatischen Setzung seines eigenen gesellschaftstheoreti-
schen Konzepts und blieben daher Marx’ Kritik der politischen Ökonomie äußerlich, so
dass sie »keine ernsthafte Herausforderung« für sie bildeten (Rockmore: Habermas on
Historical Materialism (s. Anm. 80), S. 134, 140 ff.). Rockmore geht hierbei so weit zu
behaupten: »Habermas abandons any pretense of an immanent critique of the Marxian
value theory« (a. a. O. S. 140), was dem Textbefund der Theorie des kommunikativen
Handelns zuwiderläuft. Gegen Rockmores These: die Theorie des kommunikativen
Handelns »fails […] even to demonstrate the existence of the problem which Habermas
claims to discern« (a. a. O. S. 138), ist einzuwenden, dass in Marx’ Kapital der Status der
moralischen Kritik, die dort am zeitgenössischen Kapitalismus geübt wird, wie auch die
historische Rolle der bürgerlichen Menschenrechtsidee unklar bleiben.
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Entgegnung auf Smail Rapic
Ich bin Smail Rapic für diesen Vortrag dankbar, weil er mich über die
philosophischen und politischen Motive aufklärt, die unseren – mir bis
jetzt persönlich unbekannten – Gastgeber motiviert haben, zu dieser
Tagung die Initiative zu ergreifen. Die ausführliche Bezugnahme auf
die Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus veranlasst mich zu
einer Bemerkung. In diesem Text schlägt sich eine Diskussion nieder,
die wir zu Beginn unsrer Arbeit am Starnberger Institut geführt haben,
als wir überlegten, welche empirischen Projekte wir in Angriff nehmen
sollten. Der Text ist 1972 entstanden, also kurz vor dem Ende jener
Nachkriegsperiode, die Hobsbawm im Rückblick auf das Zeitalter der
Extreme als »Goldenes Zeitalter« beschrieben hat. In den westeuropäi-
schen Staaten, die ihre sozialen Sicherungssysteme aufgebaut hatten,
traten die Krisentendenzen des Kapitalismus damals nicht in der Ge-
stalt von manifesten Wirtschaftskrisen, sondern in der verschleierten
Form von Inflationstendenzen in Erscheinung. Das erklärt, warum
Claus Offe und ich eine Theorie der Verschiebung des Krisenpotentials
in den Steuerstaat und in die kulturellen Muster der Sozialisation ent-
wickelt haben. Unter anderen Vorzeichen hat damals Daniel Bell ganz
ähnlich über Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus geschrie-
ben. Unter heutigen Bedingungen haben die Legitimationsprobleme
zwar wieder eine gewisse Aktualität gewonnen, aber der inzwischen
eingetretene Szenenwechsel sollte uns auch an die Fallibilität mehr
oder weniger geistreicher Hypothesen erinnern. Wolfgang Streeck
und andere kritisieren diesen Ansatz im Lichte der jüngsten Krise aus
guten Gründen wegen des seinerzeit suggerierten Vertrauens in die
ökonomische Selbststabilisierungsfähigkeit des Kapitalismus. Auf die
114
Vgl. Lohmann: »Gesellschaftskritik und normativer Maßstab« (s. Anm. 7), S. 261 ff.,
280 f. – Den Anknüpfungspunkt dieses Programms bildet Engels’ ›historistisches‹ Ver-
ständnis des Kapital, das wiederum von den naturalistischen Zügen seines Spätwerks
abgelöst werden muss.
199
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Entgegnung auf Smail Rapic
200
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Entgegnung auf Smail Rapic
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Entgegnung auf Smail Rapic
202
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Stefan Müller-Doohm
1 Jürgen Habermas: Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine politische Schriften
VIII. Frankfurt a. M. 1995, S. 92. Das Zitat ist einem Interview entnommen, das Haber-
mas am 18. Juni 1994 im Kölner Stadt-Anzeiger veröffentlicht hat.
2 Stefan Müller-Doohm: Jürgen Habermas. Leben, Werk, Wirkung. Frankfurt a. M.
2008.
3 Habermas: »Dialektik der Rationalisierung. Vom Pauperismus in Produktion und
Konsum«. In: Merkur 8, Nr. 78 (August 1954), S. 701–724; ders.: »Marx in Perspekti-
ven«. In: Merkur 9, Nr. 94 (Dezember 1955), S. 1180–1183.
203
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Stefan Müller-Doohm
204
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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas
torischen Materialismus ist die These, dass die Rationalitäts- und Be-
wusstseinsstrukturen eine unabhängige Entwicklungslogik besitzen
und Schrittmacher der sozialen Evolution sind. An Marx kritisiert er
folgerichtig, dass er übersehen habe, welche evolutionäre Rolle die
Strukturen sprachlich hergestellter Intersubjektivität als strukturelle
Grundtatsache sozialen Lebens spielen. Dennoch stimmt er mit Marx
überein, »die Produktivkraftentfaltung als problemerzeugenden Me-
chanismus [zu] verstehen, der die Umwälzung der Produktionsverhält-
nisse und eine evolutionäre Erneuerung der Produktionsweise zwar
auslöst, aber nicht herbeiführt.« (RHM 161) 7
Ich bilanziere in so groben Zügen, wie ich referiert habe: Haber-
mas gelangt Ende der siebziger Jahre zu zwei Einsichten: Erstens ver-
sucht er nachzuweisen, dass der Spätkapitalismus durch den neuartigen
Typus der Legitimationskrise gefährdet ist. Zweitens zeigt er, dass es
eine von der materiellen Produktion unabhängige Entwicklung in der
Dimension des moralisch-praktischen Bewusstseins gibt, ein Lernpro-
zess, der zur Bewältigung systemischer Krisen beizutragen vermag.
Seitdem kritisiert Habermas einen Marxismus, der »an einem einzigen,
im Äquivalententausch zentrierten Vergesellschaftungsmechanismus«
fixiert ist (FG 62–66, hier S. 66).
Mit der Erinnerung an diese komplementären Einsichten kann ich
diese mehr als schlaglichtartige Rückblende auf die Diskontinuitäten
der Marx-Rezeption von der Entfremdungs-, zur Revolutions- bis zur
Krisentheorie abbrechen und das Thema aufnehmen, das Habermas
seit der Theorie der kommunikativen Handelns vielfach variierend im-
mer wieder aufgegriffen hat: Das Spannungsverhältnis von Kapitalis-
mus und Demokratie. Diese für ihn bis heute gültige diagnostische
Aussage will ich in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stellen.
Ich will so vorgehen, dass ich im ersten Schritt ganz kurz auf die
Konzeptualisierung der Verdinglichungstheorie eingehe, wie sie im
zweiten Band der Theorie des kommunikativen Handelns nachzulesen
ist. Im zweiten Schritt will ich zur Diskussion stellen, ob die Demokra-
tietheorie von Habermas Elemente enthält, die konkrete Hinweise da-
rauf geben, wie der Kapitalismus mit politischen Mitteln gezähmt wer-
7
Vgl. Müller-Doohm: »Zukunftsprognose als Zeitdiagnose. Habermas’ Weg von der
Geschichtsphilosophie zur Evolutionstheorie bis zum Konzept lebensweltlicher Patho-
logien«. In: Victor Tiberius (Hrsg.): Zukunftsgenese. Theorie des zukünftigen Wandel.
Wiesbaden 2012, S. 159–178.
205
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Stefan Müller-Doohm
1. Verdinglichungstheorie
8 Die Arbeitswerttheorie von Marx erklärt die Realabstraktion des Tauschs: Die im
Tauschakt sich vollziehende Gleichsetzung unterschiedlicher Waren sowie die Verkeh-
rung von Produktion und Konsum in ein Durchgangsstadium der Kapitalverwertung.
Die Wertform der Waren verweist auf eine gesellschaftliche Paradoxie, die darin be-
steht, dass die an Gebrauchswerten orientierten Bedürfnisse der abstrakten, auf Tausch-
werte fixierten Vermittlungsform unterworfen werden. Mit der Verselbständigung des
Geldes wird die Mehrwertproduktion um des Mehrwerts zu einem eigendynamischen
System. Vgl. die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung der Marx-Interpretation
von Habermas durch Furio Cerutti: »Habermas und Marx«. In: Leviathan 11 (1983),
S. 352–375, der »in einem philologisch gut belegten Artikel Marx gegen die von mir
erhobenen Bedenken verteidigt.« (Habermas: »Entgegnung«. In: Axel Honneth/Hans
Joas (Hrsg.): Kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1986, S. 327–405, hier: S. 395).
206
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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas
Absicht, das nun ganz in den Vordergrund gestellte Problem der Ver-
dinglichung in Begriffen systemisch induzierter Lebensweltpatholo-
gien zu bestimmen. Damit soll es gelingen, Licht auf das selektive
Muster der kapitalistischen Modernisierung zu werfen.
Fokus der Kapitalismuskritik von Habermas ist keineswegs die Art
und Weise kapitalistischen Wirtschaftens, sondern das, was er die »Mo-
netarisierung der Lebenswelt« nennt: Monetarisierung ist die Erschei-
nungsform einer verkürzten und verselbständigten Systemrationalität
(TkH II 489 ff.). Gegenüber der systemischen Eigenrationalität der
ökonomischen Reproduktion meldet Habermas in seiner Analyse kei-
nen Widerspruch an. Dass die Sicherung der wirtschaftlichen Güter-
produktion und Güterverteilung durch die selbständigen Vermitt-
lungsleistungen des Geldes geschieht, ist aus seiner Sicht – konträr
zur orthodoxen Theorie des Geldes als Kapital von Hans-Georg Back-
haus und Helmut Reichelt 9 – ein unproblematischer Vorgang. Aber
nur, solange das von Habermas als neutrales Steuerungsmedium de-
finierte Geld innerhalb des Wirtschaftssystems zirkuliert. Geld ist
seiner Theorie zufolge ein entsprachlichtes Medium der Handlungs-
koordinierung und nicht (in Form von Kapital) Ausdruck eines Klas-
senverhältnisses. Mit den weiteren Schritten seiner Gegenwartsdiag-
nose kommt er zu dem Ergebnis, dass das ökonomische System wegen
seiner profitbedingten Expansionstendenzen über das Steuerungs-
medium Geld in die verständigungsorientierte kommunikative All-
tagspraxis eindringt, wodurch die sozialen Beziehungen verdinglicht
werden. Insofern ist es überzogen zu behaupten, 10 in der Sozialtheorie
von Habermas gäbe es überhaupt keine kapitalismuskritischen Motive
mehr. 11 Vielmehr wird die philosophische Entfremdungs- und Revolu-
tionstheorie der 50er und 60er Jahre neu grundiert und die Krisentheo-
rie der 70er Jahre ergänzt durch eine allgemeine Theorie systemisch
erzeugter Sozialpathologien – Pathologien, die sich prinzipiell korrigie-
9 Vgl. Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform. Freiburg 1997; Helmut Reichelt:
Der Zusammenhang von Werttheorie und ökonomischen Kategorien bei Marx. Bre-
men 1998.
10 Vgl. Michael Th. Greven: »Die fehlende Demokratietheorie der Kritischen Theorie«.
In: Wolfgang Merkel/Andreas Buch (Hrsg.): Demokratie in Ost und West. Frankfurt
a. M. 1999, S. 73–89.
11 Im Unterschied zu Marx beschränkt sich die Kapitalismusanalyse von Habermas
keineswegs auf die »innere Natur des Kapitals« (Marx: Das Kapital. Bd. 3, MEW 23,
S. 335).
207
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Stefan Müller-Doohm
12
Gravierende Ungleichgewichte zwischen Wirtschaft und Staat einerseits, zwischen
den systemischen Funktionsmechanismen und der lebensweltlichen Sphäre anderer-
seits führen zu Krisenerscheinungen. Demgegenüber sind jene spezifischen Lebens-
weltpathologien die Folge davon, dass Störungen des Wirtschaftskreislaufes oder der
staatlichen Politik auf die Lebenswelt abgewälzt werden und/oder mediengesteuerte
Subsysteme durch Geld und Macht genau jene verständigungsorientierten Kommuni-
kationsweise substituieren, mittels derer sich die Lebenswelt erhält.
13
Dieses Angewiesen-Sein ist der Grund für die Skepsis von Habermas im Hinblick auf
marxistisch inspirierte Konzepte einer politisierten Arbeitsgesellschaft. So wie Gewerk-
schaften auf die »radikal demokratischen Verspreche[n] verzichten« mussten, war sei-
ner Meinung nach die Idee der Arbeiterselbstverwaltung zum Scheitern verurteilt,
ebenso wie die Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft als vorpolitischer Ordnung
(FG 616–622 (Zitat: S. 618); vgl. auch Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine
Politische Schriften V. Frankfurt a. M. 1985, S. 255).
14
Vgl. TkH II 507 ff.; Vgl. David Ingram: Habermas: Introduction and Analysis. Ithaca/
London 2010, S. 260 ff.
15
DIE ZEIT vom 06. 11. 2008; Habermas: Zur Verfassung Europas. Frankfurt a. M.
2011, S. 99–111, hier S. 99, S. 101 und S. 102.
208
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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas
16
Habermas: »Nach dem Bankrott« (s. Anm. 15).
17 Habermas: »Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik«. In: Pe-
ter Niesen/Benjamin Herborth (Hrsg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Frank-
furt a. M. 2007, S. 406–459, hier: S. 428.
209
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Stefan Müller-Doohm
2. Demokratietheorie
Damit sind wir bei der Demokratie als der Errungenschaft der Moder-
ne. Ihr traut Habermas zu, dass sich mit ihrer Hilfe der Gordische
Knoten jener schier unlösbaren Probleme zerhauen lässt. 19 Mit dieser
18
FG 99, 366; Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt a. M. 1996, S. 292.
19 Habermas: Vergangenheit als Zukunft. Zürich 1990, S. 128 f.
210
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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas
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212
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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas
tik zurück, die jedoch, so seine These, durch Erweiterung ihrer Legiti-
mationsgrundlage auf transnationalem Niveau zu überwinden wären.
Aber auch bei diesem Konzept einer transnationalen Demokratie
eines vereinigten Europas bleibt ungeklärt, welcher politischen Pro-
gramme und staatlichen Initiativen es im Einzelnen bedarf, um auf
das kapitalistische System gemäß jenen Rechtsregeln Einfluss zu neh-
men, die mit demokratischen Legitimationskriterien übereinstimmen.
Immerhin spricht einiges dafür, dass das Ziel einer Domestizierung des
Kapitalismus durch Demokratie angesichts der engen Grenzen der Go-
vernance-Politiken zu nichts anderem gerät als zum Programm einer
Sanierung der gegebenen Wirtschaftsverfassung. 23 Das lässt sich kaum
von der Hand weisen für jene 6 Vorschläge, die Habermas am 20. Mai
2010 in der ZEIT gemacht hat 24: Dass die großen Banken ihr Eigen-
kapital erhöhen, die Hedgefonds durchleuchtet, die Börsen und die
Ratingagenturen kontrolliert werden. Darüber hinaus, so fordert Ha-
bermas, seien die Praktiken der Geldspekulation zu begrenzen, Finanz-
transaktionen zu besteuern, Investment- und Geschäftsbanken zu
trennen. Selbst wenn die Chancen einer Politik genutzt werden, die
darin bestehen, dass staatliche Instanzen im Namen des demokrati-
schen Gemeinwohlprinzips die Auswüchse der kapitalistischen Wirt-
schaftsweise abfedern, dann wächst ein anderes, gerade auch von Ha-
bermas anvisiertes Gefahrenpotential: Das eines neuartigen Etatismus,
der einen Rückfall in technokratisch verkürzte Entscheidungsformen
befördert.
Habermas ist sich darüber im Klaren, dass der Kapitalismus ein
Danaergeschenk ist: Ohne Krisen und pathologische Nebenfolgen ist
er nicht zu haben. Folglich bleiben die schon aufgeworfenen Fragen
auf der Agenda: Erstens: Wie können seine destruktiven Kräfte in
Schach gehalten, wie also kann die Profitlogik der Ökonomie durch
den demokratischen Souverän politisch unter Kontrolle gebracht wer-
23 Dass die staatlichen Instrumente der Makrosteuerung eben nicht auf eine Kontrolle
der Wirtschaft durch den Staat hinauslaufen, sondern in erster Linie Maßnahmen zum
Wohle von Banken der prosperierenden europäischen Staaten sind, also letztlich »allein
auf die Rettung der vor der Selbstzerstörung stehenden marktwirtschaftlichen Syste-
me« hinauslaufen, konstatiert Jens Beckert in seiner Analyse »Die Anspruchsinflation
des Wirtschaftssystems«. (MPIfG Working Paper 09/10. Max-Planck-Institut für Ge-
sellschaftsforschung, Köln, September 2009: http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp09-
10.pdf, S. 12–18, hier: S. 17.)
24 Habermas: »Wir brauchen Europa«. In: DIE ZEIT vom 20. 05. 2010, S. 47.
213
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Stefan Müller-Doohm
25
Habermas: Die Einbeziehung des Anderen (s. Anm. 18), S. 187.
26 Colin Crouch: Postdemokratie. Frankfurt a. M. 2008, S. 13.
214
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Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas
27 Habermas: »Der 15. Februar oder: Was die Europäer verbindet«. In: ders.: Der ge-
spaltene Westen. Kleine politische Schriften X. Frankfurt a. M. 2004, S. 47 und S. 48.
28
Habermas: »Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft?« In:
ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt a. M. 2005, S. 324–367, hier
S. 329.
29 A. a. O., S. 346.
215
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.
Entgegnung auf Stefan Müller-Doohm
30
Habermas: »Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?« In:
ders.: Der gespaltene Westen (s. Anm. 27), S. 113–193, hier: S. 175.
216
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Entgegnung auf Stefan Müller-Doohm
31
Vgl. Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapi-
talismus. Berlin 2013.
217
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Entgegnung auf Stefan Müller-Doohm
218
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Diskussion
Moderation: Rita Casale
219
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Diskussion
220
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zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm
Georg Lohmann: Ich habe eine Frage an Herrn Elbe und dann eine
etwas polemische Bemerkung dazu und indirekt vielleicht auch eine
Frage an Herrn Baum zum gestrigen Vortrag. Also ich habe gar nicht
gesehen, was eigentlich das positive Ziel Ihrer Interpretation ist. Geht
es um einen irgendwie nicht richtig beachteten Kontext bei Marx, aus
dessen Begrifflichkeit man da etwas machen kann? Also ich sehe gar
nicht – das ist meine Frage –: Für was wollen Sie diesen Marx, den Sie
da sozusagen mit Wertform und ähnlichen Begriffen umschrieben
haben, gebrauchen? Für welche Probleme soll das taugen?
Und auf die Bemerkung, die Sie am Schluss gemacht haben, dass
Ihr Vortrag ein Beispiel für eine neue Marxlektüre sei, möchte ich
polemisch antworten. Hier in Wuppertal gibt es traditionellerweise
viele Freikirchenbildungen, und ich habe den Eindruck, wir sind hier
Zeugen einer neuen, und ich würde jetzt sagen, »sektenhaften« Marx-
Interpretation geworden. Aber neu kann das gar nicht sein, was Sie
vorgeschlagen haben; es erinnert mich an die orthodoxen Marx-Inter-
pretationen in den 70er-Jahren, und die hatten m. E. viel von dem ver-
gessen, was an kritischer Marx-Lektüre seit den 20er-Jahren des letz-
ten Jahrhunderts gemacht worden war. Und das irritiert mich. Ich
glaube hingegen, man kann nur – und das war ja auch Marxens Um-
gang mit allen Klassikern gewesen – in kritischer Weise mit diesen
Autoren und auch mit Marx selbst umgehen. Und Marx würde sich
im Grabe umdrehen, wenn er sieht, dass an ihm jetzt Dinge festgehal-
ten werden, ohne dass eine kritische Interpretation, die Marx heute
erst Recht bräuchte, überhaupt vorgenommen wird. Aber wenn man
das nicht macht, dann entsteht m. E. ein neoorthodoxes Zeug und ich
sehe überhaupt nicht, dass das für irgendetwas nötig ist, außer – und
Luhmann hat gesagt, Selbstbefriedigungen sind in der Wissenschaft
verboten – außer für eine wissenschaftliche Selbstbefriedigung von
Marxologen.
221
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Diskussion
Hauke Brunkhorst: Ich möchte noch einmal an die Frage der Ideo-
logiekritik anschließen. Es ist ziemlich klar, dass die Hoffnung auf Ideo-
logiekritik und auf die Auflösung falschen Bewusstseins gewisserma-
ßen durch ein Wort die Hoffnung eines intellektuell immer schon
überdehnten Hegel-Marxismus war, wie ihn Lukács paradigmatisch
verkörpert hat, und der dann interessante Debatten ausgelöst hat, näm-
lich über die systematischen Grundlagen der Gesellschaftstheorie, die
bis Habermas’ Erkenntnis und Interesse reichen. Aber die Hoffnung,
damit politische Verhältnisse direkt zu verändern, indem man das fal-
sche Bewusstsein einfach zerstört, für diese Hoffnung gibt es übrigens
bei Marx nicht die geringste Evidenz – es ist auch egal, ob Marx es so
gesehen hat –, aber dass das intellektualistisch überdehnt ist, sieht man
eigentlich sofort. Wobei es natürlich falsches Bewusstsein gibt und
Ideologiekritik ihre Gegenstände hat. Wenn ich so fernsehe, erinnere
ich mich immer an einen Satz von Adorno: dass Bewusstsein töte, sei
ein Ammenmärchen, tödlich sei nur falsches Bewusstsein. Ja, das ist
wahr, wenn man sich das Fernsehen so anguckt, und da entsteht eine
Form von Ideologie, die zeigt, dass diese neoliberale Episteme völlig
undurchdringlich geworden ist. 2008, als die Finanzkrise im September
loskrachte mit Lehman Brothers, da sah ich eine Talkshow, ich weiß
nicht mehr genau von wem, und die Moderatorin sagt, »ja also jetzt
können wir uns ja nicht mehr auf Herrn Ackermann und die Banken
verlassen, an wen sollen wir uns denn noch halten?«, nachdem sie zwei,
drei, vier, fünf Jahre die Politiker gemobbt und die Banken hochgeju-
belt hatten. Dann ein zweiter Fall, da wird das richtig plastisch greifbar:
eine sehr intelligente und scharfe Moderatorin dieser ZDF-Nachrich-
tensendung fragt einen dieser vielen Chef-Ökonomen der Deutschen
Bank – weil man ja immer Chef-Ökonomen fragen muss, weil sie so
unabhängig sind, weil sie Ökonomen sind, und weil sie die wissen-
schaftliche Meinung darlegen. Und da fragt sie den nach dem letzten
Rettungsschirm kurz vor Weihnachten: »Also erklären sie uns doch
jetzt einmal, hat die Bundesregierung jetzt das Problem gelöst?« – »Ja,
also das weiß ich nicht«, sagt er, »das entscheiden ja nicht wir, das ent-
scheidet bei uns der kleine Sparer.« Und jetzt passiert folgendes: jetzt
fragt sie pseudo-scharf nach, aber nicht nach dem kleinen Sparer, nach
dem, was er gesagt hatte, und der erzählt geschlagene fünf Minuten
lang, dass bei der Deutschen Bank der kleine Sparer alles entscheidet.
Das ist eine Form von Ideologie, von der man denkt, da würde ein Wort
an der richtigen Stelle genügen, um dem ganzen Spuk ein Ende zu
222
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zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm
Ingo Elbe: Dann fange ich mal an, ich bin ja ein paar Mal auch direkt
angesprochen worden. Ich finde es erst einmal sehr interessant, wie
hier das Wissen verbreitet ist, was Marx alles so denken würde und
wie er sich im Grabe umdrehen würde. Das finde ich immer hochinte-
ressant. Ich möchte Herrn Lohmanns Wortbeitrag mit dem von Herrn
Habermas verknüpfen und auch auf die Kritik von Frau Doyé einge-
hen. Zunächst einmal: Meine Kritik an Habermas ist kontextfrei in
dem Sinne, dass sie eine Kontinuität in der Marx-Deutung bei Haber-
mas herausgearbeitet hat. Da ist es völlig irrelevant, ob die Quelle
Erkenntnis und Interesse ist – ein erkenntnistheoretischer Zusammen-
hang – oder Der philosophische Diskurs der Moderne – ein philo-
sophiegeschichtlicher Zusammenhang –; Habermas’ Kritik an Marx
bleibt bezüglich des Arbeitsbegriffes identisch, und deswegen ist von
mir eine berechtigte Dekontextualisierung dieser Aussagen vorgenom-
men worden. Das wäre der erste Punkt.
223
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Diskussion
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zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm
Manfred Baum: Zur Frage von Herrn Lohmann: Ich habe in meinem
Vortrag gesagt, dass es mir hier nicht darum geht, die Detailgenau-
igkeit der Habermas’schen Kurzbeschreibung der Marx’schen »Real-
abstraktion« in Begriffen seiner Kommunikationstheorie zu disku-
tieren. Mir ging es nur darum, darauf hinzuweisen, dass Hegels
unglücklicherweise großer Einfluss auf Marx nicht auch dazu führte,
dass dieser mit Hegel das kapitalistische System als zerrissene sittliche
Totalität dachte, sondern – zumindest in seinen Anfängen – als eine
Folgeerscheinung des Privateigentums, das er, mit Rousseau und sehr
gegen Hegel, für das Grundübel der kapitalistischen Gesellschaft hielt.
225
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Diskussion
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zu den Vorträgen von Elbe, Rapic und Müller-Doohm
Smail Rapic: Ich möchte das Thema der Ideologiekritik ins Zentrum
stellen, das mehrfach angesprochen wurde. Nach meiner Überzeugung
ist das Problem der Ideologie unvermindert aktuell. Hierzu einige Bei-
spiele: Ich habe 2000/2001 und 2005–2007 in Kopenhagen gelebt und
bei meinem zweiten Aufenthalt eine tiefgreifende Veränderung des
gesellschaftlichen Klimas erlebt: in Richtung Xenophobie bis hin zu
offener Fremdenfeindlichkeit. Für die in Dänemark lebenden Auslän-
der war es in der Zwischenzeit erheblich schwieriger geworden, einen
Arbeitsplatz zu finden; dies führte zu einer Ghettoisierung und zu
wachsender Aggressivität unter den Nicht-Dänen. Bei meinem ersten
Aufenthalt wohnte ich in einem traditionell proletarisch geprägten
Viertel, beim zweiten in einem relativ wohlhabenden; dort sagte mir
ein Nachbar: »Seien Sie froh, dass Sie jetzt hier sind. In dem Viertel, wo
Sie früher gewohnt haben, leben so viele Ausländer.« Da meinem Na-
men unschwer zu entnehmen ist, dass ich einen Migrationshinter-
grund habe, fügte er hinzu: »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin
kein Rassist.« Der Nachbar wollte mich auf eine reale Gefahr hinwei-
sen: In der Straße, in der ich bei meinem ersten Aufenthalt gewohnt
hatte, war kurz zuvor ein Mord passiert. Es ist hinreichend belegt, dass
die konsequente Benachteiligung und Ghettoisierung einer Minderheit
Aggressivität seitens der Betroffenen hervorruft; und es ist eine klassi-
sche ideologische Struktur, die durch Diskriminierung hervorgerufene
Gewalttätigkeit als einen Beleg dafür hinzustellen, dass man sich vor
einer bedrohlichen Randgruppe schützen müsse. Untersuchungen zu
den Ausschreitungen in mehreren englischen Städten 2011 haben ge-
zeigt, dass zu den Ursachen der Gewalttaten die Tatsache gehörte, dass
Farbige viel häufiger als Weiße von der Polizei auf der Straße angehal-
ten und kontrolliert wurden: Den Farbigen wurde hiermit das Gefühl
vermittelt, Bürger zweiter Klasse zu sein. In Jugoslawien – wo ich ge-
boren bin – haben sich die Jahrzehnte lang tradierten, zum Teil religiös
gefärbten Vorurteile der verschiedenen Volksgruppen gegeneinander
in einem Bürgerkrieg entladen, der 200.000 Menschen das Leben ge-
kostet hat. Auch der sogenannte »Krieg gegen den Terror« der USA
und ihrer Verbündeten nach dem 11. September 2001 war ideologie-
durchtränkt. Der islamische Fundamentalismus wurde in den 1980er-
227
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.
Diskussion
Jahren von den USA gefördert, weil er sich im Kampf gegen die sowje-
tische Invasion in Afghanistan als nützlicher Verbündeter erwies. Osa-
ma Bin Laden versteckte sich nach dem Angriff der USA auf Afgha-
nistan in der Höhlenfestung Tora-Bora, die er Jahre zuvor mit Hilfe der
CIA gebaut hatte. Es ist eine klassisch ideologische Struktur, die Bun-
desgenossen von gestern zu Erbfeinden zu erklären, nachdem sich die
Machtkonstellation verändert hat.
