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[METATITEL
SPÄTER
EINFÜGEN]
Selbstreflexive Erzählverfahren in experimentellen Texten
der Postmoderne und der Gegenwartsliteratur
Stefan Brückl studierte Germanistik, Mathematik und Pädagogik in München und
Catania, Italien. 2020 promovierte er bei Herrn Prof. Dr. Wilhelm Haefs mit der vorliegenden
Arbeit am Institut für Deutsche Philologie der LMU München zum Thema Metafiktion
und Metatextualität.
Stefan Brückl
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10 | Literaturverzeichnis 253
10.1 Textkorpus Metafiktion 253
10.2 Textkorpus Metatextualität und Metamaterialität 254
10.3 Sonstige Primärliteratur 256
10.4 Sekundärliteratur 257
1 Postmoderne ist ein umstrittener Begriff. Näheres siehe S. 16, Anm. 26.
2 Vgl. hierzu Bareis, J. Alexander; Grub, Frank Thomas (Hg.): Metafiktion. Ana-
lysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Berlin: Kadmos, 2010, Bareis, J.
Alexander: Moderne, Postmoderne, Metamoderne? Poetologische Positionen im
Werk Daniel Kehlmanns. In: Carsten Rohde (Hg.): Die Unendlichkeit des Erzäh-
lens: der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld:
Aisthesis, 2013, S. 321–346 u. Liebsch, Helge C.: »Man spürt hier noch viel von der
alten Zeit«. Metafiktion und Intertextualität in Thomas Hettches Roman Pfauen-
insel. In: Kalina Kupczyńska, Nadine Jessica Schmidt (Hg.): Poetik des Gegen-
wartsromans. TEXT+KRITIK Sonderband. München: edition text + kritik,
2016, S. 183–196. Hinzu kommen mehrere Werke, die sich mit Autofiktion
beschäftigen, wie etwa Krumrey, Birgitta: Der Autor in seinem Text: Autofiktion
in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als (post-)postmodernes Phänomen.
Göttingen: V&R unipress, 2015, Pottbeckers, Jörg: Der Autor als Held: autofik-
tionale Inszenierungsstrategien in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017 u. Arnold, Sonja u. a. (Hg.): Sich
selbst erzählen: Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft. Kiel: Ludwig, 2018.
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Nach Hutcheon ist Metafiktion »fiction about fiction – that is, fiction that
includes within itself a commentary on its own narrative and / or linguistic
identity.«3 Der Text verweist demnach auf seinen eigenen fiktionalen oder
sprachlichen Status. Wenn sich ein Text auf seine eigene Textlichkeit bezieht,
entspricht das weitgehend jener Rolle, die in Roman Jakobsons Kommuni-
kationsmodell der poetischen Funktion zukommt. Darin manifestiert sich
die poetische Funktion der Sprache dadurch,
daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten
Objekts […] empfunden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusam-
mensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indif-
ferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und
selbständigen Wert erlangen.4
Für einen Text, der nicht nur als Abbild einer wie auch immer verstandenen
Wirklichkeit gesehen wird, sondern als Text selbst, existiert bereits ein weiterer
Begriff: Autoreferenzialität. Nach Anke Bauer und Cornelia Sander lenken
autoreferenzielle Texte »die Aufmerksamkeit des Lesers […] auf die Textlich-
keit des Textes«.5 ›Autoreferenzialität‹ ist ein Hyponym von ›Selbstref lexivität‹.
Selbstref lexive Texte beziehen sich nicht nur auf ihren eigenen Status als
Sprachkonstrukt, sondern auch auf ihre Eigenschaft als Erzählung – dasselbe
gilt nach Hutcheon für Metafiktion (»commentary on its own narrative«). Da
man mit Abstrichen in jedem Text selbstref lexive Elemente erkennen kann,
müsste man auch metafiktionale identifizieren können. Das stimmt mit Hut-
cheons Ansicht überein, wonach Metafiktion ein weitverbreitetes Phänomen6
ist und sich in allen Romanen wiederfindet (»inherent in all novels.«7). Der
Wirkungsbereich von Metafiktion ist so kaum zu begrenzen.
