Sie sind auf Seite 1von 21

Klasse an sich / für sich 735 736

für den Film, Neu-Edition (Hg. J.C.Gall), Frankfurt/M Komisches, Konsumgesellschaft, Kulinarisches, Kultur-
2006; ders. u. M.H, »Kulturindustrie. Aufklä- industrie, Massenkultur, Mode, Müll, Personenkult, Pop-
rung als Massenbetrug«, in: Dialektik der Aufklärung, musik, Popularkunst, Produktästhetik, Proletkult, Resig-
GS 3, 141–91; C.B, Literatur und intellektuel- nation, Schlaraffenland, Schönheit, Subkultur, subversiv,
ler Kitsch. Das Beispiel Stendhals. Zur Sozialneurose der Surrealismus, Tauschwert, Unterhaltung, Verdinglichung,
Moderne, Heidelberg 1964; W.B, »Traumkitsch« Verdrängung, Vergegenständlichung, Versöhnung, visuelle
(1925), GS II, 620–22; E.B, »Schreibender Kitsch«, in: Kultur, Volkskultur im Kapitalismus, Volkskultur (vorka-
ders., Erbschaft dieser Zeit (1935), GA 4; ders. u. H.E, pitalistische), Volkstümlichkeit, Warenästhetik, Wertkate-
»Avantgarde-Kunst und Volksfront« (1937), Eisler, GW 1, gorien, Zerstreuung
397-403; H.B, »Einige Bemerkungen zum Problem
des Kitsches«, in: Essays, Bd. 1, Dichten und Erkennen,
Zürich 1955, 295-309; D (A.Kemény), »Kitsch als
Kunstideal. Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus«,
in: Der Gegen-Angriff (Prag/Paris), 1. Jg., 1933, Nr. 24,
31. Dez.; ders., »Goebbels gegen Göring. Zur Kunstpoli-
tik des Nationalsozialismus«, in: ebd., 2. Jg., 1934, H. 2,
14. Jan.; H.E, »›Freizeit‹ im Kapitalismus. Die mate-
rialistische Grundlage des Kitsches« (1933), GW 1, 204–08
(= »N.D.A. oder die neue Organisation der Freizeit«, GA Klasse an sich / für sich
IX.1.1, 185-88, bzw. »Einiges über das Verhalten der Arbei-
tersänger«, ebd., 221-23); W.F.H, Kritik der Warenäs- A: ˜abaquah bi¦°tih° / li¦atih°.
thetik, Frankfurt/M 1971; J.H, Pop International,
E: class in itself / for itself. – F: classe en soi / pour soi.
eine kritische Analyse, Frankfurt/M 1971; F.K, Der
Kitsch. Eine Studie über die Entartung der Kunst, Ham- R: klass v sebje / dlja sebja. – S: clase en sí / para sí.
burg 1925; D.K, »Kitsch«, in: ÄG 3, 2001, 273–88; C: zizai jieji / ziwei jieji 自在阶级 / 自为阶级
W.K, »Kitsch«, in: Metzler Lexikon Ästhetik, hgg.
v. A.Trebeß, Stuttgart 2006, 194f; L.K, Gegenstand Die Ausdrücke »Klasse an sich«, »Klasse für sich«
und Raum. Über die Historizität des Ästhetischen, Dres-
und »Klasse an und für sich«, die M zugeschrie-
den 1981; G.L, Die Eigenart des Ästhetischen, W 11
u. 12, 1963; L.M, »Sozialismus und Künstler« (1918), ben zu werden pflegen, finden sich bei diesem nicht.
in: Formen für den Alltag. Schriften, Aufsätze, Vorträge, B etwa behauptet in seiner Theorie des his-
hgg. v. R.May, Dresden 1982, 34–38; E.H.M, Musik torischen Materialismus (1922, §54), M verwende
im Zeitgeschehen, Berlin 1952, 161–64; P.P, »Musika- die Ausdrücke »Klasse an sich« und »Klasse für sich«
lischer Kitsch: Berührungspunkte zwischen Pop und Klas-
in Elend. Doch dort und zumal in dem von B
sik«, in: Aufsätze zur populären Musik, hgg. v. G.Mayer,
Berlin 1991, 187–97; O.R (Hg.), O Lust, allen alles als Belegstelle zitierten Passus unterscheidet M
zu sein. Modelektüre um 1800, Leipzig 1978; G.R, »eine Klasse gegenüber dem Kapital«, in der eine
»Aufbrüche in den Kitsch?«, in: Musik und Gesellschaft, »Masse« von Besitzlosen zusammengewürfelt ist,
40. Jg., 1990, H. 2, 80–84; ders., »Im Blick zurück nach von einer »Klasse für sich selbst«, in die sich diese
vorn. Lebensbilder in der Wiener Operette«, in: Musik- Masse über Konflikte, Erfahrungen und Organisa-
theater im Experiment, Berlin 2004, 208–17; ders., »Grä-
fin Mariza. Dramaturgische Notizen«, in: ebd., 218–26; tion verwandelt (4/181). Die objektive Lage jener
J.S-S (Hg.), Literarischer Kitsch. Texte zu seiner Masse geht ihrer intersubjektiven Realisierung vor-
Theorie, Geschichte und Einzelinterpretation, Tübingen aus. Daher die auf den ersten Blick paradoxe Einsicht,
1979; K.S, »Neudeutscher Kitsch. Göring auf der die E.P.T mit seinem Kontrahenten A-
Elchjagd – Horst Wessel und die Maikäfer – Wallfahrt  teilt, dass der Klassenkampf der Klasse (im vollen
nach Braunau«, in: Der Gegen-Angriff (Prag/Paris), 2. Jg.,
1934, H. 41, 12. Okt.; G.U, Glanzvolles Elend. Über Sinn) vorausgeht. Red.
Kitsch und Kolportage, Frankfurt/M 1973; G.W,
Theorie und Didaktik der Trivialliteratur. Modellanalysen, Als soziale Klassen werden die großen Gruppen
Didaktikdiskussion, literarische Wertung, München 1973; bezeichnet, in die sich Gesellschaften teilen und
P.W, Rockmusik. Ästhetische und soziologische Aspekte die sich nach ihren ökonomischen Stellungen und
eines Massenmediums, Leipzig 1987; ders., Rockmusik und
Politik. Analysen. Interviews. Dokumente, Berlin 1996;
Lebenslagen, nach ihren inneren Handlungsdisposi-
C.Z, »Kunst und Proletariat« (1911), in: dies., Theo- tionen und ihren äußeren Handlungsmöglichkeiten
rie und Taktik der Kommunistischen Bewegung, Leipzig differenzieren und ggf. einander entgegensetzen.
1974, 333–47. M und E unterscheiden sie nach ihrer Stel-
G M, G R lung innerhalb einer historischen Produktionsweise
und spezifischer Herrschaftsverhältnisse sowie nach
➫ Alltag, Arbeiterkultur, Ästhetik, Basisästhetik, Bedürf- ihrer Praxis im Feld gesellschaftlicher und politischer
nis, disponible Zeit, Dummheit in der Musik, Entfrem-
Auseinandersetzungen. ›Klasse‹ ist für sie zunächst
dung, Faschismus, Fetischcharakter der Ware, Freizeit,
Gebrauchswert, Gebrauchswertversprechen, Gegenkultur, ein heuristisches Konzept: Wie eine ›Klasse an sich‹
Genuss, Glück, Hoffnungslosigkeit, Hollywood, Illusion, zu einer »Klasse für sich selbst« (4/181) bzw. vom
Ironie, Jazz, Jugend, Kampflied, Karikatur, Kleinbürger, Objekt zum Subjekt der Geschichte wird, ist nicht
737 738 Klasse an sich / für sich

aus einer sozio-ökonomisch beschreibbaren Klas- des Kapitalismus, deuten aber auf unterschiedliche
senstellung allein »abzuleiten«, sondern muss an mögliche historische Konstellationen und nationale
den wirklichen historischen Bewegungen »studiert Wege. Die Verfestigung einander ausschließender
werden« (Engels an C.Schmidt; 37/436f). Gleich- Doktrinen war eine Folge der Enthistorisierung ihres
wohl werden Marx und Engels zwei verschiedene Klassenkonzepts.
Doktrinen der Klassenentwicklung zugerechnet,
von denen die erste die politische und die zweite die 1. Das von M und E umrissene Klassen-
soziale Umwälzung der Gesellschaft stärker betont. konzept ist in dreifachem Sinn ein historisches: in der
Es handelt sich dabei um die Verfestigung histo- Fragestellung, in der Theoriebildung und in der Zeit-
rischer Diagnosen, die ursprünglich auf verschiedene gebundenheit. Diese Bedingtheit wurde in der Wir-
Konstellationen und Phasen des Kapitalismus im 19. kungsgeschichte häufig ausgeblendet. Die Ausgangs-
Jh. bezogen waren und sich nicht notwendig gegen- frage war nicht, ob es überhaupt soziale Klassen gebe.
seitig ausgeschlossen haben. Die erste Diagnose geht Im 19. Jh. war es eine Selbstverständlichkeit, dass der
auf die spezifische Zuspitzung der Klassengegensätze historische Sieg des Bürgertums über die alten herr-
im England der 1840er Jahre zurück: auf eine anhal- schenden Klassen in England und Frankreich kein
tende Verschlechterung der Arbeits- und Lebens- Ende der Klassenunterschiede, sondern einen zusätz-
bedingungen, sinkende Qualifikationsstandards, lichen Gegensatz – zur neu entstehenden Klasse der
scheiternde Streik- und Wahlrechtsbewegungen und industriellen Lohnarbeiter – gebracht hatte. Ebenso
die Erwartung einer diese Ohnmacht beendenden selbstverständlich war es von David R (1817)
gewaltsamen Revolution. Sie hat die Vorstellungen bis zu Max W (1895), die fortgeschrittenen
einer ›revolutionären‹ marxistischen Klassentheorie Gesellschaften nach der ökonomischen Stellung
noch im 20. Jh. dominiert. – Die zweite Diagnose ent- ihrer hauptsächlichen Glieder in die drei Klassen des
stand gleichzeitig, wurde aber erst nach der geschei- großen Grundbesitzes, des Industriekapitals und der
terten Revolution von 1848, unterm Eindruck eines Lohnarbeit einzuteilen, zumal diese auch die sozialen
anhaltenden internationalen Wachstums der Produk- und politischen Auseinandersetzungen des Jahrhun-
tivkräfte und der organisierten Arbeiterbewegung, derts beherrschten. Strittig war demgegenüber die
näher ausgearbeitet. Zusammengefasst ist sie in dem bis zu W leitende Frage, welche dieser Klassen
Theorem, dass sich schon innerhalb der kapitalistisch zur selbständigen Gestaltung der Staats- und Gesell-
dominierten Ordnung der Widerspruch zwischen schaftsordnung befähigt sei (GPS, 23), bzw. ob die
den institutionellen Produktionsverhältnissen und Arbeiterklasse, wie vor ihr die Bourgeoisie, eine neue
den über den Kapitalismus hinausweisenden ökono- Gesellschaftsordnung hervorbringen könne und ob
mischen Produktivkräften entwickle. Die Arbeiter- diese den Anspruch der Klassenlosigkeit und Eman-
klasse wird als die größte dieser Produktivkräfte und zipation besser verwirklichen werde als die Bour-
Ausgangsbasis einer institutionellen Gegenmachtbil- geoisie.
dung verstanden. Eine auf Umgestaltung einer ganzen Gesellschafts-
Nach 1848 beobachteten M und E auf- ordnung zielende Frage kann nicht ohne eine umfas-
merksam die Entstehung neuer Gegenmachtpoten- sende Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung
ziale in den fortgeschrittenen Ländern. Sie kritisier- beantwortet werden. Durch ihren kritischen Rück-
ten die Verselbständigung des Staatsapparats in griff auf die politische Ökonomie von S und
Frankreich und die Staatsgläubigkeit in der Arbeiter- R konnten M und E die sozialen
bewegung und unterstützten demgegenüber die Ent- Klassen auch als ökonomische Faktoren analysie-
stehung unabhängig von Staat und Bürgertum sich ren. Anstatt die sozialen Kämpfe allein auf Ideen
organisierender Kräfte in Gestalt genossenschaft- oder Machtkämpfe zurückzuführen, untersuchten
licher, gemeindlicher und föderativer Selbstverwal- sie diese »nach den existierenden empirischen
tung. Gleichzeitig beobachteten sie die v.a. von den Daten« (DI, 3/29) und an der »wirklichen Bewe-
Facharbeitergewerkschaften erkämpften Verbesse- gung« (35) historischer Strukturen und Akteure.
rungen im Arbeits- und Wahlrecht, der Lebens- und Ihre Untersuchungen mündeten im Theorem des
Arbeitsverhältnisse und forderten eine staatliche Widerspruchs zwischen der Dynamik der ökono-
Arbeits-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungspoli- mischen Produktivkräfte und der Beharrungskraft
tik zur Verbesserung der sozialen Lage. Diese Ver- der in Verkehrsformen und Institutionen wirksamen
besserungen würden allerdings das Wachstum des Produktionsverhältnisse. Auch S und R
Elends nur eindämmen, nicht aber die grundsätz- hatten diesen Widerspruch ins Zentrum gerückt und
liche »Unsicherheit der Existenz« (22/231) beenden, betont, die Entwicklung der Produktivkräfte ver-
solange nicht auch die politische Macht übernommen lange nach neuen institutionellen Formen. Aber sie
sei. Beide Perspektiven zielen auf die Überwindung hatten angenommen, dass er mit der Durchsetzung
Klasse an sich / für sich 739 740