Als George W. Bush 2004 wiedergewählt wurde, fragten deutsche
Fernsehjournalisten ihre US-amerikanischen Kollegen, wie es zu er-
klären ist, dass ein Präsident mit einer so katastrophalen Bilanz ein
zweites Mal gewählt wird: Die wirtschaftliche Lage hatte sich ver-
schlechtert, das internationale Ansehen der USA war aufgrund der Fol-
terungen in Guantanamo und Abu Ghraib auf dem Tiefpunkt ange-
langt. Die Antwort der US-amerikanischen Journalisten lautete: Bush
hatte es geschafft, dass die Angst vor dem islamischen Fundamentalis-
mus alle anderen Themen überdeckte, wobei sich niemand mehr daran
erinnern wollte – oder konnte –, dass der islamische Fundamentalis-
mus in Afghanistan von US-amerikanischen Regierungen viele Jahre
gefördert worden war. Diese Beispiele belegen meines Erachtens, dass
die Ideologiekritik eine Kernaufgabe der kritischen Gesellschaftstheo-
rie geblieben ist.
Zum Einwand von Herrn Brunkhorst, dies sei ein intellektualis-
tisch überdehnter Ansatz: Eine Antwort hierauf finde ich bei Habermas
in Legitimitätsprobleme im Spätkapitalismus, wo er betont, dass die
Ideologiekritik nur in Zeiten der Krise wirksam ist. In der gegenwärti-
gen Krise des globalisierten Kapitalismus haben wir nach meiner Über-
zeugung die Chance, eine kritische Öffentlichkeit zu erreichen.
Zu den Einwänden von Frau Doyé: (1) Ich habe versucht, mit Hilfe
der Habermas’schen Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmer-
perspektive von einem objektivistischen Verständnis des Historischen
Materialismus, an dem Sie festhalten, wegzukommen. (2) Empirische
Zeitdiagnosen bilden nach meiner Überzeugung den Ausgangspunkt
kritischer Gesellschaftstheorien, die Alternativen zum Bestehenden
ins Auge fassen.
228
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.
Regina Kreide
1 Ich möchte Hauke Brunkhorst für hilfreiche Kommentare und Smail Rapic für wert-
volle Hinweise zum Text danken.
2 Colin Crouch: Post-Democracy. Cambridge 2004.
229
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Regina Kreide
Und schließlich wird der Demos, also das Volk, selbst nach innen und
auf globaler Ebene pluraler, was eine konsensuelle Einigung auf das
Gemeinwohl schwieriger werden lässt.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stellt sich für die po-
litische Theorie und Philosophie die Frage, ob die Demokratie den
Kampf mit den unversöhnlichen Folgen einer kapitalistischen Welt-
gesellschaft schon verloren hat oder ob es eine Transformation der
Demokratie geben kann, die trotz der repressiven Bedingungen selbst
demokratisch verläuft. Es überrascht, dass sich weite Teile der gegen-
wärtigen politischen Theorie bislang nicht sonderlich intensiv mit die-
sen neueren Herausforderungen auseinandergesetzt haben. Während
verschiedene ›Governance-Theorien‹ auf Basis einer funktional-einsei-
tigen Gesellschaftsanalyse kaum auch nur Demokratiepotentiale zu
erkennen glauben, gehen ›idealistische Ansätze‹ davon aus, moralphi-
losophisch begründete Prinzipien könnten ohne den Umweg demokra-
tischer Prozeduren auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ›angewendet‹
werden, und ›Dissenstheorien‹ wiederum gehen von einer zu einseitig
beschriebenen kontingenten Verfasstheit politischer Prozesse aus (I).
Demgegenüber vertrete ich die These, dass die normative Demo-
kratietheorie auf eine empirisch informierte Gesellschaftstheorie ange-
wiesen ist (II). Ein solcher wechselseitiger Verweis von Demokratie-
auf Gesellschaftstheorie ist bereits in Jürgen Habermas’ »Theorie des
kommunikativen Handelns« angelegt. Ich möchte zeigen, dass eine
revidierte, den aktuellen Gegebenheiten angepasste Version der ›Kolo-
nialisierungsthese‹ die notwendigen sozialwissenschaftlichen und phi-
losophischen Werkzeuge bietet, um eine gesellschaftstheoretische
Rekonstruktion von Demokratieblockaden und -potentialen zu ge-
währleisten (III). Diese Analyse wiederum lässt Rückschlüsse auf eine
Demokratietheorie zu, bei der neben der Reflexivität des demokrati-
schen Verfahrens vor allem die außer-institutionelle kommunikative
Macht zentral ist. Sie könnte, trotz einer unverrückbaren Übermacht
des Marktes und privatrechtlicher, technisierter Politik, Triebfeder für
Umwandlungsprozesse sein (IV).
Auf die hier nur kurz skizzierten Herausforderungen hat die politische
Theorie auf unterschiedliche Weise, jedoch nicht sonderlich überzeu-
230
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Die verdrängte Demokratie
gend reagiert. Ich werde mich hier auf die Diskussion dreier Strömun-
gen beschränken, um grundlegende Probleme des vorherrschenden
Umgangs mit der Demokratie in der politischen Theorie herauszu-
arbeiten. 3
1. Idealistische Theorien sind um die Entwicklung globaler Ethi-
ken bemüht. 4 Die Implosion der Sowjetunion, des letzten gewaltsam
zusammengehaltenen Imperium, kann als einschneidender Punkt die-
ser Theorieentwicklung gesehen werden. Durch den Aufschwung nor-
mativer, idealistischer Theorien Anfang der 1990er Jahre wurde die bis
dato übliche Hegemonie der politikwissenschaftlich-realistischen
Standpunkte in Frage gestellt. Es ist zweifellos ein Verdienst idealisti-
scher Theorien, dass sie uns ins Bewusstsein rufen, was realistische
Theorien systematisch verdrängen, nämlich die bahnbrechende Rolle
der Ideen in der Evolution von Gesellschaften. Man denke an Olympe
de Gouges und ihren Kampf für die Frauenrechte während der Franzö-
sischen Revolution, den sie mit ihrem Leben bezahlte, oder an den
französischen Arbeiterführer Auguste Blanqui, der vor Gericht angab,
sein Beruf sei Proletarier, wie der von Millionen Franzosen. Trotz die-
ser Hinwendung zu Werten und Visionen, oder gerade deshalb, basie-
ren idealistische Theorien nicht auf empirischen Untersuchungen.
Vielmehr konstruieren sie, ausgehend von einem moralischen Stand-
punkt, zunächst globale normative Prinzipien, beispielsweise globale
Gerechtigkeits- oder Tauschprinzipien, die dann in einem zweiten
Schritt auf die politische Realität ›angewendet‹ werden.
Ein wesentliches Problem dieser methodischen Vorgehensweise
liegt darin, dass die systemische Komplexität gesellschaftlicher Ver-
hältnisse, vom internationalen Recht über die globale Ökonomie hin
zu interessengeleitetem Widerstand in politischen Kämpfen, nur als
3 Die folgenden Unterscheidungen finden sich, wenn auch ausführlicher und mit einer
etwas anderen Ausrichtung, in Regina Kreide/Andreas Niederberger: »Politik – Das
Politische«. In: Gerhard Göhler/Mattias Iser/Ina Kerner (Hrsg.): Politische Theorie. 22
umkämpfte Begriffe zur Einführung, 2. Auflage (als: Politische Theorie. 25 umkämpfte
Begriffe zur Einführung). Wiesbaden 2011, S. 292–307.
4 Bei aller Verschiedenheit lassen sich beispielsweise die Theorien von Simon Caney,
Darrell Moellendorf und Otfried Höffe unter das Dach der idealistischen Theorien sub-
sumieren. Simon Caney: Justice Beyond Borders: A Global Political Theory. Oxford
2005; Darrell Moellendorf: Cosmopolitican Justice. Notre Dame 2002; Otfried Höffe:
Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. München 1999.
231
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Regina Kreide
5 John Rawls: Die Idee des politischen Liberalismus. Frankfurt a. M. 1992, S. 333–363.
6 Thomas Pogge: World Poverty and Human Rights: Cosmopolitan Responsibilities
and Reforms. Second Edition. Cambridge 2008, S. 152–173.
7 Raymond Geuss: Philosophy and Real Politics. Princeton 2008, S. 8 ff.
Objekt und die Bürger als Subjekt. Das änderte sich in späteren Governance-Theorien,
die sich mit der Besonderheiten der transnationalen (europäischen und globalen) Gover-
nance beschäftigten und die Subjekt-Objekt-Beziehung umkehrten. Während in frühen
Ansätzen Forscher wie Renate Mayntz und Streeck/Schmitter eine Politik-Analyse be-
trieben, bei der die Regelungsmöglichkeiten des demokratischen Staates, beispielsweise
auf den Gebieten von Finanzen, Gesundheit, Bildung auf der einen Seite und die Hand-
lungsspielräume der Akteure (Bürger) auf der anderen Seite untersucht wurden (Renate
Mayntz: »Zur Selektivität der steuerungstheoretischen Perspektive«. In: Burth/Görlitz:
232
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Die verdrängte Demokratie
Politische Steuerung in Theorie und Praxis. München 2001, S. 17–28, siehe online:
http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp01-2/wp01-2.html; Wolfgang Streeck/Philippe
Schmitter: Private Interest Government. Beyond Market and State. London 1985), wur-
de recht bald schon diese Akteursperspektive aufgegeben. Die ökonomische Transakti-
onstheorie, vertreten etwa durch Olivier Williamson, beschrieb Governance als das Be-
stehen von Regeln und als Art und Weise, diesen Regeln in ökonomischen Prozessen
Geltung zu verschaffen. Oliver Williamson: »Transaction-Cost Economics: The Govern-
ance of Contractual Relations«. In: Journal of Law and Economics 22 (1979), S. 233–261.
Unter anderem die Politikwissenschaftler Ouchi 1980 und Powell 1990 übertrugen die-
sen Begriff auf die Regulierung (regulation) von Clans, Vereinigungen und Netzwer-
ken, die man alle ebenfalls in der Wirtschaft antreffen konnte. W. G. Ouchi: »Markets,
Bureaucracies, and Clans«. In: Admininistrative Science Quarterly 25 (1980), S. 129–
141 und W. W. Powell: »Neither Market nor Hierarchy: Network Forms of Organiza-
tion«. In: Organizational Behavior 12 (1990), S. 295–336. Aus systemtheoretischer
Sicht siehe auch Helmut Wilke: Entzauberung des Staates. Königstein 1983.
233
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Regina Kreide
In: Adrienne Héritier (Hrsg.): Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung. PVS Son-
derheft 24, Opladen 1993, S. 57–83, hier: S. 67–68.
11
Bernhard Peters: Der Sinn von Öffentlichkeit (hrsg. von Hartmut Weßler). Frankfurt
a. M. 2007.
234
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Die verdrängte Demokratie
von der Input-Frage, wer Autor dieser Resultate hätte sein sollen. Go-
vernance wird somit zum Werkzeug marktgerechter Regelung und
zum bloßen Substitut der Demokratie. 12
3. Einer dritten Position schließlich geht es weder um die Ver-
ortung der Politik in Bezug auf Tatsachen oder Ideen noch um eine
angemessene Beschreibung trans- und internationaler Regelwerke:
»Dissenstheorien« interessieren sich dafür, auf welche Art und Weise
sich Politik mit Konflikten auseinandersetzt und zu Entscheidungen
findet. Im Denken einiger französischsprachiger Philosophen (Nancy,
Lyotard, Mouffe) ist das Politische zentrales Element. Die öffentliche
Auseinandersetzung und kontroverse Entscheidung wird damit Kern-
bestand politischer Aktivitäten. Im Unterschied dazu ist Politik die »im
Machbaren befangene Ordnung des Empirischen« 13. Politik verkörpert
das Statische, das politische System, den Staat. Während sich das Poli-
tische auf das Sichtbarmachen der Differenz zwischen Politik und
Nicht-Politik bezieht, auf das, was sich, ähnlich wie bei Arendt, den
Zwängen gesellschaftlicher Reproduktion und des Ökonomischen ent-
zieht, geht Politik als Ort der Entscheidungen im institutionellen Ap-
parat auf. 14 Die genannten Position teilen eine Annahme, die sie von
Carl Schmitt entlehnen: Jede politische Entscheidung ist stets nur vor-
läufig und im Moment der Entscheidung unbegründet, sie überwindet
den Dissens nicht. Demokratie trägt daher ein Element der Dezision in
sich. 15
Dissens-Theorien suggerieren, sie könnten die große Pluralität
der Ansichten und Interessen bestens integrieren. Doch die Inklusion
vor allem marginalisierter Teile der Bevölkerung muss letztlich arbiträr
235
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Regina Kreide
16
Micha Brumlik: »Neoleninismus und Postdemokratie«. In: Blätter 8 (2010), S. 105–
116.
236
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Die verdrängte Demokratie
lich auch einer Krise der politischen Theorie, da eine ganze Reihe pro-
minenter Positionen nicht adäquat auf die gegenwärtigen Probleme
reagieren. Das Verdrängen der Demokratie wird so noch einmal, psy-
choanalytisch gesprochen, in der Theorie verdrängt.
Die Frage, die sich unmittelbar anschließt, ist, wie die politische Theo-
rie vorgehen müsste, um einerseits den Herausforderungen eines glo-
balisierten Kapitalismus mit seinen desaströsen Nebenfolgen gerecht
zu werden, auf der anderen Seite aber die normativen Anforderungen
an die Demokratietheorie nicht so weit zu verwässern, dass von politi-
scher Selbstbestimmung der Bürger nicht viel mehr übrigbleibt als das
Skelett eines erlegten Tieres. Die politische Theorie, so meine These,
müsste sich vermehrt der Gesellschaftstheorie zuwenden, um Hand-
lungs- und Kommunikationsblockaden analysieren zu können, die
einer Demokratisierung im Wege stehen. Dies wiederum ließe dann
Rückschlüsse auf mögliche Demokratisierungspotentiale unter den ge-
gebenen gesellschaftlichen Bedingungen zu. Zunächst aber muss ich
erläutern, wieso überhaupt eine Verbindung zwischen politischer
Theorie und Gesellschaftstheorie für beide Seiten von Vorteil sein soll-
te. Ich denke, es sind vor allem vier Gründe, die für ein solches Vor-
gehen sprechen.
Erstens sehe ich in der Fokussierung auf Politische Theorie eine
unnötige Beschränkung, die den Ansprüchen sozialer Wirklichkeit
nicht gerecht wird. Die politische Theorie verschließt sich damit den
realen Voraussetzungen von Demokratie und der Frage danach, wer in
den politischen Prozess ein-, wer ausgeschlossen ist; welche Mechanis-
men zur gesellschaftlichen Exklusion führen; welche Hindernisse, wel-
che motivationalen, welche strukturellen Blockaden einer gleichen po-
litischen Teilnahme im Weg stehen. Nun könnte man einwenden, dass
eine Analyse gesellschaftlicher Bedingungen keine Auskunft über die
normative Richtigkeit von Prinzipien gibt, die einer begründeten De-
mokratievorstellung zugrunde liegen. Denn wie sollte man, so das klas-
sische Sein-Sollen-Problem, von den empirischen Bedingungen zu nor-
mativen Begründungen gelangen? Die Kritische Theorie hat darauf
von Anfang eine Antwort gegeben: Keineswegs nämlich erschöpft sich
die praktische Vernunft im bloßen Sollen, sondern entfaltet ihre Wirk-
237
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Regina Kreide
cial Critique and Empirical Political Science«. In: Constellations 20, 4 (2013), S. 553–
567.
19
Max Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie«. In: Zeitschrift für Sozial-
forschung 2 (1937), S. 245.
20
EI 14 ff., 84.
21 EI 14 ff.; Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung (s. Anm. 17), S. 215.
238
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Die verdrängte Demokratie
sieht sich das Subjekt als ein in den Zwängen von durchorganisierten
Arbeitsprozessen gefangenes, den Anforderungen einer hochtechni-
sierten, hoch mobilen Welt ausgeliefertes und politischer Machtlosig-
keit preisgegebenes Subjekt vor sich – und erkennt die katastrophale
Lage. Mit dieser Selbsterkenntnis beginnt die eigentliche theoretische
Arbeit. Denn es ist das Interesse, über die Alltagszwänge und die Be-
dingungen der Selbsterhaltung Bescheid zu wissen, das zu der berühm-
ten Einsicht geführt hat, dass eine radikale Erkenntniskritik nur als
Gesellschaftstheorie möglich ist. Theorie muss von einer Subjektper-
spektive ausgehen – nicht von den Strukturen, wie es die Governance-
Theorie propagiert.
Und schließlich kann Gesellschaftstheorie die generalisierende
Kraft der Negation nutzen. 22 Dann geht sie von einem Gefühl der Un-
gerechtigkeit aus 23, das sich in den ausgebeuteten Klassen, den unter-
drückten Völkern und den exkludierten Bevölkerungsteilen zeigt. In
der Theoriegeschichte wurde die reflexive Dynamik der Negation
meist ignoriert, obwohl es immer wieder Ausnahmen gab. Kant etwa
macht für die Begründung des Rechts die Rechtsverletzung stark, die
von jedem an jedem Ort der Welt empfunden werden kann. Negative
Gefühle haben, wie Adorno und Habermas wissen, einen kognitiven
Gehalt, der in ihrer Intersubjektivität begründet liegt. Wer in Wut ge-
rät, so Lutz Wingert, weil er ausgebeutet wird, hat einen guten Grund,
den er oder sie mit anderen teilen kann. Darum ist das moralische Ge-
fühl der Demütigung von Sklaven kein Ressentiment, sondern Aus-
druck von Ungerechtigkeit. 24 Gesellschaftstheorie geht dieser Kraft
der Negation nach, um mögliche Emanzipations- oder eben auch De-
mokratisierungspotentiale aufspüren zu können.
Mit der Gefahr der »Ohnmacht des Sollens«, dem notwendigen
Praxisbezug, der Erkenntniskraft des Subjektes sowie dem generalisie-
renden Potential der Negation sind nur einige methodologische wie
theoretische Gewinne einer Verbindung zwischen empirisch informier-
ter Gesellschaftstheorie und normativer politischer Theorie genannt.
Die sich anschließende Frage ist nun, welche Theorie für eine Zusam-
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28
Jürgen Habermas: Kleine Politische Schriften I–IV. Frankfurt a. M., S. 432.
29 Habermas: Kleine Politische Schriften (s. Anm. 28), S. 432.
30
Nicht so Celikates/Pollmann: Baustelle der Vernunft (s. Anm. 26); David Strecker/
Mattias Iser: Jürgen Habermas zur Einführung. Hamburg 2010.
242
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Die verdrängte Demokratie
die Ursachen ihres Leidens nur schwer erkennen. Und die Frage ist,
woran dies liegt. Die Erklärung ist, dass die Kolonialisierung die Assi-
milation an bestehende Strukturen erzwingt, aber dieses Spiel von
Markt und Bürokratie angesichts zerstreuter kultureller Perspektiven
von den Bürgern nicht mehr durchschaut werden kann. Zu sehr sind
wir in den Fängen systemischer Logik verstrickt, zu sehr hat bereits das
zweckrationale Denken die letzten Poren gesellschaftlichen Lebens
durchdrungen. Die Aufklärung über das eigene Leiden wird durch »den
Mechanismus der Verdinglichung« verhindert (TkH II 522). Für Ha-
bermas bietet es sich an, da man nicht mehr vom ›falschen‹ Bewusstsein
sprechen kann, vom fragmentierten Bewusstsein auszugehen. Er nennt
dies die »kulturelle Verarmung« (TkH II 522). Anstelle des verloren-
gegangenen revolutionären Bewusstseins tritt die Suche nach dem ver-
lorenen vitalen Alltagsbewusstsein in einer rationalisierten Welt.
Nun liegt es nahe einzuwenden, diese Diagnose der Kolonialisie-
rung und der kulturellen Verarmung sei den damaligen Entwicklungen
geschuldet. Es könne nicht überraschen, dass unter dem Eindruck key-
nesianischer Theorie Anfang der 1970er Jahre die Annahme vorherr-
schend war, ökonomische Krisen könnten durch politische Eingriffe
und Korrekturen aufgefangen und überwunden werden – mit den ent-
sprechenden kolonialisierenden Nebenfolgen. In der Tat sieht die Si-
tuation mit Blick auf die bereits eingangs erwähnten weltgesellschaft-
lichen Probleme in mancher Hinsicht anders aus: das globale Kapital ist
eine Verbindung mit dem ebenso globalisierten Privatrecht eingegan-
gen und diktiert den ökonomischen ›Fortschritt‹ ; der Finanzmarkt hat
sich weitestgehend unkontrolliert verselbstständigt; die nationalstaat-
liche Politik ist auf vielen Gebieten entmachtet, der Sozialstaat ausge-
höhlt und einem neuen, marktgängigen Paradigma des ›aktivierenden
Staates‹ unterworfen. Was kann nun die These von der ›Kolonialisie-
rung der Lebenswelt‹ durch bürokratische und rechtliche Übergriffe
eines steuernden Staates für die gegenwärtige Untersuchung leisten?
Der heuristische Wert der Kolonialisierungsthese wird besonders
dann deutlich, wenn man sie perspektivisch vom Nationalstaat löst und
für eine Analyse globaler systemischer Prozesse und deren Auswir-
kungen auf lebensweltliche Zusammenhänge mobilisiert. Ich möchte
zunächst vier Aspekte neuer Kolonialisierungsformen skizzieren, die
ein neues Licht auf globale Ökonomisierung, Verrechtlichung und Bü-
rokratisierung werfen können.
243
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34 65 % aller Immigranten aus Indonesien sind Frauen, ähnlich hoch liegt der Anteil der
Frauen bei philippinischen Immigranten im Unterhaltungsbereich und in der Haus-
arbeit, ebd.
35 Rhacel Salazar Parreñas: Servants of Globalization. Women, Migration, and Domes-
tic Work. Stanford, California 2001; Arlie R. Hochschild: »Global Care Chains and
Emotional Surplus Value«. In: Anthony Giddens/Will Hutton (Hrsg.): On the Edge:
Globalization and the New Millennium. London 2000, S. 130–146; Susanne Schwal-
gin/Helma Lutz: Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im
Zeitalter der Globalisierung. Opladen 2006.
36
Annette Treibel: »Migration als Form der Emanzipation? Motive und Muster der
Wanderung von Frauen«. In: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hrsg.): Zuwan-
derung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheiten-
politik. Opladen 2003, S. 93–110, hier: S. 103.
245
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b) Kulturelle Ökonomisierung
Eine andere Form der Ökonomisierung zeigt sich mit Blick darauf, wie
kulturell eingelebte Handlungsmuster, die die Verteilung öffentlicher
Güter betreffen, durch Marktimperative ersetzt werden. Die Moneta-
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Frankfurt a. M. 2010.
42 Ebd. S. 149.
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c) Verrechtlichung
43 EU lenkt ein bei Wasserprivatisierung, Süddeutsche Zeitung vom 21. Juni 2013, ab-
rufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/reaktion-auf-buergerinitiative-
eu-lenkt-bei-debatte-um-wasserprivatisierung-ein-1.1702673 (zuletzt abgerufen am
2. Februar 2014).
44 Hans Achterhuis: De Utopie van de vrije markt. Amsterdam 2010, S. 257.
45
Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner: Regime-Kollisionen. Zur Fragmentie-
rung des globalen Rechts. Frankfurt a. M. 2006.
248
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48 Martti Koskenniemi: »Global Governance and Public International Law«. In: Kriti-
sche Justiz 37, 3 (2004), S. 241–254.
49 Ingeborg Maus: »Vom Nationalstaat zum Globalstaat oder: der Niedergang der De-
250
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Die verdrängte Demokratie
gen. Man könnte meinen, dass in Zeiten von Hartz IV, gravierender
Sparparolen und der Rede vom schlanken, nicht mehr intervenieren-
den, sondern nur noch moderierenden Staat die Bürokratisierung zu-
rückgegangen oder gar keine besondere Aktualität mehr besäße. Aber
das ist nicht Fall. Inzwischen befinden wir uns, mit Berthold Vogel
gesprochen, im »Nachmittag des Wohlfahrtsstaates«. 51 Ende der
1970er Jahre, als durch die Ölkrise dem Wohlfahrtsstaat die Geldquelle
wegbrach, fand ein Paradigmenwechsel statt. Statt im Wohlfahrtstaat
leben wir nun in der ›Aktivierungsgesellschaft‹. 52 Das Paradigma ist
nicht mehr, eine materielle Kompensation dafür zu erhalten, dass man
vorübergehend nicht oder gar nicht mehr in den Markt integriert ist.
Vielmehr sind nun die Verantwortung des Einzelnen und dessen Enga-
gement, sich selbst zu integrieren, zentral.
Die staatliche ›Aktivierungsverordnung‹ greift dabei direkt auf die
Subjektebene durch: Dem Einzelnen wird nicht nur zugemutet, seine
Lebensplanung unabhängig von den sozialen Umständen zu verant-
worten, sondern seine Aktivitäten so auszurichten, dass sie sowohl im
Einklang mit ökonomischen Anforderungen stehen als auch Vorstel-
lungen der Gemeinschaft bedienen. Jeder ist aufgefordert, sich zu en-
gagieren und präventiv gegenüber möglichen zukünftigen misslichen
Situationen zu versichern und dem anderen nicht ›auf der Tasche zu
liegen‹. 53 Diente sozialstaatliche Unterstützung ursprünglich der ›De-
kommodifizierung‹, die eine teilweise Unabhängigkeit der gesellschaft-
lichen Stellung vom Marktgeschehen sichern sollte, so ist nun der
Sozialstaat selbst immer mehr kommodifiziert. Die sozialstaatlichen
›Aktivierungsprogramme‹ haben dabei nicht dazu geführt, dass die Re-
gelungsdichte und die staatliche Verwaltungstätigkeit abgenommen
hätten. Vielmehr ist der Staat durch ein dichtes Netz an Kontrollen
von Arbeitslosen und Beziehern von ALG 2 etwa durch Mittelkür-
zungsandrohungen, Hausbesuche, Meldungspflichten präsenter denn
je. 54 Das greift Hand in Hand mit staatlichen, regionalen und übersee-
51 Berthold Vogel: »Der Nachmittag des Wohlfahrstaates. Zur politischen Ordnung ge-
sellschaftlicher Ungleichheit«. In: Mittelweg 36, 13, 4 (2004), S. 36–55.
52 Stephan Lessenich: »Mobilität und Kontrolle«. In: Klaus Dörre/Stephan Lessenich/
54
Vogel: Nachmittag des Wohlfahrtsstaats (s. Anm. 51); Lessenich: Mobilität und
Kontrolle (s. Anm. 52), S. 150.
251
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55
Zygmunt Bauman/David Lyon: Liquid Surveillance. A Conversation. Cambridge
2013.
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schen Lesart wird die Macht der Volkssouveränität direkt an die Legi-
timität erzwingbaren Rechts gebunden. 57 Dies betont die institutionelle
Seite der Demokratie, unterschätzt aber die Macht des Volkes jenseits
des politischen Systems. Und schließlich lässt sich politische Macht
deuten als Macht, die niemand besitzt, sondern die zwischen Menschen
entsteht, wenn sie politisch handeln – jenseits von einer Verengung auf
die Durchsetzung eigener Interessen, die Verwirklichung kollektiver
Ziele oder gar administrativ bindender Entscheidungen. 58 Nach Han-
nah Arendt drückt sich in der Ausübung politischer Macht Freiheit aus,
nämlich zum einen die negative Freiheit, nicht beherrscht zu werden
und nicht zu herrschen, und die positive Freiheit, einen Raum zu kre-
ieren, »in dem jeder sich unter Seinesgleichen bewegt«. 59
Jürgen Habermas hat diese Idee aufgegriffen und als kommunika-
tive Macht umgedeutet. 60 Kommunikative Macht ist eine Form politi-
scher Macht. Allgemein gesagt, ist damit die ungehinderte Ausübung
öffentlicher Freiheit der Bürger gemeint. Spezifischer ausgedrückt lässt
sich die kommunikative Freiheit durch drei Aspekte charakterisieren.
Die kognitive Seite kommunikativer Freiheit fordert erstens freies, de-
liberatives Prozessieren, den freien öffentlichen Austausch von Infor-
mationen und Argumenten zu wichtigen Themen. Sie basiert auf der
Annahme, dass Ergebnisse durch ein gerechtes Verfahren zustande
kommen und deshalb für sich in Anspruch nehmen können, rational
zu sein (FG 183 ff.). Zweitens kann kommunikative Macht nur kollek-
tiv ausgeführt werden, sie kreiert geteilte Überzeugungen, die immer
wieder aufs Neue debattiert werden können, die aber durchaus inter-
subjektive Anerkennung finden können. Diese geteilten Überzeugun-
gen entfalten zugleich eine motivationale Kraft. Kommunikative
Macht ist treibende Kraft, weiter zu deliberieren, neue Machtpotentiale
zu generieren und für die Akzeptanz handlungsrelevanter Pflichten zu
57
Thomas Nagel: »The Problem of Global Justice«. In: Philosophy & Public Affairs, 33,
2 (2005), S. 113–147.
58 Hannah Arendt: Macht und Gewalt. (Originalausgabe: On Violence. New York
griff kommunikativer Macht bei Habermas siehe auch den erhellenden Beitrag von
Gunnar Hindrichs: »Kommunikative Macht«. In: Philosophische Rundschau, 56, 4
(2009), S. 273–295. Hindrichs jedoch interpretiert kommunikative Macht platonistisch
als übergreifendes Prinzip des guten Lebens.
