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Leadership im Katastrophenschutz - oder:

Not kennt kein Gebot

Organisationstheoretische Überlegungen zur


Gefahrenabwehr in Deutschland

Peter Buchner

J:\04_ARTIKEL\FüOrg\ZfO.doc
Stand: 29. Mai 2007 .
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Leadership im Katastrophenschutz - oder:


Not kennt kein Gebot

Organisationstheoretische Überlegungen zur


Gefahrenabwehr in Deutschland

Gliederung:

Vorwort

Forschungsaktivitäten

Institutionelle Gliederung der Gefahrenabwehr

Merkmale von Katastrophen und Großschadenslagen

Das Führungssystem der Gefahrenabwehr

Führungsorganisation

Führungsvorgang

Führungsmittel

Folgerungen: Vier Augen sehen mehr als Zwei!

Zukunftsaussichten: Neues Denken zum Schutz der Bürger

Anmerkungen
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Vorwort
Seit den Anschlägen in New York am 11. September 2001 ist
Katastrophenabwehr im Bewusstsein der Bürger. Aber bereits
andere Katastrophen hierzulande haben hin und wieder den Blick
auf Gefahrenabwehr gelenkt. Meistens geriet dies jedoch gleich
wieder in Vergessenheit. Die Organisationsform stand sowieso
nicht zur Diskussion. Insbesondere die Gefahren des
internationalen Terrorismus rechtfertigen jedoch eine
organisationstheoretische Betrachtung.

Der Schutz der Bürger ist eine Grundfunktion des Staates. Nach
einem Unfall darf man schnelle Hilfe erwarten. Wer unverschuldet
in Gefahr gerät, möchte schnell gerettet werden. Dies beginnt im
Kleinen, wenn beispielsweise ein Infarktpatient zur medizinischen
Versorgung in ein Krankenhaus transportiert werden muss, und
geht bis zu weitreichenden Maßnahmen bei Hochwasser,
Waldbränden oder nach Terroranschlägen.

Trotz umfangreicher Literatur zum Thema Führung in Polizei,


Feuerwehr und im Rettungsdienst kommen
Untersuchungsberichte, mit denen große Schadensereignisse wie
zuletzt das Hochwasser 2002 aufgearbeitet wurden, immer wieder
zu kritischen, häufig niederschmetternden Ergebnissen. Dies kann
Folge unzureichender Rezeption der theoretischen Grundlagen in
der praktischen Arbeit sein. Genauso gut könnten die
Überlegungen am Bedarf der Praxis vorbei gehen. Schließlich –
diese These soll diesem Beitrag zugrunde liegen – treffen beide
Vermutungen nebeneinander zu. Die richtigen Fragen werden
nicht gestellt, Antworten sind nicht zielführend und die
notwendigen Konsequenzen können nicht gezogen werden.

Im Folgenden wird das Führungssystem der nichtpolizeilichen


Gefahrenabwehr untersucht. Die Eigenschaften, die eine
Katastrophe oder große Schadenslagen ausmachen, werden mit
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den Funktionalitäten des Führungssystems verknüpft. Daraus


werden Maßstäbe abgeleitet, die an die Organisation des
Katastrophenschutzes in Deutschland anzulegen wären. Danach
werden Vorschläge für die gemeinsame theoretische Fundierung
der Hilfeleistung unterbreitet.

Die theoretische Fundierung wird auf operativer Ebene verortet.


Für die Zusammenarbeit bei größeren Schadensfällen bedarf es
einschlägiger Regeln fürs Zusammenwirken. Sie sind von
höherem Abstraktionsniveau als die derzeit verfügbaren
Taktischen, die sich als Handlungs- oder technische Anweisungen
auf die Nutzung von Geräten beschränken.

Aktualität erhält die Fragestellung angesichts neuartiger


Herausforderungen mit Zunahme von Naturkatastrophen,
beispielsweise des Tsunami im Indischen Ozean oder die
Hurrikane "Katrina" und "Rita" im Golf von Mexiko. Vor allem aber
die Furcht vor Terrorismus löst politische Überlegungen zur
Ausgestaltung der Inneren Sicherheit aus.