der kapitalistischen Marktgesetze, durch die sich Feuerbach), wonach die Arbeiterklasse sowohl durch
allgemeiner Wohlstand über alle sozialen Schichten bestimmte äußere Bedingungen erzeugt wird als auch
der Gesellschaft ausbreiten werde (S 1776/1937, durch eigene Kämpfe und Zusammenschlüsse sich
11), gelöst sei. M und E dagegen nahmen selbst erzeugt.
an, dass mit dem Sieg der Bourgeoisie kein Ende der Das praxeologische Theorem greift seiner Zeit weit
Geschichte als einer Geschichte von Produktions- voraus. Es gibt einen tragfähigen Rahmen für eine
weisen und Klassenkämpfen erreicht sei. Vielmehr Theorie der Klassenbildung ab, auch wenn M und
werde der Widerspruch zwischen vergesellschafteter E die künftigen Schritte der Entwicklung erst
Arbeit und privater kapitalistischer Aneignung die nach 1848 hinreichend konkret voraussehen und wis-
Geschichte über den Kapitalismus hinaustreiben. In senschaftlich zu fassen vermochten. V.a. konnten sie,
diesem Prozess werde die Arbeiterklasse, wie vor ihr wie ihre ethnologisch-historischen Studien belegen,
die Bourgeoisie, wiederum in zwei Gestalten auftre- zu ihrer Zeit nur ansatzweise auf eine Wissenschafts-
ten, einmal als »die größte Produktivkraft« der Öko- entwicklung zurückgreifen, die die Elemente einer
nomie und dann als potenziell kämpfender Akteur Soziologie und Psychologie des kollektiven Verhal-
im gesellschaftspolitischen Feld (4/181). tens und der Kulturen und Mentalitäten vorweg-
Solange sich die Elemente einer neuen historischen nahm. Diese entstanden erst nach 1890, als Reaktion
Produktionsweise und Gesellschaftsordnung im Schos- auf die neuen Massenbewegungen der Arbeiterklasse
se der alten Gesellschaft vorbereiten, koexistieren sie und waren zunächst auch kaum mit einer Klassen-
noch mit den Elementen der alten Gesellschaft. Insb. analyse verbunden. Erst die Arbeiten von Theodor
Theodor G hat daraus gefolgert und an der neue- G (1949), Edward Palmer T (1963),
ren Entwicklung belegt, dass historische Gesellschafts- Michael V (1970) und Pierre B (1979)
formationen nicht in ›reiner‹ Form als scharf vonein- griffen die praxeologische Klassenanalyse von M
ander trennbare feudale, ständische, kapitalistische usw. auf und führten sie weiter.
Ordnungen vorzufinden sind, sondern dass in ihnen 1.2 Während M wie E die ökonomischen
über längere Zeit historisch ungleichzeitige »domi- und politischen Prozesse weitgehend in ihrem his-
nante« kapitalistische und »subordinierte« nichtkapita- torisch spezifischen Zusammenhang miteinander
listische Elemente miteinander streitend koexistieren darstellen, haben sich diese beiden Aspekte in der
(1932, 84f, 92, 103ff; 1949, 44f, 47, 152-56). Wirkungsgeschichte des Marxismus gegeneinander
1.1 Die Entwicklung des Klassenkonzepts von verselbständigt. Die »subjektive Formel« (K
M und E war an bestimmte, die Möglich- 1938/1967, 137) ist 1848 im Manifest auf ihre Kurz-
keiten der Theoriebildung begrenzende historische form gebracht: »Die Geschichte aller bisherigen
Bedingungen gebunden. Die anfängliche Problem- Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.«
stellung blieb stark an die spezifisch zugespitzte (4/462) Sie fasst die historischen Teile des Manifests
(oder ›antagonistische‹) Klassenkonfrontation der zusammen, die auf die sozialhistorischen Arbeiten
1840er Jahre gebunden (vgl. 2); sie konnte die neuen der 40er Jahre zurückgehen (vgl. Lage, 2/430-55,
und differenzierten Entwicklungen nach 1848 (vgl. 504ff; DI, 3/17-70; Elend, 4/175-82). Die »objektive
3) nur wenig antizipieren und auch der Klassenent- Formel« (Korsch, aaO.) taucht 1846 als Quintessenz
wicklung vor 1840 (vgl. 4) nicht ohne perspektivische der DI auf: »Alle Kollisionen der Geschichte haben
Verzerrungen gerecht werden. also nach unsrer Auffassung ihren Ursprung in dem
E legte 1845 mit Lage eine einzigartig umfas- Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der
sende Darstellung der englischen Wirtschafts- und Verkehrsform« (3/73) bzw. – in den Worten des Vorw
Gesellschaftsverhältnisse vor, aber diese enthält z.T. 59 – den »Produktionsverhältnissen« (13/9).
noch lineare Prognosen, ferner Unterschätzungen des Bes. Karl K hat hervorgehoben, dass die bei-
Klassenbewusstseins der Arbeiter, die auf ein Elite- den Formeln sich zwar ergänzen, aber auf theoreti-
Masse-Schema zurückgehen. M entwickelte 1847 scher Ebene unzureichend miteinander vermittelt
ein methodisch stringentes Konzept der Klassenent- sind (1938/1967, 82ff, 136ff, 181ff). Auch deshalb
wicklung, das die empirische Entwicklung der eng- sind sie zur Grundlage gegensätzlicher Konzepte der
lischen Gewerkschaftsbewegung nach einem praxeo- historischen Handlungsperspektive der Arbeiterbe-
logischen Theoriekonzept auf den Begriff bringt und wegungen geworden, eines substanzialistischen bzw.
quer zur Alternative von idealistischen und anschau- mechanisch-evolutionistischen Konzepts und eines
end-materialistischen Interpretationen steht. Das »relationalen« bzw. »praxeologischen«, wie es B-
Theorem der Entwicklung von der ›Klasse an sich‹  (1976, 139-318) nannte, als er, angeregt von den
zur »Klasse für sich selbst« (4/181) enthält bereits Feuerbachthesen (143, 228), seinen »Entwurf einer
fast alle wesentlichen Elemente eines analytischen Theorie der Praxis« ausarbeitete, mit dem er sich von
Konzepts sozialer Praxis (im Sinne der Thesen über den phänomenologischen und strukturalistischen
741 742 Klasse an sich / für sich

Ansätzen abgrenzte. Das ›mechanische Modell‹, Bei solchen Quintessenz-Texten muss unterschie-
zunächst bei E in Lage angelegt, zieht sich v.a. den werden, ob ausgelassene analytische Distinktio-
durch die Kampfschriften (bes. Manifest und AD). nen und empirische Bezüge durch Rückgriff auf den
Dabei erscheint die Arbeiterklasse primär als auto- Texthintergrund wiederhergestellt werden können
matischer Träger struktureller Bestimmungen bzw. oder ob sie auch dort fehlen, d.h. tatsächlich auf einer
als leidendes, fragmentiertes und führungsbedürftiges ›reduktionistischen‹, wichtige Vermittlungsglieder
Objekt, das sich nur durch gewaltsame Empörung und Unterscheidungen auslassenden Analyse beruhen.
und Sturz der bürgerlichen Staatsmacht wehren kann, An den Formulierungen in Elend, in denen M die
also nach dem Muster der »jakobinisch-bürgerlichen Entwicklung der Arbeiterklasse zur »Klasse für sich
Revolution« in Frankreich (K 1938/1967, 59). selbst« konzipiert, lässt sich dies exemplarisch zeigen
Das praxeologische Konzept geht dagegen von der (wobei die eingefügten Ziffern und kursiven Hervor-
Entstehung der Klassenorganisationen durch soziale hebungen die analytischen Dimensionen markieren,
Kämpfe aus, in denen schon innerhalb des Kapita- die in den folgenden Unterabschnitten vollständiger
lismus institutionelle Gegenmacht und sozialpo- dargestellt werden): »Die ökonomischen Verhältnisse
litische Reformen errungen werden, die über den haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter
Kapitalismus hinausweisen können. In den Worten verwandelt [1]. Die Herrschaft des Kapitals hat für
B (1998, 25): »Von der nur auf dem Papier diese Masse eine gemeinsame Situation [2], gemein-
existierenden Klasse zur ›realen‹ Klasse kommt man same Interessen [3] geschaffen. So ist diese Masse
nur um den Preis einer politischen Mobilisierungs- bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch
arbeit: Die ›reale‹ Klasse [...] ist immer nur die reali- nicht für sich selbst. In dem Kampf [4], den wir nur
sierte, d.h. mobilisierte Klasse, Ergebnis des Klassifi- in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich
zierungskampfes als eines genuin symbolischen (und diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse
politischen) Kampfes«. für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt,
Die verschiedenen Konzepte wurden zur Grund- werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse
lage einerseits evolutionistischer, auf den Gang der gegen Klasse ist ein politischer Kampf [5].« (4/180f)
Geschichte vertrauender, andererseits aktivistischer, Eingerahmt sind diese viel zitierten Zeilen in zwei
auf die militärische Machteroberung setzender Auf- andere Quintessenz-Passagen, die für das Verständ-
fassungen. Die Bewegungen bzw. ihre Avantgarden nis unverzichtbar sind, weil sie die historischen
sind immer wieder in ›objektivistische‹ und ›subjek- Bezüge und v.a. die Pointe verdeutlichen, dass die
tivistische‹, ›evolutionäre‹ und ›aktivistische‹, ›refor- Klasse nicht nur erzeugt wird, sondern sich durch
mistische‹ und ›revolutionäre‹ Richtungen zerfallen. Kämpfe, Koalierung und Gegenmachtbildung auch
Die praxeologische Denkströmung lag quer zu diesen selbst erzeugt. Der dem Leitzitat vorangestellte Rah-
dualistischen Alternativen; aus ihr sind bedeutsame, mungstext bildet, als begrifflich-analytische Zusam-
wenn auch an den Rand gedrängte Weiterentwicklun- menfassung nach der schen Methode, den
gen der historischen Klassenanalyse hervorgegangen, Abschluss des Kapitels »Strikes und Arbeiterkoali-
die mit den Namen Rosa L und Antonio tionen«: »Die Großindustrie bringt eine Menge ein-
G, aber auch T, B, Raymond ander unbekannter Leute an einem Ort zusammen.
W und Barrington M verbunden sind. Die Konkurrenz spaltet sie in ihren Interessen; aber
die Aufrechterhaltung des Lohnes, dieses gemein-
2. Im 1847 auf den abschließenden Seiten von Elend same Interesse gegenüber ihrem Meister, vereinigt sie
(4/180ff) entworfenen praxeologischen Konzept ist in einem gemeinsamen Gedanken des Widerstandes
die Klassenentwicklung bereits in allen ihren ana- –! Koalition.« (180) Diese erfüllt einen »doppelten
lytischen Dimensionen konzipiert. Nach den präg- Zweck«: zum einen, »die Konkurrenz der Arbeiter
nanten Formulierungen, durch die das sche unter sich aufzuheben« und damit die »Aufrechter-
Klassenkonzept bekannt geworden ist, »mag es aus- haltung der Löhne« zu erreichen; zum andern, eine
sehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori dauerhafte Konstitution als Interessenvertretung im
zu tun« (23/27). Tatsächlich sind sie als »summa- Konflikt mit den Kapitalisten zu erreichen. So »for-
rische Zusammenfassung langer Entwicklungen, die mieren sich die anfangs isolierten Koalitionen in dem
vorher […] gegeben worden sind« (19/111), entstan- Maß, wie die Kapitalisten ihrerseits sich behufs der
den, also als Quintessenzen, in denen differenzierte Repression vereinigen zu Gruppen, und gegenüber
historische und zeitgeschichtliche Untersuchungen dem stets vereinigten Kapital wird die Aufrechter-
auf den Begriff gebracht sind. Diese Zusammenfas- haltung der Assoziationen notwendiger für sie als die
sungen tauchen später oft als Versatzstücke in den des Lohnes« (ebd.).
wissenschaftlichen und v.a. politischen Schriften von Der zweite, ohne Unterbrechung an das Leitzitat
M und E auf. anschließende Rahmungstext zieht das klassische
Klasse an sich / für sich 743 744

Modell der Revolution der Bourgeoisie heran, die Andererseits haben diese Konzepte dort, wo bei
sich in einem etwa achthundertjährigen Emanzipa- M und E Lücken bleiben, Neuentwicklun-
tionskampf innerhalb der vorangehenden Gesell- gen angeregt, welche die analytische Methode und die
schaftsformationen konstituiert hat: »Mit Bezug auf praxeologische Sichtweise auf neue Gegenstände der
die Bourgeoisie haben wir zwei Phasen zu unter- Klassenanalyse ausweiten. V.a. wurde das Konzept der
scheiden: die, während derer sie sich unter der Herr- historischen Ungleichzeitigkeit auf die fortgeschritte-
schaft des Feudalismus und der absoluten Monarchie nen Klassengesellschaften ausgedehnt (G 1932
als Klasse konstituierte [4, 5], und die, wo sie, bereits u. 1949), dem Konzept der Produktionsweise das
als Klasse konstituiert, die Feudalherrschaft und die der klassenspezifischen Lebensweise oder Kultur an
Monarchie umstürzte [6], um die Gesellschaft zu einer die Seite gestellt (W 1958, T 1963),
Bourgeoisgesellschaft zu gestalten [7]. Die erste dieser der Ausdruck Kapital für die nichtökonomischen
Phasen war die längere und erforderte die größeren Machtressourcen der Klassen (»kulturelles Kapital«)
Anstrengungen. Auch das Bürgertum hatte mit par- genutzt (B 1979) und die Differenzierungen
tiellen Koalitionen gegen die Feudalherren begonnen der Klassen in neue »Klassenfraktionen« im Kontext
[…,] von der Stadtgemeinde an bis zu ihrer Konsti- der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktiv-
tuierung als Klasse […]. Eine unterdrückte Klasse ist kräfte erklärt (B 1979, V 1998, V
die Lebensbedingung jeder auf den Klassengegensatz u.a. 2001). Ein Teil dieser Neuentwicklungen ist in den
begründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unter- späteren Schriften von M und E angebahnt, in
drückten Klasse schließt also notwendigerweise die denen sie die neueren politischen und ökonomischen
Schaffung einer neuen Gesellschaft [7] ein.« (181) Entwicklungen sowie die Forschung zur Ethnolo-
Unterschieden werden damit insgesamt sieben gie und zur Geschichte der Produktionsweisen und
Dimensionen. Zunächst drei Dimensionen der ›Klasse Gesellschaftsformationen aufgearbeitet haben.
an sich‹: Stellung als Lohnarbeiter, gemeinsame Lage 2.1 Klassenstellung ist ein ›relationales‹ Konzept, das
unter Herrschaft des Kapitals, gemeinsame Interes- die relative Position einer Klasse in der Organisation
sen; sodann zwei Dimensionen der Konstitution und der institutionalisierten Klassenherrschaft (Produk-
Organisation als »Klasse für sich selbst«: Koalierung tionsverhältnisse) und der funktionalen gesellschaft-
zuerst im gewerkschaftlichen Kampf und dann im lichen Arbeitsteilung (Produktivkräfte) bezeichnet.
politischen Kampf; schließlich zwei Dimensionen der Diese beiden Momente der kapitalistischen Produk-
Revolution: Eroberung der politischen Macht und tionsweise können miteinander in Widerspruch gera-
Gestaltung der neuen Gesellschaft. V.a. den ersten ten, wenn die Verkehrsformen, Gewalt- und Rechts-
vier Dimensionen liegen 1847 bereits ausführliche verhältnisse, die die Machtstellung der Akteure
historische Analysen zugrunde (bes. in Lage, DI u. begründen, sich nicht mit den Produktivkräften
Elend), die später fortgeführt wurden (u.a. in Gr, weiterentwickeln, sondern aus Gründen der Macht-
K I u. Ursprung). Sie verdeutlichen, wie weit diese erhaltung deren Entwicklung eher hemmen.
Dimensionen gerade nicht idealistisch-teleologische Produktionsverhältnisse. – Voraussetzung kapita-
Konstrukte sind, sondern der »wirklichen Bewegung« listischer Klassenherrschaft und Klassenverhältnisse
historischer Strukturen und Akteure nachgehen ist die geschichtliche Entstehung des kapitalisti-
(3/35). Auch die übrigen Dimensionen wurden nach schen Produktionsverhältnisses und damit v.a. der
1848 auf empirischer Grundlage weiter ausgefüllt. im doppelten Sinne ›freien‹, d.h. eigentumslosen und
Die dabei als Arbeitsbegriffe der empirischen Ana- ungebundenen, Lohnarbeiter. Sie sind als Bauern,
lyse angelegten begrifflichen Unterscheidungen ent- Handwerker usw. in einem jahrhundertelangen his-
sprechen durchaus dem internationalen terminolo- torischen Enteignungsprozess über gewaltsame und
gischen Gebrauch der Schichtungs- und Klassensozio- rechtliche Hebel ›befreit‹ worden von ihren eigenen
logie im 20. Jh., vermitteln diese Konzepte aber diffe- Produktionsmitteln und von den institutionellen
renzierter mit den historisch-gesamtgesellschaftlichen »Garantien ihrer Existenz« (23/743) wie u.a. dem
Zusammenhängen. Zu ihnen gehören die von M Gemeindeland. Befreit worden sind sie auch von den
und E verwendeten Konzepte »Stellung« (i.d. persönlichen Pflichten der feudalen und ständischen
Soziologie gebräuchlich: ›position‹), »Lage« (›situa- Rechtsordnungen. Dadurch werden »die Arbeiter in
tion‹), »Praxis« (›action‹, ›Handeln‹), »Kampf« (›con- Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital ver-
flict‹), »Organisation« (›organisation‹), »Koalition« wandelt« (790), so dass »die Arbeitsbedingungen auf
(›combination‹, ›coalition‹), »Einrichtung« (›institu- den einen Pol als Kapital treten und auf den andren
tion‹), »Kommunikation« (›communication‹). Ergänzt Pol Menschen, welche nichts zu verkaufen haben als
werden sie durch übergreifende Konzepte wie »Produk- ihre Arbeitskraft« (765).
tivkräfte«, »Produktionsverhältnisse«, »Produktions- Produktivkräfte. – Gleichzeitig hat die Bourgeoisie
weise« usw. v.a. im 18. Jh. ihrer »Klassenherrschaft massenhaftere
745 746 Klasse an sich / für sich