254
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64
Schmalz-Bruns: Reflexive Demokratie. Baden-Baden 1995.
65 Seyla Benhabib: Another Cosmopolitanism (Berkely Tanner Lectures). Oxford 2008.
66
Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen
Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 2007.
256
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69 John Dewey: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Frankfurt a. M. 1996, S. 87.
2011, S. 22–43.
71 Mathias Albert/Rainer Schmalz-Bruns: »Antinomien der globalen Governance:
257
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Eine nationalstaatliche Konzeption der Demokratie betont die Idee, dass es in einer
pluralen Weltgesellschaft keine andere Möglichkeit gebe, als die verschiedenen natio-
nalen demoi (Völker) unter dem Dach eines einzigen demos zusammenzufassen. Ähn-
lich, wie wir das schon von Europa kennen, gäbe es innerstaatliche Demokratien, über
die auf supranationaler Ebene eine Weltdemokratie herrschen würde (Albert/Schmalz-
Bruns), oder, wie Kant es ausdrückte, eine Weltrepublik, bei der alle Bürger als Welt-
bürger über internationale Anliegen entscheiden. Kant hat in »Zum ewigen Frieden«
die Vorstellung der Weltrepublik bekanntermaßen für philosophisch geboten, aber für
politisch nicht durchsetzbar abgelehnt. Ich denke, dass eine Weltrepublik nicht nur ein
neues, militärisch-zwangsbewährtes Empire bedeuten, sondern auch auf eine Verringe-
rung der demokratischen Kontrolle von »unten nach oben« hinauslaufen würde. Denn
wer würde sich in einem Weltrepublik-Moloch noch auskennen?
72 Hauke Brunkhorst: »A Polity Without a State? European Constitutionalism between
2007. Allerdings beschränkt sich die Möglichkeit der demokratischen Partizipation der
Bürger bei Bohman auf das Anstoßen deliberativer Prozesse. Zur Kritik siehe auch
Cristina Lafont: »Alternative Visions of a New Global Order. What should Cosmopoli-
tans hope for?«. In: Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Demokratie in der Weltgesellschaft
(Soziale Welt, Sonderband 18). Baden-Baden 2009, S. 231–250.
258
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Die verdrängte Demokratie
259
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Regina Kreide
Schlussbemerkung
260
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Diskussion 1
Moderation: Rita Casale
Regina Kreide: Vielen Dank. Das ist ein wichtiger Punkt, der auf das
Problem verweist, wie Handlungs- und Kommunikationsblockaden
freigelegt werden können, wenn die Öffentlichkeit selbst in einer Wei-
se vermachtet ist, die das Vertrauen in die kritische Rolle kommunika-
tiver Macht schwer erschüttert. Nun, ich sehe die Rolle kritischer
Theorie gerade darin, sozialwissenschaftliche und normative Werkzeu-
ge bereitzustellen, mit deren Hilfe Hindernisse einer politischen Betei-
ligung der Bürger aufgezeigt werden können, etwa wenn Bürger über
politische Entscheidungen gar nicht oder zu spät informiert werden,
wie im Fall von ›Stuttgart 21‹ oder beim ›Euro-Rettungsschirm‹, oder
1
Die Entgegnung von Jürgen Habermas auf Regina Kreides Beitrag nimmt auch auf die
nachfolgende Diskussion Bezug und ist ihr daher nachgestellt.
261
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.
Diskussion
Georg Lohmann: Regina, ich wollte Dich gerne etwas fragen, aber ich
bin nicht sicher, ob ich das klar genug herausbringe. In der Theorie des
kommunikativen Handelns hat Habermas eine eher skeptische Ein-
schätzung von Recht, währenddessen in Faktizität und Geltung das
Recht viel positiver gesehen wird. Die Kolonialisierung der Lebenswelt
hat ja laut der Theorie des kommunikativen Handelns einmal Frei-
heitsverlust und Sinnverlust zur Folge und bedient sich bei den Medien
Macht und Geld der Verrechtlichung, greift also in die Lebenswelt ein
und strukturiert sie um. Das wird auch negativ gesehen, nicht bloß
positiv. In Faktizität und Geltung ist das dagegen eher positiv, und Du
hast ja sogar gesagt, dass die kommunikative Macht darauf abzielt,
262
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Die verdrängte Demokratie
Regina Kreide: Ich teile Deine Diagnose, dass in der Theorie des kom-
munikativen Handelns das Recht eine andere Rolle spielt als in Fak-
tizität und Geltung – eine andere, nicht unbedingt aber eine weniger
kritische. Die Sicht auf das Recht ist in beiden Werken ganz unter-
schiedlich. Während es in der Theorie des kommunikativen Handelns
darum geht, die Bedingungen der Kolonialisierung aufzuzeigen und
darzulegen, wie das Recht zur Kolonialisierung der Lebenswelt beiträgt
– Habermas nennt als Beispiel die Maßnahmen des Sozialstaates, die
weit in die Lebenswelt vordringen –, ist die Herangehensweise in Fak-
tizität und Geltung eine andere. Hier wird die Begründung des Rechts
untersucht und der Frage nachgegangen, was einen legitimen Rechts-
staat ausmacht. Rechtsstaatlichkeit wird als Voraussetzung und zu-
gleich als Ergebnis demokratischer Prozesse identifiziert. Das Recht
wird als ›Transmissionsriemen‹ beschrieben, der das politische System
mit der Öffentlichkeit verbindet und so eine demokratische Meinungs-
und Wissensbildung ermöglicht. Diese begründungtheoretische Sicht
auf Recht bedeutet aber nicht, dass Recht als etwas bloß ›Positives‹
angesehen wird. Eine nicht-legitime Verrechtlichung, die letztlich zu
einer vermehrten Technokratisierung politischer Verhältnisse führt,
wird auch in Faktizität und Geltung als drängendes Problem dar-
gestellt.
263
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.
Diskussion
264
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Die verdrängte Demokratie
Regina Kreide: In der Tat haben sich die Bedingungen des Sozialstaa-
tes und auch die des Kapitalismus verändert. Ich habe versucht zu zei-
gen, dass das neue Paradigma der Sozialstaatsdiskussion – die so-
genannte ›Aktivierung‹ der Bürger – dazu geführt hat, dass staatliche
Ermächtigungen noch weitreichender sind, als sie es ohnehin schon
waren. Diese neuen Aktivierungsmaßnahmen, gepaart mit einer Über-
wachung der Bürger, die tief in das Privatleben reicht, unterscheidet
sich von einem Sozialstaat der 1970er Jahre, der noch auf Zuweisung
von Leistungen, weniger aber auf gezielte Aktivierung von Bürgern
ausgerichtet war. Insofern ist meine Herangehensweise immer schon
kontextbezogen.
Sicherlich haben Sie Recht, wenn Sie meinen, dass man auch noch
weitergehend differenzieren sollte und beispielsweise verschiedene Ty-
pen des Sozialstaates unterscheiden müsste. Die Unterstellung ist wo-
möglich, dass ein globaler Kapitalismus weniger einschneidende Effek-
te in einem ohnehin »liberalen« Wohlfahrtsstaatsmodell haben könnte,
dessen Leistungen sich nur auf die Kompensation ausfallender Be-
rufstätigkeiten beziehen: Weniger Leistungen, weniger staatliche
Kontrolle? Ich denke aber, dass sich die grundlegenden Probleme der
Kolonialisierung auch bei unterschiedlichen Ausformungen heutiger
Wohlfahrtsstaaten nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Die
zunehmende Bürokratisierung und Überwachung der Bürger, aber
auch die Privatisierung vormaliger gesellschaftlicher Güter ähneln sich
angesichts globaler kapitalistischer Imperative in den europäischen
Ländern, den USA, Australien und einigen Ländern Lateinamerikas.
265
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Diskussion
266
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.
Die verdrängte Demokratie
Michael Quante: Ich habe eine Verständnisfrage: Sie hatten bei der
Beschreibung der Prozesse immer einen impliziten normativen Ober-
oder Unterton. Eine Kategorie – und das passt zu den Fragen von Loh-
mann und Kettner –, die viel Arbeit leistet, war die der Entfremdung.
Mir ist nicht ganz klar, wie diese Kategorie bei Ihnen funktioniert. Je
nach Tradition kann Rationalität schon Entfremdung sein oder Ver-
rechtlichung oder Ökonomisierung. Ist Entfremdung immer negativ
oder gibt es zulässige Maße von Entfremdung als Gewinn von Ver-
rechtlichung und Rationalisierung? Vielleicht können Sie etwas zu
Ihrer Verwendung dieser Kategorie sagen.
267
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Diskussion
Hauke Brunkhorst: Ich sehe das Recht nicht so optimistisch, ich glau-
be, auch Regina Kreide hat das nicht so optimistisch gemeint, und ich
sehe übrigens auch keinen großen Rechtsoptimismus in Faktizität und
Geltung. Das Recht als Schrittmacher der Evolution: das heißt ja noch
nicht, dass das etwas Gutes ist. Ich hatte einmal eine Diskussion in
Kopenhagen mit Phillip Allott und David Held. David Held und ich
hatten die großen Errungenschaften des internationalen Rechts nach-
einander vorgeführt, und da platzte Philip Allott – das ist ein alter
Völkerrechtler aus England – der Kragen, und er sagte: »Wisst Ihr
Jungs nicht, dass das Recht immer im Dienst der herrschenden Klasse
ist?« Nun, mir jedenfalls war das immer schon klar. Aber auch wenn
268
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Entgegnung auf Regina Kreide
Am Ende dieser Diskussion, die Regina Kreide noch einmal die Gele-
genheit zur Klärung einiger Aspekte Ihres wichtigen Vortrages gege-
ben hat, bleibt mir nur noch der Dank für die überzeugende Behand-
lung der Kolonialisierungsthese, die ja auf das Engste mit dem auf
Lukács zurückgehenden Paradigmenkern der Kritischen Theorie zu-
sammenhängt. Diese Tradition entstand mit dem Versuch zu erklären,
warum »Rationalisierungsfortschritte« nicht nur in der Dimension der
kapitalistischen Organisation der gesellschaftlichen Arbeit, sondern
auch in der von Max Weber hervorgehobenen Dimension der bürokra-
tischen Ausübung politischer Herrschaft sozialpathologische Folgen er-
zeugen. Der Vortrag hat aus meiner Sicht ein doppeltes Verdienst.
Wie ihre Beispiele zeigen, kann Regina Kreide zunächst die Kolo-
nialisierungsthese angesichts einer erdrückenden Evidenz der Unter-
werfung privater und öffentlicher Lebensbereiche unter widerstandslos
hingenommene Imperative der Vermarktung in Erinnerung rufen. Mit
dem Wechsel vom Muster der Keynesianischen zur neoliberalen Wirt-
schaftspolitik hat sich allerdings die Aufmerksamkeit für sozialpatho-
logische Ambivalenzen von der einen auf die andere Dimension ver-
269
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Entgegnung auf Regina Kreide
270
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Entgegnung auf Regina Kreide
1 Diese »background conditions« behandelt auf interessante Weise Nancy Fraser: »Be-
hind Marx’s Hidden Abode. For an Expanded Conception of Capitalism«. In: New Left
Review 86, March/April 2014.
271
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IV. Moralbewusstsein und Recht
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Hans-Christoph Schmidt am Busch
Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
Zu Jürgen Habermas’ Rekonstruktion des Historischen
Materialismus
Die Kritik des Kapitalismus ist das Lebensthema der Frankfurter Schu-
le. Bekanntlich verfolgte Max Horkheimer, als er diese Schule am
Frankfurter Institut für Sozialforschung etablierte, die Absicht, ein in-
terdisziplinäres Forschungsprojekt zu institutionalisieren, in dem die
sozialen Pathologien kapitalistischer Gesellschaften analysiert und die
Möglichkeiten alternativer institutioneller Arrangements geprüft wer-
den. 1 Wenngleich die Art und Weise, auf welche Horkheimer dieses
Projekt glaubte bearbeiten zu können, zu Recht kritisiert worden ist, 2
sind die Ziele, die er auf diesem Wege erreichen wollte, für die Frank-
furter Schule im Wesentlichen noch immer aktuell. Auch den heutigen
Vertreterinnen und Vertretern dieser Theorietradition ist es ein zen-
trales Anliegen, Klarheit über die problematischen Auswirkungen des
zeitgenössischen Kapitalismus sowie den normativen Status alternati-
ver Gesellschaftsformationen zu gewinnen. 3 Die Erforschung der
Grundlagen und Perspektiven einer Kritik des Kapitalismus bildet also
nach wie vor einen Schwerpunkt der Arbeit der Frankfurter Schule.
Möchte man sich über die Möglichkeiten der Grundlegung einer
Kapitalismuskritik verständigen, wird man den normativen Status des
Privatrechts zu untersuchen haben. Privatrechtliche Regelungen (wel-
che etwa den Erwerb, die Nutzung und die Veräußerung von Eigentum
1 Vgl. z. B. Max Horkheimer: »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die
Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung«. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3.
Hrsg. v. Alfred Schmidt. Frankfurt a. M. 1988, S. 20–35.
2 Vgl. z. B. Axel Honneth: »Eine soziale Pathologie der Vernunft. Zur intellektuellen
Erbschaft der Kritischen Theorie«. In: Christoph Halbig, Michael Quante (Hrsg.): Axel
Honneth: Sozialphilosophie zwischen Kritik und Anerkennung. Münster 2004, S. 9–31.
3
Das zeigt beispielsweise die Debatte zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth über
Anerkennung und Umverteilung. Vgl. hierzu Nancy Fraser, Axel Honneth: Umvertei-
lung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a. M.
2003.
275
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.
Hans-Christoph Schmidt am Busch
4 Der zuletzt genannte Standpunkt wird sowohl von Rechtslibertaristen (wie Robert
Nozick) als auch von Linkslibertaristen (wie Hillel Steiner) vertreten. Ob auch Hegel,
dessen Anerkennungstheorie für die zeitgenössische Frankfurter Schule eine entschei-
dende Inspirationsquelle ist, der Ansicht war, dass bestimmte Arten von Freiheit nur
durch privatrechtliche Institutionen geschützt werden können, ist umstritten. Vgl. hier-
zu auch meine Überlegungen in »Anerkennung« als Prinzip der Kritischen Theorie.
Berlin/New York 2011.
5 Vgl. Jürgen Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Einer
der Aufsätze dieser Textsammlung trägt den Titel »Überlegungen zum evolutionären
Stellenwert des modernen Rechts«.
6 Ich beziehe mich hier vor allem auf Habermas’ Hauptwerke, Theorie des kommuni-
kativen Handelns und Faktizität und Geltung. Vgl. zu den Grundlagen von Habermas’
Überlegungen in diesen Schriften auch die erhellenden Analysen in Hugh Baxter: »Sys-
276
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.
Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
tem and Lifeworld in Habermas’s Theory of Law«. In: Cardozo Law Review, 23, 2
(2002), S. 473–616.
7 Einen Überblick über diese Entwicklung bietet Hauke Brunkhorst: »Die große Ge-
277
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Hans-Christoph Schmidt am Busch
I.
278
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.
Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
9
Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich den Marx’schen Text in vier Abschnitte
gegliedert.
279
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Hans-Christoph Schmidt am Busch
280
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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
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Hans-Christoph Schmidt am Busch
II.
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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
15 Ob diese Einschätzung, die Habermas von Karl Kautsky übernimmt (vgl. RHM 158),
in Marx-interpretatorischer Hinsicht überzeugend ist, kann im vorliegenden Zusam-
menhang offen bleiben.
283
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Hans-Christoph Schmidt am Busch
III.
16
Auch von heutigen Gesellschaftstheoretikern wird die Verfolgung dieser Ziele als
wichtig angesehen. Das zeigt etwa die Diskussion der Frage, ob der zeitgenössische
284
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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
Kapitalismus, der durch Prozesse der Globalisierung charakterisiert ist, Tendenzen der
Refeudalisierung aufweise oder nicht. Entgegengesetzte Positionen vertreten in dieser
Frage Sighard Neckel: Refeudalisierung der Ökonomie. Zum Strukturwandel kapitalis-
tischer Wirtschaft. Köln 2010 und Wolfgang Streek: Re-Forming Capitalism. Institu-
tional Change in the German Political Economy. Oxford 2010.
17 Bei der Ausarbeitung der folgenden Darstellung war mir Thomas McCarthys Erör-
285
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Hans-Christoph Schmidt am Busch
18 Nach dieser Definition ist jede Innovation, die eine Entwicklung (»Lernschritt«) des
286
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.
Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
19 »Ich möchte sogar die These vertreten, daß die Entwicklung dieser normativen
Strukturen der Schrittmacher der sozialen Evolution ist.« (RHM 35)
20 Siehe oben, Teil II.
287
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Hans-Christoph Schmidt am Busch
IV.
288
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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
21 Ob diese Annahmen plausibel sind oder nicht, müsste im Einzelnen untersucht wer-
den. Denn es ist natürlich denkbar, dass sich die Entwicklung des moralisch-praktischen
Bewusstseins der menschlichen Gattung im Rückgriff auf die kognitivistische Entwick-
lungspsychologie nicht angemessen analysieren lässt; dass Gesellschaften nicht genau
ein Organisationsprinzip haben; oder dass soziale Entwicklungsprozesse nicht durch
systemische Probleme ausgelöst werden. Allerdings muss eine Erörterung dieser The-
men nach Maßgabe unserer hier entwickelten Überlegungen nicht unmittelbar erfol-
gen; sie kann vielmehr sinnvoll im Zuge einer Klärung der am Ende unseres Beitrags
genannten Fragen durchgeführt werden. Siehe unten.
22 Siehe oben, Teil III.
23 Allerdings ist es denkbar, dass die von sozialistischen Gesellschaften in diesem Be-
289
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.
Hans-Christoph Schmidt am Busch
24
Allerdings finden sich diese Überlegungen in Zur Rekonstruktion des Historischen
Materialismus nicht nur in dem so betitelten Aufsatz.
25
Zur Bezeichnung dieses vierten Strukturmerkmals des modernen Rechts verwendet
Habermas auch die Ausdrücke »Generalität« und »Universalität« (vgl. u. a. RHM 266).
290
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.
Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
»Das moderne Recht setzt die sittliche Neutralisierung der einer rechtlichen
Regelung vorbehaltenen Handlungsbereiche voraus. Die Konventionalisie-
rung, Legalisierung und Formalisierung des Rechts bedeutet, dass es nicht
länger von der selbstverständlichen Autorität sittlicher Traditionen zehren
kann, sondern einer autonomen Begründung bedarf. Einer solchen Forderung
kann aber das moralische Bewusstsein erst auf postkonventioneller Stufe ge-
nügen, hier erst entsteht die Idee der grundsätzlichen Kritisierbarkeit und
Rechtfertigungsbedürftigkeit von Rechtsnormen, die Unterscheidung zwi-
schen Handlungsnormen und Handlungsprinzipien, der Begriff einer prinzi-
piengeleiteten Erzeugung von Normen, die Vorstellung der vernünftigen
Vereinbarung über Normen, auch die eines Kontraktes, der Vertragsbezie-
hungen erst möglich macht, die Einsicht in den Zusammenhang der All-
gemeinheit und der Begründungsfähigkeit von Rechtsnormen, die Konzepte
der allgemeinen Rechtsfähigkeit, der abstrakten Rechtsperson, der rechtsset-
zenden Kraft der Subjektivität usw. Diese postkonventionellen Grundbegrif-
fe, die in Philosophie und Rechtstheorie auch schon vorher entwickelt worden
waren, konnten mit dem Übergang zur Moderne das geltende Recht durch-
dringen und umstrukturieren.« (RHM 266)
Welchen normativen Status und »evolutionären Stellenwert« (RHM
260) hat das Privatrecht, also derjenige Teilbereich des modernen
Rechts, welcher der »institutionellen Garantie des Eigentums mit den
Konnexgarantien der Vertragsfreiheit, des Gewerbe- und des Erb-
rechts« dient? Möchte man diese Frage beantworten, wird man zu
untersuchen haben, ob das Privatrecht in dem oben genannten Sinne
konventionell, legalistisch, formal und allgemein ist. Denn von der
Realisierung der entsprechenden Strukturmerkmale hängt ja nach Ha-
bermas’ Einschätzung ab, ob rechtliche Institutionen und Regelungen
als Verkörperungen von postkonventionellen Bewusstseinsstrukturen
anzusehen sind oder nicht. Kommen dem Privatrecht also die Merk-
male der Konventionalität, des Legalismus, der Formalität und der All-
gemeinheit zu?
Erstaunlicherweise wird diese Frage in der Schrift Zur Rekon-
struktion des Historischen Materialismus nicht einheitlich beantwor-
tet. An einigen Stellen dieser Aufsatzsammlung wird die Einschätzung
geäußert, das Privatrecht sei konventionell, legalistisch, formal und all-
gemein, an anderen Stellen wird diese Auffassung kritisiert. Durch-
gängig vertritt Habermas die These, dass das Privatrecht konventionell,
legalistisch und formal sei – das zeige eine Analyse der Interaktionen
und Konfliktlösungen in privatrechtlich strukturierten Bereichen mo-
derner Gesellschaften –; schwankend ist demgegenüber seine Haltung
291
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Hans-Christoph Schmidt am Busch
26
Auch an anderen Stellen seines Buches betont Habermas den »universalistischen«
Charakter des Privatrechts. Vgl. z. B. RHM 37 und 173.
292
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Welchen normativen Status hat das Privatrecht?
dieses Prinzip sind ja, wie erläutert, aus Habermas’ Sicht spezifische
Strukturen des moralisch-praktischen Bewusstseins maßgebend. 27
Treffen diese Überlegungen zu, dann ist kaum zu erkennen, wie
der von Habermas rekonstruierte Historische Materialismus die ihm
eigenen Ziele erreichen kann. Wie gesehen, geht es dieser Theorie ja
darum, zeitgenössische Gesellschaftsformationen im Rückgriff auf das
Organisationsprinzip moderner Gesellschaften zu analysieren und zu
klassifizieren. Sollte es ihr tatsächlich nicht gelingen, auf diesem Wege
Klarheit über die für kapitalistische Austauschrelationen konstitutive
Institution des Privatrechts zu erzielen, ist diese Variante des Histori-
schen Materialismus aber in Gefahr, ihre Ziele zu verfehlen.
Hier liegt der Einwand nahe, dass die von uns herausgestellte
Unklarheit (bezüglich der Frage, ob das Privatrecht allgemein bzw. uni-
versalistisch ist) einen sachlichen Grund hat: Dort nämlich, wo dem
Privatrecht dieses Merkmal zugesprochen wird, ist allein von der for-
malen Beschaffenheit der privatrechtlichen Bestimmungen, nicht aber
von den Auswirkungen der Befolgung derselben in puncto Einkom-
mens- und Vermögensverteilung (den »tatsächlichen Konsequenzen«)
die Rede; dort hingegen, wo dem Privatrecht dieses Merkmal abgespro-
chen wird, bezieht sich »Allgemeinheit« bzw. »Universalität« nicht nur
auf die formale Beschaffenheit der privatrechtlichen Bestimmungen,
sondern auch auf die Auswirkungen der Befolgung derselben in puncto
Einkommens- und Vermögensverteilung (die »tatsächlichen Kon-
sequenzen«). Folglich hat die Kategorie der Allgemeinheit oder Uni-
versalität in unterschiedlichen Kontexten eine unterschiedliche Be-
deutung.
Diese Unterscheidung ist angemessen und sicherlich erhellend;
allerdings beseitigt sie nicht die von uns herausgestellte Schwierigkeit
bezüglich der Bestimmung des normativen Status des Privatrechts,
sondern wirft im Gegenteil eine Reihe von Anschlussfragen auf, von
denen unklar ist, ob sie im Rahmen des von Habermas vertretenen
Historischen Materialismus zufriedenstellend erörtert werden können.
Unterscheidet man zwischen einer formalen privatrechtlichen All-
gemeinheit, deren »normative Geltungsansprüche« nicht »eingelöst«
sind (nennen wir sie A-1), und einer Allgemeinheit, die sich sowohl
auf die privatrechtlichen als auch auf die tatsächlichen »Gegebenhei-
ten« bezieht und deren »normative Geltungsansprüche« »eingelöst«
293
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.
Entgegnung auf Hans-Christoph Schmidt am Busch
sind (nennen wir diese Allgemeinheit A-2), dann wird man anzugeben
haben, unter welchen sozialen Umständen A-2 gegeben ist. Bedarf es
hierzu unter den Bürgerinnen und Bürgern materieller Gleichheit, fai-
rer Chancengleichheit oder spezifischer anderer Verhältnisse? Und wa-
rum verhält es sich so und nicht anders? Darüber hinaus wird man
darzulegen haben, warum A-2 in normativer Hinsicht A-1 überlegen
ist. In Übereinstimmung mit dem methodischen Profil des Haber-
mas’schen Historischen Materialismus wird man zu diesem Zweck
den Nachweis erbringen müssen, dass A-2 in einem umfassenderen
Sinne postkonventionelle Bewusstseinsstrukturen verkörpert als A-1
und deshalb gegenüber A-1 einen »Rationalitätszuwachs« realisiert.
Nur wenn er eine zufriedenstellende Erörterung dieser Fragen ermög-
licht, wird der Historische Materialismus in der von Habermas be-
fürworteten Fassung in der Lage sein, zeitgenössische kapitalistische
Gesellschaften angemessen zu analysieren und im Vergleich zu sozia-
listischen Gesellschaften auf methodisch kontrollierte Weise evolutio-
när zu klassifizieren. Und nur dann wird er auf dem Feld der zeitgenös-
sischen Kapitalismuskritik ein ernst zu nehmender Kandidat sein
können. Ob der Historische Materialismus diese Bedingungen erfüllen
kann, ist eine Frage, die durch eine nähere Ausarbeitung dieses Theo-
rietyps zu beantworten wäre. Eine solche Fortführung des Haber-
mas’schen Forschungsprojekts würde auch zu erkennen geben, welche
Tragweite und Plausibilität die Grundannahmen 28 des von ihm rekon-
struierten Historischen Materialismus besitzen. 29
28
Siehe oben, Teil III.
29 Ich danke Smail Rapic für seine freundliche Einladung, ein Kapitel zu dem vorliegen-
den Buch beizusteuern. Michael Quante danke ich für einige wertvolle Hinweise zu
einer früheren Fassung meines Beitrags.
294
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Entgegnung auf Hans-Christoph Schmidt am Busch
sen, dass sie von den Grundlagen des Privatrechts keine widerspruchs-
freie Beschreibung geben kann. Dabei sitzt er allerdings einem schlich-
ten Missverständnis auf. Er verkennt nämlich die Absicht meiner
kurzen, als Seminarvorlage gekennzeichneten Ȇberlegungen zum
evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«. Das Argument, das
später den Grundgedanken von Faktizität und Geltung bilden wird,
richtet sich auch hier schon gegen ein funktionalistisches Verständnis
des modernen Rechts. Demnach dient das bürgerliche Privatrecht auf-
grund der subjektivrechtlichen Form der Wirtschaftsfreiheiten zwar
auch den Funktionen, die die Wirtschaftsbürger in einer kapitalisti-
schen Gesellschaft erfüllen. Aber das moderne Recht, das ja nicht nur
aus Privatrecht besteht, geht in der Erfüllung dieser Funktionen nicht
auf. Auf der postkonventionellen Stufe der Rechtsentwicklung unter-
liegen vielmehr alle Rechtsnormen einem grundsätzlichen Rechtfer-
tigungsbedarf. Und diese »strukturell notwendig gewordene Rechtfer-
tigung« (RHM 267), so heißt es in dem herangezogenen Papier
ausdrücklich, kann allein durch eine Interessen verallgemeinernde de-
mokratische Gesetzgebung befriedigt werden. Das Argument, das
Christoph Schmidt am Busch gegen mich wenden möchte, ist die Poin-
te der ganzen Überlegung: An den Verhältnissen jeder Klassengesell-
schaft ist abzulesen, dass die Form subjektiver Rechte allein die Rechts-
inhaltsgleichheit nicht gewährleisten kann.
Marx, der Jurist, hat übrigens seine Mehrwerttheorie auf dem
Gedanken der systematischen Verwechslung von formaler und inhalt-
licher Rechtsgleichheit aufgebaut: Beim Tausch des Gebrauchswerts
Arbeitskraft gegen den als Lohn entrichteten Tauschwert, den die Ar-
beitskraft für den Unternehmer hat, verdeckt die formale Rechtsgleich-
heit der Vertragspartner die durch die Transformation der »lebendi-
gen« Arbeit in eine Ware besiegelte Differenz des Mehrwertes. Was
der Aristoteliker Marx nicht gesehen hat, ist der Umstand, dass der
von ihm für die Verteilungsgerechtigkeit umstandslos unterstellte
Maßstab des »Äquivalententauschs« noch nicht die Frage nach dem
Gesichtspunkt der Rechtsinhaltsgleichheit beantwortet, unter dem je-
weils Gleiches als gleich und Ungleiches als ungleich behandelt werden
sollen. Das ist eine moralisch-praktische Frage der Interessenverall-
gemeinerung, die nach Maßgabe des modernen Rechts selbst nur auf
dem Wege einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung legi-
tim beantwortet werden kann.
