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Psychosozialer Gesprächsleitfaden
Band 10
Praxis im Bevölkerungsschutz
Impressum
Herausgeber
© Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK)
Provinzialstraße 93, 53127 Bonn, Deutschland
E-Mail: poststelle@bbk.bund.de
URL: www.bbk.bund.de
ISBN: 978-939347-49-1
Verfasst durch
Rike Richwin, Kommunikationswissenschaftlerin (Master of Arts)
Dr. Jutta Helmerichs, Diplom-Soziologin
Malte Kromm, Diplom-Pädagoge
Lektorat
Thomas Knoch, BBK
Urheberrechte
Der vorliegende Band stellt die Meinung der Autoren dar und spiegelt nicht grundsätzlich die Meinung des
Herausgebers. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von
Teilen dieses Werkes ist nur in den Grenzen des geltenden Urheberrechtsgesetzes erlaubt.
Grafische Gestaltung
Heike Bauer Grafik & DTP, www.bauer-dtp.de
Druck
Druckerei Engelhardt, Eisenerzstraße 26, 53819 Neunkirchen
Stand/Auflage
Unveränderter Nachdruck der Ausgabe 02.2013/10.000
unmittelbar Betroffenen, von Überlebenden, Angehöri-
gen, Hinterbliebenen und Vermissenden, gibt es noch
keine aussagekräftige Übersicht. Hier setzt der vorlie-
gende Leitfaden an. Vorgestellt werden psychosoziale
Maßnahmen für den Umgang mit belasteten Personen,
außerdem Strategien, um die Arbeitsfähigkeit der Hotli-
ner zu erhalten. Qualifizierte Hotlinearbeit ist deshalb
Christoph Unger Bevölkerungsschutz und Fürsorge für das haupt- und
Präsident ehrenamtlich tätige Personal an der Krisenhotline.
Bundesamt für
Bevölkerungsschutz Ausgangspunkt des Leitfadens ist die mittlerweile zehn-
und Katastrophenhilfe jährige Tätigkeit der Koordinierungsstelle Nachsorge,
Opfer- und Angehörigenhilfe (NOAH) des Bundesamtes
für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK),
Liebe Leserinnen und Leser, die Unterstützung für Deutsche, die im Ausland durch
Terroranschläge und schwere Unglücksfälle zu Schaden
bei komplexen Gefahren- und Schadenslagen ist das kommen, bietet. Durch ihren Kontakt zu Betroffenen
Informationsbedürfnis der Bevölkerung und der unmit- bei rund 20 Einsätzen jährlich konnten umfassende
telbar Betroffenen hoch. Im Fall von Krisen wie bei- Erfahrungen gesammelt werden, die seit einigen Jahren
spielsweise Hochwassergefahren, breitflächigem Strom- als Hotline-Seminare an der Akademie für Krisenmana-
ausfall oder Gesundheitsgefahren durch unbekannte gement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ) des
Erreger, versuchen die zuständigen Behörden deshalb BBK weitergegeben werden. Ein weiteres Fundament
binnen kurzer Zeit aktuelle und zutreffende Informatio- bilden die Erfahrungsauswertungen zum Einsatz von
nen an eine Vielzahl von Bürgern zu vermitteln. Bei Krisenhotlines in Reallagen der jüngsten Vergangenheit
schweren Unglücksfällen mit zahlreichen Verletzten, und in Übungen sowie Erkenntnisse wissenschaftlicher 1
Toten und Vermissten bemühen sie sich zudem, die Evaluationen zur Hotline, die das BBK in Auftrag gab.
unmittelbar Betroffenen rasch und seriös zu informieren
und Unterstützungsangebote bereitzustellen. Mein besonderer Dank gilt den zahlreichen Autoren, die
mit fachkundigen Berichten aus der Praxis und fundier-
Ein wichtiges Instrument bei all diesen Krisenmanage- ten Konzepten wesentlich zum Gelingen dieses Bandes
mentaufgaben ist die Hotline. Deren Bezeichnung kann beigetragen haben. Ein besonderer Dank gilt den betrof-
unterschiedlich sein, gängig sind Personenauskunfts- fenen Bundesbürgern vergangener Unglücke wie des
stelle oder Bürgertelefon, Krisenhotline oder auch Son- Flugschauunglücks in Ramstein (1988), des Absturzes
derrufnummer. Auch die Trägerschaft ist vielfältig, sie der Birgen Air Maschine in der Dominikanischen Repu-
kann in den Händen der Polizei, von Hilfsorganisatio- blik (1996) und der Concorde in Paris (2000) sowie der
nen, Kommunen, Bundes- oder Landesbehörden oder Terroranschläge in den USA (2001), in Bali (2002) und
privaten Unternehmen liegen. Jenseits der unterschied- Djerba (2002), die das BBK seit Einrichtung der Koordi-
lichen Terminologie und Trägerschaft gilt einheitlich, nierungsstelle NOAH kontinuierlich beraten und dazu
dass sich die zuständigen Organisationen bei der Ein- ihre persönlichen teilweise leidvollen Erfahrungen mit
richtung einer Krisenhotline schwerpunktmäßig mit den Krisenhotlines schilderten und wertvolle Hinweise
strukturellen und technischen Herausforderungen befas- für den angemessenen Umgang mit Betroffenen geben.
sen: Welche Räumlichkeiten stehen zur Verfügung? Wel-
che Hard- und Software ist geeignet? Auch die Einbin- Ich hoffe, dass Sie als Leser von dem vorliegenden Leit-
dung der Neuen Medien in die Krisenhotline wird faden profitieren werden und zahlreiche Hinweise und
zunehmend diskutiert. Schließlich wird auch die Frage Hilfestellungen erhalten können.
gestellt, wie das Hotlinepersonal geschult werden muss.
Bonn, im Februar 2013
Was bisher fehlt, ist eine intensive Beschäftigung mit
dem anrufenden Bürger, mit seinen Fragen und Anlie-
gen, aber auch mit seinen Reaktionen in einer belasten-
den Situation der Ungewissheit oder Sorge. Insbeson-
dere über die Bedürfnisse und Reaktionen der Christoph Unger
Inhalt
1 Vorwort
Christoph Unger
4 Einführung
31 www.hilfe-loveparade.de:
Hotline, E-Mail und facebook in der langfristigen Nachsorge
Interview mit Sybille Jatzko
2
39 Hilfe für Helfer per Telefon beim ICE-Unglück in Eschede 1998
Dr. Jutta Helmerichs
168 Literatur
172 Abbildungsverzeichnis
Bildnachweis
Einführung*
Hotline ist nicht gleich Hotline! gen der Anrufer werden sich inhaltlich nicht nur auf
den Verbleib und Zustand möglicher direkt Betroffe-
Keine Krise ist wie die andere – deshalb sind auch ner beziehen, sondern zum Beispiel auch dahinge-
die Maßnahmen, die zur Bewältigung der Krise hen, zu erfragen, inwieweit es Verhaltensregeln für
getroffen werden immer wieder anders. Trotz Lehrer und Schüler in einem solchen Fall gibt oder
bewährter und eingespielter Einsatzabläufe müssen wie sich die eigene Schule auf eine derartige Lage
die Maßnahmen immer wieder neu an die jeweilige vorbereiten kann.
Schadenslage angepasst werden, je nachdem, wel-
ches Ereignis überhaupt vorliegt, wie groß das Aus- Welchen Auftrag hat die Hotline?
maß ist, in welchem Gelände es sich ereignet hat etc.
Zusätzlich sind die zu treffenden Maßnahmen immer Der Auftrag, unter welchem die Hotline geschaltet
abhängig von den technischen und personellen Res- ist, kann äußerst unterschiedlich ausfallen. Eine wich-
sourcen. Auf den Punkt gebracht: Die erfolgreiche tige Aufgabe besteht häufig darin, dem Informations-
Bewältigung einer Krise erfordert eine hohe Flexibi- bedürfnis der Bevölkerung zu begegnen und der
lität auf konzeptioneller und operativer Ebene. durch die Schadenslage entstandenen Unsicherheit
Abhilfe zu verschaffen. Schon diese grundlegende
Gleiches gilt auch für die Einrichtung und Einbin- Aufgabe hat strukturelle Auswirkungen, da sie die
dung einer Krisenhotline. Zahlreiche Faktoren, wie Vernetzung mit verschiedenen informationsgeben-
ihr Auftrag, der Zeitpunkt der Einrichtung nach Ein- den Einheiten bedingt.
treffen der Krise, der Zeitraum der Unterhaltung der
4 Hotline, ihre organisatorische Anbindung, die räum- Neben der Informationssammlung und -weitergabe
lichen Gegebenheiten sowie technische und perso- kann es auch Aufgabe der Hotline sein, besorgten
nelle Ressourcen bedingen wesentliche inhaltliche Anrufern Trost zu spenden und Entlastung in ihrer
Unterschiede. schwierigen Situation des Wartens oder der Unge-
wissheit zu geben.
Welches Ereignis liegt vor?
Möglich ist auch die Einrichtung einer Hotline zur
Neben den allgemeinen Fragen Was ist passiert?, Wo Beantwortung spezieller Fragen, die im Zusammen-
hat sich das Unglück ereignet? Wie viele Personen hang mit dem Ereignis stehen und die sich zum Bei-
sind davon betroffen?, welche Auswirkungen auf das spiel durch die jeweilige Art und das Ausmaß oder
Anrufvolumen und den Inhalt der Anliegen haben die durch das Ereignis betroffene Personengruppe
werden, ist für die Hotline auch entscheidend, wel- ergeben können.
che Art von Ereignis vorliegt. Handelt es sich um den
Einsturz eines Gebäudes oder Ähnliches, kann davon Zusätzlich kann es auch Auftrag einer Hotline sein,
ausgegangen werden, dass die Anrufer vor allem aus polizeiliche Hinweisbearbeitung zu umfassen und
der betroffenen Region stammen und das Ereignis auf diesem Weg der Ermittlung von Straftaten dienen.
insgesamt weniger „hohe Wellen schlägt“. Handelt es
sich hingegen zum Beispiel um eine Amoklage an Wie ist die Hotline vorbereitet?
einer Schule, muss damit gerechnet werden, dass das
Ereignis nicht nur regional eine starke Angst und Von der Vorbereitung der Hotline wird abhängen,
Betroffenheit auslöst, sondern auch überregional der wie schnell die Hotline einsatzfähig ist, das heißt wie
Eindruck entsteht, dass ein solcher Vorfall sich auch schnell tatsächlich Anrufe entgegengenommen und
im eigenen Umfeld ereignen könnte. So kann das bearbeitet werden können. Bestehen zum Beispiel
Anrufvolumen entsprechend höher sein und die Fra- ein Konzept und ein Ablaufplan, können präparierte
* Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten
für beide Geschlechter.
Qualifizierte Informationsvernetzung ist eine der großen Herausforderungen einer Krisenhotline. (Bild: RainerSturm / PIXELIO)
Räume mit der notwendigen technischen Ausstattung und verlässlich erscheinen, andererseits können aber 5
vorgehalten werden. Können die Mitarbeiter zeitnah auch Ängste geschürt werden: Vielleicht gebe ich
zum Hotline-Einsatzort gelangen, sind sie vertraut durch meine Anfrage Informationen über mich preis,
mit der Technik und den Abläufen und ist ein mögli- die mich belasten könnten?
cher Hotline-Einsatz vorab geübt worden, wird das
„Hochfahren“ der Hotline innerhalb kurzer Zeit mög- Liegt die Einrichtung und Unterhaltung der Hotline
lich sein. Entfallen diese Faktoren, wird es entspre- wiederum bei einer Hilfsorganisation, ist anzuneh-
chend mehr Zeit in Anspruch nehmen. Das Hochfah- men, dass die Anrufer aufgrund des samaritanen
ren wird jedoch auch davon abhängen, inwieweit die Images eine besondere Betreuung oder Fürsorge
Hotline in die Gesamteinsatzstruktur eingebunden ist erwarten.
und wie schnell ihre Kooperationspartner und Infor-
mationsgeber aufgestellt und handlungsfähig sind. Zu welchem Zeitpunkt wird die Hotline
geschaltet?
Wer ist Träger der Hotline?
Vom Zeitpunkt der Inbetriebnahme der Hotline wird
Wer Träger einer Hotline ist, wird Auswirkungen auf unter anderem abhängen, wie groß das Volumen der
die Anrufer, auf die eingesetzten Hotlinemitarbeiter Anrufe ist. Wird die Hotline bereits kurz nach Eintritt
und die Inhalte der Gespräche haben. Liegt die Trä- des Ereignisses geschaltet, zu einem Zeitpunkt, zu
gerschaft zum Beispiel bei einer Behörde kann neben dem die Informationslage noch unübersichtlich und
den Anfragen zu Informationen zur jeweiligen Lage uneindeutig ist, ist mit einer hohen Anzahl von Anru-
auch verstärkt mit Anrufen gerechnet werden, in fen zu rechnen, wiederum abhängig vom Ausmaß
denen nicht nur ereignisbezogen kommuniziert wird, der Lage. Sowohl die technischen und personellen
sondern die Hotline auch genutzt wird, um Grund- Ressourcen als auch die Dauer der Gespräche wer-
sätzliches anzumerken oder Kritik loszuwerden. den von diesem zeitlichen Faktor beeinflusst sein,
sodass viele Anfragen in kurzer Zeit bearbeitet wer-
Ist die Hotline zum Beispiel im polizeilichen Kontext den müssen. Entsprechend geringer kann, muss aber
geschaltet, kann dies einerseits den Effekt haben, nicht, das Anrufvolumen ausfallen, wenn die Hotline
dass die Hotline-Informationen als besonders sicher erst zu einem späteren Zeitpunkt geschaltet wird.
Ein weiterer Faktor ist die dynamische Entwicklung Die in diesem Leitfaden enthaltenen Ausführungen
der Anrufer. Anzunehmen ist dabei, dass gerade zu sind allgemein gehalten. Die einzelnen Hinweise
Beginn Angehörige und Bekannte derjenigen anru- werden daher nicht für alle Hotline-Typen Gültigkeit
fen, die aufgrund ihres Aufenthalts im Schadensge- besitzen und nicht für jede Hotline-Phase sinnvoll
biet betroffen sind oder dies zumindest sein könnten. und praktikabel sein. Zudem liegt der Schwerpunkt
Ist die Hotline auch längerfristig geschaltet – eventu- des Leitfadens auf psychosozialen Aspekten sowie
ell bis zu einer möglichen Gedenkfeier oder sogar der Gesprächsführung am Telefon. Offene Fragen,
dem Jahrestag des Unglücks, sind auch Anfragen die eine weiterführende intensive Auseinanderset-
direkt Betroffener, Rückkehrer (zum Beispiel bei zung bedingen, können hier nicht beantwortet, sol-
einem Unglück im Ausland) von Medienvertretern len aber zumindest genannt werden.
oder weiteren unmittelbar oder mittelbar Betroffenen
zu erwarten. Daran gebunden werden sich auch die Als eine große Anforderung an eine Hotline muss die
Inhalte der Anfragen verändern. Informationsverteilung gesehen werden: Wie muss
die Vernetzung der einzelnen Komponenten der Hot-
Wie wird die Hotline in der Öffentlichkeit publi- line gestaltet sein, um eine effektive und effiziente
ziert? Beantwortung der Anfragen zu gewährleisten? Struk-
turell gilt es zu bedenken, über welche Angebote die
Von der Bekanntgabe der Hotlinenummer an die Hotline überhaupt verfügen soll. Damit hängt zusam-
Öffentlichkeit wird abhängen – wie auch bei vielen men, welche Kooperationspartner involviert werden
bereits genannten Aspekten – wie hoch das Anrufvo- müssen und auf welche Weise dies geschieht.
lumen ausfällt. Wird die Nummer über überregionale
Medien verbreitet und zum Beispiel in hoch frequen- Eine weitere große Anforderung an eine Hotline ist,
tierten Nachrichtensendungen ausgestrahlt, wird sie alle Informationen, die zur Verfügung stehen an die
6 eine breite Öffentlichkeit erreichen, sodass ein gro- entsprechenden Stellen weiterzuvermitteln und d abei
ßes Anrufvolumen angenommen werden kann. die Übersicht zu erhalten: Nicht jede Information
Außerdem werden je nach Betitelung der Hotline die muss in jedem Hotline-Segment zur Verfügung ste-
Anrufgruppen und Inhalte der Anfragen abhängen, je hen. Außerdem kann sich die Informationslage wäh-
nachdem, ob sie zum Beispiel als allgemeine Infor- rend eines Unglücks minütlich ändern, sodass eine
mationshotline oder als Hotline für eine spezielle große Arbeitsleistung darin besteht, die aktuellen
Zielgruppe und spezielle Anfragen veröffentlicht Informationen an die entsprechenden Hot line-
wird. Segmente zu verteilen. Mit dieser Vermittlungsleis-
tung hängt ebenfalls die Frage nach der technischen
Ausstattung zusammen. Neben einer geeigneten
Gestaltung und Entwicklung einer Krisen
Hardware muss ebenfalls eine Software zur Verfü-
hotline sind abhängig von:
gung stehen, die es ermöglicht, Informationen einzu-
speisen, an die entsprechenden Stellen zu verteilen
• Ereignisart und abzurufen.
• Auftrag
Für diese und weitere offene Fragen wären ein eige-
• Vorbereitung
ner Leitfaden und die Entwicklung von Konzepten
• Trägerschaft notwendig und sinnvoll.
• Zeitpunkt der Einrichtung und Betriebsdauer
Der vorliegende Leitfaden bietet eine umfassende
• Präsentation in der Öffentlichkeit
Orientierung zur Gesprächsführung an einer Krisen-
hotline, sowohl für erfahrene als auch für unerfah-
Die Einrichtung und Unterhaltung einer Krisenhot- rene Hotliner. Inhaltlich befasst sich der Leitfaden
line hängt demnach von verschiedenen Faktoren ab. zunächst mit Erfahrungen und Angeboten bereits
Wie die Krise selbst, wird auch jede Hotline individu- durchgeführter Krisenhotlines. Im darauffolgenden
ell gestaltet sein müssen, sie wird unterschiedliche Kapitel geht es um die Situation der Anrufer und den
Voraussetzungen haben und individuelle Anforde- Umgang mit Menschen, die unter dem Eindruck ext-
rungen an ihre Mitarbeiter stellen. remer Ereignisse stehen und dadurch bestimmte
Reaktionen zeigen können. Das anschließende Kapi-
tel widmet sich den Mitarbeitern einer Krisenhotline
und stellt zwei Aufbauorganisationen sowie ein mög-
liches Schulungskonzept vor. Weitere Kapitel befas-
sen sich mit der Vorbereitung einer Krisenhotline,
der eigenen Haltung am Telefon und mit Hinweisen
zum kommunikativen Umgang mit den Anrufern.
Abschließend werden Informationen zu Belastungen
und Stress und zum adäquaten Umgang damit gege-
ben. Sowohl die Bemerkungen zur Gesprächsfüh-
rung als auch die Hinweise zum Umgang mit Stress
und Belastungen sind mit zahlreichen konkreten Bei-
spielen und Anregungen versehen, sodass im prakti-
schen Hotline-Einsatz darauf zurückgegriffen werden
kann.
Rike Richwin
Dr. Jutta Helmerichs
Bundesamt für Bevölkerungsschutz
und Katastrophenhilfe (BBK),
Referat Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV)
8
I. Kapitel
Wer weiß was? – Wer macht was?
Schnelle und qualifizierte Informationen – ein kostbares Gut
Hotlineerfahrungen – Beispiele aus der Hotlinepraxis
Amoklauf in Erfurt
Der Amoklauf von Erfurt ereignete sich am Vormittag des 26. April 2002. Ein 19-jäh-
riger, ehemaliger Schüler des Gutenberg-Gymnasiums erschoss damals zwölf Lehrer,
eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten. Danach suizidierte er sich selbst.
Folge des sogenannten Schoolshootings war eine Vielzahl belasteter und traumati-
sierter Menschen. Ein umfassendes psychosoziales Nachsorgeprogramm für direkt
Betroffene und Einsatzkräfte konnte viele bei der Verarbeitung unterstützen. Aber
auch heute, mehr als zehn Jahre nach der Tat, sind noch immer mehrere Personen
in psychotherapeutischer Behandlung. 9
Unmittelbar nach dem Amoklauf in Erfurt gab die tion Thüringen ein auf die Bedarfe in Erfurt zuge-
Polizei die Telefonnummer ihrer Bürgerhotline schnittenes Krisenhotlinesystem (24/7) innerhalb der
öffentlich bekannt. Rasch stieß man hier allerdings Polizeistruktur in Betrieb genommen und bundes-
an Kapazitätsgrenzen. Auch die vor Ort tätigen Kri- weit über die Medien beworben. Die polizeiliche
seninterventionsteams (KIT) machten auf einen Einsatzabschnittsstruktur wurde dazu erweitert. Im
wachsenden Informations- und Beratungsbedarf Einsatzabschnitt (EA) „Betreuung“ wurde neben den
unter direkt Betroffenen und Erfurter Bürgern auf- Untereinsatzabschnitten (UEA) „Angehörige“ und
merksam. Wenige Stunden nach dem Amoklauf „Einsatzkräfte“ der UEA „Hotline“ eingerichtet.
wurde daraufhin im Auftrag der Landepolizeidirek-
Viele Schüler verschanzten sich in den Klassenzimmern. Der Einsatz in Erfurt zeigte im weiteren Verlauf aller-
(Bild: dpa) dings ein gravierendes Kommunikationsproblem,
was die Rahmenbedingungen der Hotline betraf.
Eine wichtige Entscheidung bei diesem umfassenden Nach zwei bis drei Tagen kam Unsicherheit auf, wie
Hotline-Modell in Erfurt war, dass eine Differenzie- lange die Hotline noch geschaltet bleiben würde. In
rung im Ablauf der Anrufbearbeitung vorgenommen Erfurt wurde über den weiteren Betrieb der Hotline
wurde: In einer ersten Ebene wurden die Gespräche sozusagen von einem auf den nächsten Tag entschie-
entgegengenommen, ähnlich wie in einer Leitstelle, den. Aus diesem Grund fragten Anrufer immer wie-
und die jeweiligen Anfragen und Bedarfe durch der, wie lange man noch anrufen könne. Durch eine
„Agenten“ ermittelt und „standardisierte Auskünfte“ transparente Kommunikation bei der Bekanntgabe
erteilt. Dies ermöglichte einerseits die gleichzeitige der Hotline (über die Medien) mit verlässlichen
Bearbeitung vieler Anrufe und entlastete andererseits Angaben hätte dies die Sicherheit bei den Betroffe-
die Mitarbeiter an der Anrufannahme, da ihre eigene nen deutlich erhöht und darüber hinaus die Zentrali-
Tätigkeit sowie der Auftrag „Weiterleitung an die ent- sierung der PSNV-Angebote ebenfalls erleichtert.
sprechende nächste Ebene“ klar formuliert war. Die
eigentliche psychosoziale Beratung und Vermittlung
fand, falls nötig, in der zweiten Ebene statt. Dort
standen zusätzliche Experten (Psychologen, Psycho-
traumatologen) zur Verfügung. Die Anfragen wurden
also erst einmal aufgenommen, dokumentiert und
dann an die jeweilige Stelle beziehungsweise einen
Berater weitergeleitet.
Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall
Der Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall ereignete sich am 2. Januar 2006.
Aufgrund hoher Schneelast war das Ende des Publikumsverkehrs für 16:00 Uhr
geplant. Die Schneelast und bauliche Mängel führten jedoch bereits kurz vorher, um
15:54 Uhr, zum Einsturz des Daches. Getötet wurden bei dem Unglück zwölf Kinder
und drei Erwachsene.Weitere 34 Personen wurden verletzt. Die Erklärung zum Kata-
strophenfall erfolgte um 16:35 Uhr und zu Spitzenzeiten waren zeitgleich mehr als
700 Einsatzkräfte vor Ort.
11
Rettungsmaßnahmen nach dem Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall. (Bild: dpa)
Auch in Bad Reichenhall regten die dort eingesetzten Bürgertelefons. Als Hotliner (Anrufannahme) kamen
KIT-Teams die Einrichtung einer Hotline an. Das örtliche KIT-Kräfte zum Einsatz.
zuständige Landratsamt gab daraufhin die Einrich-
tung einer Krisenhotline in Auftrag, die am Tag nach Die Schadenslage in Bad Reichenhall unterschied
dem Unglücksfall in Betrieb ging. Im Unterschied zu sich insofern von der Lage in Erfurt, als es sich beim
Erfurt wurde die Krisenhotline in Bad Reichenhall Einsturz der Eissporthalle um einen Großunfall und
insgesamt in kleinerem Rahmen realisiert. Hier war nicht um ein Gewaltereignis handelte. In und um Bad
kein Callcenter miteinbezogen. Die Hotline wurde in Reichenhall herrschte zwar große Betroffenheit, die
den Räumlichkeiten des Landratsamtes eingerichtet Dynamik in der Bevölkerung unterschied sich aller-
und nutzte die vorhandene Technik des dortigen dings deutlich von der in Erfurt. Nach dem Amoklauf
Gedenkstätte in Bad Reichenhall. Die Stelen erinnern an die 15 Personen, die beim Einsturz der Halle ums Leben kamen.
(Bild: BBK)
waren viele Menschen nicht nur völlig schockiert line-Fachleuten her. Infolge dessen wurde dann in
12 über die Auswirkungen des Ereignisses, sondern beiden Ereignisfällen innerhalb weniger Stunden ein
ebenfalls fassungslos, angesichts der Tatsache, dass Auftrag formuliert. Der Betrieb konnte 21 bezie-
so etwas überhaupt (in Deutschland) passieren kann. hungsweise 22 Stunden nach Ereignisbeginn aufge-
Ebenso waren viele Menschen in großer Sorge, ein nommen werden.
solches Ereignis (auch im Sinne einer Nachahmungs-
tat) könne sich jederzeit wieder ereignen. Eine weitere Gemeinsamkeit war die fehlende Vorbe-
reitung auf eine Krisenhotline, sowohl bezogen auf
Auch von der Anzahl der Betroffenen unterschieden die Aufbau- und Ablauforganisation, als auch auf die
sich beide Ereignisse. Waren in Erfurt alleine über 700 spezielle Qualifikation der Hotliner (Anrufannahme).
Personen während des Amoklaufes im Schulgebäude Die Einbindung der beiden Krisenhotlines in die
und größtenteils (zumindest „gefühlt“) in Lebensge- jeweiligen Strukturen des Einsatzes war allerdings
fahr, so waren in Bad Reichenhall „nur“ etwa 50 Per- unterschiedlich. In Erfurt war diese Teil der polizeili-
sonen unmittelbar mit der Dramatik und den Gefah- chen Struktur, in Bad Reichenhall wurde das Bürger-
ren des Einsturzes konfrontiert. telefon in eine Krisenhotline umfunktioniert, Träger
Dies bedeutete für die Hotline in Bad Reichenhall, im war hier das dortige Landratsamt.
Vergleich zu Erfurt, einen deutlich geringeren Bedarf
an Information und Informationsaufbereitung. Aus Auch die beiden Ereignisse unterschieden sich grund-
diesem Grund lag der Schwerpunkt hier klar auf dem legend: In Bad Reichenhall handelte es sich um einen
Beratungsangebot für direkt Betroffene und Ange Großunfall, in Erfurt um ein Gewaltereignis. Die Lage
hörige. Anrufer waren zunächst Angehörige Geschä- bei einer Gewalttat hat immer eine sehr viel stärkere
digter und Bürger, im weiteren Verlauf auch direkt und umfassendere Betroffenheit, Unsicherheit und
Betroffene. Angst zur Folge, da sie bei vielen Menschen das
Gefühl hinterlässt, dass sich ein solches Ereignis
Resümee grundsätzlich jederzeit wieder ereignen kann. Dies
schlug sich in Erfurt in vielfältiger Weise in den Hot-
Sowohl in Erfurt als auch in Bad Reichenhall wurde lineanfragen nieder und erklärt die, im Vergleich zu
die Krisenhotline durch vor Ort tätige KIT-Teams ini- Bad Reichenhall, hohen Anruferzahlen und den deut-
tiiert. Sie stellten – informell – den Kontakt zu Hot- lich höheren Gesamtbearbeitungsaufwand.
Auch die Gruppen der Anrufer wiesen Unterschiede Lagebild sollte unter anderem enthalten: Ereignisaus-
auf. Nachdem der Amoklauf in Erfurt „kollektive wirkungen, (zu erwartende) Dynamiken und Kom-
Betroffenheit und Angst“ ausgelöst hatte, gingen hier plikationen, Informationsbedarfe, Betroffenengrup-
Anrufe aus dem gesamten Bundesgebiet und teil- pen, (hochgerechnete) Personenzahlen, der für die
weise sogar aus dem benachbarten Ausland ein. PSNV beziehungsweise Hotline relevanten Zielgrup-
Neben direkt Betroffenen und deren Angehörigen pen sowie eine PSNV-Kräfteübersicht. Durch eine
meldeten sich ebenso Menschen, die auf irgendeine fachlich fundierte Einschätzung der jeweiligen Erfor-
Weise mit dem Kontext „Schule“ zu tun hatten oder dernisse und Bedürfnisse können so „inhaltliche
die bereits ähnliche (Gewalt-)Erfahrungen gemacht Schwerpunkte“ (zum Beispiel Gewichtung von Infor-
hatten und Beratung beziehungsweise Hilfe suchten. mations- und Beratungsbedarf), als auch die Dimen-
Außerdem gab es zahlreiche Medienanfragen, zum sionierung der Hotlinelösung (zum Beispiel techni-
Beispiel, wie man Kindern adäquat die psychischen sche und personelle Ausstattung) adäquat festgelegt
Auswirkungen auf die betroffenen Schüler erklären werden.
kann.
Auf Basis des PSNV-Lagebildes kann dann ein kon-
In Bad Reichenhall ergaben sich – ereignisbedingt – kreter „Hotline-Auftrag“ erteilt werden, aus dem die
andere Fragen: „Was hat man denn vor 20 Jahren für nötigen Anforderungen (zum Beispiel fachlich, orga-
Hallen gebaut, dass so etwas passieren kann?“, „Wer nistorisch, technisch) hervorgehen und entspre-
hat die Statik geprüft?“ oder „Ist die Halle in meiner chende Ressourcen beplant werden können. Dieser
Umgebung vielleicht auch nicht sicher?“. Die Anfra- Auftrag muss realisierbar und im Rahmen der beste-
gen drehten sich hier oftmals um rechtliche Aspekte henden Einsatz- beziehungsweise Krisenmanage-
und die Frage der Verantwortung. mentstrukturen umsetzbar sein. Für den Betrieb
braucht es eine funktionierende Vernetzung mit den
In beiden Ereignissen zeigte sich, wie wichtig es ist, Arbeits- und Entscheidungsgremien (zum Beispiel 13
eine „Sichtungsstelle“ für (PSNV-)Hilfsangebote ein- Einsatzstab, TEL, ÖEL, FügK, Verwaltungsstab) sowie
zurichten, die sichtet, ordnet und die (fachliche) Eig- klar beschriebene Aufgabenprofile für alle im Hot-
nung überprüft, sei es, dass Firmen mobile Toiletten line-Betrieb tätigen Funktionen (zum Beispiel
liefern wollen oder Psychologen ihre fachliche Unter- Anrufannahme, Sichtung, psychosoziale Beratung,
stützung anbieten. Gerade für eine adäquate Beurtei- Leitung Hotline, Leitung Technik). Dies erhöht die
lung der PSNV-Angebote sind entsprechende Quali- Arbeitseffizienz und beugt wirksam Belastungen
tätskriterien unverzichtbar. Solche Qualitätsstandards beziehungsweise Überlastungen vor, gerade in Situa-
und Leitlinien standen in beiden Ereignissen aller- tionen, in denen sich Menschen – bei nicht vorhan-
dings noch nicht, zumindest noch nicht in der Form, dener Struktur – um „alles“ kümmern (müssen) und
wie sie heute als Ergebnis der Konsensuskonferenz es sehr schwer fällt, sich abzugrenzen.
2010 vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe formuliert werden konnten, zur Eine zusätzliche Herausforderung im Realfall stellt
Verfügung. die Bewerbung der Hotline dar. Wird diese nicht
schnell und zielgerichtet „über alle Kanäle“ kommu-
Ebenso zeigte sich, dass es für alle Hotline-Verant- niziert, kann auch niemand dort anrufen. Unter
wortlichen eine große Entlastung darstellt, auf eine Umständen werden in der „heißen Phase“ eines
vom Ereignisort abgesetzte „Rückfallebene“ zurück- Ereignisses bereits andere Rufnummern beziehungs-
greifen zu können, die Unterstützung und Coaching weise Anlaufstellen kommuniziert. Die Erfahrungen
anbietet und von einem anderen Standort aus, ohne der letzten Jahre zeigen, dass es hier immer mehrerer
Chaos und ohne Hektik, die Abläufe beobachtet, Anläufe bedarf, um die Versorgung der relevanten
zuarbeitet und „mitdenkt“ – auch in Bezug darauf, Zielgruppen mit den entsprechenden Hotline-Infor-
dass zum Beispiel Ruhezeiten eingehalten werden. mationen sicherzustellen. Sollte dies zum Beispiel in
einer bundesweit ausgestrahlten, abendlichen Nach-
Für Großschadenslagen ist zudem die schnelle und richtensendung geschehen, kann man an der Hotline
qualifizierte Erstellung eines „PSNV-Lagebildes“ von mit einem sprunghaften Anstieg der Anrufe rechnen.
großer Bedeutung, das im weiteren Verlauf des Ein- Und das durchaus auch an einem Sonntag um
satzes kontinuierlich fortgeführt werden muss. D
ieses 22:30 Uhr…
Amoklauf Einsturz
Erfurt Eissporthalle Bad-Reichenhall
Alarmierung zunächst informell: KIT-Teams vor Ort zunächst informell: KIT-Teams vor Ort
und
dann formell: Landespolizeidirektion Thüringen dann formell: Landratsamt Berchtesgadener
Beauftragung
Land
Dauer der 8 Tage (anschließend Weitergabe der 6 Tage (anschließend Koordination und
Hotlineschaltung Hotlinenummer an das Sozialministerium Weiterführung der psychosozialen Beratung
als „Anlauf- und Koordinationsstelle zur für die nächsten Wochen und Monate durch
Nachsorge“) das Landratsamt/Jugendamt)
Andreas Igl, Pädagoge und langjähriges Mitglied des Kriseninterventionsteams (KIT) München,
war zehn Jahre lang Geschäftsführer einer Beratungsfirma für Interdisziplinäres Notfallmanagement.
Vorbereitung und Betrieb von Krisenhotlines gehörten hier zu seinen Aufgaben. (Bild: Andreas Igl)
Die Bewerbung in der Öffentlichkeit hat Auswirkungen auf das Anrufvolumen in der Krisenhotline. (Bild: IvicaNS – Fotolia.com)
gibt und dann an eine entsprechende Stelle weiter- durchaus möglich, dass Hotliner bestimmte Anrufe
vermittelt. Dieses erste Gespräch und die Weiterlei- persönlich stark beschäftigten. Aus diesem Grund
tung können innerhalb weniger Minuten geschehen. sind eine Vorbereitung auf derartige Anrufsituationen
In der oder den nachgeschalteten Ebenen, zum Bei- und die Nachbereitung enorm wichtig.
spiel bei einem Gespräch mit einer traumatisierten
Person, können die Gespräche dann deutlich länger BBK: Sollte es während des laufenden Hotline
dauern, manchmal bis zu anderthalb Stunden. Über betriebs Personen geben, welche die Hotliner bei
die verschiedenen – mindestens zwei – Ebenen der hoher Belastung betreuen?
Anrufbearbeitung lässt sich die Flut der Anrufe gut
kanalisieren. Werden aber auf der ersten Ebene Andreas Igl: Wichtig ist, den Hotlinern schon im lau-
bereits lange Beratungsgespräche geführt, produziert fenden Betrieb Psychosoziale Fachkräfte als
man schnell einen fatalen Flaschenhals. Ansprechpartner beziehungsweise Coaches zur Ver-
fügung zu stellen. Alleine das Wissen, im Fall des Fal-
BBK: Zum Schluss möchten wir das Thema Belas- les auf eine entsprechende Rückfallebene einfach
tung der Hotliner und Nachsorge aufgreifen. Welche und schnell zurückgreifen zu können, erhöht die
Erfahrungen haben Sie gemacht, inwieweit kann die Sicherheit in der täglichen Arbeit und beugt Belas-
Arbeit an der Krisenhotline belastend sein? tungen vor.
Andreas Igl: Belastend kann die Arbeit an der Hot- BBK: Herr Igl, wir danken Ihnen für das interes-
line sein, wenn Anrufe eingehen, aber den Hotlinern sante und informative Gespräch!
nicht ausreichend gesicherte Informationen vorlie-
gen. Zudem ist die Arbeit belastend, wenn der Auf- Andreas Igl
trag der Hotline nicht eindeutig formuliert und kom- Pädagoge (Univ.)
muniziert wurde, und beispielsweise nicht klar ist, ob Krisenmanagement- und PSNV-Experte 21
nur Informationen weitergegeben werden, oder Stadtbrandmeister und Geschäftsführer
Betroffene und Traumatisierte auch an weiterfüh- der Freiwilligen Feuerwehr München
rende Hilfsangebote weitervermittelt werden sollen.
Auf andere Art belastend ist die Arbeit für Hotliner, Interview:
wenn sie mit traumatisierten, verzweifelten oder Rike Richwin und Dr. Jutta Helmerichs, BBK
aggressiven Anrufern konfrontiert werden. Es ist
Amoklauf Winnenden 2009:
Krisenhotline der Schulpsychologie
Der Amoklauf in Winnenden und Wendlingen ereignete sich am 11. März 2009. Ein
17-jähriger, ehemaliger Schüler der Albertville-Realschule erschoss dort am Vormittag
neun Schüler und drei Lehrer und verletzte dreizehn weitere Personen. Bei Eintreffen
der Polizei flüchtete er und erschoss einen Mitarbeiter im angrenzenden Park eines
psychiatrischen Krankenhauses. Im weiteren Verlauf entführte der Täter ein Auto mit
Fahrer. Später betrat er in Wendlingen ein Autohaus, erschoss dort einen Mitarbeiter
und einen Kunden und verletzte vorbeifahrende Polizisten schwer. Gegen 12:30 Uhr
erschoss sich der Täter schließlich selbst. Im Rahmen des Einsatzes richtete das Regie-
rungspräsidium Stuttgart eine von Schulpsychologen betreute Hotline ein.
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Kerzen und Blumen für die Opfer des Amoklaufs in Winnenden und Wendlingen 2009. (Bild: dpa)
Tathergang des Amoklaufs und Rahmen von vielen elektronischen Medien weiter in Umlauf
bedingungen der schulpsychologischen gebracht (unter anderem als Dauer-Laufband bei
Krisenintervention einem privaten Fernsehsender). Am ersten Tag war
die Hotline ab dem späten Vormittag bis in den spä-
Am 11. März 2009 erschoss ein ehemaliger Schüler ten Abend durchgängig mit vier Apparaten geschal-
der Albertville-Realschule (ARS) in Winnenden an tet. Diese vier Apparate waren technisch vorab für
seiner früheren Schule acht Schülerinnen, einen Krisenfälle zur Freischaltung einer Hotline eingerich-
Schüler und drei Lehrerinnen. Darüber hinaus wur- tet worden. Die folgenden Tage war die Hotline
den elf Schülerinnen und Schüler sowie zwei Lehre- zunächst von 07:00 Uhr bis 22:00 Uhr, später dann
rinnen zum Teil schwer verletzt. Als Augenzeugen aufgrund sinkender Nachfrage nur noch bis 20:00
direkt betroffen waren drei Klassen der 9. und 10. Uhr beziehungsweise bis 18:00 Uhr geschaltet, wobei
Jahrgangsstufen sowie mehrere Lehrkräfte. Auf der jeweils ein bis drei Apparate besetzt waren. In den
Flucht erschoss der 17-Jährige einen Mitarbeiter des restlichen Zeiten bestand eine Weiterleitung auf die
an die Schule grenzenden Parkgeländes des Zent- Hotline der DRK-Leitstelle. Nach etwa zwei Wochen
rums für Psychiatrie. Anschließend nahm er einen tendierte die Zahl der Anrufe über die Hotline gegen
Autofahrer als Geisel und ließ sich von diesem nach Null, so dass die Nummer zwar während der übli-
Wendlingen fahren, wo er in einem Autohaus zwei chen Geschäftszeiten noch eine Weile lang auf einen
weitere Menschen erschoss und zwei Polizeibeamte regulären psychologischen Telefonanschluss im
schwer verletzte. Schließlich richtete er die Waffe Regierungspräsidium weitergeleitet wurde, aber
gegen sich selbst und verstarb. keine gesonderte personelle Besetzung mehr erfor-
derte.
Neben Polizei, Rettungskräften und Notfallnachsor-
gediensten waren bereits am 11. März Schulpsycho- Die Anrufe wurden mit schnurgebundenen Telefon-
logen vor Ort, um an den Sammelstellen Schüler, apparaten geführt, Headsets standen nicht zur Verfü- 23
Lehrer und Eltern zu betreuen. Ab dem folgenden gung.
Tag bis zehn Wochen nach der Tat erfolgte von schul-
psychologischer Seite eine intensive Betreuung und Auftrag, Aufgabe, Arbeitsstrukturen
Beratung für die Schulgemeinschaft der ARS (Schul- Auftraggeber der Hotline war das Regierungspräsi-
leitung, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern) dium Stuttgart, welches als zuständige übergeordnete
sowie für die umliegenden Schulen. Um den vor Behörde für die Krisennachsorge in Winnenden ver-
allem anfangs enormen Unterstützungsbedarf antwortlich zeichnete. Außer der allgemeinen Maß-
gewährleisten zu können, waren während der ersten gabe, Betroffenen und Ratsuchenden psychologisch
zwei Wochen täglich zwischen 30 und 70 Schul beratend zur Seite zu stehen, gab es keinen genauer
psychologen vor Ort; noch bis zwei Monate nach der definierten Auftrag an die an der Hotline tätigen
Tat waren es mindestens zehn Schulpsychologen pro Fachkräfte. Explizit wurde lediglich noch die inhaltli-
Tag. Vom Juni 2009 bis Juli 2011 wurde zur länger- che Vorgabe ausgesprochen, am Telefon keine
fristigen Krisennachsorge ein „Beratungszentrum Namen von Opfern weiterzugeben oder zu bestäti-
Schulpsychologie Winnenden“ mit 2,5 Schulpsycho- gen. Die sonstige fachliche und organisatorische Aus-
logenstellen eingerichtet. Anschließend wurde die gestaltung blieb den Beratern in Rücksprache mit der
Unterstützung der Schulen in die normalen schulpsy- Leitung des schulpsychologischen Krisenteams selbst
chologischen Strukturen zurückgeführt (Bläsi; überlassen. Hierbei entwickelten sich ab dem zwei-
Niedermeier 2012). ten Tag folgende Arbeitsstrukturen:
•Dokumentation der Anrufe mittels eines ad hoc
Hotline erstellten Dokumentationsbogens (am ersten Tag
erfolgte keine systematische Dokumentation).
Rahmenbedingungen •Briefing für neue Hotline-Mitarbeiter: bisherige
Nur kurz nach Bekanntwerden der Tat wurde am 11. typische Anfragen, zu erwartende „schwierige
März am Regierungspräsidium Stuttgart eine telefoni- Anrufer“, Adressen, an die weiterverwiesen wer-
sche Hotline für alle vom Ereignis Betroffenen einge- den kann, Einführung in Dokumentation, etc.
richtet. Die Nummer wurde durch eine Pressemittei- •Regelmäßige kurze Übergabe von einer Einsatz-
lung der Kultusbehörde veröffentlicht und sogleich schicht an die nächste.