und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als die sinkenden quantitativen Niveaus der Lebenslage,
alle vergangenen Generationen zusammen« (4/467). um die es damals ging, in den Vordergrund, in den
Dazu gehört nicht nur die Erschließung der Natur- Jahrzehnten darauf, als zunehmend bessere Lebens-
kräfte, des Binnen- und Weltmarktes, neuer Tech- bedingungen erkämpft wurden, eher die »Unsicher-
nologien und Verkehrssysteme, sondern auch, über heit« (22/231) dieser durchaus nicht geleugneten
neue Technologien und Arbeitsorganisation, die Ent- Errungenschaften.
wicklung der Produktivkraft der Lohnarbeit durch Die Lebenslage der arbeitenden Klasse hängt
zunehmende Vergesellschaftung und Kooperation nach M und E zwar grundlegend ab von
vom Betrieb bis zum Weltmarkt. der Klassenstellung als freie Lohnarbeiter, die ihre
Widerspruch. – Dieser ist in der klassischen Formel Arbeitskraft als Ware verkaufen und die daher zulas-
in Vorw 59 zusammengefasst: »Auf einer gewissen sen müssen, dass das Produkt ihrer Mehrarbeit von
Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Pro- den Kapitaleignern angeeignet und akkumuliert wird.
duktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit Wie und in welchem Ausmaß diese Ausbeutung
den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, geschieht, ist jedoch nach ihren Analysen nicht allein
was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den durch nackte ökonomische Interessen bzw. Naturge-
Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich setze bestimmt. Vielmehr erhalten die Beziehungen
bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der zwischen den Klassen durch das Mittel spezifischer
Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fes- Macht-, Herrschafts- und Rechtsverhältnisse, die
seln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer in sozialen und politischen Kämpfen zwischen den
Revolution ein.« (13/9) Dabei handelt es sich nicht um Akteuren hervorgebracht und verändert werden, eine
naturgesetzliche Entwicklungen, die sich unabhän- historisch wandelbare Form.
gig von der aktiven Praxis und den Kämpfen sozia- Während die v.a. von M bis in die 1860er Jahre
ler Akteure durchsetzen. Die historischen Analysen erarbeitete Analyse der Klassenstellung auf einer
arbeiten ausdrücklich heraus, dass diese Revolutio- theoretisch durchdrungenen Analyse gesellschaft-
nierung der Produktionsweise durch aktive Praxis licher Widersprüche und sehr langfristiger, facetten-
einer sozialen Klasse politisch, d.h. mittels gewalt- reicher historischer Veränderungen (bes. in DI, Gr
samer und zunehmend auch rechtlich-institutioneller und K I) beruht, ist die zuerst von E bis 1845
Hebel durchgesetzt worden ist (vgl. 23/741ff). Eben erarbeitete umfangreiche Darstellung der Lebenslage
diese Mittel werden zum Hemmnis, wenn die Pro- der arbeitenden Klasse an zeitgenössischem Unter-
duktivkräfte immer gesellschaftlicher werden, die suchungsmaterial in Lage methodisch eher deskriptiv
Aneignungs- und Herrschaftsformen aber privat blei- und nicht widerspruchsanalytisch angelegt. Die Stu-
ben. Den Kämpfen um die rechtlich-institutionelle die ist einzigartig als Beschreibung der vielgestaltigen
Regelung des Koalitions-, Arbeits- und Eigentums- Entwicklungen in England, aber erst wenig entwi-
rechts widmen M und E daher bes. großen ckelt und reflektiert in der ihren Interpretationen
Raum. Angelpunkt (und Vermittlungsscharnier zwi- zugrundeliegenden Methodologie. Zwei Entwick-
schen »objektiver« und »subjektiver Formel«) ist der lungsannahmen sind bes. problematisch und später
Kampf um institutionelle Regulierung der Klassen- von Engels auch relativiert worden: die Annahme
konstellation. über die Unreife der Mentalität der arbeitenden
2.2 Klassenlage. – Im Konzept der Klassen- oder Klasse und die Prognose einer linearen Tendenz der
Lebenslage liegt ein entscheidendes Problem der Verelendung und Klassenpolarisierung.
Theorie der Klassenkonstitution. Die Lebenslage Die Prognosen gehen vorwiegend aus von den
ist die Vermittlungsstelle zwischen Klassenstellung Erfahrungen der Krisenjahre bis 1848, welche die
und Klassenpraxis. Hier erfahren die Menschen ihre frühe englische Arbeiterbewegung durchmachte,
Klassenstellung in vielen Dimensionen praktisch und nachdem ihre Wahlrechtsbewegungen und Arbeits-
können sie ihr Interesse am praktischen Widerstand kämpfe, die sich seit 1820 im Aufwind befunden hat-
entwickeln. Die Klassenstellung wirkt sich nicht ten, ab 1832 erhebliche Niederlagen hatten hinneh-
nur unmittelbar, sondern vermittelt über vielgestal- men müssen (vgl. V 1970a, 281-396). Da beide
tige gewaltförmige und institutionalisierte Macht- Bedingungen verbesserter Lebenslagen – erfolgreiche
verhältnisse auf die von den Arbeitern erfahrenen Tarifkämpfe und die Entwicklung eines Sozialstaats
Lebensbedingungen aus. So hängt die empirische durch eine Arbeitermehrheit im Unterhaus – bis
Lebenslage nicht zuletzt von den gewerkschaftlichen 1848 unverwirklicht blieben und ein erneuter Auf-
Kämpfen um bessere Tarife und von den politischen schwung der Arbeiterbewegungen aus dieser histo-
Kämpfen um sozialstaatliche Sicherungen ab. Hier rischen Situation nur schwer vorstellbar war, wurde
zeigt sich auch eine bemerkenswerte Entwicklung die Verschlechterung der sozialen Lage als lineare
der Konzepte. In den 1840er Jahren stellte E v.a. Entwicklungstendenz in die Zukunft projiziert, so
Klasse an sich / für sich 747 748

wie schon einer der ersten Korrespondentenberichte werden in der Technologie, d.h. der »Maschinerie«,
von E (1842) aus Lancashire mit den Worten gesehen. »Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb
beginnt: »Die Lage der arbeitenden Klassen in Eng- des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem
land wird täglich prekärer.« (1/464) In Lage und die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der
Manifest findet sich diese Sichtweise eingeordnet in Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein
das Modell einer naturnotwendigen kausalen Stufen- gleich niedriges Niveau herabdrückt.« (4/470)
folge von Eigentumslosigkeit, Verelendung, Empö- Zersplitterung der sozialen Bande. – In Lage ent-
rung, politischer Machteroberung und gesellschaft- wickelt E eine Art Auflösungs- oder Fragmen-
licher Umgestaltung. tierungsthese, in der ausführlichen Darstellung einer
In diesem deskriptiven Szenario linearer Tendenzen »in lauter Atome aufgelösten Gesellschaft« (2/304),
unterscheidet das Manifest (4/466-70), gestützt auf der »Lockerung aller sozialen Bande« (358), der
die umfassendere Untersuchung in Lage, v.a. vier »Immoralität« und Demoralisierung (343f). Nach
Einzeldimensionen der Lebenslage: Klassenpolari- dem Manifest, das die Quintessenz dieser Darstel-
sierung (Abwärtsmobilität), vereinheitlichende Her- lung formuliert, hat die Bourgeoisie mit den Mitteln
abdrückung der Arbeits- und Lebensbedingungen, ihrer Herrschaft alle ständischen, feudalen, patriar-
Zersplitterung der gefühlsmäßigen sozialen Bande, chalischen, idyllischen Verhältnisse und Bindungen
aber auch Aufhebung dieser Zersplitterung durch der Menschen an ihre Vorgesetzten »zerstört« und
Vergesellschaftung der Produktions-, Verkehrs- und die entsprechenden Vorstellungen und Anschau-
Kommunikationsmittel. ungen »aufgelöst«, im »eiskalten Wasser egoistischer
Polarisierung. – Mit der Zentralisation des Kapi- Berechnung ertränkt« und nur »das nackte Inter-
tals steigert sich die Polarisierung der Gesellschaft in esse«, die »gefühllose‚ ›bare Zahlung‹« übrig gelassen
immer mehr eigentumslose Lohnarbeiter und immer (4/464f). Das Szenario der im Sinne Emile D
weniger mächtige Kapitalmagnaten. Immer mehr anomischen Auflösung sozialer Beziehungen umfasst
Angehörige der »bisherigen kleinen Mittelstände […] nicht allein die vertikalen Klassenbeziehungen, son-
fallen ins Proletariat hinab«, da ihr ökonomisches dern auch die horizontalen Vergemeinschaftungen
Kapital für die neue Produktionsweise nicht ausreicht des Alltags. So sind »infolge der großen Industrie alle
und ihre Arbeitsqualifikation (»Geschicklichkeit«) Familienbande für die Proletarier zerrissen« (478).
durch dieselbe »entwertet wird« (469). Auch Ange- Die Arbeiterklasse wird nach dem Bild einer atomi-
hörige der akademischen Berufe – Ärzte, Juristen, sierten, passiven Masse interpretiert.
Pfaffen, Poeten, Wissenschaftler – werden in »Lohn- Kommunikation. – M wie auch E betonen,
arbeiter verwandelt« (465). Teile der »herrschenden dass diese Homogenität einer gemeinsamen herabge-
Klasse« werden »ins Proletariat hinabgeworfen«, drückten Lebenslage der ›Klasse an sich‹ bzw. gegen-
führen diesem »eine Masse Bildungselemente« zu, über dem Kapital keineswegs von sich aus zur Ver-
darunter einen »Teil der Bourgeoisideologen, welche einigung dieser fragmentierten Masse führt. Um zur
zum theoretischen Verständnis der ganzen geschicht- »Klasse für sich selbst« zu werden, muss der Zustand
lichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben« (471f). der durch »Konkurrenz zersplitterten Masse« (470)
Vereinheitlichende Herabdrückung. – Für die prole- isolierter Einzelner überwunden, d.h. die Vergesell-
tarisierten Gruppen (außer für das am Gelegenheits- schaftung ihrer Beziehungen erreicht werden. Diese
erwerb orientierte Lumpenproletariat) schaffen nun wird von der industriekapitalistischen Produktions-
die »große Industrie« (463) und die Herrschaft des weise selber ermöglicht, indem sie die Arbeitenden in
Kapitals gedrückte und einheitliche »Lebenslagen« Großbetrieben, großen städtischen Agglomerationen
(470f): Dequalifizierung (die Arbeit wird unselbstän- und über zunehmende Verkehrs- und Kommunikati-
dig, reizlos und auf einfache Handgriffe reduziert); onsmittel physisch zusammenbringt (466f).
despotische Fabrikdisziplin (ausgeübt durch Aufse- M hat dies 1852 im 18.B durch den Vergleich
her und den Takt der Maschinen); unsichere Beschäf- mit den französischen Parzellenbauern verdeutlicht:
tigung (abhängig von Marktschwankungen und Diese »bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder
Konkurrenz zwischen den zersplitterten Arbeitern); in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache
entsprechend auf das Subsistenzniveau gedrückte Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktions-
Löhne; schließlich ein zunehmender Pauperismus in weise isoliert sie voneinander, statt sie in wechsel-
den Elendsvierteln der Industriestädte. Diese Herab- seitigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird
drückung wird gleichzeitig als Vereinheitlichung der gefördert durch die schlechten französischen Kom-
Lage auch in anderen Wirtschaftszweigen nach dem munikationsmittel und die Armut der Bauern. […]
Muster der Arbeitsverhältnisse der großen Textilin- Jede einzelne Bauernfamilie genügte beinahe sich
dustrie (2/360-429) und der Lebensverhältnisse der selbst […]. Insofern Millionen von Familien unter
Fabrikstädte (256-305) verstanden. Die Ursachen ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre
749 750 Klasse an sich / für sich

Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von ausmachen« und dann sehen, »wie leicht es ihm wäre,
denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich die bestehende soziale Macht zu stürzen, und dann
gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern ein folgt die Revolution« (2/503f). Tatsächlich spreche
nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbau- alles dafür, dass die »Handelskrisen, der mächtigste
ern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Hebel aller selbständigen Entwicklung des Proleta-
Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und riats, […] in Verbindung mit der auswärtigen Kon-
keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, kurrenz und dem steigenden Ruin der Mittelklasse,
bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr die Sache kürzer abmachen« werden (504).
Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Gleichwohl bleibt sich E bewusst, dass er
Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu damit nur einen der möglichen Fälle beschreibt,
machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen der an das ›Wenn‹ eines bestimmten Verhaltens
vertreten werden.« (8/198) der Bourgeoisie und des Proletariats gebunden ist:
2.3 Klasseninteresse. – Auf welche Weise die Dimen- »Wenn sich bis dahin die englische Bourgeoisie nicht
sionen der sozialen Lage von den sozialen Klassen besinnt – und das tut sie allem Anschein nach gewiss
praktisch erfahren und in Klassenhandeln umgesetzt nicht –, so wird eine Revolution folgen, mit der sich
werden können, ist nicht zusammenhängend und keine vorhergehende messen kann. […] Der Krieg
begrifflich stringent ausgearbeitet. Hier bewegen der Armen gegen die Reichen wird der blutigste sein,
sich M und E noch weitgehend innerhalb der je geführt worden ist.« (504) Die Chancen der
der Grenzen der wissenschaftlichen Entwicklung dem entgegengesetzten, vergleichsweise friedlichen
im 19. Jh. Erst von den 1890er Jahren an wurden, Alternative werden am empirischen Beispiel der
nicht zuletzt herausgefordert von den Arbeiterbe- gewerkschaftlichen Kämpfe in England, die zu einer
wegungen selber, die Elemente einer Soziologie und Verbesserung der Lage der Arbeiter führen können,
Psychologie des Massenverhaltens und der Kulturen, und am Beispiel der Zunahme von Bildung und
Mentalitäten und des Habitus von Klassenmilieus rationaler Aushandlungsfähigkeit bei den Arbeitern
entwickelt. T (1963), der die Entstehung festgemacht: wenn die englischen Arbeiter die sozia-
der frühen Arbeiterklasse auf bisher breitester empi- listischen Ideen in sich aufnehmen würden, würden
rischer Grundlage untersucht hat, sieht die äußere »ihre Schritte gegen die Bourgeoisie an Wildheit und
Bedingtheit und die praktische Selbsterzeugung der Rohheit verlieren« (505).
Arbeiterklasse nicht als einander ausschließende In Elend macht M die Beschreibungen und Ein-
Gegensätze: »Die Arbeiterklasse wurde nicht nur schätzungen von Lage zur Grundlage einer begriff-
geschaffen, sie war zugleich ihr eigener Schöpfer.« lich-analytischen Aufarbeitung, die in das Konzept
(1987, 109, vgl. 7) Er verwendet das Gegensatzpaar der Entwicklung zur »Klasse für sich selbst« (4/181)
heuristisch und nicht doktrinär und kann damit ihr durch gewerkschaftliche Kämpfe und Kampforgani-
ergänzendes Zusammenwirken darstellen. sationen mündet. Im Manifest wird versucht, beide
In der Tat wurden beide Perspektiven ursprünglich, Szenarien nicht mehr als einander ausschließende
in Lage, nicht als einander ausschließend, sondern Alternativen darzustellen, sondern als aufeinander
als zwei mögliche alternative Fälle bzw. Szenarien folgende Phasen der Klassenentwicklung miteinan-
entwickelt. Sie fassen Handlungsdispositionen, Klas- der zu verbinden. Das Szenario der zwangsläufigen
senkonstellationen und Wirtschaftsentwicklungen Revolution wird 1867, in K I, auch begrifflich zum
zu historisch konkreten, aber noch nicht methodisch Konzept einer ›abkürzenden Revolution‹ zugespitzt:
reflektierten Ablaufbildern zusammen. Die beiden die aus extremer sozialer Polarisierung geborene
Szenarien wurden in Elend und im Manifest for- proletarische Revolution werde die Phase der langen
muliert und dabei so nebeneinander verwendet, als historischen Gegenmachtbildung, die das Bürgertum
handle es sich um vereinbare heuristische Konzepte. noch gebraucht habe, notgedrungen auslassen und
In Lage diagnostiziert E eine durch Wirt- überspringen. Im einflussreichen AD wird 1877/78
schaftskrisen und internationale Konkurrenz ver- ein weiteres Mal versucht, das Muster der aktiven
schärfte Verelendung. Sinkt Englands Weltmarktrang, Gegenmachtentwicklung dem Muster einer zwangs-
»wird die Majorität des Proletariats auf immer ›über- läufigen Entwicklung unterzuordnen.
flüssig‹ und hat keine andre Wahl als zu verhungern Parallel entwickeln M und E nach 1848,
oder – zu revolutionieren.« (2/503) Kann es seine angeregt durch neue internationale Entwicklungen,
Position halten, würden die Handelskrisen »mit der ihr Gegenmachtmodell weiter, als Perspektive der
Ausdehnung der Industrie und der Vermehrung des Bildung autonomer, über den Kapitalismus hinaus-
Proletariats immer gewaltsamer, immer schauder- weisender politischer und wirtschaftlicher Selbstver-
hafter werden. Das Proletariat würde […] bald die waltung. Der Widerspruch zwischen beiden Szena-
ganze Nation, mit Ausnahme weniger Millionäre, rien bleibt bestehen. Engels löst ihn schließlich an
Klasse an sich / für sich 751 752