295
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.
Michael Quante
Über das Verhältnis zwischen dem Werk von Jürgen Habermas und
dem Historischen Materialismus, den man primär mit den Namen Karl
Marx und Friedrich Engels verbindet, nachzudenken, oder gar sich öf-
fentlich zu äußern, ist kein leichtes und ein in mancher Hinsicht ris-
kantes Unterfangen. Denn die Theorie von Jürgen Habermas ist kom-
plex und hat sich ständig weiterentwickelt. Sie wird von ihrem
Betreiber seit mehr als fünfzig Jahren mit politischer und philosophi-
scher Intelligenz durch die diversen Krisenzeiten gesteuert und bietet
deshalb kein sicheres Ziel. Auch das »Historischer Materialismus« be-
nannte Theoriegebäude stellt keinen eindeutigen Bezugspunkt dar,
denn es ist weder klar, welche Annahmen von seinen Erbauern hin-
zugezählt worden sind, noch trivial zu bestimmen, was diese Aussagen
genau besagen (von der Frage ihrer angemessenen Begründung ganz
zu schweigen). 1
1 Hinzu kommt, dass Theoriengebäude und Fragestellungen dieses Kalibers für mein
persönliches philosophisches Gemüt eine Nummer zu groß sind und ich lieber in den
Kapillaren der philosophischen Argumente und Begriffe arbeite als auf solchen Abs-
traktionshöhen; die immer noch ausführlichste Darstellung des durch die Tagung be-
nannten Zusammenhangs ist Tom Rockmore: Habermas on Historical Materialism.
Bloomington 1989.
296
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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
2 Meine Rückbesinnung auf Marx nimmt zwei Prämissen in Anspruch, die in diesem
Beitrag nicht begründet werden können: Erstens verstehe ich die Marx’sche Theorie in
ihrem Kern als eine kritische philosophische Anthropologie; und zweitens unterstelle
ich, dass es auf der basalen begrifflichen Ebene der philosophischen Theoriebildung bei
Marx eine Kontinuität der zentralen Prämissen, Konzeptionen und Beweisziele gibt.
Vgl. hierzu Michael Quante »Kommentar«. In: Karl Marx: Ökonomisch-philosophische
Manuskripte, herausgegeben und kommentiert von Michael Quante. Frankfurt a. M.
2009, S. 209–410 und ders.: »Karl Marx«. In: Michael Forster & Kristin Gjesdal (Hrsg.):
Oxford Handbook to German 19th Century Philosophy. Oxford (im Erscheinen), sowie
zur systematischen Relevanz der Marx’schen Konzeption des gegenständlichen Gat-
tungswesens Quante: Die Wirklichkeit des Geistes. Berlin 2011 und ders.: »Das gegen-
ständliche Gattungswesen. Bemerkungen zum intrinsischen Wert menschlicher Depen-
denz«. In: Rahel Jaeggi & Daniel Loick (Hrsg.): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis.
Berlin 2013, S. 69–88.
3 Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer libe-
ralen Eugenik? Frankfurt a. M. 2001. Ich verweise auf diesen Band mit Die Zukunft und
zitiere unter Verwendung der Sigle Z unter Angabe der Seitenzahl direkt im Haupttext.
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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
I.
5 Vgl. dazu Kapitel 13 in Quante: Die Wirklichkeit des Geistes (s. Anm. 2).
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tation in Die Zukunft hat bei mir, als ich sein Essay mit Blick auf den
Historischen Materialismus wieder gelesen habe, ein uneinheitliches
Bild ergeben: Verfolgt Habermas klar die eine oder die andere Linie,
steht er irgendwo dazwischen oder gelingt es ihm, diese Opposition zu
unterlaufen? Mit anderen Worten: Was ist aus moralphilosophischer
und gattungsethischer Perspektive zu diesem Spannungsverhältnis
zwischen einem humanistischen Naturalismus und einem reduktionis-
tischen Humanismus zu sagen? Diese Frage, die auch Jürgen Habermas
meinem Eindruck nach in Die Zukunft umtreibt, benennt eine der
grundlegendsten Herausforderungen unserer biotechnologischen Wei-
terentwicklung, die sich in vielen Bereichen der Medizin – aber nicht
nur dort – vollzieht.
II.
Im ersten Schritt möchte ich kurz auf zwei ältere Arbeiten von Jürgen
Habermas eingehen, die für unsere Fragestellung aufschlussreich sind.
In dem Aufsatz über die Rekonstruktion des Historischen Materialis-
mus findet sich folgende Aussage: »Ich habe ein Problemspektrum der
Selbstkonstituierung der Gesellschaft vorgeschlagen, das von der Ab-
grenzung gegen die Umwelt, über die Selbststeuerung und den selbst-
gesteuerten Austausch mit der äußeren Natur bis zum selbstgesteuer-
ten Austausch mit der inneren Natur reicht.« (RHM 183)
Das ist ein Programm der zunehmenden Humanisierung der Na-
turvorgegebenheiten. So lässt es sich zumindest lesen – als eine Ent-
wicklungslinie, die es geben kann. Mein zweiter Rückblick bezieht sich
auf Die Rolle der Philosophie im Marxismus. Dort wird ausgesagt, dass
der Diamat sehr unvorsichtig gewesen sei, weil er bestimmte Inhalte
wie z. B. Grundauffassungen vom Wesen der Natur, der Geschichte und
des Denkens dogmatisiert und als invariant dargestellt habe (vgl. RHM
56). Vermutlich ist nicht nur der Diamat, sondern auch die (katho-
lische) Naturrechtslehre dieser Versuchung erlegen; und wir werden
gleich noch fragen müssen, ob sie auch in Die Zukunft Spuren hinter-
lassen hat. Mit Blick auf die gesellschaftliche und politische Dimension,
die Aussagen im Kontext der biomedizinischen Ethik unweigerlich ha-
ben, ist für uns auch noch folgende Überlegung von Habermas interes-
sant: Die Rolle der Moralphilosophie, heißt es mit Bezug auf die Stu-
dentenrevolte sinngemäß in diesem frühen Aufsatz, könnte sein, eine
301
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Michael Quante
III.
302
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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
einem Passungsverhältnis (vgl. Z 74). Zu fragen ist aber, was der Hin-
weis auf die Natürlichkeit dieses Unverfügbaren argumentativ aus-
trägt? Macht es für das jeweilige Individuum mit Blick auf seine eigene
Lebensführung wirklich einen so bedeutenden Unterschied, ob diese
Vorgaben aus der unbeherrschten Natur stammen anstatt soziale oder
technisch induzierte Ursprünge zu haben? Mit der Möglichkeit, be-
stimmte Merkmale eines Menschen durch humangenetische Eingriffe
zu verändern oder auch nur auf der Grundlage genetischer Informatio-
nen zu selektieren, ergeben sich neue und ethisch nicht triviale Pro-
bleme der Zuschreibung von Verantwortung. Doch die Frage ist, ob
dieser Unterschied so gravierend ist, dass man mit ihm kategorische
Verbote begründen und hier eine prinzipielle moralische Kluft ver-
orten kann. Habermas ist an dieser Stelle vorsichtig und bekundet, dass
er zwar das Motiv, hier eine kategoriale Grenze anzusetzen, teilt, aber
nicht glaubt, dass wir gut beraten sind, sie mit dem starken Begriff der
Menschenwürde zu begründen, weil sich dies nicht in einer Weise
durchführen lässt, die den auch von ihm postulierten Anforderungen
an universalistisch starke Moralbegründungen genügt (vgl. Z 70 f.).
1. Versagt man sich diesen Weg, dann bleibt erstens zu fragen, ob
wir uns hier in einem Abwägungsprozess befinden? Jenseits der natur-
rechtlichen, auf eine kategoriale moralische Differenz drängenden
Obertöne erzählt Die Zukunft eine zweite Geschichte. Dieser zufolge
fällt uns, wenn wir keine kategorialen Grenzen ziehen können, die
Aufgabe zu, mit schwächeren Begründungsinstrumentarien zu arbei-
ten, wenn wir vermeiden wollen, aufgrund der Grenzen der univer-
salistischen Moral alle Wunschvorstellungen, die eventuell auf der
Grundlage von pervertierten oder marktkonformen individuellen Prä-
ferenzen, die weder moralisch noch ethisch gefiltert sind, als Ausdruck
individueller Selbstbestimmung schlicht zu legalisieren: »Wo uns
zwingende moralische Gründe fehlen, müssen wir uns an den gat-
tungsethischen Wegweiser halten.« (Z 121)
Diese zweite Option wird durch die starken moralischen Deklara-
tionen in Die Zukunft gelegentlich überlagert, sodass es schwer fällt,
sie überhaupt klar zu erkennen. Deshalb wäre es gut zu wissen, wie in
den Augen von Jürgen Habermas ein verantwortungsvoller Umgang
mit der menschlichen Natur im Zeitalter ihrer humangenetischen Ver-
änderbarkeit aussehen könnte, mit welchen philosophischen Mitteln
wir, und an welchen Stellen, ethische Grenzen ziehen und auch gegen
identifizierbare Verwertungsinteressen mit den Mitteln der Gattungs-
303
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Michael Quante
ethik verteidigen sollen. So klar wie die (bloße) Fiktion einer vollstän-
digen Vorherbestimmung der Individualität eines Menschen durch
Planungsentscheidungen der Erzeuger auf die verbotene Seite fällt, so
klar fällt die vielleicht in nicht mehr allzu ferner Zukunft mögliche
Chance, schweres Leiden durch Beseitigung eines monokausal wirk-
samen Gendefekts zu vermeiden, auf die des ethisch (mindestens) Er-
laubten.
2. Ein zweiter Fragenkomplex zielt auf einige in Die Zukunft ak-
tivierte Unterscheidungen, die in unserem alltäglichen Weltverständ-
nis tief verankert sind und auf eine letztlich aristotelisch-lebenswelt-
liche Ontologie zurückgehen: die Unterscheidung von Natürlichem
und Artifiziellem, von Natürlichem und Gemachtem sowie von Sub-
jektivem und Objektivem. 7 Werden diese tief verwurzelten Unter-
scheidungen als diagnostisches Instrument eingesetzt, um die Quelle
für bestimmte ethische Besorgnisse, die sich im gesellschaftlichen, po-
litischen und bioethischen Diskurs artikulieren, zu identifizieren? Dies
legt seine Formulierung nahe, er wolle »etwas zur diskursiven Klärung
unserer aufgescheuchten moralischen Gefühle« (Z 44) beitragen. Oder
werden sie in der Argumentation, die Habermas in Die Zukunft ent-
wickelt, letztlich doch zu einer ontologisch invarianten Struktur um-
gedeutet, um auf diesem Wege aus ihnen kategorische normative
Differenzen gewinnen zu können (so etwa Z 101 und 115)? Die Über-
legungen von Jürgen Habermas über die Zukunft der menschlichen
Natur sind, wenn ich richtig sehe, in diesem Punkt nicht eindeutig.
Seine Sympathie (und vielleicht auch sein politisches Bedürfnis) gilt
der stärkeren Variante einer Verankerung kategorischer moralischer
Differenzen entlang dieser Unterscheidungen; die Argumentation ver-
fährt aber zumeist eher entlang einer hermeneutisch-kritischen Selbst-
verständigung, die mit wesentlich schwächeren Ansprüchen auskom-
men muss, dafür aber auch mit wesentlich weniger anspruchsvollen
Beweislasten auskommen kann. Der gesamte Duktus von Die Zukunft
passt jedenfalls sehr gut zu diesem Projekt einer hermeneutisch-kriti-
schen Orientierung, geht es doch primär darum, die »aufgescheuch-
7
Hinsichtlich der philosophischen Verortung dieser Unterscheidungen besteht, soweit
ich sehe, zwischen Habermas und mir Einigkeit, vgl. Quante: »Ein stereoskopischer
Blick?« In: Dieter Sturma (Hrsg.): Philosophie und Neurowissenschaften. Frankfurt
a. M. 2006, S. 124–145.
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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
8
Die von Habermas verwendete Redewendung »geradezu transzendental« (Z 76) trägt
leider auch nicht wirklich zur Aufklärung dieses Sachverhalts bei.
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Michael Quante
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Michael Quante
keit, die sich melden, wenn wir neue Optionen der Technisierung
unserer menschlichen Natur entwickelt haben oder hypothetisch er-
wägen, als invariante, sozusagen existential-ontologische oder natur-
rechtlich-ontologische side-constraints, die wir generell zu respektie-
ren haben? Oder sind sie, dies wäre die Alternative, als kontingent-
konstitutive Voraussetzungen gedacht? 9 Damit ist gemeint, dass diese
Vorbedingungen unser Selbstverständnis zu einem gegebenen Zeit-
punkt faktisch konstituieren, aber weder im Sinne einer begrifflichen
noch einer naturgesetzlichen Notwendigkeit invariant oder unverfüg-
bar sind. So konzipiert funktionieren sie nicht als deontologische, für
Abwägungen nicht zur Verfügung stehende side-constraints: Sie prä-
gen unser evaluatives Selbstverständnis als menschliche Personen und
wenn wir sie modifizieren wollen, müssen wir in unsere Abwägung
mit einbeziehen, wie wir uns zu den sich aus den Änderungen des Rah-
mens ergebenden Veränderungen unseres individuellen und gattungs-
mäßigen Selbstverständnisses verhalten wollen. Die Tatsache, dass es
diesen kontingent-konstitutiven anthropologischen Rahmen gibt,
reicht als moralische Begründung, an ihnen nicht rühren zu dürfen,
nicht aus. Es macht, sowohl philosophisch als auch gesellschaftlich
und politisch, einen großen Unterschied, ob man Natürlichkeit als Tabu
aufstellt, oder als eine in der Ethik zu berücksichtigende Größe ein-
führt. Es wäre hilfreich zu wissen, ob die Suche nach dem Schutzwall
gegen eine instrumentalisierte humangenetische Indienstnahme des
Individuums in Die Zukunft von der Überzeugung geleitet wird, wir
könnten ihn nur halten, wenn wir über ein invariantes Fundament ver-
fügen. Das würde die Suche nach einer unverfügbaren Essenz der
menschlichen Natur und den Schutz der Naturwüchsigkeit als solcher
erklären. Und das Motiv für diesen Zug in der Argumentation von
Habermas wäre dann nicht die mystische Verarbeitung eines Ohn-
machtgefühls gegenüber einer übermächtigen Natur, sondern Aus-
druck seines tiefen Skeptizismus, dass selbst eine demokratisch verfass-
te Gesellschaft prinzipiell nicht in der Lage ist, die institutionellen
Rahmenbedingungen bereitzustellen, die dafür notwendig sind, mit
den neuen Handlungsoptionen, die uns die Fortschritte in den Lebens-
wissenschaften an die Hand geben, in moralisch verantwortbarer Weise
umzugehen. Als Alternative, die meines Erachtens zum Grundtenor
9
Vgl. dazu Vieth, Andreas & Quante, Michael: »Chimäre Mensch?« In: Kurt Bayertz
(Hrsg.): Die menschliche Natur. Paderborn 2005, S. 192–218.
308
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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
IV.
In Die Zukunft findet sich an einer Stelle ein kurzer Hinweis darauf,
dass es im Vorfeld der Veröffentlichung dieses Textes eine Diskussion
um die geltungstheoretische Strategie, die Habermas hier verfolgt, ge-
geben hat. Da sie dazu dienen kann, die argumentative Linie, die ich in
diesem Beitrag verfolge, klarer zu machen, zitiere ich die Passage in
ganzer Länge – Jürgen Habermas schreibt: »Rainer Forst hat mich mit
scharfsinnigen Argumenten davon zu überzeugen versucht, dass ich
mit diesem Zug vom Pfade der deontologischen Tugend ohne Not ab-
weiche.« (Z 121, Fn. 70)
Es wäre leicht, diese Bemerkung in dem Sinne zu verstehen, dass
es um die Möglichkeit einer letztbegründeten im Gegensatz zu einer
auf schwächeren Fundamenten stehenden modernen Moral geht. Ruft
man sich das Gedankenexperiment, welches Habermas in Die Zukunft
dazu bringt, den Pfad der deontologisch reinen Lehre zu verlassen,
noch einmal vor Augen, erkennt man, dass der systematische Punkt
an anderer Stelle zu verorten ist. Die Frage, die Habermas aufwirft,
lässt sich so formulieren: Was wäre, wenn wir aufgrund humangeneti-
scher Interventionen die Vorbedingungen dafür, dass wir uns wechsel-
seitig und auch selbst als freie und moralische Subjekte auffassen kön-
nen, abschaffen könnten? Habermas ist der Auffassung, dass man diese
Vorbedingungen der Moral als solcher, eben weil sie Voraussetzung für
sie sind, nicht mehr innerhalb der Moral selbst begründen kann, son-
dern dazu auf die allgemeinere Ethik, die er mit dem Stichwort der
Gattungsethik andeutet, zurückgreifen muss. Dem gegenüber scheint
Rainer Forst in der erwähnten Diskussion die Position vertreten zu
haben, dass sich die durch das Gedankenexperiment aufgeworfene Fra-
ge mit den Mitteln der modernen Moral beantworten lässt. Der Unter-
schied ist aufschlussreich und lässt sich von der Frage nach Letzt-
begründung abkoppeln, wenn wir die Unterscheidung zwischen
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Michael Quante
310
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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
10 Ich danke Rainer Forst, der durch seinen in diesem Band dokumentierten Diskus-
sionsbeitrag wesentlich zur Klärung meines Gedankengangs in diesem Abschnitt bei-
getragen hat.
311
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Michael Quante
V.
312
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11 Vgl. hierzu die Kapitel 5 und 6 in Quante: Die Wirklichkeit des Geistes (s. Anm. 2).
313
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Michael Quante
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Entgegnung auf Michael Quante
12
Ich danke Manon Westphal für ihre wertvolle Unterstützung beim Verfassen dieses
Beitrags.
13
Anja Karnein: A Theory of Unborn Life: From Abortion to Genetic Manipulation.
Oxford 2012.
315
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Entgegnung auf Michael Quante
(1) auf die Tatsache, dass die Intervention ohne die informierte
Zustimmung der künftigen Person erfolgen muss, und (2) auf die An-
nahme, dass das Ergebnis irreversibel ist; und ferner
auf die Überlegung, dass (1) der Designer nicht wissen kann, ob
die vermeintliche Verbesserung des Genpools im besten Interesse der
künftigen Person ist, und dass (2) die Art der Abhängigkeit von diesen
fixen Ressourcen nicht zu vergleichen ist mit der Abhängigkeit von
Sozialisationseffekten, die insofern revidierbar sind, als sie der Refle-
xion zugänglich sind und auf Distanz gebracht werden können.
316
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Entgegnung auf Michael Quante
317
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Entgegnung auf Michael Quante
man so will, besteht die »menschliche Natur« aus der organischen Er-
möglichung eines Ensembles einzigartiger Fähigkeiten zur technischen
Beherrschung einer riskanten Umwelt im Dienste der Reproduktion
und Entwicklung des kulturellen Lebens. Woraus besteht dieses En-
semble einzigartiger Fähigkeiten? Ich halte das instrumentelle Handeln
und die soziale Kooperation, die sich (a) auf ein intentionales Verhält-
nis zur objektivierend auf Abstand gebrachten Welt, (b) auf die gegen-
seitige Perspektivenübernahme und (c) auf die Verwendung einer pro-
positional ausdifferenzierten Sprache stützen, für die »menschlichen
Monopole«, die so etwas wie die Natur des Menschen definieren. Diese
formal bestimmten Kompetenzen sind allgemein, d. h. für menschliche
Lebensformen überhaupt charakteristisch.
Ich gehe also nicht von einem metaphysischen Menschenbild aus,
das erklärt, warum die Zufallskombination der elterlichen Gene unter
»Naturschutz« gestellt werden soll. Vielmehr lasse ich mich von
Grundsätzen eines deontologischen Verständnisses von Moral leiten,
um Zweifel an der Zulässigkeit der pränatalen Eingriffe einer verbes-
sernden Eugenik zu begründen. Der erwähnte Einwand bezieht sich
ausdrücklich nicht auf gentechnologische Eingriffe, die in unzweideu-
tig therapeutischer Absicht vorgenommen werden. Um »unzweideuti-
ge« Fälle einer negativen Eugenik handelt es sich freilich nur bei der
Diagnose von Erbkrankheiten, die so schwer sind, dass ein demokrati-
scher Gesetzgeber nach gewissenhaften Diskussionen in der breiten
Öffentlichkeit gute Gründe gewonnen zu haben meint, von der kon-
trafaktisch antizipierten Zustimmung der davon betroffenen »künfti-
gen Personen« ausgehen zu dürfen. Wir haben mit unseren politischen
Verfassungen, also mit der Anerkennung von Menschenrechten und
Demokratie Maßstäbe, die eine solide Grundlage für die Beurteilung
moralisch empfindlicher technischer Neuerungen bieten. Aber warum
können wir uns nicht, wie Rainer Forst meint, mit einem moralischen
Einwand, der gegebenenfalls in Gesetzgebungsprozesse Eingang findet,
begnügen?
Der Rekurs auf eine gattungsethische Abwägung wird nötig, weil
mit dem Auftreten »posthumanistischer« Menschenbilder eine neue
Situation entstanden ist. Eugenische Utopien gibt es schon lange; aber
erst die Erforschung verschiedener konvergenter Entwicklungen in
Biogenetik, Neurologie, Nanophysik und Kybernetik (d. h. künstlicher
Intelligenz) hat den Anstoß zu einer libertären Literatur über verbes-
sernde Eingriffe in das organische Substrat des Menschen gegeben, die
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Entgegnung auf Michael Quante
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Diskussion
Moderation: Heinz Sünker
320
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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
Georg Lohmann: Ich würde gerne die Frage noch einmal aufnehmen
und sowohl Dich, Michael, als auch Herrn Habermas nach den Verhält-
nissen zwischen Gattungsethik, universalistischer Moral und Unver-
fügbarkeit fragen. Wenn ich das richtig sehe, hängen die ja zusammen.
Und ich glaube, die Hintergrundfrage ist: welcher von diesen Aspekten
gibt den Ton an; dominiert die anderen? Und ich habe den Eindruck,
Herr Habermas, dass Sie eher dualistisch argumentieren. Ich werde in
321
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Diskussion
Michael Quante: Zur letzten Frage von Georg Lohmann: Die Diagno-
se ist richtig, das hat mich umgetrieben, weil ich die Sorge habe, dass an
manchen Stellen in Die Zukunft der menschlichen Natur aus einem
starken Unverfügbarkeitsbedürfnis der Naturbegriff oder die Natur-
wüchsigkeit von einer kontingenten, aber für unsere Lebensform kon-
stitutiven Vorgabe zu einer Art naturrechtlich objektiven Verpflich-
tung geworden ist. Das war meine Sorge, und dass dieser Übergang
politische Konsequenzen hätte, und dass der vielleicht sogar als politi-
scher Eingriff in Kauf genommen worden ist, das ist das eine. Ich habe
nichts gegen Dualität, die Frage ist nur, wie man sie beschreibt. Es gibt
322
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Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens
323
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Diskussion
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V. Die Selbstverständigung der Moderne
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Georg Lohmann
Ernüchterte Geschichtsphilosophie
Zur Rolle der Geschichtsphilosophie in Habermas’
kritischer Gesellschaftstheorie
1. Vorbemerkungen
327
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Georg Lohmann
te oder nur eine Pluralität von Geschichten gibt. 3 Die Geschichte der
Geschichtsphilosophien macht diese Vielfalt unterschiedlicher Kenn-
zeichnungen als zunehmenden Reflexionsprozess auf Wandlungen im
Geschichtsbewusstsein plausibel 4, gleichwohl wird oft unter der Ge-
schichtsphilosophie eine klassisch neuzeitliche Variante verstanden,
nach der die eine Universalgeschichte einen idealen Zustand der
Menschheit zum Ziel hat, und dies in der Weise eines objektiv notwen-
digen, linearen Fortschrittsprozesses anstrebt. Mir kommt es darauf an,
dass dies keineswegs die einzige Auffassung von Geschichtsphilosophie
ist, sondern dass es unterschiedliche Arten gibt, und es vielmehr darum
geht, eine dem jeweiligen Geschichtsbewusstsein angemessene phi-
losophische Deutung der Geschichte zu erlangen.
Geschichtsphilosophische (aber auch evolutionäre) Konzeptionen
von Gesellschaftstheorie sind Verzeitlichungen von Selbstthematisie-
rungen 5, die Gesellschaft als das beschreiben, was sie geworden ist oder
noch nicht ist oder noch wird. Sie eröffnen damit die Möglichkeit, die
gegenwärtige Gesellschaft daran zu messen, was sie einmal war oder
noch nicht ist. Eine geschichtsphilosophisch begründete kritische Ge-
sellschaftstheorie liegt dann vor, wenn der Maßstab der Kritik vor-
nehmlich durch Annahmen über den Verlauf der Geschichte begründet
wird. In dem Maße, wie solche Theorien auf ihre zeitliche Struktur und
deren Bedingungen reflektieren, nehmen sie eine Differenz in ihr
Selbstverständnis mit auf. Sie reflektieren sowohl auf ihren gegenwär-
tigen »Entstehungskontext« wie auf ihren zukünftigen Verwendungs-
oder »Anwendungszusammenhang« 6 und verstehen sich selbst in
praktischer Absicht: als geschichtsphilosophische Aufklärung der Ge-
sellschaft über sich selbst.
Die ihrem Selbstverständnis nach aufklärerischen und/oder kriti-
schen Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts (Hegel, Marx, Com-
te) waren mit expliziten oder impliziten geschichtsphilosophischen
Konstruktionen verknüpft, in denen Fortschrittsannahmen im Selbst-
3 Siehe dazu jetzt Jürgen Osterhammel: »Von einem hohen Turme aus«. In: FAZ v.
31. 10. 2012, S. 6.
4 Siehe Angehrn: Geschichtsphilosophie (s. Anm. 2).
modernen Gesellschaft«. In: Zeitschrift für Soziologie 16. Jg., Heft 3 (1987), S. 161–
174, hier: S. 166.
6
Vgl. Jürgen Habermas: »Über das Subjekt der Geschichte«. In: ders. Kultur und Kritik,
Frankfurt a. M. 1973, S. 389–398, hier: S. 392.
328
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Ernüchterte Geschichtsphilosophie
Geschichtsphilosophie«. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung Bd. 35, Heft 3/4
(1981), S. 341–364, hier: S. 362.
329
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Georg Lohmann
Seit Anfang der siebziger Jahre stößt man in den Schriften von Jürgen
Habermas auf Überlegungen, die zeigen, dass er seine kritische Gesell-
schaftstheorie von geschichtsphilosophischen Annahmen befreit wis-
sen will. Mitbedingt durch die zur gleichen Zeit begonnene Rezeption
der Systemtheorie und des Funktionalismus wird die Verzeitlichung
der Gesellschaftstheorie ab da im Rahmen einer Theorie der sozialen
Evolution konzipiert. Damit legt Habermas einen Schnitt in seinen ei-
genen theoretischen Werdegang, der mit einer Dissertation zu Schel-
ling über Das Absolute und die Geschichte (1954) geschichtsphiloso-
phisch begann, in den Sechzigerjahren eine »empirisch gesicherte
Geschichtsphilosophie« »in praktischer Absicht« (TP1 179 ff., 206 ff.,
301 ff.) ins Auge fasste und noch mit Erkenntnis und Interesse die Kon-
zeption einer Gattungsgeschichte entwarf.
Dieser Schnitt hat zunächst die erwünschte Folge, dass seine Ge-
sellschaftstheorie von, wie er sagt, »geschichtsphilosophischem Bal-
last« (VE 526) befreit wird. Darunter versteht Habermas die »pseudo-
normativen Aussagen über eine objektive Teleologie der Geschichte«
(ebd.), die im Historischen Materialismus und noch für die Kritische
Theorie der dreißiger Jahre Geltung hatte. Näher hin versteht er da-
runter Annahmen, die die Unilinearität, Notwendigkeit, Kontinuität
und Nichtumkehrbarkeit der Geschichte implizieren (vgl. RHM
154 ff.). 11 Obsolet geworden sind auch die Konstruktion eines Subjektes
10
Exemplarisch: Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt
a. M. 1974; Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt
a. M. 1973; Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und
Metakritik der historischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1972; Reinhart Koselleck/Wolf-
Dieter Stempel (Hrsg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973; Herbert
Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. Frei-
burg/München 1974.
11
In gleicher Weise weist Luhmann für die Evolutionstheorie auf die Aufgabe von
»Einzelattributen« hin, die wie Unilinearität, Kontinuierlichkeit, Endogenität, Irrever-
sibilität und Notwendigkeit in den älteren Evolutionstheorien impliziert waren; auch er
wirft, mit der »Herauslösung der Prozeß-Prämisse aus den Voraussetzungen der Evo-
330
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.
Ernüchterte Geschichtsphilosophie
lutionstheorie, ja aus dem Evolutionsbegriff selbst, […] einigen Ballast ab«, der seine
Parallele im Leichterwerden der Gesellschaftstheorie bei Habermas hat; siehe Luhmann:
Soziologische Aufklärung 3. Opladen 1981, S. 183 u. 187.