Forschungsaktivitäten
Die aktuelle Forschung zum Gegenstand Katastrophenschutz
orientiert sich an naturwissenschaftlich-technischen
Ingenieurproblemen auf der einen Seite und an
Vorsorgemaßnahmen, die den Forschern in der Spannweite von
Soziologie und Geographie bis Brand- und Explosionsschutz nahe
liegen, auf der Anderen. Die Betrachtung der Schadensabwehr
selbst, verstanden als Führungslehre, bleibt in der Hand der
Praktiker. Auf der Strecke bleibt dabei das theoretische
Fundament.

Die Katastrophenabwehr beherrscht somit eine vortheoretische


Praxis (Kieser), die sich zudem überwiegend auf die technische
Betrachtung beschränkt. Damit bezeichnet der Konstruktivismus
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eine Situation, in der Menschen ihre Aufgaben ohne die bewusste


und reflektierte Anwendung von Theorie bewältigen. Zweifellos
reicht dies für viele alltägliche Aufgaben aus.1 Deutlich wird dies,
wenn eine kleine Feuerwehr zum Löscheinsatz anrückt. Das
positive Bild verdüstert sich jedoch, wenn es größere
Herausforderungen zu bewältigen gilt. Für die komplizierteren
Aufgaben bestehen kaum konkrete Erfahrungen.
Zusammenhänge müssten auf abstraktere Ebenen gehoben
werden, denn die Strukturen sind häufig undurchschaubar.
Alltagsweltliches Können und ein Geübt sein in Handgriffen reicht
da allein nicht mehr und Vertrautheit mit der Situation besteht nicht
mehr mangels erlebter Einsätze.

Aus diesen Erfahrungen des Misserfolges muss die Möglichkeit


wachsen, zu einer methodisch-systematischen Verbesserung zu
gelangen. Dies ist zu aller erst eine Verpflichtung vor dem Bürger,
der Hilfe braucht. In der dann einsetzenden theoretischen Praxis
sind sowohl im aktuellen Handeln als auch im Nachdenken die
Situation zu klären und Erfolgsbedingungen abzuschätzen. Ziele
müssen bestimmt und die Mittel der Zielerreichung müssen
zugeteilt werden. Die Führungskräfte des Katastrophenschutzes
treten mit diesem Übergang aus der Situation, in die sie in der
vortheoretischen Praxis vollständig eingebettet waren, heraus und
bringen sich in Distanz zur Aufgabenstellung. Sie vollziehen dabei
einen ersten Schritt der Abstraktion.

Organisationstheoretisch ist das Führungssystem bisher nicht


hinterfragt worden. Eine Distanzierung existiert insofern nicht.
Organisation bedarf aber der theoretischen Fundierung, allein
schon für eine aufgabengerechte Ausbildung.

Hierfür wird im Folgenden ein Vorschlag unterbreitet. Die


Eigenschaften des vorgegebenen Führungssystems werden den
Gegebenheiten einer Katastrophe gegenübergestellt, um daraus
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funktionale Parameter für die Katastrophenabwehr abzuleiten und


Schadensabwehrmaßnahmen und vor allem die Entscheidungen
zu ihrer Koordination rational zu begründen. Dies führt zu
konkreten Einzelfragen, die bisher entweder tabu waren oder auf
alle Fälle so noch nicht gestellt wurden.

Institutionelle Gliederung der Gefahrenabwehr


Auf den ersten Blick verbindet sich mit Gefahrenabwehr
Feuerwehr und Polizei. Sinnbilder sind die deutschlandweit
gültigen Rufnummern "eins-eins-zwo" und "eins-eins-null". Der
Blick hinter die Kulissen offenbart jedoch ein weitverzweigtes
Geflecht aus hoheitlichen Zuständigkeiten und oft idealistischer
Unterstützung Ehrenamtlicher. Die Einzelaktivitäten lassen sich
auf drei Achsen verorten:

Auf einer ersten Achse für den Staatsaufbau gibt es


Zuständigkeiten für die Schadensabwehr beim Bund, vor allem
aber bei den Bundesländern und bei den Gemeinden.
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In der weiteren Achse der Funktionalitäten ist zwischen Polizei,


Katastrophenschutz, Rettungsdienst und Feuerwehr sowie den
Ordnungsbehörden zu unterscheiden.
Auf der Interessenachse als Dritte unterscheidet sich schließlich
Schadensabwehr nach dem Träger einerseits der staatlichen
Organe und andererseits den privaten Hilfsorganisationen.

Der Bund ist für den Schutz der Bevölkerung im Verteidigungsfall


zuständig. Die Länder dagegen müssen Katastrophen - seien es
Natur- oder technische Schäden - beseitigen. Und die Gemeinden
tragen die alltägliche Gefahrenabwehr.