seinem Lebensende, indem er im Lage-Vorwort von nicht nur der Militanz der Kampfmittel. Dass die
1892 (22/265ff) zu seiner ursprünglichen Argumenta- englischen Arbeiter eher gewerkschaftlich und mit
tionsfigur zurückkehrt, dass es sich um verschiedene, Streiks, die französischen Arbeiter eher politisch und
historisch und nach Ländern spezifische Wege zu in Form gewaltsamer Aufstände kämpfen, ist für ihn
einer neuen Gesellschaft handle. kein Ausdruck dafür, dass es den englischen Arbei-
Trotz dieser Schwierigkeiten der Theorieentwick- tern an Militanz, am »revolutionären Mut« (2/443)
lung gewinnen in den Entwicklungsszenarien und fehle. Er sieht den Unterschied weniger bei den
in den historischen Arbeiten von M und E moralischen Eigenschaften der Arbeiter selbst als
die verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen in den verschiedenen nationalen Entwicklungsmus-
wie auch länderspezifische Kampfbedingungen über tern: »Die englischen Arbeiter geben keiner Nation
die Jahrzehnte zunehmend an Kontur. An diese teils an Mut etwas nach, sie sind ebenso unruhig wie die
weiter führenden Differenzierungen, teils problema- Franzosen, aber sie kämpfen anders. Die Franzosen,
tischen Vereinfachungen knüpfen die späteren Ent- die durchaus politischer Natur sind, kämpfen auch
wicklungen der Klassentheorie und -analyse an. gegen soziale Übel auf politischem Wege; die Eng-
Teilgruppen der Volksklassen. – Zum einen wer- länder, für die die Politik nur um des Interesses, um
den die grundlegenden typologischen Unterschiede der bürgerlichen Gesellschaft willen existiert, kämp-
der Interessen oder Standpunkte der Volksklassen fen, statt gegen die Regierung, direkt gegen die Bour-
als Probleme der Arbeiterbewegungen diskutiert. So geoisie, und dies kann mit Effekt einstweilen nur auf
unterscheidet das Manifest (4/465, 471ff) – abgese- friedlichem Wege geschehen.« (441)
hen von den zur Arbeiterbewegung stoßenden Teilen 2.4 Gewerkschaftliche Gegenmacht. – Das Kon-
der kritischen akademisch-ständischen bürgerlichen zept der Entwicklung zur »Klasse für sich selbst«
Intelligenz – drei große Teilgruppen der Volksklassen, in Elend ist an das historische Modell der bürger-
deren Unterschiede M und E in ihrer Klas- lichen Revolution angelehnt. Die Voraussetzungen
senstellung und gesellschaftspolitischen Orientierung für die Durchsetzung einer neuen Gesellschaftsord-
sehen: 1. das deklassierte Lumpenproletariat, das auf nung sollen schon im Schoße der alten verwirklicht
die schwankende Orientierung an äußeren Gelegen- werden: eine hohe Entwicklung der ökonomischen
heiten und die Anlehnung an stärkere Schutzmächte Produktivkräfte und damit der Arbeiterklasse, die
angewiesen ist, 2. die absteigenden konservativ- Erkämpfung institutioneller Gegenmacht v.a. durch
kleinbürgerlichen Volksmilieus, die eine Rückkehr die Gewerkschaftsbewegung und die Entwicklung
zu ständischen bzw. reaktionären Ordnungen befür- rationaler Handlungsformen und -perspektiven bei
worten und schließlich 3. die eigentliche industri- den Arbeitern.
elle Lohnarbeiterklasse. Diese wird – jedenfalls im Parallele zur bürgerliche Klassenentwicklung. – In
Manifest – als einziger Teil der Volksklassen gesehen, dieser ist der Phase der politischen Revolution, in der
der eine gegenüber der Bourgeoisie ›selbständige‹ die alte Ordnung umgestürzt und die neue Gesell-
gewerkschaftliche und politische Interessenvertre- schaft gestaltet wurde, eine längere und mit Anstren-
tung erstrebt. gungen verbundene Phase der Klassenkonstitution
Wenn auch die Entstehung dieser drei Standpunkte vorausgegangen, in der die neuen Produktivkräfte
hier nicht mentalitätstheoretisch erklärt wird, so ist entwickelt und die institutionelle Gegenmacht
doch deutlich, dass sie nicht durch die aktuelle Lage erkämpft wurden, beginnend mit partiellen Koalitio-
als Lohnarbeiter geprägt sind (dies entspräche einer nen gegen den Feudalismus und selbstverwalteten
Widerspiegelungstheorie bzw. einem Ansatz der Stadtgemeinden (4/181). Im Manifest werden die
interessegeleiteten ›rational choice‹), sondern durch »Entwicklungsstufen der Bourgeoisie« genauer dar-
ihre Vorgeschichte als verschiedene Fraktionen der gestellt: als »Produkt […] einer Reihe von Umwäl-
Volksklassen historisch erworben und verfestigt sind. zungen in der Produktions- und Verkehrsweise«,
Nationale Entwicklungsmuster. – Die Unterschiede »begleitet von einem entsprechenden politischen
in der Militanz werden schließlich nicht nur auf per- Fortschritt. Unterdrückter Stand unter der Herr-
sönliche Eigenschaften, sondern auch auf verschie- schaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst
dene nationale Entwicklungsmuster zurückgeführt, verwaltende Assoziation in der Kommune, hier
die in Institutionen und Verhaltensweisen verankert unabhängige städtische Republik, dort dritter steu-
sind. So diskutiert E schon in Lage die Aus- erpflichtiger Stand der Monarchie, dann zur Zeit
gangsfrage der Klassentheorie, wie die Arbeiterbe- der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel […],
wegung eine selbständige politische Kraft werden erkämpfte sie sich endlich […] im modernen Reprä-
könne, am Unterschied der französischen und der sentativstaat die ausschließliche politische Herr-
englischen Arbeiterbewegung. Die Radikalität der schaft.« (464) Das Manifest enthält somit schon das
Arbeiter ist für ihn eine Frage der Kampfziele und Konzept der stufenweisen historischen Bildung einer
753 754 Klasse an sich / für sich

Gegenmacht von sich selbst verwaltenden Assoziatio- hinaus mindestens national miteinander verbünden.
nen und Institutionen. Dieses Konzept wird auch auf Das Handeln der Arbeiter bzw. ihrer Vertretungen
die entstehende Arbeiterklasse angewandt. wird also nicht als eine unmittelbare Reaktion auf
Hoher Reifegrad der Produktivkräfte. – Dieser wird eine unterdrückte Klassenlage erklärt. Es ist vielmehr
in Elend als Voraussetzung der politischen Macht- vermittelt durch die Bedingungen und die institutio-
eroberung genannt, wobei zu den Produktivkräften nellen wie nicht-institutionellen Spielregeln eines
nicht nur die dinglichen Arbeitsmittel, sondern auch eigenen, relativ autonomen Handlungsfeldes.
die lohnarbeitenden Menschen selber gehören: »Soll Wie dieses Handlungsfeld entsteht, wird von E
die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muss im Kapitel »Arbeiterbewegungen« von Lage analy-
eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen siert, und zwar als mehrstufiger Prozess der Suche
Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen nach einer angemessenen »Form für die Opposi-
Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen tion« (2/432), die auch als Kampf- und »Lernpro-
können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die zess« bezeichnet werden kann (V 1970a, 18-29,
größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst. vgl. 1981). Die Opposition beginnt, so E, als
Die Organisation der revolutionären Elemente als die »ungebildetste, bewusstloseste Form der Pro-
Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktiv- testation« (2/432), mit dem individuellen Diebstahl,
kräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten wurde zur Zeit der Koalitionsverbote (1800-24) dann
Gesellschaft entfalten konnten.« (181) Gemeint sind zur Aktion der »Arbeiterklasse«, die sich zunächst
v.a. Formen der betrieblich und überbetrieblich ver- örtlich und »gewaltsam der Einführung von Maschi-
gesellschafteten, kooperativen Produktion auf der nerie widersetzte« und dann, mit zunächst illegalen
Grundlage hochentwickelter Arbeitsfähigkeiten und Gewerkschaften, bis zum Fall der Koalitionsver-
Technologien, die mit den institutionellen Formen bote im Jahre 1824 das »Recht der freien Assozia-
der autokratischen Betriebsleitung und der privaten tion« erkämpfte (ebd.). Damit wurden die Zusam-
Aneignung des Mehrprodukts nicht mehr vereinbar menschlüsse und Solidaritätskassen (bei Streik und
sind. Arbeitslosigkeit) legalisiert und das Recht institu-
Gewerkschaftliche Kämpfe und Aushandlungs- tionalisiert, in »allen Arbeitszweigen […] en masse,
formen. – Diese stehen bei M und E schon als Macht mit den Arbeitgebern zu unterhandeln«
in den 1840er Jahren im Zentrum der Überlegungen, über eine »allgemein zu beobachtende Lohnskala«
wie sich die Arbeiterklasse nicht nur als Produktions- (heute: Flächentarifverträge), aber auch z.B. über die
faktor, sondern außerdem als kämpfende und insti- Einstellung von Lehrlingen zu verhandeln (433, vgl.
tutionalisierte Gegenmacht konstituieren kann. V.a. 4/178ff).
wird dargestellt, dass die Klassenpraxis nicht einfach In Elend hebt M hervor, dass für die Arbei-
ein subjektives Handeln ist, das aus der objektiven ter die Aufrechterhaltung der gewerkschaftlichen
Klassenlage folgt, sondern dass sie selber objektive Assoziationen wichtiger werden kann »als die des
institutionelle Realitäten erzeugt. Die Klassenpraxis Lohnes« (4/180). Es handelt sich hier um einen Pro-
beginnt zwar mit der Verarbeitung der Erfahrung zess der Verrechtlichung, Institutionalisierung und
der sozialen Lage, also im Kopf: mit einem »gemein- Verselbständigung. Im Gewerkschaftsgesetz von 1825
samen Gedanken«, d.h. einer Vorstellung des Han- wurden »die Koalitionen durch eine Parlamentsakte
delns (»Widerstand«, »Kampf«), des Handlungs- autorisiert« und als »ökonomische Tatsache« in eine
weges (Aufhebung der »Konkurrenz«, »Koalition«, »gesetzliche Tatsache« verwandelt (178). Im weiteren
»Organisation«) und auch des Abhilfemittels der Prozess wurde die »Organisation und Erhaltung der
rechtlich-institutionellen Gegenmacht (180f). Ent- Koalitionen« (179) zum Selbstzweck. Diese Verrecht-
scheidend ist aber, dass in den ökonomischen Klas- lichung – die G (1949) als »Institutionalisierung
senkämpfen eine relativ eigenständige soziale Realität des Klassenantagonismus« (182) analysierte – diente
entsteht, ein Kampffeld, in dem die korporativ, d.h. dem Interesse beider Seiten an verlässlichen Arbeits-
verbandlich organisierten Arbeiter und Unternehmer beziehungen. Durch das institutionelle Zusammen-
sich miteinander auseinandersetzen und verständigen wirken verfestigte sich allerdings zunehmend das
und dazu eigene sozio-kulturelle, organisatorische Eigengewicht wie das Eigeninteresse der Verbands-
und rechtlich-institutionelle Formen dauerhaft organisationen.
konstituieren. In diesem eigengesetzlichen, mehr- Elite-Masse-Schema. – Nach der Interpretation
stufigen Prozess der Praxis werden erst schrittweise von E werden mit der Institutionalisierung der
die weiterführenden Perspektiven klarer, indem sich Kämpfe auch deren Verkehrsformen rationaler. Als
die individuellen Arbeiter durch die eigene kämp- Merkmale der »anfangenden Arbeiterbewegung«
fende Praxis zu Koalitionen und diese wiederum nennt er »die Erbitterung des Proletariats gegen seine
über lokale oder einzelgewerbliche Beschränkungen Unterdrücker« sowie »Blutvergießen, Rache und
Klasse an sich / für sich 755 756

Wut« (2/505). Diese »Fehler der Arbeiter« führt er politische Kraft oder Partei auftrat, die dann als
zurück »auf Zügellosigkeit der Genusssucht, Man- Parlaments- und Regierungsmacht auch eine eigene
gel an Vorhersicht und an Fügsamkeit in die soziale gesellschaftliche Umgestaltung hätte anstreben kön-
Ordnung, überhaupt auf die Unfähigkeit, den augen- nen (445-49, 454f). Die in die chartistische Bewegung
blicklichen Genuss dem entfernteren Vorteil auf- gesetzten Hoffnungen (vgl. 471, 4/190) erfüllten sich
zuopfern« (355), also auf den Mangel an asketischem nicht. Das Projekt einer selbständigen politischen
Lustaufschub. Die Überwindung dieser »Wildheit Partei konnte bis 1848 nur in Gestalt des sehr kleinen
und Rohheit« (505) ist durch »sittliche Bildung« (343, und meist illegalisierten Bundes der Kommunisten
vgl. 469) möglich, als »Versittlichung« (G 1985, verwirklicht werden.
40-63). Der Kampf würde dagegen »sehr friedlich Dieser blockierten Situation entsprechend stehen
ablaufen«, wenn bei den Arbeitern die sozialistischen im Manifest beide Perspektiven, das Konzept der
und kommunistischen Bildungselemente zunähmen Gegenmacht und das der abkürzenden Revolution,
und wenn die Bourgeoisie sich ebenfalls »besinnt« noch unvermittelt nebeneinander. Einerseits setzt
(2/504f). Das hier von E noch verwendete das Manifest darauf, dass die Arbeiter »Koalitionen«
Schema der affektgesteuerten, ›unreifen‹ Masse und bilden und durch Kämpfe ihre Zersplitterung nach
der asketischen Elite wird nach 1848 nicht mehr auf lokalen und regionalen, betrieblichen und bran-
die Arbeiterbewegung angewandt und auch durch chenspezifischen partikularen Interessen überwin-
die Forschung zur frühen Arbeiterbewegung in den. Trotz Rückschlägen ersteht die »Organisation
Frage gestellt. der Proletarier zur Klasse […] immer wieder«, wird
2.5 Politischer Kampf. – M und E setzten politischer, zentraler, national und »erzwingt die
sich, wie die späteren Arbeiterbewegungen auch, Anerkennung einzelner Interessen der Arbeiter in
ihr Leben lang mit dem Problem auseinander, dass Gesetzesform […]. So die Zehnstundenbill in Eng-
die Umwandlung der ökonomischen Kämpfe der land.« (4/471) Schließlich konstituiert sich die »pro-
Arbeiterbewegungen in Kämpfe um die politische letarische Bewegung« als »selbständige Bewegung
Macht ein ebenso schwieriger wie aufhaltbarer Pro- der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der unge-
zess war. Trotz dieser Schwierigkeiten vertraten sie heuren Mehrzahl« (472). – Andererseits mündet diese
nicht die (später für L zentrale) Auffassung, dass Darstellung einer aktiven, kämpfenden, durch Rück-
die Lohnarbeiter von sich aus nicht über ein öko- schläge immer wieder unterbrochenen Koalierung
nomisch-gewerkschaftliches Interessenbewusstsein und Bewegung vier Absätze später in ein Resümee,
hinausgelangen würden. Vielmehr diagnostizierten das diesen Prozess begrifflich in die Nähe naturge-
sie schon vor 1848 weitblickend eine den gewerk- setzlicher Zwangsläufigkeit rückt: »Der Fortschritt
schaftlichen Kämpfen innewohnende Dynamik der der Industrie, dessen willenloser und widerstands-
Politisierung. Dabei verschob sich jedoch ihre Per- loser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der
spektive. In Lage behandelt E noch sehr aus- Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre
führlich die von den englischen Arbeitern in Arbeits- revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation.«
kämpfen angewandten physischen und moralischen (473f) Die Bourgeoisie »produziert vor allem ihren
Kampf- und Druckmittel, wobei er diese Kämpfe als eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des
eine »Kriegsschule« für das Kampfziel einer poli- Proletariats sind gleich unvermeidlich.« (474)
tischen Revolution auffasst (2/441). Daneben stand Knapp 50 Jahre nach dem Erscheinen von Elend,
freilich schon das Kampfziel, innerhalb des bürger- in seinem Todesjahr 1895, erlebte E jedoch
lich dominierten Repräsentativsystems arbeits- und noch die Bestätigung der anderen, weitblickenden
sozialrechtliche Verbesserungen durchzusetzen, v.a. Prognose einer Politisierung der Gewerkschaftsbe-
im Kampf um den gesetzlichen Zehnstundentag und wegung. Aufgrund neuer Zuspitzungen der ökono-
das Armengesetz (446). mischen Klassengegensätze bildeten die englischen
Da das seit der Wahlrechtsreform von 1832 bürger- Gewerkschaften eine unabhängige Arbeiterpartei,
lich dominierte Parlament eine sozialstaatliche Politik die schließlich 1945, weitere 50 Jahre später, die poli-
weitgehend blockierte, entstand ab 1834 die Charta tische Mehrheit gewann, die sie dann zur Einführung
für das allgemeine Wahlrecht und die chartistische eines modernen Sozialstaates nutzte.
Bewegung, mit der Hoffnung auf eine Arbeitermehr- 2.6 Abgekürzter oder langer Weg zur politischen
heit im Unterhaus (2/444-55). Jedoch schien dieser Revolution. – Nach 1848 wurde, bedingt durch die
Weg der Politisierung bis in die 40er Jahre blockiert. unerhörte Entwicklung des Kapitalismus und der
Trotz ihrer Heftigkeit konnten die gewerkschaft- Arbeiterbewegung, v.a. das Konzept der Gegenmacht
lichen Klassenkämpfe in England nicht in einen poli- weiterentwickelt. Das Konzept einer abkürzenden
tischen Kampf überführt werden, in dem die Arbei- Revolution wurde gleichwohl nicht aufgegeben, son-
terklasse als eigene, von der Bourgeoisie getrennte dern blieb daneben bestehen, und zwar auch in K I.
757 758 Klasse an sich / für sich