12 Siehe Habermas: »Über das Subjekt der Geschichte« (s. Anm. 6).
13
So Habermas: »Entgegnung«. In: Axel Honneth/Hans Joas (Hrsg.), Kommunikatives
Handeln. Frankfurt a. M. 1986, S. 327–405, hier: S. 391.
331
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Georg Lohmann
14 Siehe dazu auch Harald Pilot: »Jürgen Habermas’ empirisch falsifizierbare Ge-
schichtsphilosophie«. In: Theodor W. Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der deut-
schen Soziologie. Neuwied/Berlin 1969. Die internen Folgen einer geschichtsphiloso-
phisch erleichterten Gesellschaftstheorie habe ich in Lohmann 1998 (s. Anm. 1) genauer
untersucht.
15
Siehe auch Hauke Brunkhorst: »Kommunikative Vernunft und rächende Gewalt«.
In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau Jg. 6 (1983), H. 8–9.
332
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Ernüchterte Geschichtsphilosophie
16
Michael Theunissen: »Zwangszusammenhang und Kommunikation«. In: ders.: Kri-
tische Theorie der Gesellschaft. Zwei Studien. Berlin/New York 1981, S. 41–57, hier:
S. 52; siehe auch die dort angegebenen weiteren Stellen bei Habermas.
17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechtsphilosophie, besonders die §§ 101 ff.
333
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.
Georg Lohmann
334
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Ernüchterte Geschichtsphilosophie
18 Die (leider) nicht veröffentlichte Dissertation ist mir als Kopie aus dem UB Bestand
der Universität Bonn verfügbar.
19 Manfred Frank: »Schelling, Marx und Geschichtsphilosophie«. In: Hauke Brunk-
335
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Georg Lohmann
Zunächst hat Habermas die Art der emanzipativen Leistung der kriti-
schen Gesellschaftstheorie in ihrer Anwendungssituation mit der Un-
terscheidung von Kritik als Nachkonstruktion und Kritik als Selbst-
reflexion differenziert. Albrecht Wellmer hat diese Unterscheidung
Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Kants
22
336
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Ernüchterte Geschichtsphilosophie
23
Vgl. Albrecht Wellmer: Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant
und in der Diskursethik. Frankfurt a. M. 1986, S. 180 ff.
337
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Georg Lohmann
24 Habermas: »Über Moralität und Sittlichkeit – Was macht eine Lebensform ›ratio-
nal‹ ?« In: Schnädelbach (Hrsg.): Rationalität. Frankfurt a. M. 1984, S. 218–235, hier:
S. 228; siehe auch FG 140. Von »entgegenkommenden« Lebensformen spricht Haber-
mas zum ersten Mal 1961 im Kontext seiner Auseinandersetzung mit den geschichts-
philosophischen Fortschrittsannahmen der schottischen Moralphilosophie: »Die Sozio-
logie der Schotten konnte sich im Zusammenspiel mit einer ihr ohnehin ›entgegenkom-
menden‹ politische Öffentlichkeit auf Orientierung individuellen Handelns, auf eine im
engeren Sinne praktische Beförderung des geschichtlichen Prozesses beschränken«.
Siehe Habermas: »Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozial-
philosophie«. In: TP2, S. 48 ff. Wie bei den »Schotten« verteilen sich seitdem bei Haber-
mas die geschichtsphilosophischen Fortschrittsannahmen auf die gesellschaftlichen
Evolutionen einerseits und »entgegenkommenden« moralisch-politischen Öffentlich-
keiten anderseits.
25 Habermas: »Über Moralität und Sittlichkeit – Was macht eine Lebensform ›ratio-
338
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Ernüchterte Geschichtsphilosophie
29 Siehe Habermas: »Über Moralität und Sittlichkeit« (s. Anm. 24), S. 229.
30 Z. B. FG 535: es ist »eine – eher aus Verzweiflung geborene – Hoffnung«, dass der
339
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Georg Lohmann
33 Die These ist, dass wir nicht irrational handeln, wenn wir unmoralisch handeln; siehe
Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. 1993, S. 65 ff. u. 161 ff.
34 Siehe Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Frankfurt a. M. 2002,
340
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Ernüchterte Geschichtsphilosophie
35
Vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 25.
36 Siehe dazu Lohmann: »Zur Rolle von Stimmungen in Zeitdiagnosen«. In: Hinrich
Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hrsg.): Zur Philosophie der Gefühle. Frankfurt a. M. 1993,
S. 266–292.
341
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Georg Lohmann
37 Habermas, Vergangenheit als Zukunft (s. Anm. 19), S. 153 f., Hrvh. v. Vf.
38
Kant: Der Streit der Fakultäten. AA VII, S. 91.
39 Siehe zur entsprechenden Diskussion zwischen Benjamin und Horkheimer Hans
342
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Ernüchterte Geschichtsphilosophie
Menschenrechte«. In: ders., Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Frankfurt a. M. 2011,
S. 13–38.
41
Ich beziehe mich im Folgenden, mit den Seitenzahlen in Klammern im Text, auf John
Rawls: Das Recht der Völker. Berlin New York 2002, S. 13 ff.
343
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Entgegnung auf Georg Lohmann
gen untergraben […]. Andernfalls würde auch uns das falsche, böse
und dämonische Handeln anderer zerstören.« (24). Wie bei Kant (und
ihm folgend bei Habermas) ist auch bei Rawls die geschichtsphiloso-
phische Hoffnung eine pragmatische Notwendigkeit, die auf eine ange-
sichts der Fehlschläge und Gräueltaten der menschlichen Geschichte
sonst uns ergreifende Verzweiflung (siehe auch 163) antwortet und
sie überwindet oder zumindest mindert, und wie bei Kant und Haber-
mas ist der, geschichtsphilosophisch motivierte, theoretische Vorschlag
selbst ein Mittel, um die »vernünftige Hoffnung« zu »stärken und (zu)
bekräftigen« (25).
Wenn Habermas daher seine politische »Parallelaktion« zu Rawls
»Recht der Völker«: die »Konstitutionalisierung des Völkerrechts«, im-
mer bescheidener werdend, als realistische Utopie vorstellt und be-
treibt, so steht er auch weiterhin in den Bahnen dieser ernüchterten
Geschichtsphilosophie.
Dass bei einem ja nun in die Jahre gekommenen Denker der
Rausch einer in jungen Jahren beherzt ergriffenen Geschichtsspekula-
tion so lange nachhallt, erstaunt, und die intellektuelle Kraft, mit der
im jungen wie im hohen Alter diese philosophischen Gedanken vertre-
ten werden, verdient Bewunderung.
Ich habe das Glück, dass Georg Lohmann meine Versuche seit langem
kommentiert und kenntnisreich kritisiert; dabei klopft er die Texte mit
einem vielleicht auch von seinem Lehrer Michael Theunissen inspirier-
ten Blick auf verborgene spekulative Motive ab. Ich erinnere mich an
eine ähnliche Spurensuche in seiner tiefschürfenden Rezension der
Theorie des kommunikativen Handelns in der »Philosophischen Rund-
schau«. Solche Versuche, mir auf die spekulativen Schliche zu kom-
men, lese und höre ich natürlich nicht ohne Ambivalenzen. Ich möchte
mich einerseits gerne in diesen gewissermaßen entschlüsselnden Tex-
ten wiedererkennen, weil sie mir das Gefühl geben, mich besser ver-
stehen zu lernen. Aber andererseits wäre es mir nicht ganz geheuer,
wenn mein explizit als nachmetaphysisch angezeigtes Selbstverständ-
nis von unausgewiesenen spekulativen Antrieben lebte. Lassen Sie
mich damit beginnen, dass Lohmann eine Disposition richtig be-
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Entgegnung auf Georg Lohmann
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Entgegnung auf Georg Lohmann
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Ernest Wolf-Gazo
Introduction
1 Karl Marx: Die Frühschriften. Hrsg. von Siegfried Landshut. Stuttgart 1971. (Haber-
mas cites the Kröner Verlag Edition 1953 and the Berlin (Ost) Dietz Verlag Edition 1953
for Grundrisse).
347
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Ernest Wolf-Gazo
tion of 1968 with a new Germany, getting their cues from a mature
Habermas, by now situated in Frankfurt. From the Bonn thesis 1954
to his Habilitationsschrift, Strukturwandel der Öffentlichkeit, pub-
lished in 1962, to the first major work that attained public notoriety
Erkenntnis und Interesse, published with Suhrkamp in 1968, Habermas
became a spokesman for a new Zeitgeist steeped in Kritik and Praxis.
The syndromes of 1968 can be rediscovered in the pre-revolutionary
ferments of the 1840s, a decade in which Young Hegelian Dialectics, as
we may call it, commanded the stage as major opposition against the
Prussian State, spearheaded by the Young Hegelians that included the
young Marx and Friedrich Engels. 2 However, within this context atten-
tion must be drawn to the significance of Habermas’ Rezeption and
Auseinandersetzung, in terms of the 1840s Kritik, dealing with the ex-
isting political, social, economic, and religious order in the old Europe.
In addition, we must draw specific attention to the fact that we are deal-
ing with Habermas’ generation that survived a disastrous war and tried
to find, somehow, a solid foundation to build their future life. In a way,
we can say, with half-century hindsight, that Habermas’ generation
was involved in a project of Re-education finding intellectual tools in
order to come to terms with the evils that had befallen Germany.
The aspect of Habermas’ thesis that we focus on gives us a quick
glimpse of the initial stepping stone of that post-war Re-education in
terms of adjusting to a new reality. Bonn becomes the capital of a newly
established state, known as Federal Republic, and a Cold War is in pro-
gress, between East and West, while an ideological confrontation takes
place among the more intellectual minded younger generation at the
universities in the United States and Western Europe. 3 We found a few
voices witnessing the direct intellectual confrontation in which Haber-
mas’ generation found themselves:
Hans Tietgens, a former student at Bonn during the post-war
years tells us, »Versuche einer unbefangenen Auseinandersetzung mit
Marx unterlagen dem Verdikt des Subversiven.« 4 Considering the at-
2 See William Hagen: German History in Modern Times. Cambridge, UK. 2012.
3 See Max Braubach: Kleine Geschichte der Universität Bonn, 1818–1968. Bonn 1968;
Georg Satzinger (Hrsg.): Das Kurfürstliche Schloss – Residenz der Kölner Erzbischöfe –
Friedrich-Wilhelms-Universität. München 2007.
4 Cf. Hans Tietgens: »Studieren in Bonn nach 1945 (Versuch einer Skizze des Zeit-
348
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
Apel. Frankfurt a. M. 1982, pp. 720–744; relevant Christian George: Studieren in Rui-
nen: Die Studenten der Universität Bonn in der Nachkriegszeit, 1945–1955. Göttingen
2010.
5 See Hagen: German History in Modern Times (cf. Fn. 2), p. 253.
6 Cf. Jürgen Habermas: Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in
Schellings Denken. Bonn Diss. 1954; new discussions on the theme, see Wolfram Ho-
grebe: Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang
von Schellings ›Die Weltalter‹. Freiburg 1989; and Markus Gabriel: Das Absolute und
die Welt in Schellings Freiheitschrift. Bonn 2006.
349
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Ernest Wolf-Gazo
7
Interviewed by Detlef Horster/Willem van Reijen in Starnberg March 23, 1979. In:
Horster: Habermas. Hannover 1980, pp. 70–94.
8 Interview of Otto Pöggeler: »Erinnerungen. Hegel, Heidegger und Gadamer«. In: In-
350
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
10 Cf. Edith Ennen et al.: Der alte Friedhof in Bonn. Bonn 1958 (expanded 2nd edition).
11 See Jonathan Sperber: Karl Marx: A Nineteenth-Century Life. New York 2013.
12 See Rainer Nicolaysen: Siegfried Landshut, Die Wiederentdeckung der Politik.
Frankfurt a. M. 1997.
13 In the Wintersemester 1970/71 and Sommersemester 1971 Klaus Hartmann, Profes-
sor at Bonn University, delivered excellent lectures on the philosophic aspects of Marx,
based on his masterful treatment published as, Die Marxsche Theorie. Berlin 1970.
351
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Ernest Wolf-Gazo
14
Cf. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Hrsg. v. Barbara Zehnpfennig.
Hamburg 2005, p. 61 f.
352
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
äußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entäußerte
Wissenschaft, dies erfaßt Hegel als ihr Wesen […].« 15
In the previous paragraph Marx uses a philosophic tone in order to
construct his systematic Hegel critique:
»Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate –
der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinizp
– ist also, einmal daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Pro-
zess faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäuße-
rung, und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der
Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen
Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift.« 16
These two passages make clear that the dialectic method as a negation,
in form of a moving and producing principle, turns out to be the heart
of Habermas’ early work. At this point it is clear that Hegel recognized
the potential of negation in Aristotle’s de Anima, which he immedi-
ately applied to build into his Wissenschaft der Logik. Thus, in a sort of
quixotic way, Aristotle more subtle combination of logic and psychol-
ogy reemerges in Hegel, transformed in Marx, and adopted by Haber-
mas. The basic motor of the dialectic, Negation der Negation, is the
producing element of Geist in the form of, as it turned out, historical
materialism. Although Marx wants to emancipate himself from philo-
sophy (as a product of Bildungsbürgertum), but not to deny it as an
educational experience, likewise, Habermas the Bonn student, escapes
into the direction of sociology. Part of his Re-education is putting cau-
tious distance between himself and the classical forms of German ide-
alism, in order to pick up the hints from the Marx of 1844, and move on
to sociological analysis of modernity, of the newly emerging West Ger-
man society (also known as Bonn Republic). Yet, this overseas student
has the suspicion that neither Marx nor Habermas were able to break
with the heritage of their respective classical education in philosophy.
No doubt, Marx or Habermas never would have been able to handle a
comprehensive analysis of structures and multifarious elements that
make up a modern society, without the assistance of dialectic metho-
dology, spiced with Kritik of contemporary conditions in which a so-
ciety find itself. This is the reason why American or Anglo-Saxon edu-
15
Marx: Die Frühschriften. A. a. O. (cf. Fn. 1), pp. 269–270.
16 Ibid., p. 269.
353
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Ernest Wolf-Gazo
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der
Politik.« 17
In fact, that too was part of Habermas’ Re-education, to scrutinize his
newly emerging society in terms of Kritik, while keeping an eye on the
historical dimension by which a society is conditioned. Marx puts it
nicely:
»Wie die alten Völker ihre Vorgeschichte in der Imagination erlebten, in der
Mythologie, so haben wir Deutschen unsere Nachgeschichte im Gedanken
erlebt, in der Philosophie. Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegen-
wart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein.« 18
Habermas immediately understood that he did not want simply to do
philosophy, to merely understand »what happened«, but wanted to en-
gage in Wirklichkeit, in Praxis, in action of his society, be part of the
formation of that society, and not simply an observer (Zuschauer). He
wanted to be part as Zeitgenosse and not simply a bystander, applaud-
ing authority, or prevailing public opinion; he wanted to be a part of
that public opinion, participating in its formation. By 1960 Habermas
challenged himself, he wanted not only to understand Marx and his
critical implications, he wanted to go beyond Marx, or, as he puts it in
the formulation of the so-called Hermeneutic Circle, »Marx besser ver-
stehen, als er sich selbst verstanden hat.« 19 At that time he had com-
pleted studying interpretations by standard works on Marx, reported
and made public in his Literaturbericht of 1957. These sketches are
important to understand why Habermas decided in a last-minute at-
tempt »to add« about eighty pages to the main body of the text of the
thesis, before he took his rigorosum (oral examination as part of the
doctorate requirement in the German university system), with ap-
proval for printing and distributing the 250 copies of the dissertation
by Bonn University. The bifurcation in Schelling’s thinking, according
to Habermas, was to be understood as a materialist critique of Schel-
ling, especially his later philosophical development, which was wit-
nessed, first hand, in Schelling’s Berlin Humboldt University lectures
attended by Engels, Kierkegaard, and Bakunin. 20
17
Ibid., pp. 208–209.
18 Ibid., p. 214.
19
Cf. Habermas: Theorie und Praxis. Frankfurt a. M. 1971 (4th edition), p. 244.
20 See the documents and reports on Schelling’s Berlin Humboldt University Lectures
355
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Ernest Wolf-Gazo
Let us take a closer look at Habermas’ Einleitung added to the main text
of his Bonn Dissertation. The subject matter was the later Schelling
that had been dealt with in conventional and traditional academic lit-
erature. However, the young Doktor notes the works of prominent
Schelling scholar Horst Fuhrmans, as well as the Tübingen philosopher
Walter Schulz, and the former Frankfurt protestant theologian and
philosopher-in-exile Paul Tillich, in a positive tone. 21 Yet, in order to
make his case, the strategic attempt is made to develop a subtle rela-
tionship between the later Schelling and the young Marx, emerging in
the early pages of the thesis; that is to say, Jakob Böhme and Jewish
mysticism in the form of the Kabbalah is introduced. 22 In many ways
there are basic hints that we find in Habermas’ later writings, but trea-
ted in a more certain explication. The jest of the matter is that there is a
red thread leading from the Kabbalah to Jakob Böhme and Swabian
Pietism (Oetinger) via Hegel to Schelling, then Marx. This »stream of
unconsciousness« can be followed deep into the philosophic mode of
Ernst Bloch, Walter Benjamin, and Herbert Marcuse. Of course, that
line of thinking had not yet been worked out in the thesis, but was
continued in subsequent years, reinforced by the modern scholarship
methodology of Gershom Scholem having its roots in Jewish mysti-
cism. In the essay of 1978 honoring Gershom Scholem, Habermas re-
members:
»Mir war, zu alldem, ein merkwürdiges Buch über die Hauptströmungen der
jüdischen Mystik in die Hände gefallen, das mich mit Verwandtschaftsbezie-
hungen zwischen der Theosophie Jakob Böhmes und der Lehre eines Mannes
namens Isaak Luria überraschte. Hinter Schellings Weltaltern und Hegels
Logik, hinter Baader standen also nicht nur, wie wir es gelernt hatten, die
schwäbischen Geistesahnen, nicht nur Pietismus und protestantische Mystik,
pre-war and post-war years; especially the works by Karl Löwith, Kuno Fischer, Nicolai
Hartmann, Erich Rothacker, Oskar Becker are cited and in particular the voluminous
work by Richard Kroner on classic German idealism is noted, as well as the work by
Georg Lukács, Der junge Hegel (Zürich 1948) and Carl Schmitt’s political romanticism
book of 1919 laudet.
22 Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (ef. Fn. 6), p. 2 ff.
356
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
sondern, vermittelt durch Knorr von Rosenroth, jene Version der Kabbala, in
deren antinomistischen Konsequenzen deutlicher als irgendwo sonst die
Denkfigur und Antriebe der großen dialektischen Philosophie vorausgedacht
worden waren.« 23
Systematically we find the following passage in a more mature form
that was hinted at in the Thesis-»Einleitung«:
»An das Konzept, daß Gott in seine eigenen Urgründe hinabsteigt, um sich
selber aus ihnen zu schaffen, kann Isaak Luria (wie auch Jakob Böhme) an-
knüpfen, um die Schöpfung aus dem Nichts nach dem dialektischen Bild eines
Gottes zu denken, der sich zusammenzieht oder kontrahiert, womit er in sich
selbst einen Abgrund erzeugt, in den er herabsteigt, in den er sich zurück-
zieht und so den Raum erst freigibt, den die Kreaturen einnehmen werden.
Der erste Akt der Schöpfung ist eine Selbstnegation, durch die Gott sozusa-
gen das Nichts hervorruft – eine Lehre, die sich in strikten Gegensatz zu den
aus dem Neuplatonimus stammenden Emanationsvorstellungen setzt. […]
Die Selbstverschränkung Gottes ist die archetypische Form des Exils, der
Selbstverbannung, […] Von dieser Konzeption des Abgrundes oder der Ma-
terie oder des Zorns […] führen verschiedene Linien über Schelling und He-
gel zu Marx.« 24
Habermas points out that the first station of the dialectic allegory of
creation ex nihilo ushers into a materialist natural dialectic. Translated
into modern terms of social and political revolution he concludes,
»Vom frühen Marx bis zu Bloch und dem späten Benjamin heißt es
dann: keine Resurrektion der Natur ohne Revolutionierung der Ge-
sellschaft.« 25
Needless to say, if the promotion committee in Bonn of 1954
would have read these passages in detail they would find them highly
speculative, very risky, and subversive. The »Einleitung« makes hints
only, in order to suggest, that the direction of his Schelling interpreta-
tion was not following the signs of conventional Schelling scholarship.
In the thesis’ »Einleitung« we find Schelling moving away from the
historical school turning to a more philosophic anthropological mode
of explication and towards a Kantian-Fichtian Neuansatz. This is the
reason why Schelling’s Freiheitsschrift became the focus of later scho-
larship in order to deal with the tension of negation of freedom and
23
Cf. Habermas: Philosophisch-politische Profile. Frankfurt a. M. 1998 (Erw. Ausg.
3. Aufl.) 1998, p. 378.
24
Ibid., p. 386.
25 Ibid., p. 388.
357
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Ernest Wolf-Gazo
26 Cf. Schelling: Über das Wesen der Menschlichen Freiheit. (With Einleitung by Horst
losophen Karl-Otto Apel«. In: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck:
Philosophische Essays. Frankfurt a. M. 1997, p. 86.
358
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
34
Cf. Frankfurter Universitätsreden Heft 18. Frankfurt a. M. 1956: the main speaker
(Festvortrag) on May 16, 1956 was Erik H. Erikson entitled, »Freuds psychoanalytische
Krise«, pp. 16–37; relevant to Habermas’ concerns the work by Erich Fromm: Marx’s
Concept of Man. New York 1961; also see Habermas’ essay: »Soziologie in der Wei-
marer Republik«. In: Wissenschaftsgeschichte seit 1900: 75 Jahre Universität Frank-
furt. Frankfurt a. M. 1992, pp. 29–53. At this point I would like to thank Dr. Karl-Heinz
Gerschmann (1924–2010), formally of Münster University and a native from Frank-
furt, for suggesting to read the beautiful little book on Frankfurt’s intellectual life in the
1920s, Wolfgang Schivelbusch: Intellektuellendämmerung: Zur Lage der Frankfurter
Intelligenz in den zwanziger Jahren. Frankfurt a. M. 1985.
35 Habermas, Philosophisch-politische Profile. A. a. O. (cf. Fn. 23), pp. 187–188.
361
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Ernest Wolf-Gazo
No doubt the fascination of this event had great impact on the psyche of
young Habermas; especially his meeting with Herbert Marcuse. Since
his thesis he grappled not only with his own Re-education project, but
also how to deal with Heidegger. At what point should we go along with
him, use his Ansatz to develop issues in a more detailed and timely
fashion, on the other hand ask, at what point was Kritik necessary?
Suddenly, a third dimension opened: Herbert Marcuse. It was he who
made Marx’s Frühschriften known in 1935, republished in 1953 by
Siegfried Landshut, whose edited version Habermas used for quotations
in his thesis. Now, with the event in Frankfurt and the new dimension of
a Freudian Tiefenpsychologie, plus Marcuse’s publication in 1955 of
Eros and Civilization, Habermas saw a new possibility added to the
Schelling constellation. Due to Erich Fromm’s social psychological An-
satz there seemed to have been serious differences between Horkheimer
and Fromm that, however, were not known to Habermas. The fascinat-
ing addition to the complex paradigm from Jakob Böhme via Schelling to
Marx, was suddenly: Freud and Heidegger. Marcuse studied with Hei-
degger and worked on the notion of Bildungsroman, being steeped into
the romanticism of Novalis and the Schlegels. What fascinated young
Habermas was, however, how could someone integrate Heidegger with
Freud and Tiefenpsychologie, considering Freud’s predilection for
mythology? At the end of the 1950s, it is clear, young Habermas made
an enormous leap in his Re-education project: from an environment of
disintegrating bildungsbürgerliche Kultur (bourgeois culture), to the
integration of a newly emerging Young Hegelian dialectics applied to
the Bonn Republic Society, ushering into a constellation that stretched
from Schelling to Freud via Marx, and finally the pragmaticism of C. S.
Peirce. It is a sort of Bildungsroman in which the Weimar Republic Out-
siders, as the German-born American Yale historian Peter Gay put it,
become Insiders of the newly formatting Bonn Republic, with Haber-
mas leading the post-war generation out of Plato’s Cave into the sun-
light of 1968. We note the passage on the Versöhnung between the Wei-
mar exiles, and the Bonn Republic, which included the exiled members
of the Frankfurt School, especially Marcuse: »[…] ja, ältere Schüler ha-
ben, merkwürdig nur auf den ersten Blick, von ›Sein und Zeit‹ den Zu-
gang zu Marx gefunden, um dann freilich die Begriffe der Daseinsana-
lytik in die einer Geschichtsphilosophie der Triebe zu übersetzen.« 36
36 Ibid., p. 74.
362
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
At this point we want to focus more narrow on the first chapter of part
one of Habermas’ thesis, interpreting the contemporary Hegel critique
in the years 1830s and 1840s, including aspects of Schelling’s later phi-
losophy as well as the consequences. Entitled, »Die zeitgenössische Kri-
tik an Hegel (1829–1850)«, this part of the thesis actually functions as
37 Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. Fn. 6), p. 9.
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
college philosophy curriculum; somewhat later, in the 1960s the Sociology of Knowl-
edge was introduced to sociology departments. At this point, however, I would like to
thank my undergraduate philosophy teacher at George Washington University, prior to
my Bonn studies, the late Professor emerita Thelma Z. Lavine (1915–2011) who intro-
duced me to both subject matters, having known many German exiled scholars at New
York City and Harvard University, and thereby preparing me for my German academic
adventure. She was authentically engaged in Vermittlung between the New World and
Old Europe.
365
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Ernest Wolf-Gazo
Marx, daß er die Selbsterzeugung des Menschen als Akt der Arbeit, als dia-
lektischen Prozeß der Vergegenständlichung und Entgegenständlichung, der
Entäußerung und Aufhebung dieser Entäußerung begreift. Sein Fehler ist
nach Marx, daß dieses Begreifen noch innerhalb der Entfremdung bleibt, da
sich die Philosophie als abstrakte Gestalt des ökonomisch gesellschaftlich ent-
fremdeten Menschen zum Maßstab der von ihm entwickelten Entfremdung
nimmt.« 41
With the help of the published Paris Manuscripts of 1844 (first in 1935
by Herbert Marcuse, then in 1953 by Siegfried Landshut) the philoso-
phical anthropology of the Young Hegelians, especially Ludwig Feuer-
bach, is transformed into a materialist conceived history in which the
»metaphysical status« of Materie had to be determined in Schelling’s
later philosophy in terms of a Rezeptionsgeschichte of Böhme via the
Kabbalah then Schelling, and finally debated by the Young Hegelians
and ›settled‹ by Marx. The Antrieb of this new conception of history
had its tool in Dialektik which provided the energy towards successive
stages of material formations depending not on Geist, but Produktions-
verhältnisse. Suddenly there was light at the end of the Cave, thanks to
Jakob Böhme, thereby Schelling was saved from darkness, as Hegel so
nicely put it, in which all cows are black; yet, young Habermas, this
time mit Heidegger finds the ironic words, »Die Nacht, in der all Kühe
Schwarz sind, beginnt sich zu lichten.« 42 Thus, the anthropological
turn of young Habermas is summarized in his Dissertation in the fol-
lowing passage, »Für Feuerbach, Marx und Kierkegaard hat Realität
den Index des Aufgehens und Sichzeigens in einer leiblich-mitmensch-
lich, ökonomisch-gesellschaftlich oder religios-geschichtlich bestimm-
ten Situation.« 43 It was that Situation which the thesis wanted to clear,
in order to determine new rules for a new game, in terms of a new
anthropology called historical materialism which, apparently had its
seeds sowed in the Böhme-Kabbalah-Axis, but could not be resolved
by the later Schelling. Those who made the pilgrimage to Berlin Uni-
versity in 1841, amongst them the young Engels, Bakunin, or Kierke-
gaard, were, unfortunately, disappointed since they sensed that the el-
derly gentleman who spoke from the Katheder in Berlin had no clear
41 Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. Fn. 6), p. 58.
42
Ibid., p. 217.
43 Ibid., p. 65.
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
44
See Frank (Hrsg.): Schellings Philosophie der Offenbarung 1841/1842. A. a. O. (cf. Fn
20), Anhang II.
45
Ibid., Marx (Kröner Edition), pp. 208–209.