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Auch Waugh entwirft eine weite Definition von Metafiktion. Für sie ›über-
prüft‹ Metafiktion »the conventions of realism«.8 So tendieren nach ihr meta-
fiktionale Romane dazu, einerseits eine ästhetische Illusion zu konstruieren (»as
in traditional realism«9) und andererseits diese Illusion als Illusion offenzulegen.
Waugh versucht Metafiktion so als Gegenmodell zu Realismus zu etablieren und
versteht den Begriff weitgehend synonym zu Anti-Illusionismus bzw. Illu-
sionsstörung. Deshalb ist Metafiktion für sie ein dehnbarer Begriff, dessen
Phänomene in einem breiten Spektrum an Texten zu identifizieren sind.10
Insgesamt integrieren die Definitionen von Hutcheon und Waugh ein
immer weiteres ›Feld‹ an Texten und Textelementen. Dieses Problem kon-
statiert bereits Werner Wolf in seinem Werk Ästhetische Illusion und Illusions-
durchbrechung in der Erzählkunst (1993):
Werner Wolf, Birgit Neumann und Ansgar Nünning versuchen in der Folge
Hutcheons und Waughs, den Begriff präziser zu fassen.
Für Wolf ist Metafiktion ein »zentrales Verfahren der Destabilisierung von
Illusion« und verstößt »in jedem Fall gegen das illusionsfördernde Celare-
artem-Prinzip«, was eine »Bloßlegung der Artifizialität«12 des Textes zur
Folge hat. Er versucht, die Extension des Begriffs durch eine umfassende
Typologie zu begrenzen. Manche Differenzierungen können diese Eingren-
zung nicht leisten; so handelt es sich nach Wolf um Allgemeinmetafiktion,
wenn in einem Text allgemeine Aspekte der Literatur oder Literaturwissen-
schaft thematisiert werden.13
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18 Vgl. hierzu Bareis; Grub (Hg.): Metafiktion, Liebsch: »Man spürt hier noch viel
von der alten Zeit«, Sprenger: Modernes Erzählen u. Habicht, Isabel: Der Zwerg
als Träger metafiktionaler Diskurse in deutschen und französischen Texten des
Mittelalters. Heidelberg: Winter, 2010.
19 Stein, Christian: Primat der Sprache. Leitmotivik und Topologie des Subjekts
bei Arno Schmidt. Heidelberg: Winter, 2012, S. 31–40.
20 Habicht: Der Zwerg als Träger metafiktionaler Diskurse in deutschen und fran-
zösischen Texten des Mittelalters.
21 Näheres hierzu siehe u. a. Hauthal, Janine: Metaisierung. In: Ansgar Nünning (Hg.):
Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe
(MLLK). Stuttgart, Weimar: Metzler, 2013, 5. aktual. u. erw. Auf l., S. 514–515 u.
Reinfandt, Christoph: Selbstreferenz. In: Nünning (Hg.): MLLK. S. 682.
13
22 Fleischhauer, Wolfram: Der gestohlene Abend [2008]. München: Piper, 2009, S. 354.
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23 Scholes, Robert: Metafiction. In: The Iowa Review 1/4 (1970), S. 100–115, hier
S. 106.
24 Gass, William H.: Philosophy and the Form of Fiction. In: ders. (Hg.): Fiction
and the Figures of Life [1970]. Boston: Nonpareil, 1989, S. 3–26, hier S. 24–25.
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Wenn man sich mit metafiktionaler Literatur wie Wolf Haas’ Verteidigung der
Missionarsstellung (2012) oder Raymond Federmans Take it or Leave it (1976)
befasst, fällt einem ein anderes Textphänomen buchstäblich ins Auge: Viele
dieser selbstref lexiven Werke sind auch visuell und zum Teil materiell auf-
fällig und weichen von einer – noch zu definierenden – Norm ab. Beispiele
für visuelle Devianzen, die in dieser Arbeit unter dem Begriff Metatextualität
verstanden werden sollen, finden sich besonders in Raymond Federmans
Double or Nothing (1971) und Mark Z. Danielewskis House of Leaves (2000). In
beiden Romanen verteilt sich der Text oft scheinbar wahllos über die Seiten
oder ›zeichnet‹ Figuren und Symbole des Textinhaltes nach. Die Texte
28 Nünning, Ansgar: ›Great Wits Jump‹. Die literarische Inszenierung von Erzähl-
illusion als vernachlässigte Entwicklungslinie des englischen Romans von Lau-
rence Sterne bis Stevie Smith. In: Bernhard Reitz (Hg.): Lineages of the novel.
