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STEFAN BRÜCKL

[METATITEL
SPÄTER
EINFÜGEN]
Selbstreflexive Erzählverfahren in experimentellen Texten
der Postmoderne und der Gegenwartsliteratur
Stefan Brückl studierte Germanistik, Mathematik und Pädagogik in München und
­Catania, Italien. 2020 promovierte er bei Herrn Prof. Dr. Wilhelm Haefs mit der vorliegenden
Arbeit am Institut für Deutsche Philologie der LMU München zum Thema Metafiktion
und Metatextualität.
Stefan Brückl

[METATITEL SPÄTER EINFÜGEN]


Selbstref lexive Erzählverfahren
in experimentellen Texten der Postmoderne
und der Gegenwartsliteratur
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim
Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abruf bar.

ISBN 978-3-96707-659-2 E-ISBN 978-3-96707-660-8

Umschlagabbildung: Julia Herrmann, www.julipri.de

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Satz: Claudia Wild, Otto-Adam-Straße 2, 78467 Konstanz


Druck und Buchbinder: Esser printSolutions GmbH, Westliche Gewerbestraße 6, 75015 Bretten
Inhalt

1| Zum Desiderat der META-Fiktionen 9


1.1 Metafiktion – ein ›weites Feld‹ 9
1.2 Visuelle und materielle Textphänomene als Lakune
der Erzähltheorie 17

2| Zur Grundlage der Metafiktionsforschung 22


2.1 Fiktionalität 22
2.1.1 Begriffsbestimmung und Probleme 22
2.1.2 Fiktionalitätstheorien 24
2.1.3 Merkmale fiktionaler Texte 28
2.2 Ästhetische Illusion 32
2.2.1 Zu den Grundannahmen der ästhetischen Illusion 32
2.2.2 Zu den wichtigsten Begriffen der ästhetischen
I­ llusion 34
2.2.3 Geschehensillusion 36
2.2.4 Erzählillusion 39

3| Zur Forschungsgeschichte von Metafiktion 43


3.1 Metafiktion als ›neue‹ Art von Literatur 43
3.1.1 Zu den ›erschöpften‹ Möglichkeiten der Literatur 43
3.1.2 New Fiction 44
3.1.3 Zur Autoreferenzialität von Metafiktion 45
3.1.4 Surfiction = Metafiction 46
3.1.5 Metafiktion als experimentelle Literatur 48
3.2 Metafiktionale vs. illusionistische Schreibweise 49
3.2.1 Fiction about Fiction 49
3.2.2 Metafiktion als Illusionsstörung 51
3.2.3 Metafiktion als weitverbreitetes Phänomen 52
3.3 Metafiktion als illusionsstörende Offenlegung
von Fiktionalität 52
3.3.1 Zur fehlenden Abgrenzung von anderen Begriffen 52


3.3.2 Typologie von Metafiktion 54


3.3.3 Ausführliche Typologie eines illusionsstörenden
­Elementes 57
3.4 Zur Differenzierung zwischen Metafiktion
und Metanarration 58
3.4.1 Metanarration 58
3.4.2 Metanarration und ästhetische Illusion 58
3.4.3 Metanarration vs. Metafiktion 59

4| Metafiktion als Erzählverfahren 61


4.1 Problemanalyse 61
4.1.1 Ausgangslage 61
4.1.2 Zum Problem der auf wirkungsästhetischen Effekten
basierenden Definition 64
4.1.3 Die ungelöste kategoriale Frage 65
4.2 Metafiktion als Erzählverfahren 65
4.3 Ziele metafiktionaler Erzählverfahren 69
4.3.1 Erzählillusion und doppelte Kommunikations­
situation 69
4.3.2 Metafiktion als Kontrollverlust der Erzählinstanz
und erzähllogischer Bruch 74
4.4 Formen von Metafiktion 75
4.4.1 Metafiktionale Metalepsen 76
4.4.2 Metafiktionale Erzählerkommentare 90
4.4.3 Metafiktionale Infiltration 93
4.4.4 Zusammenfassung 105

5| Metafiktion als Entwicklungslinie der Erzählliteratur 107


5.1 Metafiktion vor der Postmoderne 107
5.2 Metafiktion in der Postmoderne 114
5.2.1 Gängige Erklärungsmodelle 114
5.2.2 Metafiktion und jüdische Identität 116
5.3 Metafiktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 127
5.3.1 Autofiktion und Rückkehr der Autorin 128


5.3.2 Daniel Kehlmann: Ruhm (2009) 131


5.3.3 Wolf Haas: Das ewige Leben (2003),
Das Wetter vor 15 Jahren (2005) und Verteidigung
der Missionarsstellung (2012) 136
5.3.4 Felicitas Hoppe: Hoppe (2012) 144
5.3.5 Kippeffekte und Transformation der Postmoderne 146

6| Forschungsgeschichte visueller Textphänomene 147


6.1 Visuelle Devianzen in Prosatexten 147
6.2 Zur Forschungsgeschichte der Visualität von Texten 149
6.2.1 Phonozentristische Ansätze des 18.
und 19. Jahrhunderts 149
6.2.2 Derridas Kritik am Phonozentrismus Saussures 153
6.2.3 Oralität vs. Schriftlichkeit 155
6.2.4 Sprache vs. Bild 156
6.2.5 Zwischenräumlichkeit 158
6.2.6 Die Bedeutung der Schrift(art) 158
6.2.7 Von der Schrift zum Text 159
6.2.8 Vom Text zum Buch 160
6.2.9 Erzähltheorie 162
6.3 Textgestalten 165
6.3.1 Absichtliche Textlücken (intentional textual gaps) 166
6.3.2 Ikonische Textgestalten (textual gestures) 167
6.3.3 Nicht-ikonische Devianzen 170

7| Metatextualität und Metamaterialität als Erzählverfahren 171


7.1 Metatextualität 171
7.2 Metamaterialität 172
7.3 Aspekte metatextueller Phänomene 173
7.3.1 Metatextualität ist Teil der Erzählung 174
7.3.2 Typografisches Dispositiv 175
7.3.3 Ikonische Mimesis 177
7.3.4 Der Wirkungsbereich von Metatextualität 179
7.3.5 Funktionen metatextueller Textphänomene 179
7.3.6 Rezeption und Extension 181


7.3.7 Farbe 182


7.3.8 Grenzen des Mediums 183
7.4 Formen von Metatextualität 184
7.4.1 Pragmatische Metatextualität 185
7.4.2 Rezeptive Metatextualität 196
7.4.3 Narrative Metatextualität 210
7.4.4 Bedeutungserweiternde Metatextualität 214
7.5 Metafiktionalität von Metatextualität 220
7.5.1 Pragmatische Metatextualität 221
7.5.2 Rezeptive Metatextualität 222
7.5.3 Narrative Metatextualität 222
7.5.4 Bedeutungserweiternde Metatextualität 223
7.5.5 Metatextuelle Metafiktion 224
7.6 Analyse und Interpretation 224

8| Visuelle und materielle Erzählverfahren


in der Literaturgeschichte 227
8.1 Anfänge von Metatextualität 227
8.2 Metatextualität während der Postmoderne 228
8.3 Metatextualität in der Gegenwartsliteratur 238
8.4 Metatextualität – typisch Buch! 246

9| Vielfalt nach der Postmoderne 247

10 | Literaturverzeichnis 253
10.1 Textkorpus Metafiktion 253
10.2 Textkorpus Metatextualität und Metamaterialität 254
10.3 Sonstige Primärliteratur 256
10.4 Sekundärliteratur 257


1| Zum Desiderat der META-Fiktionen

»THIS IS NOT THE BEGINNING«


Raymond Federman: Double or Nothing

1.1 Metafiktion – ein ›weites Feld‹

Die Postmoderne ist zu Ende.1 Gleichzeitig erlebt Metafiktion, eines ihrer


prägnantesten Erzählverfahren, zumindest in der deutschsprachigen Litera-
tur eine kleine Renaissance, wie einige Beispiele zeigen: Wolf Haas’ Das
ewige Leben (2003), Das Wetter vor 15 Jahren (2006) und Verteidigung der Missio-
narsstellung (2012), Daniel Kehlmanns Ruhm (2009) und Felicitas Hoppes
Hoppe (2012). Das wird auch von der Literaturwissenschaft registriert.2 Aller-
dings werden in den erzähltheoretischen Untersuchungen verschiedene
Texte als metafiktional bezeichnet, deren Erzählverfahren teilweise erheb-
lich differieren. Diese ungenaue Begriffsschärfe überrascht angesichts der
Vielzahl von Texten, die sich mit metafiktionalen Phänomenen auseinander-
setzen. Metafiktion ist offensichtlich ein etablierter Begriff der Literatur-
wissenschaft und wird in zahlreichen Kontexten verwendet. Zur Beschrei-
bung von Metafiktion und um eine theoretische Grundlage zu schaffen,
werden meist Linda Hutcheon und Patricia Waugh zitiert.