46 Habermas: Philosophisch-politische Profile. A. a. O. (cf. Fn. 23), p. 213.
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Ernest Wolf-Gazo
Conclusion
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Habermas and Young Hegelian Dialectics
there were other perspectives and tracks that could be followed. Philo-
sophically speaking, Hegel, or Schelling, or Heidegger, revealed genius,
no doubt, however, even genius may, at one point or another, fall into a
trap of deluding themselves into some sort of illusions about Wirklich-
keit. This is true in case of Rothacker and certainly of Heidegger, who
had, each in his own way, private visions of the future in which they
would play an important role. However, both young Habermas and his
friend Apel, or their fellow student Otto Pöggeler noticed, that the old-
er generation of teachers had much to offer, but failed in the realm of
the political. This experience made an impression on the post-war gen-
eration of students, including the Bonn peer group in which Habermas
moved. The record needed to be set straight, for Habermas in Frankfurt
with Adorno, for Pöggeler in Paris with Celan, others became active
during the student revolt of 1968. The cultural and intellectual ramifi-
cation of Habermas’ Bonn in the 1950s, during the Adenauer Era, was
very different from the Bonn when this overseas student arrived in
1969, at the time when Willy Brandt was elected Chancellor of the
Federal Republic. Brandt, a former exiled journalist, returned home in
order to set the record straight, without malice. It was not an easy road
for him and his compatriots. In Frankfurt Habermas meets the other
returned exiles, Horkheimer and Adorno and Marcuse. And there was
plenty to contemplate about the moral disaster in the modern world
between Pöggeler and Celan. Habermas’ development from a provincial
town called Gummersbach onto a global stage is quite remarkable, con-
sidering that many of his issues and themes are related to European, or
better, German affairs. But these issues and themes arise out of the
philosophic concerns that stretch back to German idealism, in amalga-
mation with the Kabbalah, Spinoza, a Martin Buber, or a Gershom
Scholem. To move from Kant to Hegel and Schelling, via Jakob Böhme,
then to the Young Hegelians and Marx, then to the Pragmaticism of
C. S. Peirce (along with his friend Karl-Otto Apel), to Max Weber and
Talcott Parsons, then the Speech Act perspective of J. L. Austin and
John Searle, is quite a feat. From philosophical anthropology of a Max
Scheler and Arnold Gehlen to the social psychology of Erich Fromm,
Erik Erikson, and the developmental moral stage perspective of Lawr-
ence Kohlberg is another dimension. What these tracks and avenues do
for us is that they show how everything is actually connected in Wirk-
lichkeit and can’t be subsumed under one specialist department of any
modern university curriculum.
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Ernest Wolf-Gazo
47
Cf. Erich Auerbach: Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Lit-
eratur. Bern 1946 (this masterpiece was written in his Istanbul exile between May 1942
and April 1945); the 50th Anniversary Edition was introduced by Edward W. Said, based
on the 2nd Edition published by Princeton University Press in 1953; much neglected, the
refugee situation of German exile scholars during the 1930 and 1940s in Turkey. See the
pioneering work by Horst Widmann: Exil und Bildungshilfe: Die deutschsprachige aka-
demische Emigration in der Türkei nach 1933. Bern 1973; the only serious treatment on
the subject matter in English, Arnold Reisman: Turkey’s Modernization, Refugees from
Nazism and Atatürk’s Vision. Washington, D.C. 2006; relevant Ernest Wolf-Gazo:
»John Dewey in Turkey«. In: Journal of American Studies of Turkey 3 (1996), pp. 15–
42; a memoir on the leading scholar of American philosophy, the late Yale philosopher
John E. Smith, who was a student of Richard Kroner exiled in the United States, see
Wolf-Gazo: »Remembering John E. Smith: Philosopher and Mensch«. In: Vincent M.
Colapietro (ed.): Experience, Interpretation, and Community: Themes in John E.
Smith’s Reconstruction of Philosophy. Cambridge, U.K. 2011, pp. 171–194. It should
be added that Erich Rothacker delivered five lectures at the University of Istanbul in
1950 titled, »Geschichtliche Entwicklung und geschichtliche Krisen« (see Perpeet: Bib-
liography Erich Rothacker. Bonn 1968, p. 108); also Joachim Ritter spent some time,
during the 1950s in Turkey, as well as the sociologist Hans Freyer with whom the young
Habermas discussed his Turkey experience, as related in the latter’s Merkur, March
1956, Essay. A former Turkish colleague at METU in Ankara, Professor emeritus Teo
Grünberg, related stories to me about some German exile scholars in Istanbul, as well as
the philosophers Hans Reichenbach and Ernst von Aster. Prof. Grünberg’s uncle, on his
mother’s side, Dr. David F. Markus, wrote his Dissertation under Benno Erdmann with
the topic, Die Associationstheorien im XVIII. Jahrhundert und Ihre Geschichte«. Bonn
Diss. 1901. As we can see this Turkish connection has been much neglected and should
be addressed in terms of cultural dialogue and multiculturalism.
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Entgegung auf Ernest Wolf-Gazo
Weimar did not materialize. In fact the Bonn Republic was a great suc-
cess story of Germany and Europe. Habermas and his generation
should accept some credit for this success story and the fact that he
was honored, globally, tells us that it was the recognition of a job well
done – rejoining and integrating into civilization. In his Dissertation,
dealing with the importance of the introduction of »Du« in the com-
municative act by Ludwig Feuerbach, young Habermas writes, »Alle
Ideen entspringen aus der Kommunikation der Menschen untereinan-
der.« 48 Indeed, in March 1998, during his visit to Cairo, near Tahrir
Square, an Egyptian student asked the professor emeritus Habermas,
after delivering a lecture as to what we can learn from disasters, about
personal identity, considering the fragile national identities of coun-
tries in the Middle East, he replied in German, »Ich bin Rheinländer«.
This former overseas student, now an expat professor in philosophy,
sitting next to him at the podium, as his host, could not help breaking
into a big smile, thinking about Bonn.
48 Cf. Habermas: Das Absolute und die Geschichte. A. a. O. (cf. cf. Fn. 22), p. 66.
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Entgegung auf Ernest Wolf-Gazo
sung, für die die Rückkehr zum Marx meiner Schulzeit eine doppelte
Bedeutung hatte. Zum einen hat mich der ansteckende, vom Aktuali-
tätsbewusstsein geprägte Denkstil der Junghegelianer 1953 dazu er-
muntert, zwischen meinen bis dahin parallel nebeneinander herlaufen-
den philosophischen und politischen Überzeugungen eine Verbindung
herzustellen. Zum anderen hat die Lektüre der Marx’schen Frühschrif-
ten – die übrigens auch für viele meiner Generationsgenossen unter
den späteren Kollegen, beispielsweise für Dahrendorf oder Popitz ty-
pisch war – den Weg von der Philosophie zur Soziologie geebnet. Die
zufällig zustande kommende Begegnung mit Adorno war nur noch der
Auslöser für die Abwendung von der Philosophie und hin zu Sozio-
logie und Gesellschaftstheorie, eine Umorientierung, die ich damals
für definitiv gehalten habe.
Als ich dann aber von Gadamer 1959 nach Heidelberg eingeladen
wurde, ohne zu wissen, dass ich für die Besetzung eines Extraordinari-
ats »vorsingen« sollte, habe ich auf Schelling zurückgreifen müssen,
denn ich hatte den Kontakt zur Philosophie verloren und musste aus
der Not eine Tugend machen. Inzwischen hatte ich Blochs Das Prinzip
Hoffnung kennengelernt und auch bei Adorno und Marcuse die tiefen,
wenn auch verdeckteren Spuren entdeckt, die die Vorstellung der Re-
surrektion der gefallenen Natur bei ihnen allen hinterlassen hatte. Vor
diesem Hintergrund hat mir die Notwendigkeit einer retrospektiven
Anknüpfung an das Thema meiner Dissertation erst jene untergründi-
ge Traditionslinie eines auf Emanzipation gerichteten materialistisch-
naturphilosophischen Denkens zu Bewusstsein gebracht, die von Jakob
Böhme über Baader und Schelling bis zu Marx und vielleicht sogar bis
zu Freud reicht. Auch das hat Ernest Wolf-Gazo ausgegraben. Am Ende
weist er auch noch auf mein durchgängiges Interesse an philosophi-
scher Anthropologie und auf einen von Rothacker beeinflussten inter-
disziplinären Denkstil hin. Mit diesem Fokus auf die weiterwirkenden
Motive aus der Bonner Studienzeit stellt er allerdings mein Selbstver-
ständnis, wonach der Wechsel von Bonn nach Frankfurt eine tiefere
Zäsur darstellt, auf die Probe.
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Klaus Erich Kaehler
Die Erste Philosophie der Neuzeit von Descartes bis Hegel steht in
einer engen, nämlich kritischen Kontinuität mit der Moderne, die als
»nachmetaphysisches Denken« die Moderne in singulärer Bedeutung
ist. Lässt sich für die Philosophie der Neuzeit ein Zusammenhang stif-
tendes Prinzip ausmachen und ausweisen, nämlich das Prinzip Subjekt,
so muss dieses auch den kritischen Leitfaden durch den philosophi-
schen Diskurs der Moderne bilden können. Dass dies so sei, ist meine
grundlegende These. Deren inhaltliche Füllung und Rechtfertigung hat
zu viele Aspekte, als dass ich sie hier kohärent vortragen kann. Worauf
es aber zuerst ankommt, ist, den Bruch der Moderne (im engeren Sin-
ne) mit der Metaphysik der Neuzeit philosophisch zu rechtfertigen,
und zwar gerade aus deren eigener Vollendungsgestalt bei Hegel; mit
anderen Worten: eine philosophische Begründung und Genese von
Moderne wenigstens zu umreißen, um dadurch einen philosophischen
Begriff derselben – im Sinne nach-metaphysischen Denkens – zu ge-
winnen.
In dieser genetischen Begründung der Moderne aus einer imma-
nenten Krisis von Vorgängerpositionen – und zwar hier mittelbar einer
ganzen Kette solcher Positionen unter dem Namen ›Metaphysik‹ –
liegt eine reflektierte Rückbindung an das, was in der Philosophie
schon getan ist und dem von einem späteren Rezipienten, unabhängig
von dessen historischem Standort, die »Authentizität einer vergange-
nen Aktualität« 1 zuerkannt werden kann. Vergangen ist die Aktualität
allerdings nur im historischen Sinne, philosophisch bedeutet das Ver-
gangensein nur, dass es kein letztes Wort war, was eine solche Philoso-
phie zu sagen hatte. Darin aber bleibt sie authentisch als philosophi-
scher Wahrheitsanspruch mit und in ihrem bestimmten Sinnentwurf
und -zusammenhang.
1 Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Leipzig 31994, S. 34.
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Klaus Erich Kaehler
2 Hierzu sei der Hinweis erlaubt auf mein Buch Das Prinzip Subjekt und seine Krisen.
Selbstvollendung und Dezentrierung. Freiburg/München 2010.
3 S. dazu ausführlich ebd., Abschnitt D.I.
4
– jedenfalls gemäß einer Rekonstruktion, die sich streng an das in der Philosophie
schon Getane hält und eine (Re-)Aktualisierung älterer Positionen nicht dadurch er-
kauft, dass sie deren innersystematische Zusammenhänge und Begründungen soweit
wie möglich außer Betracht und Geltung hält.
374
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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne
5 Dieser Begriff stützt sich nicht auf alltägliche oder sozialwissenschaftliche Befunde,
die abstrahiert sind von zeitgenössischen Phänomenen der Alltagswelt, wenngleich er
auf diese zutrifft. Vielmehr soll der Begriff ›dezentriertes Subjekt‹ eingeführt werden
als grundbegriffliche Fassung des Resultats einer innerphilosophischen Krisis, die das
Subjekt als Prinzip der neuzeitlichen Metaphysik insgesamt betrifft.
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Klaus Erich Kaehler
6 In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe.
Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva
Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969 ff. Im Folgenden zitiert
mit Angabe der Bandzahl. Seitenzahl.
7 Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 7.26.
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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne
8
Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 2.20 ff.
9 Siehe Phänomenologie des Geistes, »Vorrede«, Abs. 26 (im Folgenden zitiert als
PhG), in: Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 3.30.
10 So sagt Hegel in Bezug auf die Philosophiegeschichte: Ȁlteres ist zu ehren, seine
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Klaus Erich Kaehler
Notwendigkeit, dass es ein Glied in der heiligen Kette ist, aber auch nur ein Glied. Die
Gegenwart ist das Höchste.« (Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 20.456).
11 Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 1.104 ff., bes. 108, 219 ff.
12 Die zeitgeschichtlichen Diagnosen und Kritiken sind als Motive für die Entwicklung
des Hegel’schen Denkens nicht zu leugnen, aber ihre philosophische Berechtigung und
Bedeutung erhalten sie doch – gemäß Hegels eigener Intention und Einschätzung – nur
in der systematisch zu entwickelnden Begrifflichkeit, auf die er in der Jenaer Zeit un-
verkennbar hingearbeitet hat.
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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne
endung, nicht aber der »erste Versuch«, den Geist der Neuzeit auf den
Begriff zu bringen, vielmehr die Vollendung derselben Sache und Auf-
gabe, für die auch die Kritisierten gearbeitet haben. Einen Anfang darin
zu sehen, heißt, was vor Ort eine Vollendung war, bereits aus einer
ganz anderen Perspektive zu sehen, und zwar im Blick auf etwas erst
zu Entwickelndes, dessen adäquater Begriff noch nicht gefunden ist.
Darauf werde ich im zweiten Teil zurückkommen.
Die Epoche aber, deren Vollendungssinn Hegel seine philosophi-
sche Aufgabe entnimmt, schließt sich für ihn in der Idee der Philo-
sophie als absoluter Wissenschaft. Dieses Selbstverständnis wird aller-
dings erst mit der Phänomenologie des Geistes manifest und darstel-
lungsfähig. Wenn Habermas zu Recht feststellt: »Hegel operiert in
seinen frühen Schriften mit der versöhnenden Kraft einer Vernunft,
die sich nicht bruchlos aus Subjektivität herleiten lässt« (DM 39), so
wird doch diese Differenz von endlicher Subjektivität und Vernunft
schon in den Jenaer Schriften seit 1801 zunehmend systematisch auf-
gehoben, indem er sie als Ausdruck einer untergeordneten, unselbstän-
digen Stufe begreift. Allerdings hat Hegel erst am Ende seiner Jenaer
Entwicklung, also in der PhG, die Subjektivität selbst als das Wesen der
Vernunft begriffen. Darauf beruht, dass er in Aussicht stellt, die Phi-
losophie »dem Ziele« näher zu bringen, »ihren Namen der Liebe zum
Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein« (»Vorrede«,
Abs. 5/ 3.14). Der systematische Grundbegriff für die Darstellung die-
ser »Wirklichkeit« des Wissens aber wird erst jetzt der Begriff des Sub-
jekts.
Es ist doch höchst bemerkenswert, dass Hegel im Abs. 25 der
»Vorrede« zum ersten Mal (in diesem Text) den Begriff des Geistes
einführt – immerhin den Begriff, von dessen »Erscheinung« das ganze
Werk handeln soll –, und dass er diesen Grundbegriff des Geistes noch-
mals vorbereitet durch eine umfangreiche Explikation der Momente
und Konsequenzen des Subjekts bzw. der These, das Wahre sei »nicht
als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und aus-
zudrücken« (Abs. 17/ 3.23). Worum es wesentlich geht, ist, alles Wer-
den, somit Veränderung und Entwicklung durchgängig als die Negati-
vität »eines und desselben« zu denken und darzustellen, denn dieses
Selbe »muss sich verschieden gestalten« (Abs. 15/ 3.21), so dass es als
»sich vollendende[s] Wesen« erst »das Ganze« und als solches »Resul-
tat«, also erst »am Ende das ist, was es in Wahrheit ist« (Abs. 20/ 3.24).
Diese absolute, weil selbstbezügliche, Negativität aber ist die Wirklich-
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Klaus Erich Kaehler
keit des Subjekts und dessen begrifflich bestimmte Entwicklung ist die
innerphilosophische Aufgabe, die Hegel 1807 vor sich sieht und kon-
zipiert. Aus dieser Subjektivität entwickelt Hegel die Grundbestim-
mungen seiner spekulativen Philosophie; bzw. der »Natur« des »Erken-
nen[s] der absoluten Wirklichkeit« (Abs. 16/ 3.22), nämlich dass dieser
die Vermittlung und Reflexion immanent sei, weil sich allein dadurch
das Wesen als selbstbewusste Vernunft und als Selbstbewegung der
Form realisiere; dass diese Entwicklung aber die Selbstentfaltung sei,
die in ihrer Unmittelbarkeit bereits die Negativität des Werdens habe,
die »Unruhe«, welche das Selbst ist (Abs. 22/ 3.26); so dass, auf das
immanente Telos der vollkommenen Selbstverwirklichung bezogen,
die Vernunft »das zweckmäßige Tun« (ebd.) ist, sowie schließlich dieses
Verwirklichen als Sich-Wissen ein in sich geordnetes Ganzes oder Sys-
tem des Wissens sein muss – und dies alles: »Dass das Wahre nur als
System wirklich, oder dass die Substanz wesentlich Subjekt ist«, fährt
Hegel fort, »ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als
Geist ausspricht, – der erhabenste Begriff, der der neuern Zeit und
ihrer Religion angehört.« (Abs. 25/ 28) 13
Welche Philosophie daraus wurde, ist (zumindest nominal) be-
kannt: Zunächst die Darstellung des »erscheinenden Wissens«, die zu-
gleich – von unten – die Bildung des Bewusstseins, der »absoluten
Form« (Abs. 26/ 3.30 ob.), zu seinem an und für sich wahren Inhalt ist;
dann, vom Resultat dieser Darstellung aus, dem »in Geistsgestalt sich
wissenden Geist« (3.582), die Entwicklung der »reinen Wesenheiten«
(5.17), des Logos in ihm selbst, dessen Realität seine Bestimmtheit ist;
dann darüber hinaus die absolute Entäußerung dieses in sich vollende-
13 So aber ist das Subjekt nicht nur der endliche Pol zu einer selbständig entgegenste-
henden anderen Realität (wie im Bewusstseinverhältnis, als das der Geist erscheint),
sondern dem zuvor in der Tat »der vermittelnde Prozess der sich bedingungsfrei pro-
duzierenden Selbstbeziehung« (DM 46). Da jedoch diese Selbstbeziehung in ihrer Tota-
lität die Form des Sich-Wissens hat, ist sie Geist: Subjekt in absoluter Bedeutung; und
so ist dies Hegels entwickelter Begriff des »Absoluten«. Statt wie Habermas (mit Dieter
Henrich) sagt, das Absolute sei »weder Substanz noch Subjekt« (ebd.) – wobei dann
›Subjekt‹ nur das endliche sein kann –, wäre zu sagen, es sei sowohl Substanz als auch
Subjekt, allerdings so, dass dieses »die entwickelte, wahrhafte Wirklichkeit« der Sub-
stanz ist (Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. Anm. 6). 8.368, im Folgenden zitiert als
Enzyklopädie § 213 Anm.), wie die schon herangezogenen Absätze 17–26 der PhG (von
1807) auch bereits unmissverständlich ausgeführt haben. Zu diesem übergreifenden
Begriff des Subjekts s. auch Enzyklopädie § 213, Ende der Anm., § 215 und Anm., Vor-
lesungen über die Ästhetik I: 13.129 (u. a.).
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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne
ten Logos, der »absoluten« logischen Idee – ihr Außersichsein als Na-
tur und die stufenweise Aufhebung dieses äußeren Unterschieds durch
seine Transformation in die Unterscheidungen in sich, welche die be-
stimmten Begriffe sind, in denen die Idee sich als das Wahre in allem
bewährt. 14 – Wie weit all dies von irgendeinem Selbstverständnis der
Moderne entfernt ist, ist wohl unübersehbar, und doch sind wir nun an
dem Punkt, von dem aus die eingangs erwähnte kritische Kontinuität
zwischen Moderne und Philosophie der Neuzeit zu zeigen wäre. Der
Ort dieses negativen Zusammenhangs aber liegt in der endogenen Kri-
sis des absoluten Subjekts, deren Grundzüge nun kurz darzulegen sind.
II. Die endogene Krisis des absoluten Subjekts und das Prinzip
des nach-metaphysischen Denkens
Gehen wir sogleich von der Feststellung über das Ganze aus, dass die in
Hegels »System der philosophischen Wissenschaften« beanspruchte
Wahrheit als Wirklichkeit des Sich-Wissens des absoluten Geistes in
Allem sich verschließt gegen ihren Unterschied im Ganzen. Dieser Un-
terschied tritt hervor, wenn wir die interne Negativität der logischen
Idee in sich unterscheiden von der externen auf dem Felde ihrer Ent-
äußerung, d. h. der Realphilosophie. In der internen Negativität (des
reinen Begriffs, d. h. in der Wissenschaft der Logik) wird jede Differenz
gesetzt als Grenze des je bestimmten Begriffs und aufgehoben in einen
neuen, höheren Begriff; in der externen Negativität hingegen tritt die
Differenz grundsätzlich hervor als Äußerlichkeit der in sich vollende-
ten logischen Idee insgesamt. Die »realphilosophischen« Aufhebungen
dieser Äußerlichkeit, dieser Indifferenz gegen die Bestimmtheit des
Begriffs, lassen auf jeder Stufe (von der Natur bis zum absoluten Geist)
qualitative Reste zurück, die unter dem spekulativen Wahrheits-
anspruch für »nichtig« zu halten sind – sie machen für die Wahrheit
aus dem Begriff keinen Unterschied, sind somit wahrheitsindifferent;
und dennoch sind sie nicht »nichts«, sondern werden sogar als ein dem
14 So kann Hegel für den Geist, als die in Allem sich setzende und bewährende Idee,
sagen: »[…] die Kraft des Geistes ist […], in seiner Entäußerung sich selbst gleich zu
bleiben […]« (3.588). Das »Alles«, worin die Idee sich zu setzen und zu bewähren hat,
ist hierbei keine fremde Vorgabe, sondern es ist nur da unmittelbar als die äußere, des-
halb negative Kehrseite der in sich vollendeten logischen Idee.
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Klaus Erich Kaehler
15 Dazu sei verwiesen auf Verf. 2010 (s. Anm. 2), S. 697–738.
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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne
16 Enzyklopädie § 250: »Es ist die Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur
abstrakt zu erhalten und die Ausführung des Besonderen äußerer Bestimmbarkeit aus-
zusetzen.« (9.234).
17 Davon zeugt nicht nur die gesamte Phänomenologie des Geistes, die auf jeder Stufe
eine zunächst als positiv genommene Realität in einer »Gestalt des Bewusstseins« vo-
raussetzt, sondern auch die Realphilosophie der Enzyklopädie, in der bereits zu Beginn
(§ 1) darauf hingewiesen wird, dass »der denkende Geist sogar nur durchs Vorstellen
hindurch und auf dasselbe sich wendend zum denkenden Erkennen und Begreifen fort-
geht«.
18 Vgl. dazu Verf.: »Die Positivierung des Nichtigen. Hegel, Feuerbach und das dezen-
trierte Subjekt der Moderne«. In: Dirk Westerkamp/Astrid v. d. Lühe (Hrsg.): Meta-
physik und Moderne. Ortsbestimmungen philosophischer Gegenwart (Festschrift für
Claus-Artur Scheier). Würzburg 2007, S. 177–193; sowie ders.: »Das Unendliche im
Endlichen. Feuerbachs anthropologische Verkehrung des spekulativen Wahrheits-
anspruchs«. In: Claudia Bickmann et al. (Hrsg.): Religion und Philosophie im Wider-
streit? Amsterdam/New York 2008, S. 93–102.
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Klaus Erich Kaehler
19 »Die Junghegelianer« »klagen das Gewicht der Existenz ein« (DM 68). Indem sie
damit – dies ist ein Ausdruck für die »Positivierung des Nichtigen« – grundsätzlich
den Bannkreis des Subjekt-Prinzips als Prinzip der Ersten Philosophie verlassen, ist
der verbleibende »Hegelianismus« auch nur eine Täuschung – für ein »radikal [!] ge-
schichtliches Denken«, das meint, »den nun disponibel gewordenen Reichtum an Struk-
turen« und »Hegels Differenzierungsgewinne« für sich »fruchtbar machen« zu können,
fällt die letzte und höchste Begründung dieses »Geistes der Welt«, dessen Entwicklung
in der Zeit die menschliche Geschichte ist, weg – die Begründung in seiner eigenen
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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne
Absolutheit, dem begreifenden Denken, welches die Zeit tilgt (PhG, 3.584, auch 590 f.).
Damit bleibt solche Philosophie unhintergehbar »auf dem Boden der Endlichkeit« (Enz.
§ 483). Dies aber ist in der Tat der »Boden« der Moderne.
20
Es liegt bereits in der Konsequenz der naturalistischen Anthropologie Feuerbachs, die
eigentliche Qualität des existenziellen Subjekt-Seins als Besonderheit des Lebewesens
Mensch evolutionstheoretisch einzuordnen, wie es der Einseitigkeit entspricht, die sich
aus dem Primat der ursprünglichen Naturalität des Subjekts ergibt.
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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne
23 Dazu: TWI.
387
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24 Deshalb stellt Habermas allgemein fest: »Die Regeln kommunikativen Handelns ent-
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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne
Im Blick auf Marx wird also deutlich, dass die – von Marx voll-
zogene – völlige Integration der Dimensionen des dezentrierten Sub-
jekts in die eine, wenngleich konkreteste, nämlich die Sozialität, wie-
derum der Gefahr unterliegt, zu einer Verkürzung bzw. Verzerrung der
Naturalität einerseits und der Individualität andererseits zu führen.
Abgeblendet wird zum einen die elementare Unverfügbarkeit der Na-
tur, die immer nur partiell und temporär »gestellt« und angeeignet, auf
Zwecke hin rationalisiert werden kann; und zum anderen, für die in
einer kosmischen Gegenwart je gerade lebenden Menschen noch fol-
genreicher: die unableitbare Qualität des konkreten, existenziellen
Subjektseins kann und muss mit dem Gefüge der Intersubjektivität
nur noch vorausgesetzt werden. Ihre Erklärung aus der Dimension
der Sozialität bleibt von Grund auf defizitär, weil sie nur ontogenetisch
das faktische Erwachen des Selbstbewusstseins und die »Indivi-
duierung durch Vergesellschaftung« (ND 187 ff.), nicht aber die ur-
sprüngliche Vollzugsweise individueller Existenz selbst – mit Husserl
gesprochen: das »Eigenwesentliche des Psychischen« 25 – erreicht. Diese
phänomenologisch aufweisbare Differenz ist in der Tat mitkonstitutiv
für das Prinzip dezentrierter Subjektivität, demzufolge ja alle drei Di-
mensionen gleichberechtigt und in ihrer qualitativen Verschiedenheit
gleichursprünglich zu realisieren und zu erfüllen sind. Wegen der pe-
rennierenden Differenz kann keine Dimension die anderen ohne Rest
integrieren, wenngleich die Sozialität von sich aus, in allen ihren
Strukturen, die beiden anderen in höherem Maße als umgekehrt ideell
wie reell zu bestimmen vermag. Doch aufgrund der ursprünglichen
Irreduzibilität jeder Dimension muss auch der Sozialität aus den beiden
anderen Dimensionen, der Naturalität und der Individualität, bestän-
dig qualitativ irreduzible Realität zuwachsen, da sie nicht wie der he-
gel’sche Geist sich dirimiert in seine besonderen Sphären, sich nicht in
sich besondert wie das spekulativ Allgemeine, kurz: da die Sozialität als
wickeln sich wohl in Reaktion auf Veränderungen im Bereich des instrumentellen und
strategischen Handelns, aber sie folgen dabei einer eigenen Logik.« (RHM 163) Daraus
folgt, in Bezug auf Marx (und die an ihn anschließende »Praxisphilosophie«) die Kritik,
dass die gesellschaftliche Praxis nicht »primär als Arbeitsprozess« zu denken sei (DM
396), weil nicht zu erklären sei, wie »die emanzipatorische Praxis aus der Arbeit selbst
[…] hervorgehen« kann (DM 82).
25 S. Edmund Husserl: Phänomenologische Psychologie. Husserliana Bd. IX, Den Haag
1968, § 24 (S. 140); Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die trans-
zendentale Phänomenologie. Husserliana Bd. VI, Den Haag 21962, § 78 (S. 261); u. ö.
389
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Klaus Erich Kaehler
»Welt des Menschen« 26 keine metaphysische Entität ist, sein kann, sein
darf. Es gibt keinen Ersatz für die substantielle sittliche Totalität, wenn
deren absolutes Zentrum auf dem Felde seiner Entäußerung, im End-
lichen, Zufälligen und Besonderen, als einer eigensinnigen Wirklich-
keit, die ihm immer auch unangemessen ist, seine Macht verloren
hat. 27
Aus dieser sowohl prinzipiell einsehbaren als auch phänomenolo-
gisch sich zeigenden Differenz entspringt insbesondere die Problematik
des von Habermas kritisierten Marx’schen Konzepts der Gattung, das
bereits Feuerbach eingeführt hat. Denn hier zeigt sich, trotz schein-
barer Nähe, die Differenz zum Hegel’schen Geist als absolutem Zen-
trum, das der absolute produktive Grund von allem, zumindest dem
Sein nach, wenngleich nicht aller Bestimmtheit des Seienden, ist.
Wenn Habermas es kritisiert, dass Marx die Gattungsgeschichte letzt-
lich als Selbsterzeugungsprozess auffasst und darstellt, so kritisiert er
damit zurecht den Versuch, ein materielles Makrosubjekt äquivalent an
die Stelle des hegel’schen Geistes zu setzen. Doch die Stoßrichtung
seiner Kritik geht nur dahin, dass Marx sich damit »dem hegelschen
Totalitätsdenken nicht entzogen« habe (DM 396) und dass er, wie
Hegel, den »grundbegrifflichen Zwängen der Subjektphilosophie« er-
liege (DM 79).