•B
ei Bedarf Möglichkeit des kollegialen Austau- Ängste oder Aufgewühltheit mit jemandem teilen
sches und Abgleichens zwischen Anrufen. zu können. Bei einem Teil dieser Anrufer waren
•
Einteilung eines Hotline-Zuarbeiters (Mitarbeiter durch die Tat und die Berichterstattung offenbar
des Referats, der sich um Bereitstellung der nöti- auch eigene traumatische Erlebnisse oder allge-
gen Arbeitsmaterialien und die „Bewirtung“ der an mein schwierige Lebenssituationen in die Erinne-
der Hotline tätigen Kollegen kümmerte). rung zurückgerufen worden, welche in der Folge
wieder als akut belastend erlebt wurden.
Personal • Informationssucher: Anrufer, die durch die
An der Hotline zum Einsatz kamen nahezu aus- anfangs unklare und widersprüchliche Informati-
schließlich Schulpsychologinnen und Schulpsycholo- onslage verwirrt oder verunsichert waren und sich
gen. Lediglich am ersten Tag erfolgte in den Abend- eine eindeutige Faktenklärung erhofften (zum Bei-
stunden zusätzliche Unterstützung von Einsatzkräften spiel: Ist der Täter jetzt schon gefasst oder noch auf
des Deutschen Roten Kreuzes. Die schulpsychologi- der Flucht? Handelt es sich nun um einen oder
schen Einsatzkräfte verfügten neben ihrer Ausbil- zwei Täter? Wie viele Tote gibt es genau?).
dung als Diplom-Psychologin/-Psychologe und ihrer • Unterbreiter von Hilfsangeboten: Von vielen Sei-
mindestens mehrjährigen beraterischen Berufserfah- ten und aus dem ganzen Bundesgebiet wurden
rung über eine zusätzliche Fortbildung in Krisenin- spontane Hilfsangebote gemacht. Zum großen Teil
tervention. Eine spezielle Schulung für die Tätigkeit kamen diese von professioneller Seite, das heißt
an einer Krisenhotline hatte jedoch niemand zuvor von im Bereich Krisennachsorge oder Traumathe-
durchlaufen. Umgekehrt verhielt es sich bei den Ein- rapie tätigen Psychologen, Ärzten und sonstigen
satzkräften des DRK: Diese hatten zwar eine Kurz- Fachkräften. Zum Teil boten aber auch nicht fach-
schulung für Krisenberatung am Telefon erhalten, lich geschulte Einzelpersonen ihre unspezifische
verfügten aber ansonsten über kein weiteres psycho- Hilfe für die Betroffenen an.
24 logisches Wissen und über nur wenig praktische • Erklärer und Beschwerdeführer: Solche Anrufer
Beratungserfahrung. warteten mit fertigen Erklärungsmustern für die Tat
auf, die von der zu leichten Zugänglichkeit von
Auslastung der Hotline Waffen über die zunehmende Verrohung der heuti-
Allein am ersten Tag gingen mehr als 1000 Anrufe gen Jugend bis zum allgemeinen Niedergang von
ein. Dies bedeutete, dass die jeweils vier parallel täti- Moral und Sitte in unserer Gesellschaft reichten.
gen Fachkräfte ununterbrochen Anrufe entgegennah- Ganz offensichtlich nutzten diese Anrufer die
men – die Telefone standen bis in den Abend hinein Gelegenheit, ihrem Ärger über gesellschaftliche
so gut wie niemals still. Nach den noch relativ hoch Entwicklungen Luft zu machen, die ihnen schon
frequentierten nächsten beiden Tagen ging am dann längere Zeit missfallen hatten und in deren Ein-
folgenden Wochenende die Zahl der Anrufe deutlich schätzung sie sich nun durch die Tat bestätigt
zurück und blieb danach weiter auf rückläufigem sahen. Da die Hotline von einem Regierungspräsi-
Niveau. dium verantwortet wurde, meinten einige sogar
direkt mit der „Regierung“ zu sprechen und ihr
Anliegen der Anrufer Anliegen dort endlich persönlich platzieren zu
Die meisten Anrufer des ersten Tages ließen sich können.
einer der folgenden Gruppierungen zuordnen: • Botschaften anderer Länder: Im Verlauf des ers-
• Angehörige, Freunde, Bekannte von potentiell ten Tages meldeten sich an der Hotline knapp
Betroffenen: Besonders in den ersten Stunden zwanzig Botschaften oder Konsulate anderer Staa-
nach Beginn der Tat – auch bereits während sich ten, in der Hoffnung herauszufinden, ob sich unter
der Täter noch auf der Flucht befand – riefen viele den Opfern Angehörige der eigenen Staatsangehö-
Personen an, die genauere Informationen zum rigkeit befinden.
Tathergang und zu den Opfern und Verletzten
erlangen wollten, weil sie um Angehörige oder Schon im Verlauf des ersten Tages nahm die Zahl der
Freunde an der betroffenen Schule bangten. Anrufer mit direktem persönlichen Tatbezug ab,
•Emotional stark betroffene Personen ohne während die Anzahl von Personen, welche die Tat
direkte eigene Verbindung zur Tat: Diese Anrufer erklären und interpretieren oder sich über irgendet-
hatten vor allem das Bedürfnis, ihre Betroffenheit, was beschweren wollten, deutlich zunahm.
Die oben genannten Themen wurden in den folgen- gerieten hierbei unversehens in eine Doppelrolle als
den Tagen zunehmend abgelöst von Anliegen, die psychologische Berater und als Informationslieferan-
mit den schulischen Auswirkungen der Tat im gan- ten. Dies wurde als emotionale Belastung erlebt, da
zen Land zu tun hatten. Hierzu gehörten zum Bei- für die Rolle als Informationslieferant weder eine
spiel Anrufe von Eltern, die Rat suchten, weil ihr strukturelle Vorbereitung erfolgt war, noch im laufen-
Kind aus Angst nicht mehr in die Schule gehen wollte den Betrieb auf aktuelle Informationskanäle außer-
oder insgesamt verunsichert wirkte; Anrufe von halb des Internets zurückgegriffen werden konnte,
Eltern, die sich über den ihrer Ansicht nach inad- der Erwartungsdruck und die emotionale Aufgela-
äquaten Umgang mit dem Amoklauf an der Schule denheit seitens der Anrufer aber verständlicherweise
ihrer Kinder beschwerten (entweder, weil darauf gar hoch war. Als Konsequenz soll das Hotline-Personal
nicht oder zu wenig eingegangen wurde oder aber in Zukunft um einen Polizeibeamten erweitert wer-
im Gegenteil, weil die Tat zu stark thematisiert wurde den, der über einen Zugriff auf aktuellste polizeiliche
und die Kinder zusätzlich verängstigte); vereinzelt Informationen verfügt und geschult darin ist, welche
auch Anrufe von Lehrkräften, die um Hinweise baten, Informationen in einem solchen Fall weitergegeben
welche Art der Thematisierung fachlich angemessen werden können und welche nicht.
erscheine.
Erleichtert werden könnte nach den vorliegenden
Zudem verbreiterte sich im Lauf der Zeit die Art der Erfahrungen die Dokumentation, inhaltlich zum Bei-
Hilfsangebote: Diese beschränkten sich nicht mehr spiel durch eine vorgegebene mögliche Kategorisie-
auf die professionelle Unterstützung in der Krisen- rung der Anliegen im Dokumentationsbogen, tech-
nachsorge, sondern umfassten vermehrt materielle nisch durch die Bereitstellung von Headsets.
Angebote, die durch Unternehmen, Vereine oder
andere Organisationen zur Verfügung gestellt wur- Empfehlenswert erscheint zudem eine Schulung
den, zum Beispiel Sachspenden, Eintrittskarten für zukünftiger Hotline-Mitarbeiter. Im Falle psychologi- 25
sportliche oder kulturelle Ereignisse oder Erholungs- scher Fachkräfte muss diese nicht einmal besonders
urlaube für die Betroffenen. umfangreich sein, da beraterische Kompetenz und
Kenntnisse in Krisenintervention vorausgesetzt wer-
Herausforderungen und Konsequenzen den können. Gezielte Hinweise auf erwartbare Anlie-
gen und Anrufertypen sowie auf typische Schwierig-
Insbesondere am ersten Tag stellte die Tätigkeit an keiten und den möglichen Umgang damit wären
der Hotline eine besondere Herausforderung dar. jedoch mit Sicherheit auch für diese Berufsgruppe
Angesichts einer teils widersprüchlichen Informati- gewinnbringend.
onslage, die sich für die Berater nur unwesentlich
von den in den Medien zugänglichen Informationen Dr. Burkhard Bläsi
unterschied, gestaltete sich eine für die Anrufer Diplom-Psychologe
befriedigende telefonische Beratung in den ersten Psychologischer Schulberater am
Stunden oftmals schwierig. Die Hotline-Mitarbeiter Regierungspräsidium Stuttgart
Kerzen und Rosen auf der Trauerfeier erinnern an die 15 Getöteten des Amoklaufs. (Bild: dpa)
Massenpanik auf der Loveparade 2010:
Betreuungshotline der Polizei Essen
Polizeioberrat Thorsten Güth berichtet über seine Erfahrungen beim
ad-hoc-Aufbau einer Krisenhotline
Die Massenpanik auf der Loveparade, ereignete sich am 24. Juli 2010. Bei der Veran-
staltung auf einem ehemaligen Rangier- und Güterbahnhof in der Duisburger
Innenstadt kam es am Nachmittag zu einer Stauung in einem Tunnel, der als Gelän-
dezugang vorgesehen war. Am Tunnelende entstand eine Massenpanik, bei der ins-
gesamt 21 Menschen getötet und mehr als 500 Personen verletzt wurden.
Im Rahmen des Einsatzes bei der Massenpanik auf der Loveparade sind zahlreiche Hotlines für
Betroffene geschaltet worden. Bereits am Unglückstag gab die Stadt Duisburg ihr Bürgertelefon als
Ansprechstelle für Betroffene bekannt. Im Verlauf der ersten Woche bis zur öffentlichen Trauerfeier
folgte die Bekanntgabe von Hotlines verschiedener Organisationen und Fachdienste wie beispiels-
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weise der Landespsychotherapeutenkammer, des Malteser Hilfsdienstes, und der Evangelischen
Kirche im Rheinland. Auch Juristen boten öffentlich Fachberatung per Krisentelefon an. Das Minis-
terium für Inneres und Kommunales Nordrhein-Westfalen fuhr eine ihrer für Großschadenslagen
vorgesehene Landespersonenauskunftsstellen hoch und forderte Personal des Deutschen Roten
Kreuzes zur Unterstützung an. Am 27. Juli 2010 verpflichtete ein ministerieller Runderlass alle
unteren Katastrophenschutz- und Gesundheitsbehörden zentrale Ansprechstellen für Betroffene
einzurichten. Zahlreiche Gesundheitsämter wurden daraufhin über ihre eigens eingerichtete Hot-
line kontaktiert. Am 20. September 2010, knapp zwei Monate nach dem Unglück und nachdem alle
bis dahin eingerichteten Krisenhotlines ihre Arbeit wieder eingestellt hatten, gab es einen neuen
Vorstoß in Sachen telefonische Hilfe: Auf Initiative des Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation,
Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen und der Evangelischen Kirche im Rheinland wur-
de eine weitere zentrale Hotline für die Betroffenen des Love-Parade-Unglücks aufgebaut und
öffentlich gemacht, die als langfristige Anlaufstelle konzipiert war.
Ein Angebot in der Hotlinevielfalt der ersten Wochen war die Betreuungshotline der Polizei. Sie
wurde am Sonntag, 25. Juli 2010 im Polizeipräsidium geschaltet und insgesamt drei Wochen
aufrechterhalten.*
* Wir danken dem Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen für die Unterstützung bei der E
rstellung
dieses Interviews.
Schon am Tag nach dem tragischen Unglück initiierte Thorsten Güth die polizeiliche
Hotline. Lang vorher hatte er sich bereits mit der psychosozialen Betreuung befasst.
(Bild: Polizei Essen / Uwe Klein)
BBK: Herr Güth, Sie sind Polizeibeamter in Essen Zwecke) ebenso wie um die Betreuung von Kolle-
und haben am ersten Tag nach der Massenpanik ginnen und Kollegen; und es ging auch um Schutz-
auf der Loveparade eine Betreuungshotline ins maßnahmen möglicherweise von Personen, die
Leben gerufen. Was hat Sie dazu veranlasst, diese durch die Presse angegangen werden. Ich habe dann
Hotline einzurichten? drei Pressesprecher aus dem Einsatzabschnitt EPÖA
(Einsatzbegleitende Presse- und Öffentlichkeitsar-
Thorsten Güth: Das hat sich im laufenden Einsatz beit) angefordert und den Auftrag gegeben, einer-
entwickelt. Eigentlich wollten wir Zeugen ermitteln. seits eine Medienauswertung durchzuführen und
Ich hatte auf der Fahrt ins Polizeipräsidium im Auto- andererseits ein Konzept zu entwickeln, wie wir an
radio ein Interview gehört mit verschiedenen Perso- Zeugen gelangen können. So kamen wir auf den
nen, die wohl am Unglücksort gewesen waren und Vorschlag, dass wir eine Hotline schalten könnten. 27
am Ende sagte der Reporter: „Wir danken Frau XY Dadurch wollten wir das Angebot bieten, sich dort zu
für die Information zu dem Unglück.“ Da habe ich melden und Hinweise zum Unglück zu geben.
gedacht, dass müsste man eigentlich auch machen. Gleichzeitig sollte die Hotline für die Anrufer aber
Die Opfer sind alle weg, die Zeugen sind weg. Wir auch die Möglichkeit bieten, an eine psychosoziale
bekommen die am besten, wenn wir jetzt eine Betreuung vermittelt zu werden.
Medienauswertung machen. Dann habe ich mit dem
damaligen Polizeiführer darüber gesprochen. Wir BBK: Also haben Sie den Auftrag quasi aus der
haben uns darauf verständigt, dass ich das aus mei- Situation heraus entwickelt?
nem Einsatzabschnitt (Betreuung) heraus mache.
Thorsten Güth: Natürlich bestehen für die Bewälti-
BBK: Was hatte das Polizeipräsidium (PP) Essen gung derartiger Einsatzsituationen polizeiliche Hand-
mit der Loveparade zu tun? Wie war der Zusam- lungskonzepte für die Polizeibehörden in NRW, auf die
menhang in der formalen Struktur? wir zurückgreifen konnten. Wir sind davon ausgegan-
gen, dass wir zu betreuende Personen im Einsatzraum
Thorsten Güth: Am Tag der Loveparade selbst habe finden würden. Dass man in eine Situation kommt, in
ich einen Einsatz in Essen geführt, weil Essen einen der sich fast alle schon aus dem Einsatzraum entfernt
Ausweichbahnhof für Teilnehmer der Loveparade haben, war problematisch, deshalb musste das Kon-
unterhalten hat, falls der Bahnhof in Duisburg zuläuft. zept schlagartig verändert, das heißt angepasst werden.
So war ich komplett in das Geschehen involviert und
auch immer über die aktuelle Entwicklung infor- BBK: Also die Zielgruppe waren die Bürger?
miert. So erfuhren wir auch unmittelbar von dem
Unglück. Der Einsatzabschnitt Betreuung ist dann in Thorsten Güth: Genau. Die Einsatzkräfte waren ja
die Duisburger Einsatzmaßnahmen integriert wor- noch im Einsatz und konnten deshalb auch zeitnah
den. Es ging dabei um sogenannte taktische Betreu- unserem Abschnitt zugeführt werden. Aber die Bür-
ung (Anm. d. Redaktion: „taktische Betreuung“ meint ger waren ja schon weg und wussten teilweise auch
das Herstellen oder Aufrechterhalten von Kooperati- nicht, an wen sie sich wenden konnten. Genau diese
onsfähigkeit bei Betroffenen/Zeugen für polizeiliche Zielgruppe wollten wir erreichen.
BBK: Wie ist das Hochfahren der Hotline abgelau- Thorsten Güth: Hierauf antworte ich immer: Das
fen? waren in erster Linie Menschen, die dort gesessen
haben. Das war ein sogenannter sozialer Ansprech-
Thorsten Güth: Start war am Sonntag etwa drei bis partner aus unserer Behörde und weitere Angestellte
vier Stunden nach der Idee der Einrichtung der Hot- der Behörde. Die waren alle freiwillig da, wurden
line. Die Meldung wurde über einen Nachrichtenser- von uns eingewiesen und auch darauf vorbereitet,
vice eingestellt und die Hotline-Nummer bereits dass sie mit belastenden Anrufen konfrontiert wer-
abends über die Medien verbreitet. Gegen 20 Uhr den können. Wir haben regelmäßig ein Stimmungs-
konnten wir die ersten Anrufe in der Hotline entge- bild eingeholt: Was kommt an Anrufen an und wie
gennehmen. geht es den Hotlinern dabei?
Die Hotliner hatten auch den Auftrag zu selektieren,
BBK: In welchen Räumlichkeiten wurden die Hot- die Leute erst einmal etwas zu stabilisieren, was aber
linearbeitsplätze eingerichtet? mitunter auch schwierig war. Ich hatte selbst ein
Gespräch, bei dem es erst einmal eine halbe Stunde
Thorsten Güth: Wir haben die Hotline in unserer gedauert hat, bis die Person überhaupt sprachfähig
Führungsgruppe im PP Essen eingerichtet. Entspre- war.
chende Räume sind für derartige Lagen vorbereitet, Dann haben wir versucht zu ermitteln, ob die Anru-
deshalb waren dort auch Telefone, PCs usw. schon fer ausschließlich einen Betreuungsbedarf hatten
vorhanden. Die Hotlinenummer konnte in einer oder ob sie uns auch Informationen zum Verlauf des
Gruppenschaltung auf alle Telefone umgelegt wer- Unglücks geben konnten. Wenn sie uns Informatio-
den. Die Hotline war dann rund um die Uhr erreich- nen geben konnten, wurden sie an den Einsatz
bar. Nach ein paar Tagen sind wir noch einmal in abschnitt „Taktische Betreuung“ vermittelt. Anrufer,
einen anderen Raum umgezogen, weil der Führungs- die einen ausschließlichen Betreuungsbedarf hatten,
28 raum freigehalten werden musste, falls noch eine wurden zum Beispiel an die Notfallseelsorge vermit-
weitere Lage eintritt. telt, damit eine Betreuung außerhalb der Polizei statt-
finden konnte.
BBK: Zu den Hotlinern selbst: Wer hat dort an den
Telefonen gesessen und die Anrufe entgegen BBK: Hat die Betreuung auch bei Ihnen im Polizei-
genommen? präsidium stattgefunden?
Das Gelände der Loveparade, auf dem bei der Massenpanik 21 Menschen zu Tode kamen. (Bild: dpa)
Thorsten Güth: Das hing alles ein bisschen ab von gängig hoch motiviert. Zum Teil musste ich sogar zur
der Dringlichkeit des Falls – soweit man das am Tele- Pause oder zum Dienstende ermahnen.
fon beurteilen kann. Entweder haben wir gesagt,
dass die Betroffenen innerhalb eines gewissen Zeit- BBK: Wie lang war die Hotline insgesamt g
eschaltet?
raums einen Rückruf von uns erhalten oder sie wur-
den zu Hause abgeholt und betreut, oder es wurde Thorsten Güth: Die Hotline war ca. drei Wochen in
jemand zur Betreuung zu den Personen nach Hause dieser Weise geschaltet, danach wurde sie umgestellt
geschickt. Da die Anrufe aus dem gesamten Bundes- auf einen Apparat des täglichen Dienstbetriebes. Spä-
gebiet kamen, haben wir uns dann mit den entspre- ter wurde sie dann umgeschaltet auf die zentrale
chenden Polizeien und anderen Stellen in Verbin- Hotline, die ab Oktober vom Gesundheitsministe-
dung gesetzt und eine Betreuung veranlasst. Da alle rium Nordrhein-Westfalen und der Notfallseelsorge
entsprechend sensibilisiert waren, hat das auch alles der Evangelischen Kirche im Rheinland organisiert
sehr gut funktioniert. war.
BBK: Wie sind die Hotliner alarmiert worden? BBK: Wurden die Daten der Betroffenen an diese
Notfallseelsorge-Hotline übermittelt?
Thorsten Güth: Zunächst haben wir mit denen
begonnen, die eh schon da waren und die sich bereit Thorsten Güth: Wir haben die Personalien und eine
erklärt hatten. Zu Beginn waren wir mit vier Leuten Rückrufnummer abgefragt und auch vorab das Ein-
in der Hotline. Das waren über mehrere Tage auch verständnis eingeholt, die Daten weitergeben zu dür-
immer die gleichen Personen. Nachts und als die fen. Das war auch der Wunsch der Anrufer, die woll-
Anrufe zurückgingen, haben dann die Mitarbeiter aus ten eine Betreuung bekommen. Wir haben das
der Führungsgruppe die Hotline übernommen. Da laufend dokumentiert und in regelmäßigen Abstän-
gab es dann nachts teilweise auch nur zwei bis drei den überprüft, ob noch etwas offen ist beziehungs- 29
Anrufe. Es gab auf freiwilliger Basis 16 Stunden weise dass eine lückenlose Betreuung stattgefunden
Dienst und 8 Stunden Rufbereitschaft für die Füh- hat. Es war uns sehr wichtig, dass bei den Leuten, die
rungsgruppe. Das haben wir mit den Kollegen und uns keine Informationen liefern konnten und einen
Kolleginnen ca. 14 Tage lang problemlos so durchge- ausschließlichen Betreuungsbedarf hatten, dieser tat-
halten. Alle Kolleginnen und Kollegen waren durch- sächlich auch erfüllt wurde.
Der Tunnel, an dessen Ende sich die Massenpanik ereignete. (Bild: dpa)
BBK: Also waren mit der taktischen Betreuung Thorsten Güth: Im Grunde war ich der Organisator,
beide Aspekte abgedeckt: Polizeiliche Hinweis da die Hotline ja ein Bestandteil meines Einsatzab-
aufnahme und psychosoziale Betreuung der schnittes war. Die vier Kollegen an der Hotline haben
Betroffenen. sich im Grunde selbst koordiniert, weil sie sich
gegenüber saßen. Nach kurzer Zeit kannte man sich
Thorsten Güth: Ich denke, man kann diese beiden und dann wurden Telefonate von denen man wusste,
Aspekte gut miteinander in Einklang bringen. Man dass ist jetzt eine Situation mit der der Kollege X bes-
muss ein funktionierendes System dahinter haben, ser klar kommt, übergeben.
ein Auffangsystem. Man kann das eine tun, ohne das
andere zu lassen. BBK: Haben Sie auch selbst Anrufe entgegenge-
nommen?
BBK: Gab es Anrufer, die sich selbst oder andere
belastet haben, sodass von Ihrer Seite polizeiliche Thorsten Güth: Nur sehr vereinzelt. Ich habe aber
Maßnahmen, also Strafverfolgungsmaßnahmen, immer wieder mein Ohr in den Hotlineraum gehal-
notwendig waren? ten, um mir einen Überblick zu verschaffen. Ein paar
Telefonate habe ich aus der Not heraus annehmen
Thorsten Güth: Wir haben natürlich versucht, die müssen. Da hat dann auch jemand einen richtigen
Situation der Anrufer nicht auszunutzen. Wir haben Weinkrampf am Telefon gehabt und konnte sich
die Anrufer darauf hingewiesen, dass wir unter Straf- kaum artikulieren.
verfolgungszwang stehen und kein Zeugnisverwei-
gerungsrecht haben. In den Telefonaten wurde auch BBK: Da ist man schon ein bisschen ratlos, wenn
nicht nach Details gefragt. Das war gar nicht der Auf- man völlig unvorbereitet in die Situation hinein-
trag der Hotline. Es war zunächst der Auftrag zu geht, kann ich mir vorstellen.
30 ermitteln, ist das jemand, der vor Ort war, der etwas
mitbekommen hat? Oder hat jemand nur über Dritte Thorsten Güth: Erstens das und es kommt noch
etwas gehört? Werden Personen vermisst? Sobald hinzu, dass man als Führungskraft viele Entscheidun-
man wusste, der Anrufer war selbst vor Ort, fand eine gen treffen muss und sich nicht emotionalisieren las-
Weitervermittlung direkt in die taktische Betreuung sen darf. Emotionen spielen dann eine untergeord-
statt. Dort fand dann auch die Belehrung statt und es nete Rolle, man muss eher sachlich-nüchtern bleiben.
gab die Möglichkeit, mit einem Notfallseelsorger oder Das war nicht immer einfach in einer solchen Situa-
einem Polizeiseelsorger zu sprechen, sodass eine tion.
Vertraulichkeit gewährleistet war.
BBK: Welche Personengruppen haben in der Hot-
BBK: Also hat die Reallage gezeigt, dass man line angerufen? Nur Betroffene?
personenbezogene Daten abfragen kann in einer
solchen Situation? Thorsten Güth: Das kann man kaum eingrenzen.
Zunächst haben die Personen angerufen, die selbst
Thorsten Güth: Ja, denn die Menschen wollen ja erst vor Ort waren und dort Erlebnisse hatten, also vor
einmal Hilfe bekommen in ihrer Lage, da rückt der allem junge Leute. Es haben auch Angehörige von
Datenschutzgedanke in den Hintergrund. Man muss Personen angerufen, die vor Ort waren und sagten:
natürlich das Einverständnis der Aufnahme und Wei- „Mein Sohn war vor Ort und ist jetzt zu Hause, aber
tergabe der Daten kurz abklären. Gerade in diesem er ist eigentlich ganz normal. Muss ich etwas beach-
Bereich ist man auf eine Vertrauensbasis angewiesen, ten?“, also Leute, die einen Rat wollten. Es gab auch
auch in Bezug auf die Zusammenarbeit mit anderen Anrufer, die jemanden vermisst haben. Außerdem
Behörden. gab es auch Anrufer, die gesagt haben: „Mein Ange-
höriger war vor Ort und ich glaube, er braucht Hilfe,
BBK: Ein paar Fragen zur Organisation der Hot- lehnt diese aber ab.“ Die Anfragen waren wirklich
line: Gab es einen Organisator oder Hauptkoordi- sehr vielfältig und unterschiedlich, quer durch die
nator? Bank.
BBK: Haben auch Einsatzkräfte in der Hotline
angerufen?
BBK: War das alles in den drei Wochen, in denen BBK: Haben sie neben der Hotlinenummer auch
die Hotline geschaltet war? eine E-Mailadresse herausgegeben?
Thorsten Güth: Das war teil- Thorsten Güth: Ja, wir haben
„Einige wollten einfach
weise auch erst im Nachgang. In die eingehenden E-Mails so
den drei Wochen der Schaltung
nur erzählen und abgearbeitet, wie die Anrufe. Die
waren es überwiegend Personen, etwas loswerden.“ meisten Personen hatten in der
die direkt oder nach wenigen Mail eine Telefonnummer ange-
Tagen gemerkt haben, dass sie Hilfe brauchen. geben oder wir haben in einer Antwortmail um diese
gebeten. Eine schriftliche Betreuung haben wir nicht
BBK: Gab es typische Fragen von den Anrufern, gemacht, weil es einfach nicht möglich ist.
die häufig gestellt wurden?
BBK: Sind noch weitere Medien miteinbezogen
Thorsten Güth: Die meisten Anrufer wollten einen worden? Zum Beispiel eine Internetseite?
Rat haben, wie sie mit der Situation umgehen kön-
nen. Einige wollten einfach nur erzählen und etwas Thorsten Güth: Das haben wir nicht gemacht, weil
loswerden, die haben wir dann möglichst schnell in der Einsatzabschnitt auf die Akutbetreuung ausge-
die Betreuung vermittelt, um die Hotline freizuhal- richtet war.
ten. Und natürlich gab es häufig Fragen nach ver-
missten Personen.
Anteilnahme der Bundesregierung: Kränze für die Opfer der Massenpanik. (Bild: dpa)
32
BBK: Sie haben gesagt, dass sie die Anrufer an Not- BBK: Das war sozusagen die Evaluation des Kon-
fallseelsorger vermittelt haben. Woher hatten sie zepts.
die Kontakte? Bestand da im Vorhinein bereits ein
Netzwerk? Thorsten Güth: Ja, genau. Wir haben jeden Tag
geschaut, wo Schwachstellen sind und was künftig
Thorsten Güth: Da haben wir auf bestehende Netz- anders laufen muss. Mittlerweile gibt es in Nord-
werke aus dem Opferschutz zurückgreifen können. rhein-Westfalen eine Arbeitsgruppe, ein Gesamtkon-
Diese Kontakte waren im Einsatzabschnitt „Betreu- zept für den Bereich „taktische Betreuung“ – im Ent-
ung“ damals noch gar nicht so bekannt. wurf – und eine neue Einsatzakte, in die genau diese
Generell war das Konzept für diesen Einsatzabschnitt Erfahrungen eingeflossen sind.
gerade erst fertig und noch gar nicht publiziert wor-
den. Die Loveparade hat uns quasi eingeholt. BBK: Dann kommen wir zum vorletzten Punkt,
dem Thema Belastungen der Hotliner. Gab es eine
BBK: Dann kommen wir noch einmal auf den Nachsorge? Gab es Supervision? Wie haben Sie das
Ablauf und die Organisation zu sprechen: Haben organisiert?
Sie schon während des laufenden Hotlinebetriebs
Änderungen und Optimierungen in der Arbeitsor- Thorsten Güth: Jeder, der in der Führungsgruppe
ganisation vornehmen können? war und jeder, der in der Hotline gearbeitet hat, hat
eine Supervision durch einen externen Psychologen
Thorsten Güth: Ja, natürlich. Wir haben jeden Tag angeboten bekommen. Das Angebot war auf freiwil-
innerhalb der Führungsgruppe reflektiert und liger Basis, ist aber wahrgenommen worden. Es gab
geschaut, an welchen Stellen man etwas optimieren auch das Angebot, die Supervision mehrfach zu
kann. Da, wie gesagt, die Einsatzakte für den machen, dies ist aber nicht wahrgenommen worden.
Abschnitt „Betreuung“ gerade erst fertig war, waren
wir sehr im Thema drin und haben uns gesagt: Jetzt BBK: Gab es auch während des Hotlinebetriebs
können wir schauen, ob das auch so funktioniert, eindeutige Pausenregelungen, Entspannungspha-
wie wir uns das ausgedacht haben. sen oder so etwas?
Thorsten Güth: Das haben die Kollegen unter sich Gesprächspartner an der Hotline muss man wissen,
geregelt. Wir haben zu der Zeit unser Privatleben um dass sich die Anrufer infolge einer Belastungsreak-
den Dienst herum gebaut. Das war also relativ wenig. tion vielleicht merkwürdig verhalten oder sich ein-
Wenn dann mal jemand eine Stunde später kommen fach nicht erinnern können.
musste, sind die kollegialen Absprachen völlig prob-
lemlos gelaufen. BBK: Das heißt, Ihr Fazit ist:
„Als Hotliner muss Bessere Vorab-Ausbildung und
BBK: Unser letzter Punkt sind man wissen: Sensibilität für psychotrauma-
die Lehren, die sie aus dem Ein- Was passiert mit tologische Fragen?
satz bei der Loveparade ziehen.
einem Menschen,
Können Sie da welche formu- Thorsten Güth: Sensibilität für
lieren, die besonders deutlich
der ein belastendes die gesamte Situation. Als
waren? Ereignis erlebt hat?“ Betreuer merke ich immer mehr,
hier stoßen zwei Welten aufein-
Thorsten Güth: Die größte Lehre, die ich für mich ander, die normale und die völlig unnormale Welt.
gezogen habe, ist die, dass mir bewusst geworden Die Person aus der normalen Welt kann das nicht
ist, dass man als Einsatzabschnittsführer eines sol- einordnen und die aus der unnormalen Welt kann es
chen Abschnitts auch thematisch mit dem Thema nicht transportieren.
verknüpft sein muss. Das heißt, man muss wissen:
Was passiert mit einem Menschen, der ein belasten- BBK: Noch eine abschließende Frage: Eine Medien-
des Ereignis erlebt hat? Welche Reaktionen und kör- recherche hat gezeigt, dass bei der Loveparade
perlichen Symptome treten auf? Wie läuft ein Verar- sehr viele verschiedene Hotlines von den unter-
beitungsprozess ab? Ich muss ja letztlich auch den schiedlichsten Stellen geschaltet wurden. Haben
Polizeiführer dahingehend beraten, was für belastete Sie da eine Idee, wie man es strukturell hinbe- 33
Kollegen hilfreich und was weniger hilfreich sein kommt, dass nicht so eine große Heterogenität
kann. Es ist ja nicht immer richtig, den belasteten herrscht?
Kollegen einfach herauszuziehen und auf die Wache
oder nach Hause zu schicken. Um diese Beratung Thorsten Güth: Ich denke, da wäre ein qualifizierter
wirklich kompetent vornehmen zu können, muss Weg, eine zentrale Hotline zu schalten und dahinter
man mit dem Thema verknüpft sein. ein Netzwerk zu hängen mit entsprechenden Adres-
sen und Anlaufstellen, die sich dann kümmern. Ich
BBK: Und konkret auf die Hotline bezogen, welche denke, die Hotline selber muss nicht die psychosozi-
Lehren würden Sie da ziehen? ale Betreuung leisten, von stabilisierenden Gesprä-
chen mal abgesehen. Die Hotline muss im Prinzip
Thorsten Güth: Auch da gilt das das Netzwerk vermitteln und
Gleiche: Man muss die Inhalte „Man muss die sicherstellen, dass das Netzwerk
kennen, nicht nur telefonieren Inhalte kennen, sich auch kümmert.
können. Ich bringe das mal auf
nicht nur
den Punkt: Man kann wahr- BBK: Herr Güth, wir danken
scheinlich nichts kaputt machen,
telefonieren können.“ Ihnen für das interessante und
wenn man ein normaler Mensch informative Gespräch!
mit sozialer Kompetenz und Empathie ist, aber sinn-
voller ist es natürlich, wenn man einen gewissen Thorsten Güth
Background hat, ein Gespräch strukturiert führen Polizeioberrat
kann, Hilfsangebote im Detail kennt und entspre- Leiter Einsatzabschnitt/Führungsgruppe Integrative
chende Weiterempfehlungen geben kann. Außer- Betreuung Polizeipräsidium Essen
dem: Dass man vorher alle Daten zusammenträgt, Mitglied Betreuungsteam Polizei
einsatzfähig ist. Dass man fortgebildet ist in der Nordrhein-Westfalen
Gesprächsführung und dass man mit den Begriffen
„Posttraumatische Belastungsstörung“ oder „Stressbe- Interview:
lastung“ etwas anfangen kann. Als Ermittler und als Dr. Jutta Helmerichs und Rike Richwin, BBK
www.hilfe-loveparade.de:
Hotline, E-Mail und facebook in der langfristigen
Nachsorge
Die Nachsorge-Expertin Sybille Jatzko stellt erste Erfahrungen mit dem Einsatz
der Neuen Medien in der Krisenhotline vor
Im Rahmen einer umfassenden langfristigen Nachsorge für Betroffene der Massenpanik, die sich
am 24. Juli 2010 auf der Loveparade in Duisburg ereignete, hat das Ministerium für Gesundheit,
Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen in Kooperation mit der Evangeli-
schen Kirche im Rheinland unter www.hilfe-loveparade.de sowohl eine Beratungshotline als auch
das Angebot einer E-Mail-Beratung eingerichtet. Die Beratungshotline war vorher vom Polizeiprä-
sidium Essen initiiert und unterhalten worden und wurde ab dem 20. September 2010 von Sybille
Jatzko und Kollegen der Evangelischen und Katholischen Notfallseelsorge übernommen. Zum
Hotline- und E-Mail-Angebot, das etwa zwei Jahre bestand, hat sich zusätzlich eine Gruppe im
sozialen Netzwerk facebook entwickelt, die ebenfalls Teil der langfristigen Nachsorge wurde und
bis heute aktiv ist.
34
Sybille Jatzko verfügt über umfassende Erfahrungen in der psychosozialen Begleitung und Therapie
von Betroffenen zahlreicher Katastrophen und Unglücke. (Bild: Sybille Jatzko)
BBK: Frau Jatzko, Sie haben viel Erfahrung in der 2010 haben Sie, gemeinsam mit der Notfallseel-
langfristigen Nachsorge, Betreuung und Beglei- sorge, ein ganzes Nachsorgeprogramm gestaltet.
tung von Betroffenen und Angehörigen von Die Besonderheit dabei ist, dass es neben persön-
Opfern zahlreicher Katastrophen und Unglücke, lichen Treffen und einer Telefonhotline auch ein
darunter des Flugschauunglücks in Ramstein E-Mail-Angebot für Betroffene gab und sich sogar
1988, des Absturzes der Birgen-Air-Maschine in eine eigene Gruppe im sozialen Netzwerk face-
der Dominikanischen Republik 1996, des Amok- book entwickelt hat. Sie haben damals, etwa zwei
laufs in Erfurt 2002 oder des Seebebens in Südost- Monate nach dem Unglück, die bestehende Hot-
asien Weihnachten 2004. Auch nach der Massen- line von der Polizei Essen übernommen. Wie ist
panik auf der Loveparade in Duisburg am 24. Juli diese Übernahme abgelaufen?
Sybille Jatzko: Ja, vorab muss man sagen, dass die zu kommen und an persönlichen Treffen teilzuneh-
Polizisten in Essen damals das Richtige getan haben. men, weil diese ebenfalls Teil der Nachsorge waren.
Sie haben sofort reagiert und eine Anlaufstelle für
alle, die irgendwie von dem Unglück betroffen BBK: Haben in der Hotline Personen angerufen,
waren, geschaffen. Das ist ganz wichtig, weil die die selbst auf der Loveparade waren oder zum Bei-
Menschen bei solchen Unglücken voller Fragen sind. spiel Eltern von Betroffenen?
Vor der Weiterführung der Hotline durch unser Team
saßen wir im Gesundheitsministerium von Nord- Sybille Jatzko: In der Hotline haben tatsächlich mehr
rhein-Westfalen zusammen und haben versucht, direkt Betroffene angerufen, beim E-Mail-Angebot
einen Plan zu stricken, um zu schauen, wie es jetzt sah es anders aus. Es gab allerdings eine Entwicklung
weitergehen soll. Wir waren uns auch mit den Poli- im Laufe der Zeit: Die Anrufe nahmen ab, je mehr die
zisten aus Essen schnell einig, dass die Hotline auf Onlineangebote zunahmen. Dabei wurde nicht mal
jeden Fall aufrechterhalten werden soll. So hat dann das offizielle E-Mail-Angebot genutzt, sondern viel
unser Team, bestehend aus mir als Psychologin und stärker eine Gruppe im sozialen Netzwerk facebook,
mehreren Notfallseelsorgern als Berater und einer die sich gebildet hat, nachdem die ersten persönli-
Religionspädagogin als Koordinatorin die Hotline chen Treffen in der Nachsorgegruppe stattgefunden
übernommen. hatten. Die Betroffenen haben diese Gruppe selbst-
ständig in facebook gegründet und ich wurde gebe-
BBK: War die Hotline dann weiterhin 24 Stunden ten, ebenfalls Mitglied zu werden. So war ich Mail-
und sieben Tage die Woche erreichbar? Beraterin in facebook. Ich habe mich selbst anfangs
gewundert, dass die offizielle E-Mail-Beratung kaum
Sybille Jatzko: Ja, die Hotline genutzt wurde, aber es hatte sich
war weiterhin 24 Stunden erreich- alles in die facebook-Gruppe
bar, wobei wir nicht die ganze
„Die Neuen Medien verlagert. Man hatte fast den Ein- 35
Zeit vor Ort, also im Gesundheits- lassen sich gut druck, dass den Betroffenen die
ministerium, waren, sondern mit a
nderen Kommunikation dort leichter fiel,
Rufumleitungen auf unsere Han- Nachsorgeangeboten als einen Anruf zu tätigen oder
dys geschaltet hatten, um mobil verbinden.“ eine E-Mail zu schreiben.
zu sein. Es wurden aber trotzdem Außerdem konnten die Betroffe-
alle Anrufe sauber und gewissenhaft dokumentiert, nen innerhalb der facebook-Gruppe, ähnlich wie in
weil es sich ja um eine offizielle Hotline handelte. So der Nachsorgegruppe, leichter untereinander kom-
lässt sich auch später eine Evaluation durchführen, munizieren. In der E-Mail-Beratung hatten sie nur
aus der wieder Lehren für die nächsten Einsätze Kontakt zu mir, aber in facebook konnten sie sich
gezogen werden können. auch untereinander austauschen.
BBK: Mittlerweile waren zwei Monate seit dem BBK: Wie lief beziehungsweise läuft der Austausch
Unglück vergangen. Welche Personengruppen in facebook genau ab?
haben zu diesem Zeitpunkt noch in der Hotline
angerufen? Sybille Jatzko: Dort gibt es die Möglichkeit, dass
man mich als Beraterin separat anschreiben kann.
Sybille Jatzko: Ich hatte den Eindruck, dass die Zusätzlich kann man Themen gleichzeitig mit allen
Hauptflut der Anrufer schon abgeebbt war. Es gab Gruppenmitgliedern besprechen, sodass die Betrof-
aber immer mal wieder Anrufer, die Fragen hatten, fenen sich untereinander austauschen und zum Bei-
wie zum Bespiel: Ist das, was ich an Symptomen spiel gegenseitig Fragen beantworten können.
habe, normal? Hat das was mit der Loveparade zu Zusätzlich haben sich zwei Gruppen gebildet, die
tun? Soll ich denn jetzt etwas dagegen unternehmen? Angehörigen und Betroffenen haben also selber dif-
Es waren also vorwiegend Beratungsgespräche, ob ferenziert: Es waren die Personen, die zum Verein
sich die Anrufer in Therapie begeben sollen, sei es der Hinterbliebenen und Verletzten und ihrer Ange-
Einzeltherapie, Gruppentherapie oder auch Klinik- hörigen, der gegründet worden war, gehören und
aufenthalt. Gleichzeit machten wir auch immer auf diejenigen, die zur Betroffenenberatung gehören. In
das Angebot aufmerksam, in die Nachsorgegruppe der Vereins-Gruppe wurden dann stärker administra-
tive Fragen zum Bespiel zur Planung der Gedenk- natürlich nicht alle Betroffenen in Duisburg oder der
stätte besprochen, während in der zweiten Gruppe Umgebung wohnen und sich persönlich sehen kön-
sehr intensiv Befindlichkeiten besprochen wurden. nen. Und auch diejenigen, die sich in der Nachsorge-
Man konnte deutlich erkennen, dass facebook eine gruppe persönlich kennengelernt haben, konnten in
Hilfe war, miteinander in Kontakt zu bleiben, weil facebook den Kontakt fortsetzen.
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www.hilfe-loveparade.de: Beratung per Hotline und E-Mail als Teil des Angebots der langfristigen Nachsorge für
Betroffene der Loveparade-Katastrophe. Die Hotlinenummer ist mittlerweile eingestellt. (Bild: www.hilfe-loveparade.de)
BBK: Wie stark wurde die Hotline noch frequen- Sybille Jatzko: Ja, das haben die Gruppenmitglieder
tiert, nachdem sich die facebook-Gruppe gegrün- alles selbst gestaltet. Sie haben die Gruppe als
det hatte? geschlossene Gruppe eingerichtet, sodass die Mit-
glieder erst von einem Administrator autorisiert wer-
Sybille Jatzko: Also ich habe die Kommunikation via den müssen und die Inhalte für Externe nicht sicht-
facebook-Gruppe wesentlich aktiver erlebt, als die bar sind. Es war den Mitgliedern sehr wichtig, dass es
Kommunikation über die Hotline. In der Hotline ein geschützter Raum ist, zu dem nicht jeder Zugang
haben dann im Laufe der Zeit vermehrt Personen erhält.
angerufen, die mich auch über die Nachsorgegruppe
schon persönlich kannten. Denen hat es auch gehol- BBK: Würden Sie sagen, dass sich die Einbindung
fen, per Telefon also wiederum persönlich mit mir zu Neuer Medien, in diesem Fall facebook, als sinn-
sprechen, aber insgesamt ist mehr schriftlich kommu- voll und hilfreich erwiesen hat?
niziert worden als telefonisch. Vielleicht herrscht am
Telefon eine größere Nähe als per Mail, vielleicht ist Sybille Jatzko: Ja, ich denke, man kann die Neuen
das für manche Menschen schwieriger. Eine E-Mail Medien in solchen Fällen gut ergänzend einbinden.
ist anonymer und kostet vielleicht weniger Überwin- Da das Unglück auf der Loveparade besonders
dung als ein Anruf. Jugendliche betraf, die ohnehin großenteils facebook
Man kann sagen: Diejenigen, die die E-Mail-Beratung nutzen, hat sich das in diesem Fall angeboten. Wäre
in Anspruch genommen haben, waren an keine es ein Ereignis gewesen, bei dem vorrangig ältere
Nachsorgegruppe angedockt, diejenigen, die in der Menschen betroffen waren, hätte es vielleicht anders
Nachsorgegruppe waren, haben nicht mehr die ausgesehen. In einem solchen Fall, wäre wahrschein-
E-Mail-Beratung in Anspruch genommen, sondern lich die Mailberatung stärker genutzt worden. Es war
die haben sich untereinander über facebook ausge- zu erkennen, dass die Mailberatung vor allem von
tauscht, weil sie dadurch eben angedockt waren. Erwachsenen genutzt wurde, die Jungendlichen und 37
jungen Erwachsenen haben sich tatsächlich vor allem
BBK: Also hat sich die facebook-Gruppe quasi zu auf facebook organisiert. Da fand eben auch eine
einem Selbstläufer entwickelt. sehr starke Vernetzung untereinander statt.