Einerseits knüpft M hier an die erwähnte Überle- eine hohe Entwicklungsstufe der Produktivkräfte
gung aus Lage an, die Zuspitzung der Krisen werde, und der individuellen Emanzipation. Unter dieser
indem sich das Proletariat unterm Druck extremer Voraussetzung wird, so heißt es in Elend, der »Sturz
Not selbständig formiert, »die Sache kürzer abma- der alten Gesellschaft« keine »neue Klassenherr-
chen« (2/504). Sich ausdrücklich auf die Prognose schaft« oder neue »politische Gewalt« herbeiführen
einer zwangsläufigen Revolution im Manifest bezie- (4/181). Auch dies kann nicht plötzlich realisiert
hend, gelangt er am Ende der Kapitel über die kapita- werden: »Die arbeitende Klasse wird im Laufe der
listische Akkumulation, die bereits die gewaltsamen Entwicklung an die Stelle der alten bürgerlichen
und politischen Hebel der kapitalistischen Klassen- Gesellschaft eine Assoziation setzen, welche die
polarisierung hervorheben, zu einer verdichteten Klassen und ihren Gegensatz ausschließt, und es wird
Formel. In ihr erscheinen die Klassen als willenlose keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil
Träger einer naturgesetzlichen Klassenpolarisierung, gerade die politische Gewalt der offizielle Ausdruck
die so extrem ist, dass der langwierige Weg durch des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen
einen kurzen revolutionären Akt abgekürzt wer- Gesellschaft ist.« (182)
den kann: »Mit der beständig abnehmenden Zahl Bemerkenswert ist, dass das historische Ergebnis
der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses dieser Umwälzung nicht ein kollektives oder staat-
Umwandlungsprozesses usurpieren und monopoli- liches Eigentum sein soll, »wohl aber das individu-
sieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der elle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft
Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des
auch die Empörung der stets anschwellenden und Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit
durch den Mechanismus des kapitalistischen Repro- produzierten Produktionsmittel« (23/791). Diese
duktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und Formulierungen sind nicht näher erklärt. Wahr-
organisierten Arbeiterklasse. […] Aber die kapita- scheinlich ist an bestimmte Formen der genossen-
listische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit schaftlichen und gemeindlichen Selbstverwaltung
eines Naturprozesses ihre eigne Negation.« (23/790f) gedacht, die im Manifest umschrieben werden als
Dabei war die »Verwandlung des auf eigner Arbeit »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines
der Individuen beruhenden, zersplitterten Privatei- jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller
gentums in kapitalistisches« in den Jahrhunderten ist« (4/482). Und wahrscheinlich spielt M auch auf
der ursprünglichen Akkumulation »natürlich ein die anarchistische Utopie Political Justice (1793) von
Prozess, ungleich mehr langwierig, hart und schwie- William G an, der, wie E (2/455) notiert,
rig als die Verwandlung des tatsächlich bereits auf in der englischen Arbeiterbewegung sehr einfluss-
gesellschaftlichem Produktionsbetrieb beruhenden reich war. Nach G könnte in ferner Zukunft
kapitalistischen Eigentums in gesellschaftliches. Dort ein hoher Entwicklungsstand der Technik und der
handelte es sich um die Expropriation der Volksmasse menschlichen Begabungen es möglich machen, dass
durch wenige Usurpatoren, hier handelt es sich um viele Arbeiten von Individuen allein, ohne die Koo-
die Expropriation weniger Usurpatoren durch die peration anderer Arbeitender, durchgeführt werden
Volksmasse« (791). (vgl. Vester 1970a, 154-58, u. 1970b, 10-25).
Andererseits beschreibt M in K I auch die Die philosophische Formulierungsweise der 1840er
Ansätze von Gegenmacht und Politisierung, die ange- Jahre lässt noch offen, welche organisatorischen und
legt sind im Kampf um die rechtliche Institutionali- institutionellen Formen diese Ansprüche erfüllen
sierung der Arbeiterkoalitionen (766-70), in den auch könnten und ob der zu erobernde zentrale Staatsap-
nach der Legalisierung der Gewerkschaften von 1825 parat zu deren Einrichtung überhaupt geneigt und
anhaltenden Kämpfen um die Kriminalisierung von geeignet sein könnte. M und E haben sich
Arbeitskampfpraktiken wie Streiks, Mitglieds-Eiden, nach dem traumatischen Scheitern der Revolution
symbolischer Gewalt bzw. Einschüchterungen (768f), von 1848 mit diesen Fragen beschäftigt und dabei
im Kampf um den Normalarbeitstag (245-320) und v.a. die in den realen sozialen Kämpfen unter der
nicht zuletzt auch in der auf der Teilung der Arbeit Dominanz des Kapitalismus hervorgebrachten und
beruhenden Kooperation spezialisierter Facharbeiter, ertrotzten Formen einer direkten Demokratie und
die einer Fremdbestimmung durch die betriebliche einer sozialstaatlichen Politik studiert und auf den
Befehlshierarchie entgegensteht (356-90). Begriff gebracht.
2.7 Umgestaltung der Gesellschaftsordnung. – Bis
1848 wurden die hohen Ansprüche an die nach der 3. Konzepte der Gegenmacht und der relativen Auto-
politischen Machteroberung zu gestaltende herr- nomie des Politischen nach 1848. – Als die englische
schaftsfreie Gesellschaft in der Regel noch ohne his- Arbeiterbewegung aufgrund ihrer Niederlagen in
torische Spezifizierung formuliert. Postuliert wird den 1840er Jahren so weit erlahmte und zerfiel, dass
Klasse an sich / für sich 759 760

selbst die europäischen Revolutionen von 1848 in mit dem lokalen und unmittelbaren Kampf gegen
England kein Echo mehr fanden, als diese revolutio- das Kapital beschäftigt und haben noch nicht völlig
nären Kämpfe dann auch im übrigen Europa verlo- begriffen, welche Kraft sie im Kampf gegen das Sys-
ren waren und als auch die Erwartung einer großen tem der Lohnsklaverei selbst darstellen«. Durch ihre
Wirtschaftskrise durch den bis 1870 anhaltenden »Beteiligung an […] politischen Bewegungen« wür-
Wachstumsschub der kapitalistischen Weltökonomie den sie »jedoch zum Bewusstsein ihrer großen histo-
unerfüllt blieb, lenkten M und E, sich vom rischen Mission erwachen, […] im großen Interesse
›sektiererischen‹ Handwerkersozialismus trennend ihrer vollständigen Emanzipation« (197).
(N’ 1979, 10-33), ihre Aufmerksamkeit auf neue 3.2 Die politische Form: Selbstverwaltung statt
gesellschaftliche Bewegungen. Diese waren einer- Staatszentralismus. – Ebenfalls aus der Erfahrung
seits die Bewegungen der Ökonomie, deren Ana- praktischer Kämpfe in der Periode der Ersten Inter-
lyse zuerst 1859 in Zur Kritik veröffentlicht wurde, nationale ging M’ Schrift zur Pariser Kommune
andererseits, bes. in England, die Entstehung einer von 1871 (Bürgerkrieg) hervor. Marx sah in dieser
die Gesellschaft schrittweise von innen verändernden von der Arbeiterklasse erkämpften Regierung »die
Gegenmacht. Konzeptuellen Status erhielten diese endlich entdeckte politische Form, unter der die
Beobachtungen aber erst, seitdem M durch seine ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen
Arbeit für die IAA die Erkämpfung institutioneller konnte« (17/342). Das Wesentliche dieses Beispiels
Gegenmacht der englischen Facharbeiterschaft inten- »neuer geschichtlicher Schöpfungen« (340) sah er
siv kennen und schätzen lernte. in ihrer Politik, die herkömmliche Herrschaft des
3.1 Die politische Ökonomie der Arbeit: Produk- Kapitals und des Staatsapparates nicht selbst zu über-
tivgenossenschaften und Arbeitszeitgesetze. – In der nehmen, sondern zu ersetzen durch wirtschaftliche
Inauguraladresse von 1864 beschreibt M zunächst und politische Selbstverwaltungsorgane und eine
die verheerenden europäischen Niederlagen, um planvolle Koordination nach dem föderativen statt
dann »zwei große Ereignisse« (16/10) darzustel- dem zentralistischen Prinzip (335-45). Zu dieser
len, die einen »Sieg der politischen Ökonomie der Selbstverwaltung gehörte auch, die Unterrichtsan-
Arbeit über die politische Ökonomie des Kapitals« stalten den Einflüssen von Zentralstaat und Kirche
bedeuteten. Er spricht von dem in dreißigjährigem zu entziehen (339). Mit diesen Maßnahmen hatte die
Kampf durchgesetzten gesetzlichen Zehnstundentag Arbeiterklasse keine Doktrinen oder »Ideale zu ver-
und »von der Kooperativbewegung, namentlich den wirklichen«, sondern »nur die Elemente der neuen
Kooperativfabriken, diesem Werk weniger kühnen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im
›Hände‹ (hands). Der Wert dieser großen Experi- Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesell-
mente kann nicht überschätzt werden. Durch die Tat, schaft entwickelt haben« (343).
statt durch Argumente, bewiesen sie, dass Produk- Diese Züge hob E in seiner Einleitung von
tion auf großer Stufenleiter und im Einklang mit dem 1891 zur Kommuneschrift noch einmal hervor. Er
Fortschritt moderner Wissenschaft vorgehen kann betonte, dass die maßgeblichen Fraktionen der Kom-
ohne die Existenz einer Klasse von Meistern (mas- mune, die Proudhonisten und die Blanquisten, in der
ters), die eine Klasse von ›Händen‹ anwendet; dass, revolutionären Situation ihren praktischen Erfah-
um Früchte zu tragen, die Mittel der Arbeit nicht rungen folgten und damit gerade »das Gegenteil von
monopolisiert zu werden brauchen als Mittel der dem taten, was ihre Schuldoktrin vorschrieb« (622).
Herrschaft über und Ausbeutung gegen den Arbeiter Dadurch war es möglich, dass entgegen der genos-
selbst, und dass wie Sklavenarbeit, wie Leibeigenen- senschaftsfeindlichen Lehre P die »Kom-
arbeit so Lohnarbeit nur eine vorübergehende und mune eine Organisation der großen Industrie und
untergeordnete gesellschaftliche Form ist, bestimmt sogar der Manufaktur anordnete, die nicht nur auf
zu verschwinden vor der assoziierten Arbeit« (11f). der Assoziation der Arbeiter in jeder Fabrik beruhen,
Gleichzeitig bleiben aber die politischen Seiten des sondern auch alle diese Genossenschaften zu einem
Kampfs, die »Reorganisation der Arbeiterpartei« und großen Verband vereinigen sollte; kurz, eine Orga-
die Internationalisierung der Arbeiterbewegung auf nisation, die […] schließlich auf den Kommunismus
der Tagesordnung (12f). […] hinauslaufen musste« (623). Entsprechend ver-
Die Positionen der Inauguraladresse werden in den traten die Blanquisten, entgegen ihrem Credo, nicht
Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen die »diktatorische Zentralisation aller Gewalt in der
Zentralrats (16/190-99) näher erläutert. Den Arbei- Hand der neuen revolutionären Regierung«, sondern
tern werden v.a. die »Produktivgenossenschaften« dass die von Napoleon 1798 geschaffene »unterdrü-
nahegelegt, denn diese greifen das gegebene ökono- ckende Macht der bisherigen zentralisierten Regie-
mische System »in seinen Grundfesten an« (196). Die rung«, die M schon 1851 im 18.B vernichtend
Gewerkschaften »haben sich bisher ausschließlich kritisiert hatte, »überall fallen« sollte zugunsten einer
761 762 Klasse an sich / für sich

