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Sozial Extra 5|6 ’07

Durchblick: Rehabilitation und Gesundheit


dern auch in Melanies Privatleben änderte

Was ist Gesundheit und sich einiges. Sie war seit mehreren Jahren mit
einem verheirateten Mann „zusammen“, der
sein Versprechen, seine Familie zu verlas-
wie kann sie gefördert sen und zu ihr zu ziehen, nie eingelöst hatte.
Jetzt – nach einem durch Todesangst gepräg-

werden?
Gesundheit und Krankheit als Kontinuum
ten Jahr – konnte sie ihm endlich ein Ultima-
tum stellen. Obwohl Peter seine Absicht be-
teuerte, den Schritt zu wagen, wusste Mela-
nie sofort, dass dies nicht geschehen würde.
„Gesundheit“ ist ein Schlagwort unserer Zeit. Doch trotz der enormen Bemühungen, Und es machte ihr nichts aus! Wie verflogen
die für die Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit unternommen werden, war die stete Angst, den Partner zu verlieren
ist selten klar, was unter „Gesundheit“ genau verstanden wird. – diese Angst, die sie das Versteckspiel, die
Entbehrungen und die Eifersucht hatte ertra-
gen lassen, durch die ihre Beziehung von Be-
Wenn Melanie S. an den fund kaum realisierte: Ihr Leben veränderte ginn an geprägt gewesen war.
12. Mai des Jahres 2004 zu- sich angesichts der Krankheit nicht nur zum
rückdenkt, tut sie das mit Schlechten, sondern auch zum Bessern. Zum Rückblick
gemischten Gefühlen. An Beispiel an ihrer Arbeitsstelle: Während Jah- Wenn Melanie S. ihr Leben heute – knapp
diesem Tag hatte ihre Haus- re hatte sie sich von ihrem direkten Vorge- drei Jahre nach der Diagnose ihres Brustkreb-
Martin Hafen ärztin darauf gedrängt, eine setzten schlecht behandelt gefühlt, hatte die ses – mit der Situation zuvor vergleicht, fühlt
*1958
leichte Verhärtung in der Wertschätzung ihrer Arbeit und den Respekt sie sich in mancher Hinsicht besser als zuvor.
Sozialarbeiter und Sozi-
ologe (Dr. phil.). Dozent
linken Brust genauer zu un- ihrer Person gegenüber vermisst. Wirklich Die Krankheit scheint besiegt. Die Angst vor
an der Hochschule für tersuchen. Ihre Beteuerung, gewehrt hatte sie sich nie – aus Angst, ihren einem Neubefund ist zwar noch nicht gänz-
Soziale Arbeit Luzern,
Fachbereich Prävention
dass es für die Verhärtung Job zu verlieren und weil sich die fehlende lich verschwunden, aber die Attacken wer-
und Gesundheit. Autor viele Gründe geben konn- Wertschätzung ihres Chefs in der Regel mehr den seltener und fallen weniger heftig aus.
des Buches „Mythologie
der Gesundheit – zur In-
te, mochte Melanie nicht in Zwischentönen als in klaren Aussagen äus- Gleichzeitig hat sich Melanies Verhältnis zu
tegration von Salutoge- zu beruhigen. Brustkrebs! serte. Als sie nach Abschluss der Therapie ihrer Umwelt geändert. Sie fühlt sich eigen-
nese und Pathogenese“
(Heidelberg, Carl Auer,
Ihre Mutter war mit 45 Jah- und einem Erholungsaufenthalt ihre Arbeit ständiger, selbstbewusster, kann sich besser
2007). ren an dieser Krankheit ge- wieder aufnahm, reichte eine spitze Bemer- wehren, wenn ihr etwas nicht passt. Aus die-
martin.h storben. Welches Leid war kung ihres Vorgesetzten über die „erstaun- sen Gründen ist Melanies Erinnerung an den
@fen.ch, www.fen.ch
mit der Erinnerung an ihre liche Länge der Rehabilitationszeit“, um bei 12. Mai 2004 nicht nur durch den Schrecken
Krankheitszeit verbunden, Melanie eine heftige Reaktion auszulösen. geprägt, der mit der Krebsdiagnose verbun-
welcher Schmerz mit den Gedanken an ih- Nach einem zweiten Vorfall wenige Tage spä- den war, sondern auch durch die Kraft, die
ren Tod. Melanies Befürchtungen bestätigten ter ging sie zum Chef des mittelständischen sie aus den Veränderungen bezieht, die sich
sich. Der Knoten in der Brust war bösartig, Unternehmens, in dessen Buchhaltung sie aus der Diagnose ergeben haben.
und es hatten sich bereits einige kleine Ab- arbeitete, und beschwerte sich über ihren
leger gebildet. Was folgte: die Operation zu Vorgesetzten. Nach einem Gespräch zu dritt Was ist Gesundheit?
Entfernung des Primärtumors, Strahlen- und besserte sich die Situation merklich. Kritik Das Beispiel zeigt, wie komplex die Be-
Chemotherapie, zahllose Nachuntersuchun- wurde offener geäussert und konnte sachlich stimmung von „Gesundheit“ ist. Wenn man
gen. Und die unsägliche Angst, die ihr Herz ausdiskutiert werden, die verletzenden Zwi- „Gesundheit“ nicht nur auf den Körper, son-
umklammerte und ihr Denken bestimmte. schenbemerkungen blieben aus, mit der Zeit dern auch auf die psychische Verfassung be-
bekam Melanie zwischendurch sogar ein Lob zieht, so hat sich der Gesundheitszustand von
Veränderungen für ihre Arbeit, was früher schlicht nie der Melanie S. durch den Brustkrebs insgesamt
Auch wenn Melanie dies während der Fall gewesen war. eher verbessert als verschlechtert – zumin-
enorm belastenden Zeit nach dem Erstbe- Doch nicht nur an der Arbeitsstelle, son- dest, was ihr allgemeines Wohlbefinden be-