Die Gedenkstätte in Duisburg: 21 Stelen symbolisieren die bei der Massenpanik Getöteten. (Bild: dpa)
BBK: Das Unglück auf der Loveparade liegt mitt- BBK: Sie sagten vorhin, dass innerhalb der face-
lerweile mehr als zwei Jahre zurück. Sind die book-Gruppe vor allem sehr persönliche Anlie-
Angebote der Hotline, der Mail-Beratung und der gen und Befindlichkeiten der Mitglieder Themen
facebook-Gruppe alle noch aktiv? sind. Facebook wird häufig sehr kritisch betrach-
tet, wenn es um den Datenschutz seiner Nutzer
Sybille Jatzko: Die Hotline und die Mailberatung geht. Haben die Gruppenmitglieder auch Beden-
sind mittlerweile eingestellt worden, weil der Bedarf ken um ihre Daten, gerade wenn es um sehr per-
einfach nicht mehr da ist. Die facebook-Gruppe ist sönliche Anliegen und Äußerungen geht? Ist das
aber nach wie vor sehr aktiv. Die Gruppenmitglieder ein Thema innerhalb der Gruppe?
schreiben mich nach wie vor mit konkreten Anliegen
an, aber in den meisten Fällen unterstützen und tra- Sybille Jatzko: Meines Wissens nach, war das bisher
gen sie sich gegenseitig. kein Thema. Wie gesagt, handelt es sich um eine
geschlossene Gruppe, sodass alle Inhalte nur für
BBK: Telefon, E-Mail und facebook bieten unter- autorisierte Mitglieder sichtbar und steuerbar sind,
schiedliche Möglichkeiten der Kommunikation aber welche Daten von facebook selbst einbehalten
an: mündlich oder schriftlich. Sehen Sie Unter- und verwendet werden, war bisher kein Thema. Es
schiede im verbalen oder schriftlichen Austausch? stehen der persönliche Austausch, die Vernetzung
Gibt es Vor- und Nachteile? und die gegenseitige Hilfe im Vordergrund, sodass
ein Thema wie Datenschutz für die Betroffenen tat-
Sybille Jatzko: Ja, für mich gibt es Unterschiede. sächlich nur nebensächlich auftaucht. Wir als
Wenn ich jemanden am Telefon höre, habe ich das Betreuer sollten allerdings auch diese kritische Seite
Gefühl, ich bin ihm näher und kann besser auf ihn der Neuen Medien im Auge behalten und hier sensi-
eingehen. Ich höre am Klang der Stimme, wie seine bel bleiben.
38 innere Gefühlslage zu sein scheint. Wenn hingegen
jemand in der E-Mail-Beratung schreibt, bekomme BBK: Frau Jatzko, vielen Dank für das interessante
ich zwischen den Zeilen zwar mit, dass es demjeni- und informationsreiche Gespräch!
gen nicht gut geht oder er ein Anliegen hat, ich
bekomme aber nicht so viele Rückmeldungen. Ich Sybille Jatzko
kann auch nicht so gut überprüfen, ob es der Person Gesprächstherapeutin,
jetzt tatsächlich geholfen hat, was ich ihr geantwortet Expertin für Katastrophennachsorge
habe. In facebook wird zwar auch schriftlich kom- Dozentin an Feuerwehr-, Rettungsdienst- und
muniziert, aber dort ist es ein Sonderfall, weil ich die Polizeifachschulen
Gruppenmitglieder aus den Treffen im Rahmen der
Nachsorge persönlich kenne. Wenn ich antworte, Interview:
sehe ich die Person vor meinem inneren Auge. Rike Richwin, BBK
Hilfe für Helfer per Telefon beim ICE-Unglück in
Eschede 1998
Am 3. Juni 1998, um 10:59 Uhr, entgleiste der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“
auf dem Weg von München nach Hamburg bei einer Geschwindigkeit von 200 km/h
in Höhe der niedersächsischen Ortschaft Eschede nördlich von Hannover und prallte
gegen eine Brücke. Ursache war ein gebrochener Radreifen. 99 Zugpassagiere und
zwei Gleisarbeiter starben, 123 Reisende wurden zum Teil schwer verletzt und hun-
derte Angehörigen und Hinterbliebene waren plötzlich konfrontiert mit Verlust,
Trauer und Verzweiflung. Die Bergungs- und Aufräumarbeiten nahmen etwa eine
Woche in Anspruch. Eingesetzt waren annähernd 2000 haupt- und ehrenamtliche
Einsatzkräfte aus den Hilfsorganisationen Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland
e. V. (ASB), Deutsches Rotes Kreuz e. V. (DRK), Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. (JUH), Mal- 39
Erstmals nach einem Großschadensereignis in Wenige Stunden nach der Zugentgleisung am 3. Juni
Deutschland wurde bereits während des Einsatzes 1998 wurden bundesweit Fachleute für die Einsatz-
ein umfangreiches psychosoziales Unterstützungs- kräftenachsorge nach Eschede alarmiert, die vorab
programm für die Einsatzkräfte eingerichtet, finan- von Meldeköpfen vor Ort tätiger Organisationen
ziert durch das Land Niedersachsen, den Bund und (Hilfsorganisationen, Bundeswehr, Bundespolizei)
die Deutsche Bahn AG und unterstützt durch Sach- alarmiert worden waren.
spenden. Dieses Unterstützungsprogramm sollte
auch die folgenden anderthalb Jahre fortlaufen. Beim Zusammentreffen an der Unglücksstelle verein-
Bestandteile des Programms waren Einzelgespräche, barten sie, abgestimmt vorzugehen. Eine organisati-
Gespräche in Gruppen (Debriefing), Informations- onsübergreifende Koordinierungsstelle Einsatznach-
veranstaltungen, Entlastungsgespräche für Angehö- sorge nahm 24 Stunden nach dem Unglück ihre
rige der Helfer und vieles mehr. Indikationen für die Arbeit auf.
„Hilfe für Helfer“ waren folgende Belastungen: hohe
Anzahl von Toten, mehrtägige Bergung und Fund Zu den ersten Maßnahmen gehörte, eine Helfer-Hot-
von Leichenteilen, viele Schwerverletzte, mehrere line zu schalten. Dazu wurden eine nicht aktive Leit-
lange eingeklemmte Personen, zahlreiche Kinder stellennummer („Celle 7070“), Räumlichkeiten und
und Jugendliche unter den Verletzten und Toten, die Büroausstattung des Deutschen Roten Kreuzes
zahlreiche angereiste Angehörige und Vermissende (Kreisverband Celle-Stadt e. V. und Celle-Land e. V.)
an der Unglücksstelle bereits wenige Stunden nach zur Verfügung gestellt. Die Nummer wurde – gemein-
dem Unglück, zwei Gleisarbeiter unter den Toten, sam mit mehreren anderen Helferhotlineerreichbar-
die vielen persönlich bekannt waren und eine rasch keiten – über die täglichen Pressekonferenzen des
40 anwachsende und dauerhafte Medienpräsenz. Krisenstabs durch den Kreisbrandmeister und über
mehrere Berichte in der lokalen Zeitung bekannt
Die Einsatzkräftenachsorge fand schnell breite gegeben. Die Hotline war von Anfang an rund um
Akzeptanz und ein Drittel aller eingesetzten Kräfte die Uhr durch die Leitung der Koordinierungsstelle
nahm das Nachsorgeangebot an. Darüber hinaus Einsatznachsorge besetzt, immer unterstützt durch
führte die Einsatznachsorge in Eschede zu einer vier bis fünf Peers (speziell für Helfernachsorge aus-
höheren Sensibilität gegenüber psychosozialen Fra- gebildete Einsatzkräfte) des Malteser Hilfsdienstes,
gen und Problemen im Einsatzwesen, zum Aufbau der Berliner Feuerwehr und der Bundesvereinigung
zahlreicher Nachsorgeteams im gesamten Bundesge- Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen e. V.
biet und zur fachlichen Weiterentwicklung und Qua- (SbE). Vorgesehen war, die Hotline bis zur öffent
litätssicherung in diesem Feld. lichen Trauerfeier und zum Staatsakt vor Ort 19 Tage
nach dem Unglück aufrecht zu halten.
Besondere Belastungen für die Helfer durch:
Hotlinebetrieb in den ersten 3 Wochen
• hohe Anzahl von Toten Die Helfer-Hotline „Celle 7070“ erlangte innerhalb
• mehrtägige Bergung und Fund von weniger Tage durch regelmäßige Präsentation in der
Leichenteilen Öffentlichkeit und „Mund-zu-Mund-Propaganda“ im
• viele Schwerverletzte Einsatzwesen einen hohen Bekanntheitsgrad unter
• viele lange eingeklemmte Personen den Einsatzkräften, wurde zunächst jedoch noch
• viele Kinder und Jugendliche unter den nicht für Entlastungsgespräche von belasteten Hel-
Toten und Verletzten fern genutzt. In den ersten drei Wochen war der Hot-
• viele Angehörige und Vermissende an der line-Anschluss vielmehr in erster Linie Koordinati-
Unglücksstelle onsinstrument, da weitere Festnetzanschlüsse nicht
• zwei Gleisarbeiter unter den Toten (vielen zur Verfügung standen und Mobiltelefone 1998 noch
persönlich bekannt) nicht so verbreitet waren wie heute. Somit wurde
über die Helfer-Hotline Kontakt zum politisch-admi-
• hohe und dauerhafte Medienpräsenz
nistrativen Krisenstab gehalten. Allen regionalen
Führungskräften aus Feuerwehr, Rettungsdienst und Belastete Helfer, die von sich aus und ohne Kontakt-
Polizei sowie Politikern und Verwaltungsleitern wur- vermittlung über ihre Führungskräfte eine Beratung
den die Koordinierungsstelle und ihr Angebot der oder ein Nachsorgegespräch über die Helfer-Hotline
Einsatznachsorge vorgestellt und alle Nachsorgemaß- „Celle 7070“ erbaten, gab es in den ersten drei
nahmen wurden über „Celle 7070“ organisiert. Wochen insgesamt nur zehn. Dabei schilderten fast
Weiterhin wurden Informationsveranstaltungen für
alle typische Belastungsreaktionen nach einem belas-
Führungskräfte und Vertreter regionaler Beratungs- tenden Einsatz: Konzentrationsprobleme, Schlafstö-
einrichtungen und der Seelsorge über die Hotline rungen, Albträume, Ängste, allgemeine Unzufrieden-
vorbereitet und regelmäßig Kontakt zu den Medien heit und das ungewollte Aufsteigen von belastenden
gehalten. Zahlreiche Reporter beziehungsweise Pres- Bildern, Geräuschen und Gerüchen aus dem Einsatz-
seagenturen hatten sich, wie zu erwarten war, schon geschehen. Schlafstörungen wurden am häufigsten
am Tag der Hotlineschaltung telefonisch bei der beklagt, oft verbunden mit der Bitte an den Berater
Koordinierungsstelle gemeldet. Schließlich wurde in der Hotline, Medikamente zu verschreiben.
der Hotline-Anschluss genutzt, um ausgebildete Ein-
satznachsorgekräfte aus ganz Deutschland nach Schließlich meldeten sich in der Hotline einige Part-
Eschede zu alarmieren, die Einzel- und Gruppen nerinnen und Mütter von Einsatzkräften, die beim
gespräche für Helfer anbieten konnten. Eschede-Einsatz dabei waren, schilderten, dass sie
veränderte Verhaltensweisen bei ihren Partnern und
Drei Tage nach dem Unglück meldeten sich die ers- Söhnen beobachteten und baten um Rat.
ten Führungskräfte, vorwiegend aus den Feuerweh-
ren, in der Hotline, um Nachsorgegespräche für ihre
An der Helfer-Hotline geschilderte
Einheiten anzufordern. In den Tagen danach wurden
Belastungsreaktionen:
die zunehmend nachgefragten Nachsorgegespräche
über die Hotline koordiniert: Allein in den ersten drei 41
Wochen fanden 53 Gruppengespräche (Debriefings) • Konzentrationsprobleme
und zahlreiche Einzelgespräche für insgesamt 714 • Schlafstörungen
Helfer aus Feuerwehr, Rettungsdienst, Bundeswehr,
• Albträume
Technischem Hilfswerk, den örtlichen Polizeien und
der Bundespolizei statt. In der Folge suchten viele • Ängste
dieser Einsatzkräfte dann den Kontakt zur Koordinie- • allgemeine Unzufriedenheit
rungsstelle über die Helfer-Hotline, um ihre Erfah-
• Aufsteigen von belastenden Bildern,
rungen mit den Nachsorgegesprächen zu schildern
Geräuschen, Gerüchen aus dem Einsatz
oder weitere Hilfen anzufordern.
Für einen Teil der Einsatzkräfte, etwa 10%, brachte Dennoch melden sich auch Einsatzkräfte und ihre
der Eschede-Einsatz dauerhafte Probleme mit sich, Angehörigen erfahrungsgemäß in Krisenhotlines, die
die auch in den Hotlinegesprächen eine Rolle spiel- nach komplexen Gefahren- und Schadenslagen
ten. Dazu gehörten vor allem schwerwiegende Kri- angeboten werden, wenn auch nicht in großer Zahl.
sen in Partnerschaft und Familie oder auch erheb Diese Anrufgruppe ist somit bei allen Planungen und
liche Probleme im Beruf. Einige Helfer hatten eine Schulungen zur Krisenhotline einzubeziehen. Über
Psychotraumatherapie begonnen, bei einzelnen die Gründe lässt sich – da keine systematischen
zeichnete sich eine Berufsunfähigkeit ab. Bei all die- Untersuchungen zu dieser Frage vorliegen – zurzeit
sen gravierenden Auswirkungen – so war es in den nur anhand von einzelnen Rückmeldungen spekulie-
Beratungsgesprächen erkennbar – war der Eschede- ren. Danach spielen Unzufriedenheit mit den Bera-
Einsatz allerdings nicht die alleinige Ursache. tungsangeboten in der eigenen Einsatzstruktur und
der Wunsch nach Anonymität hierbei eine wesent
44 Helferhotline – heute noch zeitgemäß? liche Rolle.
Die akute und längerfristige Einsatznachsorge nach Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass anonyme
dem ICE-Unglück in Eschede führte zu einer breiten Internetforen mit der Möglichkeit, Selbsteinschätzun-
Akzeptanz und höheren Sensibilität für psychosozi- gen zu psychischen Belastungen (online-Diagnostik)
ale Themen und Fragen im Einsatzwesen. Zahlreiche anhand von Checklisten vorzunehmen und Fach-
Nachsorge-Teams im gesamten Bundesgebiet wur- leute online ansprechen zu können, von Einsatzkräf-
den gegründet. Bei allen größeren Schadenslagen in ten immer stärker angenommen werden. Diese
Deutschland, die in den ersten Jahren nach dem Zug- neuen Beratungsformen sind in die zukünftigen Pla-
unglück in Eschede folgten und mit hohen Belastun- nungen zur psychosozialen Arbeit im Einsatzwesen
gen für die Helfer verbunden waren (Amoklauf Erfurt einzubeziehen.
2002, Flugzeugkollision Überlingen 2002, Transrapid-
Unglück im Emsland 2006, Eissporthalleneinsturz Dr. Jutta Helmerichs
Bad Reichenhall 2006), zeigte sich, dass hinreichend Diplom-Soziologin
Kräfte für die Helfernachsorge in angemessener Zeit Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
abrufbar waren. Aber auch bei weniger großen und Katastrophenhilfe (BBK),
gravierenden Unfällen und Unglücken im Einsatz Leiterin des Referats Psychosoziale
alltag, die für Einsatzkräfte belastend sein können, ist Notfallversorgung (PSNV), beim ICE-Unglück
die „Hilfe für Helfer“ mittlerweile in der Regel unpro- Eschede Leiterin der Koordinierungsstelle
blematisch verfügbar. Die meisten Organisationen im Einsatznachsorge (04.06.1998-15.12.1999)
Einsatzwesen (Feuerwehren, Rettungsdienste, Poli-
LÜKEX 2009/10:
Bürgertelefone als Krisenhotline im Einsatz
Claudia Schedlich
45
Akteure der „Gruppe Bevölkerung“ simulieren unterschiedliche Anrufgruppen der Bevölkerung, die bei einer Terrorbedrohung
zu erwarten sind (v.l.n.r.: Thomas Erbert, Christian Hannig, Jutta Unruh, Ralf Radix, Dr. Gerhard Fahnenbruck, Dr. Andreas
Müller-Cyran, Sören Petry; vorne: Nora Hüllmantel). (Bild: BBK)
Die Darstellung des Bevölkerungsverhaltens erfolgte Anliegen der Anrufenden:
im Einzelnen durch: Anliegen der Anrufenden waren zum Beispiel, Infor-
• das Entwickeln und Einspielen von vorab vorbe- mationen zu erhalten
reiteten strategischen Einlagen zu Bevölkerungs- • zur aktuellen Bedrohung,
reaktionen und von Einlagen, die sich aus den im • zu entstandenen Schäden,
Übungsverlauf eingeleiteten Maßnahmen der • zu Verhaltens- und Handlungsempfehlungen,
Stäbe, der daraus abzuleitenden Lageentwicklung • zu Hilfsangeboten,
sowie den Darstellungen in den übenden Medien • zum Verbleib von Angehörigen und Einsatzkräften.
ergeben sowie In Auswertungsgesprächen mit den jeweiligen Orga-
• das Beüben von Bürgeranfragen an „Krisenhot- nisatoren der Hotlines in den übenden Behörden
lines“ durch direkte Anrufe von Mitgliedern der und Organisationen wurde rückgemeldet, dass die
„Gruppe Bevölkerung“. überwiegende Anzahl der Anrufe als realistisch
bewertet wurde.
Das operative Übungselement „Krisenhotline“ wurde
einbezogen, weil in komplexen Gefahren- und Scha- Telefonprotokoll:
denslagen von einem umfassenden Informationsbe- Jedes Telefonat wurde von den Mitarbeitern der
darf in der Bevölkerung auszugehen ist. Erfahrungen „Gruppe Bevölkerung“ in einem Telefonprotokoll
zeigen, dass mit einer hohen Anzahl von telefoni- erfasst und nach vorab entwickelten Auswertekrite-
schen Bürgeranfragen in den unterschiedlichen rien bewertet.
Behörden (Polizei, Feuerwehr, Gesundheitsämter, Auswertungskategorien waren:
Bürgertelefone etc.) auszugehen ist. Um dieses • die Erreichbarkeit der Hotline
Anrufaufkommen kanalisieren und gleichzeitig Kata- • das Erfassen der Personendaten
strophenhilfe leisten zu können und um ein abge- • das Verhalten der Hotliner
stimmtes Informationsmanagement zu ermöglichen, • das Eingehen auf Anliegen der Anrufer 47
wird die schnelle Einrichtung einer zentralen Krisen- • die Transparenz und Glaubhaftigkeit der
hotline als wesentliches Element des psychosozialen Informationen
Krisenmanagements empfohlen. • das Vermitteln weiterer Kontaktmöglichkeiten
bei Bedarf
Übungserfahrungen in der Krisenhotline • die Anleitung zur Selbsthilfe
• die Genauigkeit der Handlungsempfehlungen
Im Vorfeld der LÜKEX 2009/10 wurde von mehreren • die Vermittlung von Perspektive
teilnehmenden Behörden und Organisationen der In Auswertungsgesprächen wurde rückgemeldet,
Wunsch geäußert, die Nutzung des Bürgertelefons in dass während der Arbeit an der Hotline insbesondere
einer Krise beziehungsweise Katastrophe zu beüben. die Vielschichtigkeit der Anliegen und die Emotiona-
Einbezogen wurden die Bürgertelefone einer Bun- lität der Anrufenden für die Hotliner eine hohe Belas-
desbehörde, zweier Landkreise, zweier Regierungs- tung bedeuteten. Hier wurde ein elementarer Unter-
bezirke und einer Hilfsorganisation. Über einen Zeit- schied zwischen Bürgertelefon und Krisenhotline
raum von anderthalb bis zwei Stunden je übender deutlich: Am Bürgertelefon melden sich überwie-
Einrichtung wurden sie von drei Hotline-Plätzen aus gend Bürger, die Informationen einholen wollen. Mit
mit insgesamt 161 Anrufen durch Mitarbeiter der schwierigen Anrufern, welche die Hotliner emotional
„Gruppe Bevölkerung“ beübt. Nach Abschluss der nachhaltig belasten, sind sie hier eher selten kon-
Übung wurde die Übungserfahrung Krisenhotline frontiert.
per Fragebogen nach wissenschaftlichen Standards
ausgewertet. Anrufergruppen:
An einer Krisenhotline sind sehr unterschiedliche
In der Vorbereitung auf das Beüben von Bürgertele- Anrufergruppen mit äußerst unterschiedlichen Anlie-
fonen im Krisen- und Katastrophenfall wurden – gen zu erwarten, dabei auch zahlreiche Menschen,
basierend auf den Erfahrungen bei Großschadens die sich in einer emotionalen Ausnahmesituation
lagen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu befinden. Eine Unterscheidung in einerseits Krisen-
Reaktionen und Bedarfen der Bevölkerung – Anru- hotlines bei Informations- und K risenlagen (bei-
ferrollen und Anruferanliegen entwickelt. spielsweise Hochwassergefahren, Ausfällen von Inf-
Anrufer fühlen sich dann verstanden und entlastet, wenn Informationen sachlich und zugewandt übermittelt werden
(v.l.n.r.: Susanne Lenerz, Dr. Martin Weber, Thomas Erbert, Dr. Andreas Müller-Cyran und weitere Experten des psychosozialen
48 Krisenmanagements). (Bild: BBK)
lich mit weiteren Informationen gerechnet werden sen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
kann, welche Behörden und Experten eingeschaltet Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass bei kom-
sind oder wo und wann Informationen über Ver- plexen Gefahren- und Schadenslagen – je nach Lage-
misste zu erfahren sind, um zum Bespiel vermissen- charakter – mit einem hohen Informations-, Bera-
den Personen einen nächsten Anhaltspunkt zu geben. tung- und/oder Vermittlungsbedürfnis in der
Bevölkerung und einem hohen Anrufaufkommen zu
Zusammenfassung und Empfehlungen rechnen ist. Umso ungewisser und uneinschätzbarer
der Gefährdungsgrad und umso größer die Anzahl
Die Bereitschaft der bei der LÜKEX 2009/10 übenden von unmittelbar Betroffenen (Tote, Verletzte, Ver-
Behörden und Organisationen, das übungsaufwen- misste) ist, umso größer wird das Anrufvolumen aus-
dige Element Krisenhotline in den Übungsrahmen fallen. Es ist grundsätzlich zu empfehlen, schnellst-
mit einzubeziehen und sich mit der Relevanz der möglich eine Krisenhotline zu schalten und deren
Thematik in der Vorbereitung auf komplexe Gefah- Telefonnummer über die Medien zu verbreiten, bei
ren- und Schadenslagen auseinanderzusetzen, ist Lagen in denen
sehr zu begrüßen. Die zeitnahe Einrichtung einer Kri- • der Gefährdungsgrad unklar und schwer kalku-
senhotline im Falle komplexer Gefahren- und Scha- lierbar ist (zum Beispiel bei CBRN-Lagen),
denslagen als Element des psychosozialen Krisenma- • eine große Anzahl von Menschen betroffen ist,
nagements ist in der heutigen Mediengesellschaft • viele Menschen verletzt und/oder verstorben sind,
unverzichtbar. Für ihre Einrichtung müssen im Vor- • die Identität Verletzter oder Verstorbener nicht
feld einer Lage technische Voraussetzungen, struktu- zeitnah festgestellt werden kann,
relle Rahmenbedingungen sowie die Zusammenar- • das grundsätzliche Sicherheitserleben in einer
beit mit den Stäben und die Informationsübermittlung Region schwer erschüttert ist,
geklärt sein. Der psychosozialen Schulung von Hotli- • materielle Versorgungsengpässe und/oder Fragen
nern zur Vorbereitung auf den qualifizierten Umgang zu finanzieller Unterstützung relevant sind oder
mit Menschen in Extremsituationen und einer • rechtliche und administrative Fragestellungen auf-
adäquaten Risiko- und Krisenkommunikation müs- tauchen.
Die Schaltung und Bekanntgabe einer zentralen Kri- Personendaten zu erfassen, um erneute Kontakt-
senhotline verkleinert das Anrufaufkommen bei den aufnahme und die Nachverfolgung mehrerer Tele-
Notrufnummern 110 und 112 (Feuerwehr, Rettungs- fonate zu ermöglichen.
dienst, Polizei) und in unterschiedlichen jeweils 3.
Die Hotliner müssen durch Schulungen auf die
involvierten Behörden (wie beispielsweise Bundes- psychosozialen Anforderungen an einer Krisen-
umweltministerium, Bundesämter für Strahlenschutz, hotline vorbereitet sein. Insbesondere der Umgang
Risikobewertung, Bevölkerungsschutz, Robert-Koch- mit Menschen in Extremsituationen muss trainiert
Institut etc.) und jeweils involvierten Versorgungsein- werden. Ein Schulungseffekt ist erfahrungsgemäß
richtungen (wie Kliniken, Gesundheitsämter etc.) erst nach zwei bis drei Unterrichtstagen mit hohem
und entlastet diese damit erheblich. Zudem können Trainingsanteil (Rollenspiele am Telefon) zu erzie-
relevante Informationen gebündelt erhoben werden len. Eine Auffrischung der Inhalte sollte einmal
und der Einsatz von Experten – falls erforderlich – jährlich in eingeschränktem Umfang (eintägig)
arbeitsökonomisch erfolgen. stattfinden.
4. Es sollte in der Vorbereitung eine Datenbank mit
Grundsätzlich ist es nicht möglich ein Bürgertelefon regionalen und überregionalen Kontaktdaten und
ohne strukturelle und personelle Vorbereitung als kooperierenden Organisationen und Behörden
Krisenhotline einzusetzen. erstellt und regelmäßig aktualisiert werden, um
selbst Informationen zu erfragen und auch die
Die Mitarbeiter an einer Krisenhotline benötigen eine Anrufenden angemessen weiter verweisen zu kön-
besondere Schulung, um sich auf den adäquaten nen.
Umgang mit Menschen in (emotionalen) Extremsitu- 5. Es empfiehlt sich, in der Vorbereitung Informati-
ationen und die adäquate Erfassung und Vermittlung onsmaterial zu spezifischen Lageaspekten sowie
von Informationen vorzubereiten. Nur so kann zum Frequently Asked Questions (FAQ) zusammen
einen gewährleistet werden, dass sich eine Krisen- zustellen, um möglichst zeitnah über notwendige 51
hotline nahtlos in die Risiko- und Krisenkommunika- Informationen zu verfügen.
tion und das gesamte Krisenmanagement eingliedert.
Zum anderen ist eine umfassende Vorbereitung der Während des Einsatzes einer Krisenhotline ist eine
Hotliner auf diese schwierige und teilweise emotio- klare Leitungs- und Organisationsstruktur zu gewähr-
nal belastende Arbeit im Sinne der Fürsorgeverpflich- leisten. Darunter fallen eine eindeutige Schichten-
tung notwendig. und Pausenregelung, der ständige Austausch mit
dem Krisenstab, regelmäßige Updates zum Lagefort-
Die Vorbereitung auf die schnelle Schaltung von schritt und über eingeleitete Maßnahmen und die
einem Bürgertelefon zur Krisenhotline im Schadens- Abstimmung der Informationsweitergabe mit Krisen-
fall erfordert folgende Planungsschritte: stab und Pressestelle – one voice policy etc.
1. Die technischen Voraussetzungen müssen in Form
von ausreichenden Arbeitsplätzen mit PC-Ausstat- Die Erfahrungen der „Gruppe Bevölkerung“ mit der
tung gegeben sein. Eine entsprechende Doku- Verwendung von Bürgertelefonen als Krisenhotline
mentationsvorlage/Software sollte erstellt sein. Die bei der LÜKEX 2009/10 (und LÜKEX 2011) hatten zur
Hotliner müssen mit den technischen Bedingun- Folge, dass im Rahmen des „Projektes 115 – Einheit-
gen und dem Dokumentationssystem vertraut liche Behördenrufnummer“* ein Konzept entwickelt
sein. wird, wie die 115 in besonderen Lagen (Gefahren
2. Die Arbeit an einer Krisenhotline erfordert eine lagen, Krisen) mit hohem Anrufvolumen unterstützen
sorgfältige Form der Datenerhebung und Doku- kann. Mit seinen bestehenden Ressourcen mit über
mentation, in die die Hotliner zuvor eingewiesen 30 Service-Centern und über 1.000 Agenten, der ver-
sein müssen. So ist es zum Beispiel notwendig, netzten Infrastruktur sowie seinem Know-How, birgt
* Die einheitliche Behördenrufnummer 115 ermöglicht seit Projektstart Anfang 2009 vielerorts Bürgern in Deutschland einen d
irekten
Zugang zu Auskünften über Leistungen der öffentlichen Verwaltung. Das Projekt wurde vom Bundesministerium des Innern (Geschäfts-
und Koordinierungsstelle 115) und dem Land Hessen gemeinsam mit Modellregionen, Landes- und B
undesbehörden entwickelt.
der Rückgriff auf den 115-Verbund Potenzial. Die der Krisenhotline zum Einsatz kommen sollen, auf
Herausforderung liegt dabei in der Verzahnung mit den Umgang mit allen zu erwartenden Einsatzgrup-
den bestehenden Bürgertelefonen sowie in der nach pen – auch hoch belasteten Betroffenen – zu s chulen,
außen kommunikativen Abgrenzung zu Rufnum- da Krisenlagen ad hoc zu Schadenslagen mit Toten
mern, die Personenauskünfte erteilen (Personenaus- und Verletzten werden können und die Beteoffenen
kunftsstellen, amtliche Auskunftsbüros, Suchdienst in solchen Fällen erfahrungsgemäß alle geschalteten
des Deutschen Roten Kreuzes, Krisenhotlines von und bekannten Informationsquellen nutzen.
Unternehmen und vergleichbaren Einrichtungen).
Claudia Schedlich
Generell gilt es, die telefonische Auskunft, die bei Diplom-Psychologin,
Schadensalgen mit zahlreichen Toten und/oder Ver- Psychologische Psychotherapeutin
letzten aktiviert wird, strukturell und technisch so zu Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
gestalten, dass die Anrufer keine zusätzliche Belas- Katastrophenhilfe (BBK),
tung sondern Hilfe erfahren. Gleichzeitig sind die Referat Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV)
Service-Center-Agenten des 115-Verbundes, die an Leiterin der „Gruppe Bevölkerung“ bei der LÜKEX
52
Neben moderner Technik wird bei der Übung auch auf altbewährtes Material gesetzt (Thomas Erbert, Jutta Unruh). (Bild: BBK)
Hotlineerfahrungen europäischer Nachbarn
Carlo Laeri
53
Mitarbeitende der Hotline des EDA (Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten) im Einsatz nach der
Tsunami-Katastrophe Ende Dezember 2004. (Bild: BABS)
Zur modernen Ereignisbewältigung gehört das Mittel der Hotline. Sie ist ein zentrales Instrument
der Information, aber auch der Führung. Nicht nur Fragen plagen die betroffenen Menschen, auch
Angst, Ärger und Frustration. Wenn tausende Anrufe effizient und psychologisch geschickt gemeis-
tert werden, hat das einen positiven Einfluss auf die betroffene Gemeinschaft und auf die Ereignis-
bewältigung.
Es ist jederzeit möglich, dass in der Schweiz – viel- Gerade in so einer Situation ist der Informationsbe-
leicht sogar in einer stark frequentierten, dicht bevöl- darf aber riesig. Viele mehr oder weniger stark, direkt
kerten Gegend – ein großes Ereignis geschieht, das oder indirekt betroffene Menschen stellen sich alle
nicht nur eine weiträumig zerstörte Infrastruktur hin- möglichen Fragen. Wenn sie über die Medien oder
terlässt, sondern auch viele Tote, Verletzte, Evaku- durch die Behörden keine Antworten erhalten, ver-
ierte und Obdachlose. Zu Beginn ist die Situation suchen sie auf anderen Wegen zu den Informationen
unübersichtlich, die Informationen sind dürftig und zu gelangen: Sie melden sich bei der Polizei, den Spi-
wegen der angeschlagenen Infrastruktur vielleicht tälern oder der Feuerwehr, bei einer Verwaltungs-
auch schwer vermittelbar. stelle der Gemeinde, des Kantons oder des Bundes.
Sie ruhen nicht, bis sie eine für sie akzeptable Ant- Die entgegengenommenen Anrufe müssen registriert
wort erhalten. und teilweise weiterverarbeitet werden. Eine modern
eingerichtete Hotline verfügt über entsprechende IT-
Um all die Anfragen zu kanalisieren, stellen die Einrichtungen. Werden alle Anrufe registriert, dauert
Behörden eine Hotline (Infoline, Bürgertelefon, Hel- ein Anruf erfahrungsgemäß durchschnittlich etwa
pline) zur Verfügung. Damit können sie einen sieben Minuten. In der Regel kann ein Operateur
Ansturm auf ihre Amtsleitungen vermindern; zumin- etwa zehn Anrufe pro Stunde bearbeiten. Je länger
dest verhindern sie, dass ein und dieselbe Person ein Einsatz dauert, desto größer wird die Menge der
mehrere Verwaltungsstellen beschäftigt. Eine Hotline produzierten Fehler. Es ist deshalb sinnvoll, Opera-
entlastet die Behörden in einem Zeitraum, in dem sie teuren nach zwei Stunden eine längere Ruhepause
durch die eigentliche Ereignisbewältigung überbean- zu gönnen. Und länger als sechs bis acht Stunden
sprucht sind. pro Tag sollte ein Operateur nicht im Einsatz stehen.
Wenn Unternehmen in das Ereignis involviert sind – Breite Palette von Anrufen
beispielsweise Transportunternehmungen bei Zug-
unglücken und Airlines bei Flugzeugabstürzen – neh- Unendlich viele Fragen können im Zusammenhang
men diese in der Regel ihre vorbereiteten Hotlines in mit einem Ereignis entstehen, es können etwa Fragen
Betrieb. Die Kundennähe spielt auch im Krisenfall nach Vermissten sein, zum Gesundheitszustand von
für diese Firmen eine zentrale Rolle. hospitalisierten Angehörigen, zu noch bestehenden
oder sich in Zukunft entwickelnden Gefahren, zu
Eine Hotline einrichten beeinträchtigten Infrastrukturen.
Es stellt sich immer wieder die Frage nach der Anzahl Menschen in Angst haben aber nicht nur Fragen: Sie
54 der zu erwartenden Anrufe. Insbesondere hängt möchten wieder handlungsfähig werden, die läh-
davon die der Anzahl Arbeitsplätze ab, die ein Hot- mende Angst und Ungewissheit loswerden. Das kann
line-Betreiber einrichten muss. Verschiedene Erfah- dazu führen, dass sie wütend und aggressiv werden,
rungen (etwa nach Flugzeugabstürzen) haben weil sie die Kontrolle über die Situation verlieren
gezeigt, dass pro potenziellem Opfer mit ungefähr oder bereits verloren haben. Augenzeugen möchten
fünf Anrufen zu rechnen ist. Nicht nur die direkten zudem die beobachteten Schäden melden und dabei
Verwandten eines Opfers rufen an, auch Freunde, gleich auch in Erfahrung bringen, ob die Gefahr vor-
Arbeitskollegen und Arbeitgeber. über ist. Es gibt auch hilfsbereite Menschen, die
sofort mithelfen möchten.
Wichtiges Führungsinstrument
Marc Stein
Ende 1996 gab es in Luxemburg erste Bestrebungen, Internetdienste, Radio und Fernsehen propagiert, so
Opfern von Großschadenslagen eine ordnungsge- dass Angehörige sehr schnell von dem Ereignis erfah-
mäße psychosoziale Unterstützung zukommen zu ren und verständlicherweise rapide Informationen
lassen. Polizei und Zivilschutz (Protection Civile) von offizieller Seite erhalten wollen.
beschlossen ein gemeinsames Konzept zur psycho-
sozialen Akuthilfe nach Katastrophen auszuarbeiten, Auf Seiten der Einsatzkräfte kann eine Hotline eben-
welches im „Plan S.A.I. (Service d’Accueil des Impli- falls gewinnbringend sein, so zum Beispiel um die
qués)“ resultierte. Rückführung von Opfern oder die Identifikation von
Vermissten zu beschleunigen. Eine gut organisierte
Mit der Reorganisation der Rettungskräfte und der Informationspolitik gegenüber Opferangehörigen
Gründung der Administration des Service de Secours erlaubt zudem, Falschinformationen zu minimieren
(ASS) im Jahre 2004 wurde zeitgleich auch psycho und daraus entstehende unnötige Verwirrungen und
soziale Unterstützung gesetzlich in den nationalen Folgeprobleme zu vermeiden.
Katastrophenplan (Plan Nombreuses Victimes) ver-
ankert. Die Hotline wurde seit 1997 mehrmals bei Verkehrs-
56 katastrophen im In- und Ausland aktiviert, so zum
Zuständig für die psychosoziale Nothilfe in Groß- Beispiel bei einem Busunfall mit Todesopfern, bei
schadenslagen sind auf Seiten des Zivilschutzes der einem tödlichen Zusammenstoß zwischen Zügen,
Groupe de Support Psychologique (GSP), vergleich- bei einem Flugzeugabsturz mit 20 Todesopfern, aber
bar in Deutschland mit Kriseninterventionsteams, auch nach den Bombenattentaten in London, bei der
und auf Seiten der Polizei der Psychologische Dienst. Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean oder nach
Übrigens hat sich im Nachhinein diese methodische dem Pandemieverdacht im Zusammenhang mit der
Zusammenarbeit im psychosozialen Bereich zwi- Vogelgrippe.
schen Polizei und Zivilschutz in Reallagen als sehr
nutzbringend erwiesen. Aufbau der Hotline
Der S.A.I.-Plan ist modular aufgebaut und sieht, je Die S.A.I.-Hotline in Luxemburg ist in den Räumlich-
nach Katastrophenszenario, verschiedene Unterab- keiten der ASS untergebracht und in der Grundform
schnitte vor: eine Anlaufstelle für Verwandte und angesichts räumlicher und personaler Einschränkun-
nicht verwandte Angehörige (LAFP); eine Anlauf- gen auf sechs Arbeitsplätze (PC, Telefon mit Head-
stelle für unverletzte Opfer, eventuell auch für Augen- set) und einen Platz für den Hotline-Leiter ausgelegt.
zeugen (LAVI); eine Betreuungsstelle für Einsatz- Im Bedarfsfall könnte jedoch an anderer Stelle eine
kräfte, sinnbildlich OASE getauft und letztendlich zusätzliche Hotline eingerichtet werden.
eine telefonische Auskunftsstelle (Hotline). Alle
Unterabschnitte werden von einer S.A.I.-eigenen Die Hotline-Mitarbeiter haben als Auftrag, ausschließ-
Koordinierungsstelle (CIC) geleitet. lich die Anrufe Verwandter und Angehöriger entge-
genzunehmen, diesen von offizieller Seite bewilligte
Die Erkenntnisse der ersten Reallagen haben sehr Informationen mitzuteilen, ihnen Auskunft über den
schnell die Relevanz des Moduls Hotline ergeben. In Verbleib und Zustand der Vermissten zu geben und
unserer Gesellschaft, die immer stärker durch Tele- Informationen über Vermisste zu erfragen. Auch sol-
kommunikations- und Informationstechnik geprägt len sie, so gut es geht, beruhigend auf die Betroffe-
wird, werden Katastrophen im In- und Ausland fast nen einwirken und, wenn der Rahmen es zulässt,
zeitgleich mit dem Ausgangsereignis durch Handy, Betreuungsgespräche führen. Anrufe von Presse oder
Cellule Gouvernementale
de Crise (CGC) 112
Ministère de l’Intériuer
113 / PC Police
– Protection Civile
– Service Incendie
PC # Ministère
– Police Grand-Ducale
et services
– Commissariat de district
Hotline
Public Ministère de la Santé
Public
– Direction de la Santé
Hotline Ministère de l’Etat
Presse
– Secrétariat Général du Conseil
de Gouvernement
– Service Information et Presse
Autres selon la situation
– HCPN
– Procureur d’Etat
Presse – Ministère de la Famille
– Ministère des Affaires Etrangères
– Ministère de l’Environnement
– Ponts et Chaussées S.A.I.
– Ministère du Transport Centre d’Information et de
– .................................. Coordination (CIC)
57
– DSM
– SI PCO Police
– PC
– POLICE
– .............
anderer offizieller Organe (Botschaften, Ämter) wer- plans, das „Füttern“ der Hotline-Mitarbeiter mit neu-
den umgehend an die verantwortlichen Stellen wei- esten Informationsständen und das sich Kümmern
tergeleitet. um besondere Fragen. Er soll zudem ein Augenmerk
auf das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter haben und
Der Hotline steht ein Leiter vor. Zu seinem Aufgaben- Auszeiten organisieren.
bereich gehört die technische und organisatorische
Inbetriebnahme der Hotline, der Informationsaus- Sämtliche Mitarbeiter der Hotline sind Ehrenamtler,
tausch mit den anderen Unterabschnitten des Notfall- die dem Groupe de Support Psychologique angehö-
ren und sich vorrangig für den Dienst am Telefon Weitergeben von Daten können dank dieser Soft-
gemeldet haben. Die Basisschulung für den Hotline- ware, welche das Eingeben und Abfragen von Daten
dienst erstreckt sich über zwei Abende und umfasst von verschiedenen Einsatzkräften an unterschied
Themen wie Organisation und Zweck der Auskunfts- lichen Orten ermöglicht, gemindert werden.
stelle, Gesprächsverhalten mit Betroffenen, Kommu-
nikation und Argumentation am Telefon sowie Ende 2012 plant das luxemburgische Innenministe-
Benutzen der PC-Software, der Formulare, des Tele- rium die aktuellste Version der Software GSL.net zu
fons und Headsets. beziehen und in einem ersten Schritt werden Polizei
und die ASS das Programm als Informationssystem in
Wichtig für das Training sind auch Übungen in regel- Großschadenslagen nutzen, weitere Verwaltungen
mäßigen Abständen. So wird wenigstens einmal im und Einsatzkräfte können nachträglich eingegliedert
Jahr an einer größeren Übung teilgenommen, wo die werden.