»freien Föderation aller französischen Kommu- 3.5 Heuristische statt ableitende Klassenanalyse.
nen mit Paris«, weil »die Arbeiterklasse, einmal zur –! Unter dem Eindruck v.a. der Kommune verstärk-
Herrschaft gekommen, nicht fortwirtschaften könne ten M und E ihre Bemühungen, ihr Klas-
mit der alten Staatsmaschine« (ebd.). senkonzept nicht als doktrinäre Prophezeiung, son-
3.3 Demokratische Kontrolle: gegen eine neue Klasse dern als heuristische Methode zu verstehen, mit der
von Staatsfunktionären. – Zur Zeit der Pariser Kom- geschichtliche Bewegungen zu entdecken wären. So
mune war das Bewusstsein von E und M scheute sich Engels nicht, 1872 in seinem Vorwort
bereits gegenüber der Gefahr geschärft, dass mit zum Manifest einzuräumen, dass zwar die »allge-
einer Revolution eine neue bürokratische Funktio- meinen Grundsätze« des Manifests »im ganzen und
närsherrschaft entstehen könnte. So betont E, großen« richtig geblieben seien, aber die »praktische
dass die »Arbeiterklasse, um nicht ihrer eignen, Anwendung dieser Grundsätze […] überall und jeder-
erst eben eroberten Herrschaft wieder verlustig zu zeit von den geschichtlich vorliegenden Umständen
gehen, einerseits alle die alte, bisher gegen sie selbst abhängen« wird, so dass der Passus über die »revo-
ausgenutzte Unterdrückungsmaschinerie beseiti- lutionären Maßregeln […] heute in vieler Beziehung
gen, andrerseits aber sich sichern müsse gegen ihre anders lauten« würde (18/95). Mit der Fortentwick-
eignen Abgeordneten und Beamten, indem sie diese, lung der großen Industrie, der politischen Lage und
ohne alle Ausnahme, für jederzeit absetzbar erklärte« der Parteiorganisation der Arbeiterklasse und den
(ebd.) und ihnen »nur den Lohn, den andre Arbei- »praktischen Erfahrungen« v.a. mit der »Pariser
ter empfingen«, zahlte (624). Kritisiert wird gleich- Kommune, wo das Proletariat zum ersten Mal zwei
zeitig der »Aberglaube an den Staat« (ebd.) in vielen Monate lang die politische Gewalt innehatte, ist heute
Arbeiterparteien. Auch demokratische Parteien und dieses Programm stellenweise veraltet« (96).
Länder wie die Vereinigten Staaten seien nicht gefeit Mit der gleichen heuristischen Absicht studierten
gegen die »Verselbständigung der Staatsmacht gegen- M und E systematischer die historischen
über der Gesellschaft, zu deren bloßem Werkzeug sie Vorläufer demokratischer Selbstverwaltung und (ent-
ursprünglich bestimmt war« (ebd.). gegen ihrer früheren Annahme, dass der Kapitalis-
3.4 Dezentralisierung der sozialen Staatsaufgaben: mus alle früheren gesellschaftlichen Bindungen auf-
Selbstverwaltung. – Der gleiche Tenor beherrscht die lösen werde) die Möglichkeit von deren Wiederkehr.
1875 verfasste Kritik des Gothaer Programms, die v.a. In seinen Briefentwürfen an Vera S erin-
gegen den staatsgläubigen Lassalleanismus gerichtet nert M 1881 an die von Georg Ludwig .M
war. Zum einen sollen sich »im selben Maß […], wie (1854 u. 1865/66) auf der Grundlage der von den
die neue Gesellschaft sich entwickelt«, die Staatsauf- Gebrüdern G gesammelten Dorfverfassungen
gaben von Ordnungs- bzw. Verwaltungsaufgaben erforschten Spuren der germanischen Dorfgenossen-
zu sozialen Aufgaben verschieben, v.a. »zur gemein- schaft, das »Gemeineigentum eines mehr oder weniger
schaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen […], wie archaischen Typus« (19/384f), das im Mittelalter zum
Schulen, Gesundheitsvorrichtungen etc.« (19/19). »Hort der Volksfreiheit und des Volkslebens« (387)
Damit sollte aber keine neue Staatsbürokratie, son- wurde und möglicherweise, wie M Lewis Henry
dern die Organisationsform autonomer Gegenmacht M zitiert, eine »Wiedergeburt des archaischen
und Selbstverwaltung gestärkt werden. Wie schon in Gesellschaftstypus in einer höheren Form« erleben
der Pariser Kommune, »sind Regierung und Kirche könnte (386). Auf diese Forschungen wie auch seine
gleichmäßig von jedem Einfluss auf die Schule aus- eigenen Untersuchungen zum Ursprung des Privat-
zuschließen« (30). Auch die »jetzigen Kooperativ- eigentums verweist E schließlich auch im Vor-
gesellschaften« sollen sich als autonome Gegen- wort von 1888 zum Manifest.
mächte entwickeln, »so haben sie nur Wert, soweit In seinen Altersbriefen kritisiert E die dogma-
sie unabhängige, weder von den Regierungen noch tisierende Ableitung des Politischen aus dem Öko-
von den Bourgeois protegierte Arbeiterschöpfungen nomischen, die »als Vorwand dient, Geschichte nicht
sind« (27). zu studieren« (an C.Schmidt, 5.8.1890, 37/436) und
Den Gewerkschaften sollte eine besondere Rolle die »relative Selbständigkeit« und »Eigenbewegung«
beim Erlernen der Fähigkeit zur Selbstverwaltung der Kräfte des politischen Feldes (27.10.1890, 490) zu
zukommen. Sie, so E 1875 an August B, ignorieren, denen gegenüber »die Produktion und
sind »die eigentliche Klassenorganisation des Pro- Reproduktion des wirklichen Lebens« nur »das in
letariats, in der es seine täglichen Kämpfe mit dem letzter Instanz bestimmende Moment« (an J.Bloch,
Kapital durchficht, in der es sich schult« (34/128). 21.9.1890, 463) sei.
Angestrebt werden sollte nicht nur Gesetzgebung, 3.6 Zyklische statt lineare Entwicklungen. – Zu den
sondern »Verwaltung durch das Volk. Das wäre doch neuen Einsichten gehört nicht zuletzt, dass E
etwas« (ebd.). die Annahme linearer und relativ einheitlicher
Klasse an sich / für sich 763 764

Trends aufgibt und sich den zyklischen und diffe- eine Aristokratie in der Arbeiterklasse; sie haben es
renzierenden Entwicklungen des Kapitalismus und fertiggebracht, sich eine verhältnismäßig komfor-
der Arbeiterklasse zuwendet. Dies kommt bes. klar table Lage zu erzwingen, und diese Lage akzeptieren
zum Ausdruck in der zurückblickenden Analyse von sie als endgültig. […] Aber was die große Masse der
1892, in der er die großen Entwicklungslinien der Arbeiter betrifft, so steht das Niveau des Elends und
englischen Arbeiterbewegung des vorangehenden der Existenzunsicherheit für sie heute ebenso nied-
halben Jahrhunderts herausarbeitet – im Vorwort zur rig, wenn nicht niedriger als je« (274). Und während
englischen Ausgabe von Lage, das einen Artikel aus »England dem von mir geschilderten Jugendstand der
dem Jahre 1885 (21/191-97) mitverwendet. Diesem kapitalistischen Ausbeutung entwachsen ist, haben
Vorwort zufolge gehört der 1845 »beschriebne Stand andre Länder ihn eben erst erreicht«, v.a. Frankreich,
der Dinge […] größtenteils der Vergangenheit an« Deutschland und die USA (268). Hier finden nun
(22/265). Damals »existierte der moderne internatio- »dieselben Kämpfe für einen kürzeren, gesetzlich
nale Sozialismus noch nicht […]. Mein Buch reprä- festzustellenden Arbeitstag, besonders für Frauen
sentiert nur eine der Phasen seiner embryonalen Ent- und Kinder in Fabriken«, gegen das »Trucksystem«
wicklung« (269). Auch einige der »Prophezeiungen« usw. statt (269).
wie die »einer bevorstehenden sozialen Revolution in Gleichzeitig geht E über die frühere Auffas-
England«, wie es ihm die »jugendliche Hitze« nahe- sung eines einfachen zyklischen Wechsels zwischen
gelegt habe, seien fehlgegangen (270). Damals stand kurzfristigen Aufschwungs- und Krisenphasen hin-
England in einer schweren Wirtschaftskrise, zu der aus und beschreibt die Wirksamkeit langer, über
die irische Hungersnot kam und »die zu lösen allem Jahrzehnte anhaltender Wellen der Expansion und
Anschein nach nur die Gewalt berufen war« (271). der Stagnation des Kapitalismus. Nach den expan-
Doch im Revolutionsjahr 1848 brach die chartisti- siven Jahrzehnten nach 1848 hat sich nach 1870 die
sche Wahlrechtsbewegung zusammen und von 1850 internationale Konstellation für England grundsätz-
bis 1870 kam es zum Beginn »einer neuen industriel- lich geändert. Eingetreten ist ein Zustand jenseits des
len Epoche« (266), mit einem »Aufschwung der Pro- bisherigen Pendelns zwischen »Zusammenbruch«
duktion«, so »unerhört« (273), dass er die 40er Jahre und »Geschäftsblüte«, nämlich »ein tödlicher Druck,
völlig in den Schatten stellte. Die großen Fabrikanten eine chronische Überfüllung aller Märkte«, weil »das
gaben die früheren kleinlichen Unterdrückungsmaß- Industriemonopol, das England ein Jahrhundert
nahmen wie das Trucksystem und überlange Arbeits- besessen hat, jetzt unwiederbringlich gebrochen ist«
zeiten auf und gingen, um kostspielige Konflikte zu durch die Konkurrenz mit den aufstrebenden neuen
vermeiden, zu Arrangements mit den Gewerkschaften Industrienationen »Frankreich, Belgien, Deutsch-
über, »jedenfalls in den leitenden Industriezweigen« land, Amerika, selbst Russland« (275f). So ist zu
(267). Sie übernahmen sogar Ziele der Volkscharta, befürchten, dass die Stagnation die frühere ›blen-
indem sie die Parlamentsreformen von 1867 und 1884 dende Periode‹ endgültig zum Abschluss bringt. Die
unterstützten. Engels hebt, eine Parallele zu früheren englische Arbeiterklasse »wird sich allgemein – die
Diagnosen von Marx (vgl. 13/414ff) ziehend, hervor, bevorrechtete und leitende Minderheit nicht aus-
dass damit dieselben Leute, die die »Revolution von geschlossen – eines Tages auf das gleiche Niveau
1848 [… ] niederwarfen […], wie Karl Marx zu sagen gebracht sehen wie ihre Arbeitergenossen des Aus-
pflegte, ihre Testamentsvollstrecker geworden« sind landes. Und das ist der Grund, warum es in England
(22/273). Entsprechend kam es, wenigstens materi- wieder Sozialismus geben wird« (277). Das Londoner
ell, zur Verbesserungen der Lebenslagen (268). Aber Ostend »hat seine starre Verzweiflung abgeschüttelt
durch diese Zusammenarbeit war die »englische und ist die Heimat des sogenannten ›Neuen Unio-
Arbeiterklasse politisch der Schwanz der ›großen nismus‹ geworden, d.h. der Organisation der großen
liberalen Partei‹ geworden« (272). Masse ›ungelernter‹ Arbeiter« (ebd.). Diese haben die
Allerdings handelte es sich dabei nicht um eine end- Köpfe frei von »den ererbten ›respektablen‹ Bour-
gültige, umfassende oder national und international geoisvorurteilen, die die Köpfe der bessergestellten
gleichmäßige Entwicklung, sondern eine Teilung ›alten‹ Unionisten verwirren. Und so sehn wir jetzt,
in gewinnende und verlierende Akteure. Innerhalb wie diese neuen Unionen die Führung der Arbeiter-
Englands kam es zu einer »dauernden Hebung […] bewegung überhaupt ergreifen« (278). – Tatsächlich
nur bei zwei ›beschützten‹ Abteilungen der Arbei- führte diese Entwicklung 1895 zur Gründung einer
terklasse«, bei den durch die gesetzliche Begrenzung von bürgerlicher Hegemonie unabhängigen Arbei-
des Arbeitstages beschützten Fabrikarbeitern und bei terpartei (39/53, 307f; zusammenfassend Jürke 1988).
den durch »die großen Trades Unions« geschützten E bringt hier die spezifische Phasenstruktur der
männlichen Facharbeitern; letztere, Maschinenschlos- Arbeiterbewegung mit den Auf- und Abschwungs-
ser, Zimmerleute, Schreiner und Bauarbeiter, »bilden phasen der langen Wellen der kapitalistischen Ent-
765 766 Klasse an sich / für sich

wicklung zusammen, wie sie später Nikolai K- Einschätzungen dagegen häufig bestätigt oder wei-
 (1926) wirtschaftstheoretisch und Ernest terentwickelt. Diese Aufarbeitung begann während
M (1962 u. 1972) für die Entwicklung der des neuen Aufschwungs der Bewegungen nach 1890.
Klassenkonstellationen herausgearbeitet haben. Auf Sie hat die schon von E beobachteten »ups and
dieser Grundlage kann die Konstitution der Arbei- downs« (39/386) und wechselnden Kräftekonstellati-
terklasse selbst als zyklisches Phänomen – anstatt als onen zwischen den Klassen (21/22) umfassender und
lineare Entwicklungstendenz – aufgefasst werden. detaillierter herausgearbeitet. Dabei wurde deutlich,
Dies gilt bereits für die erste lange Wachstumswelle, dass die Perspektive der 1840er Jahre und das Kon-
die industrielle Revolution von den 1790er bis zu den zept der linearen Verelendung und Klassenpolarisie-
1840er Jahren (vgl. V 1970a). Von dieser haben rung nicht bedingungslos verallgemeinerbar waren.
M und E aus eigener Anschauung nur die Es entstand eine neue Sicht auf die Klassenkonsti-
nach 1825 einsetzende Kontraktions- und Stagna- tution, die nicht nur die den 1840er Jahren nachfol-
tionsphase kennengelernt, und dies erklärt auch ihr genden, sondern auch die ihnen vorangehenden Ent-
Szenario der Misserfolge in den 1840er Jahren. wicklungsphasen im Blick hatte.
3.7 Pluralität von Entwicklungswegen. – Die inhalt- Die grundlegenden Untersuchungen der Entstehung
liche Besonderheit der Klassenanalyen nach 1848 der englischen Arbeiterklasse bis 1832 werden häufig
liegt nicht darin, dass statt eines revolutionären nun T (1963 u. 1971) zugeschrieben. In Wirk-
ein reformistischer Weg der Arbeiterbewegung zum lichkeit bilden seine monumentalen Untersuchungen
Dogma gemacht wurde. Es wird vielmehr eine Plu- den Abschluss langer Forschungen zahlreicher bewe-
ralität von Entwicklungswegen für sinnvoll gehalten, gungsnaher Autoren seit den 1890er Jahren. Thomp-
die je nach den Phasen der wirtschaftlichen und poli- son verstand seinen Beitrag ausdrücklich als Teil die-
tischen Entwicklung und je nach Land verschieden ser großen arbeitsteiligen Anstrengungen. Es ist auch
sein können. Dabei kommt es primär nicht auf die unberechtigt, Thompson einen besonderen Subjekti-
Durchsetzungsform – etwa friedlich oder gewaltsam vismus (A 1980, 42) oder eine »extrem sub-
– an, sondern darauf, ob damit inhaltlich eine nachka- jektivistische Klassendefinition, die Arbeiterklasse
pitalistische Gesellschaft vorbereitet wird oder nicht. […] durch Arbeiterkultur definiert« (K 1979, 9,
Entsprechend wird die Vorstellung, dass es um die Fn. 7), zu unterstellen. T wollte die anderen
Eroberung eines zentralstaatlichen Herrschaftsap- Untersuchungen, v.a. zur KrpÖ und zur Durchset-
parates gehe, v.a. am französischen und preußischen zung der kapitalistischen Produktionsweise nicht
Beispiel entschieden kritisiert. Ihr werden alle von durch einen radikal subjektivistischen Ansatz erset-
den Bewegungen hervorgebrachten Ansätze autono- zen und wehrte sich vehement gegen die Vorstellung,
mer Selbstverwaltung entgegengehalten. er »sei der Auffassung, die Bildung von Klassen sei
Wenn in der kapitalistischen Gesellschaft Verbes- von objektiven Determinanten unabhängig, dass
serungen der Lebenslagen erkämpft werden können, Klasse sich einfach als kulturelle Formation definie-
dann bedeutet dies nicht, dass damit für E die ren ließe usw.« (1978a, 268). Er wollte sie vielmehr
Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsord- ergänzen, indem er v.a. die praktische Seite der Klas-
nung unnötig geworden wäre. Im Kommentar zum senbeziehungen und -kämpfe umfassender einbezog
Erfurter Programm (1891) macht er deutlich, dass und hierfür auch neue analytische Konzepte eines
die Gegenmacht der Arbeiterbewegung der Verelen- praxeologischen Ansatzes entwickelte.
dungstendenz im Kapitalismus entgegenwirken kann, 4.1 Kritik an der Unreife-These. – Die frühen For-
auch wenn sie die grundsätzliche Unsicherheit der schungen im Umkreis der auch von M beeinfluss-
sozialen Lage nicht beenden kann, und er schlägt als ten Labour-Linken sind seit den 1920er Jahren bes.
Programmformulierung vor: »Die Organisation der von George Douglas Howard C (1927, 1941, 1948,
Arbeiter, ihr stets wachsender Widerstand wird dem 1953a/b) in umfassenden Werken über die Wirt-
Wachstum des Elends möglicherweise einen gewissen schafts-, Sozial-, Bewegungs- und Ideengeschichte
Damm entgegensetzten. Was aber sicher wächst, ist seit Beginn der industriellen Revolution im späten 18.
die Unsicherheit der Existenz.« (22/231) Jh. zusammengefasst und vollendet worden (zusam-
menfassend Vester 1970a/b). Dadurch wurde v.a.
4. Aufarbeitung der Entstehung der Arbeiterklasse E’ Einschätzung außer Kraft gesetzt, dass es im
in der Forschung. – Das erste Jahrhundert der Ent- frühen 19. Jh. nur eine passive, leidende und blind
wicklung der Arbeiterklasse ist bes. für England in gegen die neuen Technologien protestierende ›Arbei-
der marxistischen Denktradition umfassend aufge- terklasse an sich‹ gegeben habe, die zur selbständigen
arbeitet worden. Dabei wurden verschiedene Ein- Klassenaktion unfähig und der Führung durch bür-
schätzungen, die M und E vor 1848 vertre- gerliche Philanthropen und Theoretiker wie Robert
ten haben, widerlegt oder korrigiert, ihre späteren O bedürftig gewesen sei.
Klasse an sich / für sich 767 768