Stichworte Gesundheit, Krankheit, Salutogenese, Pathogenese, Prävention, Behandlung.


Nutzen Klärung des Gesundheitsbegriffs, Entmystifi zierung der Gesundheit.
Das Wichtigste in Kürze Krankheit ist ein Bestandteil der Gesundheit und kann von dieser nicht einfach getrennt werden.

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trifft. Die Krankheit war für sie einerseits aus, dass Dinge (Phänomene) der Beobach- Gesundheit und Krankheit
auch eine Ressource, die ihr in wichtigen Le- tung nur zugänglich sind, wenn sie bezeich- als Kontinuum
bensbereichen Veränderungen von Faktoren net und damit von Anderem unterschieden Wir gehen also davon aus, dass Gesundheit
ermöglicht hat, die ihr Wohlbefinden zuvor werden (was wäre „links“ ohne „rechts“, immer nur mit Referenz auf die An- und Ab-
eingeschränkt hatten. Andererseits ist unbe- was ein Stuhl, wenn es nicht auch Tische wesenheit von Krankheiten und Verletzun-
stritten, dass der Brustkrebs selbst eine zer- etc. gäbe). Beim Blick auf die andere Sei- gen zu definieren ist. Zugleich ist klar, dass
störerische Kraft hat, der möglichst früh ent- te der Gesundheit 2 stossen wir unvermit- sich jede Krankheit immer nur mit Blick auf
gegnet werden muss. Im Fall von Melanie S. telt auf Phänomene der Nicht-Gesundheit, einen Zustand der Nicht-Krankheit beschrei-
hat der Krebs die Gesundheit also zur glei- also auf Krankheiten, Verletzungen und all ben lässt – einen Zustand, der beim Eintreten
chen Zeit beeinträchtigt und gefördert, war die Einflussfaktoren, die Krankheiten und der Krankheit mit der Behandlung wieder
die Krankheit Risiko- und Schutzfaktor zu- Verletzungen wahrscheinlicher (Risikofak- hergestellt oder der durch die Prävention er-
gleich. toren) bzw. unwahrscheinlicher (Schutzfak- halten werden soll, wenn die Krankheit noch
Wie viele unterschiedliche Aspekte bei der toren) machen. Bei dieser Sichtweise stellt nicht aufgetreten ist. Diese Argumentation
Bestimmung des Gesundheitsbegriffs zu be- sich sofort die Frage, ob Gesundheit wirklich legt nahe, Gesundheit und Krankheit(en)
achten sind, zeigt die Definition der Welt- mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit (und Verletzungen) nicht isoliert, sondern
gesundheitsorganisation (WHO) von 1948: und Verletzung, wie es die WHO-Definiti- als Unterscheidung (Gesundheit/Krankheit)
„Gesundheit ist der Zustand des vollstän- on postuliert. Ihre eigene Antwort auf diese zu beobachten, deren beide Seiten sich nicht
digen körperlichen, geistigen und sozialen Frage – „Gesundheit ist Wohlbefinden“ – ist ausschliessen, sondern sich wechselseitig be-
Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins aus verschiedenen Gründen wenig überzeu- dingen. Diese Sicht ist durchaus alltagsnah,
von Krankheit und Gebrechen“. Der wich- gend: Zuerst stellt sich die Frage, wie „Wohl- ist doch ein Zustand absoluter Gesundheit,
tigste Beitrag dieser Definition zur Diskus- befinden“ zu erkennen wäre, wenn nicht in also ein Zustand ohne jegliche die Gesund-
sion um den Gesundheitsbegriff besteht da- Abgrenzung von Zuständen des „Unwohl- heit einschränkende Faktoren, genau so we-
rin, dass sie „Gesundheit“ nicht nur als kör- seins“. Weiter wird ausgeblendet, dass sich nig vorstellbar wie ein Zustand vollständiger
perliche Gesundheit versteht, sondern auch auch kranke Menschen wohl befinden kön- Krankheit. Der Medizinsoziologe Antonovs-