Essays in honour of Raimund Borgmeier. Trier: WVT, 2000, S. 67–91.
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›erzählen‹ also auch durch ihr visuelles Erscheinungsbild. Das gilt ebenso für
Bücher, die materiell von einer Norm abweichen, was als Metamaterialität
bezeichnet werden soll. Dabei verändert sich entweder die Form oder das
Material der Bücher; das erkennt man etwa an B. S. Johnsons Albert Angelo
(1964) und J. J. Abrams’ und Doug Dorsts S. Ship of Theseus (2013): In John-
sons Buch sind in einigen Seiten kleine Rechtecke ausgeschnitten; in S. sind
verschiedene weitere Textdokumente wie Briefe und Postkarten in materiel-
ler Form zu finden. Einen häufigen Fall physisch ›andersartiger‹ Bücher stellt
der sogenannte Boxroman dar wie etwa B. S. Johnsons The Unfortunates
(1969) oder Robert Coovers Heart Suit (2005). Dabei löst sich die konven-
tionelle Buchform nahezu auf: Einzelne Seiten oder Bögen werden nicht
mehr durch eine Bindung zusammenhalten, sondern werden einzeln in
einer oft buchförmigen Box auf bewahrt; die Reihenfolge der Rezeption
ist dabei meist frei.
Diese textuellen und materiellen Phänomene wurden von der Forschung
lange Zeit ignoriert oder lapidar als Metafiktion klassifiziert. Dass multimo-
dale Phänomene damit nur unzureichend beschrieben sind, deutet sich hier
bereits an. Diese begriff liche Unschärfe hat Gründe; so hat die Erzähltheorie
mit der Analyse visueller Textphänomene prinzipiell Schwierigkeiten. Kory-
phäen des Faches, wie Roland Barthes oder Gérard Genette, vertreten meist
eine (post)strukturalistische Theorie, die sich in engem Zusammenhang zur
Linguistik sieht. Große Bereiche der weiteren Erzähltheorie bauen auf ihren
Werken auf. Daraus resultiert ein Begriffsinstrumentarium, das sich auf
sprachliche Strukturen beschränkt und folglich bei visuellen und materiellen
Phänomenen in Erzähltexten an ihre Grenzen stößt. Zwischen einer (visu-
ell unauff älligen) metafiktionalen Metalepse und einer Textstelle über das
Paisley-Muster, die in ebenjener Form des Paisley-Musters verläuft, wie es
in Haas’ Verteidigung der Missionarsstellung der Fall ist, 29 besteht aber eine
deutliche Differenz. Es existieren qualitative und konstitutive Unter-
schiede in Form und Funktion, die von der Forschung oft nicht aufgedeckt
werden konnten.
Zu Texten, die auffallend Wert auf die visuelle und haptische Ausdrucks-
seite des Buches30 legen, gibt es bislang kaum systematische narratologische
Darstellungen. Dennoch häufen sich seit etwa 2010 die Beiträge zu diesem
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31 Vgl. dazu etwa Aufsätze in Bray, Joe; Gibbons, Alison (Hg.): Mark Z. Danielew-
ski. Manchester u. a.: Manchester University, 2011, Pöhlmann, Sascha (Hg.):
Revolutionary Leaves: The Fiction of Mark Z. Danielewski. Newcastle: Cam-
bridge Scholars Publishing, 2012, Polzer, Markus; Vanscheidt, Philipp (Hg.):
Fontes Litterarum. Typographische Gestaltung und literarischer Ausdruck. Hil-
desheim u. a.: Olms, 2014 u. Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Literatur, Buch-
gestaltung und Buchkunst: Ein Kompendium. Berlin: de Gruyter, 2019.
32 Vgl. Barton, Simon: Visual Devices in Contemporary Prose Fiction. Gaps,
Gestures, Images. Hampshire: Palgrave Macmillan, 2016. Ein typographisches
Dispositiv ist eine konventionalisierte, textsortenabhängige visuelle Textgestal-
tung. Siehe hierzu Kapitel 6.3.2 Typografisches Dispositiv.