Die Forschungen bestätigen zwar die besondere rechtskämpfe an sich abprallen ließ – und erst in der
Resonanz, die O seit den 1820er Jahren mit seiner neuen Aufschwungsphase zu einer Politik der Arran-
Kritik der kapitalistischen Ökonomie und seiner Pro- gements mit den Gewerkschaften zurückkehrte (vgl.
paganda für von aufgeklärten Unternehmern einzu- 261-333, 392-96).
führende Genossenschaftsfabriken und Einrichtungen Wenn M und E in den 1840er Jahren den
eines modernen Sozialstaats gefunden hat (vgl. V Eindruck hatten, dass die »Arbeiterklasse für sich
1970a, 187-233). Dieses Echo war jedoch eingebettet in selbst« noch nicht entstanden sei, ist dies aus die-
aktive, breitere politische, gewerkschaftliche, genos- sen verheerenden Niederlagen zu erklären und
senschaftliche und kulturelle Arbeiter- und Volksbe- nicht aus einer ›Unreife‹ (vgl. N’ 1979, 13-16).
wegungen. Diese waren parallel zur Französischen Dokumentierte Spuren der untergegangenen Bewe-
Revolution entstanden und bes. im Kampf gegen die gungen fanden sie in den gedruckten Werken der
Pressezensur, gegen den Abbau sozialer Schutzgesetze, frühen Kapitalismuskritik, die M unter dem Titel
gegen die von 1800 bis 1824 herrschenden drako- »Gegensatz gegen die Ökonomen« in TM rezipiert
nischen Koalitionsverbote (die ein Überspringen der (26.3, 234-319) – und die in deutscher Sprache zwi-
Französischen Revolution verhindern sollten) und für schen 1903 und 1922 herausgebracht wurden (vgl.
eine Reform des Wahlrechts zusammengewachsen. V 1970b, 10-147). M und E erklärten
Die Gewerkschaftsorganisationen, die keineswegs sich die Zurückhaltung der Bewegungen gegenüber
nur in der Fabrikindustrie anwuchsen, wandten sich größeren Konfrontationen v.a. mit der These einer
über die Arbeiterpresse und -bildungsvereine ab 1820 Unreife der ›Arbeiterklasse an sich‹, des langmü-
auch der von R ausgehenden linken politischen tigen, noch nicht »zu vollem Bewusstsein« erwach-
Ökonomie zu, v.a. ihrer Arbeitswertlehre (H ten »ungeschliffenen Riesen«, wie es ihr Mitstreiter
1825) und ihrer Perspektive einer von den arbeitenden Georg W (SW 3, 237, 234, 310) formulierte.
Klassen selber –! und nicht von Philanthropen – ausge- Dass die Arbeiterbewegung gerade unter diesen
henden Ablösung des Kapitalismus durch eine genos- Widrigkeiten stabilere Organisationsformen fand,
senschaftliche Produktion (William T 1824, die die Fundamente ihres nach 1848 folgenden Auf-
B 1839). So wandelte die frühe Arbeiterbewegung schwungs bildeten, wurde für M erst erfahrbar,
den Owenismus um in ein Konzept selbständigen als er nach 1860 im Zusammenhang mit der IAA die
Klassenhandelns, gestützt auf einen genossenschaft- stabilisierten Gewerkschafts- und Genossenschafts-
lichen Sozialismus und eine Arbeitermehrheit im Par- bewegungen näher kennenlernte.
lament, die einen neuen Sozialstaat durchsetzen sollte Der Überblick über die gesamte Entwicklung der
(vgl. V 1970a, 234-80). entstehenden Arbeiterklasse von den 1790er zu den
Damit war bereits bis 1832 eine »Arbeiterklasse 1890er Jahren hat v.a. zwei Weiterentwicklungen
für sich selbst« entstanden (vgl. E.P.T der Klassentheorie ermöglicht. Zum einen wurde
1963/1987, 208f, 912-39). Angeregt durch die fran- der praxeologische Ansatz weiterentwickelt, der
zösische Julirevolution von 1830, steigerten sich die selbständiges Klassenhandeln nicht unmittelbar aus
Wahlrechtsdemonstrationen zeitweilig bis zum Punkt ›objektiven‹ Merkmalen der sozialen Lage abzuleiten,
einer vorrevolutionären Situation (922). Die Bewe- sondern aus den alltagskulturellen und politischen
gung zerbrach – nicht weil sie zu einer selbständigen Klassenbeziehungen und -konflikten zu erklären und
Klassenpolitik unfähig, sondern weil sie dafür gegen- zu verstehen sucht (T 1963, 1971, 1978a/b;
über der Bourgeoisie nicht stark genug war. Die von B 1970, 1979). Damit wurde es zum ande-
den Arbeitern miterkämpfte Wahlrechtsreform von ren möglich, die Annahmen linearer Entwicklungs-
1832 nahm nur das besitzende Kleinbürgertum neu tendenzen aufzugeben und die Widersprüchlichkeit
unter die Wahlberechtigten auf. Von den mehr als und den zyklischen Charakter sozialer Entwick-
eine Mio gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, lungen und Kämpfe, in denen Aufschwünge und
die leer ausgingen, wandten sich viele nun verstärkt Abschwünge der Bewegungen einander ablösen, zu
außerparlamentarischen und gewerkschaftlichen studieren (M 1962 u. 1972; V 1970a/b).
Kämpfen mit anarchosyndikalistischen Zügen zu, 4.2 Die historische Kontinuität solidarischer Gegen-
die 1834 durch schwere Streikniederlagen, Depor- macht und Volksklassenkultur. – Schon an den frü-
tation von ›Rädelsführern‹ usw. demoralisiert unter- hen Bewegungen wurde deutlich, dass ihre Intensi-
gingen und die Gewerkschaftsführer wie ›Generäle tät keine unmittelbare Folge besonderer materieller
ohne Truppen‹ zurückließen (vgl. V 1970a, 328, Not, sondern sozio-kulturell und politisch vermittelt
331; B 1839/1920, 123f). Das liberale Bürgertum war. T belegt dies in daten- und informati-
stand nun zwar durch wirtschaftliche Absatzkrisen onsreichen Untersuchungen des Übergangs vom 18.
unter Druck, war aber politisch so gestärkt, dass es Jh. zu der neuen kapitalistischen Klassenkonstella-
bis 1848 praktisch alle Gewerkschafts- und Wahl- tion des 19. Jh., die von einer entschieden liberalis-
769 770 Klasse an sich / für sich

tischen Politik der wirtschaftlichen Deregulierung Entsprechend kam der große Protest nicht von
und politischen Repression gekennzeichnet war. Die den Fabrikarbeitern allein und auch nicht von denen,
Untersuchungen der langfristigen Entwicklungen die am meisten unter materiellem und moralischem
bestätigen durchaus die von M diagnostizierte Elend litten, sondern gerade aus den ›respektablen‹
Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhält- arbeitenden Volksklassen, deren soziale Stellung und
nisse mit ihren dramatischen Veränderungen der politische Rechte durch die liberalistische Wende in
Klassenstellung, d.h. die Verwandlung der kleinen Wirtschaft und Politik gefährdet wurden. Entschei-
Bauern, Handwerker, Heimarbeiter und Armen ein- dend waren nicht die Daten des Lebensstandards
schließlich ihrer Frauen und Kinder in freie Lohnar- allein, sondern die Erfahrungen des Verlusts früherer
beiter. Aber sie bestätigt nicht die Perspektive einer Freiheiten und Qualitäten der Lebensweise und die
vereinheitlichenden Herabdrückung und Fragmen- daraus folgenden sozialen Spannungen.
tierung der Klassenlage. T (432-78) widerlegt auch die Diagnose
E in Lage und M in K I hatten, gestützt einer allgemeinen anomischen und demoralisierenden
v.a. auf Andrew U (1835), eine vereinheitlichende Fragmentierung und Auflösung der alltäglichen Klas-
Herabdrückung der Arbeitsqualifikation und der senmilieus und gemeindlichen Zusammenhänge. Er
Löhne v.a. der Frauen und Kinder zwar nur in der weist nach, dass die entstehende Arbeiterbewegung
Textilindustrie (und dort auch zutreffend) beobachtet, an vorangehende lange Traditionen der »commu-
aber diese zu einer Tendenzprognose für alle Indus- nity«, der solidarischen Organisation, der egalitären
trien und Lohnarbeiter verallgemeinert. T- Gesellschaftsdeutung und des Protestes (Religions-
 (1963/1987, 203-28) stellte stattdessen eine sehr gemeinschaften, Unterstützungskassen, kommunale
uneinheitliche Entwicklung der Löhne und keine all- Existenzsicherungen, Vereine, Korrespondenznetze,
gemeine Dequalifizierung fest. Spätere Datenanalysen symbolische Protestformen usw.) anknüpfen konnte.
bestätigen, dass es auch in anderen kapitalistischen Diese Elemente einer solidarischen Klassenkultur
Ländern im langfristigen Durchschnitt zur Zunahme erfuhren allerdings mit der ökonomischen und poli-
der qualifizierten Facharbeit kam, ohne dass aller- tischen Durchsetzung des Industriekapitalismus eine
dings die großen Verlierergruppen der gering Quali- entscheidende Transformation. Bis weit ins 18. Jh.
fizierten und Entlohnten verschwanden (vgl. G waren die Klassengegensätze noch durch ältere his-
1949, B 1964, K 1961-72). torische Kompromisse gemildert gewesen (T-
Die Heterogenität solcher äußerer Lagemerkmale  1971 u. 1978a; M 1966). Die immer härtere
musste jedoch nicht zur sozialen Fragmentierung liberale Politik der Zerstörung des Gemeindelands,
führen, da die Arbeiter- und Volksmilieus weitge- der sozialen Sicherungen und der Meinungs- und
hend auch durch den Rahmen solidarischer Kohäsi- Koalitionsfreiheiten traf die verschiedensten Volks-
ons- und Deutungsmuster zusammengehalten wur- milieus gleichermaßen, so dass sie sich, v.a. in den
den. Indem T sich, auf dieser Grundlage, der Widerstandskämpfen ab 1800, immer mehr miteinan-
materiellen Verelendungsthese verweigert, verharm- der solidarisierten und auch modernisierte Konzepte
lost er die Klassenherrschaft nicht, sondern definiert entwickelten, die den neuen liberal-kapitalistischen
sie nur umfassender, als eine dramatisch erfahrene Bedingungen besser entsprachen. Anstelle traditio-
Veränderung der ganzen kulturellen wie materiellen neller, religiöser und naturrechtlicher Argumente
»Lebensqualität«; daher »besitzt die ältere ›katastro- wurden dem liberalen Umbau der sozialen Ord-
phische‹ Sicht der Industriellen Revolution immer nung zunehmend juristische und politökonomische
noch volle Gültigkeit. Auch wenn sich eine kleine Konzepte einer demokratischen und solidarischen
statistische Verbesserung der materiellen Bedin- Ordnung entgegengehalten (V 1970a, 25-29,
gungen nachweisen lässt, litt die Bevölkerung von 234-333; 1970b, 7-147). Dies galt nicht zuletzt für die
England in den Jahren 1780 bis 1840 unter der Erfah- anwachsende Gewerkschaftsbewegung.
rung der Verelendung. […] Die Erfahrung der Vere- T (1963/1987, 554-693) weist sogar nach,
lendung kam in hundert verschiedenen Formen über dass Sabotage und Maschinenzerstörung der sog.
sie: für den Landarbeiter als Verlust von Gemeinde- Ludditen unter der Illegalisierung der Gewerk-
rechten und den Resten einer dörflichen Demokratie; schaften alternativlose Kampfmittel waren und sich
für den Handwerker als Verlust seines beruflichen auch nicht blind gegen die produktiveren neuen
Status; für den Weber als Verlust von Einkommen Technologien als solche, sondern gegen das Fehlen
und Unabhängigkeit; für das Kind als Verlust von tariflicher Flankierungen richteten und dass nicht
Arbeit und Spiel zu Hause; für viele Arbeitergruppen, wenige der ›Maschinenstürmer‹ nach der Wiederzu-
deren Reallöhne stiegen, als Verlust von Sicherheit lassung ihrer Gewerkschaften noch jahrzehntelang
und Freizeit, als Verschlechterung ihrer städtischen formal friedliche Tarifpolitik betrieben. Insgesamt
Umwelt.« (1963/1987, 476f) zeigt T auf, dass die Klassenentwicklung eine
Klasse an sich / für sich 771 772

politische Koalitionsbildung verschiedenartiger, aber Kategorie« auf, die auch »den realen erfahrungsbe-
durch eine gemeinsame Alltagskultur verbindbarer stimmten historischen Prozess der Klassenbildung«
Volksmilieus war, die durch einen unerbittlichen libe- einbeziehen müsse; man habe »dem Begriff ›Klasse‹
ralen Gegner überhaupt erst zur Solidarisierung und viel zuviel (meist offensichtlich a-historische) theo-
zur Umstellung auf modernere Verhältnisse heraus- retische Beachtung geschenkt, dem Begriff Klassen-
gefordert wurden. Diese Koalitionen konnten auch kampf dagegen zuwenig. In der Tat ist Klassenkampf
wieder zerfallen, wenn der Gegner eine koalierende sowohl der vorgängige als auch der universellere
Gruppe – wie die kleinen Hausbesitzer, die 1832 das Begriff. […] Klassen existieren nicht als gesonderte
Wahlrecht bekamen – zu sich herüberziehen konnte. Wesenheiten, die sich umblicken, eine Feindklasse
4.3 Handlungsdisposition und Handlungsfeld im finden und dann zu kämpfen beginnen. Im Gegenteil:
praxeologischen Ansatz. – T (1971, 1978a/b) Die Menschen finden sich in einer Gesellschaft, die in
ergänzt, hierin in weitgehender Übereinstimmung bestimmter Weise (wesentlich, aber nicht ausschließ-
mit B, den Marxismus v.a. durch zwei mit- lich nach Produktionsverhältnissen) strukturiert ist,
einander verbundene Konzepte einer Theorie der machen die Erfahrung, dass sie ausgebeutet werden
Praxis. Wie sich Akteure praktisch verhalten, kann […], erkennen antagonistische Interessen, beginnen
nicht unvermittelt aus den mit ihrer gesellschaftlichen um diese Streitpunkte zu kämpfen, entdecken sich im
Stellung verbundenen Interessen bzw. materiellen Verlauf des Kampfs als Klassen und lernen diese Ent-
oder kulturellen Ressourcen – ihrem ökonomischen, deckung allmählich als Klassenbewusstsein kennen.
kulturellen und sozialen »Kapital« (Bourdieu 1979 Klasse und Klassenbewusstsein sind immer die letzte,
u. 1983) – abgeleitet werden. Wie diese Interessen nicht die erste Stufe im realen historischen Prozess.«
interpretiert und diese Ressourcen eingesetzt werden, (1978a, 264-67)
hängt vielmehr von eigenständigen Handlungsdispo- Nach dem relationalen, d.h. an Feldbeziehungen
sitionen ab, die die Akteure in Form ihrer gemein- orientierten Klassenkonzept T, das er mit
samen Kultur historisch erworben, tradiert und B (1979/1982, 182-85) teilt, lassen sich Klas-
auch aktiv gestaltet haben. Kultur wird hier ethno- sen nicht, wie bei positivistischen »Soziologen, die die
logisch oder materialistisch, wie bei W (1972, Zeitmaschine gestoppt haben«, in statischen Merk-
317-405) und B (1982, 17), in Abgrenzung malen wie »Berufen, Einkommen, Statushierarchien
von der Hochkultur als Kultur des Alltagsverhal- usw. finden […], insofern Klasse nicht dieses oder
tens verstanden. Individuell verinnerlicht, verfestigt jenes Teil der Maschine ist, sondern die Weise, in der
und manifestiert sie sich im Habitus. Das Konzept die Maschine arbeitet, sobald sie in Bewegung gesetzt
des Klassenhabitus teilt T der Sache nach ist, nicht dieses oder jenes Interesse, sondern das
(wenn auch unter dem Namen »culture« und »dispo- Spannungsverhältnis der Interessen – die Bewegung
sition«) mit B, der ihn als »einheitsstiftendes selbst, die Hitze und der donnernde Lärm. Klasse
Erzeugungsprinzip der Praxis« und »Inkorporation ist eine soziale und kulturelle Formation (die oft
der Klassenlage« (1982, 175) versteht, und mit G- institutionellen Ausdruck findet), die nicht abstrakt
 (1932, 13-16, 77-82), der ihn gleichbedeutend mit oder isoliert definiert werden kann, sondern nur im
»Mentalität« benutzt. Die Klassifikations-, Bewer- Verhältnis (relationship) zu anderen Klassen; und
tungs- und Handlungsdispositionen des Habitus schließlich kann die Definition nur in der Dimension
werden aber nicht unmittelbar und immer gleich in der Zeit (medium of time) gemacht werden, d.h. von
reale Praxis umgesetzt. Dies hängt vielmehr von den Aktion und Reaktion, Wandel und Konflikt. Wenn
historisch veränderlichen Kräfteverhältnissen des wir von einer Klasse sprechen, denken wir an einen
Handlungsfeldes insgesamt ab. Die soziale Praxis sehr locker abgegrenzten Zusammenhang von Leu-
ist damit nicht zwingend vorherbestimmt, sondern ten, die dieselbe Mischung von Interessen, sozialen
innerhalb eines bestimmten Spektrums von Möglich- Erfahrungen, Traditionen und Wertsystemen teilen,
keiten und historisch variabel. B fasst diesen die eine Disposition haben, sich als eine Klasse zu
komplexen Zusammenhang in die vereinfachende verhalten, sich in ihren Handlungen und in ihrem
Merkformel: »[(Habitus)(Kapital)] + Feld = Praxis« Bewusstsein im Verhältnis zu anderen Gruppen von
(1982, 175). Ansätze zu dieser Feld, Habitus und Leuten klassenmäßig zu definieren. Aber Klasse
Milieu einbeziehenden Praxistheorie lassen sich auch selbst ist nicht ein Ding, sondern ein Geschehen.«
bei M und E nachweisen (vgl. .O (T 1963, 257, zit.n. Vester u.a. 2001, 160)
1994/2006, 41ff). Mit dem Begriff der Disposition berücksichtigen
T grenzt sich ab von den statischen Klassen- T wie B, dass es um die Anlagen,
begriffen des orthodoxen Marxismus und des sozio- Geneigtheiten und Möglichkeiten des Habitus geht,
logischen Positivismus, die ihm als epistemologisches denen die Akteure auf verschiedene Weisen prak-
Zwillingspaar gelten. Er fasst Klasse als »historische tisch folgen können, je nach den Kräfteverhältnissen
773 774 Klasse an sich / für sich