Hotline-Mitarbeiter simulierte Telefongespräche von
Betroffenen entgegennehmen oder wenigstens die Das Callcenter-Modul von GSL.net bietet zudem
Eingabe von Informationen am PC trainieren. Dieses schätzenswerte Merkmale: eine flexible Struktur, wel-
soll den Mitarbeitern ermöglichen, angelernte Hand- che auch den Aufbau von weiteren Callcenter-
lungsweisen welche über einen längeren Zeitraum Arbeitsplätzen an anderer Stelle zulässt, das Abfragen
nicht verwendet wurden, aufrechtzuerhalten. Auf- von Informationen in mehreren Sprachen und das
grund zeitlicher und personeller Beschränkungen Erkennen und Bearbeiten von Mehrfachanrufern
sind intensivere Schulungen sowie Weiterbildung nur durch unterschiedliche Mitarbeiter.
sporadisch möglich.
Ausblick
Mehrsprachigkeit ist in Luxemburg ein besonders
58 Thema, da mittlerweile mehr als 43 Prozent der Mit- Das Wegfallen der Grenzen in Europa, die stetige
bürger ausländischer Abstammung sind. Entspre- Zunahme des Transits von Güterverkehr und Massen-
chend der Einsatzlage wird versucht, die Hotline ent- tourismus sowie die zunehmende grenzüberschrei-
sprechend mit Personal zu bestücken, welches die tende Mobilität von Arbeitnehmern machen sich in
geforderten Fremdsprachen beherrscht. In besonde- einem kleinen Land wie Luxemburg besonders
ren Fällen würde sogar mit Übersetzern zusammen- bemerkbar. Schon alleine die Tatsache, dass tagtäglich
gearbeitet werden. über 120.000 Einwohner der Großregion nach Luxem-
burg zur Arbeit pendeln (44% aller Arbeitnehmer in
Wichtigkeit einer integrierten Datenbank Luxemburg), verpflichtet, dass wir überregional den-
ken müssen. In diesem Sinne ist es erfreulich, dass das
Eine effiziente und gut durchdachte Hotline ist ohne Saarland und Rheinland-Pfalz ebenfalls GSL.net als
entsprechende informatische Datenbank undenkbar. Informationssystem in Großschadenslagen benutzen.
Erfahrungswerte aus Hotline-Übungen und Realla- In Zukunft sollten durch gemeinsame Übungen noch
gen haben ergeben, dass Einsätze mit mehr als 20 nicht identifizierte Schwachstellen in der Kommunika-
Vermissten und Einsätze, die sich über mehrere Tage tion erkannt und behoben werden können.
erstrecken, nur unzulänglich mit Stift und Papier zu
meistern sind. Diese Hotline-Datenbank wiederum Unsere Erfahrungen aus Übungen und Reallagen
muss mit dem globalen Informationssystem bei Groß- haben erbracht, dass sich die Kooperation bei Groß-
schadenslagen verknüpft sein, um eine optimale schadenslagen zwischen Nachbarländern kompliziert
Informationsgewinnung zu ermöglichen. gestaltet, insbesondere im Bereich Kommunikation
und Datenübermittlung. In diesem Sinne wäre eine
Luxemburg hat sich früh für die Benutzung der von Harmonisierung der Informationssysteme auf euro-
der Polizei aus Nordrhein-Westfalen entwickelten päischer Ebene erstrebenswert.
Software GSL.net interessiert, da diese den luxembur-
gischen Bedürfnissen am nächsten kommt. Problem- Marc Stein
bereiche wie ungenügender Informationsaustausch Diplom-Psychologe
zwischen Einsatzkräften, redundante Datenerfas- Leiter des psychologischen Dienstes der Großherzog-
sung, lange Informationswege, Fehlerquellen beim lichen Polizei Luxemburg
Hotlineangebote –
bewährte Praxis und aktuelle Konzepte
Gerhard Häusler
GAST/EPIC (GAST = Gemeinsame Auskunftsstelle; GAST/EPIC ist ca. 30 bis 45 Minuten nach Bekannt-
EPIC = Emergency Procedures Information Centre) werden des Schadensfalles voll betriebsbereit. Die
ist eine Einrichtung der Bayerischen Polizei zur Telefonnummer für die Bevölkerung wird also bereits
Bewältigung von „Großen Schadenslagen“ (GSL) und zu einem sehr frühen Zeitpunkt über Rundfunk und
eine zentrale Auskunfts- und Vermisstenstelle unter Fernsehen bekannt gegeben, die Flut von Anrufen
einer einheitlichen Telefonnummer. Sie sammelt und wird auf uns kanalisiert. Somit werden andere Stellen
kontrolliert alle Informationen im Zusammenhang erheblich entlastet. Aus eigenen Erfahrungen und
mit Personen, die in einen Unglücksfall verwickelt solcher anderer vergleichbarer ausländischer Einrich-
sind und bietet den nächsten Angehörigen und tungen ist bekannt, dass bereits in diesem Stadium
Behörden sachbezogene Informationen und Unter- (noch ohne konkrete Opferliste) schon sehr viele 59
stützung. GAST/EPIC hat ihren Sitz am Flughafen Anrufer beruhigt werden können, wenn ihnen soge-
München im Gebäude der Polizeiinspektion Flug nannte Basisinformationen (Unglücksort, -zeit, betei-
hafen München. ligtes Transportunternehmen, Flugnummer etc.) zum
Unglück genannt werden.
Die Komplexität der Maßnahmen, die einer Groß-
schadenslage (GSL) folgen und das weltweite Inter- Aufteilung innerhalb von GAST/EPIC:
esse, das dadurch hervorgerufen wird, bedingt die
Notwendigkeit einer voll funktionsfähigen Einrich- Insgesamt 27 Arbeitsplätze stehen für die Entgegen-
tung. GAST/EPIC wurde gegründet, um diesen Erfor- nahme der Anrufe von Angehörigen und Hilfe
dernissen zu entsprechen und kann die Aufgaben suchenden zur Verfügung. Die Daten der Anrufer
des Untereinsatzabschnitts (UA) „Auskunfts- und Ver- und der gesuchten Personen werden mittels der Soft-
misstenstelle“ der Soko GSL je nach Bedarf ganz oder ware GSLweb in eine Datenbank eingestellt. Sofern
teilweise übernehmen. Eine größere Schadenslage bei uns bereits eine Passagier- oder in anderen Fällen
liegt vor, wenn das Leben, die körperliche Unver- eine Opferliste vorliegt, können wir sofort feststellen,
sehrtheit zahlreicher Personen gefährdet oder geschä- ob es sich um einen „positiven“ (Informationen zur
digt wurde, insbesondere bei Unglücksfällen beson- gesuchten Person vorhanden) oder „negativen“ Anruf
ders schwerer Art. Durch die ersten Meldungen, die (keine Informationen zur gesuchten Person vorhan-
meistens nur sehr spärliche Informationen enthalten, den) handelt. Alle gesuchten Personen, über die
entsteht bei vielen Menschen, die einen Angehörigen nichts bekannt ist, werden automatisch als Vermisste
oder guten Freund betroffen glauben, eine große gespeichert. Das Schicksal dieser Personen muss
Verunsicherung und ein erhebliches Informations durch weitere Ermittlungen geklärt werden.
bedürfnis. Nachfolgende Beispiele geben dies ein-
drucksvoll wieder: Im Supportbereich befinden sich insgesamt acht
• Absturz der Swissair MD 11 vor Halifax im Jahr Arbeitsplätze für die Programmbetreuer und Mit
1998: 52.000 Anrufe arbeiter aus dem psychologisch/kirchlichen Bereich.
• Bombenanschläge in London im Jahr 2005: Sollte es erforderlich werden, dass bestimmte Anru-
108.000 Anrufe fer verstärkt psychologisch betreut werden müssen,
so stehen hier entsprechend qualifizierte Mitarbeiter des Cute-Terminals kann der Vertreter der Fluggesell-
für erste Maßnahmen bereit. Die Mehrzahl der schaft firmenintern mit seinem Notfallmanagement
Arbeitsplätze an diesen Tischen ist jedoch für Mitar- sowie mit allen anderen Stationen seiner Firma welt-
beiter mit Fremdsprachenkenntnissen vorgesehen. weit kommunizieren und notwendige Daten austau-
Die Programmbetreuer ergänzen die Opferlisten, schen. Ein weiterer Arbeitsplatz ist für einen Verbin-
kontrollieren den Druckserver und versorgen die dungsmann von der Flughafen München GmbH
Kräfte bei der Anrufannahme ständig mit Einsatzin- (FMG) reserviert. Durch ihn steht uns die FMG mit
formationen. Weiter erstellen sie Listen nach den ihrer Logistik unmittelbar zur Verfügung. Faxgeräte
jeweiligen Bedürfnissen des Anfordernden. für die verschiedenen Arbeitsbereiche, E-mail- und
Internetanschluss vervollständigen die Ausstattung.
Für die kriminalpolizeilichen Sachbearbeiter sind an
zwei weiteren Tischen acht Arbeitsplätze vorhanden. Das Personal
Hier laufen alle Informationen bezüglich der Opfer
und deren Angehöriger zusammen: Bei der Polizeiinspektion Flughafen wurden bisher
• Ergebnisse aus den eingegangenen Anrufen 180 Mitarbeiter, die größtenteils im Schichtdienst tätig
• Ermittlungsergebnisse von der Unfallstelle sind, in die Arbeit in GAST/EPIC eingewiesen. Dies
• Mitteilungen von Rettungsleitstellen oder ist der Grund, warum wir innerhalb 30 bis 45 Minu-
Krankenhäusern ten in Betrieb gehen können. In der Praxis bedeutet
• Ergebnisse der Abholer- oder Angehörigen dies, dass wir kurz nach dem Bekanntwerden eines
befragung Ereignisses über den Rundfunk bereits unsere Num-
• Ergebnisse der Identifizierungsgruppe mer anbieten können. Zusätzlich zu unseren 180 Mit-
• Hinweise von der einsatzführenden oder anderen arbeitern haben wir bisher 185 Freiwillige von über
Polizeidienststellen 40 Unternehmen für die Tätigkeit bei der Anruferfas-
60 sung ausgebildet. Der große Vorteil besteht neben
Für den Fall eines Luftfahrtunfalles ist für den Vertre- der Quantität in der Qualität dieser Personengruppe.
ter der betroffenen Fluggesellschaft ein Arbeitsplatz Berufsbedingt verfügen die „Airliner“ über breit gefä-
mit einem Cute-Terminal (Common User Terminal) cherte Fremdsprachenkenntnisse. Bisher decken wir
und einem DSL-Internet-Rechner vorbereitet. Mittels so über 20 Fremdsprachen ab.
Airline-Bereich 27 Arbeitsplätze
Support-Bereich
Anrufentgegennahme
Mitgliederwand
Soko GSL
UA Auskunfts- und
Vermisstenstelle
Kopierer Leinwand
Monitor Monitor
Lager
SOKO SOKO
Internet
Andreas Dannebaum
Die Bewältigung größerer Schadenslagen und Kata (direkt bei der Aufnahme). Derzeit sind 20 Kran-
strophen stellt an die Gefahrenabwehrbehörden kenhäuser unmittelbar mit der Polizei verbunden.
sowie die jeweils beteiligten Organisationen immer Kliniken die nicht an das IT-System BEPAS ange-
wieder hohe Anforderungen. Dabei hat sich im Laufe schlossen sind, übersenden die Daten der eingelie-
der Zeit herauskristallisiert, dass nicht nur die unmit- ferten Personen per Fax/E-Mail an die jeweiligen
telbare Schadensbekämpfung und Menschenrettung örtlichen Lagedienste der Polizei. Ergänzend sei
von Bedeutung sind, sondern auch die Betreuung angemerkt, dass neben einem (zentralen) Lagezen-
und Versorgung nicht direkt betroffener Personen, trum Berlin sechs weitere Lagedienste in den ört
also den Angehörigen und Freunden der Schadens- lichen Polizeidirektionen für die Kräfte- und Auf-
opfer. tragssteuerung existieren.
Nach einem Schadenseintritt entsteht, verstärkt durch Dass sich die Polizei dieses Themenfeldes annahm
die Berichterstattung der Medien, bei diesem Perso- lag nicht zuletzt daran, dass bei einer größeren Scha-
nenkreis das Verlangen, gesicherte Erkenntnisse über denslage regelmäßig von einer hohen Anzahl ver-
den Verbleib ihrer nahen Angehörigen erlangen zu misster oder getöteter Personen auszugehen ist, die
wollen. In vielen Fällen werden dabei die Notrufe zwangsläufig zur Einleitung entsprechender Ermitt-
von Polizei und Feuerwehr als erste „Ansprechpart- lungsverfahren mit Datenerhebungen durch die
ner“ genutzt, die jedoch sehr schnell überlastet sind zuständigen Kriminalpolizeidienststellen führen. Das 63
und als reine Einsatzleitstellen regelmäßig nicht über im Jahr 1999 verkündete Katastrophenschutzgesetz
die notwendigen Informationen verfügen. Resultie- für Berlin, indem explizit die Polizei als Kata
rend aus den Erfahrungen eingetretener Schadensla- strophenschutz behörde mit der Einrichtung einer
gen in Berlin Ende der achtziger Jahre, bei denen Personenauskunftsstelle (PASt) beauftragt wurde,
jeweils eine zentrale Auskunftsstelle bei der Polizei trug diesem Umstand ebenfalls Rechnung.
eingerichtet wurde und deren Aussagekraft im
wesentlichen auf einer klassischen Karteikartenfüh- Bei der Umsetzung des Gedankens zur Schaffung
rung beruhte, wurden erste Überlegungen für eine eines IT-Systems wurde sehr schnell deutlich, dass
IT-gestützte Auskunftserteilung angestellt. Grundge- eine bürgerorientierte Auskunftserteilung nur durch
danke war hierbei, dass das bis zu diesem Zeitpunkt die Integration aller an der Schadensbewältigung
und auch heute noch praktizierte Registrierungsver- beteiligten Behörden, Organisationen und Einrich-
fahren beibehalten wird. tungen gewährleistet werden kann. So schied von
Beginn an eine rein polizeiinterne Anwendung, in
Dies bedeutet für unsere Behörde konkret: der nur die Polizei Daten einstellt, aus. Darüber hin-
• Nutzung der „Anhängekarte für Verletzte“ des DRK aus war und ist es aus unserer Sicht unzweckmäßig
durch den Rettungs- und Sanitätsdienst, ein Exem- auf die Zulieferung von Daten vom Schadensort
plar dieses Durchschreibesatzes erhält die Polizei (Behandlungsplatz) zu warten. Vielmehr sollte der
am Schadensort. Dort steht ein Registrierungsteam neue IT-Verbund auch eine Eingabemöglichkeit von
der Polizei für die Eingabe in das IT-System BEPAS Opferdaten direkt am Schadensort ermöglichen. Zu
bereit und übersendet die Informationen per diesem Zweck wurde nach zahlreichen Testläufen
Mobilfunkanbindung direkt an die Personenaus- Mitte der 90er Jahre das Berliner Personenauskunfts-
kunftsstelle (PASt) stellen Informationssystem (BEPAS) aus der Taufe
• Bei Schadensopfern, die unmittelbar in ein Kran- gehoben. Dieses System ermöglicht derzeit die
kenhaus eingeliefert werden, verbleibt das Exemp- dezentrale Eingabe, Bearbeitung und Abfrage von
lar, das für die Polizei bestimmt ist, bei der Person. Angehörigen-, Vermissten-, Getöteten- oder Evaku-
Die Eingabe der personenbezogenen Daten in das iertendaten durch verschiedene Dienstbereiche der
IT-System BEPAS erfolgt durch die jeweilige Klinik Polizei, der Senatsverwaltung für Gesundheit sowie
ausgewählter Krankenhäuser. Die Zugriffsrechte auf • je ein Arbeitsplatzrechner in den sechs Lagediens-
die Datensätze wurden dabei unter Berücksichtigung ten der örtlichen Polizeidirektionen
der tatsächlichen Erfordernisse und der Belange des • 150 Arbeitsplatzrechner bei der Vermisstenstelle im
Datenschutzes vergeben. Hierbei gilt der Grundsatz, Landeskriminalamt (LKA)
nur derjenige kann die Daten einsehen und bearbei- • zwei Mobilrechner beim LKA für die Eingabe von
ten, der sie auch unabdingbar für seine Aufgabener- Streugut am Schadensort und für die Erfassung
füllung benötigt. Bestimmte Dienstbereiche, wie zum pathologischer Angaben
Beispiel die Vermisstenstelle des Landeskriminalam- • ein Mobilrechner bei der Opfer- und Angehörigen-
tes besitzen uneingeschränkte Zugriffsmöglichkeit, betreuung der Polizei (Zentrale Serviceeinheit,
da unter anderem durch eine integrierte Recherche- Referatsgruppe „Verhaltensorientiertes Training“)
möglichkeit im System sehr schnell unbekannte • acht Arbeitsplatzrechner bei der Senatsverwaltung
Opfer – im Abgleich mit den aufgenommenen Ver- für Gesundheit (Krisen-/Arbeitsstab) für das dor-
misstenmeldungen – identifiziert werden können. tige „Bürgertelefon“ (Anfragen/Hilfeleistungsange-
bote von Bürgern mit sozialem Charakter)
Technische Kernbestandteile des BEPAS sind derzeit: • je ein Arbeitsplatzrechner in 20 zurzeit ausgewähl-
• ein zentraler Server im 24 Stunden Dauerbetrieb, ten Krankenhäusern (dortige Rettungsstellen). Die
betreut durch die Zentrale Serviceeinheit (ZSE) der Auswahl der Krankenhäuser erfolgt in Absprache
Berliner Polizei mit der zuständigen Senatsverwaltung.
• zwölf Auskunftsplätze beim Stab des Polizeipräsi-
denten (PPr St) inklusive einer Möglichkeit zur Der Zugang der Polizei und anderer Behörden zum
Hinweisweitergabe an das LKA (zum Beispiel sach- Zentralserver erfolgt über landeseigene Datenleitun-
dienliche Hinweise/Beobachtungen von Zeugen) gen beziehungsweise für externe Einrichtungen/
• sechs Mobilrechner (Laptops) in den örtlichen Organisationen über den Aufbau einer DFÜ (ISDN-
64 Polizei
direktionen für die Opferregistrierung am Leitungen). Die Mobilrechner der Polizei übertragen
Schadensort sowie zwei Reservegeräte beim PPr St ihre Daten per UMTS-Verbindung.
Thomas Roosen
Die schrecklichen Bilder der Loveparade am 24. Juli orhersehen, welche Brisanz in der Realisierung
v
2010 in Duisburg mit 21 Toten und 541 Verletzten stecken würde.
brennen sich förmlich in das Gedächtnis der Öffent-
lichkeit ein. Katastrophen und Großschadenslagen Seit dieser Zeit hat eine Vielzahl an Großschadensla-
sind erschütternde Ereignisse, für die Helfer vor Ort gen im nationalen wie im internationalen Bereich –
gehören sie zu den größten Herausforderungen. an der Spitze der Anschlag der Al-Kaida am 11. Sep-
tember 2001 auf das World Trade Center in New York
Entscheidend für den Einsatz ist das Zusammenspiel und die Loveparade in Duisburg am 24. Juli 2010 –
von Polizei, Feuerwehr und anderen Hilfs- und Ret- die Bevölkerung erschüttert und Polizei, Rettungs-
tungskräften. Der reibungslose und rasche Ablauf der dienste und den Katastrophenschutz vor eine schwie-
Hilfs- und Ermittlungsmaßnahmen fordert von den rige Aufgabenbewältigung gestellt.
Verantwortlichen einen kühlen Kopf und schnelle
Entscheidungen. Damit die Organisation planvoll Wie alleine diese beiden Beispiele zeigen, war es
66 und strukturiert umgesetzt werden kann, bedarf es notwendig, eine Software zu entwickeln, um unab-
neben ausgefeilten Einsatzplänen auch solcher IT- hängig von der Ursache einer größeren Schadenslage
Tools wie GSL.net, die wichtige Informationen des mit einem großen Maß an Flexibilität die strukturierte
Geschehens bündeln und allen beteiligten Basisorga- Abarbeitung zu ermöglichen – von der Personenaus-
nisationseinheiten aufbereitet zur Verfügung stellen. kunftsstelle bis zur Beweissicherung.
Die Ursachen für diese Defizite waren vielfältig, Die Rettungskräfte der Feuerwehren sind immer
jedoch wurden immer wieder bemängelt: zuerst am Schadensort tätig und retten und bergen
die Verletzten, die über die Verletztenanhängekarte
• die fehlende zeitnahe Informationsaufnahme und registriert und in Krankenhäuser transportiert wer-
-weitergabe, den. Alleine die von den Rettungsdiensten ins System
• zu lange Informationswege und GSL.net eingegebenen Informationen darüber, wie
• redundante Erfassungen. stark jemand verletzt wurde und in welches Kran-
kenhaus er eingeliefert wurde, bieten den Rettungs-
Die Arbeitsgruppe hat diese Defizite eingehend diensten einen Überblick über deren Tätigkeiten und
beleuchtet und in einem ausführlichen Fachkonzept der Polizei die Möglichkeit, ihre Kräfte zunächst
dargelegt, wie die fachliche Umsetzung einer solchen gezielt in die Krankenhäuser zu entsenden, in denen
IT-Unterstützung aussehen könnte. Im Januar 2004 Leichtverletzte eingeliefert wurden, die ad hoc ver-
wurde die Version 1 von GSL.net fertiggestellt und nommen werden könnten. Auf diese Weise werden
nach mehreren Tests für den Echtbetrieb bei Polizei, wichtige Informationen zur Schadenslage bereits
Rettungsdiensten und Katastrophenschutz freigege- sehr zeitnah gewonnen. Die Kommunen wiederum
ben. haben in NRW nach § 31 FSHG (Feuerschutz- und
Hilfeleistungsgesetz) die Aufgabe, eine Personenaus-
GSL.net geht jedoch als IT-Unterstützung über die kunftsstelle zu betreiben. Ein entsprechendes Modul
Bewältigung von Großschadenslagen hinaus und ist ist in GSL.net integriert, sodass durch eine gemein-
so konzipiert, dass es auch bei Massenveranstaltun- same Programmnutzung sämtliche Hinweise und
gen zum Einsatz kommen kann. Das Konzept der Nachfragen aus der Bevölkerung sofort der Polizei
IT-Anwendung GSL.net berücksichtigt die heteroge- zur weiteren Bearbeitung zur Verfügung stehen und
nen Zuständigkeitsstrukturen bei Großschadenslagen auf der anderen Seite die Personenauskunftsstellen
und gewährleistet die bestmögliche Zusammenarbeit alle gesicherten Informationen zu Verletzten oder
aller zuständigen Basisorganisationseinheiten. anderweitig betroffenen Personen direkt an die
Der Wegfall spezieller Anforderungen an die Hardware ermöglicht hohe Verfügbarkeit und Ausfallsicherheit im Einsatz.
68 (Bild: Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste NRW, Frank Reimann)
besorgten Anrufer weitergeben können. Allen betei- um Auskünfte über alle Personen geben zu können,
ligten Organisationseinheiten steht eine immer aktu- die bei den verschiedenen Veranstaltungen erfasst
elle Statistik bzgl. der Opferzahlen zur Verfügung, wurden.
sodass im Umgang mit den Medien immer identi-
sches und gesichertes Zahlenmaterial weitergegeben Technische Entwicklung
werden kann.
Technisch gesehen handelt es sich bei dem Pro-
So arbeiten alle bei Großschadenslagen zuständigen gramm um eine Web-Anwendung, die browserunab-
Organisationen im Rahmen ihrer individuellen hängig über die verschiedenen Netze mit den ent-
Zuständigkeit mit demselben Programm GSL.net und sprechenden Berechtigungen in einer Einsatzlage
auf derselben Datenbasis. Jeder trägt dazu bei, dass aufzurufen ist. Das bedeutet, dass zum Beispiel alle
sehr zeitnah wichtige Informationen gesammelt, aus- Polizeibeschäftigten sowohl aus dem Polizeinetz her-
gewertet und – auch im Falle der Personenauskunfts- aus wie auch direkt von der Einsatzstelle über das
stellen – weitergegeben werden können. Natürlich Internet das Programm nutzen können.
bietet das Programm keine freie Datensicht auf alle
erhobenen Daten für jede Organisation. Hier wurde Es sind ganz bewusst keine speziellen Voraussetzun-
ein streng hierarchisches Rechtekonzept entwickelt, gen an einen PC gestellt worden, um das Programm
das auf die jeweilige individuelle Rolle und damit der nutzen zu können. Dieses ist vor dem Hintergrund
Zuständigkeit referenziert. von Bedeutung, dass im Falle einer Großschadens-
lage sehr viele Personen eingesetzt werden können,
So wurde zum Beispiel für die Fußball-WM 2006 in also eine hohe Verfügbarkeit des Programms bei
NRW neben mehreren örtlichen auch eine Zentrale maximaler Ausfallsicherheit garantiert sein muss.
Personenauskunftsstelle eingerichtet. In allen Aus-
kunftsstellen konnte bei Lagen mit WM-Bezug auf Für GSL.net wurde mit der abgesicherten Internetver-
denselben Datenbestand zurückgegriffen werden, bindung erstmals im Polizeiumfeld ein Programmzu-
Die modulare Gestaltung ermöglicht einen schnellen Abgleich der Daten, zum Beispiel bei einer Suchanfrage durch
einen Angehörigen. (Bild: Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste NRW, Frank Reimann) 69
gang über das World Wide Web ermöglicht. Somit ist Großschadenslage bei einer Personenauskunftsstelle
die Programmnutzung sowohl über das Intra- wie an und fragen, ob ein Angehöriger betroffen ist. Nach
auch über das Internet möglich. dem Eingang einer solchen Meldung warten die
Angehörigen zu Hause oder direkt am Schadensort
Da die Erfahrung gelehrt hat, dass eine Netzverbin- auf eine Antwort der Behörden. Diese konnte aber
dung – welcher Art auch immer – im Falle von Groß- bislang nicht zeitnah erfolgen, obwohl die erforderli-
schadenslagen oft schwierig ist, wurden die Erfas- chen Informationen durch die Behörden oder Hilfs-
sungsvordrucke für die Offline-Nutzung so konzipiert, organisationen in der Regel irgendwo bereits erho-
dass die Daten bei Konnektivität automatisiert in die ben wurden. Warum war das so?
GSL-Datenbank übernommen werden können. Das
Prinzip der Einmalerfassung und Mehrfachnutzung Bislang standen diese Informationen nicht zentral zur
wurde konsequent umgesetzt. Verfügung, sondern wurden dezentral, dafür aber
häufig redundant, erhoben und konnten nicht zeit-
Programmaufbau nah abgeglichen werden. Dieses hat sich durch die
gemeinsame Nutzung der Anwendung GSL.net
Das Programm ist modular aufgebaut und besteht grundlegend geändert, da alle in das System eingege-
neben den Modulen der polizeilichen Sachbearbei- benen Informationen sofort allen beteiligten Pro-
tung, die sich aus der Besonderen Aufbauorganisa- grammnutzern im Rahmen der zugeteilten Rechte zur
tions-Struktur (BAO-Struktur) bei Großschadens Verfügung stehen.
lagen ergeben, zum Beispiel auch aus einem
Programmmodul „Personenauskunftsstelle“, welches Nunmehr ist es völlig unproblematisch, alle Anrufe
den zentralen Knotenpunkt für die zu erwartenden zu einer vermissten Person, die in einer Personen-
Anrufe verunsicherter Angehöriger auf der einen wie auskunftsstelle eingehen, mit Personendaten von
auch für die polizeiliche Hinweisaufnahme auf der zum Beispiel Verletzten oder aber auszuschließenden
anderen Seite darstellt. Oft rufen Personen nach einer Personen zusammenzuführen und den Anrufer sehr
zeitnah, vielleicht sogar direkt, zu informieren. Das Das Programm wird stetig weiterentwickelt, um die
lange Warten auf die – hoffentlich – erlösende Aus- Bedürfnisse aller beteiligten Organisationen zu
kunft wird somit deutlich verringert, ein störender implementieren. Exemplarisch seien hier die Nut-
„Katastrophentourismus“ minimiert. zung der Ante- und Post-Mortem-Vordrucke von
Interpol genannt, die nun auch die internationale
Die Erfahrungen bei der Loveparade 2010 in Duis- Nutzung von GSL.net völlig unabhängig von der
burg haben gezeigt, dass die Vielzahl von Anrufen Sprache ermöglichen, da diese Vordrucke immer
nicht zeitnah angenommen werden konnten, da die gleich aussehen und zu befüllen sind. Mit einem
Personenauskunftsstellen trotz der Nutzung der Import in GSL.net werden diese Daten so automa-
Rückfallebenen in NRW überlastet waren. Das wird tisch an der richtigen Stelle in der Datenbank abge-
in der Zukunft so nicht mehr geschehen, da die loka- legt und stehen in der Landessprache für die weitere
len Personenauskunftsstellen nun auf die Unterstüt- Bearbeitung zur Verfügung.
zung aller Bundesländer zurückgreifen können und
damit deutlich mehr Anrufe parallel entgegengenom- Vor diesem Hintergrund wird aktuell mit Luxemburg
men werden können. über die Nutzung von GSL.net verhandelt. Die inter-
nationale Nutzung einer abgestimmten Software mit
Gewinnen von aktuellen Führungsinformationen internationalen Standards im Grenzgebiet ist auch
sehr zu begrüßen.
Der weitere Vorteil des Programms liegt bei der
Gewinnung von Führungsinformationen, die in Echt- Es bleibt als Fazit festzustellen, dass die gesamte Pro-
zeit aus den im Programm eingegebenen Daten für grammentwicklung bei allen Beteiligten immer von
alle beteiligten Organisationseinheiten generiert wer- zwei Wünschen begleitet wird: Zum einen wünschen
den. Diese Informationen können zum einen als Sta- wir uns, ein komplexes gut funktionierendes Pro-
70 tistik in abstrakter Form erhoben werden, stehen gramm zu realisieren, zum anderen ist natürlich der
aber auch detailliert zur Verfügung. Wunsch noch größer, dass dieses Programm mög-
lichst nicht eingesetzt werden muss.
Fazit und Ausblick
Thomas Roosen
Die gemeinsame Nutzung von GSL.net durch Polizei, Polizeidirektor
Rettungsdienste und Personenauskunftsstellen hat Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste
sich bewährt, was sich letztendlich in der Nutzung Nordrhein-Westfalen
durch nahezu alle Bundesländer auch zeigt.
Die Krisenhotline des Auswärtigen Amtes
„Guten Tag, Sie sind mit der Krisenhotline des Aus- Unterstützung bei der Ausreise oder gegebenenfalls
wärtigen Amtes verbunden, mein Name ist …, was die Vorbereitung/Durchführung von Evakuierungs-
kann ich für Sie tun?“ Diese Begrüßung hören Bür- maßnahmen erforderlich machen können.
gerinnen und Bürger, die sich im Falle einer interna-
tionalen Großschadenslage an das Auswärtige Amt Für das Krisenmanagement der Bundesregierung
wenden, zum Beispiel 2011 im Rahmen der politi- sind die weltweiten Verbindungen des Auswärtigen
schen Unruhen in Ägypten, als über zwölf Tage in Amtes und das enge Netz der Auslandsvertretungen
insgesamt 96 Schichten zahlreiche Freiwillige im besonders wertvoll, um jederzeit eine direkte Kon-
Telefonpool die Fragen der besorgten Anrufer beant- taktaufnahme mit der betroffenen Region zu ermög-
worteten. lichen und über dort vorhandene Kontakte deutsche
Interessen vor Ort rasch und effektiv zu vertreten. Im
Die Krisenhotline ist ein wichtiger Baustein des zivi- Krisenstab beraten die betroffenen Arbeitseinheiten
len Krisenmanagements, dessen Zuständigkeit im des Auswärtigen Amtes und der übrigen zuständigen
Falle von Auslands-Ereignissen beim Auswärtigen Ressorts und Behörden gemeinsam über zu ergrei-
Amt liegt und hier im Krisenreaktionszentrum fende Maßnahmen. Verbindungsbeamte anderer
(KRZ) angesiedelt ist. Das Spektrum reicht von tech- Behörden haben ihren ständigen Arbeitsplatz im Kri-
nischen Unglücksfällen, zum Beispiel einem Flug- senreaktionszentrum und garantieren so den konti-
zeugabsturz, oder terroristischen Anschlägen über nuierlichen Informationsfluss. Das Krisenreaktions- 71
Naturkatastrophen wie Erdbeben/Vulkanausbrüche zentrum ist rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr
bis hin zu politischen Krisen, die deutsche Staats erreichbar.
bürger in Gefahr bringen und die eine Hilfeleistung,
Wertvolle Ressource der Informationsvernetzung beim Krisenfall im Ausland: Das Krisenreaktionszentrum im Auswärtigen Amt.
(Bild: photothek Auswärtiges Amt)
Werden im Krisenfall besonders viele Anrufe erwar- wärtigen Amtes), enthalten fortlaufend aktualisierte
tet, kann ein Telefonpool mit bis zu 60 Plätzen ein- Informationsblätter für die Telefonisten Hinweise,
gerichtet werden, der entweder über die Telefonzen- wohin beziehungsweise an wen die Anrufer weiter-
trale des Auswärtigen Amtes oder bei Bedarf über verwiesen werden können. Üblicherweise schauen
zwei Hotline-Nummern direkt erreichbar ist. Für die die Freiwilligen zu Beginn ihrer Schicht ihrem Vor-
Einrichtung dieses Telefonpools stehen dem Auswär- gänger bei ein bis zwei Telefonaten über die Schul-
tigen Amt ca. 150 freiwillige Mitarbeiterinnen und ter, um ihre Schulungsinhalte nochmals am konkre-
Mitarbeiter in der Zentrale zur Verfügung, die im ten Beispiel aufzufrischen und mit zu überlegen, wie
Bedarfsfall per Massen-SMS vom Lagezentrum sie reagieren würden, ohne schon sofort reagieren zu
benachrichtigt werden. Die Entscheidung über die müssen.
Aktivierung des Telefonpools trifft das Krisenreakti-
onszentrum gemeinsam mit dem für die konsulari- Die Freiwilligen erfassen die Vermissten mit Hilfe
sche Hilfe im Ausland zuständigen Referat, unter einer speziell entwickelten Krisys-Software, die
anderem anhand der Zahl der vom Unglück betroffe- weltweit von allen Auslandsvertretungen verwendet
nen Deutschen im jeweiligen Land und der daraus wird, jederzeit einen Zugriff auf die aktuellen Ver-
folgenden Einschätzung der Zahl potenzieller Anru- missten-Listen möglich macht und welche auch dem
fer. Wenn das Anruferaufkommen steigt, stellt das Bundeskriminalamt zugänglich gemacht wird. Krisys
Krisenreaktionszentrum zunächst eine Erstbesetzung ist webbasiert und kann damit von jedem durch das
der Telefone sicher, notfalls in der Nacht durch in Krisenreaktionszentrum für das Krisenereignis freige-
Teleheimarbeit beschäftigte Angehörige des Krisen- schalteten Anwender, der Zugang zum Intranet des
reaktionszentrums, alarmiert die Mitglieder im Tele- Auswärtigen Amtes hat, aufgerufen werden.
fonpool und erstellt sofort einen Schichtplan für den
Einsatz. Die öffentliche Bekanntgabe einer Hotline Die Telefon-Software verfügt über eine automatische
72 erfolgt erst, wenn ausreichend Plätze im Telefonpool Ansage der Position in der Warteschlange und eine
besetzt sind. Die Einsatzzeiten am Telefon sind wäh- statistische Erfassung der Anrufer. Die Aufnahme von
rend der normalen Arbeitszeiten nicht länger als ca. Daten in Krisys ist so strukturiert, dass als erstes die
zwei Stunden pro Schicht, nachts und am Wochen- Daten des Anrufers erfasst werden und erst dann die
ende etwas länger. Die Freiwilligen gehen nach der Daten des Vermissten: Dies hat den Hintergrund,
Schicht im Telefonpool wieder an ihren regulären dass für die weitere Bearbeitung der Meldungen ent-
Arbeitsplatz zurück. Häufig melden sie sich bei län- sprechende Ansprechpartner beziehungsweise Kon-
ger andauernden Großkrisen für wiederholte Schich- taktpersonen benötigt werden. Würde man zuerst die
ten an. Die Vorgesetzten sind über die Mitgliedschaft Daten des Vermissten erfassen, besteht die Gefahr,
ihrer Mitarbeiter im Telefonpool informiert. Zur dass man in der Eile vergisst, die Daten des Anrufers
Betreuung der Telefonpool-Freiwilligen nach beson- aufzunehmen. Anschließend werden die für eine
ders belastenden Telefonaten stehen Mitarbeiter der Suche nach dem Vermissten wichtigen Informationen
Psychosozialen Beratungsstelle zur Verfügung. Tele- eingegeben. Neben Daten zu deutschen Staatsange-
fonpool-Schichten außerhalb der regulären Arbeits- hörigen werden auch Angaben zu ausländischen
zeiten werden als Mehrarbeit mit späterem Freizeit- Partnern und Kindern und gegebenenfalls Daten zu
ausgleich angerechnet. EU-Bürgern aufgenommen, deren Heimatstaat im
Krisenland nicht vertreten ist.
Die jeweiligen Freiwilligen werden unmittelbar vor
Ihrem Einsatz im Telefonpool durch einen Mitarbei- Die Telefonpool-Mitarbeiter sind geschult, nicht sofort
ter des Krisenreaktionszentrums in die aktuelle Lage und allzu aufdringlich mit der Datenerfassung über
eingewiesen und können den aktuellen Sachstand die Krisys-Software zu beginnen, sondern den Anru-
auch jederzeit in einem „Krisenpool-Laufwerk“ auf fern etwas Zeit (ca. zwei Minuten) zu geben, ihr Anlie-
Ihrem PC einsehen. gen vorzubringen und dann zu klären, ob bei dem
Anruf ein Bezug zu dem Krisenereignis gegeben ist.
Für alle Anfragen, die im konkreten Fall über die
eigentliche Vermisstenaufnahme hinausgehen könn- Die Schulung der Telefonpool-Freiwilligen, beste-
ten (Reisehinweise, Anschriften, Hotlines, wichtige hend aus Gesprächsführung und Krisensoftware,
Ansprechpartner innerhalb und außerhalb des Aus- erfolgt in verschiedenen Abschnitten durch krisener-
fahrene Mitarbeiter des Lagezentrums und durch Psy- Telefonplatz ebenso aus wie eine Liste mit möglichen
chologen, teilweise unter dem Einsatz von Berufs- Verweis-Gesprächspartnern im Hause, an die im
schauspielern zur Simulation von „schwierigen Bedarfsfall verbunden werden kann. Der Bereich
Anrufern“. In diesem Rahmen erfolgt auch eine Unter- „Selbstfürsorge in stressigen Situationen“ bildet den
richtung zum Umgang mit Pressevertretern, unmittel- Abschluss des Telefonpool-Trainings: Hier werden
baren Unglückszeugen, selbst Betroffenen oder auch die Teilnehmer geschult und ermutigt, auf sich und
mit Bekenneranrufen im Falle von Attentaten. ihre Bedürfnisse gut zu achten, auch und gerade
wenn es „heiß hergeht“ am Telefon.
Besondere Vertiefung erfährt auch der Bereich des
Umgangs mit hoch emotionalen Anrufen: Wie kön- So gut vorbereitet können die Freiwilligen ihrem Ein-
nen Telefonpool-Mitarbeiter am besten auf Beleidi- satz an der Hotline gelassen entgegensehen.
gungen oder Beschimpfungen reagieren oder ver-
zweifelte Angehörige am besten beruhigen? Das Dr. med. Maria Bellinger
Training umfasst direktive und konkrete Gesprächs- Ärztin für Neurologie und Psychiatrie,
techniken ebenso wie umschreibende und auswei- Psychotherapie, Sozialmedizin
chende, die je nach Sachlage gefordert sein können. Leiterin der Psychosozialen Beratungsstelle
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auch auf der höf im Auswärtigen Amt
lichen – aber bestimmten – Beendigung eines
Gesprächs, die gerade in Zeiten starker Nachfrage Almut Henkelmann-Siaw
essentiell für die Funktionsfähigkeit der Hotline ist. Mitarbeiterin im Krisenreaktionszentrum
Ein Handout mit Formulierungshilfen liegt an jedem im Auswärtigen Amt
73
Hotline der Koordinierungsstelle Nachsorge,
Opfer- und Angehörigenhilfe (NOAH) im Bundesamt
für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
Ende 2002 wurde in Zusammenhang mit den Anti-Terror-Maßnahmen der Bundesregierung nach
den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA eine zentrale Stelle zur Koordination der
Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe (NOAH) beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe (BBK) eingerichtet. Das psychosoziale Unterstützungsangebot von NOAH richtet
sich an Bundesbürger, die im Ausland durch Terroranschläge oder schwere Unglücksfälle, Evaku-
ierungen und Geiselnahmen betroffen sind, sowie an deren Angehörige im Inland. Seither bearbei-
tet NOAH jährlich etwa zwanzig Einsätze unterschiedlicher Größenordnung. Sowohl die gesamte
Koordinationstätigkeit als auch die Beratung Betroffener erfolgt über die NOAH-Hotline, die seit
zehn Jahren rund um die Uhr geschaltet ist.
74
2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 gesamt
Terroranschläge* 0 1 4 3 3 4 3 2 1 0 21
Entführungen/
3 0 4 4 4 7 4 2 1 6 35
Geiselnahmen
Evakuierungen/
Ausreiseunter 1 1 0 1 1 2 0 0 2 0 8
stützungen
Naturkatastrophen 0 1 1 0 0 3 2 3 3 4 17
Flugzeugunglücke** 0 0 0 3 2 3 2 3 2 3 18
Busunglücke 5 1 4 2 3 6 6 2 3 5 37
Schiffs- und
0 1 0 2 1 2 3 4 1 7 21
Bootsunglücke
sonstige Unglücke
2 0 4 2 9 7 2 3 1 5 35
im Ausland***
Sondereinsätze**** 0 0 3 3 3 6 1 2 4 3 25
gesamt 11 5 20 20 26 40 23 21 18 33 217
* außerdem Nachbetreuung zu den Terroranschlägen 9/11 (2001), Djerba (2002) und Bali (2002)
** außerdem Nachbetreuung zu den Unglücken Ramstein (1988), Birgen-Air (1996) und Concorde (2000)
*** außerdem Nachbetreuung zu den Unglücken Enschede (2000) und Kaprun (2000)
**** außerdem Nachbetreuung zu dem Unglück Eschede (1998)
vakuierungen /
E
Ausreiseunter-
stützung 4%
chiffs- und
S
Bootsunglücke 10% Naturkatastrophen 8%
78
Amtes ausgesprochen. Darüber hinaus kann eine längerfristigen Einsatzdauer und einem gesteigerten
Unterstützungsanfrage auch über andere Kooperati- ersonalbedarf zu rechnen – erfolgt die Einsatz
P
onspartner, zum Beispiel über involvierte Reiseversi- abarbeitung in einer sogenannten Sonderaufbau
cherer, Fluggesellschaften oder Flughäfen erfolgen. organisation (SAO) (Abb. 9). Dann werden lage- und
In jüngster Zeit mehren sich auch unmittelbar nach bedarfsorientiert Einsatzabschnitte sowie Unter
Ereigniseintritt direkte Kontaktaufnahmen Betroffe- einsatzabschnitte eingerichtet, längerfristige Schicht-
ner. Insbesondere bei größeren Schadensereignissen dienste geplant und der Personalbestand erheblich
nutzen unmittelbar Betroffene oder Angehörige die aufgestockt. Während des Tsunami-Einsatzes
Vielzahl verfügbarer Kommunikationsmittel und sto- 2004/2005 beispielsweise waren in den ersten vier
ßen dabei auch auf Hinweise zu NOAH (zum Bei- Wochen täglich bis zu 70 Kräfte in der Hotline tätig.
spiel über das Internet), obgleich die NOAH-Hotline Die Koordinierungsstelle NOAH greift auf ein Ver-
– im Unterschied zur Krisenhotline des Auswärtigen stärkungskräfte-System von 20 geschulten Kollegen
Amtes – nach Unglückseintritt nicht offensiv über die des BBK sowie auf einen externen, bundesweit
Medien bekannt gegeben und kommuniziert wird. verfügbaren Expertenpool an PSNV-Kräften zurück.