die Dimensionen des Sozialen und des Psy- nen. Und schliesslich wird nicht klar, ob ky3 nutzt für die Illustrierung der wechsel-
chischen (Geistigen) einbezieht. Damit folgt „Wohlbefinden“ die Gesundheit selbst oder seitigen Bedingtheit von Gesundheit und
die WHO der langen Tradition eines umfas- lediglich ein Symptom von Gesundheit ist. Krankheit das Bild des Kontinuums – ein
senden Gesundheitsverständnisses, wie es in Bild, das auch der Prozesshaftigkeit von Ge-
Mitteleuropa von der Antike (z.B. bei Hip- Symptome von Krankheit sundheit und Krankheit gerecht wird.
pokrates) bis zum ausgehenden Mittelalter und Gesundheit Am Beispiel von Melanie S. lässt sich die
(bis hin zu Paracelsus) üblich war und wie es Am Beispiel von Krankheiten lässt sich ein- Prozesshaftigkeit des Gesundheits-/Krank-
in andern Kulturen (z.B. auf dem indischen fach zeigen, dass die Symptome nicht die heits-Kontinuums einfach zeigen: Mit der
Subkontinent oder in China) bis heute ge- Krankheit selbst sind. Der bösartige Tumor Diagnose des Tumors in der Brust hat sich
pflegt wird.1 in der Brust von Melanie S. und die Mikro- die Positionierung von Melanie auf dem Kon-
Doch es gibt an der WHO-Definition auch metastasen waren Symptome einer Krank- tinuum deutlich in Richtung Krankheit ver-
Einiges zu kritisieren – etwa ihre statische heit, die von der Medizin als „Brustkrebs“ be- schoben. Streng genommen ist es weniger
Komponente (Gesundheit als „Zustand“), zeichnet wird. Wie bei jeder Krankheit sind der Tumor, der die Gesundheit der Patientin
ihre ausschliesslich negative Bewertung von auch beim Brustkrebs immer nur die Sym- beeinträchtigte, sondern das (theoretische)
Krankheit oder ihre Fixierung auf das indi- ptome beobachtbar und nicht die Krankheit Wissen um den Verlauf der Krankheit ohne
viduelle Wohlbefinden, welches erst noch selbst. Sie ist ein Konzept, ein theoretisches Behandlung. Melanie S. fühlte sich ja unmit-
„vollständig“ sein soll. Bei dieser Argumenta- Konstrukt, mit welchem die beobachtbaren telbar vor der Diagnose nicht krank, und sie
tion stellt sich die Frage, ob sich ein kranker (empirisch fassbaren) Symptome erklärt wer- war in keiner Weise durch die Krankheit be-
Mensch nicht „wohl befinden“ kann oder ob den. Das gilt auch für die Gesundheit: Auch hindert. Das zeigt, wie stark der „Gesund-
Phasen des „Unwohlseins“ (z.B. Liebeskum- sie ist ein Konzept, dessen Konkretisierung heitszustand“ von den jeweiligen Beobach-
mer) einen Menschen „krank“ machen. auf die Beobachtung von Symptomen ange- tungen abhängt. Im Nachhinein gesehen war
wiesen ist. Und weil es keine eindeutigen po- Melanie unmittelbar vor der Diagnose zur
Die andere Seite der Gesundheit sitiven, d.h. direkt beobachtbaren Merkma- gleichen Zeit krank (weil der Tumor schon
Wenn immer es darum geht, Begriffe zu le für Gesundheit gibt, verläuft die Beobach- in ihrem Körper war) und nicht krank (weil
klären, liegt es nahe, danach zu fragen, wo- tung der Gesundheit zwangsläufig über die er noch nicht diagnostiziert war). Das Bei-
von sich der Begriff unterscheidet, was also Beobachtung von Symptomen der Nicht-Ge- spiel zeigt auch, dass die Beobachtung immer
„Gesundheit“ alles nicht ist. Dieser unter- sundheit, also über die andere Seite der Ge- aus ganz unterschiedlichen Perspektiven er-
scheidungstheoretische Zugang geht davon sundheit. folgt: eher subjektivierend aus Sicht des In-