1 Postmoderne ist ein umstrittener Begriff. Näheres siehe S. 16, Anm. 26.
2 Vgl. hierzu Bareis, J. Alexander; Grub, Frank Thomas (Hg.): Metafiktion. Ana-
lysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Berlin: Kadmos, 2010, Bareis, J.
Alexander: Moderne, Postmoderne, Metamoderne? Poetologische Positionen im
Werk Daniel Kehlmanns. In: Carsten Rohde (Hg.): Die Unendlichkeit des Erzäh-
lens: der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld:
Aisthesis, 2013, S. 321–346 u. Liebsch, Helge C.: »Man spürt hier noch viel von der
alten Zeit«. Metafiktion und Intertextualität in Thomas Hettches Roman Pfauen-
insel. In: Kalina Kupczyńska, Nadine Jessica Schmidt (Hg.): Poetik des Gegen-
wartsromans. TEXT+KRITIK Sonderband. München: edition text + kritik,
2016, S. 183–196. Hinzu kommen mehrere Werke, die sich mit Autofiktion
beschäftigen, wie etwa Krumrey, Birgitta: Der Autor in seinem Text: Autofiktion
in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als (post-)postmodernes Phänomen.
Göttingen: V&R unipress, 2015, Pottbeckers, Jörg: Der Autor als Held: autofik-
tionale Inszenierungsstrategien in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017 u. Arnold, Sonja u. a. (Hg.): Sich
selbst erzählen: Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft. Kiel: Ludwig, 2018.

9


Nach Hutcheon ist Metafiktion »fiction about fiction – that is, fiction that
includes within itself a commentary on its own narrative and / or linguistic
identity.«3 Der Text verweist demnach auf seinen eigenen fiktionalen oder
sprachlichen Status. Wenn sich ein Text auf seine eigene Textlichkeit bezieht,
entspricht das weitgehend jener Rolle, die in Roman Jakobsons Kommuni-
kationsmodell der poetischen Funktion zukommt. Darin manifestiert sich
die poetische Funktion der Sprache dadurch,

daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten
Objekts […] empfunden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusam-
mensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indif-
ferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und
selbständigen Wert erlangen.4

Für einen Text, der nicht nur als Abbild einer wie auch immer verstandenen
Wirklichkeit gesehen wird, sondern als Text selbst, existiert bereits ein weiterer
Begriff: Autoreferenzialität. Nach Anke Bauer und Cornelia Sander lenken
autoreferenzielle Texte »die Aufmerksamkeit des Lesers […] auf die Textlich-
keit des Textes«.5 ›Autoreferenzialität‹ ist ein Hyponym von ›Selbstref lexivität‹.
Selbstref lexive Texte beziehen sich nicht nur auf ihren eigenen Status als
Sprachkonstrukt, sondern auch auf ihre Eigenschaft als Erzählung – dasselbe
gilt nach Hutcheon für Metafiktion (»commentary on its own narrative«). Da
man mit Abstrichen in jedem Text selbstref lexive Elemente erkennen kann,
müsste man auch metafiktionale identifizieren können. Das stimmt mit Hut-
cheons Ansicht überein, wonach Metafiktion ein weitverbreitetes Phänomen6
ist und sich in allen Romanen wiederfindet (»inherent in all novels.«7). Der
Wirkungsbereich von Metafiktion ist so kaum zu begrenzen.

3 Hutcheon, Linda: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox [1980]. Lon-


don: Methuen, 1985, S. 1. Der deutsche Begriff Metafiktion ist eine Übertragung
von metafiction aus dem Englischen; für den Moment sollen beide synonym ver-
wendet werden; eine Differenzierung erfolgt in Kapitel 4.1.1 Ausgangslage.
4 Jakobson, Roman: Was ist Poesie [1934]. In: Elmar Holenstein, Tarcisius Schel-
bert (Hg.): Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 1979, S. 67–82, hier S. 79.
5 Bauer, Anke; Sander, Cornelia: Zur Analyse der Illusionsbildung und der Illu-
sionsdurchbrechung. In: Peter Wenzel (Hg.): Einführung in die Erzähltextana-
lyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT, 2004, S. 197–222, hier S. 215.
6 Vgl. Hutcheon: Narcissistic Narrative. S. 2.
7 Ebd. S. 5.

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Auch Waugh entwirft eine weite Definition von Metafiktion. Für sie ›über-
prüft‹ Metafiktion »the conventions of realism«.8 So tendieren nach ihr meta-
fiktionale Romane dazu, einerseits eine ästhetische Illusion zu konstruieren (»as
in traditional realism«9) und andererseits diese Illusion als Illusion offenzulegen.
Waugh versucht Metafiktion so als Gegenmodell zu Realismus zu etablieren und
versteht den Begriff weitgehend synonym zu Anti-Illusionismus bzw. Illu-
sionsstörung. Deshalb ist Metafiktion für sie ein dehnbarer Begriff, dessen
Phänomene in einem breiten Spektrum an Texten zu identifizieren sind.10
Insgesamt integrieren die Definitionen von Hutcheon und Waugh ein
immer weiteres ›Feld‹ an Texten und Textelementen. Dieses Problem kon-
statiert bereits Werner Wolf in seinem Werk Ästhetische Illusion und Illusions-
durchbrechung in der Erzählkunst (1993):

Der implizite Konsens, der innerhalb dieser literaturwissenschaftlichen Pra-


xis darüber zu bestehen scheint, was Metafiktion sei, entbehrt jedoch immer
noch einer klaren und expliziten theoretischen Grundlage in Form einer
umfassenden Definition, die alle unter ›Metafiktion‹ subsumierten Phäno-
mene erfassen würde und gleichzeitig ein Ausufern des Begriffs und seine
indifferente Applizierbarkeit auf alles und jedes verhindern könnte.11

Werner Wolf, Birgit Neumann und Ansgar Nünning versuchen in der Folge
Hutcheons und Waughs, den Begriff präziser zu fassen.
Für Wolf ist Metafiktion ein »zentrales Verfahren der Destabilisierung von
Illusion« und verstößt »in jedem Fall gegen das illusionsfördernde Celare-
artem-Prinzip«, was eine »Bloßlegung der Artifizialität«12 des Textes zur
Folge hat. Er versucht, die Extension des Begriffs durch eine umfassende
Typologie zu begrenzen. Manche Differenzierungen können diese Eingren-
zung nicht leisten; so handelt es sich nach Wolf um Allgemeinmetafiktion,
wenn in einem Text allgemeine Aspekte der Literatur oder Literaturwissen-
schaft thematisiert werden.13

8 Waugh, Patricia: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fic-


tion. London: Methuen, 1984, S. 18.
9 Ebd. S. 6.
10 Vgl. ebd. S. 19.
11 Wolf, Werner: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzähl-
kunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstö-
renden Erzählen. Tübingen: Niemeyer, 1993, S. 221.
12 Ebd. S. 220–221.
13 Vgl. ebd. S. 247–259.