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2.1 Fiktionalität
22
39 Ebd.
40 Ebd. S. 239.
41 Barsch, Achim: Fiktion / Fiktionalität. In: Nünning (Hg.): MLLK. S. 214–215,
hier S. 214.
42 Zipfel, Frank: Fiktionssignale. In: Klauk (Hg.): Fiktionalität. S. 97–124, hier
S. 105.
43 Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Lite-
ratur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Schmidt,
2001, S. 243.
44 Vgl. Currie, Gregory: Was ist fiktionale Rede? In: Maria E. Reicher (Hg.): Fik-
tion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie.
Paderborn: mentis, 2007, S. 37–53, hier S. 37.
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eine Reihe von Gegenbeispielen vereitelt werden.«45 Deshalb ist für Zipfel
eines der stärksten Fiktionssignale die Gattungsbezeichnung.46
John Searle sieht – ähnlich wie Martínez – die Möglichkeit fiktionaler
Rede als einen »odd, peculiar and amazing fact«47 an, weil dabei sprachliche
Ausdrücke einerseits ihre gewohnte Bedeutung haben, aber andererseits die
realweltlichen Konsequenzen daraus nicht gezogen werden.48 Zur Erklärung
dieses scheinbaren Paradoxes existieren verschiedene Fiktionalitätstheorien.
2.1.2 Fiktionalitätstheorien
45 Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur.
Harvard-Vorlesungen. München u. a.: Hanser, 1994, S. 162.
46 Vgl. Zipfel: Fiktionssignale. S. 118.
47 Searle, John R.: Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts.
Cambridge u. a.: Cambridge University, 1979, S. 66.
48 Vgl. ebd. S. 58.
49 Klauk; Köppe: Bausteine einer Theorie der Fiktionalität. S. 9.
50 Vgl. Searle: Expression and Meaning. S. 59
51 Vgl. ebd. S. 65.
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house and school, cops and robbers, cowboys and Indians, with fantasies
built around dolls, teddy bears, and toy trucks. We can learn a lot about
novels […] by pursuing analogies with make-believe activities like these.57
Walton versteht den Text als Spiel(einladung) und den Leser in der Rolle des
Kindes, das so tut, als wäre das Vorgestellte wirklich. Um von Fiktionalität
sprechen zu können, muss sich die Leserin beim Lesen auf das Make-believe-
Spiel einlassen, das ihr die Autorin bzw. der Text ermöglicht: »[W]hat is
fictional is fictional in a given world – the world of a game of make-believe,
for example, or that of a representational work of art.«58 Auch für Currie liegt
der Unterschied zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten in der
Haltung des Lesers: »[M]ake-belief in the one case, belief in the other.«59 Des-
halb tun die Rezipienten dabei nach Zipfel so, »als ob die Standardregeln von
Sprechakten in Kraft seien, obwohl sie wissen, dass sie es nicht sind«.60 Er
spielt damit auf die So-tun-als-ob-Theorie an, die in engem Zusammen-
hang zum make-believe steht.
Der gängigen Kritik an Waltons Theorie, wonach das make-believe zu kon-
trafaktischen Annahmen über die reale Welt führen würde, widerspricht
Zipfel mit einem Verweis auf die »Doppelstruktur des Sich-Einlassens auf das
Spiel einerseits und des Spielbewusstseins andererseits«.61 Beide Aspekte
konstituieren das Spiel.
Insgesamt kann Waltons Theorie des make-believe als Gegenpart zu Searles
pretense theory verstanden werden. Wo Searle die Produktionsseite stärker
betont, legt Walton den Fokus auf die Rezeptionsseite.
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Nach Lamarque und Olsen ist »[t]he search for necessary and sufficient con-
ditions among stylistic or formal features of language […] doomed from the
start«.72 In diesem Sinne wird man unter den wichtigsten drei Kriterien für
Fiktionalität bzw. fiktionale Texte keine rein textimmanenten finden. Sämt-
liche drei Merkmale sind nicht am Text selbst, sondern nur im Abgleich mit
der Wirklichkeit oder an der pragmatischen Situation abzulesen.
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