In funktionaler Dimension obliegt der Polizei die Aufrechterhaltung


der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf der einen Seite. Auf
der anderen Seite sind Feuerwehr und Rettungsdienst
Einrichtungen der Gemeinden oder Kreise. Dazwischen liegt ein
Bereich größerer Schäden für die hier der Begriff Katastrophe
sinnbildlich gebraucht wird. Hierfür zeichnen die Landräte bzw. die
Oberbürgermeister der kreisfreien Städte in ihrer Funktion als
Landesbehörden verantwortlich. Schließlich ergänzen die
Ordnungsbehörden in breitgefächerten Sicherheitsaufgaben das
Orchester des Gefahrenmanagements.

Das Personal des Katastrophenschutzes rekrutiert sich aus


unterschiedlichen Organisationen mit verschiedenen
Rechtsformen. Zunächst sind es die kommunalen Feuerwehren
und verstärkend beispielsweise das Technische Hilfswerk als
staatliche Einrichtungen. Daneben stehen private
Hilfsorganisationen wie die Sanitätsorganisationen Rotes Kreuz
oder Malteser Hilfsdienst.

Die Gefahrenabwehr des Katastrophenschutzes umfasst


funktionale Bereiche wie Verletztenrettung und -versorgung,
Betreuung der betroffenen Bevölkerung, Brandbekämpfung,
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Trümmerbeseitigung und ABC-Schutz bzw. Gefahrgutbeseitigung.


Um dies auch bei großen Schäden mit umfangreichen Mitteln und
viel Personal sachgerecht zu erledigen kommen mit
Transportaufgaben, Logistik oder Ablösungen subsidiäre
Tätigkeiten dazu. Deutlich wird dabei, dass von Katastrophen nicht
nur die Aufrechterhaltung der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung
berührt ist. Die Schadensbeseitigung wirkt auch in andere
Verwaltungsbereiche wie Ordnungsämter, Melde- und
Gesundheitsbehörden, Umweltämter i. w. S. und die
Verkehrsbehörden.

Damit ist eine Hilfeleistungsorganisation beschrieben, die sich


spinnennetzartig in den gesellschaftlichen Subsystemen
verankert.

Merkmale von Katastrophen und


Großschadenslagen
Die Merkmale, die eine Katastrophe erfüllen muss, sind in den
Katastrophenschutzgesetzen der Länder festgelegt. Dies bedeutet
allerdings, dass es für verschiedene Länder unterschiedlich
Formulierungen mit auch z.T. verschiedenen Wesensmerkmalen
geben kann. Für Brandenburg sind folgende Eigenschaften
beschrieben:

"Naturereignisse oder durch Mensch oder Technik


verursachte Ereignisse, die eine Beeinträchtigung oder
unmittelbare Gefährdung von Leben oder Gesundheit
einer Vielzahl von Menschen, erheblicher Sachwerte,
lebensnotweniger Unterkünfte oder der Versorgung der
Bevölkerung bedeuten und dabei zugleich erhebliche
Störungen oder unmittelbare Gefährdungen der
öffentlichen Sicherheit oder Ordnung verursachen,
durch Kräfte der Feuerwehr und des Rettungsdienstes
und trotz Nachbarschaftshilfe nicht in angemessener
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Zeit beseitigt werden können und den Einsatz der


Einheiten und Einrichtungen des Katastrophenschutzes
unter einheitlicher Führung erfordern."2

Sinnverwandte Formulierungen finden sich auch in nahezu allen


anderen Landeskatastrophenschutzgesetzen; einheitliche Führung
– meist als Leitung ausgedrückt – wird expressis verbis in den
Gesetzen aus Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Hessen,
Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und
Schleswig-Holstein genannt.

In Bezug auf die Schadensabwehrmaßnahmen werden die


Eigenschaften von Katastrophen in anderen Publikationen weiter
ausdifferenziert. Paul t´Hart, Research Professor of Public
Administration an der Utrecht School of Governance, beschreibt
Krisenmanagement mit den Eigenschaften Zeitdruck, Unsicherheit
und Bedrohung. Dem Wesen nach sind Katastrophen komplex
und enthalten eine Singularität nach Ort, Zeit und Organisation.

Er analysiert eine Anpassung des Verwaltungshandelns.