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Durchblick: Rehabilitation und Gesundheit

dividuums und eher objektivierend aus Sicht terscheidung, mit der sich diese Massnahmen Die Prävention hingegen kann nicht direkt
von (Natur-)Wissenschaft und Medizin. Da- gliedern lassen, ist die Unterscheidung von am Problem ansetzen, da dieses ja noch nicht
bei ist klar, dass sich die beiden Perspektiven Prävention und Behandlung. Von Behand- aufgetreten ist. Krebsprävention richtet sich
wechselseitig beeinflussen. lung ist die Rede, wenn die Massnahmen in diesem Sinn an Menschen, die noch kei-
Durch die erfolgreiche Behandlung des darauf ausgerichtet sind, ein bestehendes nen Krebs haben. Prävention will Risikofak-
Brustkrebses hat sich die Positionierung von Problem zu beseitigen oder zumindest seine toren beseitigen und/oder Schutzfaktoren
Melanie S. auf dem Kontinuum wieder in Verschlimmerung zu stoppen: Die Operati- fördern. Wenn der Einfluss solcher Faktoren
Richtung Gesundheit verschoben. Die Po- on des Tumors von Melanie und die nachfol- auf Krankheitsentstehung (wie im Fall des
sitionierung wurde dabei nicht nur durch gende Chemo- und Strahlentherapie sind ge- Brustkrebses) unklar ist oder wenn einzelne
ihre körperliche Genesung beeinflusst, son- nau so der Behandlung zuzurechnen wie die Faktoren gar nicht behoben werden können
dern auch durch ihren psychischen Zustand, nachfolgenden Massnahmen der Rehabilitati- (wie eine genetische Veranlagung), sind die
der sich zuerst eher verschlechterte (durch on. Zur gleichen Zeit kann die Behandlung Möglichkeiten der Prävention beschränkt.
die Angstattacken), um sich dann nachhal- auch an den (vermuteten) Einflussfaktoren In diesem Fall bietet sich an, der Früherken-
tig zu verbessern (abnehmende Angst, bes- ansetzen. Wenn zum Beispiel gesunde Er- nung möglichst hohe Bedeutung zuzumessen
sere Durchsetzungsfähigkeit in sozialen Be- nährung als Schutzfaktor für die Entstehung – Früherkennung verstanden als eine Form
ziehungen). und Verbreitung von Brustkrebs vermutet von Diagnose, die eine frühzeitige Behand-
wird, kann die Umstellung der Ernährung lung ermöglichen soll, was bei vielen Krank-
Krankheiten und andere eine ergänzende Massnahme im Kontext der heiten (auch bei Brustkrebs), die Chance ei-
Einflussfaktoren Krebsbehandlung darstellen. ner Heilung deutlich erhöht.
Das Beispiel zeigt, dass sich die Rede von der
„Gesundheit eines Menschen“ auf eine ganze Gesundheit – eine Übersicht
Reihe von Faktoren bezieht, die die Gesund-
• Gesundheit und Krankheit sind beobachterabhängige Konstrukte, wobei sich die Beo-
heit beeinflussen: Nicht nur die körperlichen bachtung von Gesundheit und Krankheit durch soziale Systeme wie die Medizin oder
und psychischen Krankheiten selbst, sondern die Wissenschaft von der Beobachtung durch das Individuum unterscheiden kann (ob-
auch die Einflussfaktoren, die das Entstehen jektivierende vs. subjektivierende Sicht).
der Krankheiten begünstigen oder unwahr-
• Die Beobachtung von Gesundheit und Krankheit erfolgt ausschliesslich anhand von
scheinlicher machen. (körperlichen, psychischen und sozialen) Symptomen.
Die Krankheit begünstigenden Faktoren
• Gesundheit und Krankheit sind demnach für sich nicht empirisch fassbar; sie entspre-
werden dabei als „Risikofaktoren“ (Stresso- chen Konzepten, mit welchen die Symptome erklärt werden.
ren) bezeichnet, die andern als „Schutzfak-
• Der Begriff „Gesundheit“ bezeichnet keinen absoluten Zustand, sondern die sich lau-
toren“ (Widerstandsressourcen), da sie den fend verändernde Positionierung eines Menschen auf dem Gesundheits-/Krankheits-
Einfluss von Risikofaktoren beschränken. Je kontinuum.
nach Krankheit bzw. Verletzung gibt es un-
• Es ist zwischen physischer und psychischer Gesundheit/Krankheit zu unterscheiden.
terschiedlich viele körperliche, psychische,
• Die Positionierung auf dem Kontinuum wird primär durch das Vorhandensein/die Ab-
soziale und physikalisch-materielle Risiko- senz von physischen und psychischen Krankheiten bestimmt.
und Schutzfaktoren. Dabei ist zu beachten,
• Das Auftreten dieser Krankheiten wird beeinflusst durch Risikofaktoren (Stresso-
dass die Krankheiten selbst zu Risiko- und ren), welche die Wahrscheinlichkeit von Krankheiten und Verletzungen erhöhen und
Schutzfaktoren werden können – etwa wenn Schutzfaktoren, welche die Wirkung der Risikofaktoren beschränken.
eine Krebsdiagnose bei einer Person zu ei- Die Risiko- und Schutzfaktoren können in physische, psychische, soziale und physika-

ner schweren Depression führt oder (wie bei lisch-materielle Faktoren unterteilt werden.
Melanie S.) langfristig die psychische Befind-
• Streng genommen kann die Gesundheit aus der objektivierenden Sicht nur durch die
lichkeit verbessert, was die Entstehung von Behandlung von Krankheiten gefördert werden, da nur eine erfolgreiche Behandlung
anderen Krankheiten unwahrscheinlicher der Krankheit (durch das Verschwinden der Symptome) die Positionierung des Indivi-
werden lässt. duums auf dem Kontinuum in Richtung Gesundheit verschiebt.
• Durch die Bekämpfung der Risikofaktoren und die Förderung der Schutzfaktoren wird
Aktive Beeinflussung der Gesundheit
die Chance für das Auftreten neuer Krankheiten verringert und die Positionierung auf
Im heutigen Gesundheitssystem gibt es eine dem Kontinuum erhalten.
unüberblickbare Menge von professionellen,
• Wenn sich durch die Verminderung von Risikofaktoren und die Förderung von Schutz-
semi-professionellen und nicht professionel- faktoren das Wohlbefi nden des Individuums verbessert, kann sich seine Positionierung
len Versuchen, die Positionierung von Men- auf dem Kontinuum durchaus in Richtung Gesundheit verschieben (subjektivierende
schen auf dem Gesundheits-/Krankheitskon- Perspektive).
tinuum aktiv zu beeinflussen. Eine erste Un-