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Nünning etabliert den Begriff ›Metanarration‹, worunter er Erzählerkom-


mentare über das Wie des Erzählens versteht;14 damit geht eine Präzisierung
von Metafiktion einher. In Abgrenzung zu Metanarration definiert er
zusammen mit Neumann Metafiktion als Kommentar über die Fiktionalität
und / oder die Konstruiertheit der Erzählung.15 Nünning spricht von einer
»Bloßlegung der Fiktionalität des Erzählens oder des Erzählten« und erkennt
ebenfalls eine »illusionsstörende Wirkung«16 – mehrere Probleme bestehen
aber weiterhin.
Zum einen bleibt die kategoriale Frage ungelöst: Es wird nicht klar, ob es
sich bei Metafiktion um eine bestimmte Schreibweise oder Textsorte han-
delt oder um konkrete Textelemente. Zum anderen ist die Begriffsbestim-
mung wie in der nordamerikanischen Forschung vor allem wirkungsästhe-
tischen Effekten verpf lichtet, weswegen die Einstufung eines Textphänomens
als metafiktional häufig von der Wahrnehmungssensibilität der Rezipien-
tin17 abhängt. Auch eine Differenzierung zwischen Metafiktion und Meta-
narration bleibt schwierig, weil es zwischen Kommentaren über das Wie des
Erzählens und der Bloßlegung der Fiktionalität des Erzählens zahlreiche
Überschneidungen gibt; gleichzeitig stellt sich auch hier die Frage nach dem

14 Vgl. Nünning, Ansgar: Metanarration als Lakune der Erzähltheorie. Definition,


Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähler-
äußerungen. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 26/2 (2001), S. 125–
164, hier S. 126.
15 Vgl. Neumann, Birgit; Nünning, Ansgar: Metanarration and Metafiction. In:
Peter Hühn u. a. (Hg.): the living handbook of narratology. Hamburg: Univer-
sität Hamburg, 2012 (2014 überarb.). Online unter: http://www.lhn.uni-ham-
burg.de/article/metanarration-and-metafiction (4.11.2021).
16 Nünning, Ansgar: Mimesis des Erzählens. Prolegomena zu einer Wirkungsäs-
thetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts des Erzählens und der
Metanarration. In: Jörg Helbig (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahr-
hundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Heidelberg: Winter, 2001, S. 13–48,
hier S. 32–33.
17 Der Text strebt eine geschlechtergerechte Sprache an; gleichzeitig soll die Lesbar-
keit des Textes gewahrt werden. Deshalb wird auf umständliche Zeichensetzung
(z. B. Asteriske) und Paarformen verzichtet; genderneutrale, aber problematische
Bezeichnung wie Schriftstellende / Schreibende werden ebenfalls vermieden. Als
Alternative werden sowohl feminine als auch maskuline Bezeichnungen stellver-
tretend für alle Repräsentanten und Repräsentantinnen – ausnahmsweise sei
hier zur Präzision die Paarform ausformuliert – einer Gruppe verwendet: Wenn
nicht explizit das Gegenteil erwähnt wird, sollen z. B. unter der Bezeichnung
Schriftstellerinnen auch männliche Schriftsteller verstanden werden und umge-
kehrt. Es soll nicht gegendert werden, wenn von narratologischen Instanzen des
Erzähltextes die Rede ist und nicht von realweltlichen Personen; hier werden
genderneutrale Begriffe wie Autorinstanz oder Erzählinstanz bevorzugt.

12


›notwendigen‹ Grad der Offenlegung (von Fiktionalität), um von Metafik-


tion sprechen zu können.
Insgesamt führen die Probleme der Metafiktionsforschung zu einem fast
inf lationären Gebrauch des Begriffs. Die fehlende Begrenzung des Wir-
kungsbereiches lässt sich in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft beob-
achten. Eine große Anzahl an selbstref lexiven Texten wird als metafiktional
bezeichnet: Katja Lange-Müllers Böse Schafe (2007), Thomas Hettches Pfau-
eninsel (2014), Romane Thomas Bernhards und Peter Handkes und Laurence
Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1759–1767); sogar
in Chrétiens de Troyes und Hartmanns von Aue Artusromanen werden
metafiktionale Elemente verortet.18 Thematisch gesehen finden sich Arbeiten
über »metafiktionale Räume«19 in Werken Arno Schmidts oder den »Zwerg
als Träger metafiktionaler Diskurse in […] Texten des Mittelalters«.20 Meta-
fiktion erscheint immer noch als eine Art Synonym von Selbstref lexivität
aller Art. Für selbstref lexive Elemente und Texte existieren aber bereits
mehrere andere Begriffe wie etwa – neben Selbstref lexivität selbst – poeti-
sche Funktion, Autoreferenzialität, Autoref lexivität, Autofiktion, Selbstre-
ferenzialität, Metaisierung u. a.21 Deshalb fehlt für spezielle Textphänomene
bzw. besondere Erzählverfahren ein exaktes Begriffsinstrumentarium; qua-
litative Differenzierungen von Erzählstrukturen selbstref lexiver Texte kön-
nen so nicht geleistet werden. Das zeigt sich explizit daran, dass neben Tex-
ten wie Wolf Haas’ Verteidigung der Missionarsstellung (2012) oder John Barths
Lost in the Funhouse (1968) auch Wolfram Fleischhauers Der gestohlene Abend
(2008) als metafiktional gilt. Zwischen diesen Erzähltexten besteht aber nicht
nur ein Unterschied in der ›Radikalität‹ der Illusionsstörung oder eine gra-
duelle Differenz desselben Phänomens.
Im Zentrum von Fleischhauers Campus-Thriller steht ein universitärer
Machtkampf sowie die Entdeckung der antisemitischen Schriften Paul de

18 Vgl. hierzu Bareis; Grub (Hg.): Metafiktion, Liebsch: »Man spürt hier noch viel
von der alten Zeit«, Sprenger: Modernes Erzählen u. Habicht, Isabel: Der Zwerg
als Träger metafiktionaler Diskurse in deutschen und französischen Texten des
Mittelalters. Heidelberg: Winter, 2010.
19 Stein, Christian: Primat der Sprache. Leitmotivik und Topologie des Subjekts
bei Arno Schmidt. Heidelberg: Winter, 2012, S. 31–40.
20 Habicht: Der Zwerg als Träger metafiktionaler Diskurse in deutschen und fran-
zösischen Texten des Mittelalters.
21 Näheres hierzu siehe u. a. Hauthal, Janine: Metaisierung. In: Ansgar Nünning (Hg.):
Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe
(MLLK). Stuttgart, Weimar: Metzler, 2013, 5. aktual. u. erw. Auf l., S. 514–515 u.
Reinfandt, Christoph: Selbstreferenz. In: Nünning (Hg.): MLLK. S. 682.

13


Mans, die dieser 1940 und 1941 in belgischen Kollaborationszeitungen ver-


öffentlichte. Der homodiegetische Erzähler webt sich durch eine ménage à
trois mit zwei konkurrierenden Akteuren in dieses Interessensgef lecht ein.
Im Laufe der Erzählung bekommt es der Rezipient mit Ref lexionen über
das Genre des Campusromans und de Mans Literaturtheorie zu tun; die Aus-
einandersetzung mit dem Yale Critics gestaltet sich allerdings aus wissen-
schaftlicher Perspektive oberf lächlich. Am Ende wird angedeutet, dass der
Erzähler das Erlebte in Romanform zu bringen gedenkt. Diese Anspielung
auf die eigene Fiktionalität stellt hier jedoch eine Beglaubigungsstrategie dar,
weil »die Wahrheit immer den Umweg über die Kunst gehen muss.«22
Haas’ Text hingegen transzendiert die Grenzen zwischen den verschiede-
nen Erzählebenen, er führt die Rezipientin in eine Möbiusschleife, indem
der Roman selbst im Verlauf des Romans wieder von vorne beginnt; der
Text wird so zur Vorbedingung für sich selbst. Außerdem kommt der Roman
insgesamt im ›Gewand‹ einer noch nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen
Fassung daher; ständig erscheinen visuell markierte Textstellen, in denen
Änderungen und Erweiterungen des Textes diskutiert werden. All das führt
zu einer Vergleichzeitigung von Erleben, Erzählen und Rezipieren. Haas’
Text und andere brechen vollständig mit verbreiteten Lesegewohnheiten. Sie
stellen den Fiktionspakt zwischen Autorin und Rezipienten infrage und
weisen erzähllogische Brüche auf, die die ganze Konstruktion der Erzählung
betreffen. Der Leser muss sich ständig fragen, wie er das Gelesene zu ver-
stehen hat bzw. überhaupt noch logisch verstehen kann. Insgesamt hat man
es mit einer auffallenden Komplexitätssteigerung zu tun, die einen Mehrauf-
wand und eine deutlich stärkere Aktivierung der Rezipientin bedeutet.
Sowohl Haas’ als auch Fleischhauers Roman sind selbstref lexiv. Das
könnte man aber wie gesehen mit Einschränkungen allen fiktionalen Tex-
ten attestieren. Über diese allgemeine Feststellung hinaus lassen sich kaum
strukturelle Überschneidungen erkennen. So radikal die Verteidigung der Mis-
sionarsstellung mit der Erzähllogik und gängigen Konventionen bricht, so
konventionell setzt Der gestohlene Abend auf leserbindende Spannungserzeu-
gung. Metafiktion scheint in dieser Applikation als Synonym zu Selbstref le-
xivität aller Art zu fungieren und wird dadurch als Bezeichnung für spezielle
Erzählverfahren unbrauchbar. Es fehlt also neben einer Abgrenzung zu
anderen Phänomenen des Spektrums selbstref lexiven Erzählens wie etwa