Psychosoziale Infovernetzung
Dokumentation Tagesgeschäft
Betreuung Organisation
Abb. 9: Beispielhafte Sonderaufbauorganisation (SAO) der Koordinierungsstelle NOAH mit den entsprechenden
Einsatz- und Untereinsatzabschnitten.
79
16
30 4 Betroffene
5
3
Familienangehörige
11
2 Freunde
Arbeitgeber
Versicherungen
Notfallseesorger
Kriminalbeamte
139
Am 26. Dezember 2004 kam es in Südostasien, ausgelöst durch ein starkes S eebeben,
zu einer verheerenden Flutkatastrophe. Von den Auswirkungen waren nicht nur
unzählige Einheimische betroffen, sondern auch abertausende Touristen. Aus
Deutschland waren – wie man heute weiß – ca. 7.000 Personen im Katastrophen
gebiet selbst betroffen und haben, teilweise schwer verletzt, überlebt. 538 deutsche
Todesopfer wurden identifiziert, 13 Deutsche werden bis heute vermisst.
81
Durch die Wucht des Tsunami wurden weite Teile des Landes völlig zerstört. (Bild: dpa)
NOAH-Einsatzleitung
Psychosoziale Infovernetzung
Dokumentation Tagesgeschäft
Betreuung Organisation
Medien
Angehörigentreffen
Abb. 11: Einsatzabschnitt „Psychosoziale Betreuung“ der Koordinierungsstelle NOAH während des Tsunami-Einsatzes 2004/2005.
Unterstützungskräfte aus BBK und Feuerwehren während des Einsatzes der Koordinierungsstelle NOAH nach dem Seebeben
in Südostasien 2004 im improvisierten Hotlineraum (v. l. n. r.: Rainer Schramm, Rainer Mocnik, Dirk Hallwaß, Jan Mallmann-
Kallenberg, Engelbert Schödder, Stefan Kronen). (Bild: BBK)
Negative Beanspruchung: nisse zu Gesprächsführung, Trauerreaktionen und
Von Interesse waren bei diesem Aspekt besonders Psychotraumatologie sowie die persönliche Einbet-
Themen zu potentiell belastenden Rahmenbedingun- tung in ein funktionierendes soziales Umfeld (soge-
gen bei der Arbeit. Die Bewertung von räumlichen nannte soziale Unterstützung). Es zeigte sich, dass
Umgebungsfaktoren und organisatorische Rahmen- alle Aspekte einen wichtigen Einfluss auf die Hilfs-
bedingungen wurde dabei genauso abgefragt wie die wirksamkeit haben. Personen, die bereits an einer
Einschätzung des Arbeitsklimas, der Teamzusam- Hotline im sozialen Kontext (beispielsweise Telefon-
mensetzung, der Einsatzzeiten, der Arbeitseinwei- seelsorge, Leit- und Personenauskunftsstellen etc.)
sung etc. gearbeitet hatten und/oder über Erfahrungen im
Umgang mit der Bewältigung von psychosozialen
Hilfswirksamkeit, Kompetenz und negative Krisen (beispielsweise durch Arbeit im Bereich der
Beanspruchung: Zahlen und Fakten Notfallseelsorge, Krisenintervention etc.) verfügten,
wiesen wesentlich positivere Einschätzungen der
Hilfswirksamkeit: Hilfswirksamkeit auf. Das gleiche Ergebnis lässt sich
In der Gesamtsicht beurteilten die Mitarbeitenden für fachspezifische Kenntnisse festhalten. Existierten
ihre Arbeit an der Hotline als hilfreich: 70% gaben an, diese bereits vor dem Einsatz an der NOAH-Hotline,
dass sie den Eindruck hatten, den Anrufenden bei fühlten sich die befragten Personen hilfreicher.
der Lösung ihrer Schwierigkeiten behilflich gewesen Ebenso wirkt sich ein stabiles soziales Umfeld positiv
zu sein. Betrachtet man dieses Ergebnis allerdings aus.
etwas genauer, ergibt sich ein differenzierteres Bild:
Die Wirksamkeit der Hilfe unter psychologischen Kompetenz:
Aspekten (psychologisch/seelsorgerliche Betreuung, Die Variable „Kompetenz“ wurde über die Frage erho-
interne Weitervermittlung an die Einsatzabschnitte ben, wie geeignet sich die Mitarbeitenden für das
84 Hinterbliebenenbetreuung etc.) wurde höher einge- gesamte Aufgabenspektrum der NOAH-Hotline ein-
schätzt als die administrative Hilfe (sozialrechtlich schätzten. Im Unterschied zur oben beschriebenen
administrative Hilfe, externe Weitervermittlung an Hilfswirksamkeit bezieht sich die Einschätzung hin-
andere Behörden etc.), die geleistet wurde. sichtlich der Kompetenz nicht auf einen konkreten
Aspekt der Hotline-Arbeit, sondern stellt ein umfas-
Warum die administrative Hilfe als geringer einge- sendes Urteil über die Eignung für die Arbeit dar.
schätzt wurde, lässt sich nur vermuten. Mögliche
Thesen sind, dass die Befragten den Eindruck hatten, Alle Befragten beurteilten sich in der Gesamtsicht als
dass die Stellen, an die weiterverwiesen wurde, den gut geeignet für die Arbeit an der NOAH-Hotline.
Anrufenden keine Hilfe geben könnten, oder dass es Wenn man sich die Ergebnisse genauer ansieht, zeigt
möglicherweise für bestimmte Problemlagen keine sich allerdings, dass sich manche Personen – gefragt
weiteren Ansprechpartner mit einem adäquaten nach einer differenzierten Einschätzung vor und
Angebot gab, oder dass generell wenig Informatio- nach dem Einsatz – unterschiedlich eingeschätzt
nen vorlagen, die weitergegeben werden konnten. haben. So zeigten sich zwei Tendenzen: Zum einen
Möglich wäre aber auch, dass bezogen auf die admi- gab es Befragte, die angaben, sich nach dem Einsatz
nistrative Hilfe für das jeweilige Ereignis spezifisches kompetenter zu fühlen als vorher. Zum anderen
einsatz- und strukturbezogenes Wissen notwendig schätzten 33% der Befragten ihre Kompetenz nach
ist, das nicht bei allen Mitarbeitenden gleichermaßen dem Einsatz niedriger ein als vor dem Einsatz.
vorhanden war. Ebenso wie bei der Hilfswirksamkeit, wurden auch
hier Faktoren untersucht, die als wesentlich dafür
Um mehr darüber zu erfahren, warum sich die angenommen wurden, warum sich die Befragten als
Befragten als (nicht) hilfswirksam empfunden haben, (nicht) kompetent empfunden haben. Die Ergebnisse
wurden verschiedene Faktoren untersucht, von zeigen, dass sich Personen, die über keine oder nur
denen angenommen wurde, dass sie einen positiven wenig fachspezifische Kenntnisse verfügten, nach
Einfluss auf die eigene Beurteilung haben. Dazu dem Einsatz vergleichsweise als weniger kompetent
gehörten unterschiedliche Formen der Vor- bezie- einschätzten als vor dem Einsatz. Der Rest (also mit
hungsweise Berufserfahrung im Bereich Hotlinear- mehr fachspezifischem Wissen) hat sich nach dem
beit und Krisenbewältigung, fachspezifische Kennt- Einsatz in etwa gleich eingeschätzt oder sogar als
kompetenter bewertet als vorher. Im Bezug auf Vor- • Räumliche Umgebungsfaktoren und organisa-
beziehungsweise Berufserfahrung im Bereich Hot- torische Rahmenbedingungen:
linearbeit und Krisenbewältigung zeigte sich ein ähn- Es stellte sich heraus, dass vor allem Geräusche
liches Muster: Personen ohne Hotline- und/oder durch andere Telefonate, die räumliche Enge und
Krisenerfahrung schätzten sich vor und nach dem die (mangelnde) Belüftung des Einsatzraumes als
Einsatz im Schnitt als weniger kompetent ein. schwerwiegend eingeschätzt wurden. Bei den
organisatorischen Rahmenbedingungen wurden
Negative Beanspruchung: mangelnde Verpflegung und ungeregelte Pausen-
Mit dem Begriff der negativen Beanspruchung ist zeiten als problematisch angesehen.
gemeint, dass sich Stressoren so stark auf das eigene
Wohlbefinden auswirken, dass vorhandene Ressour- • Einsatzzeitraum und Arbeitseinweisung:
cen zeitweilig überfordert sind, was gegebenenfalls Es wurde vorab angenommen, dass die Zeitpunkte,
einen negativen Einfluss auf die Effektivität der Arbeit zu denen die Einsatzkräfte eingesetzt wurden, eine
haben kann. In der Befragung zeigte sich, dass 13% Rolle für das Belastungsausmaß spielen könnten,
aller Mitarbeitenden an der NOAH-Hotline als bean- da die Frequenz der Anrufenden im zeitlichen Ver-
sprucht gelten können. Das Ergebnis „beansprucht“ lauf des Einsatzes unterschiedlich ausfiel. Hierzu
traf für 30% nur teilweise und für 57% eher bis gar ließ sich allerdings kein Zusammenhang nachwei-
nicht zu. sen. In Bezug auf die Arbeitseinweisung gaben
63% der Befragten an, dass sie mangels verfügba-
Personen, die über keine Erfahrungen und Kennt- ren Personals nur eine unsystematische oder gar
nisse (Einsatzerfahrung, fachspezifisches Wissen etc.) keine Einweisung in die Arbeit an der NOAH-Hot-
verfügten, waren tendenziell stärker beansprucht als line erhalten hatten. Auch wenn dieser Umstand
Personen mit entsprechenden Vorerfahrungen und durch persönliches Engagement der Mitarbeiten-
Kenntnissen. Um herauszufinden, was beeinträchti- den kompensiert wurde, kann er als potentieller 85
gend auf das Wohlbefinden gewirkt hat, wurden ver- Belastungsfaktor benannt werden.
schiedene Belastungsfaktoren abgefragt. Grundlage
für die Wahl der abgefragten Belastungsfaktoren • Arbeitsklima und Teamzusammensetzung:
waren bereits bestehende wissenschaftliche Untersu- Die Beurteilung beider Aspekte fiel äußerst positiv
chungen zum Themenbereich Stress- und Beanspru- aus. Da sich die meisten der eingesetzten Personen
chungsforschung im Einsatzwesen. schon vorher kannten und diese Tatsache über-
wiegend als positiv beurteilten, lässt sich ableiten,
Wie im Folgenden aufgezeigt wird, konnten einige dass es für eine Teamzusammensetzung empfeh-
Stressoren identifiziert werden, die aber kaum im lenswert ist, ein gewisses Maß an Kommunikation
Zusammenhang mit dem Ausmaß der Beanspru- zu fördern, um eventuell vorhandene Unbekannt-
chung stehen. Die Ursachen für diesen Umstand heit so schnell wie möglich zu überwinden.
bestehen möglicherweise darin, dass nicht alle Stres-
soren, die eingewirkt haben, identifiziert wurden. • Art der Anrufe:
Eine weitere mögliche Erklärung besteht darin, dass Die Inhalte der Anrufe an der Hotline waren nicht
es sich bei der Beanspruchung um einen Prozess immer gleich. Besonders belastend wurden die
handelt, der durch das Zusammenwirken vieler Fak- Telefonate bewertet, bei denen es um Fragen nach
toren erst wirkt und Reaktionen zeigt. So wäre es dem Verbleib von vermissten Personen ging.
zum Beispiel auch möglich, dass Mitarbeitende schon
vorbelastet in den Tsunami-Einsatz der NOAH-Hot- Grenzen der Untersuchung
line gegangen sind, beziehungsweise Belastungsfak-
toren auf sie einwirkten, die hier nicht berücksichtigt Die dargestellten Ergebnisse der Evaluation basieren
werden konnten (wie zum Beispiel familiäre oder auf sogenannten selbstevaluativen Urteilen. Die Mit-
berufliche Probleme). arbeitenden an der NOAH-Hotline wurden demnach
als Expertinnen und Experten ihrer eigenen Arbeit
Folgende Stressoren wurden überprüft und teilweise befragt. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass die
durch die Mitarbeitenden der NOAH-Hotline als eigenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen
wesentlich identifiziert: einen Einfluss auf die Effektivität der Arbeit haben.
Aufnahme von Vermisstendaten in Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt und dem Auswärtigen Amt im
Einsatzabschnitt „Passagierlistenrecherche/Personenauskunft“. (Bild: BBK)
86
Dieses Vorgehen wurde gewählt, da gängige Erhe- Gruppe, die vom Angebot der NOAH-Hotline
bungsverfahren für die Auswertung des NOAH-Ein- Gebrauch gemacht hat und eine Gruppe, die zwar
satzes nicht geeignet beziehungsweise möglich auch betroffen war, sich aber mit ihren Problemen
waren. Im besten Fall hätten die Betroffenen und nicht an die Krisenhotline des BBK wandte. Die
Hinterbliebenen der Tsunami-Katastrophe mit in die Schwierigkeit der Kontaktaufnahme zu den Perso-
wissenschaftliche Untersuchung eingebunden wer- nen, die die NOAH-Hotline nicht angerufen haben,
den müssen, um die Effektivität der an der Hotline liegt auf der Hand.
geleisteten Arbeit zu messen. Dieses Vorgehen ver-
bot sich aus verschiedenen Gründen: •
Eine weitere Möglichkeit hätte darin bestanden,
Betroffene und Hinterbliebene bezüglich ihrer Pro-
•
Zum Zeitpunkt der Untersuchungskonzeption blemlage einmal vor und einmal nach einem Kon-
(September 2005) war noch kein Jahr seit der Kata- takt mit NOAH zu befragen. Doch in einer Aus-
strophe vergangen, womit sich die meisten Betrof- nahme- beziehungsweise Krisensituation ist die
fenen noch in einer emotional belastenden Situa- Erhebung von Befindlichkeitswerten nicht reali-
tion der Verarbeitung oder, als Vermissende, des sierbar: Abgesehen von fehlenden zeitlichen Res-
Hoffens befunden haben. Dementsprechend sourcen sollten Anrufende nicht zusätzlich mit ent-
wurde aus ethischen Überlegungen auf einen wis- sprechenden Fragen belastet werden.
senschaftlich motivierten Kontakt zu dieser Perso-
nengruppe verzichtet. Dass auch das letztlich gewählte Vorgehen mit eini-
gen methodischen Problemen behaftet ist, steht
• Um die Effektivität der Arbeit an der NOAH-Hot- außer Frage. So ist bei selbstevaluativen Urteilen
line zu überprüfen, wäre es nötig gewesen, a) eine immer davon auszugehen, dass die Ergebnisse sub-
repräsentative Anzahl von Überlebenden, Angehö- jektiv gefärbt sind. Das bedeutet, dass die eigene
rigen, Hinterbliebenen und Vermissenden zu fin- Wahrnehmung und Beurteilung niemals genau der
den und b) die Betroffenen in mindestens zwei Wahrnehmung und Beurteilung durch eine andere
Gruppen zu unterteilen und zu vergleichen: eine Person entsprechen kann. Trotzdem können die
Ergebnisse als Hinweis für die untersuchten Zusam- Insgesamt lässt sich resümieren, dass „gute“ bezie-
menhänge gewertet werden. Es lassen sich gesi- hungsweise hilfreiche Arbeit einer Krisenhotline
cherte Tendenzen beschreiben. unmittelbar von dem eingesetzten Personal abhängig
ist. Natürlich spielt auch die technische Ausstattung
Konsequenzen der Studie und Einweisung in den Umgang mit derselben eine
wichtige Rolle. Aber letztlich ist der adäquate Umgang
Die Ergebnisse der Evaluation zeigen, dass es ver- mit hoch belasteten Menschen nur zu gewährleisten,
schiedene Faktoren gibt, die die Arbeit der Mitarbei- wenn die Mitarbeitenden der Hotline umfassend und
tenden der NOAH-Hotline während des Tsunami- fachspezifisch geschult sind. Dementsprechend sollte
Einsatzes entscheidend beeinflusst haben. Auf dieser in der Vorbereitung einer Krisenhotline ein Hauptau-
Grundlage lassen sich generelle Empfehlungen und genmerk auf die Aus- und Fortbildung gelegt wer-
Hinweise für die Vorbereitung und Einrichtung von den, um im Einsatzfall nicht ungeschulte Kräfte ein-
Krisenhotlines ableiten. setzen zu müssen.
Das Deutsche Rote Kreuz e. V. (DRK) hält bundes- Die Kreisauskunftsbüros beziehungsweise Personen-
weit auf regionaler Ebene Teams aus überwiegend auskunftsstellen auf regionaler Ebene sind Teil des
ehrenamtlichen Mitgliedern vor, die im Falle schwe- Suchdienstes, einer der ältesten Einrichtungen zur
rer Unglücksfälle und Katastrophen innerhalb weltweiten Suche nach vermissten Personen (Abb.
Deutschlands ein sogenanntes Kreisauskunftsbüro 12). War der Suchdienst – entstanden nach dem Ende
(KAB) aktivieren und so Personenauskunftsstellen des zweiten Weltkriegs 1945 aus einer spontanen
einrichteten können. Die Mitarbeiter des Kreisaus- Aktion freiwilliger Helfer – zunächst vor allem mit
kunftsbüros können in speziell dafür eingerichteten der Suche nach Vermissten durch Krieg und Ver
Räumlichkeiten Suchanfragen besorgter Bürger bear- treibung befasst, unterstützt er in seiner heutigen
beiten. Einige Kreisauskunftsbüros verfügen zudem Struktur bei der weltweiten Suche nach vermissten
über mobile Anlaufstellen. Die Kernaufgabe der Personen und berät in allen Fragen der Familienzu-
Kreisauskunftsbüros besteht in der Annahme und sammenführung. Und dies unabhängig davon, ob es
Bearbeitung von Suchanfragen, der Suche nach ver- sich bei dem auslösenden Ereignis um eine Natur
88 missten Personen in Listen und Datenbanken und katastrophe, ein Zug-, Bus- oder Schiffsunglück, eine
der Erteilung von Auskünften an die Suchenden. Evakuierung oder eine terroristische Tat handelt.
Landesauskunftsbüro (LAB)
bei den Landesverbänden
* Wir danken Frau Nathalie Wollmann, Frau Renate Kottke, Herrn Jürgen Wiesbeck und Frau Sibylle Dizinger vom DRK-Landesverband
Baden-Württemberg und Herrn Michael Steil und Frau Sandra Bergmann vom DRK-Landesverband Badisches Rotes Kreuz für die
fachkundige und freundliche Beratung und die Bereitstellung informativer Materialien. Außerdem danken wir Frau Dorota Dziwoki und
Herrn Tomasz Niewodowski, Referat Amtliches Auskunftsbüro im Generalsekretariat des DRK, für ihre Unterstützung.
Das DRK ist außerdem beauftragt mit der Planung, Nach Aktivierung des Kreisauskunftsbüros wird das
Vorbereitung und Wahrnehmung der Aufgaben, die Arbeitsmaterial – über Papier und Stifte bis hin zu
der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 122 Laptops samt Software und Suchdienstformulare – in
des III. und Artikel 136 des IV. Genfer Abkommens den speziell dafür vorgehaltenen Kreisauskunfts-
von 1949 obliegen. Darin sind die Einrichtung und büro-Kisten (KAB-Kisten) zu Räumlichkeiten, zum
Unterhaltung eines sogenannten Amtlichen Aus- Beispiel DRK-Geschäftsstellen, gebracht und dort zur
kunftsbüros geregelt, das im Konfliktfall als nationale Einrichtung eines Computernetzwerkes sowie von
Anlaufstelle fungiert und Auskünfte über Kriegsge- Telefonarbeitsplätzen genutzt. Zeitgleich finden sich
fangene und Zivilpersonen, die sich in der Gewalt die dafür geschulten Kreisauskunftsbüro-Helfer
einer Konfliktpartei befinden, organisiert. (KAB-Helfer) dort ein. Je nach Bedarf und Größe der
Schadenslage werden mehrere Arbeitsplätze einge-
Aktivierung des regionalen Suchdienstes im richtet und die Nummer der Hotline mit Hilfe der
Einsatzfall Medien bekanntgegeben.
Arbeiten im Kreisauskunftsbüro, hier beim NATO-Gipfel 2009. (Bild: DRK / Kai Mungenast)
Hotline des Kreisauskunftsbüros: Die KAB-Helfer
nehmen die Anfragen der Anrufer entgegen und fül-
len gemeinsam mit ihnen die Suchanträge aus. Neben
der Anrufentgegennahme findet (später) auch die
Auskunftserteilung über die Hotline statt.
Personal und Qualifikation Für KAB-Helfer, die an der Hotline eingesetzt werden,
wird im Landesverband Baden-Württemberg eine
Das Personenauskunftwesen des DRK ist nicht- zusätzliche Hotlineschulung angeboten. Schwer-
gewerblich, es dient ausschließlich humanitären punkte sind: die Arbeit am Telefon, die Gesprächsfüh-
Zwecken und stützt sich von daher überwiegend auf rung mit Betroffenen, die Auskunftserteilung und der
ehrenamtliche Kräfte. Im Kreisauskunftsbüro kom- Umgang mit Stress während und nach dem Einsatz.
men Helfer und Leiter zum Einsatz.
Die Ausbildung zum KAB-Leiter beinhaltet Inhalte
Die Qualifikation zum KAB-Helfer beziehungsweise zur Organisation und Leitung eines KAB sowie zum
zum KAB-Leiter erfolgt in einer dafür vorgesehenen Aufbau eines KAB im eigenen Kreisverband. Zusätz-
Fachdienstausbildung Suchdienst und einer KAB-Lei- lich ist eine Vollübung vorgesehen, bei der der funk- 91
ter-Qualifikation. Inhalte dieser Fachdienstausbil- tionale Arbeitsablauf in der Praxis geübt werden
dung sind unter anderem die Rahmenbedingungen, kann.
Dateneingang
Informationsaufbereitung
Koordinator
EDV Erfassung
Weiterleitung
Eingabe
der
ins
eingepflegten
EDV-System
Karten und
Xenios
Xenios Suchanträge
Datenbank
Manuelle
Kartei
92
ja
Rike Richwin
Kommunikationswissenschaftlerin (Master of Arts)
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe (BBK),
Referat Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV)
Neue Medien in der Krisenhotline – funktioniert das?
Rike Richwin
Wer meint, moderne Kommunikationstechnologien Zuwachs an Nutzern ist in der Gruppe ab 50 Jahren
und Social Media seien nur etwas für die junge Gene- festzustellen (ARD/ZDF-Onlinestudie 2012).
ration, der täuscht sich. Der Onlinestudie von ARD/
ZDF aus dem Jahr 2012 zufolge, nutzen seit dem Jahr Moderne Kommunikationstechnologien und Social-
2010 mittlerweile 100 % der 14- bis 19-jährigen zumin- Media-Anwendungen sind fester Bestandteil des All-
dest gelegentlich Onlineangebote, aber auch die tags nahezu der gesamten Bevölkerung. Dadurch
Gruppe der 20- bis 49-jährigen ist mit einem Anteil sind die Menschen an daran gebundene Möglichkei-
von über 90 % im World Wide Web unterwegs. Die ten in Bezug auf Schnelligkeit, Vielfalt und Umfang
Generation 60+ ist immerhin mit knapp 40 % vertre- gewöhnt. Es lässt sich daher ableiten, dass auch
ten und in den letzten Jahren – 2006 waren es erst beziehungsweise gerade im Falle einer Krise darauf
knapp 20 % – deutlich gewachsen. zurückgegriffen werden will und wird.
Am häufigsten genutzte Anwendungen sind die Das klassische Modell: Die Hotline für
Suchmaschinen, auf die alle Altersgruppen zugreifen. Betroffene
Dicht gefolgt werden sie von E-Mail-Funktionen und
Onlinecommunities, Newsgroups und Chatfunktio- Brechen ein schweres Unglück oder eine Katastrophe
nen. Die Nutzung von RSS-feeds/Newsfeeds ist zwar herein, gehört die rasche Einrichtung einer Hotline
auch in allen Altersgruppen erkennbar, wird jedoch mittlerweile zum Standard. Angehörige möglicher
besonders von jüngeren Menschen in Anspruch Schadensopfer und Vermisster haben ein hohes
genommen. Ähnlich verhält es sich mit der Nutzung Bedürfnis nach gesicherten Informationen. Erhärtet
von Apps auf mobilen, internetfähigen Geräten wird dies durch die unmittelbar einsetzende Bericht-
(ARD/ZDF-Onlinestudie 2012). Insgesamt sind mitt- erstattung in den Medien mit zum Teil überzogenen
lerweile 53,4 Millionen Deutsche online, mobile End- Meldungen zu Opfer- und Verletztenzahlen. Erfahrun-
geräte sind im Vormarsch, das Internet ist vom neuen gen mit Krisenhotlines nach komplexen Gefahren-
zum etablierten Medium geworden und der stärkste und Schadenslagen der jüngsten Vergangenheit in
Deutschland (Amoklauf Erfurt 2002, Loveparade • die Förderung der Eigeninitiative des Betroffenen
Duisburg 2010) oder im Ausland, bei denen zahlrei- • die Erläuterung von Belastungsreaktionen und
che Bundesbürger betroffen waren (Terroranschläge Möglichkeiten der Stressbewältigung
USA 2001, Tsunami Südostasien 2004), zeigen, dass • die Auflistung weiterer Hilfsangebote
dieses hohe Informationsbedürfnis Betroffener zuneh- • die Hilfe bei der Kontaktaufnahme zu anderen
mend zu einer intensiven Hotlinenutzung führt. Betroffenen
• praktische Hilfsangebote bei administrativen
Qualitativ hochwertige Hotlinearbeit zeichnet sich Aufgaben
vor allem dadurch aus, auf die vielfältigen Anfragen
der Anrufer adäquat zu reagieren. Bei einer sich stän- Zu den weichen Kriterien gehören unter anderem:
dig ändernden Sach- und Zuständigkeitslage müssen
aktiv Gespräche geführt und eine Reihe von Ent- • dem Bedürfnis nach Beruhigung begegnen
scheidungen getroffen werden. Zusätzlich sind Anru- • Zuversicht und Hoffnung vermitteln
fer häufig in einem emotional erregten Zustand, • dem Wunsch nachkommen, Sorgen und Ängste
sodass Hotlinemitarbeiter auch damit umgehen müs- um vermisste Angehörige loszuwerden
sen. Strukturkenntnisse, Netzwerkwissen und fach- • dem Schüren von Angst (zum Beispiel durch
kundiges Urteilsvermögen über verfügbare Hilfssys- Medienberichte) entgegenwirken
teme sind unverzichtbar (Kromm; Helmerichs 2006). • gemeinsam mit dem Betroffenen einen sicheren
Eine hohe psychosoziale Kompetenz und die Sicher- Ort (vertraute Personen/Rückzugsmöglichkeiten)
heit im Umgang mit den Rahmenbedingungen füh- suchen
ren nachweislich zu geringerer Belastung unter den • dem Betroffenen Raum für Schilderungen geben
Hotlinemitarbeitern (Blank 2006). oder anregen, das Erlebte aufzuschreiben
96 Was nicht geleistet werden kann, sind die „weichen“ Aktivitäten, die sich hinter dem Betreuenden abspie-
Aspekte psychosozialer Versorgung: So sind die len (zum Beispiel herumlaufende andere Mitarbei-
Suche nach individuellen Handlungspotenzialen ter), können eine Störquelle darstellen. Außerdem
oder der Aufbau eines sozialen Netzwerkes stark kann kein absoluter Datenschutz gewährleistet wer-
interaktionsbedürftig und erfordern persönliche den, da Anrufer Aktivitäten mithören und vor allem
Gespräche, in denen die Hotlinebetreuer auch auf sehen können, die nur für die interne Kommunika-
Merkmale wie Stimmlage, Weinen oder Aufregung tion bestimmt sind. Da Skype nicht als abhörsicher
der Betroffenen eingehen müssen, was in einem gilt, kann generell kein Schutz von Daten gewährleis-
schriftbasierten Medium entfällt. tet werden.
Eine Option, die zahlreiche Kommunikationsformen Ein ähnlich vielfältiges Kommunikationsmedium wie
beinhaltet, ist die Verwendung des Onlineangebotes Skype stellt das Social-Media-Netzwerk facebook dar.
Skype beziehungsweise der Videokonferenz. Durch Zwar bietet facebook – zumindest in Deutschland –
die Möglichkeit der (Bild-)Telefonie erfolgt die Kom- noch keine Möglichkeit der telefonischen Verständi-
munikation verbal und in Echtzeit, sodass eine indi- gung, es verfügt aber über die Optionen des Chats,
viduelle und interaktive Betreuung stattfinden kann. der Versendung von Nachrichten (mit Dateianhän-
Durch die Sichtbarkeit ist es dem Betreuenden mög- gen) und der Option, öffentliche Kommentare (Pinn-
lich, sich ein genaues Bild des Zustandes des Betrof- wand) abzugeben.
fenen zu machen. So kann er ihn ebenfalls direkter
„steuern“ (zum Beispiel „Setzen Sie sich erst einmal Problematisch ist, dass sich in diesem sozialen Netz-
auf den Stuhl, der hinter Ihnen steht!“). Gesten der werk jede Person einen Account anlegen kann. So
Hotlinemitarbeiter können zusätzlich zur Stimmlage können zum Beispiel auch Befürworter terroristi-
beruhigend auf den Betroffenen wirken. Ebenso scher Aktionen ihre Meinung äußern oder Bilder von
kann ein Echtzeitbild der Betreuungsperson ein Todesopfern in die Öffentlichkeit gelangen, was für
Gefühl der Nähe vermitteln. die Betroffenen eine extreme Belastung darstellen
kann. Da in facebook ausschließlich in schriftlicher
An die Verwendung einer Webcam sind jedoch auch Form kommuniziert werden kann, ist eine individu-
einige Anforderungen – vor allem auf Seiten der elle interaktive Betreuung von Betroffenen s chwierig.
Datenschutz kann bisher nicht gewährleistet werden, Durch RSS-feeds/Newsfeeds werden Abonnenten im
da facebook bereits häufiger in die Kritik geraten ist, Sinne eines Newstickers regelmäßig über aktuelle
weil es Daten seiner Nutzer an Dritte weitergegeben Änderungen oder Neuerungen auf einer Homepage
hat. informiert. Betroffene müssen dadurch nicht mehr
die gesamte Internetseite im Blick behalten, sondern
Da das Schreiben eines Kommentars beziehungs- erhalten Informationen zu aktuellen Änderungen.
weise das Stellen von Fragen einfacher, anonymer Hotlinemitarbeiter werden ebenfalls entlastet: Rück-
und weniger aufwendig ist als ein Anruf, ist damit zu rufe können in ihrer Anzahl minimiert werden, da
rechnen, dass dieses Angebot stark frequentiert wer- die Betroffenen durch die Newsfeeds auf dem aktu-
den würde. Im Umkehrschluss heißt das, dass auch ellsten Stand bleiben.
ständig geprüft werden muss, ob dort unangemes-
sene Kommentare veröffentlicht werden, was einen Da es sich um eine einseitig gerichtete Kommunika-
enormen Aufwand für die Hotlinemitarbeiter bedeu- tionsform handelt, ist es nicht möglich, auf Meldun-
tet (Krämer 2011). gen zu reagieren. Die oben beschriebenen „weichen“
Aspekte der psychosozialen Versorgung bleiben
Die Mikrobloganwendung Twitter dient der reinen ebenfalls unabgedeckt.
Informationsverbreitung und weniger der interakti-
ven Kommunikation. Ein Vorteil sind die Schnellig- Eine spezielle Erweiterung der Hotline bietet eine
keit der Informationsverbreitung und die Möglich- App, die in ihrer Gestaltung variabel ist. Eine App
keit, eine große Masse von Personen zu erreichen. zum Beispiel für die Koordinierungsstelle Nachsorge,
Durch die Begrenzung auf 140 Zeichen müssen die Opfer- und Angehörigenhilfe (NOAH) im Bundesamt
Nachrichten jedoch extrem komprimiert werden. Da für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, die
ein Kommentieren der Tweets nur indirekt möglich Bundesbürgern, die im Ausland durch schwere
ist, sind Interaktivität und individuelle Betreuung und Unglücksfälle oder Terroranschläge zu Schaden kom- 97
damit alle „weichen“ Aspekte der psychosozialen men, psychosoziale Unterstützung anbietet (www.
Versorgung ausgeschlossen. bbk.bund.de/noah) könnte Kontaktdaten von psy-
Telefon, Kommunikationsmittel zur Übermittlung von mündlich; räumliche, aber keine zeitliche
Mobiltelefon Sprache mittels elektronische Signale; Trennung, Kommunikation in Echtzeit möglich;
Mobiltelefone sind ortsunabhängig One-to-One-Kommunikation
einsetzbar; kostenpflichtig
E-Mail Elektronische Post zum Versenden von schriftlich; raum-zeitliche Trennung der
Textnachrichten und Dateianhängen; Kommunikationspartner; One-to-One-
mittlerweile meistgenutzter Mediendienst Kommunikation, erweiterbar zu One-to-Few-
im Internet; kostenlos und One-to-Many-Kommunikation
SMS Dienst zur Übertragung von Kurznachrichten schriftlich; raum-zeitliche Trennung der
zwischen Mobiltelefonen; (teilweise) Kommunikationspartner; One-to-One-
Beschränkung auf 160 Zeichen; Kommunikation (erweiterbar zu One-to-Few-
kostenpflichtig und One-to-Many-Kommunikation)
facebook Soziales Netzwerk mit weltweit über eine schriftlich; raumzeitliche Trennung der Kommu-
Milliarde Nutzern (Deutschland: 24,8 Millio- nikationspartner; One-to-One-/ One-to-Few-/
nen); Erstellen eines eigenen Profils, Emp- One-to-Many-Kommunikation; Kommunikation
fang/Versand von Nachrichten, Einstellen nur zwischen angemeldeten Nutzern möglich
von eigenen Inhalten (Bilder, Videos), Pinn- 99
wand-Funktion, Einladung zu Ereignissen,
Profilerstellung auch für Unternehmen und
Organisationen möglich (mit beschränkten
Funktionen); kostenlos
Twitter Mikroblog zur Verbreitung von Kurznach schriftlich; raum-zeitliche Trennung der
richten (140 Zeichen) im Internet; Kommunikationspartner; One-to-Many-
Autoren twittern („zwitschern“) subjektive Kommunikation
Nachrichten, die von den Lesern (indirekt)
kommentiert werden können; kostenlos
Apps (Kurzform für „application“ = Anwendung); schriftlich, bildlich, audiovisuell; ähnlich wie
Anwendungsprogramme für Smartphones/ RSS-feeds dienen Apps nicht der Interaktion,
Tablet-PCs, die über einen in die Software sondern je nach Gestaltung der Information/
des Geräts integrierten Onlineshop bezogen Unterhaltung
werden können; mittlerweile mehr als
500.000 Apps zu unterschiedlichsten
Themen (Spiele, Ratgeber, Sport, Ernäh-
rung, Erste Hilfe) verfügbar; erhältlich durch
download; teilweise kostenpflichtig
II. Kapitel
Wer ruft an?
Die Anrufer: Typische Gruppen – typische Fragen
Anrufgruppen und häufige Anliegen
Letztendlich lässt sich natürlich nie voraussagen, wer Die Gruppe der Betroffenen ist zu unterteilen in die
mit welchem Anliegen und in welcher Verfassung als vier Kategorien:
nächstes in einer Krisenhotline anrufen wird. Die
Auswertung von Erfahrungen mit Krisenhotlines bei •Ü berlebende (Unverletzte und physisch und/oder
komplexen Gefahren- und Schadenslagen der jüngs- psychisch Verletzte)
ten Vergangenheit in Deutschland (ICE-Unglück • Angehörige (Familienangehörige, Freunde und
Eschede 1998, Amokläufe in Erfurt 2002 und Win- weitere nahestehende Personen von – potenziell
nenden/Wendlingen 2009, Einsturz der Eissporthalle – Betroffenen)
in Bad Reichenhall 2006, Massenpanik auf der Love- • Hinterbliebene (Familienangehörige, Freunde
parade 2010) sowie Gespräche mit Betroffenen und weitere nahestehende Personen von Ver
schwerer Unglücksfälle und Katastrophen im Aus- storbenen)
land im Rahmen der Arbeit der Koordinierungsstelle • Vermissende (Familienangehörige, Freunde und
Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe (NOAH) weitere nahestehende Personen von Vermissten)
(vgl. auch Beiträge in Kapitel I), erlauben jedoch eine
erste Systematik und Tendenzbeschreibung zu Anruf- Die Anliegen dieser vier Betroffenengruppen sind
gruppen und typischen Anliegen, die zukünftig auf- lage- und zeitabhängig und untereinander verschie-
grund weiterer Erfahrungsauswertung zu verfeinern den. Zu den grundlegenden Bedürfnissen aller gehö-
sind. ren gesicherte Informationen, Sicherheit und Schutz,
Kontakt, Struktur, Unterstützung in administrativen
Fragen, „single point of contact“ und Gedenken.
101
Die Anrufanliegen der Bevölkerung im Krisenfall las-
sen sich in drei Kategorien gliedern: Zum einen mel-
den sich Personen, die emotional stark betroffen
sind, aber nicht zwangsläufig eine direkte Verbin-
dung zum Ereignis haben. Eine allgemeine psychi-
sche Vulnerabilität (Verwundbarkeit), Vorerfahrungen
mit vergleichbaren Ereignissen, frühere Traumatisie-
rungen und ähnliche Gründe können hier eine Rolle
spielen. Daneben gibt es die Gruppe der Personen,
die am Schadensereignis interessiert sind und
Informationen einholen möchten. Ebenfalls melden
sich Personen, die Erläuterungen zum Schadens
Anrufgruppen und Anliegen können in der Krisenhotline ereignis abgeben, ihre Fachkunde einbringen möch-
äußerst vielfältig sein. (Bild: pakhnyushchyy / clipdealer.com) ten oder die Gelegenheit nutzen, um allgemeinen
Unmut gegenüber dem Träger der Krisenhotline
Danach ist im Ereignisfall nach Schaltung einer Kri- (Ministerium, Kommune, Polizei, Hilfsorganisation
senhotline und ihrer Präsentation in der Öffentlich- etc.) auszudrücken.
keit mit folgenden Anrufgruppen zu rechnen:
Eine Sonderform der Anrufgruppe „Bevölkerung“,
• Betroffene die sich in einer Krisenhotline meldet, bildet die
• Bevölkerung und Community Community, also Personen oder Gruppen mit thema-
• Einsatzkräfte und deren Angehörige tischem oder strukturellem und damit starkem emoti-
• Unterbreiter von Hilfsangeboten onalen Bezug (Identifikation) zur Betroffenengruppe.
• Medienvertreter Bei einer Amoklage in einer Schule können zum Bei-
• Vertreter aus Behörden, Organisationen und spiel Schüler und Lehrer anderer Schulen zur Com-
Institutionen munity gehören, da der Kontext „Schule“ zu ihrer all-
täglichen Lebenswelt gehört und dadurch ebenfalls
eine Form mittelbarer Betroffenheit bei den Personen Schließlich melden sich Vertreter aus Behörden,
hervorgerufen werden kann. Organisationen und Institutionen sowie (betrof-
fene) Unternehmen. Ihre Anliegen lassen sich unter
Auch Einsatzkräfte, die im aktuellen Schadensfall Informationsvernetzung und Abstimmung zur aktuel-
im Einsatz waren, melden sich im Bedarfsfall erfah- len Schadenslage zusammenfassen, die der Bewälti-
rungsgemäß bei einer Krisenhotline, insbesondere gung, Abarbeitung beziehungsweise Auswertung des
wenn die Hotline auch als „Helferhotline“ angekün- Unglücks dienen. Damit lassen sich dieser Anruf-
digt wird. Hinzu kommen Anrufe von Angehörigen, gruppe auch die anrufenden Wissenschaftler zuord-
aber auch von Vorgesetzten oder Kollegen und nen. Sie melden sich in der Krisenhotline, um für
Kameraden von Einsatzkräften, die Rat und Auskunft Forschungsanliegen den Kontakt zu Akteuren im Ein-
suchen. satzwesen und zu Betroffenen zu suchen und nach
entsprechenden Erreichbarkeiten zu fragen.
Jede Krisenhotline sollte darauf eingestellt sein, dass Gleichzeitig melden sich in den ersten Stunden und
zahlreiche Hilfsangebote eingehen. Diese sind zu dif- am ersten Tag diejenigen Personen, die vom Ereignis
ferenzieren in Unterstützungsangebote psycho emotional stark betroffen sind sowie Personen und
sozialer Dienste (Akuthelfer wie Notfallseelsorger, Gruppen der entsprechenden Community. Auch mit
Notfallbegleiter, Kriseninterventionsteammitarbeiter Medienvertretern muss von Anfang an gerechnet
etc., Psychologen, ärztliche und psychologische werden, ebenso mit Anrufen von Behördenvertre-
(Trauma-)Psychotherapeuten und andere psychoso- tern, Organisationen und Institutionen. Die beiden
ziale Fachleute beziehungsweise Anrufer, die sich als letztgenannten Anrufgruppen frequentieren die Kri-
solche ausgeben), Angebote materieller Hilfen senhotline in der Regel kontinuierlich bis zu deren
(Sach- und Geldspenden, Einladungen für Betroffene Einstellung, wenn auch mit vergleichsweise gerin-
oder Einsatzkräfte zu kulturellen Ereignissen oder gem Anrufvolumen. Sehr früh, oft schon am ersten
Erholungsurlauben etc.) und Unterstützungsange- Tag, melden sich auch Vertreter psychosozialer
bote von Betroffenen vergleichbarer Ereignisse oder Dienste, die ihre Hilfe anbieten.
entsprechender Selbsthilfeorganisationen.
In den weiteren Tagen nach dem Schadensereignis
Auch Medienvertreter suchen den Zugang zu Quel- melden sich nach derzeitigem Erfahrungsstand erst-
len ihrer Berichterstattung über geschaltete Krisen- mals in größerer Zahl Überlebende – soweit sie auf-
hotlines. grund von physischen und/oder psychischen Verlet-
zungen schon in der Lage sind, eine Krisenhotline zu Wer ruft bei welchem Ereignis an?
kontaktieren, sowie Hinterbliebene.