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Das Beispiel von Melanie S. zeigt, dass eine Interventionen vollständig andere Ansatz- die Beobachtung der Gesundheit von so gros-
Behandlung immer auch präventive Aspekte punkte zu nutzen als die Konzepte, die eine ser Bedeutung sind.
beinhaltet (hier: die Verhinderung weiterer „pathogenetische“ Argumentationslinie ver- Bei erfolgreicher Gesundheitsförderung
Metastasenbildung und letztendlich des vor- folgen. Dabei ist auch bei der salutogenetisch (oder Prävention) im Sinne der Förderung
zeitigen Todes der Patientin) genau so, wie argumentierenden Gesundheitsförderung von Schutzfaktoren oder der Verringerung
Prävention es immer auch mit der Beseiti- (zwangsläufig) von Phänomenen der Nicht- von Risikofaktoren hingegen wird der Ge-
gung (Behandlung) von Risikofaktoren resp. Gesundheit die Rede und von Faktoren, wel- sundheitszustand aus der objektivierenden
Schutzfaktoren-Defiziten zu tun hat. Aus che diese Phänomene begünstigen (Risiko- Perspektive nicht aktiv verändert; es wird
diesem Grund bietet sich an Prävention und faktoren) resp. unwahrscheinlicher machen nur dazu beigetragen, dass die Krankheiten
Behandlung wie Gesundheit und Krankheit (Schutzfaktoren). Ganz präzise formuliert und Verletzungen unwahrscheinlicher wer-
nicht als isolierte, sondern als sich wechsel- ist es sogar so, dass die Gesundheit vor allem den, welche ihn in der Zukunft verschlech-
seitig ergänzende Phänomene zu verstehen. durch die Behandlung von Krankheiten (und tern könnten. Aus der subjektivierenden
Verletzungen) aktiv gefördert werden kann. Sicht jedoch kann sich das Individuum durch-
Salutogenese und Pathogenese Wenn es gelingt, eine Krankheit direkt (z.B. aus gesünder fühlen, wenn sich durch die
In den letzten Jahrzehnten wird in der Fach- durch Verabreichung von Medikamenten Massnahmen sein allgemeines Wohlbefinden
welt eine engagierte Diskussion darüber ge- oder durch eine Psychotherapie) und/oder verbessert hat.
führt, wie Prävention und Behandlung von indirekt (durch Beseitigung von Risikofak-
Krankheiten am wirkungsvollsten anzuge- toren oder Förderung von Schutzfaktoren) Reduktionismus der Schulmedizin
hen sind. Auslöser für diese Diskussion war zu beseitigen, verschiebt sich die Positionie- Die unterscheidungstheoretisch wenig
das Salutogenese-Konzept von Aaron Anto- rung eines Menschen auf dem Kontinuum in zwingende Argumentationslinie der Saluto-
novsky – ein Konzept, dass dafür plädiert, Richtung Gesundheit, da in diesem Fall die genese hat ihre Spuren hinterlassen. Sie hat
nicht nur darauf zu schauen, was Menschen Krankheitssymptome verschwinden, die für bei vielen VertreterInnen des salutogeneti-
krank macht (Risikofaktoren, Stressoren),
sondern auch auf das, was sie gesund erhält
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(Schutzfaktoren/Widerstandsressourcen).
Diese (Abgrenzungs-) Diskussion wird so
Diagnose und Seminar Zentrum
geführt, als böten Salutogenese und Patho- für ganzheitliche Entwicklung
genese (oder Gesundheitsförderung und Prä- Geist-Seele-Körper in Steinhagen
vention) einen grundsätzlich verschiedenen
Zugang zur Beeinflussung der Gesundheit. Systemaufstellungen in Beratung
Wenn man (wie das hier geschehen ist) Ge-
& Supervision
sundheit und Krankheit nicht als sich wech-
selseitig ausschliessend, sondern als sich Systemische Weiterbildungen
wechselseitig bedingend versteht, findet man
keine Anhaltspunkte dafür, dass sich Saluto- Ausbildung Entspannungstherapie
genese und Pathogenese grundsätzlich unter-
scheiden.
Hilfen zur Erziehung
„Salutogenese“ in Abgrenzung von „Patho-
Diagnose und Seminar Zentrum
genese“ ist demnach wenig überzeugend. Sie für ganzheitliche Entwicklung
ist nicht überzeugend, weil sie auf die Gene- Am Pulverbach 17
se von Gesundheit setzt, obwohl die Gesund- 33803 Steinhagen