22 Fleischhauer, Wolfram: Der gestohlene Abend [2008]. München: Piper, 2009, S. 354.

14


Metanarration oder Metalepse vor allem eine qualitative Differenzierung


zwischen verschiedenen Textphänomenen.
Die Probleme mit dem Begriff sind grundsätzlicher Art: Ein erzähltheoreti-
scher Begriff wird auf der Grundlage von ästhetischen Bewertungskriterien
definiert. Doch die exakte narratologische Applikation eines ästhetischen
Begriffs ist – salopp formuliert – zum Scheitern verurteilt. Narratologische
Analysen können nicht ohne Verlust von Genauigkeit auf ästhetischer Wahr-
nehmung beruhen. Erzähltheorie basiert – zumindest im Idealfall – auf ratio-
nal-analytischen Beobachtungen, ästhetische Verfahren hingegen per defini-
tionem auf sinnlichen. Deshalb erscheint es sinnvoll, mit der Forschungstradition
zu brechen. Diese Monografie erhebt den Anspruch, eine exakte und anwend-
bare narratologische Definition von Metafiktion bereitzustellen, die nicht auf
wirkungsästhetischen Effekten basiert und den Wirkungsbereich von Meta-
fiktion deutlich beschränkt. Die Frage nach Metafiktion soll sich nicht an der
Wahrnehmungssensibilität der Rezipientin entscheiden, sondern an einer qua-
litativen Analyse der Erzählstrukturen des Textes.
Zu diesem Zweck wird hier auf die Anfänge der Metafiktionsforschung
rekurriert. Literaturwissenschaftler wie Robert Scholes, William H. Gass,
John Barth oder Raymond Federman entwerfen in den 1960er- und 1970er-
Jahren keine ausgearbeitete Systematik, aber das Bild einer radikal ›anderen‹
Art von Literatur, die sich deutlich von konventioneller Literatur unterschei-
det. Scholes nennt metafiction deshalb »a vigorous new fiction«.23 Dass damit
keine ›irgendwie selbstref lexiven‹ Texte gemeint sind, zeigt Gass: »I don’t
mean merely those drearily predictable pieces about writers who are writing
about what they are writing.«24 Das steht fast in direktem Widerspruch zu
Hutcheons Definition von Metafiktion als »fiction about fiction«. Die erste
Generation der Metafiktionsforschung verweist auf eine spezielle Art des
Erzählens; das soll hier eine grundlegende Orientierung geben.
In einem ersten Schritt muss eine Untersuchung der Grundlagenbegriffe
Fiktionalität und ästhetische Illusion erfolgen. Auf beiden Termini basieren die
bisherigen Definitionen von Metafiktion, gleichzeitig sind sie selbst hoch-
komplex. Ein Verständnis wirkungsästhetischer Zusammenhänge ist not-
wendig, um einen strukturellen Metafiktionsbegriff deduktiv herzuleiten.
Dazu werden im Anschluss zunächst die wichtigsten Arbeiten der Metafik-

23 Scholes, Robert: Metafiction. In: The Iowa Review 1/4 (1970), S. 100–115, hier
S. 106.
24 Gass, William H.: Philosophy and the Form of Fiction. In: ders. (Hg.): Fiction
and the Figures of Life [1970]. Boston: Nonpareil, 1989, S. 3–26, hier S. 24–25.

15


tionsforschung genauer analysiert und die angedeuteten Schwierigkeiten


ausführlich aufgezeigt. In einem dritten Schritt wird eine eigene Definition
von Metafiktion ausformuliert, die die angesprochenen Probleme behebt.
Dazu muss die Definition auf Basis ästhetischer Illusion und der Offenlegung
von Fiktionalität abgelöst werden und der Begriff auf narratologisch analy-
sierbaren Erzählstrukturen auf bauen. Als Grundlage für diese enge Defini-
tion von Metafiktion dient ein repräsentatives Korpus von Texten.25 Die
Schwerpunkte dieses Textkorpus liegen einerseits auf Erzähltexten der Post-
moderne26 von Autoren wie John Barth, Raymond Federman oder Gilbert
Sorrentino und andererseits auf Romanen der deutschen Gegenwartslitera-
tur von Autorinnen wie Felicitas Hoppe, Wolf Haas oder Daniel Kehlmann.27
Anhand dieser Texte werden Erzählstrukturen analysiert, die eine qualita-
tive Aussage zulassen, was unter Metafiktion zu verstehen ist und was nicht.
Eine umfassende Differenzierung der Formen ist unerlässlich, um die spe-
zielle Funktionsweise metafiktionaler Textelemente zu illustrieren, zu ver-
stehen und um den Wirkungsbereich des Begriffs zu begrenzen.

25 Für die ausgewählten Texte siehe 8.1 Textkorpus Metafiktion.


26 Darunter wird einerseits eine bestimmte Art von Literatur, Architektur, Malerei,
Philosophie u. a. gesehen, andererseits eine (Literatur)Epoche der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts; diese wird vor allem in den USA verortet. Über die Rele-
vanz postmoderner Literatur im deutschsprachigen Raum wird oft diskutiert.
Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll unter Postmoderne eine Literaturepoche
zwischen 1960 und 2000 verstanden werden, in der auff ällig viele selbstref le-
xive Texte erscheinen und die ihr ›Epizentrum‹ in der nordamerikanischen
Literatur hat. Vgl. hierzu u. a. McHale, Brian: Constructing Postmodernism.
London, New York: Routledge, 1992, Geyh, Paula; Leebron, Fred G.; Levy,
Andrew (Hg.): Postmodern American Fiction. New York, London: Northon,
1998, Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Berlin: Akademie,
2008 oder Sprenger, Mirjam: Modernes Erzählen. Metafiktion im deutschspra-
chigen Roman der Gegenwart. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1999, S. 125–128.
Klaus Birnstiel und Erik Schilling proklamieren nicht das Ende der Postmoderne,
sehen aber »[i]m Nachgang der weltgeschichtlichen Ereignisse seit dem Zusam-
menbruch des ›Ostblocks‹, der Wiedervereinigung Deutschlands, der Zäsur des
11. September sowie des soziokulturellen Wandels in der ›breiten Gegenwart‹«,
dass das Ȋsthetische und historische Projekt der Postmoderne jedoch an Signifi-
kanz eingebüßt« hat. Vgl. hierzu Birnstiel, Klaus; Schilling, Erik: Einleitung. In:
dies. (Hg.): Literatur und Theorie seit der Postmoderne. Stuttgart: Hirzel, 2012,
S. 7–14, hier S. 8.
27 Das Textkorpus führt Texte auf, die häufig als metafiktional deklariert werden;
das bedeutet allerdings nicht, dass all diese Texte nach der erarbeiteten Defini-
tion zwingend metafiktional sein müssen; sie können auch ex negativo als
Grundlage dienen.