"Grundsätze der Amtsführung und der politischen Entwicklung
werden Schritt für Schritt unter dem Druck der Umstände über
Bord geworfen. Der Prozess der Entscheidungsfindung während
Krisen weicht in einer Anzahl von Punkten stark von jenem unter
normalen Umständen ab."3

Kirk, ehemals Dozent an der Akademie des Bundes für


Krisenmanagement, Notfallvorsorge und Zivilschutz schreibt
Katastrophen neben der Komplexität Vernetzung, Intransparenz,
Eigendynamik, Polytelie und Entscheidungsbedarf als
Eigenschaften zu.4

Zusammenfassend soll dies hier in drei Schlagworte gefasst


werden, die alles miteinander verknüpfen und später die Analyse
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des Führungssystems fokussieren: Ungewissheit, Handlungsdruck


und Informationschaos in einer Mangelsituation aus Personal,
Material und Zeit. Ziel des Führungssystems muss es in solchen
Situationen sinnvollerweise sein, den Entscheidungsbedarf zu
minimieren.

Dass es diesbezüglich noch Verbesserungsbedarf gibt, beschrieb


vor einiger Zeit Elmar Jöris, der im Wesentlichen aus dem
Kichbachbericht, dem Bericht der unabhängigen Kommission der
Sächsischen Staatsregierung zur Flutkatastrophe 2002, zitiert und
dabei als Defizite benennt: Fernmelde (-Kommunikations-)
probleme, überforderte ad-hoc zusammengesetzte Einsatzstäbe,
fehlendes gemeinsames Führungsverständnis, unzureichende
Vorstellungen über die Aufgaben in der Hierarchie und die
mangelhafte Übung der Stäbe.5

Damit sind die Rahmenbedingen beschrieben, unter denen die


Katastrophenabwehr stattfindet. Gleichzeitg sind dies die
Rahmenbedingungen in denen sich das Führungssystem
bewähren müsste.
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Das Führungssystem der Gefahrenabwehr

Als Folge der schweren Waldbrände in der Lüneburger Heide im


Sommer 1975 wurde das militärische Führungssystem in die
nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr wahrscheinlich über den Umweg
Bundesgrenzschutz, der damals auch mit hohen Personalstärken
im Einsatz war, übernommen. Danach ist die Katastrophenabwehr
aufbauorganisatorisch als Einlinien-Stabsorganisation ausgebildet,
die sich ablauforganisatorisch in Prozesse zu Personal, Lage,
Einsatz & Planung, Logistik, Pressearbeit und Fernmelde- und
angesichts der technischen Entwicklung gerne als
Informationstechnik bzw. Führungsunterstützung bezeichnet,
differenziert. Das Führungssystem besteht aus
Führungsorganisation, Führungsvorgang und Führungsmitteln.
Funktion des Führungssystems ist Entscheidungen zu generieren.

Führungsorganisation

Die Führungsorganisation beschreibt die Über- und Unterordnung


der Organisationselemente (OrgElemente). Mit dieser
lageunabhängigen Festlegung hat man bereits Entscheidungen
reduziert, indem keine andere Organisationsform wie z. B. Projekt-
oder Mehrlinienorganisation zugelassen wird. Insofern bildet die
Stab-Linien-Organisation eine Konstante der Katastrophenabwehr.
Ihre Eigenschaften sind Verrichtungszentralisation,
Einfachunterstellung und Ausprägung von Vollkompetenz. Es
bestehen ein einheitlicher Instanzenweg und klare
Aufgabenabgrenzungen. Zwischenorganisatorische
Berührungspunkte existieren dank klarer Über- und
Unterordnungsverhältnisse nicht. Es besteht aber die Gefahr der
Überlastung von Führungskräften. 6 Ihr begegnet man mit der
Einrichtung der Stäbe als Beratungsgremien der Führungskräfte.
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Strukturierendes Prinzip bildet die 3...5er – Regel. Sie ist eine aus
Erfahrung gewonnene Gesetzmäßigkeit für die Leitungsspanne.
Ausgehend von den Helfern bilden drei bis fünf Personen ein
neues OrgElement Trupp. Gruppen bestehen aus Trupps, und
mehrere Gruppen bilden einen Zug. Der hat unter Anwendung der
3...5er – Regel knapp 40 Personen. Der Zug ist üblicherweise die
erste Ebene, auf der OrgElemente für die Führungsunterstützung,
d.h. Stabselemente ausgebracht - in diesem Fall als Zugtrupp
bezeichnet - und meist von 4 Personen gebildet werden. Darüber
hinaus sind Gruppe oder Zug die hierarchischen Ebenen, in denen
die OrgElemente als geschlossene und damit homogene
Personalkörper in den Einsatz gebracht werden.