heit (als Einheit von Gesundheit und Krank- FON: 05204-6683


Frau Wirtz Verwaltung
heit) von der Zeugung bis zum Tod Teil des Mo-Fr 9-13 Uhr
Lebens ist und nicht eigens erschaffen wird. FON: 05204-6661
Sie ist nicht überzeugend, weil sie die andere Frau Weber-Boch
Di 11-12:30 & Do 18-19:00 Uhr
Seite der Gesundheit, die Nicht-Gesundheit,
nicht mit beobachtet, obwohl Antonovskys E-Mail: post@ds-zentrum.de
Web: www.ds-zentrum.de
Metapher des Kontinuums von Gesundheit
Unsere Leistungen
und Krankheit impliziert, dass Gesundheit G. Enamaria Weber-Boch für Erwachsene und Kinder
und Krankheit nicht isoliert betrachtet wer- Dipl. Sozialarbeiterin bieten wir an im Raum
System. Familientherapeutin Bielefeld/Gütersloh
den können. Und sie ist nicht überzeugend, Entspannungslehrerin & Heilbronn/Stuttgart
weil sie vorgibt, für die „salutogenetischen“

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Sozial Extra 5|6 ’07
Durchblick: Rehabilitation und Gesundheit
Neuregelung
der Jugend- schen Ansatzes zu einer regelrechten „De- Gesundheit!