16


Anschließend soll die Rolle von Metafiktion in der Literaturgeschichte


thematisiert werden. Häufig wird Metafiktion vor allem mit der nordame-
rikanischen Postmoderne assoziiert; deshalb stellt sich die Frage, ob es sich
bei Metafiktion um ein neues Phänomen der Postmoderne handelt oder ob
sich metafiktionale Elemente bereits in früheren oder späteren Literatur-
epochen wiederfinden. Die Forschung ist sich einige, dass metafiktionale
Texte ihren Höhepunkt in den 1960er- und 1970er-Jahren in der USA
erreichen. Doch lassen sich bereits in Miguel de Cervantes’ Der geistvolle
Hidalgo Don Quijote von der Mancha (1605/1615) und im 19. Jahrhundert
metafiktionale Erzählverfahren erkennen. In diesem Zusammenhang wird –
analog zur Entwicklungslinie stark metanarrativer Romane, wie sie Nün-
ning skizziert28 – eine Entwicklungslinie metafiktionaler Literatur kontu-
riert, die bis in die Gegenwart reicht. So kann man auch für metafiktionale
Elemente in postmodernen Romanen andere historische Kontextualisierun-
gen erkennen, die mit gängigen Erklärungsmodellen für die Postmoderne im
Allgemeinen in keiner kausalen Verbindung stehen. Schließlich soll in diesem
Zusammenhang noch geklärt werden, ob die angesprochenen Renaissance
von Metafiktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als eine Art
verspätete deutsche Postmoderne zu verstehen ist oder nicht.

1.2 Visuelle und materielle Textphänomene als Lakune


der Erzähltheorie

Wenn man sich mit metafiktionaler Literatur wie Wolf Haas’ Verteidigung der
Missionarsstellung (2012) oder Raymond Federmans Take it or Leave it (1976)
befasst, fällt einem ein anderes Textphänomen buchstäblich ins Auge: Viele
dieser selbstref lexiven Werke sind auch visuell und zum Teil materiell auf-
fällig und weichen von einer – noch zu definierenden – Norm ab. Beispiele
für visuelle Devianzen, die in dieser Arbeit unter dem Begriff Metatextualität
verstanden werden sollen, finden sich besonders in Raymond Federmans
Double or Nothing (1971) und Mark Z. Danielewskis House of Leaves (2000). In
beiden Romanen verteilt sich der Text oft scheinbar wahllos über die Seiten
oder ›zeichnet‹ Figuren und Symbole des Textinhaltes nach. Die Texte

28 Nünning, Ansgar: ›Great Wits Jump‹. Die literarische Inszenierung von Erzähl-
illusion als vernachlässigte Entwicklungslinie des englischen Romans von Lau-
rence Sterne bis Stevie Smith. In: Bernhard Reitz (Hg.): Lineages of the novel.
Essays in honour of Raimund Borgmeier. Trier: WVT, 2000, S. 67–91.

17


›erzählen‹ also auch durch ihr visuelles Erscheinungsbild. Das gilt ebenso für
Bücher, die materiell von einer Norm abweichen, was als Metamaterialität
bezeichnet werden soll. Dabei verändert sich entweder die Form oder das
Material der Bücher; das erkennt man etwa an B. S. Johnsons Albert Angelo
(1964) und J. J. Abrams’ und Doug Dorsts S. Ship of Theseus (2013): In John-
sons Buch sind in einigen Seiten kleine Rechtecke ausgeschnitten; in S. sind
verschiedene weitere Textdokumente wie Briefe und Postkarten in materiel-
ler Form zu finden. Einen häufigen Fall physisch ›andersartiger‹ Bücher stellt
der sogenannte Boxroman dar wie etwa B. S. Johnsons The Unfortunates
(1969) oder Robert Coovers Heart Suit (2005). Dabei löst sich die konven-
tionelle Buchform nahezu auf: Einzelne Seiten oder Bögen werden nicht
mehr durch eine Bindung zusammenhalten, sondern werden einzeln in
einer oft buchförmigen Box auf bewahrt; die Reihenfolge der Rezeption
ist dabei meist frei.
Diese textuellen und materiellen Phänomene wurden von der Forschung
lange Zeit ignoriert oder lapidar als Metafiktion klassifiziert. Dass multimo-
dale Phänomene damit nur unzureichend beschrieben sind, deutet sich hier
bereits an. Diese begriff liche Unschärfe hat Gründe; so hat die Erzähltheorie
mit der Analyse visueller Textphänomene prinzipiell Schwierigkeiten. Kory-
phäen des Faches, wie Roland Barthes oder Gérard Genette, vertreten meist
eine (post)strukturalistische Theorie, die sich in engem Zusammenhang zur
Linguistik sieht. Große Bereiche der weiteren Erzähltheorie bauen auf ihren
Werken auf. Daraus resultiert ein Begriffsinstrumentarium, das sich auf
sprachliche Strukturen beschränkt und folglich bei visuellen und materiellen
Phänomenen in Erzähltexten an ihre Grenzen stößt. Zwischen einer (visu-
ell unauff älligen) metafiktionalen Metalepse und einer Textstelle über das
Paisley-Muster, die in ebenjener Form des Paisley-Musters verläuft, wie es
in Haas’ Verteidigung der Missionarsstellung der Fall ist, 29 besteht aber eine
deutliche Differenz. Es existieren qualitative und konstitutive Unter-
schiede in Form und Funktion, die von der Forschung oft nicht aufgedeckt
werden konnten.
Zu Texten, die auffallend Wert auf die visuelle und haptische Ausdrucks-
seite des Buches30 legen, gibt es bislang kaum systematische narratologische
Darstellungen. Dennoch häufen sich seit etwa 2010 die Beiträge zu diesem

29 Vgl. Haas, Wolf: Verteidigung der Missionarsstellung. München: Hoffmann


und Campe, 2012, S. 53.
30 Sofern nicht anders erwähnt, wird unter Buch stets das analoge Medium ver-
standen.

18


Thema. Dabei handelt es sich in der Regel um – teils hervorragende – Ein-


zelanalysen von visuell auffälligen Texten, häufig zu Werken Mark Z.
Danielewskis, der als derzeit wichtigster Autor metatextueller Romane an­­
gesehen werden kann.31 Eine ›breite‹ und systematische Analyse visueller
Textphänomene in narrativer Literatur und ein erzähltheoretisches Analyse-
instrumentarium fehlen aber bisher fast vollständig.
Eine der wenigen Ausnahmen bildet Simon Bartons Monografie Visual
Devices in Contemporary Prose Fiction (2016). Barton versucht der ›Blindheit‹ der
Erzähltheorie für die Visualität von Texten entgegenzuarbeiten, indem er
Devianzen vom typografischen Dispositiv narrativer Texte typologisiert.32
Allerdings stellt seine Arbeit allenfalls den Anfang der Beschäftigung mit
diesem Thema dar. Barton behandelt vor allem ikonische Textelemente; es
finden sich aber auch zahlreiche visuell auffällige Textphänomene, die nicht
ikonisch sind, aber ebenfalls die Visualität des Textes hervorheben. So ist die
Frage nach Formen und Funktionen dieser Devianzen, ihrer Differenz und
dem Verhältnis zu Metafiktion weiterhin eine Lakune der Narratologie.
Diese Studie versteht sich als Beitrag zu einer umfassenderen Darstellung
und Analyse von visuell und haptisch vom typografschen Dispositiv abwei-
chenden Textphänomenen und Büchern. Die Zugriffsmöglichkeiten der
Erzähltheorie auf visuelle Textphänomene sollen erhöht und die Bedingun-
gen und Möglichkeiten dieser Phänomene ausgelotet werden. Es wird ein
Begriffsinstrumentarium zur Analyse visueller Textphänomene entworfen,
das alle Arten visuell und materiell auffälliger Textstellen / Bücher integriert
und somit über Bartons Wirkungsbereich deutlich hinausreicht. Denn die
verschiedenen Formen können nicht nur visuell erzählen, sondern erfüllen
auch bedeutungserweiternde, rezeptive oder pragmatische Funktionen, was
sich etwa in Texten wie Arno Schmidts Zettel’s Traum (1970) oder Jonathan

31 Vgl. dazu etwa Aufsätze in Bray, Joe; Gibbons, Alison (Hg.): Mark Z. Danielew-
ski. Manchester u. a.: Manchester University, 2011, Pöhlmann, Sascha (Hg.):
Revolutionary Leaves: The Fiction of Mark Z. Danielewski. Newcastle: Cam-
bridge Scholars Publishing, 2012, Polzer, Markus; Vanscheidt, Philipp (Hg.):
Fontes Litterarum. Typographische Gestaltung und literarischer Ausdruck. Hil-
desheim u. a.: Olms, 2014 u. Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Literatur, Buch-
gestaltung und Buchkunst: Ein Kompendium. Berlin: de Gruyter, 2019.
32 Vgl. Barton, Simon: Visual Devices in Contemporary Prose Fiction. Gaps,
Gestures, Images. Hampshire: Palgrave Macmillan, 2016. Ein typographisches
Dispositiv ist eine konventionalisierte, textsortenabhängige visuelle Textgestal-
tung. Siehe hierzu Kapitel 6.3.2 Typografisches Dispositiv.