Eine klare Prognose zum Zusammenhang von Ereig-
Angehörige und Vermissende rufen auch in den nisart und erwartbaren Anrufgruppen lässt sich nicht
Tagen und Wochen nach dem Ereignis weiterhin in geben, dazu sind die Einflussfaktoren Auftrag, Vorbe-
der Krisenhotline an, ebenso wie Anrufer aus der reitung, Trägerschaft , Zeitpunkt der Schaltung und
Gruppe der „Bevölkerung“. Letztgenannte haben in Öffentlichkeitsarbeit der Krisenhotline zu variabel.
diesem Zeitfenster häufig Informationen zum Ereig- Nach derzeitigem Stand der Erfahrungsauswertung
nis, wollen Fachfragen diskutieren oder Beschwer- (Krisenhotline Erfurt 2002, Winnenden/Wendlingen
den loswerden. Aus der Gruppe der Unterbreiter von 2009, Bad Reichenhall 2010, Loveparade 2010) lässt
Hilfsangeboten melden sich weiterhin Anbieter psy- sich jedoch festhalten, dass Gewaltereignisse wie
chosozialer Dienste, aber vorrangig diejenigen, die Amokläufe an Schulen mit rascher und hoher media-
materielle Hilfen anbieten sowie – vereinzelt – Betrof- ler Aufmerksamkeit offensichtlich eine kollektive
fene vergangener Unglücke mit Unterstützungs Betroffenheit, Unsicherheit und Angst in der Bevöl-
anliegen. kerung auslösen. Dies führt zu einem sehr hohen
Anrufvolumen, sodass neben den Betroffenen (Über-
Einsatzkräfte und deren Angehörige melden sich lebende, Angehörige, Hinterbliebene, Vermissende)
erfahrungsgemäß Tage und Wochen nach dem Ereig- zahlreiche Personen mit unterschiedlichem Bezug
nis und dann kontinuierlich. zum Ereignis aus dem gesamten Bundesgebiet, aus
dem Ausland und der Community (zum Beispiel Leh-
Wird die Krisenhotline über einen Zeitraum von rerkräfte an Schulen) die Krisenhotline in Anspruch
Monaten bis zu einem Jahr oder darüber hinaus auf- nehmen.
rechterhalten, ist mit einem Anschwellen des Anruf
volumens der Anrufgruppen „Betroffene“, „Einsatz- Großveranstaltungen, bei denen ein schweres Un- 103
kräfte und deren Angehörige“, „Vertreter aus glück mit Toten und Verletzten geschieht, ist mit
Behörden, Organisationen und Institutionen und einem hohen Anrufvolumen aller genannten Anrufer-
(betroffene) Unternehmen“ und „Medienvertreter“ gruppen zu rechnen, bei komplexen Schadenslagen
etwa vier bis sechs Wochen vor einer öffentlichen auf Großveranstaltungen mit Gästen aus dem In- und
Gedenkfeier oder Jahrestagsfeier zu rechnen. Medi- Ausland (zum Beispiel bei der Loveparade in Duis-
envertreter melden sich zudem verstärkt vier bis burg 2010) entsprechend mit einem internationalen
sechs Wochen vor Jahreswechsel, um über das Scha- Anrufaufkommen. Bei Krisenlagen wie Hochwasser-
densereignis bei der medialen Aufbereitung des ver- und Sturmflutgefahr, Ausfall von Infrastruktur (zum
gangenen Jahres („Jahresrückblicke“) berichten zu Beispiel Stromausfall) oder Gesundheitsgefahr (zum
können. Beispiel EHEC, Vogelgrippe) hingegen ist in erster
Linie von einem hohen Informationsbedürfnis der
Bevölkerung und Anrufen von Medienvertretern,
Unterbreitern von Hilfsangeboten und Anrufen aus
Behörden, Organisationen und Institutionen auszu-
gehen, während Anrufe unmittelbar Betroffener und
von Einsatzkräften kaum zu erwarten sind.
* In den folgenden Beschreibungen wird die Zielgruppe der Einsatzkräfte ausgeklammert, da sich die Maßnahmen der psychosozialen
Notfallversorgung dieser Zielgruppe zu den übrigen Gruppen unterscheiden.
Bedürfnisse im weiteren Verlauf sind: Reaktionen
• Normalisierung und Information: Das Bedürfnis,
die eigenen Reaktionen zu verstehen, da der Mögliche Reaktionen auf extreme Ereignisse und die
Anrufer diese möglicherweise noch nie in der Art mittel- und längerfristigen psychischen Folgen wer-
erlebt hat und diese damit beängstigend wirken den auch als Extremstress oder „traumatischer Stress“
können: „Ich glaube, ich werde verrückt…“, „Ich bezeichnet. Während und nach extremen Ereignissen
war wie gelähmt, konnte nichts mehr fühlen … können die psychischen Belastungen für betroffene
das kenne ich gar nicht von mir.“ Menschen ein Ausmaß annehmen, das weit über den
• Informationen bei der Suche nach der Unglücks- Alltagsstress hinausgeht. Auch wenn die Bereiche
ursache: „Warum?“, „Wer hat Schuld?“ Stressforschung und Psychotraumatologie Verbin-
• Hilfe und Unterstützung bei administrativen Fra- dungspunkte und Überschneidungen haben, ist der
gen: Rückführung vom Ereignisort, Beerdigungs- Begriff „traumatischer Stress“ nicht ganz unumstrit-
kosten, Rehabilitationsmaßnahmen, Kosten für ten, da es sich bei einem psychischen Trauma in
medizinische Behandlungen, juristische Aspekte Ursache und Reaktionen nicht mehr „nur“ um Stress
wie Schadensersatzregelungen und Entschädigun- und Stressfolgen handelt. Das auslösende Ereignis
gen, Versicherungsfragen, Hilfe bei der Nachlass- liegt qualitativ in einem Bereich, der eine vitale
regelung Bedrohung bedeutet und die Bewältigungsmöglich-
• gegebenenfalls Vermittlung in traumazentrierte keiten der betroffenen Person zunächst absolut über-
Fachberatung oder Psychotraumatherapie fordert. Reaktionen auf Extremstress oder potentiell
• Entstehen einer Selbsthilfegruppe, Schicksals „traumatischen Stress“ sind vom Ausmaß her qualita-
gemeinschaft, Interessenvertretung etc. tiv weit schwerwiegender als kurzfristige Stressreak-
• (religiöse) Rituale: Trauergottesdienst, Angehöri- tionen. Die betroffene Person hat erst einmal keine
gentreffen, Errichten einer Gedenkstätte Möglichkeit, auf das Ereignis in „angemessener“
• nach Möglichkeit eine zentrale Anlauf- und Kon- Weise zu reagieren. 105
taktstelle „single point of contact“ mit Schnittstel-
lenfunktion zu anderen beteiligten Organisationen Zu Extrembelastungen zählen Ereignisse, die nahezu
und Institutionen jeden Menschen in der (akuten) Bewältigung
zunächst überfordern und auf die er mit starker
Angst, Entsetzen, Hilflosigkeit oder Kontrollverlust
Auf einen Blick: Bedürfnisse reagiert. Zu den auslösenden Ereignissen gehören
zum Beispiel das Erfahren oder Bezeugen von
Gewalt, Tod, schwerer Krankheit, Unfällen, Katastro-
• Bedürfnisse ändern sich lage- und
phen etc. Das auslösende Ereignis stellt dabei eine
zeitabhängig.
existentielle Bedrohung dar. Die Bedrohung muss
• Bedürfnisse weisen je nach Zielgruppe hierbei nicht objektiv lebensbedrohlich sein, sondern
Unterschiede auf. die subjektive Bewertung als vital bedrohlich ist aus-
• Grundlegende Bedürfnisse sind vor allem: schlaggebend.
- gesicherte Informationen und Gewissheit,
Aufklärung Die Grenzerfahrung bringt Anforderungen mit sich,
bei denen die ansonsten wirksamen Bewältigungs-
- Sicherheit und Schutz
strategien nicht oder nur eingeschränkt greifen. Ein
- Kontakt solches Ereignis kann den Menschen in seinen
- Struktur Grundfesten erschüttern: Das Selbst- und Weltbild
kann erheblichen Schaden erleiden und die Erfah-
- Unterstützung in administrativen Fragen
rung unter Umständen nicht in vorhandene Schemata
- „single point of contact“ eingeordnet werden (Abb. 15). Es kann ein Riss zwi-
- Gedenken schen Grundüberzeugungen, der „Realität“, also dem
Ereignis, und den zur Verfügung stehenden Ressour-
cen entstehen.
schen Handlungen kommen. Für manche Menschen
ist es besser irgendetwas zu tun als zur Handlungs
losigkeit verurteilt zu sein. Im Gegensatz dazu kann
es aber auch zur Erstarrung („Totstellreflex“) kom-
men – den Personen ist es nicht mehr möglich, sich
zu bewegen oder aktiv zu handeln.
In der folgenden Checkliste sind einige Betroffenen- und Angehörigenhilfe (NOAH) im Bundesamt für
gruppen und typische Anliegen aufgeführt, die im Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK)
Krisen- und Katastrophenfall in der Hotline anfallen basiert, welche sich um Deutsche, die im Ausland
können. durch Unglücke oder Katastrophen zu Schaden kom-
men, kümmert, werden in der Checkliste auch Un
Da die Zusammenstellung in erster Linie auf Erfah- glücke im Ausland berücksichtigt.
rungen der Koordinierungsstelle Nachsorge, Opfer-
Vermissende Wie und wo kann ich eine Person als vermisst melden?
(Familienangehörige, Wie verläuft die Suche nach vermissten Personen?
Freunde, weitere nahe Wie und wann erhalte ich Informationen über die Identifizierung?
stehende Personen von
Vermissten) War die Person an Bord (Schiff/Flugzeug/Bus)?
Was muss ich bedenken, solange die Person vermisst ist?
Wie ist der rechtliche Status einer vermissten Person?
Wann und wie lange gilt eine Person als vermisst beziehungsweise als verschollen?
Nach Ablauf welcher Frist wird eine verschollene Person für tot erklärt?
Welche Personen und Stellen müssen über die Verschollenheit
benachrichtigt werden?
Wer kann für die verschollene Person weiterhin Geschäfte führen beziehungsweise
Behördenangelegenheiten regeln?
Wer erhält das Sorgerecht für die Kinder der Verschollenen?
Worauf muss ich mich einstellen, wenn die Person gefunden wird?
Was passiert, wenn die Person nicht gefunden wird?
Wo finde ich einen Berater/Therapeuten, der meine Situation versteht?
Welche psychosozialen Hilfen stehen mir (wohnortnah) zur Verfügung?
Hinterbliebene Wie werden die Verstorbenen eindeutig identifiziert?
(Familienangehörige, Wo hat die Person gesessen?
Freunde, weitere nahe Wo hat sich die Person zuletzt aufgehalten?
stehende Personen von
Verstorbenen) Was hat die Person zuletzt getan?
Wie hat die Person ihre letzten Momente verbracht? Wie kann ich dies herausfinden?
Wie komme ich an die persönlichen Gegenstände der verunglückten Person?
Wie sage ich es den Kindern/Eltern/Großeltern/…?
Wie kann ich Abschied nehmen?
Kann ich den Sarg am Flughafen/Hafen/… abholen?
Kann ich mich mit anderen Betroffenen vernetzen?
Wird ein Treffen für alle Hinterbliebenen organisiert?
Wird es einen Gedenkstein/eine Gedenktafel etc. geben?
Wer trägt dafür die Kosten?
Organisatorische Fragen:
Wie bekomme ich meine persönlichen Sachen vom Ereignisort (Inland oder Ausland)
zurück?
Wer trägt die Kosten für therapeutische Hilfe?
Wer trägt die Kosten für einen möglichen Arbeitsausfall?
Wer sind meine Ansprechpartner bei einer ereignisbedingten Arbeitsunfähigkeit
oder Behinderung?
III. Kapitel
Wer nimmt ab?
Die Hotliner: Strukturmodelle und Schulungskonzept
Anrufannahme: Zwei Aufbauorganisationen
Die Einrichtung einer Krisenhotline erfolgt in der Abschnitt „Psychosoziale Betreuung“, „Medienbe-
Regel wie die Krise selbst: Spontan und unvorherge- treuung“, „Bearbeitung von Bevölkerungsanliegen“
sehen. Eine adäquate Vorbereitung kann helfen, das oder anderen) weitergeleitet. Die Agenten in der ers-
entstandene Chaos und das damit zusammen ten Ebene der Krisenhotline kommunizieren somit
hängende Bedürfnis nach Information und Beratung mit sehr verschiedenen Personen mit unterschied-
innerhalb der Bevölkerung und von unmittelbar und lichsten Anliegen aus allen Anrufgruppen. Darunter
mittelbar Betroffenen abzufangen. Außerdem gilt: sind auch Personen mit hoher emotionaler Belas-
Wer gut vorbereitet ist, fühlt sich auch während der tung. Deshalb müssen die Agenten der Anrufan-
Krise sicherer und wird die Aufgaben meistern kön- nahme über Grundkenntnisse der Psychosozialen
nen. Im Folgenden werden zwei Aufbauorganisatio- Notfallversorgung am Telefon verfügen, werden im
nen vorgestellt, die zeigen, wie die Hotlinearbeit im Idealfall von einem psychosozialen Experten im
Krisen- oder Katastrophenfall aufgebaut und organi- Backoffice fachlich begleitet und schließen ihre Ein-
siert sein kann. sätze an der Hotline mit einer entlastenden Super
vision ab. Die Agenten übernehmen nicht die psy-
Agenten-Modell chosoziale Betreuung selbst. Auch nehmen sie keine
Recherche vor oder tätigen Rückrufe, sondern
Eine der möglichen Aufbauorganisationen für eine beschränken sich auf die Anrufannahme, also die
Hotline im Krisen- oder Katastrophenfall stellt das Sichtung und die Weitervermittlung innerhalb der
Agenten-Modell dar (Abb. 17). Die Bezeichnung Hotlinestruktur.
ergibt sich daraus, dass in der ersten Ebene, der
Anrufannahme und Sichtung, die Hotliner als soge- 2. Ebene: Anrufbearbeitung 111
nannte „Agenten“* an den Telefonen sitzen, die sich Auf der zweiten Ebene wird in den verschiedenen
durch ein spezifisches Tätigkeits- und Kompetenz- Hotlineabschnitten entsprechendes Fachpersonal zu
profil auszeichnen (siehe Schulungskonzept). den jeweiligen Aufgabengebieten vorgehalten. Die
Hotlineabschnitte der zweiten Ebene stehen zusätz-
Agenten können zum Beispiel Mitarbeiter eines Call- lich in Verbindung mit dem Krisenstab und nehmen
centers sein, sie können aus dem Aufgabenfeld des ihre Informations-, Beratungs- und Vermittlungsauf-
Beschwerdemanagements von Unternehmen stam- gaben in kontinuierlicher Abstimmung mit diesem
men oder sie können Mitarbeiter eines kommunalen wahr. So ist für die PSNV-Experten des Hotlineab-
Bürgertelefons oder sogenannte Service-Center- schnittes „Psychosoziale Betreuung“ dabei zum Bei-
Agenten sein, wie sie vielerorts in Deutschland spiel der Fachberater Psychosoziale Notfallversor-
Anrufe auf der Behördenrufnummer 115 beantwor- gung (FB PSNV) im Stab wichtigster Ansprechpartner.
ten. Auch der Einsatz anderer, in der Verwaltung täti- Gehen Anrufe von belasteten Personen ein, die einen
ger Sachbearbeiter, von Polizeibeamten (bei polizei- Betreuungsbedarf erkennen lassen, können diese an
geführten Krisenhotlines) oder von Kräften der den Abschnitt Psychosoziale Betreuung weitergelei-
Betreuungsdienste der Hilfsorganisationen ist – nach tet werden und dort eine Betreuung durch PSNV-
einer entsprechenden Basisschulung in Kommunika- Experten erfahren. Die PSNV-Experten verfügen über
tion und Gesprächsführung am Telefon – für die Auf- fundierte Kenntnisse und Erfahrungen in der Psycho-
gaben der ersten Ebene denkbar. sozialen Notfallversorgung, wie beispielsweise
Notfallseelsorger, Notfallbegleiter, Mitarbeiter von
1. Ebene: Anrufannahme und Sichtung Kriseninterventionsteams (KIT-Teams) oder Notfall-
Auf dieser ersten Ebene werden alle Anrufe entge- psychologen.
gengenommen, je nach Anliegen des Anrufers nach
vorbereiteten Kriterien sortiert und an die nachge- Rufen Bürger mit konkreten Fragen zum Einsatz
schaltete zweite Ebene der Anrufbearbeitung an den geschehen an, wird an den entsprechenden Abschnitt
entsprechenden Hotlineabschnitt (zum Beispiel den zur Information der Bevölkerung weitervermittelt.
Agenten-Modell
Anrufgruppen
Unterbreiter Behörden
Bevölkerung & Einsatzkräfte
Betroffene von Medien Institutionen
Community & Angehörige
Hilfsangeboten Organisationen
112
Anrufannahmen – Sichtung
durch Krisenhotline-Agenten
Rückrufe
Rückrufe
1. Ebene
Krisenstab
FB PSNV PSNV-Anrufe und -Belange
s onstige Anrufe und Belange
PSNV-Experten-Modell
Anrufgruppen
Unterbreiter Behörden
Bevölkerung & Einsatzkräfte
Betroffene von Medien Institutionen
Community & Angehörige
Hilfsangeboten Organisationen
Rückrufe
1. Ebene
Krisenstab
PSNV-Anrufe und -Belange
FB PSNV s onstige Anrufe und Belange
Beide genannten Aufbauorganisationen haben Vor- Nachteile sind, dass es nicht so einfach sein kann,
und Nachteile: Beim Agenten-Modell werden die viele PSNV-Experten, die auf die Krisenhotlinearbeit
eingehenden Anrufe schnell sortiert und in die jewei- geschult sind, innerhalb kürzester Zeit für die Hot-
ligen Abschnitte weitergeleitet, sodass die Hotliner line verfügbar zu haben. Auch sind bei Einsatz einer
der Ebene „Anrufannahme und Sichtung“ viele Anfra- größeren Anzahl von psychosozialen Fachleuten
gen in kurzer Zeit entgegennehmen können. Nach- unter Umständen höhere Kosten (zum Beispiel
teile sind, dass die Hotliner aufgrund ihrer Ausgangs- Honorare für gewerblich tätige Psychologen) zu
qualifikation auf den Umgang mit hochbelasteten erwarten. Außerdem kann es passieren, dass die
Anrufern und deren Reaktionen und Verhaltenswie- Anrufentgegennahme „vollläuft“, sofern alle PSNV-
sen nur bedingt durch Hotlineschulungen vorbereitet Experten durch belastete Anrufer „blockiert“ sind,
werden können, was sich sowohl für die Agenten sodass an die weiteren Hotlineabschnitte keine
selbst (hohe Stressbelastung) als auch für die Anrufer Anfragen mehr weitergeleitet werden können.
(nicht immer adäquater Umgang mit Belastungsreak-
tionen) negativ auswirken kann. Eine abschließende Antwort auf die Frage, welche
Aufbauorganisation aus verschiedenen Blickwinkeln
Beim PSNV-Experten-Modell besteht ein Vorteil die geeignetere und effektivere wäre, lässt sich auf-
darin, dass tatsächlich belastete Anrufer direkt durch grund noch fehlender systematischer Erfahrungsaus-
dafür ausgebildete Fachleute betreut werden kön- wertung bisher nicht abschließend beantworten.
nen. Eine hohe Betreuungsqualität und höhere Auch hierbei gilt wieder, dass die Wahl der geeigne-
Zufriedenheit und Entlastung der Anrufer ist zu ten Aufbauorganisation vom Ereignis selbst, den
erwarten. PSNV-Experten verfügen außerdem über damit zusammenhängenden Bedarfen der Bevölke-
114 Kenntnisse in Bezug auf ein adäquates Stress rung, den Ressourcen der Helfenden und der
management und können deshalb die mitunter belas- Gesamtstruktur der Krisenhotline abhängen wird.
tende und anstrengende Arbeit an der Krisenhotline
eher handhaben.
Schulungskonzept
Die Arbeit an der Krisenhotline ist für die eingesetz- Grundlegend für die Arbeit an der Krisenhotline ist
ten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter höchst ein sicherer und routinierter Umgang mit der vorge-
anspruchsvoll. Um ihre Leistungsfähigkeit zu erhal- sehenen Soft- und Hardware sowie den Abläufen
ten und gleichzeitig Anrufern eine adäquate Aus- und organisatorischen Rahmenbedingungen (Bau-
kunft beziehungsweise Betreuung geährleisten zu stein: Aufbau- und Ablauforganisation einer Kri-
können, bedarf es neben der Bereitstellung optima- senhotline).
ler Ausstattung und Arbeitsbedingungen einer sorg-
fältigen Personalauswahl und regelmäßiger Schulun- Hohe Kompetenz und Sicherheit im Umgang mit den
gen. Legt man die möglichen Aufbauorganisationen Rahmenbedingungen führt nachweislich zu geringe-
des Agenten- und des PSNV-Experten-Modells (siehe rem Belastungsempfinden der Hotliner. Daneben ist
Anrufannahme: Zwei Aufbauorganisationen) der Bereich Stressmanagement nicht nur im Sinne
zugrunde, ergeben sich für die Tätigkeiten im jewei- von Leistungserhalt, sondern auch im Rahmen der
ligen Hotlineabschnitt unterschiedliche Anforderun- Mitarbeiterfürsorge von Bedeutung. Zusätzlich soll-
gen. Im Folgenden wird deshalb ein Schulungskon- ten regelmäßige Supervisionsangebote zur Verfü-
zept vorgestellt, dass die unterschiedlichen gung stehen (Baustein: Stressmanagement für Hot-
Kompetenzprofile berücksichtigt und die Inhalte der liner).
einzelnen Module zeigt.
Hotliner auf der Ebene der „Anrufannahme und Sich- Wesentlichen Anteil an der Hotlinearbeit der Ebene
tung“ nehmen in den ersten Stunden und Tagen „Anrufbearbeitung“ hat die Informationsvernetzung
nach komplexen Gefahren- oder Schadenslagen und Kooperation mit unterschiedlichen Behörden,
nicht nur Suchanfragen nach Vermissten entgegen, Organisationen und Unterstützungsanbietern. Dazu
sondern werden mit äußerst vielfältigen Anfragen, sind genaue Strukturkenntnisse einschließlich Kennt-
Bedürfnissen oder auch Angeboten konfrontiert, die nisse der Rechts- und Vorschriftenlage und eine Ver-
je nach Lage äußerst unterschiedlich ausfallen kön- ständigung auf einheitliche Sprachregelungen not-
nen. Eine entscheidende Qualifikation der Hotliner wendig.
besteht deshalb darin, das Anliegen des Anrufers
schnell zu erfassen. Im nächsten Schritt muss ent- Hotliner im Aufgabenbereich „Psychosoziale Betreu-
schieden werden, wie die Anfrage zu beantworten ist ung“ vermitteln außerdem einen Teil der Anrufer zu
oder wohin der Anrufer weiterverwiesen werden Sozialdiensten, Krisendiensten oder diversen psy-
kann. Eine Reihe von Entscheidungsprozessen muss chologischen Beratungseinrichtungen beziehungs-
parallel zur aktiven Gesprächsführung mit den Anru- weise nehmen als Dienstleistung für den Anrufer
fern ablaufen, um dieser Anforderung gerecht zu selbst Kontakt zu unterschiedlichen Unterstützungs-
werden. Gleichzeitig verändert sich die Informations- anbietern auf. Eine kompetente regionale und auch
lage und damit unter Umständen auch die Zuständig- überregionale Vermittlung setzt Kenntnisse und ein
keitslage mit fortschreitender Zeit ständig. Hotliner in fachkundiges Urteilsvermögen über die verfügbaren
der Anrufannahme haben deshalb die Aufgabe, auf Hilfssysteme voraus (Baustein: Psychosoziale
der Grundlage komplexer Urteils- und Bewertungs- Dienste und Netzwerke).
prozesse Entscheidungen zu treffen, worauf sie im
Idealfall durch ein Praxistraining vorab vorbereitet Basiswissen für die Arbeit an der Hotline ist Wissen
werden (Baustein: Anrufannahme – Sichtung – über Kommunikation und Gesprächsführung am
Weiterleitung: Entscheidungskompetenz in kom- Telefon, wie zum Beispiel Fragetechniken, richtiger 115
plexen Situationen). Einsatz von nonverbalen und paraverbalen Signalen
Neben der Gesprächsführung, Strukturkenntnissen und PSNV-Know-how ist auch ein souveräner Umgang mit der Hard- und
Software ein entscheidendes Kriterium qualifizierter Hotlinearbeit. (Bild: sumos – Fotolia.com)
wie Mimik, Gestik, Stimmlage, Stimmlautstärke etc. psychosoziale Stabilisierungsmaßnahmen bekannt
oder passende und unpassende Redewendungen sein (Baustein: Psychosoziale Betreuung am Tele-
(Baustein: Kommunikation und Gesprächsfüh- fon).
rung am Telefon). Dieses Basiswissen kann bei aus-
gebildeten und erfahrenen Callcenter- oder Service- Vor allem aber sollten praktische Übungen (Rollen-
Center-Agenten und Mitarbeitern kommunaler spiele) in der Vorbereitung der Hotliner breiten Raum
Bürgertelefone vorausgesetzt werden, bei anderen einnehmen. Die Erfahrungen zeigen, dass nicht nur
möglichen Hotline-Agenten wie Polizeibeamten oder der reale Einsatz, sondern auch Übungen an die psy-
Betreuungsdienstkräften der Hilfsorganisationen chischen Belastungsgrenzen führen können, wes-
nicht zwangsläufig. halb diese unbedingt durch geschulte psychosoziale
Fachkräfte begleitet werden sollten (Baustein: Prak-
Angehörige, Freunde und Bekannte von (potenziel- tische Übungen).
len) Überlebenden, Hinterbliebene und Vermissende
sowie unmittelbar Betroffene, die sich an eine Hot- Als Voraussetzungen für die Hotlinearbeit werden
line wenden, befinden sich in einer Ausnahmesitua- empfohlen: soziale Kompetenz und persönliche
tion und können sehr unterschiedliche Verhalten Reife, Sprachkenntnisse (Deutsch, Englisch), Bürger-
weisen und Emotionen zeigen. Die vielfältigen beziehungsweise Kundenorientierung, freundliche
Ausdrucksformen emotionaler Belastungen müssen Stimme mit klarer Aussprache. Auch sollte die Hot-
für die Arbeit an der Hotline bekannt sein. Insbeson- linearbeit freiwillig übernommen werden. Die PSNV-
dere die adäquaten Reaktionen auf Aggressivität Experten an der Krisenhotline sollten über Kennt-
oder Suizidalität sind zu trainieren. Weiterhin müssen nisse und Erfahrungen als psychosoziale Akuthelfer
die typischen Bedürfnisse der unterschiedlichen nach Qualitätsstandards der Konsensus-Konferenz
Betroffenen (Überlebende, Angehörige, Hinterblie- Psychosoziale Notfallversorgung 2010 verfügen.
116 bene, Vermissende) in einer Krisensituation sowie
Checkliste: Schulungsmodule
Aufbau- und • Hotline als Teil der Risiko- und Krisenkommunikation im • Agenten
Ablauforganisation Krisen- und Katastrophenfall • PSNV-Experten
einer Krisenhotline • Aufbauorganisationen: Agenten-Modell und
PSNV-Experten-Modell
• Umgang mit Hardware und Software
• Arbeiten mit Checklisten - Wissensmanagement im Krisen-
und Katastrophenfall
• Dokumentationstraining
Stressmanage- • Reflexion der eigenen Aufgabe und Rolle: Einsatz in Krisen- und • Agenten
ment Schadenslagen • PSNV-Experten
für Hotliner • Stress, was ist das eigentlich? Stressoren, Stressreaktionen und
traumatischer Stress
• Strategien zur Stressbewältigung - konkrete Empfehlungen zum
Erhalt der eigenen Arbeitsfähigkeit
IV. Kapitel
Bin ich gut vorbereitet?
Psychosoziale Hilfe am Telefon: Basiswissen und Basisregeln
Die eigene Haltung –
Voraussetzungen für ein hilfreiches Gespräch
Elementare Grundhaltung für die Arbeit an der Sich in den Anrufer einfühlen
Hotline
Neben den sachlichen Inhalten gilt es, die damit ver-
Gesprächsführung an der Hotline bedeutet zwar bundenen Gefühle durch einfühlendes Verstehen
auch das Erlernen und Anwenden von „Techniken“ (Empathie) wahrnehmen und aufgreifen zu können.
oder „Tricks“, in erster Linie geht es aber darum, eine Es geht darum, die Situation aus der Sichtweise des
Grundhaltung einzunehmen und zu verinnerlichen, Anrufers zu sehen und zu verstehen. Nehmen Sie die
die für Anrufer hilfreich ist und sich vertrauensför- Perspektive des Anrufers ein, aber ohne sich darin zu
dernd auswirkt. Sie können davon ausgehen, dass verlieren.
jeder Anrufer die Grundbedürfnisse nach Wertschät-
zung, Anerkennung und Sicherheit mitbringt. Ihre Jeder Mensch färbt Erlebnisse mit unterschiedlichen
Aufgabe liegt nun darin, eine Gesprächsatmosphäre Gefühlen ein und empfindet dementsprechend
zu schaffen, in der sich die Anrufer aufgehoben und unterschiedlich. Versuchen Sie, die von Ihnen wahr-
angenommen fühlen. Dabei sollten Sie sich immer genommenen Emotionen nicht als „gut“ oder
vor Augen halten, dass sich die Personen in einer „schlecht“ beziehungsweise „übertrieben“ oder
mehr oder weniger starken Krisensituation befinden „gefühlskalt“ etc. zu bewerten. Der Anrufer braucht
und möglicherweise traumatisiert sind. sich für seine Gefühle, Sorgen oder Ängste nicht zu
schämen. Bedenken Sie: Personen, die in der Hotline
Wie empirische Studien zum Erfolg von Beratungen anrufen sind unter Umständen Vermissende oder 119
und Gesprächstherapien belegen, wirken sich die Hal- haben bereits vom Tod eines Angehörigen oder
tungen Akzeptanz und Wertschätzung sowie einfüh- Bekannten erfahren. Diesen Personen kann es
lendes Verständnis (Empathie) und Echtheit (Kon- schwer fallen „loszulassen“ beziehungsweise sich
gruenz) positiv auf den Beziehungsaspekt aus und den neuen Lebensumständen anzupassen. Fühlen sie
machen „gelungene Kommunikation“ wahrscheinlicher. sich in dieser Situation zusätzlich nicht verstanden
und nicht angenommen, können sich diese Gefühle
Den Anrufer akzeptieren und wertschätzen noch verstärken. Begegnen Sie dem Anrufer daher
anerkennend und verständnisvoll. Versuchen Sie
Jeder Mensch hat unterschiedliche Werte und zeigt nicht, den Anrufer zu beschwichtigen („Es wird
unterschiedliche Reaktionen auf bestimmte Ereig- schon wieder werden“), sondern nehmen Sie sein
nisse. Versuchen Sie, diese anzunehmen. Akzeptanz Anliegen ernst. Einfühlendes Verständnis bedeutet
bedeutet dabei nicht, dass Sie alles für gut befinden also: Ein nicht wertendes Verstehen, das von emotio-
oder gar Meinungen und Einstellungen für sich über- naler Wärme geprägt ist.
nehmen sollen. Akzeptanz bedeutet eher, dass man
Verhalten oder Einstellungen des Anrufers nicht ver- Authentisch sein
urteilt und den Anrufer annimmt, so wie er sich gibt.
Akzeptanz schließt Wertschätzung oder zumindest Kongruenz bedeutet Echtheit, Authentizität. Verstel-
Respekt dem Anrufer gegenüber mit ein. len Sie sich also nicht im Gespräch – das, was Sie
sagen, soll auch so gemeint sein. Gehen Sie verant-
Hinter jedem Anruf steckt ein Anliegen, auch wenn wortlich mit Ihrer kongruenten Haltung um. In man-
es manchmal schwer fallen kann, dieses als Anliegen chen Fällen müssen situative Rahmenbedingungen
gelten zu lassen, es zunächst nicht klar erkennbar ist mit abgewogen werden, sodass eine „selektive Echt-
oder sich Anrufer „schwierig“ verhalten. Anrufer, heit“ erforderlich sein kann.
denen Wertschätzung entgegen gebracht wird, ler-
nen sich wieder selbst zu vertrauen, Verantwortung Bleiben Sie möglichst transparent in Ihrem Handeln
zu übernehmen und erlangen das Gefühl zurück, und Denken: Halten Sie sich an die vorliegenden
selbst etwas „bewegen“ zu können. Fakten und die gegebenenfalls vereinbarten Sprach-
regelungen innerhalb der Hotline und mit möglichen len, Therapie, Betreuungsstelle oder Sammelpunkte
Informationsstellen und Kooperationspartnern. mit anderen Betroffenen etc.
Lösungen und Ressourcen suchen statt an Neben dem Wer spielt häufig auch das Was eine
Problemen festhalten große Rolle – also was könnte jetzt hilfreich und ent-
lastend sein. Neben notwendigen materiellen Res-
Eine ausschließlich problemorientierte Gesprächs- sourcen (finanzielle Unterstützung, „Dach über dem
führung birgt die Gefahr, Anrufer (emotional) in Kopf“) haben manche Menschen zum Beispiel
ihrem Problem festzuhalten. Bei der Lösungs- und bestimmte Rituale, die im Alltag regelmäßig voll
Ressourcenorientierung geht es deshalb darum, nach zogen werden und jetzt möglicherweise wieder
Möglichkeiten zu suchen, um die Situation zu verän- Struktur geben können: Zum Beispiel mit dem Hund
dern. Vereinfacht ausgedrückt geht es um die Frage: rausgehen, Spazieren gehen, Sport treiben, Einkau-
Wer oder was ist jetzt nützlich und hilfreich? Im fen etc. Für manche Menschen kann es hilfreich sein,
Mittelpunkt des Gesprächs sollte stärker das stehen, solche Rituale wieder zu reaktivieren.
was aktuell nützlich und hilfreich ist oder sein
könnte, als das, was „nicht gut läuft“ und belastet. Zum „Was kann hilfreich sein“ gehört auch die Pla-
nung des weiteren Vorgehens und der weiteren mög-
Im Zusammenhang mit stark belasteten Anrufern lichen beziehungsweise notwendigen Schritte, über
kann durch Lösungs- und Ressourcenorientierung die Sie mit dem Anrufer sprechen sollten. Darunter
das Selbstwirksamkeitserleben der Betroffenen geför- fallen zum Beispiel das Aufgeben einer Vermissten-
dert werden. Dies schließt ein, dass Betroffene so anzeige oder die Kontaktaufnahme zu Versicherern,
viel wie möglich selber tun und aktiv umsetzen sol- Botschaften, dem Arbeitgeber etc.
len und können.
120 Lösungs- und Ressourcenorientierung bedeuten
Die eine und richtige Lösung wird wahrscheinlich nicht, dass Leid und Klagen einfach ausgeblendet
kaum innerhalb eines Telefonats zu finden sein und werden. Die Anerkennung der schwierigen Situation
manche Dinge lassen sich nicht einfach (auf)lösen: und des Leids ist wichtig. Wer in seiner Vorgehens-
verstorbene Angehörige wieder zum Leben erwe- weise zu schnell agiert, riskiert, dass der Anrufer
cken, damit die Trauer verschwindet; oder gesicherte nicht „mitgehen“ wird oder gegebenenfalls sogar
Informationen herbeischaffen, die schlichtweg noch noch stärker „beweisen“ muss, dass es ihm nicht gut
nicht vorhanden sind. Lösungsorientierung bedeutet geht und die Situation für ihn sehr schwer ist.
daher die Konzentration auf Teillösungen und kleine
Schritte, die möglich und umsetzbar sind. Unterstüt- Bei der Suche nach Ressourcen müssen die individu-
zen Sie den Anrufer, Probleme in kleinere, über- ellen und situativen Voraussetzungen berücksichtigt
schaubare und damit zu bewältigende Einheiten zu werden. Eine Voraussetzung für das Erleben von
strukturieren. Selbstwirksamkeit durch die Nutzung von Ressour-
cen ist, dass betroffene Menschen überhaupt Zugang
Möglicherweise hat der Anrufer auch schon selbstän- zu bestimmten Ressourcen haben, um aktiv werden
dig etwas unternommen, um sich zu entlasten oder zu können: Um sein Haus vor der Flut zu schützen,
seine Situation zu ändern. Erkennen und verstärken muss der Zugang zu Sandsäcken gegeben sein; um
Sie solche Aktivitäten. sich vor drohenden Krankheiten schützen zu kön-
nen, müssen Impfstoffe und medizinisches Personal
Eine wichtige Ressource stellt das soziale Netzwerk vorhanden sein etc. Situationsbedingt können
der Betroffenen dar. Unterstützen Sie den Anrufer in bestimmte Ressourcen Mangelware sein oder der
der Aktivierung sozialer Netzwerke und erkunden Zugang ist für manche Menschen erschwert bezie-
Sie mit ihm, wer jetzt hilfreich sein könnte, um ihn – hungsweise unmöglich.
auch noch nach dem Telefonat – zu unterstützen.
Dies können zum Beispiel Freunde, Kollegen, Fami-
lienmitglieder, Nachbarn etc. sein. Wo solche Netz-
werke nicht vorhanden sind, helfen Sie durch die
Vermittlung von formalisierter Hilfe: Beratungsstel-
Auf einen Blick: Elementare Grundhaltung
Die Themenfelder „Kommunikation“ und „Gesprächs- weitere Signale auf anderen Ebenen gesendet und
führung“ sind sehr weitläufig und können an dieser empfangen werden. Kommunikation beinhaltet
Stelle nicht allumfassend dargestellt werden. Die fol- neben den verbalen Anteilen auch nonverbale
genden Kapitel beziehen sich daher auf ausgewählte Anteile (Gestik, Mimik) und paraverbale Anteile
Ansätze, die für die Arbeit an einer Krisenhotline (Intonation, Lautstärke, Sprachrhythmus, Sprech 121
nützlich sind. Neben speziellem Fachwissen zum tempo). Diese nonverbalen und paraverbalen Signale
Umgang mit Menschen, die einem kritischen Ereignis können eine Nachricht und die damit verbundene
ausgesetzt sind oder waren, ist es sinnvoll, sich Absicht des Senders unterstreichen: Form und Inhalt
Grundlagen und Modelle aus dem Bereich der Kom- sind dann kongruent: Eine Person mit freundlich ent-
munikationspsychologie zu vergegenwärtigen. Sie spanntem Gesicht sagt, es gehe ihr gut. Sie können
können hilfreich sein, Abläufe in der zwischen- aber auch inkongruent sein, passen also nicht zusam-
menschlichen Kommunikation besser zu verstehen men und widersprechen sich: Eine weinende Person,
und zu gestalten. die sagt, es gehe ihr gut.
Menschliche Kommunikation ist nicht immer so ein- Im Folgenden sind einige Lehrsätze genannt, welche
deutig, wie sie erscheint. Bei der Verständigung geht die Grundlagen der Kommunikation verdeutlichen
es nicht nur um das Reden (Senden), sondern auch und eine Orientierung sowohl für die Hörer- als auch
um das Hören (Empfangen) beziehungsweise Wahr- für die Sprecherposition geben sollen*.
nehmen und Beobachten von Signalen. Ein erhebli-
cher Teil hängt dabei vom Empfänger einer Nach- „Man kann nicht nicht kommunizieren“
richt ab, da dieser das Gehörte beziehungsweise
Beobachtete interpretiert. Die Reaktion des Empfän- „Man kann nicht nicht kommunizieren“ sagt der
gers ist deshalb immer eine Reaktion auf die eigene bekannte Kommunikationspsychologe Paul Watzla-
Interpretation des Gehörten. wick. Jede Handlung und alles, was man sagt oder
was durch nonverbale und paraverbale Signale über-
Kommunikationsabläufe sind vielschichtige Prozesse, tragen wird, ist mit einer mehr oder weniger bewuss-
in denen neben dem gesprochenen Wort noch viele ten und zielgerichteten Bedeutung versehen. Jedes
* An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Trennung in Sprecher und Hörer nur eine künstliche Trennung ist, weil jeder Sprecher
immer zeitgleich auch ein Hörer ist, da er sich selbst aber auch sein Umfeld und seine Gesprächspartner hören und wahrnehmen
kann. Die sprachliche Trennung wird jedoch beibehalten, um zu verdeutlichen, welcher Anteil (Sprechen oder Hören) bei der Person im
jeweiligen Moment im Vordergrund steht.
Verhalten hat deshalb eine (Signal-)Wirkung auf „Jede Nachricht hat zwei Seiten:
andere und wird durch den Empfänger interpretiert. Inhalt und Beziehung“
Es ist nicht möglich, nicht zu kommunizieren bezie-
hungsweise man kann sich nicht nicht verhalten, Jede Nachricht hat neben der Inhaltsebene (liefert
zumindest solange Sender und Empfänger sich Informationen zur Sache) auch immer eine weitere
gegenseitig durch Sichtkontakt oder akustische Sig- Ebene, die sich auf die Beziehung zwischen Sender
nale wahrnehmen können. So hat auch Schweigen und Empfänger bezieht. Auf der Beziehungsebene
oder sich körperlich von jemandem abwenden – werden Informationen zum Verhältnis von Sender
egal, ob dies absichtlich oder unabsichtlich geschieht und Empfänger übertragen, es wird übermittelt, wie
– eine Bedeutung und wirkt auf die Person ein, die der Sender zum Empfänger steht, wie er ihn „sieht“.
diese Signale wahrnimmt, interpretiert und auf ihre Auf beiden Ebenen wird gesendet und empfangen.
eigene Interpretation hin wiederum reagiert. Die Art, wie man kommuniziert, kann viel über die
Beziehung zum Gegenüber aussagen.
Bedeutung für die Hotlinepraxis: Die Beziehungsebene ist sehr bedeutsam für Kom-
munikationsprozesse, denn sie bestimmt die Inhaltse-
bene: Wenn die Beziehungsebene „gestört“ ist, zum
Übertragen auf die Arbeit am Telefon bedeuten
Beispiel durch Einflüsse wie Angst, Ärger, Nervosität,
diese Aussagen Watzlawicks, dass es beispiels-
Ablehnung, Erwartungen etc., wird die Beziehung
weise in Gesprächspausen sehr wichtig ist zu
wichtiger als der Inhalt einer Nachricht. Die Bezie-
erklären, was man gerade tut. Der Anrufer kann
hung bestimmt maßgeblich, wie die übermittelten
Sie nicht sehen, aber er hört, dass gerade nicht
Inhalte vom Empfänger verstanden werden. Mit
gesprochen wird und versucht, sich auf das
Schweigen einen „Reim“ zu machen – das Nicht- anderen Worten: Wenn die Beziehung positiv oder
122
Reden wirkt auf den Anrufer ein. Der Grund für zumindest neutral und unbelastet ist, kann die sach-
die entstandene Gesprächspause liegt auf Ihrer liche Botschaft zum Gegenüber durchdringen. Stimmt
Seite möglicherweise darin, dass Sie gerade die Beziehung nicht, weil sie zum Beispiel negativ
etwas aufschreiben, recherchieren oder einen belastet ist, wird es schwieriger, die gewünschten
kurzen Moment nachdenken müssen. Inhalte zu transportieren.
ka
um
eine jeweils eigene Struktur, die durch ihre eigene
noc
Sichtweise geprägt ist. Die subjektive Interpunktion
ich so viel!“.
h
hat zur Folge, dass die Gesprächspartner jeweils ihr
eigenes Verhalten meist als Reaktion auf das Verhal- zu Hause!“
ten des anderen interpretieren. Die Ursache des eige-
nen Verhaltens wird also dem Verhalten der anderen
gle
Verhalten reagiert. bi
s „W
s e e il
Du k u
au m z u H a
Dieses Phänomen lässt sich bei Streitigkeiten oft
deutlich erkennen: „Du hast doch mit … angefan-
gen!“.
Abb. 21: Zirkularität in kommunikativen Prozessen nach
Paul Watzlawick führt das Beispiel eines Paares Paul Watzlawick.
an, das sich etwa so unterhält:
Manche Beschreibungen lassen sich nur schwer „in Worte fassen“ und „ein Bild sagt mehr als tausend
Worte“. Viele solcher Bilder und Symbole werden ständig gebraucht und sind sehr geläufig: „Wie die
Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, „den Stein ins Rollen bringen“, „wie Balsam für die Seele“, „sich
124 wie ausgelaugt fühlen“, „sich gerädert fühlen“, „dünnhäutig sein“, „wie versteinert sein“ etc. und sollten
individuell angepasst oder passend neu erfunden werden. Teilweise nutzen Anrufer selbst solche
sprachlichen Bilder, sodass Sie diese aufgreifen und ebenfalls verwenden können, möglicherweise fällt
Ihnen im Verlauf eines Gesprächs aber auch selbst ein Vergleich ein, der auf die Situation oder auf
Gefühle von Anrufern passen könnte. Achten Sie jedoch darauf, dass Sie nicht ausschließlich in eine
metaphorische Ausdrucksweise verfallen. Dies kann auf den Anrufer unpassend wirken. Außerdem
bergen sprachliche Bilder immer die Gefahr von Missverständnissen, eben weil sie nicht eindeutig ent-
schlüsselbar sind und auf unterschiedliche Weise interpretiert werden können.
Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz Im Prinzip ist jeder Mensch im übertragenen Sinne
von Thun hat ein differenziertes Kommunikations- mit vier Ohren (Sach-Ohr, Appell-Ohr, Beziehungs-
modell entwickelt. Er geht davon aus, dass in jeder Ohr, Selbstoffenbarungs-Ohr) ausgestattet. Bei jedem
Nachricht vier Botschaften enthalten sind, die immer Mensch sind die einzelnen Ohren unterschiedlich
mitgesendet werden (Abb. 22). Die einzelnen Bot- stark ausgeprägt oder unterschiedlich stark „trai-
schaften besitzen allerdings unterschiedliches niert“. Wer vermehrt mit dem Beziehungsohr hört,
Gewicht und müssen immer im jeweiligen Kontext also sehr empfänglich für die Beziehungsseite einer
betrachtet werden. Durch den Einsatz von weiteren Nachricht ist, wird Nachrichten verstärkt auf der per-
Signalen wie Körpersprache, Intonation etc. unter- sönlichen Ebene verstehen. Wer ein stärker ausge-
streicht der Sender die Bedeutung dessen, was er prägtes Appell-Ohr hat, wird sich im Gespräch stär-
übermitteln möchte. ker aufgefordert fühlen, etwas zu tun oder zu lassen.
Das folgende Beispiel zeigt, wie die Äußerung eines
Sachinhalt: Anrufers mit den verschiedenen Ohren gehört wer-
Diese Ebene enthält das sachliche Thema, den rein den kann:
sachlichen Informationsgehalt der Nachricht.
Sachinhalt
Appell: „Meine Tochter ist über das Handy
nicht zu erreichen.“
Diese Ebene enthält eine Aufforderung. Mit der
„Ich mache mir große Sorgen.“
Selbststoffentbarung
Tochter nicht
Appell
Beziehung:
Durch die Botschaft auf der Beziehungsebene wer- erreichen,
den Hinweise darauf gesendet, wie Sender und Emp-
sie geht nicht
fänger zueinander stehen.
ans Handy!“
Selbstoffenbarung:
Die Ebene der Selbstoffenbarung enthält die Botschaft,
also das, was der Sender über sich selber mitteilt. Beziehung
„Du bist der kompetente Helfer.“
Es gilt also, mit allen „vier Ohren“ gleich stark zu hören, um möglichst viel von einer Nachricht mitzu
bekommen. Haben Sie den Sachinhalt einer Nachricht aufgenommen, lohnt es sich, sich auch zu über-
legen, was auf den anderen Ebenen mitgesendet wird, wie zum Bespiel auf der Selbstoffenbarungs-
ebene (Wie geht es dem Anrufer? Welche Bedürfnisse klingen mit?) oder der Appellebene (Was
126 möchte der Anrufer von mir? Ist das Angebot der Hotline für das Anliegen ausreichend oder kann
beziehungsweise muss weiterverwiesen werden?). In der Kommunikation läuft das Hören mit „vier
Ohren“ automatisch ab, das heißt, man hört in der Regel nicht nur mit „einem Ohr“. Die Vorstellung,
dass eine Nachricht verschiedene Seiten hat und mit verschiedenen Ohren gehört werden kann, ist
jedoch hilfreich und kann ins Gedächtnis gerufen werden, wenn ein Gespräch „aus dem Ruder läuft“.
Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass eben nur mit einem bestimmten Ohr gehört wird, obwohl es
vielleicht nicht zwingend auf eine bestimmte Weise gemeint ist.
Auch wenn die Gesprächspartner an der Hotline Gedanken- und Gefühlswelt des Gegenübers abge-
räumlich voneinander getrennt sind, haben die nicht- leitet werden, da mehrere Interpretationsmöglichkei-
sprachlichen Anteile (Gestik, Mimik, Stimmklang, ten bestehen (siehe „analoge Kommunikation“).
Sprechtempo etc.) eine Wirkung, die nicht unter- Beim Sprechen und Hören können nonverbale Sig-
schätzt werden darf. Wie bereits zu Beginn ange- nale aber dennoch Ansatzpunkte liefern, um sich
merkt, können nonverbale und paraverbale Signale deutlicher auszudrücken beziehungsweise „mehr“ zu
einerseits eingesetzt werden, um eigene Botschaften empfangen als ausgesprochen wird.
zu verstärken und sie in ihrer Bedeutung zu akzentu-
ieren. Auf der anderen Seite können sie als Informa- Die Tatsache, dass wir auch empfänglich für diese
tionsquelle genutzt werden, um zum Beispiel Stim- Signale sind und darauf reagieren, kennen Sie viel-
mungen und Gefühlslagen wahrzunehmen. leicht aus Ihrem Umgang mit vertrauten Menschen:
Manchmal reicht es schon aus, dass sich jemand nur
Zu beachten ist, dass auch diese nonverbalen Signale am Telefon meldet und Sie nehmen anhand des
letztlich vom Empfänger interpretiert und ganz sub- Stimmklangs direkt wahr, dass denjenigen etwas
jektiv mit einer Bedeutung versehen werden. Es kön- bedrückt.
nen keine völlig eindeutigen Rückschlüsse auf die
Zu den nonverbalen Signalen gehören: Zu den paraverbalen Signalen gehören:
Mimik Stimmlautstärke
Da am Kommunikationsprozess der gesamte Körper Die Lautstärke und das natürliche Volumen der
des Menschen beteiligt ist, ist auch der Gesichtsau- Stimme sind in einem gewissen Rahmen genetisch
druck von Bedeutung. Ein leichtes Lächeln wird sich determiniert. Trotzdem können diese Eigenschaften
auf den Klang der Stimme übertragen und kommuni- beim Sprechen variabel eingesetzt werden bezie-
ziert dem Anrufer „Ich begegne dir freundlich und hungsweise aus ihrem – mehr oder weniger bewuss-
nehme mich deinem Anliegen an.“ ten – Einsatz Informationen über die Gefühlslage des
jeweiligen Gesprächspartners gezogen werden:
TIPP
• leise Stimme: erschöpft, traurig, verzweifelt,
Achten Sie jedoch darauf, ängstlich
dass Sie durch ein zu starkes • laute Stimme: aufgebracht, wütend, bestimmt
Lächeln nicht in einen übertriebenen Sing-
Sang-Tonfall verfallen. Das kann auf Anru-
fer, die direkt betroffen sind oder sich um
TIPP Wenn der Gesprächspartner
ihr eigenes Wohl beziehungsweise das Ihre verbalen Äußerungen
Wohl von Angehörigen und Freunden sor- inhaltlich nicht oder zumindest nicht sofort
gen, unpassend und unseriös wirken. versteht, sollten Sie sich nicht dazu verlei-
ten lassen, direkt überdeutlich und laut in
den Hörer zu „brüllen“. Dies gilt auch,
Gestik wenn Sie einen alten Menschen als Anru-
Auch wenn Sie bei der Arbeit an der Hotline damit fer in der Hotline haben. In der Regel gilt:
beschäftigt sein werden, etwas in den Computer ein- In angemessener Lautstärke sprechen, wie 127
zutippen, etwas zu notieren oder in Unterlagen zu bei einem Gespräch am Tisch.
blättern, sollten Sie auf ihre Gestik mit Händen und
Armen achten, die sich ebenfalls auf die Stimme
übertragen kann und somit auch Bewegungen des Stimmlage, Klang und Modulation
Körpers für den Anrufer wahrnehmbar sind. Die Stimmlage ist ebenfalls in einem gewissen Rah-
men durch die Beschaffenheit des Stimmapparates
TIPP
festgelegt, trotzdem klingt sie je nach gesprochenem
Stützen Sie sich während des Inhalt und Gefühlslage unterschiedlich und kann
Gesprächs nicht mit dem Kinn sich während des Sprechens verändern, sodass auch
auf dem Arm auf, sodass ihr Kiefer sozu- aus diesen Parametern Rückschlüsse gezogen wer-
sagen „fixiert“ ist und sie nur noch undeut- den können:
lich artikulieren können. Außerdem sollten • höhere Stimmlage: Freude, Aufregung,
Sie ein Zusammenschlagen der Hände Unsicherheit
über dem Kopf oder andere Gesten zum • tiefere Stimmlage: ernstere Gedanken,
Ausdruck von zum Beispiel „nervigen“ Überzeugungen
Anfragen oder als Ausdruck des Erstau- • der Klang unterstreicht Gefühle – so ist der Klang
nens oder Erschreckens unterbinden, da der Stimme in der Regel wärmer, wenn man mit
diese entweder durch Rascheln der Klei- Freunden oder der Familie spricht
dung oder Ähnliches wahrnehmbar sein • keine oder kaum Modulation (monoton):
können und sich ebenfalls auf den Klang Desinteresse, Trauer, Erschöpfung
der Stimme auswirken und das Gespräch
in eine negative Richtung lenken können. Geschwindigkeit, Rhythmus
Die Sprechgeschwindigkeit und der Rhythmus sind
sehr individuell. Manche Menschen sprechen „von
Natur aus“ eher langsam, andere eher schnell. Trotz-
dem lassen sich auch anhand dieser Parameter Rück-
schlüsse auf die innere Lage ziehen:
• s chnelles Sprechen: aufgeregt, freudig,
Bedeutung für die Hotlinepraxis:
(über-)eifrig
• langsames Sprechen: zögerlich, stockend, verwirrt
• Pausen: nachdenklich, ängstlich, verzweifelt, Hotlinearbeit erfordert Konzentration auf die
abwartend auditive Kommunikation: Man muss mit dem
Arbeiten, was man hört. Eine Beachtung ins-
Intonation besondere der nonverbalen und paraverbalen
Durch die Intonation wird der Inhalt der Nachricht Signale bei sich selbst und beim Anrufer ist
unterstrichen. So kann anhand der Intonation abge- daher unabdingbar, weil diese Parameter
leitet werden, ob es sich bei der Äußerung um eine Rückschlüsse auf die Gefühlslage des
Frage, eine Bitte, eine Feststellung oder Ähnliches Gesprächspartners ermöglichen.
handelt. Zum Beispiel die Aussage „Wir gehen“ kann
in Abhängigkeit von der Intonation eine Frage, eine
Feststellung oder ein Befehl sein. In der Schriftspra- Nicht nur Sie als Hotliner ziehen Rück-
che helfen wir uns durch den Einsatz von Satzzei- schlüsse, sondern auch der Anrufer wird
chen, um die Bedeutung eines Inhalts zu unterstrei- Ihre paraverbalen Signale wahrnehmen und so Ner-
chen – so schreiben Sie folgenden Sätzen sicherlich vosität, Gereiztheit oder Anstrengung, aber auch
völlig unterschiedliche Bedeutungen zu: „Wir gehen?“ Kompetenz, Wohlwollen und Hilfsbereitschaft daraus
– „Wir gehen!“. ableiten.Generell gilt an dieser Stelle wieder: Wie
auch bei den verbalen Anteilen handelt es sich um
jeweils eigene Interpretationen, die nicht zwingend
mit dem Empfinden und der Absicht Ihres Gegen-
übers übereinstimmen müssen.
128
Aktives Zuhören •F ragen Sie nach und arbeiten Sie mit geschlosse-
Beim aktiven Zuhören geht es darum, die Erlebnis- nen und offenen Fragen (siehe Fragetechniken):
welt des Anrufers mit seinen Empfindungen, Bedürf- Dadurch bekommen Sie Informationen und ein
nissen und Gedanken wahrzunehmen, zu akzeptie- klareres Bild, signalisieren Interesse und beugen
ren und zurückzumelden, was man glaubt, verstanden Missverständnissen vor.
zu haben. Da wir häufig erst einmal unsere eigenen • Fassen Sie die Äußerungen zusammen und
Wirklichkeiten und Regeln zugrunde legen und davon melden wertschätzend zurück, was Sie meinen
ausgehen, dass sie für unser Gegenüber genauso gel- verstanden zu haben. Auch das signalisiert Ihr
ten, ist dies häufig leichter gesagt als getan. Interesse, beugt Missverständnissen vor, da Mög-
lichkeiten zur Korrektur beziehungsweise Prä
Um offen und aktiv zuzuhören, beachten Sie zisierung bestehen und zeigt, ob und was Sie
deshalb Folgendes: verstanden haben. Darüber hinaus ist das Zurück-
• Bringen Sie dem Anrufer ehrliches und offenes melden eine hervorragende und einfache Mög-
Interesse entgegen. lichkeit, Struktur in ein Gespräch zu bringen.
• Zeigen Sie Präsenz und Aufmerksamkeit – hierzu • Überprüfen Sie immer wieder kritisch Ihre eige-
gehören auch Äußerungen wie „aha“ oder „mhm“. nen Wahrnehmungen und Interpretationen.
Denken Sie daran, dass der Anrufer ein zustim- • Hören Sie zu, ohne zu werten.
mendes Kopfnicken nicht sehen kann, weshalb • Stellen Sie sich auf Ihr Gegenüber ein, beachten
diese kurzen verbalen Rückmeldungen unabding- Sie Tonfall oder sonstige Signale, die nicht verbal
bar sind. sind.
129
Aktives Zuhören hilft, die Erlebniswelt und Situation des Anrufers zu verstehen. (Bild: R K Hegewald / PIXELIO)
•V ersuchen Sie, sich auf das Gehörte zu konzent- • L assen Sie sich nicht provozieren. Vor allem in
rieren und nicht schon währenddessen zu über der Anfangsphase von größeren Schadenslagen
legen, was Sie alles sagen wollen. sind oft nur wenige Informationen vorhanden,
• Seien Sie so transparent wie möglich. Für Men- was Anrufer aufgeregt oder aggressiv stimmen
schen, die sich in einer Ausnahmesituation befin- kann. Reizbarkeit und Wut sind häufig beglei-
den, die von Gefühlen wie Angst, Hilflosigkeit, tende Reaktionen auf die Belastungssituation,
Ohnmacht oder Kontrollverlust geprägt ist, ist in der sich Anrufer befinden. Machen Sie sich
eine klare Kommunikation sehr unterstützend. klar, dass Sie nicht persönlich gemeint sind: Der
Anrufer ist der Situation gegenüber aggressiv oder
Gehen Sie mit der Weitergabe von Infor- aufgebracht, aber nicht gegenüber Ihrer Person,
mationen verantwortungsbewusst um. Es auch wenn Sie in dem Moment der Adressat der
sind Situationen möglich, in denen Sie Informatio- Aggression sind (siehe Besondere Gesprächs
nen haben, die Sie noch nicht oder gar nicht weiter- situationen). Vor allem Behörden bieten sich als
geben dürfen. Der Umgang mit solchen Situationen Ziel von Schuldzuweisungen und Wut an –
ist nicht ganz einfach, weshalb es auch keine gene- manchmal allerdings auch zu Recht.
relle Lösung dafür gibt. Teilen Sie mit, dass Sie an • Auch wenn es zunächst für Sie nicht ganz offen-
dieser Stelle dazu nichts sagen können. sichtlich oder nicht nachvollziehbar ist: Hinter
jedem Anruf steckt ein Anliegen.
Alles, was Sie sagen, soll wahr sein, aber nicht
alles, was wahr ist, müssen und dürfen Sie sagen!
• S tellen Sie Fragen gezielt und nutzen Sie dabei
Bedeutung für die Hotlinepraxis:
eindeutige Formulierungen.
• Fragen Sie immer nur nach einem Aspekt und
Um offen und aktiv zuzuhören, können lassen Sie den Anrufer erst eine Antwort geben,
folgende Aspekte hilfreich sein: bevor Sie die nächste (detailliertere) Frage stellen.
• ehrliches und offenes Interesse zeigen • Versuchen Sie, bei wenig gesprächigen Anrufern,
den für Sie notwendigen Informationsfluss anzu-
• Anteilnahme und Verständnis zeigen
regen beziehungsweise zu fördern, indem Sie
• nachfragen und zusammenfassen, zum Beispiel kleinschrittiger vorgehen oder ver-
paraphrasieren schiedene Angebote zur weiteren Vorgehensweise
• höchst mögliche Transparenz herstellen unterbreiten.
Bei Fragen, die Sie an den Anrufer richten, Offene Fragen lassen Freiraum
beachten Sie deshalb Folgendes: für die Antwort und dienen der
• Vergewissern Sie sich, dass der Anrufer Sie bezie- Informationsgewinnung.
hungsweise Ihre Frage verstanden hat. (Bild: by-studio – Fotolia.com)
Informationen, die der Anrufer Ihnen über Passend formulieren – „Man“, „Ich“, Wir“
sich, seine Lage und sein Anliegen geben
kann, sind hilfreich, um eine adäquate Versorgung zu Welche Formulierung Sie als Hotliner dem Anrufer
bieten. Wenn Sie jedoch merken, dass der Anrufer gegenüber verwenden und ob diese als passend oder
sich in Details verliert, sollten Sie ihn freundlich aber unpassend empfunden wird, kann stark von der indi-
bestimmt anhalten, Sie erst einmal mit den bereits viduellen Einstellung und der jeweiligen Situation
gegebenen Informationen arbeiten zu lassen und abhängen. Auf den Punkt gebracht: An dieser Stelle
gegebenenfalls später weitere notwendige Einzelhei- gibt es – wie häufig in der zwischenmenschlichen
ten einholen. Kommunikation – keine Musterlösung, die immer
funktioniert. Trotzdem können an dieser Stelle einige
Geschlossene Fragen allgemeine Erläuterungen und Hilfestellungen zu den
Bei geschlossenen Fragen wie „Sind Sie Angehöri- Formulierungsmöglichkeiten gegeben werden.
ger?“, „Haben Sie die Bestätigung für … schon erhal-
ten?“ etc. können Anrufer nur mit „Ja“ oder „Nein“ Man-Form
antworten. Diese Fragen ermöglichen es, Klarheit Die Man-Form, wie zum Beispiel „Man kann davon
und Verbindlichkeit herzustellen und können ein ausgehen, dass innerhalb der nächsten Stunde wei-
Gespräch geradlinig und fokussiert aber auch knapp tere Informationen vorliegen werden.“ wird als sehr
halten. Geschlossene Fragen können Sie daher dafür unverbindlich empfunden und kann darauf hindeu-
nutzen, um den Anrufer auf grundlegende Informati- ten, dass sich der Sender von der Aussage distanzie-
onen „abzuklopfen“. ren möchte. Gerade für die Arbeit in einer Krisenhot-
line, bei der es auf verlässliche und exakte Aussagen
Fragen, die der Anrufer voraussichtlich mit „Ja“ beant- gegenüber den Anrufern ankommt, ist diese Form
worten wird, eigenen sich, um ein schwierig verlau- eher sparsam zu verwenden.
fendes Gespräch „wieder einzufangen“. Die dadurch 131
entstehende sogenannte „Ja-Haltung“ kann eine posi- Ich-Form
tive Einstellung auf Seiten des Anrufers begünstigen. Anders verhält es sich mit der Ich-Form. Durch diese
Art der Formulierung, bezieht sich die Aussage klar
Achten Sie jedoch darauf, dass der Anrufer auf den Sender. Er drückt damit seine Position, sowie
sich nicht manipuliert oder nicht nicht ernst Gedanken und Einstellungen aus und bezieht Stel-
genommen fühlt. Außerdem kann sich der Anrufer lung zu einem bestimmten Sachverhalt. Mit der Ich-
bei übermäßigem Einsatz geschlossener Fragen Form unterstreichen Sie Ihre Position als konkreter
schnell wie in einem Verhör vorkommen. Diese Ansprechpartner, was dem Anrufer Verlässlichkeit
Methode ist also sparsam anzuwenden. und Sicherheit vermitteln kann. Auch in Konfliktsitu-
ationen oder bei schwierigen Gesprächen mit verär-
Im Rahmen der Möglichkeiten ist es für Anrufer, die „Innere“ Sicherheit lässt sich durch folgende
im Zusammenhang mit einem extremen Ereignis ste- Maßnahmen stärken:
hen, hilfreich, wenn die folgenden fünf Prinzipien • Vermitteln Sie Informationen zum Unglücksereig-
berücksichtigt werden, die von einer Arbeitsgruppe nis und wenn möglich zum Verbleib und zum
um den Psychologen Stevan E. Hobfoll entwickelt Zustand von Angehörigen, um dem Bedürfnis
wurden. Diese fünf Prinzipien orientieren sich an der nach Information und Gewissheit entgegenzu-
Situation und den Bedürfnissen der Anrufer in der kommen und dem Anrufer eine realistischere
Akutphase, also den ersten Stunden und Tagen nach Einschätzung der Situation zu ermöglichen.
Eintritt des Unglücks. Dabei ist zu beachten, dass Todesmitteilungen dürfen niemals am Tele-
diese Ziele innerhalb eines telefonischen Kontaktes fon übermittelt werden. Sie werden von der
kaum vollständig erreicht, aber zumindest angeregt Polizei und möglichst gemeinsam mit einem
und unterstützt werden können. psychosozialen Experten überbracht!
• Informieren Sie über das, was bereits unternom-
Die fünf Prinzipien nach Hobfoll sind: men wurde beziehungsweise aktuell unternom-
men wird.
1. Das Erleben von (relativer) Sicherheit • Formulieren Sie die Informationen klar und ein-
2. Beruhigen und entlasten deutig. Informationsaufnahme und Informations-
3. Selbstwirksamkeit und Kontrolle fördern verarbeitung können beim Gesprächspartner
132 4. Kontakt und Anbindung fördern situationsbedingt beeinträchtigt sein.
5. Das Gefühl von Hoffnung stärken • Sorgen Sie für eine ruhigere Gesprächsatmo-
sphäre. Schalten Sie mögliche Störquellen so gut
Einige dieser Aspekte ergänzen sich, sodass eine es geht aus. Wenn beim Anrufer zum Beispiel
scharfe Abgrenzung voneinander nicht möglich ist. durch andere Personen oder laufende Radios,
So kann zum Beispiel das Übermitteln von Informati- Fernseher oder PCs (Live-Stream mit Bild und Ton
onen auch beruhigend sein oder das Erleben der oder Ähnliches) Hintergrundgeräusche wahr-
Selbstwirksamkeit eine Steigerung des Sicherheits- nehmbar sind, halten Sie die Personen dazu an,
und Kontrollempfindens bewirken. in einen ruhigeren Raum zu wechseln und die
Geräte möglichst auszuschalten.
Das Erleben von (relativer) Sicherheit fördern • Suchen Sie mit dem Anrufer nach einem „sicheren
Ort“: Welche Personen können Unterstützung im
Sicherheit ist relativ zu sehen. In einer katastrophalen Umfeld des Anrufers bieten (Geborgenheit, Ver-
Situation kann absolute Sicherheit zunächst nicht ständnis, Rückzugsmöglichkeiten etc.)?
(wieder) hergestellt werden. Für unmittelbar Betrof- • Sicherheit hat viel mit dem (Wieder-)Erlangen von
fene, die sich möglicherweise noch im Schadensge- Kontrolle zu tun. Unterstützen Sie die Handlungs-
biet aufhalten, gilt es, zunächst eine äußere Sicher- fähigkeit des Anrufers und erkennen Sie die
heit herzustellen: Unter anderem Schutz, Unterkunft, Eigeninitiative an, zum Beispiel der Anruf bei der
Nahrung, Rückführung. Für Angehörige, die um Hotline oder das Aufsuchen und Organisieren von
möglicherweise verunglückte Personen bangen und Menschen aus dem Umfeld, die hilfreich sein kön-
deshalb in der Hotline anrufen, gilt es, eine innere nen. Manchmal hilft auch schon die Anregung
Sicherheit herzustellen, also sie zu beruhigen, zu etwas zu halten, sich zu setzen oder aufzustehen,
entlasten, Ihnen Struktur und Halt zu geben und ein Glas Wasser einzugießen, um ein Erleben von
Zuversicht und Trost zu vermitteln. Sicherheit und Kontrolle anzustoßen.
• Zeigen Sie auf, dass Möglichkeiten bestehen, die
Situation des Betroffenen zu erleichtern oder zu
klären. Erläutern Sie, welche Möglichkeiten der
Unterstützung Sie anbieten können.
133
Struktur und Halt können bei den Anrufern das Empfinden der „relativen“ Sicherheit fördern. (Bild: Marvin Siefke / PIXELIO)
•V ermitteln Sie transparent und in einfachen Wor- Bei allen Möglichkeiten, Beruhigung und Entlastung
ten das weitere Vorgehen, zeigen Sie die nächsten im psychischen Sinne zu fördern, sind solche Maß-
Schritte auf. nahmen vorrangig, die direkt auf eine konkrete pra-
• Sollten Sie mit dem Anrufer Vereinbarungen xisbezogene Problemlösung zielen und situative
treffen (zum Beispiel Rückruf oder Ähnliches) Bedingungen auflösen können (wie zum Beispiel
müssen diese unbedingt verbindlich, verlässlich materielle Ressourcen, Abbauen einer Bedrohung).
und pünktlich eingehalten werden. Liegen Ihnen
noch keine neuen Informationen vor, rufen Sie Zur Beruhigung und Entlastung können folgende
trotzdem zurück und erklären die Situation. So Maßnahmen beitragen:
vermitteln Sie Zuverlässigkeit, unterbrechen die • Auch hier gilt wieder: Sorgen Sie für eine mög-
zermürbende Zeit des Wartens für den Anrufer lichst ruhige Gesprächsatmosphäre.
und zeigen, dass sich um sein Anliegen geküm- • Zeigen Sie einfühlendes Verständnis und geben
mert wird. Sie den Schilderungen Raum.
• Übermitteln Sie Informationen zum Geschehen.
Beruhigen und entlasten • Geben Sie nur gesicherte Informationen heraus –
dazu gehören keine Pressemitteilungen!
Auch die Empfehlungen, zu beruhigen und zu ent- • Erläutern Sie dem Anrufer die Belastungsreaktio-
lasten, sind relativ zu sehen: Es geht um das Kappen nen (zum Beispiel Konzentrationsprobleme, Herz-
von Belastungsspitzen und die Reduktion von Zei- klopfen, Zittern, Schwitzen, Albträume etc.), die
chen der Übererregung, denn niemand kann tatsäch- er Ihnen schildert, da sich manche Betroffene in
lich „entspannen“, während er seine Angehörigen ihren eigenen Reaktionen „nicht mehr wieder
vermisst und eine Zeit der Ungewissheit und des erkennen“:
Wartens aushalten muss.
-K lären Sie darüber auf, dass es sich bei Belas- • Der Umgang mit dem Thema „Darüber sprechen“
tungsreaktionen (in der Akutphase bis etwa 30 kann bei Betroffenen sehr unterschiedlich sein.
Tage nach dem Ereignis) um normale Reaktio- Oft trifft man hier auf die Extreme „Gar nicht dar-
nen auf ein unnormales Ereignis handelt, auf über reden“ und „Permanent darüber reden“.
das nahezu jeder Mensch so oder ähnlich Schlagen Sie dem Betroffenen vor, über das
reagieren würde. Belastungsreaktionen gehören Erlebte zu sprechen und achten Sie darauf, ob er
zum normalen Verarbeitungsprozess. tatsächlich das Bedürfnis hat, zu erzählen.
- Fördern Sie das Verständnis des Betroffenen für Akzeptieren Sie ein „Nein“ und wahren
die eigenen Belastungsreaktionen. Sie unbedingt die Grenzen des Betroffe-
- Vermitteln Sie Informationen über Belastungsre- nen. Drängen Sie ihn niemals!
aktionen mit dem Hinweis, dass diese auftreten • Empfehlen Sie dem Betroffenen, wenn er über
können, aber nicht müssen. Vorsicht vor selbst- das Erlebte berichten möchte,
erfüllenden Prophezeiungen! Zu bedenken ist, - nur mit Personen seines Vertrauens und nicht
dass diese Maßnahme erst dann greifen kann, mit jedem zu sprechen (Vorsicht vor allem in
wenn sich der Betroffene bereits etwas beruhigt Bezug auf Interviews mit Medienvertretern),
hat. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass die - nur in Situationen zu sprechen, in denen er
Informationen nicht verarbeitet oder als selbst es wünscht,
Beschwichtigungsversuche gedeutet werden. - nur so viel und so lange darüber zu sprechen,
• Ermutigen Sie zu Eigenaktivität. Wer oder was wie es von ihm selbst als gut und hilfreich emp-
dem Betroffenen hilft, kann sehr unterschiedlich funden wird.
sein: Manchen Menschen hilft es, Sport zu treiben, • Unterstützen Sie den Betroffenen, Hemmnisse
die gewohnte Arbeit wieder aufzunehmen oder abzubauen: Darüber sprechen wird oft als Zei-
ihren Hobbys nachzugehen. Andere möchten lie- chen von Schwäche und Reden und Weinen als
134 ber Ruhe haben. Entscheidend ist, zu vermitteln, unmännliches Verhalten gewertet.
dass der Betroffene selbst bestimmen kann, was • Schlagen Sie ihm vor, das Erlebte aufzuschreiben.
in der Situation für ihn hilfreich ist und was nicht. Schreiben in Form eines Tagebuchs kann helfen,
• Geben Sie Hinweise zum Umgang mit Nachrich- Gedanken und Gefühle zu ordnen.
ten und kursierenden Gerüchten in den Medien.
Es kann helfen, sich nicht permanent der gesam-
ten Berichterstattung der Medien zu einem Ereig-
nis auszusetzen, sondern in regelmäßigen Abstän-
den gezielt Nachrichten zu schauen (siehe
Spezielle Hinweise zum Informationsmanage-
ment)
• Vergessen Sie nicht, dass sich Sorgen, Ängste und
Beunruhigung der Anrufer auf reale Befürchtun-
gen und Bedingungen beziehen. Daher gilt es,
Maßnahmen einzuleiten, die auf das Auflösen von
situativen Bedingungen abzielen.
• Unterstützen Sie den Betroffenen bei Bedarf, wei-
terführende regionale oder überregionale psycho-
soziale Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen.
Dies setzt voraus, dass
- die Hotline mit weiterführenden Angeboten ver-
netzt ist (Schnittstellenfunktion).
- Sie über die einzelnen Angebote und deren
Qualität informiert sind.
Dadurch wissen Anrufer einerseits, was auf sie
zukommt (Verminderung der Hemmschwelle) und
können sich anderseits besser entscheiden, ob
und welche Angebote sie annehmen möchten.
Spezielle Hinweise zum Informationsmanagement:
• Manche Menschen sind bereit, sich Hinweise zum Umgang mit Nachrichten anzuhören: In einer
Schadenslage kursieren jedoch vor allem zu Beginn viele ungesicherte Informationen und Gerüchte.
Vermissende Angehörige werden jegliche Informationsquellen bemühen, um Gewissheit zu bekom-
men und dementsprechend einer Vielzahl von sich teilweise auch widersprechenden Informationen
ausgesetzt sein. Die meisten Betroffenen werden sich (nachvollziehbarerweise) nicht von der Ten-
denz abbringen lassen, möglichst viele Informationen zu recherchieren, auch wenn es kaum oder
keine neuen gesicherten Informationen gibt. Menschen, die mit erhöhter Belastung auf Nachrichten
reagieren, kann in Bezug auf (Sensations-)Nachrichten und Gerüchte, die die schlimmsten Erwar-
tungen und Ängste verstärken, empfohlen werden, dass
- sie sich der Nachrichtenflut nur begrenzt aussetzen sollten (zum Beispiel: Nachrichten nur mor-
gens, mittags und abends verfolgen oder sich die Nachrichten von vertrauten Personen berichten
lassen),
- Nachrichten mit vielen (sich wiederholenden) belastenden Bildern oder Filmen gemieden werden
sollten.
• In enger Abstimmung mit dem Krisenstab sollte eine möglichst umfassende Information stattfinden.
Dies kann den ungebremsten Austausch von Gerüchten hemmen, was wiederum eine Reduktion
von Belastung nach sich ziehen kann.
• Anfragen von Medienvertretern werden grundsätzlich an die Pressestelle weitergeleitet. Sollte es
einen gemeinsamen Sammelpunkt zum Beispiel durch eine Betreuungsstelle geben, an dem sich
Vermissende oder Abholer einfinden, müssen diese vor der Presse abgeschirmt sein.
135
137
Je nach Situation der Anrufer können Sie in der Hotline mit unterschiedlichen Emotionen konfrontiert werden (nachgestellte
Szene). (Bild: Anne Katrin Figge – Fotolia.com)
Wenn Sie an der Hotline mit starken Emotionen wie schafft.“ Sie können den Anrufer zusätzlich fragen,
Wut, Verzweiflung oder Trauer konfrontiert werden, ob er sich selbst genug Raum und Zeit gibt, um die
sollten Sie vor allem vermeiden, „Phrasen zu dre- Emotionen zuzulassen. In diesem Zusammenhang
schen“. Sätze wie „Ich weiß, wie es Ihnen geht“ oder können Sie auch auf weitere Unterstützung durch
„Ich weiß, wie Sie sich fühlen“ sind in der Regel nicht Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams hin-
hilfreich. Vielleicht haben Sie tatsächlich eine Vorstel- weisen und – sofern es das Angebot der Hotline
lung des emotionalen Zustandes des Anrufers, weil umfasst – Hilfe bei der Kontaktaufnahme anbieten.
sie selbst schon in einer ähnlichen Situation waren.
Trotzdem werden derartige Äußerungen häufig als
Auf einen Blick:
Beschwichtigungen aufgefasst. Halten Sie sich des-
Umgang mit Emotionen der Anrufer
halb vor Augen, dass Sie zwar innerhalb eines gewis-
sen Rahmens nachempfinden können, wie sich der
Anrufer fühlen mag, dass sie aber zwei unterschiedli- • dem Anrufer Anteilnahme und Interesse
che Personen mit jeweils eigenen Empfindungen entgegenbringen
sind und Sie deshalb schlichtweg nicht wissen, was • Emotionen ernst nehmen und ihnen Raum
in der Person genau vorgeht. geben
• aktiv zuhören
Hören Sie deshalb aktiv zu, geben Sie dem Anrufer
Raum für seine Emotionen und mögliche Trauer: • „Phrasen dreschen“ vermeiden
Halten Sie weinende Anrufer aus. Eine alternative • weitere Möglichkeiten der Unterstützung
Formulierung wäre zum Beispiel „Ich kann mir vor- (Notfallseelsorge, Krisenintervention)
stellen, dass Sie sehr aufgewühlt / traurig / erschüt- anbieten
tert sind. Lassen Sie die Gefühle zu. Weinen Sie,
wenn es Ihnen gut tut und Ihnen Erleichterung ver-
Der Eisberg Das Geschehene verstehen
Mit einem plötzlich eintretenden Todesfall oder der Häufig hängt die Frage nach dem „Warum“ wie eine
Angst um eine noch vermisste Person können auch große, dunkle Wolke über dem Anrufer: „Warum
andere traurige oder aufwühlende Ereignisse (Verlust mein Mann / meine Frau / meine Tochter / unsere
der Arbeit, Trennungen, Fehlgeburten, frühere Todes- Freunde? Warum gerade jetzt? Warum überhaupt?“ So
fälle) „an die Oberfläche treten“, sodass das aktuelle schwierig die Situation auch zu ertragen ist, auf die
Ereignis nur der Auslöser für eine heftige Reaktion Frage nach dem „Warum“ gibt es keine Antwort. Auch
ist, wie „der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen Sie können diese Frage im Hotlinegespräch nicht
bringt“. Halten Sie sich das Bild des Eisbergs vor beantworten. Halten Sie sich dies vor Augen und
Augen: Das Anliegen, das der Anrufer Ihnen vorträgt, machen Sie sich selbst deutlich, dass es nichts mit
ist möglicherweise nur die Spitze, der größte Teil mangelnder Kompetenz oder Hilfsbereitschaft zu tun
liegt unter Wasser und ist für Sie – zumindest auf den hat, dass Sie an dieser Stelle keine Antwort geben
ersten Blick – nicht erkennbar. Dies gilt vor allem können. Vermeiden Sie unbedingt, eigene Ideen zu
auch dann, wenn Ihnen die Reaktionen des Anrufers Ursachen und eigene Überzeugungen zu formulieren.
überzogen erscheinen oder Sie diese nicht einordnen
können. Wenn Sie den Eindruck haben, dass die Frage nach
dem „Warum“ den Anrufer nicht loslässt oder er
Den Schmerz anerkennen sogar beginnt, darin eine mögliche Bestrafung zu
sehen, weisen Sie darauf hin, dass es professionelle
Trauer verläuft äußerst individuell. Die eine und rich- Unterstützungsmöglichkeiten (Notfallseelsorge, KIT,
tige Art zu trauern gibt es nicht. Manche Menschen therapeutische Hilfe) gibt, die der Anrufer in
werden zunächst sehr aktiv, reagieren sachlich und Anspruch nehmen kann.
138 handlungsorientiert, Trauerreaktionen wie Verzweif-
lung, Schmerz oder Rückzug setzen erst später ein. Das Chaos bewältigen
Einige Menschen reagieren verzweifelt, fühlen sich
von Beginn an handlungsunfähig, ziehen sich zurück. Um das entstandene Chaos wieder in den Griff zu
Andere reagieren zunächst wütend und kämpferisch. bekommen, können Sie das Ausprobieren verschie-
dener Strategien vorschlagen: Was hat dem Anrufer
Bedenken Sie im Umgang mit Menschen, die den in möglichen vorangegangenen Krisensituationen
Verlust einer nahestehenden Person erlebt haben, geholfen? Über welche Ressourcen verfügt er (Fami-
dass für manche nicht nur ein geliebter Mensch plötz- lie, Freunde, Sportverein, Haustier)? Raten Sie dem
lich fehlt, sondern unter Umständen auch die gesamte Anrufer, fürsorglich mit sich selbst umzugehen. Häu-
Existenz (Wegfall des einzigen Verdieners in der fig sind Anrufer in Krisensituationen gesundheitsge-
Familie) bedroht sein kann. Erkennen Sie in den Hot- fährdet durch Stress oder trauerbedingte mangelnde
line-Gesprächen den Schmerz an und zeigen Sie Ver- Ernährung, wenig Bewegung, nicht ausreichenden
ständnis für die Schwierigkeit und Ungewohntheit Schlaf, soziale Isolation. Vermitteln Sie dem Anrufer,
der Situation. dass Selbstfürsorge wichtig ist, auch wenn es momen-
tan schwerfällt.
Im entstandenen Chaos kann das Gespräch an der Hotline eine ordnende Funktion erfüllen.
(Bild: Bertold Werkmann – Fotolia.com)
auf den Punkt bringen „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, geht es Ihnen um...“
140
Ich-Botschaften senden (zum Beispiel bei „Ich verstehe Ihre Aufregung, aber ich kann Sie am ehesten
Konflikt, Aggression) unterstützen, wenn wir die Sache in Ruhe angehen.“
ausfragen / beschuldigen „Warum haben Sie denn nicht schon früher angerufen?“
„Können Sie keine genaueren Angaben machen?“
Ironie / Sarkasmus „Jetzt wollen Sie also doch meine Hilfe annehmen?“
„Haben Sie es sich jetzt doch anders überlegt?“
V. Kapitel
Die Krisenhotline im Einsatz
Fundamente der Gesprächsführung an der Hotline
Zwei grundlegende Faktoren:
Zeitliche Dimension und Anrufvolumen
Im Folgenden werden einige Aspekte skizziert, die partner aktiviert und vernetzt werden müssen. Der
für nahezu jedes Gespräch an der Hotline hilfreich zweite Faktor ist das Anrufvolumen: Auch das wird
sein können. Die Hinweise beziehen sich auf die Zeit sich im Laufe der Zeit ändern. In der Akutphase ist
vor der Arbeitsaufnahme an der Hotline, auf den mit einem großen Ansturm zu rechnen, sodass
Gesprächsanfang, den Gesprächsverlauf, besondere Gespräche zeitlich begrenzt werden müssen. In den
Situationen während des Gesprächs und den Tagen und Wochen danach nimmt das Anrufvolumen
Gesprächsabschluss. Erläuterungen und Empfehlun- in der Regel ab. Dies hat Auswirkungen auf die
gen, die in Kapitel IV ausgeführt sind, werden hier Erreichbarkeit und den Personalbedarf. Es kann dann
aufgegriffen. zum Beispiel sinnvoll sein, eine 24/7-Erreichbarkeit
auf eine Tageserreichbarkeit zu reduzieren, sodass
Für die eigentliche Hotlinearbeit – das Gespräch mit weniger Hotliner benötigt werden oder die Schicht-
dem Anrufer – sind zwei Faktoren zu bedenken. Der dienste zu verkürzen, um die Arbeitsbelastung zu
erste Faktor ist die zeitliche Dimension: Die Anfragen senken
und Bedürfnisse der Anrufer werden in den ersten
Stunden nach Eintritt des Ereignisses anders sein als Die im Folgenden genannten Hinweise zur
in den Tagen und Wochen danach. Für die Arbeit an Gesprächsführung an der Hotline sind allgemein
der Hotline bedeutet das, dass unter Umständen auf gehalten, sodass sie sich sowohl auf die Akutphase
andere oder zusätzliche Informationsquellen zurück- als auch auf die Tage und Wochen nach dem Unglück
gegriffen werden muss oder weitere Kooperations- beziehen. 143
Bevor Sie das Gespräch annehmen, ist es wichtig, • S orgen Sie nach Möglichkeit für eine ruhige
sich ausreichend am Arbeitsplatz einzurichten, denn äußere und innere Atmosphäre, die es Ihnen
wenn das Telefon erst einmal klingelt, werden Sie erlaubt, konzentriert und überlegt zu arbeiten.
keine Zeit mehr haben, ihr Material zu ordnen. • Fragen Sie sich auch nach Ihrem eigenen emotio-
nalen Zustand: Sind Sie selbst emotional stabil
Beachten Sie bei der Vorbereitung auf den Hot- oder leiden Sie unter Stress, zum Beispiel weil Sie
lineeinsatz deshalb Folgendes: bereits lange im Einsatz sind, Sie ein Telefonat
• Setzen Sie sich noch im Vorfeld Ihres Einsatzes sehr mitgenommen hat oder Sie privat belastet
mit der eingesetzten Technik auseinander (Bedie- sind durch Krankheit oder Tod eines Angehöri-
nung des Telefons, eingesetzte Software etc.), gen, durch eine Trennung oder durch einen
damit Sie über den Gebrauch während des Einsat- Umzug etc.?
zes nicht nachdenken müssen und Kapazität für
das Gespräch frei haben. So können Sie auch für Rufen Sie sich immer ins Gedächtnis, wie Sie
sich selbst den Stress reduzieren. selbst gerne am Telefon und in einer möglicher-
• Legen Sie sich Schreibmaterial, gegebenenfalls weise belastenden Situation behandelt und ange-
Checklisten und aktuelles Informationsmaterial sprochen werden würden!
griffbereit an Ihren Arbeitsplatz.
• Bevor Sie die Arbeit am Telefon aufnehmen, ist es
wichtig, dass Sie sich Ihren Arbeitsauftrag und die Auf einen Blick: Direkt vor dem Telefonat
Rahmenbedingungen noch einmal ganz genau vor
144 Augen führen, wie zum Beispiel: Welche Form
• Stifte, Notizblock und Meldezettel griffbereit
von Unterstützung, welche Hilfsangebote leistet
legen
die Hotline und wo sind Grenzen der Unterstüt-
zung? Welche Ansprechpartner stehen innerhalb • Arbeitsauftrag klären
und außerhalb zur Verfügung: „Wer macht was?“ • Informationen und Unterlagen ordnen
Wie sind die aktuellen personellen Ressourcen?
• mögliche weiterführende Hilfsangebote und
• Vergegenwärtigen Sie sich die Lage und die Infor-
Ansprechpartner innerhalb und außerhalb
mationen, die Sie zum Ereignis haben und welche
der Hotline klären
Informationen Sie an wen weitergeben dürfen
(Sprachregelungen / „Wording“). Legen Sie sich • möglichst ruhige Atmosphäre schaffen
eine entsprechende Übersicht in Griff- bezie- • eigenen emotionalen Zustand prüfen
hungsweise Sichtweite.
Der Gesprächsanfang
Der Beginn und das Ende sind wichtige Eckpfeiler Anruf sofort angenommen wird – insbesondere
eines Gesprächs. Im ersten Moment kann sich ent- nicht, wenn sie in einer Hotline anrufen – und
scheiden, wie ein Gespräch im Weiteren verläuft und reagieren irritiert. Lassen Sie die Anrufer aber
ob es als positiv empfunden wird oder einen negati- auch nicht zu lange warten. Ein Annehmen des
ven „Beigeschmack“ erhält. Gesprächs etwa nach dem zweiten Rufton gibt
dem Anrufer und Ihnen selbst Zeit, sich auf die
Beachten Sie bei der Annahme des Gesprächs nachfolgende Gesprächssituation einzustellen
deshalb Folgendes: und die Aufmerksamkeit darauf zu richten.