hilfe: aktuelle
fizitphobie“ geführt und damit zu einer Un- Wenn Gesundheit nicht von Krankheiten
menge von argumentativen und semanti- und Krankheit(en) nicht von Gesundheit ge-
Analyse schen Verrenkungen, die dadurch notwendig trennt werden, wird es möglich, auch die po-
werden, dass auch die Salutogenese für die sitiven (d.h. gesunden) Aspekte von Krank-
Förderung der Gesundheit die präziser be- heiten zu sehen – etwa dass die Krankheit
stimmbare Krankheitsseite des Gesund- eine Botschaft unseres Körpers sein kann,
heitsbegriffs (bzw. die krankheitsbezogenen oder dass sie wie bei Melanie S. zum Anlass
Schutz- und Risikofaktorenkonzepte) immer von Veränderungen wird, welche die Ge-
einbeziehen muss, dabei aber das Problem sundheit nachhaltig sichern. Weiter kann
LEISTUNG BILDUNG LEHREN SO
ZIALISATIN DROGEN JUGEND
hat, dass sie diese Seite eigentlich ausblenden man darauf verzichten, bei der Prävention
REFORM ERZIEHUNG IDENTITÄT sollte bzw. möchte. und der Behandlung von Krankheiten salu-
GESCHLECHT FAMILIE KULTUR So spricht die Salutogenese z.B. vom Kohä- togenetische von pathogenetischen Zugängen
SCHULE ARBEIT GEWALT LERNEN
SEXUALITÄT UNTERRICHT RELI
renzgefühl als Ressource, blendet aber gleich- zu unterscheiden, da jeder Versuch, Gesund-
GION ALTER EVALUATION GENE zeitig aus, dass salutogenetische Massnahmen heit wieder herzustellen resp. sie zu erhalten,
darauf ausgerichtet sind (sein müssen) Kohä- an Krankheiten und/oder an ihren Einfluss-
renzgefühl-Defizite zu beheben, welche die faktoren ansetzen muss. Die Kritik an der
Zielpersonen anfälliger für die Gefahren des westlichen, naturwissenschaftlich gepräg-
Lebensflusses machen (Antonovsky 1997). Sie ten Schulmedizin sollte sich demnach nicht
Heinz Messmer
macht also formal nichts anderes als ein Arzt, auf ihren pathogenetischen Zugang beziehen;
Jugendhilfe der das Immunsystem eines Menschen zu vielmehr ist ihre unzureichende Beachtung
zwischen Qualität und stärken versucht. des Zusammenspiels von psychischen und
Kosteneffizienz
Semantisch jedoch sind die Differenzen so körperlichen Prozessen zu kritisieren sowie
Aus dem Inhalt: Jugendhilfe im gross, dass Beobachter beim Vergleich der der Umstand, dass sie sozialen Einflussfakto-
Kontext marktfördernder Steue-
pathogenetisch ausgerichteten Prävention ren auf die Entstehung von Krankheiten und
rung und knapper Ressourcen –
Organisationsprofile und Rah-
und der salutogenetisch argumentierenden bei der Wiedergewinnung von Gesundheit
mendaten – Vertragsvereinba- Gesundheitsförderung „von einem regelrech- zu wenig Beachtung schenkt. Gesundheit ist
rungen zwischen Einrichtung und ten Paradigmenwechsel sprechen“ 4, obwohl ein bio-psycho-soziales Phänomen; das sollte