19


Safran Foers Everything is Illuminated (2002) zeigt. In diesem Zusammenhang


muss auch die Metafiktionalität 33 von Metatextualität untersucht werden.
Insgesamt werden Metatextualität und Metamaterialität als weitere Ter-
mini des Spektrums selbstref lexiven Erzählens etabliert. Dafür stehen nach
einem Abriss der Forschungsgeschichte über die Visualität von Texten ein-
zelne Aspekte visueller Devianzen im Vordergrund. Die weitere Analyse der
Formen und Funktionen von visuellen und materiellen Textphänomenen
wird ebenfalls auf einem repräsentativen Textkorpus basieren.34 Die wichtigs-
ten beiden Primärtexte, auf die sich die Untersuchung von Metatextualität
am häufigsten beziehen wird, sind Mark Z. Danielewskis House of Leaves
(2000) und Wolf Haas’ Verteidigung der Missionarsstellung (2012). In Letzterem
findet sich eine Art Kaleidoskop an verschiedensten sprachlich-narrativen als
auch schriftlich-visuellen Formen selbstref lexiven Erzählens.
Die Aktualität dieses Themas stellen zahlreiche Romane der jüngeren
Literaturgeschichte unter Beweis. Dabei handelt es sich auffallend oft um
deutschsprachige Texte: Wolf Haas’ Verteidigung der Missionarsstellung, Walter
Moers’ Zamonien-Romane (1999–2019), Terézia Moras Das Ungeheuer (2013),
Philipp Weiss’ Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen (2018) oder
Michael Lentz’ Schattenfroh (2018). Der Ursprung dieser Entwicklung lässt
sich aber im englischsprachigen Raum erkennen, wie folgende Aufzählung
illustriert: Mark Z. Danielewskis House of Leaves (2000), The Fifty Year Sword
(2005), Only Revolutions (2006) und The Familiar, Volume 1–5 (2015–2017),
Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated (2002), Extremely Loud & Incre-
dibly Close (2005) und Tree of Codes (2010), Steven Halls The Raw Shark Texts
(2007), Reif Larsens The Selected Works of T. S. Spivet (2009), Adam Thirlwells
Kapow! (2012) und J. J. Abrams’ und Doug Dorsts S. Ship of Theseus (2013).
Auch hier stellt sich die Frage nach der Postmodernität dieser Literaturten-
denz. Schließlich finden sich visuelle Erzählverfahren auch in experimentel-
len postmodernen Romanen wie in William H. Gass’ Willie Masters’ Lone-
some Wife (1968) oder mehreren Büchern Raymond Federmans. Doch es
entsteht der Eindruck, dass der Anstieg visuell devianter Literatur in den
letzten 20 Jahren mit der Digitalisierung aller Lebensbereiche und der Trans-
formation des Buchmarktes zusammenhängt. Außerdem lassen sich visuelle
Erzähltexte sowohl vor als auch nach und sogar zeitlich parallel zur nord-

33 Unter Metafiktionalität kann – der Bedeutung des Suffixes -ität entsprechend –


die Eigenschaft, metafiktional zu sein, verstanden werden.
34 Für die ausgewählten Texte siehe 8.2 Textkorpus Metatextualität und Metama-
terialität.

20


amerikanischen Postmoderne beobachten. Deshalb soll im Anschluss an die


Analyse metatextueller und metamaterieller Erzählverfahren ein Erklärungs-
modell aufgezeigt werden, das die Entwicklung der Gegenwartsliteratur his-
torisch kontextualisiert.
Wie eingangs erwähnt, wird das Zeitalter der Postmoderne weitgehend als
beendet angesehen. Da Literaturgeschichte oft als Folge von Epochen erzählt
wird, kann man eine rege Diskussion um die Nachfolgeepoche der Post­
moderne beobachten. Eine kritische Betrachtung dieser Debatte soll den
Schlussstein dieser Arbeit bilden.

21


2| Zur Grundlage der Metafiktionsforschung

»[LIEBER STREICHEN. NERVT.]«


Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung

2.1 Fiktionalität

2.1.1 Begriffsbestimmung und Probleme

Da unter Metafiktion häufig eine Offenlegung von Fiktionalität verstanden


wird, spielt dieser Begriff eine zentrale Rolle für die Definition von Meta-
fiktion.35 Ziel dieser Untersuchung ist es, die wichtigsten Merkmale von Fik-
tionalität zu analysieren. Darauf baut die deduktive Herleitung metafiktio-
naler Erzählverfahren auf.
Fiktionalität ist die Eigenschaft des Textes fiktional zu sein. Doch diese
Eigenschaft ist dem Text nicht eingeschrieben, sie wird ihm zugewiesen, wie
Peter Lamarque und Stein Olsen konstatieren. 36 Dass ein Text von fiktiven
Figuren und Welten erzählt, ist keine hinreichende Bedingung, um auf
Fiktionalität zu schließen, wie Tobias Klauk und Tilmann Köppe bestätigen:
»So ist beispielsweise klar, dass ein Text nicht schon deshalb fiktional ist,
weil er von Erfundenem handelt, denn das gilt schließlich auch von Lügen,
Falschaussagen vor Gericht oder der Schilderung einer technischen Innova-
tion beim Patentamt«.37 Matías Martínez erkennt in fiktionalen Texten »eine
bestimmte Sprachverwendung oder Redeform, die durch einen scheinbar
paradoxen Wahrheitsanspruch gekennzeichnet ist.«38 So wird in der fiktiona-
len Rede »behauptet, dass etwas der Fall ist – allerdings nicht im Hinblick
auf unsere Wirklichkeit, sondern mit Bezug auf die imaginäre Objektivität

35 Vgl. z. B. Nünning: Mimesis des Erzählens. S. 32.


36 Vgl. Lamarque, Peter; Olsen, Stein H.: Truth, fiction, and literature. A philoso-
phical perspective. Oxford: Clarendon, 1994, S. 15: »Neither literariness nor
fictionality is a property of text«.
37 Klauk, Tobias; Köppe, Tilmann: Bausteine einer Theorie der Fiktionalität. In:
Tobias Klauk (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin, Bos-
ton: de Gruyter, 2014, S. 3–34, hier S. 3.
38 Martínez, Matías: Fiktionalität. In: Dieter Burdorf, Günther Schweikle (Hg.):
Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: Metzler, 2007,
3., völlig neu bearb. Auf l., S. 239–240, hier S. 240.