• Heben Sie nicht direkt nach dem ersten Klingeln • Melden Sie sich bei der Entgegennahme des
ab. Viele Anrufer rechnen nicht damit, dass ein Anrufs mit der jeweiligen Bezeichnung der Hot-
line, mit Ihrem Namen und gegebenenfalls noch tiven Fragen etc. Dies ist wichtig, um Transparenz
mit der Grußformel „Guten Tag/Morgen/Abend!“. zu schaffen, in welcher Form Sie Unterstützung
Halten Sie sich selbst immer wieder dazu an, die bieten können und bei welchen Anliegen des
Grußformel nicht zu „verschlucken“, sondern Anrufers die Hotline möglicherweise nicht weiter-
langsam zu sprechen und deutlich zu artikulieren, helfen kann.
auch wenn Sie bereits zahlreiche Telefonate hin- • Wiederholen Sie gegebenenfalls die Informatio-
ter sich haben. nen des Anrufers, um Missverständnissen vorzu-
• V ersuchen Sie, entspannt zu lächeln, auch wenn beugen.
es Ihnen im Zusammenhang mit einer Katastrophe • Fragen Sie nach, wenn Sie etwas nicht verstanden
unpassend erscheint. Das entspannte Lächeln wird haben. Es ist sehr gut möglich – aus welchen
sich auf Ihre Stimme übertragen und der Anrufer Gründen auch immer – dass es etwas dauert, bis
wird sich dadurch positiv angenommen fühlen Sie wirklich verstanden haben, worum es dem
(siehe Nonverbale Signale). Anrufer geht. Manche Menschen sind auch auf-
• Der Anrufer wird in der Regel schon sehr bald grund ihres Dialektes oder Akzentes nur schwer
nach Beginn des Gesprächs seinen eigenen zu verstehen. Durch Nachfragen wirken Sie nicht
Namen nennen. Notieren Sie sich den Namen nur Missverständnissen entgegen, sondern zeigen
und fragen Sie nach der korrekten Schreibweise. auch Interesse. Sollte ein Anrufer ungeduldig wer-
Im weiteren Verlauf des Gesprächs können Sie den, machen Sie sich bewusst, dass niemandem
den Namen immer wieder einmal nennen. geholfen ist, wenn Sie nicht wirklich wissen, was
Der eigene Name ist für den Menschen etwas für ein Anliegen der Anrufer hat und ob bezie-
Vertrautes und die namentliche Anrede kann das hungsweise was für ein Arbeitsauftrag sich hier-
Interesse an der Person und nicht an einem „Fall“, aus für Sie ergibt.
der abgearbeitet werden muss, unterstreichen. • Notieren Sie sich die Erreichbarkeiten (Rückruf-
Achten Sie jedoch darauf, den Namen nicht zu nummer, Anschrift, E-Mailadresse) des Anrufers. 145
häufig zu nennen, dies kann auf den Anrufer Lassen Sie sich die Angaben buchstabieren.
anbiedernd und nicht authentisch wirken. So vermeiden Sie Unklarheiten und geben dem
• Lassen Sie sich möglichst früh im Gespräch eine Anrufer das Gefühl, etwas Sinnvolles beitragen zu
Rückrufnummer geben, damit Sie den Anrufer können.
wieder erreichen können, falls die Verbindung
unterbrochen wird.
• Um einen „Draht“ zum Anrufer herzustellen, Auf einen Blick: Der Gesprächsanfang
sollten Sie sich so gut wie möglich auf den Anru-
fer einstellen. Nutzen Sie auch die paraverbalen • Gespräch etwa nach dem zweiten Klingeln
Aspekte zur Informationsgewinnung und Kontakt- annehmen
herstellung, wie zum Beispiel Sprechtempo, Ton-
• Meldeformel: Bezeichnung der Hotline +
fall, Lautstärke, Stimme etc.
Name + Grußformel
• Besinnen Sie sich auf die Grundhaltungen der
Akzeptanz, Empathie und Kongruenz und nutzen • Den Anrufer im Gespräch mit Namen
Sie das aktive Zuhören. anreden
• Nachdem der Anrufer geschildert hat, worum es • Kontakt herstellen durch „Einpendeln“ auf
geht, bieten sich bei der Klärung des Anliegens den Anrufer und aktives, interessiertes
Fragen an, wie zum Beispiel „Und wobei kann ich Zuhören
Ihnen behilflich sein?“. Klären Sie das Anliegen
• Anliegen klären, Informationen sammeln
und die Erwartungen des Anrufers.
• Erfragen Sie, was der Anrufer bereits unternom- • Überblick über Angebotsstruktur geben
men hat und was sich aufgrund der bisherigen • Erreichbarkeiten notieren
Bemühungen bereits ergeben hat.
• Geben Sie bei Bedarf einen Überblick, was die
Institution leisten kann und was nicht; zum Bei-
spiel Informationsvermittlung, Vermittlung an
andere Institutionen, Unterstützung in administra-
Gesprächsverlauf – Gesprächssteuerung
Durch den Gesprächseinstieg erhalten Sie bereits an Beratungs- und Therapiemöglichkeiten auf.
wichtige Informationen. Klären Sie weitere Details Der Verweis auf eine unverbindliche und
durch gezieltes Nachfragen und versuchen Sie zu zunächst anonyme Kontaktaufnahme senkt oft-
ermitteln, welches Anliegen der Anrufer hat. Klären mals die Hemmschwelle.
Sie die Prioritäten: Was soll zuerst geklärt werden? • Machen Sie niemals Versprechungen, die Sie nicht
Fragen Sie lieber einmal zu viel als zu wenig und sicher einhalten können. Vereinbarungen müssen
erläutern Sie, warum Sie so detailliert nachfragen eingehalten werden. So sollte ein vereinbarter
müssen, wenn der Anrufer sich irritiert zeigen sollte. Rückruf auf jeden Fall erfolgen, auch wenn die
gewünschten Informationen noch nicht vorhan-
Es kann vorkommen, dass sich das Anliegen des den sind.
Anrufers im Laufe des Gesprächs verändert. Seien Sie • Gesprächspausen: Manchmal ist es notwendig,
deshalb geduldig und formulieren nicht voreilig Pausen und Schweigen im Gespräch einfach aus-
einen Lösungsvorschlag: Je genauer Sie wissen, zuhalten. Wenn auf Ihrer Seite Pausen entstehen,
worum es eigentlich geht, desto leichter werden Sie die nichts mit der Atmosphäre und dem Inhalt
eine angemessene und hilfreiche Unterstützung von Gesprächen zu tun haben, melden Sie dem
anbieten können. Anrufer zurück, was sie gerade tun, zum Beispiel
etwas nachschlagen, notieren, recherchieren.
Beachten Sie für den Verlauf des Gesprächs Wenn auf der Seite der Anrufer Gesprächspausen
deshalb Folgendes: entstehen, können Sie nachfragen, was dem Anru-
• Versuchen Sie, ein möglichst detailliertes Bild des fer gerade durch den Kopf geht. Seien Sie mit
146 Anrufers und seines Anliegens zu erstellen, indem einer Nachfrage aber zurückhaltend und halten
Sie offene Fragen nutzen (siehe Fragetechniken). Sie auch eine Weile des Schweigens aus.
• Wechseln Sie nicht nach der Darstellung des Pro- • Der Fokus des Gesprächs liegt auf der aktuellen
blems durch den Anrufer zu einer Lösungssuche. Situation. Sollte jemand mehrere Problemlagen
Dies kann irritierend wirken. Fassen Sie kurz beschreiben, fassen Sie diese zusammen und
zusammen, wie sie den Anrufer verstanden haben fragen nach dem aktuell dringlichsten Problem.
(„Habe ich Sie richtig verstanden, dass…?“, „Es
geht also um…?“, „Ihr Anliegen ist also folgen-
des…?“) und bieten dann einen Vorschlag für die Auf einen Blick:
weitere Vorgehensweise an. Fragen Sie nach, ob Gesprächsverlauf – Gesprächssteuerung
der Anrufer mit der von Ihnen vorgeschlagenen
Vorgehensweise einverstanden ist oder ob er eine • Situation des Anrufers und Anliegen klären
andere Idee hat.
• keine Fachbegriffe, Fremdwörter oder
• Nutzen Sie keine Fachbegriffe, Fremdwörter oder
Abkürzungen nutzen
Abkürzungen. Gestresste Anrufer können dadurch
noch stärker verunsichert werden. • weitere Möglichkeiten externer Hilfe
• Helfen Sie, Hemmungen und Skepsis bei der aufzeigen
Inanspruchnahme von externer Hilfe (Beratung, • Fokus auf die aktuelle Situation richten
Therapie) abzubauen. Zeigen Sie Möglichkeiten
Besondere Gesprächssituationen
Besondere Gesprächssituationen können sich genau diese Person zuständig. Geben Sie dem Anru-
dadurch ergeben, dass Sie als Hotliner mit bestimm- fer Zeit und Raum, vielleicht nutzt er die Stille um
ten „Anruftypen“ konfrontiert werden, aber auch seine Gedanken zu sortieren.*
durch bestimmte Situationen, die sich durch
Gesprächsinhalte oder -verläufe ergeben. Im Folgen- Extrem gesprächige Anrufer
den sind mögliche Typen von Anrufern und beson- Bei Anrufern, die sich in Details verstricken oder zu
dere Anliegen und Gesprächssituationen dargestellt. weit ausholen und beginnen, „ihre Lebensgeschichte“
zu erzählen, ist es hilfreich, die bereits gegebenen
Anruftypen Informationen zusammenzufassen, auf den Punkt zu
bringen und abzuschließen: „Kann ich Ihnen sonst
Schweigsame Anrufer noch irgendwie weiterhelfen? Ansonsten schlage ich
Ist ein Anrufer schweigsam, sodass Sie sein eigentli- vor, dass Sie sich nicht zu viel auf einmal vornehmen
ches Anliegen nicht ermitteln können, versuchen Sie und die besprochenen Punkte erst einmal abarbei-
den Dialog durch offene Fragen zu aktivieren: „Wie ten. Beim nächsten Schritt können Sie gerne wieder
sind Sie auf die Idee gekommen, die Hotline anzuru- anrufen beziehungsweise ich rufe Sie zum verabre-
fen?“, „Was hat sie zu dem Anruf veranlasst?“. Konn- deten Zeitpunkt zurück.“. Versuchen Sie extrem
ten Sie einen Redefluss anstoßen, hören Sie aktiv zu gesprächige Anrufer möglichst gesichtswahrend und
und signalisieren durch „mhm“, „ja“ etc. Ihre Auf- behutsam zu „stoppen“, damit sie sich nicht „abge-
merksamkeit. Stellen Sie die Hilfsangebote der Kri- wimmelt“ fühlen. Lässt sich ein Anrufer in seinem
senhotline dar. Hat der Anrufer in der stressigen und Redefluss auch dann nicht aufhalten, weisen Sie dar-
belastenden Situation vergessen, was eigentlich sein auf hin, dass für den nächsten Arbeitsschritt alle rele- 147
genaues Anliegen war, erinnert er sich so möglicher- vanten Informationen ausgetauscht wurden, Sie das
weise wieder daran. Gespräch an dieser Stelle erst einmal unterbrechen
müssen und sich nach dem nächsten Schritt wieder
Eine weitere Möglichkeit ist, die Stille oder das mit dem Anrufer in Verbindung setzen werden.
Schweigen zu thematisieren: „Sie sagen im Moment
gar nichts dazu. Überlegen Sie oder fällt es Ihnen Aufgebrachte Anrufer
vielleicht schwer, zu berichten?“, „Würde es Ihnen Aufgebrachte Anrufer können denjenigen, der das
helfen, wenn Sie eine Weile in Ruhe nachdenken Telefonat annimmt, unter Druck setzen, kränken
könnten?“. Achten Sie dabei darauf, dass Ihre Stimme oder verärgern. Es kann zu Beleidigungen, Drohun-
möglichst ruhig und warm klingt, damit sich der gen und ungeduldigen oder arroganten Verhaltens-
Anrufer nicht gehetzt fühlt. weisen kommen. Reizbarkeit und Wut können
begleitende Reaktionen auf die Belastungssituation
Auch wenn es manchmal schwer fällt: Üben sein. Gerade offizielle Kontaktstellen bieten sich hier
Sie sich in Geduld und halten Sie Stille, als Zielscheibe von Schuldzuweisungen und Vorwür-
Schweigen und Gesprächspausen aus. Vorsicht vor fen an.
Gedanken wie „In der Zeit könnte ich bereits viele
andere Anrufe entgegengenommen haben.“. Selbst- Vor allem in Großschadenslagen kämpfen manche
verständlich ist es wichtig, in der Krise möglichst Menschen mit Angst und Sorgen um ihre Zukunft
viele Menschen zu entlasten und zu unterstützen, (Versorgungsleistungen, Schadensersatz etc.) und
aber deshalb darf nicht die Qualität in den einzelnen sich mit diversen Behörden und Ämtern auseinan-
Gesprächen leiden. Sie sind in diesem Moment für dersetzen. Auf Seiten des Anrufers fehlt – oftmals
* Dieser Hinweis bezieht sich vorrangig auf die Phase der Tage und Wochen nach dem Unglück und in besonderem Maße auf die Hot-
linearbeit von psychosozialen Experten, weniger von Agenten. In der Akutphase, den ersten Stunden nach Unglückseintritt, werden
Sie nicht die Möglichkeit haben, sich sehr intensiv mit jedem einzelnen Anrufer zu befassen, sondern tatsächlich sehr viele Anrufe in
kurzer Zeit bearbeiten müssen.
nachvollziehbar – das Verständnis, dass unbürokrati- • S orgen Sie dafür, dass der durch das Telefonat
sche und schnelle Hilfe häufig nicht so einfach geleis- entstandene eigene Ärger vor dem nächsten Tele-
tet werden kann. fonat möglichst abgeklungen ist: Ablenkung,
kurze Pause an der frischen Luft, kurz Durchat-
Sinnvolles Verhalten bei aufgebrachten Anrufern men, etwas Essen / Trinken etc. Wenn Ihr eigener
ist deshalb: Ärger über den vorherigen Anrufer noch in Ihnen
• Führen Sie sich vor Augen, dass Sie in der Regel schwelt, werden Sie den nächsten Anrufer mögli-
nicht persönlich gemeint sind. Ignorieren Sie ver- cherweise nicht unvoreingenommen und unbelas-
bale Aggressionen soweit es Ihnen möglich ist: tet behandeln können, deshalb: „Die innere Uhr
Der Anrufer ist der Situation gegenüber aggressiv wieder auf Null stellen.“
und nicht speziell gegenüber Ihrer Person. Auch
wenn Sie in diesem Moment eine Angriffsfläche
Auf einen Blick: Aufgebrachte Anrufer
und ein Ventil für Aggression darstellen.
• Vermeiden Sie spontane Gegenaggression.
• Nehmen Sie den Anrufer und seine Wut ernst. • die Wut des Anrufers ernst nehmen
Zeigen Sie Verständnis und versuchen Sie, die • spontane Gegenaggression vermeiden
sachliche Information beziehungsweise das
• klare Grenzen setzen, wenn Aggressionen
eigentliche Anliegen herauszuhören.
nicht abreißen oder ausufern
• Bleiben Sie ruhig. Halten Sie ruhig bewusst inne
und atmen Sie durch, bevor Sie reagieren. • sich selbst entlasten
• Spiegeln Sie dem Anrufer sein Verhalten zurück:
„Sie sind im Moment sehr aufgebracht. Da fällt es
mir schwer, Sie richtig zu verstehen.“ Vielleicht
148 wird dem Anrufer dadurch erst bewusst, dass
oder wie sehr er in Rage ist.
• Versuchen Sie, den Konflikt zu regeln: „Nach
dem, was Sie geschildert haben, kann ich mir vor-
stellen, dass Sie sehr ärgerlich sind. Wir könnten
jetzt gemeinsam sehen, was wir hier und jetzt
unternehmen können.“
• Sollten die Aggressionen nicht abreißen und aus-
ufern, setzen Sie freundlich und bestimmt klare
Grenzen. Beenden Sie das Telefonat, bieten aber
einen erneuten Anruf an: „Ich bin nicht bereit, in
diesem Tonfall weiter mit Ihnen zu sprechen.
Bitte versuchen Sie es später noch einmal, damit
ich mich auf ein Gespräch mit Ihnen einlassen
kann und wir eine Lösung für ihr Anliegen finden
können.“
151
Auf einen Blick: Besondere Anliegen und Situationen
Hat der Anrufer keine weiteren Fragen und Anliegen, gen beziehungsweise den Auflege-Button richtig zu
beenden Sie das Gespräch aktiv: Fassen Sie kurz die drücken, damit die Leitung frei ist und ein gegebe-
wichtigsten Ergebnisse zusammen und nennen Sie nenfalls vereinbarter Rückruf auch erfolgen kann.
die Maßnahmen, die bisher eingeleitet wurden. Um dies zu prüfen, legen Sie erst auf, wenn der
Geben Sie einen Ausblick, welche weiteren Schritte Anrufer dies getan hat. So können Sie zusätzlich
von Ihnen unternommen werden und welche der sicher gehen, dass eine Frage, die „in letzter Sekunde“
Anrufer selbst unternehmen kann. aufgekommen ist von Ihnen noch entgegengenom-
men werden kann.
Treffen Sie niemals eine Vereinbarung, die Sie nicht
einhalten können, auch wenn der Anrufer noch so
verzweifelt ist oder auf sie einredet! Auf einen Blick: Gesprächsabschluss
152
Nach dem Gespräch gilt: Durchatmen, Daten notieren und das nächste Gespräch erst annehmen, wenn man wieder bereit ist.
(Bild: dpa)
Checkliste: Der rote Faden für die Praxis – M-A-C-H-E-N
Material ordnen
Anruf entgegennehmen
• aktiv zuhören
• Beziehung aufbauen
A • Anruferdaten aufnehmen
• Informationen und Anliegen aufnehmen:
- praktischer Arbeitauftrag
- psychosoziale Bedürfnisse
Chaos strukturieren
C
• beruhigen und entlasten (dabei über „normale“ Reaktionen aufklären) 153
• Fokus auf die aktuelle Situation richten
• gesicherte Informationen vermitteln
• weiteres Vorgehen planen
Handeln planen
• ressourcen- und lösungsorientiert arbeiten: Wer oder was ist jetzt hilfreich?
• Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit fördern (dabei überschaubare und erreichbare
H Schritte planen)
• soziales Netzwerk aktivieren
• gegebenenfalls Weitervermittlung anbieten (Beratung, Therapie etc.)
• gegebenenfalls Rückruf vereinbaren (konkrete Zeit festlegen)
E
• wichtige Gesprächsinhalte und Vereinbarungen zusammenfassen
• vergewissern, dass alle Daten korrekt erfasst wurden (Name, Erreichbarkeiten)
• Gespräch positiv beenden: Ausblick auf weiteres Vorgehen geben
• durchatmen
• gegebenenfalls unübersichtliche Notizen neu schreiben
VI. Kapitel
Stressmanagement der Hotliner
Umgang mit Belastungen und Stress an der Hotline
Belastungen und Stress
Nicht jedes Gespräch und nicht jeder Einsatz an der Gefühle der Anrufer sind, die Sie hier wahrnehmen
Hotline werden auch automatisch belastend sein. Es und die sich auf Sie übertragen. Versuchen Sie im
ist sogar möglich, dass das Gegenteil eintritt: positive Gespräch kleine Handlungsschritte und Lösungen zu
Gefühle oder Freude durch Erfolgserlebnisse. Trotz- formulieren. Suchen Sie sich geeignete Strategien
dem ist es notwendig, sich auch mit möglichen eige- und Ressourcen, um sich selbst Entlastung zu ver-
nen Belastungen und deren Bewältigung zu beschäf- schaffen.
tigen. Bei allem Einsatz für andere Menschen ist es
erforderlich, dass Sie auch an sich selbst denken. Ärger und Wut
Dies dient nicht nur Ihrem eigenen Interesse und Manche Anrufer drücken ihre eigene Wut sehr vehe-
Wohlergehen, sondern geschieht auch im Sinne der ment aus. Zum Teil kann sich diese gegen Sie als ers-
Anrufer. Niemandem ist geholfen, wenn Sie aufgrund ten Adressaten richten. Vielleicht reagieren Sie selbst
der situativen Anforderungen nicht mehr konzent- mit Ärger und Wut. Machen Sie sich klar, dass die
riert arbeiten können und nachfolgenden Anrufern Wut nicht persönlich gemeint ist, dass Ärger eine
nicht mehr gerecht werden: „Nach dem Gespräch ist häufige Reaktion auf Belastungen ist. Lassen Sie sich
vor dem Gespräch.“ nicht provozieren, bleiben Sie ruhig. Wird ein Anru-
fer gegen Sie ausfallend und beleidigend, beenden
Die folgenden Ausführungen bieten einen Überblick Sie das Gespräch, bieten aber die Möglichkeit an,
über den Bereich Stress und Stressmanagement. Ent- erneut anzurufen. Tauschen Sie sich mit Personen
scheidend ist, dass Sie sich Ihre eigenen und sicher- Ihres Vertrauens über den Ärger aus, vielleicht haben
lich schon vorhandenen individuellen Ressourcen Ihre Kollegen und Kolleginnen ähnliche Erfahrungen
„Wer oder was ist jetzt hilfreich und nützlich?“, „Was gemacht und hilfreiche Strategien entwickelt. 155
hilft mir erfahrungsgemäß in stressigen Zeiten?“ ver-
gegenwärtigen und ausbauen. Traurigkeit
Es kann sein, dass einzelne Schicksale Sie selbst stark
Die Arbeit an der Hotline kann belastend sein, gerade berühren oder Sie auch an eigene Erfahrungen erin-
wenn Sie viele Gespräche mit verzweifelten, aufge- nern. Versuchen Sie während des Gesprächs, diese
regten oder aufgebrachten Anrufern entgegenneh- Gefühle nicht auszudrücken. Versuchen Sie zwischen
men. Neben einem Grundwissen über Reaktionen den eigenen Erinnerungen und den damit verbunde-
und Bedürfnisse von Menschen in Extremsituatio- nen eigenen Gefühlen und der Geschichte des Anru-
nen, wie es in den vorherigen Kapiteln ausgeführt fers zu trennen. Suchen Sie sich nach dem Gespräch
wurde, ist ein Wissen über eigene Belastungen, Stress eine Person Ihres Vertrauens, mit der Sie über Ihre
und den adäquaten Umgang damit hilfreich. Gefühle sprechen können.
Im Alltagsgebrauch taucht der Begriff „Stress“ oft auf Es ist aber auch das Gegenteil möglich: Die Situation
und wird dann mit etwas Negativem assoziiert (vor unterfordert den Menschen, auch in diesem Fall
allem mit Zeitdruck), aber „Stress“ umfasst viel mehr: spricht man von negativem Stress. Eine weitere Mög-
Belastungen beziehungsweise Anforderungen kön- lichkeit besteht darin, dass die Anforderung zur Her-
nen sich ganz unterschiedlich auf einen Organismus ausforderung für den Betroffenen wird und ihn zu
auswirken. Sie können das Gleichgewicht bedrohen, Höchstleistung bewegt. In diesem Fall ist der Stress
können bewältigt werden oder sich sogar förderlich positiv.
und leistungssteigernd auf den Reaktionsebenen aus-
wirken. Stress muss also nicht immer negativ sein und nega-
tive Konsequenzen nach sich ziehen, sondern man
Stress heißt zunächst einmal, dass ein Organismus kann Distress (negativen Stress) und Eustress (positi-
auf Reize/Ereignisse (sogenannte Stressoren) reagiert ven Stress) unterscheiden. Distress und Eustress kön-
und eine Anpassungsleistung an neue Bedingungen nen letztlich nicht nach dem auslösenden Reiz unter-
vollziehen muss. Dieses Ereignis kann die zur Verfü- schieden werden, sondern nur in den Reaktionen
gung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten der darauf, die wiederum von der Wahrnehmung und
betroffenen Person strapazieren oder zeitweilig sogar Interpretation der betroffenen Person abhängig sind.
überfordern, man spricht dann von negativem Stress.
156
a u s f o rd e r u n g
Her
Leistungsfähigkeit
Eustress
Unterforderung Überforderung
Langeweile – Distress Druck – Distress
Anforderung
Abb. 28: Stressverlaufskurve.
Reaktionsebenen
Abb. 29: Transaktionales Modell nach Lazarus: Beispiel für Reaktionen bei Distress.
Unsere heutigen Umweltbedingungen haben sich
Auf einen Blick:
aber so stark verändert, dass instinktive Stressreakti-
Das transaktionale Stressmodell
onen in bestimmten Situationen nicht mehr angemes-
sen sind. Wir können beziehungsweise sollten nicht
• Stress ist ein dynamisches und individuelles so reagieren, wie es das ursprüngliche „Programm“
Geschehen. Ob es zu einer Stressreaktion von uns verlangt, denn wir müssen heutzutage in der
kommt, hängt von verschiedenen Einfluss- Regel nicht auf Gefahren wie zum Beispiel plötzlich
größen ab: Stressor, zur Verfügung ste- auftauchende Raubtiere reagieren. Die alltäglichen
hende Ressourcen und Person. Stressauslöser sehen anders aus, lösen aber die
• Entscheidend bei der Entstehung von Stress „alten“ Notfall-Reaktionen aus. Eine Konfliktsituation
sind das subjektive Erleben und die subjek- mit dem Vorgesetzten kann uns stark ängstigen oder
tive Bewertung des Stressors und der zur verärgern und wir reagieren mit einem Anstieg der
Verfügung stehenden Ressourcen durch die Herzfrequenz, Zornesröte oder Unempfänglichkeit
betroffene Person. für alternative Sichtweisen etc. Problematisch ist,
dass wir solche Situationen nicht mehr so bewältigen
• Stressreaktionen finden auf vier Ebenen
können wie „damals“ bei der Konfrontation mit
statt: physisch, verhaltensbezogen, emotio-
einem Säbelzahntiger, sondern dass von uns zum
nal und kognitiv.
Beispiel eine ruhige und besonnene Reaktion erwar-
tet wird.
Negative Stressreaktionen können die Arbeitsfähigkeit einschränken und belasten. (Bild: Schlierner – Fotolia.com)
physisch verhaltensbezogen
• Zittern • Überaktivität
• Schwitzen • Erstarrung, Lähmung
• kalte Extremitäten • vermehrter Konsum von Suchtmitteln
• Schlafstörungen • falsche Ernährung
• trockener Mund, Schluckbeschwerden • Vermeidung von sozialen Kontakten, Rückzug
• Kurzatmigkeit • Suchbewegung nach sozialen Kontakten
• Herzklopfen, -rasen
• Übelkeit, Verdauungsstörungen
• Rückenschmerzen
• Kopfschmerzen
• erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten
• Schwindel
emotional kognitiv
• nervös • Gedächtnislücken
• schreckhaft • Sprachlosigkeit
159
• gereizt, wütend, ärgerlich • Denkblockaden, Konzentrationsstörungen
• ängstlich, panisch • „Tunnelblick“
• verunsichert • Wahrnehmungsverschiebung
• apathisch, Gefühl von „emotionaler Taubheit“ • Grübeln, Selbstvorwürfe
• niedergeschlagen
So wie wir bestrebt sind, unseren Körper vor Krank- Stressbewältigung kann von zwei Ausgangspunk-
heiten zu schützen und ihn gesund zu halten, zum ten her angegangen werden:
Beispiel durch Ernährung, Schlaf oder Bewegung, • problemlösungsorientiert: Lösung des Problems
sind auch Maßnahmen auf der psychischen Ebene und Beseitigung des Stressors
nötig und möglich, um unsere geistige und psychi- • emotionsregulierend: Regulierung der Stressre-
sche Gesundheit aufrecht zu erhalten oder wieder aktionen (unangenehme Gefühle, Gedanken etc.)
herzustellen.
Die Strategien können in kurzfristig und langfristig
Mit Stressbewältigung ist nicht gemeint, dass man wirksame Strategien unterteilt werden und beziehen
keinen Stress mehr empfindet. Ziel ist es, unter mög- die vier Ebenen der Stressreaktion (physisch, kogni-
licherweise anfordernden Umständen das Belas- tiv, emotional und verhaltensbezogen) mit ein. Wich-
tungsempfinden zu reduzieren, sich im Vorfeld mög- tig ist, dass solche Strategien im Vorfeld trainiert und
lichst umfassend auf stressreiche Situationen immer wieder geübt werden, damit sie im Bedarfsfall
vorzubereiten oder adäquate Lösungsstrategien zu „sitzen“. Es reicht also nicht aus, „nur“ darüber zu
entwickeln, um Stressoren auszuschalten. lesen. Die Strategien sind erlernbar, wenn auch man-
che zum Erlernen eine Unterweisung brauchen, wie
Die Strategien zur Bewältigung können von Mensch zum Beispiel das autogene Training.
zu Mensch sehr unterschiedlich sein. Bewältigungs-
maßnahmen sind nicht nur auf Entspannung ausge-
Bedeutung für die Hotlinepraxis:
richtet, sondern können auch Aktivität und unter
160 Umständen Anstrengung bedeuten.
• Stressbewältigung kann auch heißen:
Stressbewältigung läuft in der Regel nicht automa- Aktivität und Anstrengung.
tisch ab. Es ist förderlich, ein breites Spektrum an • Strategien können problemlösungsorientiert
Bewältigungsstrategien, sogenannten Coping-Strate- und emotionsregulierend sein.
gien, zu haben, um möglichst flexibel auf die eigene
• Strategien können in kurzfristig und lang
Bedürfnis- und Anforderungslage reagieren zu kön-
fristig wirksame Strategien unterteilt werden.
nen. Was hilfreich ist, entscheidet dabei jeder selbst.
Eine Voraussetzung für die Entscheidung zur Stress- • Strategien sind erlernbar und sollten im
reduktion sowie für die Entwicklung und Anwen- Vorfeld trainiert werden.
dung effektiver Maßnahmen ist die Selbstbeobach- • Was hilft und was weniger hilfreich ist, kann
tung der eigenen Stressreaktionen und das Auspro- individuell sehr unterschiedlich sein.
bieren und Erlernen verschiedener Techniken.
Atemübungen
Atemübungen regulieren eine autonome Funktion:
In Belastungssituationen wird die Atmung meist fla-
cher und schneller. Bewusstes und tiefes Ein- und
Ausatmen beruhigt, stabilisiert und steigert das Erle-
ben von Kontrollfähigkeit.
Ablenkungsstrategien
Wesentlich in der Stressbewältigung sind Ablen-
kungsübungen, die dabei unterstützen, sich kurzfris-
tig von quälenden Gedanken, Bildern und Gefühlen
zu distanzieren. Mit gezielter Ablenkung und Steue-
rung der Wahrnehmung ist es möglich, die Aufmerk- Wichtig, um die Arbeitfähigkeit an der Hotline zu erhalten:
samkeit kurzfristig von den Stressoren abzuziehen Pausenzeiten. (Bild: kebox – Fotolia.com)
Abreaktion – körperliche Betätigung
Spannungen können durch Abreaktion abgebaut
werden. Hierzu zählt vor allem körperliche Betäti-
gung: die Treppen rauf und runter rennen, einmal
um den Block laufen etc. Aber auch der Ausdruck,
das „Herauslassen“ von Emotionen: schimpfen,
schreien, weinen, lachen. Gerade in der akuten Situ-
ation ist wichtig, dies in einem sozial verträglichen
Rahmen und bei vertrauten Personen zu tun. Ein
unkontrolliertes vor allem aggressives Auslassen an
anderen Personen ist in der Regel stressverstärkend,
sowohl für Sie selbst als auch für Ihr Umfeld.
Humor
Im Umgang mit schwierigen Situationen kann eine
humorvolle Betrachtung hilfreich sein und zur Ent-
spannung beitragen. Humor ist die Fähigkeit, der Kaltes Wasser regt den Kreislauf an und hilft, einen „kühlen
Situation mit innerer Ruhe und Gelassenheit zu Kopf“ zu bekommen. (Bild: Marco Barnebeck / PIXELIO)
begegnen und eine gewisse Distanz dazu einzuneh-
men. Humorvolle Betrachtungen können außerdem Entspannen durch Musik
als Ausdruck von Hoffnung und Trost gesehen wer- So wie Musik störend, nervend und konzentrations-
den und der Motivationssteigerung dienen. Sie soll- beeinträchtigend sein kann, kann sie auch zur Ent-
ten allerdings darauf achten, dass Humor nicht auf spannung und Ablenkung beitragen. Es gibt zahl
162 Kosten der Anrufer oder Ihrer Kollegen eingesetzt reiche und vielfältige musikalische Angebote, die
wird oder Sachverhalte dadurch ins Lächerliche gezo- explizit der Entspannung dienen. Dabei handelt es
gen werden. sich häufig um melodische bis sphärische Klänge
unterlegt von Meeresrauschen oder anderen Natur-
Nach einer akut belastenden Situation neigen man- geräuschen. Teilweise sind diese Klänge mit soge-
che Menschen zu schwarzem Humor oder Zynismus. nannten Traumreisen kombiniert, wobei ein Text
Dies ist durchaus eine kurzfristig wirksame Bewälti- vorgelesen wird, der ihre Gedanken zum Beispiel an
gungsstrategie, welche die Situation entkrampfen einen Strand, auf eine Wiese oder an einen anderen
und zu einer ersten Distanzierung beitragen kann. schönen Ort leitet. Häufig werden dabei neben dem
Gehör auch andere Sinne angeregt, sodass Sie zum
Schwarzer Humor und Zynismus reichen Beispiel angeleitet werden, sich die Berührung des
jedoch nicht für eine nachhaltige Verarbei- Grases oder seinen Duft vorzustellen. Diese Entspan-
tung. Achten Sie deshalb darauf, dass der Zynismus nungsmethode erfordert Zeit, sodass sie für längere
nicht in eine grundlegende Haltung übergeht, mit der Pausen geeignet ist oder am Ende Ihrer Schicht even-
Sie zukünftig jede Anrufsituation betrachten. tuell mit anderen Kollegen oder auch nur für sich
selbst im eigenen Zuhause durchgeführt werden
Kalte Erfrischung kann.
Lassen Sie ein paar Minuten lang kaltes Wasser über
ihre Pulsadern laufen oder spritzen Sie sich kaltes Um sich für einen kurzen Moment zu entspannen,
Wasser ins Gesicht. Dadurch üben Sie gleich mehrere können Sie sich zum Beispiel Ihr Lieblingslied (egal,
Strategien aus: Sie regen den Kreislauf an, weil Sie welches Musikgenre), ein Lied mit dem Sie etwas
aufstehen und zum Waschbecken gehen müssen, Positives verbinden oder erinnern oder ein einzelnes
haben einen kurzzeitigen Ortswechsel und bekom- Lied mit Entspannungsmusik anhören. Achten Sie
men einen „kühlen Kopf“. darauf, dass Sie Kopfhörer verwenden: Dadurch wer-
den Ihre Kollegen nicht gestört und sie können
Umgebungsgeräusche abhalten, sodass Sie sich noch
besser auf die Musik einlassen und für einen kurzen
Moment „abtauchen“ können.
Professionelle Einsatznachsorge Aufbau und Erhalt der Widerstandskraft
Hierzu zählt zum Beispiel ausreichend Schlaf, ausge-
Nach jedem Krisenhotlineeinsatz sollten allen Hot wogene Ernährung, ausreichende Flüssigkeitszufuhr,
linern (Agenten und PSNV-Experten) professionelle Bewegung etc. „Ohne Mampf kein Kampf!“
Einsatznachsorgegespräche angeboten werden.
Auch wenn es paradox erscheinen mag, sich durch Konzentrieren Sie sich mit Ihrer Wahrnehmung
Rechenübungen kurzfristige Entspannung zu Ver- auf die äußere Realität und zählen Sie auf:
schaffen, ist die Methode effektiv: Durch das Rech- 5 Gegenstände, die Sie sehen
nen werden Menschen angeregt, sich auf etwas zu 5 Geräusche, die Sie hören
konzentrieren, was ihre ganze Aufmerksamkeit bean- 5 Körperempfindungen, die Sie wahrnehmen,
sprucht und somit unangenehme Eindrücke zeit- dann
weise verdrängen kann. Der Schwierigkeitsgrad der
4 Gegenstände, die Sie sehen
Rechenübungen ist dabei variabel, je nachdem was
4 Geräusche, die Sie hören
noch hilfreich ist, um sich erfolgreich abzulenken.
4 Körperempfindungen, die Sie wahrnehmen,
Man sollte die Übung jedoch nicht zu einfach gestal-
dann
ten, da sonst der Ablenkungseffekt nicht ausreichend
ist. 3 Gegenstände, die Sie sehen
3 Geräusche, die Sie hören
3 Körperempfindungen, die Sie wahrnehmen,
ABLENKEN DURCH RECHNEN dann…
Die Wahrnehmungen können dabei laut oder
Rechnen Sie zum Beispiel „10.000 – 13“ leise ausgesprochen oder auch nur gedacht
fortlaufend abwärts. werden.
Abb. 31: Anleitung: Ablenken durch Rechnen. Abb. 32: Anleitung: 5 – 4 – 3 – 2 – 1 Sehen – Hören –
Empfinden.
Atemübungen Körperliche Übungen zur Stressreduktion
Atemübungen sind eine wichtige Grundlage für die Eine innere Anspannung wirkt sich in der Regel
bewusste Übernahme von Kontrolle: Ich kontrolliere immer auch körperlich aus. In Stresssituationen span-
meine Atmung, die ansonsten unbewusst gesteuert nen Menschen – und auch Tiere – instinktiv die Mus-
wird. Atemübungen dienen der Entspannung. Wenn kulatur an, um sich vor Angriffen zu schützen und
jemand bewusst etwas kontrollieren kann, was schnell reagieren zu können. Wenn Situationen kör-
ansonsten unbewusst abläuft, kann ein Transfer auf perlich oder seelisch belastend oder bedrohlich sind,
andere Bereiche erfolgen. In Stresssituationen ist es neigen Menschen dazu, die Schultern hochzuziehen
ein angeborenes physiologisches Reaktionsmuster, und den Rücken zu krümmen. Auch das sind ganz
flach und schnell zu atmen. Durch das Erlernen der alte, angelegte Verhaltensmuster, die dazu dienen,
Atemkontrolle können belastende Eindrücke und die verletzlichsten Körperbereiche (den Hals, das
Erinnerungen in Verbindung mit anderen Übungen Herz und den Bauch) zu schützen.
positiv beeinflusst und Distanzierung und Selbstberu-
higung gefördert werden. Wenn Menschen sich über längere Zeit in einer ange-
spannten Situation befinden und nicht für muskuläre
ATEMÜBUNGEN Entspannung sorgen, kann das zu Spannungsschmer-
zen führen.
Versuchen Sie Ihren Atemrhythmus mit Zählen Die nachfolgenden Übungen unterstützen dabei, die
zu kombinieren. Achten Sie zunächst eine
Muskulatur aktiv zu entspannen und zu dehnen, um
Weile auf Ihren eigenen Atem und beginnen
Spannungsschmerzen zu vermeiden.
dann Ihren Atemrhythmus mitzuzählen, ohne
ihn zu verändern. Zum Beispiel:
166 Insbesondere die progressive Muskelentspannung
Einatmen: 1 – 2 – 3 ……….
kann in kurzer Zeit erlernt und in Arbeitspausen ein-
(Stopp: 4)
fach durchgeführt werden.
Ausatmen: 5 – 6 – 7 ……..
Manche Menschen stoppen den Atemfluss
zwischen der Ein- und Ausatmung für einen KÖRPERLICHE ÜBUNGEN ZUR
kurzen Moment. Sollte das bei Ihnen so sein, STRESSREDUKTION
zählen Sie die kurze Pause mit.
Probieren Sie dann aus, Ihren Atemrhythmus • Achten Sie zwischendrin darauf, sich immer
zu verändern, zu verlängern oder auch zu ver- wieder zu bewegen, eventuell aufzustehen.
kürzen. Finden Sie heraus, welche Art zu
atmen Sie am meisten entlastet und beruhigt. • Strecken Sie sich und achten dabei insbe-
Versuchen Sie darauf zu achten oder dahin zu sondere auf die Dehnung der Schulter-
gelangen, dass die Ausatmung gleichlang Nacken-Partie, indem Sie zum Beispiel die
oder sogar etwas länger andauert, als die Ein- Arme nach hinten strecken und damit den
atmung. Brustkorb öffnen, die Schultern bewusst in
Einatmen: 1 – 2 – 3 …… alle Richtungen bewegen, vorsichtig den
(Stopp: 4) Kopf kreisen etc.
Ausatmen: 5 – 6 – 7 – (8) ……
Um sich verstärkt von unangenehmen Gedan- Abb. 34: Anleitung: Körperliche Übungen zur Stressreduktion.
• Setzen Sie sich für einen Moment bequemen hin. Setzen Sie sich aufrecht hin, sodass Ihr Kopf vom
Oberkörper ohne Mühe getragen wird und lehnen Sie sich leicht an die Rückenlehne an.
• Lassen Sie die Schultern fallen, die Unterarme ruhen auf der Stuhllehne.
• Die Füße stehen fest auf dem Boden und tragen die Unterschenkel.
• Atmen Sie tief und ruhig durch, möglichst in Bauchatmung.
In den folgenden Schritten geht es hauptsächlich darum, den Unterschied zwischen entspannten und
angespannten Muskelgruppen zu spüren. Spannen Sie nach und nach einzelne Körperbereiche bis zu
einer für Sie angenehmen Grenze an und entspannen Sie diese wieder. Die Anspannung sollte 5 bis 7
Sekunden gehalten werden, an den Füßen etwas kürzer. Die Entspannung sollte länger dauern.
• Als Rechtshänder beginnen Sie mit dem rechten Arm, Linkshänder mit dem linken. Bereiten Sie sich
nun darauf vor, an diesem Arm sämtliche Muskeln nacheinander maximal anzuspannen. Am besten
erreichen Sie dies, wenn Sie die Faust ballen, den Unterarm nach oben hin anwinkeln und zugleich
die Muskeln des Oberarms anspannen. Atmen Sie dabei tief ein. Dann halten Sie für 5 bis 7 Sekun-
den die Luft an und die Muskeln gespannt. Mit der Ausatmung entspannen Sie auch die Muskulatur
wieder.
• Manche Personen spüren ein wohltuendes Gefühl der Schwere oder Wärme in den Körperberei-
chen. Physiologisch ist dies ein Zeichen dafür, dass der Arm vermehrt durchblutet wird – eine Folge
der Muskelentspannung.
167
• Nehmen Sie jetzt den zweiten Arm hinzu und üben Sie solange, bis Sie die Entspannung und ihre
Begleiterscheinungen wie Schwere und Wärme in beiden Armen fühlen.
• Stellen Sie sich vor, dass Sie mit dem Ausatmen etwas Unangenehmes wegschicken. Das Aus
stoßen von etwas, das uns unbekömmlich ist, ist eine der natürlichsten Reaktionen unseres Körpers.
• Dehnen Sie die Übung schrittweise auf die großen Muskelpartien aus. Falls Sie mit Ihren Beinen
beginnen wollen, erreichen Sie einen guten Spannungszustand, wenn Sie Ihre Fußspitzen nach oben
und innen hochziehen.
• Die Schulter- und Nackenpartie spannen Sie an, wenn Sie die Schultern hochziehen und den Kopf
einziehen.
• Ihren Bauch können Sie anspannen, indem Sie ihn herausstrecken oder einziehen. Alle Muskeln
lassen sich entweder durch Dehnung oder durch Zusammenziehen anspannen. Wechseln Sie
zwischen diesen beiden Möglichkeiten der Anspannung.
• Wenn sich während der Übung unerwünschte Erinnerungen einstellen, atmen Sie diese mit aus.
• Schließen Sie die Übung ab, indem Sie sich zum Beispiel strecken, aufstehen oder ausschütteln.
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