Kostenträgern – Effekte gesetz- sich die Massnahmen der beiden Diszplinen weder bei der Behandlung noch bei der Prä-
licher Neuregelungen – Jugendhil-
fe zwischen Qualität und Kos-
in nichts unterscheiden5. vention übersehen werden. Schliesslich zei-
teneffizienz – Fortschritt durch Diese semantische Konzeption der Saluto- gen die explodierenden Kosten in unserem
Steuerung? Steuerungsmedien in genese hat damit zu einer Abgrenzung von Gesundheitssystem, dass die Schulmedizin
der Kinder- und Jugendhilfe pathogenetischen Zugängen geführt, die bes- vermehrt auf Prävention setzen sollte, wenn
2007. 193 S. Br. EUR 26,90 tenfalls strategisch und methodisch, aber sie die öffentliche Gesundheit nachhaltig ver-
ISBN 978-3-531-15343-8 nicht inhaltlich zu begründen ist. Dadurch bessern will – so wie es die WHO mit ihrem
sind – und das ist der grösste Vorwurf – die Public-Health-Konzept und die modernen,
wirklich wichtigen Kritikpunkte an der na- multidisziplinären Gesundheitswissenschaf-
turwissenschaftlich geprägten Schulmedizin ten seit Jahren fordern.
in den Hintergrund gedrängt worden: die
Reduktion von Gesundheit auf körperliche ∑
Gesundheit, das Ausblenden des komplexen Anmerkungen 1 Zur Geschichte der Gesundheitsbil-
VS Verlag für Sozialwissenschaften Zusammenspiels körperlicher, psychischer, dung vgl. u.a. Haug, Christoph (1991): Gesundheitsbildung
Abraham-Lincoln-Straße 46
65189 Wiesbaden
sozialer und physikalisch-materieller Ein- im Wandel. Bad Heilbrunn 2 Vgl. dazu auch Simon, Fritz B.
Telefon 0611. 7878 -245 flussfaktoren auf die Entwicklung der Ge- (2001): Die andere Seite der Gesundheit. 2. Auflage. Heidel-
Telefax 0611. 7878 - 420 berg 3 Antonovsky, Aaron (1997): Salutogenese: Zur Ent-
sundheit und die Behandlungslastigkeit des
www.vs-verlag.de mystifizierung der Gesundheit. Dt. erw. hrsg. von Alexa Fran-
modernen Gesundheitssystems, in welchem ke. Tübingen 4 Franzkowiak, Peter; Sabo, Peter (Hrsg.),
Symptombeseitigung vorherrscht und der 1993: Dokumente der Gesundheitsförderung. Internationale
Erhältlich im Buchhandel
oder beim Verlag.
Beseitigung von Risikofaktoren resp. Schutz- und nationale Dokumente und Grundlagentexte zur Entwick-
Änderungen vorbehalten. faktoren-Defiziten (d.h. der Prävention) kei- lung der Gesundheitsförderung im Wortlaut und mit Kommen-
Stand: März 2007.
VS VERLAG tierung. Mainz, S. 11 5 Vgl. dazu Hafen, Martin, 2006:
ne wirkliche Bedeutung zugemessen wird.
Was unterscheidet Prävention von Gesundheitsförderung. In:
Bauch, Jost (Hrsg.): Gesundheit als System. Systemtheoretische
Beobachtungen des Gesundheitswesens. Konstanz: 129-137

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