Daneben bilden sich allerdings zur Zeit vor allem im Bereich der
privaten Hilfsorganisationen unter dem Schlagwort Schnell-
Einsatz-Gruppen – kurz SEG – singuläre Strukturen aus, die nicht
mehr systematisch bestimmt sind. Zum Teil werden auch
Bezeichnungen genutzt, die nicht mehr der binnenstrukturellen
Differenzierung entsprechen, in erster Linie weil aller Erfahrung
nach das Führungspersonal mit z.B. wenigstens 2 Truppführern in
einer Gruppe nicht verfügbar ist, wenn in einer Pressemitteilung
von einem Wasserrettungszug mit 13 Personen gesprochen wird.

Um die Strukturierung der Führungsorganisation darüber hinaus


weiter fortzusetzen, wird spätestens mit Eintreffen des zweiten
Zuges ein Einsatzleiter benannt, der die Gesamtverantwortung
trägt. Um die 3...5er – Regel weiter anwenden zu können, kann
ein Einsatzleiter die Aufbauorganisation in Einsatzabschnitte
ausdifferenzieren, die er bei weiterem Personaleinsatz in
Unterabschnitte gliedern kann.
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Wichtig ist es in Bezug auf die Aufbauorganisation zu erkennen,


dass mit jeder weiteren Gliederung der Einsatzstruktur
Führungselemente ausgebracht werden müssen. Dies bedeutet
angesichts der Mangelsituation Katastrophe, dass Helfer aus der
direkten Hilfe herausgelöst werden müssen und
Koordinierungsaufgaben übernehmen. Die Wertschöpfung der
Katastrophenabwehr ist das Helfen. Dazu besteht hier
Entscheidungsbedarf. Stets muss die Führungskraft deshalb ein
Auge auf die Leitungsspanne werfen. Sie muss sich zwischen den
Alternativen umfangreicherer Hilfe durch mehr Personal und damit
größerer Wertschöpfung oder Sicherung der Handlungsfähigkeit
durch Verringerung der Leitungsspanne entscheiden.

Vollkompetenz und einheitlicher Instanzenweg fokussieren das


Einsatzgeschehen auf den Einsatzleiter an der Spitze der
Pyramide – im militärischen Bereich die Kommandeure oder
Befehlshaber - früher war auch der Begriff Feldherr gebräuchlich.
Damit ist eine Organisation festgelegt, die in erster Linie auf
Schlagkraft zielt und im Zweifelsfall bei der Gründlichkeit
Kompromisse zulässt. Angesichts des Handlungsdrucks ist dies
-14-

gerechtfertigt, steht aber damit im Gegensatz zur Arbeitsweise von


Behörden, die institutionell an der Katastrophenabwehr beteiligt
sind, und wirkt sich selbstverständlich auch auf die Mentalität des
Personals aus.

Führungsvorgang

Der Führungsvorgang ist als kybernetischer Regelkreis mit den


Elementen Lagefeststellung, Planung, Befehlsgebung – ziviler
hieße es Anweisung – und Kontrolle modelliert.

Dies erlaubt schnell zu reagieren, unverzüglich Entscheidungen zu


treffen und zu handeln, trotz Unsicherheit, die der
Katastrophensituation immanent ist. Damit ist allerdings auch ein
"Predictor-Korrektor –Verfahren" festgelegt, das metaphorisch
gesagt zunächst eine Marschrichtung festlegt und erst danach
prüft, ob der eingeschlagene Weg zum Ziel führt. Eigentlich ist
dies für die Situationen aus Ungewissheit und der damit sowohl
verbundenen Unvollständigkeit als auch Unsicherheit der
Information gar nicht anders vorstellbar, wenn man in kurzer Zeit
zu Entscheidungen kommen muss. Das Informationschaos trägt
darüber hinaus sowieso seinen Teil zur Verunsicherung bei.
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Ein Preis fürs schnelle Entscheiden ist allerdings auch beim


Führungsvorgang die Abweichung von den
Behördengepflogenheiten. Dort kommt man um die gründliche
Sachverhaltsermittlung nicht umhin, auch wenn es im Einzelfall
viel Zeit kostet. Insofern ist es unvorstellbar, dass ein
Baugenehmigungsverfahren nach dem Regelkreismodell
bearbeitet werden könnte. Sicherlich würde es dem Bauherrn den
Schweiß auf die Stirn treiben, wenn die Dachkonstruktion
zunächst genehmigt und dann nach Augenscheinnahme geändert
würde, weil sie sich besser ins Stadtbild fügt oder als
harmonischeres Ensemble wirkt.