22


einer erzählten Welt.«39 Fiktionalität ist demnach eine pragmatische Eigen-


schaft fiktionaler Texte, die ihnen durch Kommunikationsprozesse zwi-
schen Rezipientin und Produzenten zugeschrieben wird. Sie unterscheidet
sich von anderen Begriffen wie Fiktivität.
Das Adjektiv fiktional entsteht durch eine Suffigierung des Substantivs
Fiktion, das Substantiv Fiktionalität wiederum durch eine Suffigierung des
Adjektivs fiktional. Fiktionalität kann demnach als die Eigenschaft, eine Fik-
tion zu sein, umschrieben werden. Unter einer Fiktion literarischer Texte
versteht Martínez »den imaginären Status der dargestellten Figuren, Orte
und Ereignisse, insofern diese keine direkte Korrespondenz in der Wirklich-
keit besitzen.«40 ›Fiktiv‹ stammt zwar ebenso wie ›Fiktion‹ vom lateinischen
Substantiv ›fictio‹ ab, das ihm zugehörige Substantiv ist aber ›Fiktivität‹. Als
fiktiv beschreibt Achim Barsch »etwas Erdachtes, Erfundenes, Vorgestelltes,
mit dem dennoch im Sinne eines ›Als ob‹ operiert wird.«41 Als Beispiele führt
er Textaufgaben in Mathematikbüchern oder juristische Kategorien an.
Nicht alles, was fiktiv ist, ist demnach eine literarische Fiktion. Auf letzteres
deuten sogenannte Fiktionssignale hin. Es handelt sich dabei nach Frank
Zipfel um Phänomene, »die Autoren einsetzen bzw. einsetzen können, um
einen Text als fiktionalen kenntlich zu machen, bzw. die Rezipienten dazu
veranlassen können, einen Text als fiktionalen wahrzunehmen«.42 Fiktionssi-
gnale steuern die Fiktionalitätswahrnehmung des Lesers und werden von der
Autorin oder gegebenenfalls vom Verlag gezielt eingesetzt. Sie sind also
Rezeptionssignale und »das Erkennen und Bewerten dieser Signale ist Teil
der Rezeptionsleistung des Lesers«.43 Unterschieden wird zwischen textuel-
len und paratextuellen Fiktionssignalen, wobei nach Gregory Currie text-
immanente Merkmale nicht als definitiv angesehen werden können.44 Auch
nach Umberto Eco kann »jeder Versuch, strukturelle Differenzen zwischen
natürlichem und künstlichem Erzählen zu definieren, […] gewöhnlich durch

39 Ebd.
40 Ebd. S. 239.
41 Barsch, Achim: Fiktion / Fiktionalität. In: Nünning (Hg.): MLLK. S. 214–215,
hier S. 214.
42 Zipfel, Frank: Fiktionssignale. In: Klauk (Hg.): Fiktionalität. S. 97–124, hier
S. 105.
43 Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Lite-
ratur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Schmidt,
2001, S. 243.
44 Vgl. Currie, Gregory: Was ist fiktionale Rede? In: Maria E. Reicher (Hg.): Fik-
tion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie.
Paderborn: mentis, 2007, S. 37–53, hier S. 37.

23


eine Reihe von Gegenbeispielen vereitelt werden.«45 Deshalb ist für Zipfel
eines der stärksten Fiktionssignale die Gattungsbezeichnung.46
John Searle sieht – ähnlich wie Martínez – die Möglichkeit fiktionaler
Rede als einen »odd, peculiar and amazing fact«47 an, weil dabei sprachliche
Ausdrücke einerseits ihre gewohnte Bedeutung haben, aber andererseits die
realweltlichen Konsequenzen daraus nicht gezogen werden.48 Zur Erklärung
dieses scheinbaren Paradoxes existieren verschiedene Fiktionalitätstheorien.

2.1.2 Fiktionalitätstheorien

Über den prinzipiell pragmatischen Status von Fiktionalität besteht in der


Forschung weitgehend Konsens. Die Meinungen divergieren aber in der
Frage, ob Rezeptionsseite oder Produktionsseite größeren Einf luss auf den
fiktionalen Status ausüben.

2.1.2.1 Produktionsorientierte Fiktionalitätstheorie


Searle ist der prominenteste Vertreter der sogenannten produktionsorientier-
ten Fiktionalitätstheorie. Er konzentriert sich Klauk und Köppe zufolge vor
allem auf den Aspekt, wie es einerseits den Textproduzenten möglich ist,
»nicht auf die Wahrheit ihrer Texte in der Wirklichkeit festgelegt zu wer-
den«,49 aber andererseits, dass die Texte selbst im Rahmen der Fiktion als
wahr gelten. Nach Searle entscheidet der Autor über den Status des Textes
als fiktional oder faktual, wohingegen der Leser über die Literarizität eines
Werkes urteilt.50
Searles Ansatz kann als eine Theorie des Vorgebens (durch die Autorin)
gesehen werden und wird im Englischen auch als pretense theory bezeichnet.
So gibt der Autor fiktionaler Werke vor, (mit dem Text) illokutionäre Hand-
lungen zu vollziehen.51 Der Text prätendiert Wirklichkeit, postuliert diese
jedoch nur unter fiktionalem Vorzeichen. Der Autor meint die geäußerten

45 Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur.
Harvard-Vorlesungen. München u. a.: Hanser, 1994, S. 162.
46 Vgl. Zipfel: Fiktionssignale. S. 118.
47 Searle, John R.: Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts.
Cambridge u. a.: Cambridge University, 1979, S. 66.
48 Vgl. ebd. S. 58.
49 Klauk; Köppe: Bausteine einer Theorie der Fiktionalität. S. 9.
50 Vgl. Searle: Expression and Meaning. S. 59
51 Vgl. ebd. S. 65.

24


Sätze nicht wirklich, sondern im Rahmen einer fiktionalen Darstellung.


Wenn ein Text mit Es ist ein kalter Wintermorgen heute beginnt, so bedeutet das
nicht, dass die Autorin an einem kalten Wintermorgen diesen Satz schreibt
oder denkt, der Rezipient würde den Text an einem kalten Wintermorgen
lesen. Der Satz bedeutet: In der fiktiven Welt / Wirklichkeit des fiktionalen
Textes findet das folgende Geschehen an einem kalten Wintermorgen statt.
Da die Leserin nicht am Satz selbst ablesen kann, ob sie ihn als fiktional oder
nicht-fiktional verstehen soll, hängt für Searle der fiktionale oder nicht-fik-
tionale Status eines Textes an der Intention des Autors.52 Durch konventio-
nalisierte Fiktionssignale, die die Autorin einsetzt, werden die herkömmli-
chen illokutionären ›Regeln‹ von Äußerungen aufgehoben.53
Diese dominante Akzentuierung der Produktionsseite wird häufig kritisiert.
Sowohl Currie als auch Zipfel weisen darauf hin, dass die Rezipientin die
Fiktionssignale erkennen und sich auf die angebotene Situation einlassen müs-
se.54 Für beide ist nicht ersichtlich, weshalb eine pragmatische Situation, ein
Informationsaustausch über das Medium des Textes gewissermaßen, nur über
die Produktionsseite definiert werden sollte. Ein Leser, der die Fiktionssignale
der Autorin nicht erkennt, wird dem Text keinen fiktionalen Status zuerken-
nen. Auch der Text selbst als Medium der Kommunikation wird von Searle
nicht beachtet; so ergibt für Zipfel die pragmatische Intention des Textprodu-
zenten nur dann Sinn, wenn die Erzählung fiktive Elemente aufweist;55 sonst
wäre sich die Rezipientin über den Status des Textes unschlüssig.

2.1.2.2 Rezeptionsorientierte Fiktionalitätstheorie


Kendall L. Waltons Theorie betont im Gegensatz zu Searles die Rezeptions-
seite. Für Klauk und Köppe besteht Waltons Grundidee »im Kern aus Vor-
stellungs-Vorschriften, d. h., sie laden ihre Leser dazu ein, sich vorzustellen,
wovon sie handeln.«56 Waltons Theorie basiert darauf, dass sich die Leserin
beim Lesen von fiktionalen Werken auf eine Art Spiel einlässt:

What all representations have in common is a role in make-believe. Make-


believe, explained in terms of imagination, will constitute the core of my
theory. I take seriously the association with children’s games – with playing

52 Vgl. ebd. S. 65.


53 Vgl. ebd. S. 68.
54 Vgl. Currie: Was ist fiktionale Rede? S. 41 u. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktio-
nalität. S. 227.
55 Vgl. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. S. 228.
56 Klauk; Köppe: Bausteine einer Theorie der Fiktionalität. S. 8.