Nun kann jedoch die Marx’sche Position schwerlich als Subjekt-
philosophie bezeichnet werden, wenn darunter eine »Fortsetzung des
hegelschen Projekts« (DM 75) verstanden werden soll. Was bei Hegel
als »Projekt« zu finden sein sollte, ist sicherlich bereits durch ihn selbst
systematisch erledigt worden. Für die Marx’sche Position aber kommt
Subjektivität schon prinzipiell nur noch in ihrer nach-metaphysischen
Neubestimmung in Betracht, also vor allem als unüberwindlich end-
liche. Doch gerade bei Marx wird vom eigentlich subjektiven Element
in allen gesellschaftlichen Verhältnissen, ihren Konflikten und Krisen
abgesehen. Die sich selbst wissende und bestimmende Subjektivität
390
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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne
28 Vgl. DM 306 f., 323, 341, 344 f., 369, 376 (u. a.).
29
Vgl. DM 391 (unten): Dies sollten die »Konnotationen« sein, »die die Subjektivität
einst als uneingelöstes Versprechen mit sich geführt hatte«.
391
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Klaus Erich Kaehler
allein eine Philosophie der Moderne handeln kann, immer schon vo-
raus ist. 30
30
Das gilt nicht nur für die ältere Tradition der Ersten Philosophie, sondern auch (noch)
für die kantische Vernunft, deren »Gesetzgebungen« für Natur und Freiheit »auf dem
Boden der Erfahrung« (s. Kritik der Urteilskraft, Einl., II. Abschnitt) nicht durch
menschliche Kommunikation und Praxis erst konstituiert werden können, sondern
dem Menschen schon »vor aller Erfahrung« zeigen sollen, »was« er in der Erfahrung
ist bzw. sein soll.
31 Dies ist es, was Theodor W. Adorno dem idealistischen Subjekt- bzw. Geistbegriff als
physik bis Hegel, wobei die erste noch in der objektiven Metaphysik verbleibt, deren
Subjekt insofern noch zweideutig ist, als es sowohl der selbstreflexive Ort der Erkennt-
nis als auch ein besonderes Seiendes und als solches bloßes Objekt der Erkenntnis ist,
das nicht methodisch immanent gewonnen werden kann, sondern nur als gegeben vo-
rauszusetzen ist. Das spekulativ-absolute Subjekt hingegen bringt im absoluten Selbst-
erkennen als Setzen des Endlichen seine eigene Objektivität immanent hervor. Es ist
deshalb metaphysisch im methodischen und realen Sinne.
392
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Hegel, Marx und das Subjekt der Moderne
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Klaus Erich Kaehler
jektiven Dimension an den Grundzügen und Strukturen der Intersubjektivität bei Ha-
bermas tatsächlich als eine Kritik verstanden werden muss, oder ob damit nicht eigent-
lich nur geltend gemacht wird, was ohnehin in der Theorie des kommunikativen
Handelns impliziert ist, aber in den meisten Texten von Habermas kaum thematisiert
wird, da diese das Verhältnis von Individualität und Sozialität überwiegend (gemäß dem
»Paradigma der Verständigung«) von der Seite der Intersubjektivität angehen und dar-
stellen – von der aus zwar überhaupt erst irgendetwas thematisiert werden kann, das
dennoch nicht in diesem intersubjektiv geregelten Verfahren der sprachlichen Thema-
tisierung erst erzeugt werden muss. Deshalb darf auch der Intersubjektivität kein Pri-
mat eingeräumt werden. Insofern scheint hier nach dem Kriterium des Prinzips des
dezentrierten Subjekts doch eine letzte Einseitigkeit vorzuliegen, denn dieses verlangt
mit der konstitutiven Gleichursprünglichkeit von Naturalität, Individualität und Sozia-
lität (des Subjekts) auch deren strenge Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung. Dem
entspricht die Grundthese von Henrich in dieser Frage (in: »Was ist Metaphysik – was
Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas«. In: Konzepte. Frankfurt a. M. 1987,
394
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Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler
Ich bin Klaus Erich Kaehler sehr dankbar für eine produktive Gegen-
lektüre zu der Stellung, die ich Hegel im historischen Zusammenhang
des Philosophischen Diskurses der Moderne eingeräumt habe. Im sach-
lichen Ergebnis stimmen wir überein, freilich nicht in der Herleitung
und der begrifflichen Fassung dieses Resultats. Kaehler gelangt auf
dem Wege einer immanenten Kritik Hegels zu jenem Argument, das
zum Bruch der Junghegelianer von ihrem Lehrer und damit zum
»Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts« (Löwith) geführt hat. Was
die Junghegelianer zu unseren Zeitgenossen macht, ist der Respekt
des endlichen Geistes vor dem kontingenten und nur erfahrungswis-
senschaftlich zugänglichen »Rest«, den die »Differenz von spekulativ
S. 11–43): »[…] dass sich die Sprachfähigkeit nur in einem mit dem spontanen Hervor-
gang von Selbstverhältnis entfalten kann« (a. a. O., S. 35). Mir scheint allerdings, dass
dies nichts ist, was Habermas unbedingt bestreiten müsste, wenngleich er es selten so
deutlich ausdrückt wie im folgenden Satz: »Die Identität vergesellschafteter Individuen
bildet sich zugleich im Medium der sprachlichen Verständigung mit anderen und im
Medium der lebensgeschichtlich-intrasubjektiven Verständigung mit sich selbst.« (In:
»Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu George Herbert Meads Theorie der Sub-
jektivität« (s. Anm. 34), S. 191). Das ist strenge Reziprozität und zugleich verschiede-
ner, qualitativ irreduzibler Vollzug beider Seiten! Formell gesagt: Sie bilden füreinander
wechselseitig notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen.
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Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler
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Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler
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Entgegnung auf Klaus Erich Kaehler
geschichtlich die spezifische Leistung ins Spiel, mit der sich Hegel ge-
genüber Kant profiliert. Er gehört nach Hamann und Herder und mit
Humboldt und Schleiermacher zu den ersten, die das neue historische
Denken philosophisch ernstnehmen. Hegel ist der erste Philosoph, der
systematisch die von den entstehenden Geistes- und Sozialwissen-
schaften erforschten Objektbereiche von Kultur und Gesellschaft, also
die Welt der Symbole und sprachlich vermittelten Interaktionen in die
Entwicklung des »sich selbst bewegenden« Geistes einbezieht. Das be-
deutet eine Transformation der Erkenntnistheorie in eine ganz neue
Philosophie des Geistes und die Erweiterung der klassischen Themen
der Philosophie um die Aufgabe einer Selbstverständigung der Moder-
ne. Dem entspricht Hegels Unterscheidung der »neuen« von der »neu-
esten Zeit«. In diesen Hinsichten geht Hegel über Kant wesentlich
hinaus. Aber in anderer Hinsicht will Hegel hinter diesen ersten nach-
metaphysischen Denker zurückgehen, weil er das – aus nachmetaphy-
sischer Sicht verstiegene – Ziel hatte, die Subjektphilosophie der Neu-
en mit der Ontologie der Alten zusammenzuführen. Deshalb scheint
mir die lineare Konstruktion der neueren Philosophiegeschichte, die
Klaus Erich Kaehler anbietet – vom metaphysischen über das transzen-
dentale zum spekulativen Subjekt – die wirklichen Schübe in der Ge-
schichte des modernen Denkens eher einzuebnen. Kant markiert die
Wende zum nachmetaphysischen Denken; und diese wird, nachdem
Hegel für die Einholung des historischen Denkens einen überschwäng-
lichen Preis bezahlt hatte, von den Junghegelianern (einschließlich der
amerikanischen Pragmatisten) – allerdings auf einem von Herder, Ha-
mann und Humboldt vorbereiteten Boden – vollzogen. Als ein Paradig-
menwechsel erscheint diese Revolution der Denkungsart allerdings
erst aus der Retrospektive des 20. Jahrhunderts.
398
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3
Ders.: Theorie des kommunikativen Handelns II.
4 Charles Bright/Michael Geyer: »Benchmarks of Globalization: the Global Condition,
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Hauke Brunkhorst
Weil alles Evolution ist, kennen die Erfinder des Historischen Materia-
lismus nur eine »einzige Wissenschaft«, »die Wissenschaft der Ge-
schichte«. 5 Aber die verschiedenen Disziplinen beziehen sich auf sehr
verschiedene Antriebsmechanismen und Emergenzniveaus der Evolu-
tion. Schon für Marx gilt Parson’s Diktum, in der sozialen Evolution
habe die Variation symbolischer Formen die genetische Variation er-
setzt und die organische Evolution in die Umwelt des Gesellschaftssys-
tems abgedrängt. 6
Der Antriebsmechanismus der sozialen Evolution ist bei Marx das
Wachstum der Produktivkräfte. Er kennt aber noch einen zweiten An-
triebsmechanismus, den Klassenkampf, den er in einem so weiten Sinn
versteht, dass »alle Geschichte« als »die Geschichte von Klassenkämp-
fen« begriffen werden kann. 7 Dieser weite Sinn von Klassenkämpfen ist
auch bei Marx, das zeigen seine historischen Arbeiten, der eines inte-
ressegeleiteten Konflikts um Normen und Werte. 8 Aber Marx neigt
dazu, den grundlegenden Unterschied zu verwischen und dem Klassen-
kampf die rein instrumentelle Rolle eines revolutionären Geburtshel-
fers kräftig wachsender Produktivkräfte zu reservieren. Das Wachstum
der Produktivkräfte ist dann die Quelle von Variation, der Klassen-
kampf der Selektionsmechanismus. Deshalb erklärt Marx den take-off
der sozialen Evolution durch Arbeit, also dadurch, dass instrumentelles
und strategisches Handeln durch soziale Interaktion gelernt werden.
Aber genau das können, wie Tomasellos Untersuchungen zeigen, auch
große Affen – »(They) learn instrumental actions from others socially« 9
400
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Marxismus und Evolution
10 A. a. O., S. 213; vgl. a. Tomasello: Why We Cooperate. Cambridge 2009, S. 23, 25 f.,
zur Kritik: Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs
zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a. M. 1988, 388–390.
401
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Hauke Brunkhorst
19
Marx: Das Kapital. Bd. I. MEW 23.
20 Eder: »Collective Learning Processes and Social Evolution«. A. a. O. (s. Anm. 7).
402
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Marxismus und Evolution
Anders als Marx muss man den Klassenkampf mit Klaus Eder deshalb
als eigenständige, vom Wachstum der Produktivkräfte unabhängige
Quelle evolutionären Wandels verstehen. 22 Ein und dieselbe Evolution
wird von zwei sehr verschiedenen Mechanismen evolutionären Wan-
dels fortgetrieben. Diese Unterscheidung lässt sich an jüngere, wenn
auch noch sehr umstrittene Entwicklungen des Neo- und Postdarwi-
nismus anschließen. 23 Einmal gibt es wie in der klassischen Theorie
natürlicher Selektion auch in der Gesellschaft adaptiven, inkrementel-
21 Vgl. Brunkhorst: »Contemporary German Social Theory«. In: Gerard Delanty (Hg.):
Handbook of Contemporary European Social Theory. London/New York, S. 51–68.
22 Eder: »Collective Learning Processes and Social Evolution«. A. a. O. (s. Anm. 7),
S. 23.
23 S. nur Ernst Mayr: »Speciational Evolution or Punctuated Equilibria«. In: Albert
Somit/Steven A. Peterson (Hg.): The Dynamics of Evolution. Ithaca (New York) 1982,
S. 21–48 (http://www.stephenjaygould.org/library/mayr_punctuated.html); Niles El-
dredge/Stephen Jay Gould: »Punctuated equilibria: an alternative to phyletic gradual-
ism«. In: T. J. M. Schopf (Hg.), Models in Paleobiology. San Francisco 1972, S. 82–115
(http://www.blackwellpublishing.com/ridley/classictexts/eldredge.pdf); Stephen Jay
Gould/Richard C. Lewontin: »The Spandrels of San Marco and the Panglossian Para-
digm: A Critique of the Adaptationist Programme«. In: Proceedings of the Royal Socie-
ty of London. Series B, Biological Sciences, Vol. 205, No. 1161, The Evolution of Adap-
tation by Natural Selection. (Sep. 21, 1979), S. 581–598 (http://www.life.illinois.edu/ib/
443/Gould%20&%20Lewontin.pdf); Gould: »Episodic change versus gradualist dog-
ma«. In: Science and Nature 2 (1978), S. 5–12; Gould: The Structure of Evolutionary
Theory. Cambridge 2002; Connie J. G. Gersick: »Revolutionary Change Theories: A
Multilevel Exploration of the Punctuated Equilibrium Paradigm«. In: The Academic
Management Review 16 (1991), S. 10–36; Gisela Kubon-Gilke/ Ekkart Schlicht: »Ge-
richtete Variationen in der biologischen und sozialen Evolution«. In: Gestalt Theory 20
(1998), S. 48–77, hier S. 68 (www.semverteilung.vwl.uni-muenchen.de); Quentin D.
Atkinson/Andrew Meade/Chris Venditti/Simon J. Greenhill/Mark Pagel: »Languages
evolve in punctual bursts«. In: Science 319 (2008), S. 588; Thomas S. Kuhn: Die Struk-
tur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 1967; Imre Lakatos: The Metho-
dology of Scientific Research Programmes. Philosophical Papers V.I. London 1974.
403
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Hauke Brunkhorst
len oder graduellen Wandel durch soziale Selektion. Er kann durch das
Wachstum der Produktivkräfte bzw. allgemeiner durch das Wachstum
der Systemkomplexität erklärt werden. Aber schon für Darwin war
natural selection zwar der wichtigste, aber nicht der einzige Mechanis-
mus evolutionären Wandels. 24 Daneben gibt es auch (relativ) plötzli-
chen, katalytischen oder revolutionären Wandel. Revolutionärer Wan-
del kann nun aber nicht durch verbesserte Anpassung und natural oder
social selection erklärt werden, denn für evolutionäre Anpassungsleis-
tungen fehlt ganz einfach die Zeit. In der Biologie entspricht diese
Form nicht-adaptiven Wandels den punctuated equilibria, die Gould,
Lewontin und Mayr entdeckt haben und (u. a.) durch speciation, die
Isolation von Teilpopulationen, erklären. In der Wissenschaftsevolu-
tion wird ähnlich zwischen normal und revolutionary science (Kuhn)
unterschieden und der revolutionäre Wandel durch plötzliche Krisen
degenerierender Forschungsprogramme erklärt (Lakatos). Dabei geht
es, wie in den großen sozialen Revolutionen, aber nicht nur um Ver-
drängungswettbewerb (Kuhn), sondern immer auch um das bessere
Argument (Lakatos, Apel). In der sozialen Evolution verhält es sich
ähnlich. Revolutionärer Wandel wird nicht durch das Wachstum der
Produktivkräfte oder der Systemkomplexität hervorgerufen, sondern
durch die Eigenlogik diskursiv eingebetteter sozialer Kämpfe.
Das Wachstum der Systemkomplexität verbessert, wenn es gut
geht, zwar die Anpassung der sozialen Systeme an ihre Umwelt. Da-
durch werden »sozial integrierte Gruppen«, wie Habermas schreibt,
»systemisch stabilisiert«. 25 Die systemgesteuerte Verbesserung der
Anpassungsleistung ist aber blind für die Opfer und Verlierer der Ge-
schichte. Recht und Unrecht spielen nur eine Rolle, sofern sie der ver-
besserten Anpassung dienen. In Revolutionen geht es aber um etwas
anderes, das Kant trotz des offensichtlichen Terrors und der normati-
ven Unmöglichkeit, ein solches Experiment ein zweites Mal empfehlen
zu können, in moralischen Enthusiasmus versetzt hat. Die Revolution
hat ihn deshalb moralisch erregt, weil er in ihr ein »Geschichtszeichen«
des Fortschritts zum Besseren zu erkennen glaubte. 26 Revolutionen
sind nämlich Ausdruck von Klassenkämpfen, in denen sich die immer
24
Gould: The Structure of Evolutionary Theory. A. a. O. (s. Anm. 23).
25 Habermas: TkH II, S. 228; vgl. Amin Nassehi: Der soziologische Diskurs der Moder-
ne. Frankfurt a. M. 2006, S. 126 f.
26 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. Werke XI, Frankfurt a. M. 1977, S. 361.
404
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27 Barrington Moore: Injustice. The Social Bases of Obedience and Revolt. New York
1978. Zum Vorrang des Negativen im Prozess normativer Universalisierung: Jean Pia-
get: Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt 1973, S. 311. Vgl. a.: Hannah Arendt:
Vom Leben des Geistes 2: Das Wollen. München 1979, S. 91 (mit Bezug auf Augusti-
nus). Zur rächenden Gewalt: Brunkhorst: »Kommunikative Vernunft und rächende Ge-
walt«. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 6 (1983), S. 7–34; mit weiteren
Differenzierungen: Brunkhorst: »The Man Who Shot Liberty Valence – Von der rä-
chenden zur revolutionären Gewalt«. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für His-
torische Anthropologie 15 (Heft 1) (2006): Performanz des Rechts, S. 159–167.
28 Robert I. Moore: Die Erste Europäische Revolution. München 2001, S. 169.
29
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen 1978.
30 Gould: The Structure of Evolutionary Theory. A. a. O. (s. Anm. 23).
31
Alexander Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang. Frankfurt a. M. 1999.
32 S. nur Eugen Rosenstock-Huessy: Die europäischen Revolutionen und der Charakter
405
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und prägt sich in einer neuen Rechtsform aus. In diesem Sinne ist das
Recht der Schrittmacher der Evolution. Das heißt: das in revolutionä-
ren Legitimationskrisen geschaffene Recht gibt der nachfolgenden,
graduell und inkrementalistisch fortlaufenden Evolution eine neue
Richtung vor, erschließt ihr einen neuen Entwicklungspfad, auf dem
der breite und unübersichtliche Strom alltäglicher Kommunikation sie
dann ziel- und planlos forttreibt, und der Revolution, so Marx, in der
die »Extase […] der Geist jedes Tages« ist, folgt oft genug »ein langer
Katzenjammer«. 33
Die revolutionären Ideen, Verfassungs- und Rechtsprinzipien
können (und werden) in der Folge verraten, verbogen, ad acta gelegt
oder in ihr Gegenteil verkehrt, neuen Herrschaftsinteressen dienstbar
gemacht und die verfassungsrechtlich verwirklichten Menschenrechte
schließen die Schwarzen vom Menschen aus. Aber die revolutionären
Ideen »vergessen sich nicht mehr« (Kant). Die Sklaven Haitis werden
die ersten sein, die die Menschenrechte ernst nehmen, und, in Kennt-
nis der Französischen Menschenrechtserklärung und mit der Marseil-
laise auf den Lippen, gegen das französische Menschenrechtsregime in
die Schlacht ziehen: »Norm- und besonders Verfassungstexte setzt
man, mit unaufrichtigem Vorverständnis konzipiert, letztlich nicht un-
gestraft. Sie können zurückschlagen.« 34 Das ist der ganze Unterschied
zwischen objektivem Geist und der Realabstraktion funktionaler Sys-
temimperative. Das Recht ermöglicht es jedenfalls den Akteuren, selbst
zwischen seiner verdinglichenden Indienstnahme für die Stabilisierung
von Herrschaft und Ausbeutung und der Stabilisierung ihrer egalitä-
ren Freiheit zu unterscheiden. Die revolutionären Bauern, Bürger und
Handwerker von 1525 haben sich auf den Schwaben- und Sachsenspie-
gel und das kanonische Recht berufen, um es gegen seine herrschafts-
konforme Auslegung durch eine submissive Juristenklasse stark zu
machen.
der Nationen. Stuttgart 1958 (1931); Harold Berman: Law and Revolution. The Forma-
tion of the Western Legal Tradition. Cambridge (Mass.) 1983; Berman: Law and Revo-
lution II: The Impact of the Protestant Reformation on the Western Legal Tradition.
Cambridge (Mass.) 2006; James A. Brundage: Medieval Canon Law. London 1995; Bri-
an Tierney: Religion, Law, and the Growth of Constitutional Thought 1150–1650.
Cambridge 1982; John Witte: Law and Protestantism: The Legal Teachings of the Lu-
theran Reformation. Cambridge 2002.
33 Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. A. a. O. (s. Anm. 8), S. 13.
34
Friedrich Müller: Wer ist das Volk? Eine Grundfrage der Demokratie. Elemente einer
Verfassungstheorie VI. Berlin 1997, S. 56.
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Marxismus und Evolution
Economy«. Vortrag auf dem 37. World Congress of the International Institute of Socio-
logy, Stockholm 2005 (abstract unter: http://www.scasss.uu.se/IIS2005/total_webb/
tot_html/abstracts/sectoral_specialization.pdf); s. a. Streeck: »Noch so ein Sieg, und
wir sind verloren. Der Nationalstaat nach der Finanzkrise«. In: Leviathan 38 (2010),
S. 159–173.
38 Charles Tilly: European Revolutions 1492–1992. Oxford 1995.
407
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Hauke Brunkhorst
zesse der Devolution und Regression, aber auch der Reform und Revo-
lution auslösen.
Im Übergang von der ökonomischen zur Legitimationskrise wech-
selt jedoch die Systemreferenz vom ökonomischen zum politischen
System, wie Marx selbst erkannt hat, insistiert er doch auf der katego-
rialen Unterscheidung rein ökonomischer Klassenkämpfe, in denen es
um Verbesserungen in einer einzelnen Fabrik geht, von politischen
Kämpfen um Parlamentsgesetze (und Marx wusste noch, was das ist,
ein Parlamentsgesetz). 39 Da er jedoch im ökonomisch erzeugten Klas-
sengegensatz von Kapital und Arbeit den evolutionären Führungs-
primat gesehen hatte, hat er die gleichurprüngliche Verschiedenheit
politischer und ökonomischer Konflikte nicht erkannt. Statt den exem-
plarisch erkannten Zusammenhang von funktionaler Differenzierung
und Klassenkampf, von Funktionsstörung und Legitimationskrise auf
die Ökonomie zu reduzieren, hätte er ihn generalisieren müssen – aber
wer konnte das im Geburtszeitalter der großen Industrie auch nur
ahnen? 40
Nicht nur
• die Ausdifferenzierung des ökonomischen Systems erzeugt eine
strukturelle Konfliktkonstellation im Kampf ums Kapital, auch
• die historisch mit dem Zeitalter der protestantischen Revolutio-
nen ohne Willen und Bewusstsein von »Baxters Heiligen« (We-
ber) vollzogene Ausdifferenzierung des politischen Systems er-
zeugt eine andersartige Konfliktkonstellation im Kampf um den
Staat. 41
Und die Konflikte zwischen dem power-bloc (Laclau) und dem von der
Macht ausgeschlossenen Volk – »We are the People« skandieren die
Leute von Occupy Wall Street – überlagern sich mit den Konflikten
zwischen Kapital und Arbeit zu einer neuen, komplexen Konfliktkon-
stellation. Auch
• das ausdifferenzierte Recht erzeugt eine Art Klassenkonflikt zwi-
schen denen, die es einschließt, und denen, die es ausschließt (oder
39 Marx: Brief an Friedrich Bolte v. 23. Nov. 1871. MEW 33, S. 332. Vgl. a. Stuart Hall:
»The ›Political‹ and the ›Economic‹ in Marx’s Theory«. In: Alan Hunt (Hg.): Class and
Class Structure. London 1977, S. 15–60, hier: S. 36 f.
40
Dazu ausführlich: Brunkhorst: »Return of Crisis«. In: Poul F. Kjaer/Gunther Teub-
ner/Alberto Febbrajo (Hg.): The Financial Crisis in Constitutional Perspective. The dark
Side of Functional Differentiation. Oxford 2011, S. 133–172.
41 S. a. Charles Tilly: European Revolutions 1492–1992. A. a. O. (s. Anm. 37).
408
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Marxismus und Evolution
42 Das alte römische Recht war das »Recht der vornehmen Leute. Klassisch heißt zwar
vorbildlich. Und so wird das römische Recht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ge-
nannt. Aber klassisches Recht war auch Klassenrecht, das Recht der Besitzenden unter-
einander, also Zivilrecht. Mit den anderen machte man kurzen Prozess, außerhalb des
Rechts.« Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. München 1997, S. 156.
43
Vgl. Tobias ten Brink: Kapitalistische Entwicklung in China. Entstehungsformen,
Verlaufsformen und Paradoxien eines eigentümlichen Modernisierungsprozesses. Ha-
bilitation im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt
2012.
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Hauke Brunkhorst
Der klassische Marxismus war immer davon ausgegangen, dass der na-
tionale Staat prinzipiell in der Lage sei, die kapitalistische Wirtschaft
zu kontrollieren und zumindest die desaströsen Beschädigungen der
sozialen und natürlichen Umwelt des Systems zu kompensieren, wenn
nicht gar den Kapitalismus durch eine staatliche Planwirtschaft zu er-
setzen – eine Idee der russischen Kommunisten, die diese aber nicht
von Marx, sondern von den Zaren kopiert haben. 44
Nun haben die Weltrevolutionen und Weltkriege der ersten Hälf-
te des 20. Jahrhunderts verschiedene Modelle hervorgebracht, die zu
einer mehr oder minder erfolgreichen, im Westen sozial- und wohl-
fahrtsstaatlich, im Osten sozialistisch eingebetteten Marktwirtschaft
geführt haben – mal mit mehr, mal mit weniger Markt, mal produkti-
ver, mal unproduktiver. Die Globalisierung hat Marxisten wie Keyne-
sianer gleichermaßen unvorbereitet getroffen. Seit den späten 1970er-
Jahren hat sich der kapitalistische Markt infolge konterrevolutionärer
politischer Grundsatzentscheidungen aus seiner Einbettung in den na-
tionalen und sozialistischen Staat befreit und eine Weltlage geschaffen,
die man mit Wolfgang Streeck als great transformation der state-em-
bedded markets des Spätkapitalismus in die market-embedded states
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Entgegnung auf Hauke Brunkhorst
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Entgegnung auf Hauke Brunkhorst
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Entgegnung auf Hauke Brunkhorst
folgt Brunkhorst einer zuerst von Klaus Eder an der Entstehung der
Staatsbildung in frühen Hochkulturen belegten Hypothese, wonach
die Entwicklung der Produktivkräfte insofern eine Schrittmacherfunk-
tion erfüllt, als sie funktionale Probleme für eine bestehende Gesell-
schaftsorganisation erzeugt, während nur ein verändertes moralisch-
praktisches Bewusstsein eine Lösung dieser Probleme ermöglicht. Da-
her konzentriert sich Brunkhorst auf Legitimationskrisen, auf Kämpfe
um die Verschiebung der Parameter der Gerechtigkeit, schließlich auf
die Revolutionierung der Rechtsinstitutionen. Er stellt dann anhand
eines ausgedehnten historischen Materials eine Grundannahme der
Systemtheorie auf den Kopf: Nicht die Gerechtigkeitsvorstellungen
folgen Imperativen der Anpassung, sondern Anpassungsprozesse sind
ihrerseits den normativen Beschränkungen der Gerechtigkeitsstan-
dards unterworfen.
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Diskussion
Moderation: László Tengelyi
Smail Rapic: Wenn wir dem Neoliberalismus nicht das Feld überlassen
wollen, müssen wir nach meiner Überzeugung das Thema eines »Drit-
ten Weges« zwischen dem westlichen Kapitalismus und dem Staats-
kapitalismus im »real existierenden Sozialismus« erneut auf die Agen-
da setzen. Wir können ja zu dem Schluss gelangen, dass der Dritte Weg
nicht funktioniert, aber diskutieren sollten wir m. E. darüber. Colin
Crouch betont in seinem Buch Das befremdliche Überleben des Neo-
liberalismus, das Herr Brunkhorst gerade angesprochen hat, dass die
reine Lehre des Neoliberalismus, Markt und Staat voneinander zu
trennen, überhaupt nicht umgesetzt wurde. Stattdessen haben infolge
der Privatisierungs- und Deregulierungspolitik seit Beginn der 1980er-
Jahre Großkonzerne in einem bisher ungeahnten Ausmaß Einfluss auf
den Staat gewonnen. Hiermit hat sich Habermas’ Diagnose in der
Theorie des kommunikativen Handelns bewahrheitet, dass »das Spiel
der Metropolen und des Weltmarktes« und nicht das Volk als demokra-
tischer Souverän die Politik bestimmt (TkH II 522). Crouch beruft sich
u. a. auf den ehemaligen Chefökonomen des Internationalen Wäh-
rungsfonds, Simon Johnson, der 2009 konstatierte, die Finanzbranche
kontrolliere »die US-Regierung inzwischen auf eine Weise, die man
sonst nur von Entwicklungsländern kennt«. 1 Ich möchte meine Frage
ein bisschen provokativ stellen: Können wir die Demokratie wirksam
stärken, ohne die Idee einer Vergesellschaftung von Produktionsmit-
teln von Neuem ins Auge zu fassen – und zwar im Sinne von Marx’
Pariser Manuskripten, wo er hervorhebt, dass im Sozialismus der Pri-
vatkapitalismus nicht durch einen Staatskapitalismus ersetzt werden
solle? Sind nicht genossenschaftliche Produktionsformen wieder aktu-
ell? Im Grundgesetz ist auch die Möglichkeit der Enteignung vorge-
sehen. Im Ahlener Programm der CDU von 1947 wurde die Verstaat-
1 Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Berlin 2011. S. 103.