Die Eigenschaften des Führungsvorganges unterstützt das Prinzip


des Führens mit Auftrag. Es besagt, dass nicht konkrete
Einzeltätigkeiten und deren exakte Durchführung angeordnet
werden, sondern in Aufträgen Ziele verstanden als Endzustände
und Aufgaben vorgegeben werden.

Führungsmittel

Dritte Komponente des Führungssystems sind die hier


vollständigkeitshalber zu nennenden Führungsmittel. Hierzu
zählen Mittel der Informationsverarbeitung wie Lagekarten,
Rechnerprogramme und ggf. Objektpläne und Akten. Zu den
Führungsmitteln der Informationsübertragung gehören Sprechfunk
und Telefon, Datenübertragung über Netze, teilweise Schreibfunk.
Unter der gewählten Fragestellung sind sie Führungsorganisation
und –vorgang akzessorisch, d.h. sie entfalten keine eigenen
Entscheidungsaspekte, sondern beschränken sich im Einfluss auf
die Realisierbarkeit. D.h. Führungsmittel können zwar
Handlungsalternativen ausschließen, weil sie z.B. technisch nicht
realisierbar sind. Mit den technischen Möglichkeiten werden sich
jedoch kaum Entscheidungen rechtfertigen lassen, die aufgrund
der Verfügbarkeit der dazu notwendigen Führungsmittel getroffen
sind.
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Folgerungen: Vier Augen sehen mehr als Zwei!


Diese Weisheit des Volksmunds gilt nicht für die
Katastrophenabwehr. Komplexität, Unübersichtlichkeit und
Ungewissheit verhindern, dass man überhaupt alles sehen könnte.
Deshalb darf der Einsatzleiter in der Katastrophenabwehr mit
seiner Vollkompetenz allein entscheiden. Unklare Lage,
unsicheres Lagebild und entscheidungsoffene Situation lassen
sowieso kein anderes Vorgehen zu. Viele Gesetze legen deshalb
die einheitliche Lenkung der Maßnahmen als Rahmenbedingung
der Katastrophenabwehr fest.

Um den Organisationseigenschaften gerecht zu werden, sind die


Entscheidungen der Führungskräfte daran anzupassen. Deshalb
muss der Vorgesetzte das entscheiden, was entweder für alle
unterstellten OrgElemente gleichermaßen gilt, und Aspekte regeln,
die auf der Naht liegen. Sonst würden zusätzliche
zwischenorganisatorische Berührungspunkte geschaffen, die die
Organisationseigenschaften verändern. Darüber hinaus erspart
die Initiative der Regelung Rückfragen und entlastet die
Kommunikationswege auf den Linien der Organisation.
Auftragstaktik erlaubt eine selbständige Bearbeitung der
Aufgaben.

Die Erfahrung lehrt, dass die Führungsorganisation nicht top-down


installiert wird. Vielmehr rücken nach einer Unfallmeldung
zunächst einzelne Helfer an, denen die Struktur nachträglich
bottom-up übergestülpt werden muss. Die Spannbreite der
Leitungsspanne zwischen 3 und 5 ermöglicht dazu das
schrittweise Nachbesetzen der Führungsunterstützungselemente
nach dem Aufwuchs der Helfer bei zunächst trotzdem gesicherter
Führungsfähigkeit.