25


house and school, cops and robbers, cowboys and Indians, with fantasies
built around dolls, teddy bears, and toy trucks. We can learn a lot about
novels […] by pursuing analogies with make-believe activities like these.57

Walton versteht den Text als Spiel(einladung) und den Leser in der Rolle des
Kindes, das so tut, als wäre das Vorgestellte wirklich. Um von Fiktionalität
sprechen zu können, muss sich die Leserin beim Lesen auf das Make-believe-
Spiel einlassen, das ihr die Autorin bzw. der Text ermöglicht: »[W]hat is
fictional is fictional in a given world – the world of a game of make-believe,
for example, or that of a representational work of art.«58 Auch für Currie liegt
der Unterschied zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten in der
Haltung des Lesers: »[M]ake-belief in the one case, belief in the other.«59 Des-
halb tun die Rezipienten dabei nach Zipfel so, »als ob die Standardregeln von
Sprechakten in Kraft seien, obwohl sie wissen, dass sie es nicht sind«.60 Er
spielt damit auf die So-tun-als-ob-Theorie an, die in engem Zusammen-
hang zum make-believe steht.
Der gängigen Kritik an Waltons Theorie, wonach das make-believe zu kon-
trafaktischen Annahmen über die reale Welt führen würde, widerspricht
Zipfel mit einem Verweis auf die »Doppelstruktur des Sich-Einlassens auf das
Spiel einerseits und des Spielbewusstseins andererseits«.61 Beide Aspekte
konstituieren das Spiel.
Insgesamt kann Waltons Theorie des make-believe als Gegenpart zu Searles
pretense theory verstanden werden. Wo Searle die Produktionsseite stärker
betont, legt Walton den Fokus auf die Rezeptionsseite.

2.1.2.3 Institutionelle Theorie


Die produktions- und die rezeptionsorientierte Theorie eint nach Zipfel der
Nachteil, Fiktionalität jeweils nur durch die Fokussierung auf einen wichti-
gen Aspekt zu betrachten und somit den jeweils anderen zu vernachlässigen.62

57 Walton, Kendall L.: Mimesis as make-believe. On the foundations of the repre-


sentational arts. Cambridge (Massachusetts) u. a.: Harvard University, 1990, S. 4.
58 Ebd. S. 69.
59 Vgl. Currie, Gregory: The Nature of Fiction. Cambridge u. a.: Cambridge Uni-
versity, 1990, S. 21.
60 Zipfel, Frank: Imagination, fiktive Welten und fiktionale Wahrheit. Zu Theo-
rien fiktionsspezifischer Rezeption von literarischen Texten. In: Reicher (Hg.):
Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. S. 38–64, hier S. 46.
61 Ebd. S. 43.
62 Vgl. Zipfel, Frank: Fiktion und fiktionales Erzählen aus literaturtheoretischer
Perspektive. In: Susanne Luther (Hg.): Wie Geschichten Geschichte schreiben.

26


Die sogenannte institutionelle Theorie versucht dieses Problem zu lösen,


indem sie beide Seiten integriert, wie ihre Vorreiter Lamarque und Olsen
zeigen: »Fictive utterance is ultimately a kind of communication, involving
an interaction between speaker (writer) and audience (reader)«.63 Die Autorin
verankert ihre Intention durch bestimmte Signale im und um den Text; der
Leser registriert diese Signale und rezipiert den Text dementsprechend. Zip-
fel erkennt einen reziproken Prozess und die weitgehende Konventionali-
sierung dieses Prozesses.64 Die Entscheidung darüber, ob ein Text vom Leser
als fiktional eingestuft wird oder nicht, ist nicht individuell, frei und unab-
hängig. Denn, wie Lamarque und Olsen schreiben, »there are right, and
wrong ways of ›taking‹ fictional stories.« 65 Wie der Name institutionell bereits
andeutet, wird für die Produktion und Rezeption von Fiktion eine institu-
tionalisierte Praxis angenommen, die die Entscheidung, ob ein Text als fik-
tional zu begreifen ist, maßgeblich steuert. Nach Lamarque und Olsen basiert
die institutionelle Praxis auf einer Reihe von Konventionen.66 Sie nennen sie
deshalb eine »rule-governed practice which makes possible certain (institu-
tional) actions which are defined by the rules of the practice and which could
not exist as such without those rules.« 67 Die Rezipientin muss demnach keine
aufwendige Interpretationsarbeit leisten, um von Fiktionalität ausgehen zu
können. Vielmehr werden gängige Fiktionssignale von der Autorin gestreut
und vom Leser in der Regel intuitiv und nicht analytisch erkannt. Eine
Leserin wird einen Text, der mit Roman oder Novelle untertitelt ist, ebenso
selbstverständlich als fiktional ansehen, wie sie einen mit Bericht oder Essay
markierten Text als nicht-fiktional lesen wird. Nach Zipfel ergibt der Kom-
munikationsprozess zwischen beiden Seiten nur Sinn, wenn für beide diese
Praxis konventionalisiert funktioniert.68 Deshalb vermitteln die meisten

Frühchristliche Literatur zwischen Faktualität und Fiktionalität. Tübingen:


Mohr Siebeck, 2015, S. 11–35, hier S. 14.
63 Lamarque; Olsen: Truth, fiction, and literature. S. 34.
64 Vgl. Zipfel: Imagination, fiktive Welten und fiktionale Wahrheit. S. 40.
65 Lamarque; Olsen: Truth, fiction, and literature. S. 34.
66 Vgl. ebd. S. 256.
67 Ebd.
68 Vgl. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. S. 227. Es gibt auch Texte, die es
auf die Unentscheidbarkeit zwischen fiktional und faktual anlegen. In diesen
wird so getan, als ob sie nicht-fiktionale Werke wären. In der Regel ist diese
Fingierung von Faktualität des fiktionalen Textes gerade das, was der Rezipient
erkennen soll.

27


Texte relativ eindeutige und offensichtliche Fiktionssignale bzw. Signale, die


auf Faktualität schließen lassen.69
Insgesamt erinnert die institutionelle Theorie an den von Eco beschriebe-
nen Fiktionsvertrag zwischen Rezipienten und Produzenten. Basierend auf
Samuel Coleridges Verständnis von fiktionalen Kommunikationssituationen
als »willing suspension of disbelief«70 folgert Eco: »Der Leser muß wissen, daß
das, was ihm erzählt wird, eine ausgedachte Geschichte ist, ohne darum zu
meinen, daß der Autor ihm Lügen erzählt.«71

2.1.3 Merkmale fiktionaler Texte

Nach Lamarque und Olsen ist »[t]he search for necessary and sufficient con-
ditions among stylistic or formal features of language […] doomed from the
start«.72 In diesem Sinne wird man unter den wichtigsten drei Kriterien für
Fiktionalität bzw. fiktionale Texte keine rein textimmanenten finden. Sämt-
liche drei Merkmale sind nicht am Text selbst, sondern nur im Abgleich mit
der Wirklichkeit oder an der pragmatischen Situation abzulesen.

2.1.3.1 Fiktivität der erzählten Welt


Fiktionale Erzählungen handeln mindestens zu einem Teil von fiktiven
Figuren, Orten oder Ereignissen. Das Gegenteil von fiktiv ist real (oder
wirklich). Nach Barsch kann real »als ein Seinsmodus definiert werden, der
Sachverhalten aufgrund von gemeinsam geteilten, durch Konventionen und
Sanktionen abgesicherten Wirklichkeitsvorstellungen zugeschrieben wird.«73
Was real ist, hängt von einer bestimmten Wirklichkeitsvorstellung ab, die
möglichst viele Menschen teilen. Allerdings kann diese Annahme teilweise

69 Es ist ein weitverbreiteter Ansatz innerhalb der institutionalisierten Fiktionali-


tätsforschung, Grice’ Intentionstheorie auf die pragmatische Situation fiktiona-
ler Rede anzuwenden. Dabei fallen fiktionale Texte unter Grice’ konversatio-
nelle Implikatur, da etwas anderes gesagt als gemeint wird und dieses andere
durch einen logischen Prozess erschlossen werden kann. Vgl. etwa Currie: The
Nature of Fiction. S. 29: »Grice’s framework is easily applicable to fictional con-
texts«. Näheres zu Grice siehe Grice, Herbert P.: Studies in the way of words.
Cambridge (Massachusetts) u. a.: Harvard University, 1989, S. 31.
70 Coleridge, Samuel Taylor: Biographia literaria [1817]. Edinburgh: Edinburgh
University, 2014, S. 208.
71 Eco: Im Wald der Fiktionen. S. 101.
72 Lamarque; Olsen: Truth, fiction, and literature. S. 30.
73 Barsch: Fiktion / Fiktionalität. S. 214.

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