im Feld. T exemplifiziert dies empirisch B: P.A, Arguments within English
am historischen Wandel der Klassenbeziehungen in Marxism, London 1980; R.B, Alienation and Free-
England (den M 1966 in seiner vergleichenden dom. The Factory Worker and His Industry, Chicago-Lon-
don 1964; P.B, Klassenstellung und Klassenlage,
historischen Klassenanalyse über einen noch länge- in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen (1970),
ren Zeitraum untersucht hat): Bis ins 18. Jh. waren Frankfurt/M 1974, 42-74; ders., Entwurf einer Theorie
die Klassenkonstellationen aufgrund älterer ausglei- der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabyli-
chender sozialer Arrangements noch wenig polari- schen Gesellschaft (1972), Frankfurt/M 1976; ders., Die
siert. Bis zum frühen 19. Jh. wurden die kommunale feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteils-
kraft (1979), a.d. Frz. v. B.Schwibs u. A.Russer, Frank-
und zentralstaatliche Sozialpolitik, die korporativen furt/M 1982; ders., »Ökonomisches Kapital, kulturelles
und individuellen Rechte usw. im Namen des Laissez- Kapital, soziales Kapital«, in: R.Kreckel (Hg.), Soziale
faire-Kapitalismus weitgehend abgebaut. Dieses Ungleichheiten, Göttingen 1983, 183-98; ders., Sozialer
Macht-Ohnmacht-Gefälle zwischen den Klassen Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (1980), a.d. Frz.
kulminierte in den 1840er Jahren und wurde danach v. G.Seib, Frankfurt/M 1987; ders., Praktische Vernunft.
Zur Theorie des Handelns, Frankfurt/M 1998; J.F.B,
wieder für Jahrzehnte relativiert. Gleichwohl prägte
Labour’s Wrongs and Labour’s Remedy, Leeds 1839 (dt.
die antagonistische Konstellation der 1840er Jahre Die Leiden der Arbeiterklasse und ihr Heilmittel, Leipzig
das im Marxismus dominant gewordene Klassen- 1920); N.B, Theorie des historischen Materialis-
konzept. Dem hält T entgegen: »Klasse als mus. Gemeinverständliches Lehrbuch, Hamburg 1922;
ein Produkt der kapitalistischen Industriegesellschaft G.D.H.C, A Short History of the British Working Class
des 19. Jh., das dann das heuristische Verständnis von Movement 1789-1927, Bd. 1: 1789-1848, London 1927;
ders., Chartist Portraits, London 1941; ders., The Mea-
Klasse geprägt hat, hat in der Tat keinen Anspruch ning of Marxism, London 1948; ders., Attempts at General
auf Universalität, sondern ist in diesem Sinn nicht Union. A Study in British Trade Union History, 1818-1834,
mehr als ein Unterfall der historischen Formationen, London 1953a; ders., A History of Socialist Thought, Bd. 1:
die aus Klassenkämpfen entstehen.« (1978a, 268) The Forerunners 1789-1850, London 1953b; Th.G,
In seinen theoretischen Essays entwickelt T Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart
1932; ders., Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln-
auf historisch-empirischer Grundlage sein Konzept
Hagen 1949; H.G, Die moralische Ökonomie des frü-
des »field of force« (1978a, 270) weiter und verknüpft hen Proletariats. Die Entstehung der hannoverschen Arbei-
es, wieder in Parallele zu B (1987, 180-94), terbewegung aus den arbeitenden und armen Volksklassen
mit der Kategorie der nicht gänzlich vorherbestimm- bis 1875, Frankfurt/M 1985; W.G, An Enquiry Con-
ten historischen Möglichkeit: »Bei der Analyse der cerning Political Justice and its Influence on General Vir-
Beziehungen von Gentry und Plebs [im 18. Jh.] trifft tue and Happiness, London 1793; Th.H, Labour
Defended against the Claims of Capital, London 1825;
man weniger auf einen kompromisslosen Schlagab- E.J, Vision und Realpolitik. Die britische Independent
tausch von unversöhnlichen Antagonisten als viel- Labour Party im Lernprozess (1893-1914), Frankfurt/M
mehr auf ein gesellschaftliches ›Kräftefeld‹. Ich denke 1988; J.K, »Arbeiterkultur als Forschungsthema. Ein-
an ein Experiment in der Schule […], wo elektrischer leitende Bemerkungen«, in: Geschichte und Gesellschaft,
Strom eine mit Eisenspänen bedeckte Platte magneti- 5. Jg., 1979, H. 1, 5-11; N.D.K, »Die langen
Wellen der Konjunktur«, in: Archiv für Sozialwissenschaft
sierte. Die gleichmäßig verteilten Eisenspäne ordne-
und Sozialpolitik, Bd. 56, 1926, H. 3, 573-609; K.K,
ten sich um den einen oder anderen Pol, während die Karl Marx (1938), Frankfurt/M 1967; J.K, Die
Späne dazwischen, die an ihrem Platz blieben, sich in Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus,
etwa so anordneten, als ob sie auf gegenüberliegende Bd. 1-38, Berlin/DDR 1961-72; E.M, Marxistische
Pole ausgerichtet seien. So etwa sehe ich die Gesell- Wirtschaftstheorie (1962), Bd. 1, Frankfurt/M 1968; ders.,
schaft des 18. Jh.: In vieler Hinsicht befindet sich die Der Spätkapitalismus, Frankfurt/M 1972; G.L..M,
Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und
Volksmenge an dem einen und die Aristokratie und Stadtverfassung und der öffentlichen Gewalt, München
die Gentry an dem anderen Pol; dazwischen bis tief 1854; ders., Geschichte der Dorfverfassung in Deutschland,
in das Jahrhundert die Gruppen der akademischen 2 Bde., Erlangen 1865/66; B.M Jr., Soziale Ursprünge
Berufe und der Kaufleute, die durch Magnetlinien von Diktatur und Demokratie. Die Rolle der Grundbesitzer
der Abhängigkeit von den Herrschenden gebunden und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt, Frank-
furt/M 1966; S.N’, Gibt es einen ›Wissenschaftlichen
sind und gelegentlich ihre Gesichter hinter gemein- Sozialismus‹? Marx, Engels und das Verhältnis zwischen
samen Aktionen mit der Menge verstecken. Diese sozialistischen Intellektuellen und den Lernprozessen der
Metapher […] sagt uns auch viel über […] die Gren- Arbeiterbewegung, Hannover 1979; P..O, »Klasse
zen des Möglichen, die die Mächtigen nicht zu über- und Milieu als Bedingungen gesellschaftlich-politischen
schreiten wagten. Es heißt, Königin Caroline habe Handelns« (1994), in: H.Bremer u. A.Lange-Vester (Hg.),
einmal solchen Gefallen am St. James Park gefunden, Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur, Wiesbaden
2006, 37-69; D.R, On the Principles of Political Eco-
dass sie Walpole fragte, wieviel es wohl kosten würde, nomy and Taxation, London 1817; A.S, An Inquiry
ihn als Privateigentum einzuhegen. ›Nur eine Krone, into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776),
Madam‹, war Walpoles Antwort.« (1978a, 270f) New York 1937; E.P.T, The Making of the English
Klassenanalyse 775 776

Working Class (1963), a.d. Engl. v. L.Eidenbenz u.a., Klassenanalyse


Frankfurt/M 1987; ders., »Die ›moralische Ökonomie‹ der
englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert« (1971), in: A: taƒl÷l ˜abaq÷. – E: class analysis. – F: analyse de classe.
ders. 1980, 67-130; ders., »Die englische Gesellschaft im 18.
Jahrhundert: Klassenkampf ohne Klasse?« (1978a), in: ders. R: klassovyj analiz. – S: análisis de clase.
1980, 247-89; ders., »Volkskunde, Anthropologie und Sozi- C: jieji fenxi 阶级分析
algeschichte« (1978b), in: ders. 1980, 290-318; ders., Plebe-
ische Kultur und moralische Ökonomie, hgg. v. D.Groh u. ›K‹ bezeichnet den Bereich der Gesellschaftsanalyse,
a.d. Engl. v. G.Lottes, Berlin/W 1980; W.T, An in dem die vertikale und horizontale sozialstruktu-
Inquiry into the Principles of the Distribution of Wealth
most Conducive to Human Happiness, Applied to the
relle Gliederung der Gesamtbevölkerung nach sozial-
Newly Proposed System of Voluntary Equality of Wealth, ökonomischen und, darauf aufbauend, macht- und
London 1824; A.U, The Philosophy of Manufactures: or, herrschaftspolitischen sowie kulturell-habituellen
an Exposition of the Scientific, Moral and Commercial Eco- Unterscheidungskriterien in ihrem wechselseitigen
nomy of the Factory System of Great Britain, London 1835; Bedingungsgefüge untersucht wird, und die diesbezü-
M.V, Die Entstehung des Proletariats als Lernprozess. glichen theoretische Voraussetzungen, Methodolo-
Die Entstehung antikapitalistischer Theorie und Praxis
in England 1792-1848, Frankfurt/M 1970a; ders. (Hg.), gie und heuristische Verfahren. Dass die K seit dem
Die Frühsozialisten 1789-1848, Bd. 1 u. 2, Reinbek 1970b 19. Jh. zu den zentralen Problemen der sozialwis-
u. 1971; ders., »Der ›Dampf-Marxismus‹ von Friedrich senschaftlichen Theoriebildung und Methodologie
Engels. Zum Verhältnis von Marxismus und Lernprozes- gehört, resultiert aus dem Widerspruch zwischen
sen der Arbeiterbewegung im ›Anti-Dühring‹«, in: Prokla behaupteter Gleichheit und realer Klassenspaltung
43, 11. Jg., 1981, 85-101; ders., »Was wurde aus dem Pro-
letariat? Das mehrfache Ende des Klassenkonflikts: Pro-
der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sowie
gnosen des sozialstrukturellen Wandels«, in: J.Friedrichs, den theoretischen und praktischen Auseinanderset-
M.R.Lepsius u. K.U.Mayer (Hg.), Die Diagnosefähigkeit zungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat.
der Soziologie, Opladen-Wiesbaden 1998, 164-206; ders. Wenngleich M und E in der für ihre Gesell-
u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. schaftsanalyse und die geschichtliche Orientierung
Zwischen Integration und Ausgrenzung (1993), 2., vollst.
der Arbeiterbewegung zentralen Frage von Klassen-
überarb., erw. u. aktual. A., Frankfurt/M 2001; M.W,
»Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Aka- struktur und Klassenkampf keine zusammenhän-
demische Antrittsrede« (1895), in: GPS, 1-25; G.W, gende Darstellung vorlegten, bestimmt das Klassen-
Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der konzept ihr gesellschaftstheoretisches Gesamtwerk.
Briten (1843-48), Berlin/DDR 1957 (Sämtl. Werke, Bd. 3); Das gleiche trifft auf L zu, mit der Spezifik, dass
R.W, Culture and Society 1780-1950, London 1958 die politisch-agitatorischem Anliegen geschuldete
(dt. Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur
historischen Semantik von Kultur, München 1972). Definition von Klasse (LW 29, 410) von der Rezep-
tion in den Mittelpunkt gerückt (und in der Komin-
M V tern sowie vom ML im Staatssozialismus kanonisiert)
wurde und die das Gesamtschaffen durchziehende
➫ Anarchismus, anschauender Materialismus, Arbeit, Analyse von Klassen- und Sozialstrukturen demge-
Arbeiteraristokratie, Arbeiterbewegung, Arbeiterklasse, genüber geringere Beachtung fand. – In der II. Inter-
Arbeiterkontrolle, Arbeiterkultur, Arbeiterselbstverwal- nationale belebte die Revisionismus-Kontroverse
tung, Arbeitsteilung, Arbeitszeit, Arbeitszeitverkürzung,
Assoziation, Aufstand, Bourgeoisie, bürgerliche Revo- an der Wende vom 19. zum 20. Jh. zwar den klas-
lution, Chartismus, Dorfgemeinschaft, Elend, Empirie/ sentheoretischen Diskurs; die von ihm ausgehenden
Theorie, Formationstheorie, Frühsozialismus, Gegen- Impulse zur Weiterentwicklung der Klassentheorie
macht, Genossenschaft, Gewerkschaften, gewerkschaft- waren jedoch vorrangig auf die deutsche Sozialde-
liche Kampfformen, Habitus, Hegemonie, herrschende mokratie und den Austromarxismus begrenzt. Dif-
Klasse, Interesse, Kampf, Klassenanalyse, Klassenbe-
ferenzierte und impulsgebende Untersuchungen von
wusstsein, Klassenherrschaft, Klassenkampf, Klassen-
kompromiss, Klassenlage, Kommunistisches Manifest, Klassen, Schichten und sozialen Gruppen wie durch
Konkurrenz, Kooperation, Kritik der politischen Öko- G erreichten erst nach 1945 die Öffentlichkeit,
nomie, Kulturstudien, Labourismus, Lassalleanismus, und auch dann lange Zeit nur selektiv.
Lebensweise, Lohnarbeit, Lumpenproletariat, Manufak- Die zwischen Unverständnis des Marxismus und
tur, Massen, Milieu, moralische Ökonomie, Organisation, Feindschaft gegen ihn schwankende institutionali-
Pariser Kommune, Polarisierungsthese, Praxis, Prekariat,
Proletariat, Proletarisierung, Räte/Rätesystem, Rätekom- sierte bürgerliche Forschung und Lehre drängt seit
munismus, revolutionärer Syndikalismus, Revolutions- dem ausgehenden 19. Jh. die Rezeption der -
theorie, Selbstorganisation, Selbstverwaltung, Solidarität, schen Klassentheorie und K ab in örtlich, instituti-
Sozialstaat, Staat, Streik, Subjekt, Verelendung, Volkskul- onell, zeitlich sowie individuell bzw. auf spezielle
tur (vorkapitalistische), von außen, vorkapitalistische Pro- Gruppen begrenzte Rahmen. Nach dem Zweiten
duktionsweisen, vormarxistischer Sozialismus, Vormärz,
Weltkrieg setzte in Westeuropa unterm Einfluss der
Widerspruch
USA eine antimarxistisch ausgerichtete Grundlagen-

Das könnte Ihnen auch gefallen