Mit der aufwachsenden Hierarchie verändern sich die Aufgaben,


die zu erfüllen sind. Während beim Helfen zunächst nur
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technische Geräte einzusetzen und Handgriffe durchzuführen


sind, muss ein Truppführer schon über den Personaleinsatz
entscheiden. Der Gruppenführer teilt seine Trupps ein und
entscheidet dabei über OrgElemente statt Personen. Der
Zugführer hat zusätzlich logistische Aufgaben, ein Abschnittsleiter
wird die regeln müssen und der Einsatzleiter an einer großen
Schadensstelle wie beispielsweise das Zugunglück 1998 in
Eschede muss sich Gedanken machen, wie er den An- und
Abmarsch organisiert und Abschnittsgrenzen festlegt. Das
Führungssystem hat also emergente Eigenschaften, die
Überregelung als Detailregelungen ausschalten können.
Detailregelungen berauben die Führungsorganisation ihrer
Filterwirkung über die Hierarchie und damit ihrer Fähigkeit zur
Komplexitätsreduktion. Die Dynamik aus Abstraktion nach oben
und Konkretisierung nach untern wird als Systemeigenschaft
außer Kraft gesetzt.

Zukunftsaussichten: Neues Denken zum Schutz


der Bürger
Deutschland steht vor der Herausforderung, seine
gesamtstaatliche, nationale Sicherheitsvorsorge den Bedrohungen
anzupassen. In die Überlegungen müssen auch die Strukturen der
Schadens- bzw. Katastrophenabwehr einbezogen werden. Deren
Wirksamkeit sollte losgelöst von institutionellen Überlegungen
durch die Anpassung des Führungssystems an die Eigenschaften,
die das Katastrophenszenario bestimmen, optimiert werden.

Zunächst wäre in administrativer Hinsicht beherzt die


hierarchiedurchgängige einheitliche Lenkung der
Katastrophenabwehrmaßnahmen sicherzustellen, auch wenn die
Behördenmentalität hier als Störgröße wirkt.

In Bezug auf die Schadensabwehrorgane würde die


unnachsichtige Durchsetzung und kompromisslose Einforderung
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des Strukturprinzips 3...5 er-Regel führungsfähige OrgElemente


sicherstellen. Es entstünde ein einheitliches Ordnungsschema
statt der z.T. undurchschaubare Typenvielfalt einiger SEGs.
Strukturvielfalt müsste mit strukturellen Vorgaben rigoros
unterbunden werden. Strukturmerkmale sind Konstanten für die
Einsätze.

Rückbesinnung auf einen einheitlichen Einheitsbegriff erleichtert


die Auswahl aus einem Baukasten der Handlungsmöglichkeiten.
Auf der Zugebene hätte man OrgElemente ausreichender
selbständiger Handlungsfähigkeit im Sinne der Auftragstaktik mit
logistischer Durchhaltefähigkeit und notwendiger
Führungsunterstützung.

Eigendynamiken aus Nebenhierarchien, wie sie beispielsweise mit


Bezeichnungen wie Logistik- oder Fernmeldeführer in einem Stab
zum Ausdruck kommen, schwächen die Wirksamkeit der Einlinien-
Stabs-Organisation. Zugunsten schlagkräftiger Hilfeleistung wären
auch behördentypische Entscheidungsmuster auf den Prüfstand
zu stellen. Ob die zentrale Führungskompetenz dann besser im
Bereich des Feuerwehrwesens oder der Polizei anzusiedeln ist,
kann heute noch nicht entschieden werden.

Aufgrund aller Unsicherheit, die mit der Katastrophe einher geht,


hat eine kollegiumsbasierte, konsensorientierte
Ressortorganisation für die Katastrophenabwehr angesichts von
Ungewissheit, Handlungsdruck und Informationschaos keine
Berechtigung. Man tut also gut daran, sich den
Herausforderungen für die Sicherheit Deutschlands und seiner
Bürger auf organisationstheoretischer Grundlage zu stellen.
Vielleicht lieferte die Einführung des Leadership – Begriffs einen
Wegweiser, von dem aus alte ausgetretene Pfade verlassen
werden.
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Anmerkungen:

1 Kieser, Alfred (Hg.): Organisationstheorien, Stuttgart 2002, 25.


2 § 1 Abs. 2 Nr. 2 Brand- und KatastrophenschutzG.
3 t´Hart, Paul: Krisenmanagement in der öffentlichen Verwaltung. In:

Staatswissenschaft und Staatspraxis, 1997, 8, S. 34.


4 Funke, Joachim; Kirk, Manfred: Umgang mit komplexen Problemlöse- und

Entscheidungsprozessen. In: Mitschke, Thomas: Handbuch für Technische


Einsatzleitungen, Stuttgart 1997, 197.
5 Jöris, Elmar: Katastrophenschutz. In: Europäische Sicherheit, 2005, 5, 60.
6 Steinbuch, Pitter: Organisation. Kiehl 1990, 166.

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