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Die Selbstverständigung der Moderne
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Diskussion
ich, sehr richtig benannt, dass die Menschen im Osten eigentlich den
Dritten Weg wollten, aber der Westen sie einfach überrannt hat. Im
größten ex-sowjetischen Land, in Russland, hat sich ein Raubtierkapi-
talismus etabliert. Das unterscheidet sich ja auch nicht mehr – wenn
man das Zitat des Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds
nimmt – so sehr von dem, was wir im Westen heute insgesamt haben,
und ist sogar noch schlimmer. Eine andere Formel für den Dritten Weg
war Gerhard Schröder. Gerhard Schröders »Dritter Weg« war der zwi-
schen Neoliberalismus und Sozialdemokratie, also mehr Neoliberalis-
mus. Das ist leider immer noch die Gegenwart und wird durch eine
selbstmörderische Austeritätspolitik in Europa noch verstärkt. Heute
haben wir eine Situation, in der wir in der Tat – China eingerechnet –
nur noch eine Welt des kapitalistischen Systems haben. Das, was Colin
Crouch sagt, habe ich ja genau beschrieben mit der Formel von Streeck:
Vorher hatten die Staaten halbwegs das (immer noch nationale) Kapital
unter Kontrolle, jetzt hat das (erstmals wirklich internationale) Kapital
die Staaten unter Kontrolle. In dieser Situation werden die Karten neu
gemischt, da wird die Praxis entscheiden, was daraus wird, alles kann
daraus werden. Sozialismus ist im Moment nicht aktuell, aber Formen
radikaler Demokratie sind in jeder Form denkbar. Sie haben das Grund-
gesetz erwähnt. Das Grundgesetz enthält technisch alle Möglichkeiten,
ob das dann viel bringt, ist eine andere Frage, aber der Artikel 20 (2)
Grundgesetz schreibt z. B. zwingend vor, dass das Volk durch Wahlen
und Abstimmungen seine Macht ausüben soll. Das heißt, Abstimmun-
gen, nämlich Volksabstimmungen, sind gleichursprünglich zu Par-
lamentswahlen vorgeschrieben. Dreier hat diesen Gedanken gerade
ausbuchstabiert. 2 Ob das dann viel bringt, ist eine zweite Frage. Die
Verstaatlichung der Schwerindustrie – da kommt auch nicht mehr he-
raus als Spätkapitalismus, aber der war immerhin in ein sozialdemo-
kratisches, egalitäres Wohlfahrtssystem eingebettet, eben demokrati-
scher Kapitalismus und nicht, was wir jetzt haben, kapitalistische
Demokratie – ein ganz anderes System, bei dem sich in der Tat die
längst vergessen geglaubte »Systemfrage« wieder stellt.
2 Horst Dreier: »Das Volk als Gesetzgeber.« In: Süddeutsche Zeitung, 25. Februar 2012,
S. 16. Online abrufbar unter: http://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160100/
Elektronische_Texte/Volk_als_Gesetzgeber_SZ.pdf (zuletzt abgerufen am 30. Juli 2014).
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Die Selbstverständigung der Moderne
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Diskussion
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Die Selbstverständigung der Moderne
Klaus E. Kaehler: Zur Frage von Herrn Richter nach dem Begriff
der Moderne und der Geschichte: Das ist natürlich ein großes Thema,
für alle Philosophie wesentlich. »Unsere« Moderne, die sich in den
philosophischen Positionen des nachmetaphysischen Denkens artiku-
liert, versteht sich nicht nur als »neu«, sondern auch inhaltlich als
Moderne in epochaler und singulärer Bedeutung. Diese aber ist zu
rechtfertigen auf selber philosophische Weise nur, indem sie sich
von Grund auf ins Verhältnis setzt zu dem, was schon getan ist –
nicht durch Zurechtbiegen des Älteren für angeblich zeitgemäße Be-
dürfnisse. Vielmehr kommt es darauf an, nach einer philosophischen
Entwicklung zu suchen, aus deren Resultat sich inhaltlich argumen-
tierend einsehen lässt, was »an der Zeit« ist. So findet das Geschehen
der »Geschichte« der Philosophie im Medium der Dokumente selber
statt; es ist nichts anderes als die möglichst kohärente Rezeption,
Kritik und Transformation der philosophischen Probleme und Inhalte
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Diskussion
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Jürgen Habermas
Schlusswort
Mein Dank gilt natürlich in erster Linie Herrn Rapic, aber auch den
Veranstaltern insgesamt, den Damen und Herren, die das Gelingen
dieser Konferenz erst möglich gemacht haben. Die Stadt Wuppertal-
Elberfeld, aus der Friedrich Engels stammt, stiftet für eine Diskussion
über den Historischen Materialismus einen beziehungsreichen Kon-
text. Für mich verbindet sich die Hauptstadt des bergischen Landes
außerdem mit Jugenderinnerungen, aber auch mit der Person von Jo-
hannes Rau, der mich als den Landsmann aus Gummersbach zu begrü-
ßen pflegte. Andererseits will ich nicht die Skepsis verhehlen, mit der
ich zunächst der Einladung zum Thema Historischer Materialismus
begegnet bin. Trotz des Bezuges zur gegenwärtigen Krise schien mir
dieser Titel nicht den einleuchtendsten Zugang zu meinen Arbeiten
zu signalisieren. Aber die gemischten Gefühle haben sich schnell ge-
legt. Ich schulde im Gegenteil meinen Kollegen aufrichtigen Dank für
ihre hervorragenden Beiträge. Ich bin der eigentliche Nutznießer ihrer
keineswegs selbstverständlichen Bereitschaft, sich auf eine produktive,
einfallsreiche, luzide und scharfsinnig an die Wurzeln gehende Aus-
einandersetzung mit meinen Dingen und den Themen, die uns ge-
meinsam interessieren, einzulassen.
Die letzte Diskussion, die durch Herrn Rapics Frage nach der mög-
lichen Vergesellschaftung der Produktionsmittel ausgelöst worden ist,
hat noch einmal den Geist, der über den Wassern dieser Konferenz
schwebte, zum Ausdruck gebracht. Die wenigsten von uns werden je
ihre Hoffnungen direkt auf das gescheiterte Experiment des Sowjet-
marxismus gesetzt haben. Aber auch die vagen Hoffnungen auf einen
»dritten Weg« waren insofern indirekt mit diesem verbunden: Nur
unter dem Druck dieser existierenden Alternative mussten der kapita-
listischen Dynamik immerhin sozialstaatliche Zügel angelegt werden.
Aber kann die krisenhafte Zuspitzung der nach dem Untergang der
Sowjetunion entfesselten Dynamik eine Wiedererweckung der unbe-
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Jürgen Habermas
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Kurzbiographien
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Kurzbiographien
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Kurzbiographien
Ágnes Heller ist Professorin emerita der New School for Social Re-
search in New York. Sie trägt den Ehrendoktortitel der Universität La
Trobe, Melbourne, und der Universität Buenos Aires. Ihre Arbeits-
schwerpunkte sind Ethik, politische Philosophie, Hegel, Marx, Lukács
und der Existentialismus. Einschlägige Veröffentlichungen u. a.: Alltag
und Geschichte: Zur sozialistischen Gesellschaftslehre. Neuwied 1970;
Theorie der Bedürfnisse bei Marx. Berlin 1976; Das Alltagsleben: Ver-
such einer Erklärung der individuellen Reproduktion. Frankfurt a. M.
1978; Philosophie des linken Radikalismus: ein Bekenntnis zur Phi-
losophie. Hamburg 1978; Ist die Moderne lebensfähig? Frankfurt a. M.
1995.
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Kurzbiographien
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Kurzbiographien
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Kurzbiographien
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Personenregister
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Personenregister
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Personenregister
Humboldt, Wilhelm von 396, 398 117, 144, 158, 187–191, 193–194,
Husserl, Edmund 99, 108, 156, 389, 198–199, 221, 223, 225, 262, 267,
393 321–322, 327, 332, 339–341, 344,
346, 417
Iser, Mattias 238, 242 Löwith, Karl 204, 329, 350, 356, 360,
367, 395
Jacobi, Friedrich H. 88 Luhmann, Niklas 13, 17, 49, 52, 65,
James, William 91–92, 396 78, 84, 137, 154, 165, 171–172, 174,
Joas, Hans 38, 131, 139, 241 176, 218, 221, 328, 330–331, 393,
Johnson, Simon 414 402, 405
Lukács, Georg 17, 44, 48, 51, 58–59,
Kaehler, Klaus E. 15, 28, 373, 395– 71, 75–76, 85, 222, 269, 350, 356
396, 398, 419 Lukes, Steven 44
Kant, Immanuel 19, 27–28, 39, 44, Luria, Isaak 335, 345, 356–357
47–48, 70, 76, 79–83, 85, 88–89, 91– Lyotard, Jean-François 235
94, 98, 100–102, 115, 119, 165, 239,
255, 257–258, 263, 299, 321, 323, Machiavelli, Niccolò 100
329, 332, 334–340, 342–344, 346, Marcuse, Herbert 27, 38, 40–44, 72,
349, 357, 360, 363, 369, 374, 392, 81, 117, 152, 356, 359, 361–363, 366,
397–398, 404, 406 369, 372
Karnein, Anja 315 Márkus, György 18, 84, 123, 131, 134
Kautsky, Karl 44, 48, 283 Marx, Karl 12–17, 19–23, 25–29, 31,
Kettner, Matthias 265, 267–268 37–39, 44, 47–48, 50–52, 58–64, 66,
Kierkegaard, Søren 38, 70, 89, 355, 69–72, 76, 89, 104–105, 112–113,
364, 366, 386, 396 116–118, 123–134, 136–137, 140–
Kluge, Alexander 405, 411 152, 154, 157–159, 164–168, 175–
Kohlberg, Lawrence 56, 117, 199, 203–207, 219, 221–226, 238,
369 244, 271, 277–284, 295–300, 307,
Korsch, Karl 44, 48 313, 317, 328–329, 332, 335, 340–
Krause, Ulrich 150 341, 345, 347–357, 360–367, 369,
Kreide, Regina 13, 23–24, 105, 229, 372–373, 386, 389–391, 393, 396,
231, 247, 259, 261, 263, 265–266, 399–400, 402–403, 405–411, 414–
268–271 415
Kuhlmann, Wolfgang 98 Maus, Ingeborg 250, 257
Kuhn, Thomas S. 70, 87, 403–404 Mayntz, Renate 232
Mayr, Ernst 403–404
Laclau, Ernesto 235, 408 McCarthy, Thomas 241, 285
Lafont, Cristina 20, 258 Mead, George Herbert 72, 92, 95,
Lakatos, Imre 403–404 394–396
Landshut, Siegfried 347, 351–352, Merleau-Ponty, Maurice 44, 332
362, 366, 390 Meyer, Lars 131, 139
Landwehr, Claudia 246 Moellendorf, Darrell 231
Lessenich, Stephan 251 Moore Jr., Barrington 239, 405
Lewontin, Richard C. 403–404 Moore, Robert I. 405
Locke, John 186–188, 257 Morris, Charles W. 90–91
Lohmann, Georg 15, 26–27, 112, 115, Mouffe, Chantal 235
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Personenregister
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Personenregister
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Sachregister
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Sachregister
268, 283 f., 314, 329, 335, 346–348, 125, 236, 305, 307–310, 312 f., 321 f.,
353, 357, 360, 363–366, 391, 395, 332, 335, 337, 346, 386
407 Eugenik, eugenisch 297, 306 f., 315,
Dialektischer Materialismus 107, 301 317–319
Differenzierung 60–62, 97, 123, 313, Evolution, evolutionär 13, 15, 29, 44,
318, 375, 384 45, 49–52, 56, 61, 156, 164, 166 f.,
–, funktionale 233, 248, 250, 399, 177, 190, 231, 268, 276 f., 281, 283 f.,
407–409 287 f., 290 f., 294 f., 319, 330 f., 337 f.,
–, System- 44 f., 58, 61, 408 f. 346, 385, 397, 399–402, 404, 406–
Diskursapriori 97 408, 411 f., 415
Diskursethik 76, 78, 84 f., 97, 99–101, Existenz, existenziell 41 f., 106, 117 f.,
219, 221, 323, 337, 340, 394 126, 159, 172, 184, 279 f. , 296, 365,
Diskursverweigerung 99 382, 384–386, 388 f., 391, 394
Dogma, dogmatisch 16, 90, 98, 102,
198, 226, 282, 285, 301, 306, 312, Feudalismus, feudalistisch 61, 178,
360, 403 190, 285
Dritter Weg 21, 182, 414–418, 421 f. Finanzkrise s. Weltfinanzkrise
Fortschritt 15, 29, 38, 55, 62, 87, 94,
Eigentum / Eigentumsverhältnisse 101, 104, 195–197, 290, 308, 315,
54, 60–62, 132 f., 135, 138, 142, 225, 327 f., 338 f., 341 f., 345, 378, 404
275, 279 f., 288, 291, 415 –, gesellschaftlich-moralischer 49,
Emanzipation 27, 29, 51, 89, 129 f., 62, 329, 338, 412
138, 147, 176 f., 203, 236, 239, 245, –, ökonomischer 243
262, 266 f., 334, 336–338, 372, 378, –, wissenschaftlich-technischer 49,
389, 409 300, 329, 412
Empirie / Empirismus, empirisch 18, Frankfurter Schule 13 f., 16, 42, 118,
24, 43, 63, 70, 72, 76, 79–83, 86 f., 89, 217, 275 f., 345
91, 93–95, 102–104, 111 f., 127, 129, Freiheit 67, 80–83, 106, 188, 198,
131, 142, 145 f., 154, 170, 195, 199 f., 240, 245 f., 254, 257, 260, 262 f., 267–
202, 217, 220, 226, 228, 230 f., 234 f., 270, 276, 291, 296, 309, 313, 316,
237–239, 252, 258, 282 f., 287, 305, 321, 327, 336, 339, 392, 405 f., 417
330, 332, 339, 342, 345, 354, 359, Funktionalismus, funktionalistisch
382, 390, 397 46, 49, 52, 54, 105, 139, 241, 292,
Enhancement 306, 314, 317 294 f., 330
Entfremdung, entfremdet 62, 66,
125, 130, 238, 242, 267, 335, 378, Gattungsethik 26, 298–301, 303, 304,
391 307, 309–311, 318 f., 321 f.
Entwicklungsdynamik 52, 287, 331 Gattungsgeschichte 15, 50 f., 65, 173,
Entwicklungslogik 15, 17, 23, 52, 54, 282, 286, 330, 390
56 f., 116 f., 127 f., 166, 173, 177 f., Gattungswesen 26, 296–299, 306 f.,
205, 286 f., 290, 331, 346, 399 313
Entwicklungsniveau / -stufen 44, Gebrauchswert 60, 124, 126, 129,
283, 288 f., 337 138, 143–145, 149, 225, 295
Erste Philosophie 19, 87 f., 94, 97–99, Geist 178 f., 381 f., 387
101, 103, 373, 384, 392 –, objektiver 377, 382, 397, 406
Ethik, ethisch 85, 113–115, 117, 119, –, subjektiver 397
435
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Sachregister
Geld (als Steuerungsmedium) 14, 58, Humanismus (Post-, Trans-) 38, 296,
136–140, 142, 144, 150, 182 f., 241– 300 f., 306, 314, 318 f.
243, 250 f., 262 f.
Geldsystem 188, 198 Idealismus, idealistisch 15, 38, 65, 71,
Geltungsanspruch / Geltungsansprü- 230–232, 236, 238, 338, 347, 367–
che 18, 54, 80, 86, 89, 106, 109– 369, 392
111, 262, 267, 292 f., 393 f., 397, Ideologie, ideologisch 42, 48, 59,
402 116, 129, 152, 156, 167, 170–174,
Genese / Geltung 307, 373–375, 384, 181, 186, 227, 244, 307, 313, 400,
395 411
Geschichtsphilosophie 26 f., 37, 47, Ideologiekritik 15, 22, 38, 170, 172–
89, 108, 127, 164, 181, 200, 204 f., 174, 180, 185, 200 f., 220, 222 f.,
280, 282, 327–346, 362, 364, 412, 227 f., 292, 331, 411
419 Imperativ, kategorischer 100, 115 f.,
Gesellschaftsformation 150, 156, 119, 178 f.
164, 177 f., 183 f., 218 In-der-Welt-Sein 78, 80, 106, 109 f.,
Gleichheit 67, 147, 188, 197 f., 208, 117 f., 299, 305
257, 260, 271, 294 f., Institutionalisierung, institutionali-
Globalisierung 104, 229, 231, 233, siert 38, 52, 61, 84, 133, 206, 211,
237, 243 f., 248, 252, 264 f., 270, 285, 260, 270, 275, 286, 289, 388, 415,
399, 410 f., 416–418 418
Instrumentalisierung 242, 250, 298,
Handeln 300, 308
–, kommunikatives 45, 53, 78, 86, Interaktion 21, 39, 45, 123–125, 132–
286, 388, 391, 401, 412 134, 136, 139, 141, 144, 148, 180,
–, strategisches 45, 52–53, 286, 292, 244, 332, 399 f., 412
388 f., 400 Interesse(n) 151 f., 247, 292, 295,
–, zweckrationales / instrumentelles 298, 303, 405 f.
43, 53, 55 f., 124, 135, 252, 286, 318,
388 f., 400 f., 412 Junghegelianer, junghegelianisch 47,
Handlungstheorie 52, 66, 71, 144, 347–349, 354, 359 f., 362–367, 369,
150, 152, 206, 240 f., 343, 412 395 f., 398
Herrschaftsfreiheit, herrschaftsfrei
32, 78–80, 82 f., 128, 208, 261, 336 Kabbala, kabbalistisch 335, 356 f.,
Herrschaftsverhältnisse / Herrschafts- 366, 369
strukturen 13, 71, 133, 178, 180, Kapital(verhältnis) 12–15, 22 f., 61,
269 66, 104, 118, 125, 128, 130, 132 f.,
Historischer Materialismus 12–19, 136 f., 140–147, 150, 152, 157–159,
25 f., 30 f., 37–50, 52, 69 f., 89, 95, 168, 179, 182, 185, 187–191, 193,
104, 112, 115 f., 152, 156–158, 164 f., 195 f., 198, 204, 206 f., 224, 276, 289,
168, 175, 181 f., 185, 188, 191, 198, 354, 399 f., 402, 407–409, 416
200, 228, 275–279, 282–294, 296– Kapitalakkumulation s. Akkumulation
299, 301, 307, 313, 315, 330 f., 353, Kapitalismus 11–13, 15, 21–23, 25,
359, 366, 397, 399 f., 421 29, 31 f., 39, 41, 50–52, 55, 59 f., 61–
Humangenetik 15, 26, 299 f., 303, 64, 66 f., 104, 130 f., 134, 136 f.,
307–310, 315, 317 140 f., 143, 145–152, 154 f., 160–163,
436
https://doi.org/10.5771/9783495861127
.
Sachregister
182, 185 f., 188–192, 194, 196 f., 199, Lernprozesse 44, 49, 65, 202, 205,
216–218, 224–228, 230, 237, 244, 266, 287 f., 337, 397, 405, 409,
246, 249, 264 f., 269–271, 276–278, 412
283, 285, 288, 294, 354, 399, 407– Letztbegründung 88, 97 f., 100, 324
411, 414–418, 421 f. Linguistische Wende 65, 78
Keynesianismus, keynesianisch 138, Lohnarbeit / Lohnabhängige 136,
243 f., 269, 410 159
Klassenbewusstsein 51, 65
Klassenkampf / Klassengegensatz 29, Macht 17, 58, 136, 178–180, 262,
64, 66, 132, 399 f., 402–405, 407– 384, 403, 407
411, 417 –, administrative 241 f., 257, 267
Klassenverhältnisse 21, 23, 58, 60– –, kommunikative 230, 253–262,
62, 66, 125, 136 f., 179, 200, 224, 268, 266 f.
295 Marktwirtschaft, marktwirtschaft-
Kolonialisierung der Lebenswelt 24, lich 11, 31, 139, 213 f., 276, 289,
58, 131, 139, 230, 240–253, 260, 407, 410, 415, 417
262–270, 409 Marxismus, marxistisch 12–14, 21,
Kommunikationstheorie, kommunika- 37–49, 58, 63, 76, 84, 104, 117 f.,
tionstheoretisch 14, 16–18, 51, 59, 123, 152, 157, 164, 219 f., 222, 277,
63, 129, 225, 346, 396 399, 410
Kommunismus, kommunistisch 39, Mehrwert 133, 185 f., 192, 194, 196 f.,
47 f., 62, 75, 78 f., 130, 160, 169, 179– 245, 295
181, 225, 296 f., 410 Menschenrechte 178 f., 186, 190, 192,
Konsens, konsensuell 20, 80–83, 197, 230, 264, 318, 323, 338 f., 401,
93 f., 102, 105, 118, 230, 412 406, 417
Krise 11–13, 15, 22, 29, 43, 49, 67 f., Metaphysik, metaphysisch 70, 78,
106, 138, 150–152, 154 f., 160, 164, 87, 90, 93, 95, 97, 166, 313, 318, 345,
173, 180, 199 f., 217, 224, 228 f., 373 f., 376, 383 f., 390 f., 395
236 f., 243, 251, 256, 271, 296, 310, Möglichkeit (objektive) 22, 50, 80,
375 f., 390, 404, 407 f., 410–413, 417, 114, 164 f., 168–170, 172 f., 181, 200,
421 f. 224
Kritische Theorie 13, 16, 22, 38, 42, Monetarisierung 24, 59, 63, 145, 207,
46, 50 f., 69, 123, 130, 156, 171–173, 242, 244, 270
181, 217, 219–221, 226, 228, 237, Moral / Moralität, moralisch 26, 52,
240, 261, 270, 327–331, 333 f., 336, 57, 97, 100, 119, 231 f., 248, 263, 288,
338 f., 341, 343 299–301, 303–314, 316, 318 f., 322,
332 f., 337 f., 340, 342, 394, 401,
Lebensform 18, 43, 82, 85, 128, 302, 404 f.
318 f., 321 f., 324, 332, 337 f., 340 Mystik, mystisch 27, 307 f., 356 f.
Lebenswelt, lebensweltlich 17, 43, 57,
59 f., 62, 64 f., 137, 139, 145, 152, nachkapitalistisch s. postkapitalistisch
172, 194, 240–243, 260, 263, 266, nachmetaphysisch 27 f., 77 f., 87 f.,
270 f., 277, 287, 304, 312, 319 f., 217, 299, 313, 334, 344, 373, 375,
337 f., 340 f., 391, 397 378, 386, 393, 396, 398
Legitimationskrise/-probleme 29, Natur 26, 104, 123–127, 129, 296–
153, 218, 406–408 301, 303–308, 310–313, 315, 317–
437
https://doi.org/10.5771/9783495861127
.
Sachregister
319, 322, 324, 336, 340, 342, 345, Politische Ökonomie 17 f., 29, 58, 60,
380–382, 387, 392 f., 396, 410 63, 71 f., 125, 151, 158, 187–191,
Naturalismus, naturalistisch 71, 142, 193, 195 f., 198 f., 224, 278, 280, 341
144, 149, 165, 296, 301, 310, 313, Positivismus / Positivismusstreit 75,
385, 393, 397 152, 220, 332
Naturrecht, naturrechtlich 52, 185– postkapitalistisch 218, 337
187, 300 f., 303, 305, 308, 311 f., 314, postkonventionell 212, 288–291, 295
317, 322 postmetaphysisch s. nachmetaphysisch
Neoliberalismus, neoliberal 11 f., Pragmatismus 14, 47, 90 f., 93, 102,
23–25, 66, 155, 162, 181, 201, 222, 338, 344, 369, 396
244, 247, 252, 260, 269, 314, 411, Praxis 19, 50, 71, 90, 117 f., 124,
416 128 f., 140, 145 f., 152, 201, 217, 226,
Normativität, normativ 82, 87, 105, 238, 257, 262, 266 f., 297, 338, 347–
115 f., 217, 220, 226, 230, 236–240, 349, 355, 386, 389, 391–394
242, 248 f., 253, 258, 261, 267, 270, Privateigentum s. Eigentum
275–278, 286–295, 299 f., 304, 306 f., Privatrecht s. Recht
310, 312 f., 317, 322–324, 330, 332– Produktionsmittel 60–62, 66, 131,
334, 337, 339, 345, 375, 377, 387, 244
395, 397, 399–405, 411, 413, 417 Produktionsparadigma 18, 104,
123 f., 145, 150, 152, 412
Objektivismus, objektivistisch 27, 65, Produktionsverhältnisse 21, 60, 104,
139, 164 f., 189 f., 198, 228, 282, 323, 125 f., 128 f., 148, 150, 278–281,
332, 334, 336, 340 283 f., 366, 388, 411, 415
Öffentlichkeit, öffentlich 11 f., 24, Produktivkräfte 40, 42, 45, 49, 66,
30, 38, 57, 62, 67, 75, 79, 83, 102, 104, 124, 126, 128, 135, 144, 202 f.,
119, 156, 161, 201, 204, 209–212, 220, 255, 278–281, 283 f., 365, 388,
215, 219, 221, 223, 228, 232, 234– 400, 403 f., 407, 411–413
236, 242, 244, 246–248, 252–255, Proletariat, proletarisch 104, 113,
257, 259–264, 267, 269–271, 296, 165, 189, 192–195, 197 f., 226
317 f., 336, 338, 343, 348, 364, Psychoanalyse 38, 129, 346, 361 f.
410 f.
Ökonomie, ökonomisch 14, 18, 29, Rationalität(en) 81, 220, 266 f.
57 f., 63, 66, 71 f., 119, 124–127, 130, –, Handlungs- 53
132–136, 138, 142, 146, 150, 157 f., –, instrumentelle / Zweck- 43, 53, 55,
160, 162 f., 166 f., 175, 180, 182–184, 124, 139, 142, 241, 262, 243
186 f., 189–191, 193, 195 f., 198 f., –, kommunikative 220, 332, 339
202, 208, 211, 213 f., 217, 219, 222 f., –, Norm- 53, 56, 290
225, 231, 235, 243 f., 246, 248, 252, –, strategische 43, 55 f., 100, 146
262, 264 f., 267 f., 278–280, 282 f., –, System- 53, 56
285, 297, 307, 313 f., 384, 393, 399, Rationalisierung 16, 43, 52, 58, 156,
408 268 f., 337 f., 341
Ontologie 87–89, 93, 97, 99, 112, Recht 15, 24, 43, 49, 133 f., 188, 190,
117, 194, 198, 220, 283, 304, 306, 216 f., 262–264, 268, 270, 301, 332 f.,
308, 312 f., 317, 382, 398 343 f., 399, 404–406, 408 f., 417
Organisationsprinzip 12, 21, 155, –, modernes 52–57, 291, 295, 409
285–289, 292 f., 417 –, bürgerliches 52, 54, 270
438
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.
Sachregister
439
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.
Sachregister
22, 155–158, 165, 167 f., 171 f., 174, Vernunft 89, 108, 110 f., 116, 139,
178, 180, 182, 185, 190 f., 193–195, 220, 223, 305, 339, 342 f., 374, 377,
200–202, 228, 388 379, 391
Teleologie, teleologisch 17, 49, 92, –, kommunikative 332 f., 337, 339,
100 f., 115, 117, 329 f. 363, 391–393, 395, 405
Tiefenpsychologie s. Psychoanalyse –, praktische 237, 299, 306, 310, 338
Transzendentalphilosophie 89 f., 94 f., Vorurteil s. Ideologie
305, 333, 340
Transzendentalpragmatik, transzen- Warenform / Wertform 13 f., 22, 52,
dentalpragmatisch 19, 87 f., 90, 59, 129, 142, 153, 157, 161, 168, 182,
94 f., 101, 103, 110, 116 184–186, 190–195, 198, 200, 221
Weltfinanzkrise 11, 67, 222, 229, 271,
Überbau s. Basis 421 f.
Universalismus, universalistisch 56, Weltgeschichte 104, 164, 166, 178,
85, 112–117, 288, 290, 292 f., 299, 279, 376
303, 305, 311 f., 321 f., 339 f., 405 Wirtschaft 52, 54–57, 59, 61 f., 64,
Universalpragmatik 43, 94 f., 97 66 f., 129, 136 f., 139, 150, 160, 162,
165, 168, 206–208, 212–215, 217,
Verdinglichung / Vergegenständli- 226, 228, 229, 233, 241, 247 f., 269,
chung 58 f., 62, 65, 79, 243 271, 277, 285, 295, 407–411, 415–
Vergesellschaftung von Produktions- 417, 422
mitteln 414, 421 f.
440
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